Symphilologie: Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften [1 ed.] 9783737005678, 9783847105671

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Symphilologie: Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften [1 ed.]
 9783737005678, 9783847105671

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Stefanie Stockhorst / Marcel Lepper / Vinzenz Hoppe (Hg.)

Symphilologie Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften

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V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7370-0567-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Adversarienhandschrift aus dem Bestand der NiedersÐchsischen Staats- und UniversitÐtsbibliothek Gçttingen, Signatur: Cod. Ms. W. Mþller I, 20, Bl. 7; Abdruck mit freundlicher Erlaubnis durch die SUB Gçttingen.

Inhalt

Geleitwort des Präsidenten der Grimm-Sozietät zu Berlin e. V., gegr. 1991 . . . . . .

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Stefanie Stockhorst / Marcel Lepper / Vinzenz Hoppe Vom Nutzen und Nachteil der Kooperation für die Philologien. Ein Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sektion I: Prinzipien Hans-Harald Müller Groß- (und) Forschung? Symphilologie, geselliges Arbeiten und Großforschung in den Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts . . . .

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Steffen Martus Literaturwissenschaftliche Kooperativität aus praxeologischer Perspektive – am Beispiel der ›Brüder Grimm‹ . . . . . . . . . . . . . . .

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Ralf Klausnitzer Gemeinsam einsam frei? Beobachter und Beobachtungskollektive an der modernen Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Pascale Rabault-Feuerhahn Orientalistenkongresse. Mündliche Formen der philologischen Zusammenarbeit – Funktionen, Probleme und historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . 101 Marcel Lepper Philologische Zusammenarbeit und institutionelle Infrastruktur im frühen 19. Jahrhundert: Traditionen, Programme, Konflikte . . . . . . . 123

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Inhalt

Sektion II: Projekte Stefanie Stockhorst Zur Archäologie der philologischen Zusammenarbeit am Beispiel der Fruchtbringenden Gesellschaft: Programm, Projekte und Praxis . . . . . 143 Nacim Ghanbari Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert. Lenz’ Das Tagebuch als Beispiel freundschaftlicher Publizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Constanze Güthenke Das Erkennen des Einzelnen. August Boeckhs Symphilologie . . . . . . . 183 Norbert Kössinger »Seines fleisses darf sich jeder rühmen.« Die mittelhochdeutschen Wörterbücher (BMZ und Lexer) als Formen kooperativen Arbeitens . . . 201 Mirko Nottscheid Wissenschaft, Verlag, Mäzenatentum. Kooperative Strukturen in der frühen Neugermanistik – das Beispiel von Editionsreihen und Werkausgaben . . . 215

Sektion III: Perspektiven Markus Messling D8cryptologies. Zur Struktur der modernen Philologie zwischen Materialpolitik und einsamen Erkenntnissen . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Anne Baillot Was tun mit der Weisheit der Massen? Moderne Philologie im digitalen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Hans-Jürgen Lüsebrink Von der Begriffsgeschichte zur Diskursanalyse. Formen und Potentiale interdisziplinärer Kooperation zwischen Sprach-, Kultur- und Geschichtswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Ulrike Wels Vom zweifelhaften Charme des Kollektivs. Zur Dysfunktionalität der literarischen Gelehrtenrepubliken bei Diego Saavedra Fajardo, Friedrich Gottlieb Klopstock und Arno Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Geleitwort des Präsidenten der Grimm-Sozietät zu Berlin e. V., gegr. 1991

Kooperation ist ein selbstverständlicher Teil geisteswissenschaftlicher Praxis. Gerade die kleinen und unscheinbaren Formen der Zusammenarbeit ermöglichen wissenschaftliches Arbeiten an Universitäten, Akademien, in Vereinen und anderen Institutionen. Daneben wird Kooperation in jüngerer Zeit auch als ein Hochwertbegriff gebraucht, um Formen der produktiven Zusammenarbeit innerhalb von Forschungsprojekten besonders zu kennzeichnen – mitunter ist kooperatives Arbeiten sogar explizite Voraussetzung für die Förderung und Finanzierung wissenschaftlicher Projekte. Gleichwohl wird die Identität der geisteswissenschaftlichen Fachgeschichten in erster Linie über große Individuen und deren Arbeitsleistungen gestiftet, ein Bekenntnis zur Kooperation ist, im Unterschied zu den Naturwissenschaften, eher ungewöhnlich. In der germanistischen Fachgeschichte gelten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm als Mitbegründer der Disziplin, die durch ihre Arbeitsweise nachhaltig die Fachidentität prägten. Dass jedoch auch sie und gerade bei ihren Hauptwerken bewusst kooperativ arbeiteten, verdeutlichen ihre zahlreichen Korrespondenzen, deren Rekonstruktion, Edition und Erschließung seit 25 Jahren Hauptanliegen unserer Sozietät ist. In diesem Sinne begrüßt auch die Grimm-Sozietät zu Berlin e. V., gegr. 1991 das Erscheinen des vorliegenden Bandes, der auf eine wichtige und wenig beachtete Facette der Geschichte der Geisteswissenschaften verweist. Prof. Dr. Werner Röcke (Präsident der Grimm-Sozietät zu Berlin e. V., gegr. 1991)

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Vom Nutzen und Nachteil der Kooperation für die Philologien. Ein Problemaufriss

Wissenschaftsgeschichtliche Narrative handeln häufig von Individuen und ihren Werken. Daher entsteht leicht der Eindruck, vor allem einzelne, in ihrem Schaffen auf sich allein gestellte Forscherpersönlichkeiten würden innovative wissenschaftliche Thesen, Argumentationen und Terminologien herbeiführen.1 In einer Vielzahl von Fällen mag das durchaus zutreffen, in den Philologien etwa dann, wenn die zur Rede stehenden Innovationen auf eigenständig realisierbaren Arbeitsformen wie z. B. der Textanalyse, Interpretation oder Theoriebildung basieren. Seit jeher bilden allerdings auch verschiedenste Arten von kooperativen Unternehmungen ganz selbstverständlich einen integralen Bestandteil der gängigen wissenschaftlichen Praxisformen. Ihr Stellenwert und ihr Leistungsvermögen im disziplinären Gefüge der Philologien können kaum genug herausgehoben werden, gerade weil das kooperative Arbeiten hier, anders womöglich als in den Naturwissenschaften, traditionell nicht unbedingt konstituierend zum disziplinären Selbstverständnis gehört.2 1 Vgl. zur Revision in Bezug auf die Naturwissenschaften bereits Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und vom Denkkollektiv. Hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. 10. Aufl., Frankfurt a. M. 2015 [EA 1935]. – Aktuell charakterisierte Peter Pruzan in einem Einführungsband die naturwissenschaftliche Forschungspraxis als »Social Activity« (Peter Pruzan: Research Methodology. The Aims, Practices and Ethics of Science. [o. O.] [Cham] 2016, S. 27; siehe auch Wesley Shrum, Joel Genuth u. Ivan Chompalov : Structures of Scientific Collaboration. Cambridge/ Mass. u. London 2007 (Inside Technology); sowie Bruno Latour u. Steve Woolgar : Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts. Beverly Hills u. London 1979 (Sage Library of Social Research Bd. 80); sowie Paul Thagard: Collaborative Knowledge. In: No0s 31 (1997), H. 2, S. 242–261. 2 Vgl. z. B. die Ansätze von Alwin Diemer : Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaft als Wissenschaft. In: ders. (Hg.): Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Vorträge und Diskussionen im Dezember 1965 und 1966 in Düsseldorf. Meisenheim a. G. 1968 (Studien zur Wissenschaftstheorie Bd. 1), S. 174–223; Rainald von Gizycki: Prozesse wissenschaftlicher Differenzierung. Eine organisations- und wissenschaftssoziologische Fallstudie. Berlin 1967 (Soziologische Schriften Bd. 21); Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn. Zur Genese von Wissenschaft. In: Nico Stehr u. Volker Meja

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Vor allem im Zuge der fachlichen Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Institutionalisierung der Geisteswissenschaften wurden schon im Laufe des 19. Jahrhunderts an Universitäten und Akademien vielfältige Modelle der Zusammenarbeit erprobt und etabliert, teils aber auch verworfen, und sogar im Bereich der Privatgelehrsamkeit gab es Zusammenschlüsse, um gemeinsam wissenschaftliche Projekte umzusetzen.3 Ein programmatisches Fanal, dem Wahren, Schönen und Guten nicht nur im Zusammenspiel von Sinnen und Verstand, sondern vor allem auch im Schulterschluss mit Gleichgesinnten nachzuforschen, setzte Friedrich Schlegel (1772–1829). Im 125. AthenäumsFragment sehnte er 1798 die ›Symphilosophie‹ (im romantischen Verbund mit der ›Sympoesie‹) als schlechthin idealen Zuschnitt wissenschaftlicher und künstlerischer Praxis herbei, in der, wie die Anspielung auf die Platon’schen Kugelmenschen nahelegt, Ethos und Eros konvergieren: Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich des Gedankens nicht erwehren, zwei Geister möchten eigentlich zusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbunden alles sein, was sie könnten.4

Mit vordergründig ähnlicher Wortwahl, doch bei näherem Hinsehen abweichender Intention äußerte sein Bruder August Wilhelm Schlegel (1767–1845) um 1830 mehrfach den Wunsch, den deutlich jüngeren Jacob Grimm (1785–1863) als Partner für eine kooperative Forschergemeinschaft zu gewin(Hg.): Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden 1980 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Sonderhefte Bd. 22), S. 102–139; Rudolf Stichweh: Die Autopsie der Wissenschaft. In: ders.: Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M. 1994, S. 52–83, hier S. 72–79; ders.: Differenzierung der Wissenschaft. In: Zeitschrift für Soziologie 8 (1979), H. 1, S. 82–101. – Vgl. mit Schwerpunkt auf der Germanistik grundlegend die Beiträge in Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987) [Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp]; sowie Jürgen Fohrmann: Organisation, Wissen, Leistung. Konzeptuelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 16 (1991), H. 1, S. 110–125. 3 Vgl. dazu Hans-Harald Müller u. Mirko Nottscheid: Wissenschaft ohne Universität, Forschung ohne Staat. Die Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur 1888–1938. Berlin 2011 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Bd. 70 [304]); sowie im Überblick Wulf Wülfing (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde: 1825–1933. Stuttgart [u. a.] 1998 (Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 18). 4 Friedrich Schlegel: Die Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. u. eingeleitet v. Hans Eichner. München, Paderborn u. Wien 1967, S. 185f., hier S. 185 (Nr. [125]). – Siehe zum Aspekt der kollektiven Autorschaft auch Kurt Röttgers: Symphilosophieren. In: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981), S. 90–119.

Vom Nutzen und Nachteil der Kooperation für die Philologien

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nen. Grimm möge ihn doch, so bat Schlegel, in Bonn besuchen, sein Tischgenosse sein, sich auf Spaziergängen der heiteren Gegend erfreuen und in gemeinsamen Unterredungen grammatische Spezialfragen erörtern – in diesem Zusammenhang prägte Schlegel den überaus eingängigen Begriff des ›Symphilologisierens‹ (»sulvikokocei˜m«).5 Was zunächst wie der Versuch einer Wiederbelebung romantischer Geselligkeitskultur anmutet, entpuppt sich freilich bei genauerem Hinsehen als kalkulierte Wissenschaftspolitik: Der einstige Konkurrent auf dem Gebiet der sog. ›altdeutschen‹ Studien sollte nun, nachdem Schlegel das Feld der Germanistik geräumt und sich der Indologie zugewandt hatte, in Schlegels Schule von Sanskrit-Adepten aufgenommen werden. Grimm ging indes auf Schlegels Einladung zu einer solchen ›Symphilologie‹ zeitlebens nicht ein, sei es, weil er Schlegels Schulenpolitik durchschaute, sei es, weil er selbst bereits andere effektive Praktiken der Kooperation erfolgreich nutzte.6 So arbeitete Grimm zusammen mit dem Göttinger Philologen und Bibliothekar Georg Friedrich Benecke (1762–1844) insbesondere mit Hilfe von sog. ›Adversarien‹ an seiner Deutschen Grammatik (4 Bde., 1819–37). Bei diesen Adversarien handelt es sich um eine spezielle Form des Gelehrtenbriefwechsels, bei der ein Blatt in der Mitte längs gefaltet wurde, damit der eine Briefpartner Fragen auf die eine Seite und der andere die entsprechenden Antworten auf die andere Seite der Falzlinie schreiben konnte.7 Mit Hilfe der auf punktgenaue Kritik angelegten wissenschaftlichen Fachkorrespondenz über Adversarien wurde es, wie Berthold Friemel zeigte, möglich, »neue Hypothesen zunächst privat zu erproben, gemeinsam zu präzisieren und abzusichern und die gedruckten Werke auf diese Weise von allzu gewagten Behauptungen zu entlasten«. Denn auf diese Weise wurde »[v]or die öffentliche Äußerung […] eine Stufe der

5 Vgl. August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 13. Oktober 1832. In: Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Gesammelt u. erläutert durch Josef Körner. Bd. 1: Die Texte. Zürich [u. a.] 1930, S. 501–504, hier S. 503; demnächst auch in: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 8: Briefwechsel der Brüder Grimm mit Friedrich von Schlegel und August Wilhelm von Schlegel. Hg. v. Elisabeth Stoye-Balk, Vinzenz Hoppe u. Philip Kraut, Nr. 17 [erscheint voraussichtlich Stuttgart 2016]. Als Sehnsuchtstopos findet sich der Begriff der ›Symphilologie‹ nur wenig später in einem Brief Friedrich Creuzers an Friedrich Karl von Savigny vom 31. Mai 1808. In: Briefe Friedrich Creuzers an Savigny (1799–1850). Hg. v. Hellfried Dahlmann unter Mitarbeit v. Ingeborg Schnack. Berlin 1972, S. 244. – Siehe rekapitulierend auch den Beitrag von Hans-Harald Müller im vorliegenden Band. 6 Vgl. dazu im Einzelnen Vinzenz Hoppe u. Kaspar Renner : ›Symphilologie‹. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Briefwechsels zwischen Jacob Grimm und August Wilhelm von Schlegel. In: Ulrich Breuer, Remigius Bunia u. Armin Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie. Paderborn 2013 (Schlegel Studien Bd. 7), S. 71–96. 7 Eine dieser Adversarien wurde für die Umschlaggestaltung des vorliegenden Bandes verwendet (SUB Göttingen, Cod. Ms. W. Müller I, 20, Bl. 7).

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Kritik und Selbstüberprüfung innerhalb eines engen Zirkels gestellt«.8 Nicht zuletzt lässt sich der kritische Austausch in den Adversarien auch als Beispiel für die innovativen Formen des kooperativen Arbeitens verstehen, mit denen Wissenschaftler wie Grimm und Benecke auf den mit der zunehmenden Professionalisierung der Germanistik verbundenen Qualitätsanspruch reagierten.9 Die wissenschaftsgeschichtliche Forschung – deren Konturen in besonderem Maße, aber keineswegs allein am Beispiel der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft präzisiert wurden10 – gewann mit verstärkter Forschungsaktivität seit den 1980er Jahren grundlegende Einsichten in die fachspezifischen Arbeitsweisen der Philologien. Wichtige Meilensteine dieser Forschungsrichtung, in denen kooperative Praxisformen vorausgesetzt oder sogar ausdrücklich angeschnitten werden, sollen hier als Basis für das weiterführende Erkenntnisinteresse des vorliegenden Bandes schlaglichtartig rekapituliert werden. Wichtige Impulse gingen insbesondere von den unter der Ägide von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp entstandenen Fallstudien aus.11 Sie schärften die Aufmerksamkeit dafür, dass neben intellektuellen Leistungen und methodischen Innovationen einzelner Forscherpersönlichkeiten in hohem Maße auch soziale Strukturen und kommunikative Netzwerke innerhalb der 8 Berthold Friemel: Die Göttinger Adversarienhandschrift Benecke-Grimm. In: Zeitschrift für Germanistik; N. F. 5 (1995), H. 1, S. 96–103, hier S. 100; vgl. auch Lothar Bluhm: Adnoten zum Gelehrtenbrief. Die Grimm-Beneckeschen »Adversarien«. In: ders. u. Andreas Meier (Hg.): Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Würzburg 1993, S. 93–107. 9 Vgl. Rainer Kolk: Zur Professionalisierung und Disziplinentwicklung in der Germanistik. In: Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der Literaturwissenschaft. München 1991, S. 127–140. 10 Vgl. mit Blick auf andere Philologien z. B. Hans Helmut Christmann: Romanistik und Anglistik an der deutschen Universität im 19. Jahrhundert. Ihre Herausbildung als Fächer und ihr Verhältnis zu Germanistik und klassischer Philologie. Stuttgart 1985 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz; Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Bd. 1985/1); Detlev Kopp u. Nikolaus Wegmann: Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987) [Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp], S. 123–151; Annett M. Baertschi u. Colin G. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts. Berlin [u. a.] 2009 (Transformationen der Antike Bd. 3); Alexander M. Kalkhoff: Romanische Philologie im 19. und 20. Jahrhundert. Institutionsgeschichtliche Perspektiven. Tübingen 2010 (Romanica Monacensia Bd. 78); Haruko Momma: From Philology to English Studies. Language and Culture in the Nineteenth Century. Cambridge 2012; sowie Ramon Pils: Disziplinierung eines Faches. Zur Englischen Philologie in Wien im frühen 20. Jahrhundert. In: Karl Anton Fröschl [u. a.] (Hg.): Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Göttingen 2015 (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert Bd. 4), S. 539–550. 11 Vgl. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart [u. a.] 1994.

Vom Nutzen und Nachteil der Kooperation für die Philologien

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disziplinären Gemeinde bzw. ihrer Teilgebiete die deutsche Philologie als wissenschaftliche Formation prägen. Rainer Kolk und Holger Dainat wiesen auf die prozessuale Logik und Wirkweise impliziter fachspezifischer Konventionen und Standards hin, welche nicht nur die als legitim anerkannten Arbeitsweisen regulieren, sondern auch als Zulassungs- und Aufstiegsbedingungen in der Wissenschaftsgemeinde fungieren.12 Mit einer Schwerpunktsetzung auf den kommunikativen Strukturen des Faches gelang es Lothar Bluhm, die Anfänge der deutschen Philologie im 19. Jahrhundert in funktionsgeschichtlicher Hinsicht verständlich zu machen.13 In diesem Licht konnte z. B. Ralf Klausnitzer anhand des Kreises um Wilhelm Scherer (1841–1886) die eigentümliche Dynamik wissenschaftlicher Schulenbildung nachzeichnen und so derartige Formationen prägende Zusammenhänge epistemischer und sozialer Art erhellen.14 Mit einem Schwerpunkt auf den Anfängen der Forschergruppe Poetik und Hermeneutik (1963–94/98) stellte Walter Erhart nicht nur eine starke Tendenz zur wissenschaftsgeschichtlichen Verklärung dieses Zusammenschlusses dar, sondern auch eine besondere, gesellschaftlich-politischen Faktoren geschuldete »task uncertainty« in der Produktion von literaturwissenschaftlichem Wissen über die ästhetische Moderne.15 Auf verallgemeinerbarer Ebene zeigte Marcel Lepper auf, dass sich philologische Standards sowohl zwischen Traditionen und Institutionen aufspannen als auch im diffizilen Wechselspiel von professionellen Ha-

12 Vgl. Holger Dainat u. Rainer Kolk: »Geselliges Arbeiten«. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987) [Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp], S. 7*–41*. 13 Vgl. Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert. Hildesheim [u. a.] 1997 (Spolia Berolinensia: Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit Bd. 11). 14 Vgl. Ralf Klausnitzer : Wissenschaftliche Schulen im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbeobachtungen. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (2014), H. 3, S. 8–19; siehe auch ders.: »Denkkollektiv« oder »Klüngelsystem«? Schulen und Schulenbildung in den textinterpretierenden Disziplinen und die Entstehung, Durchsetzung, Verhinderung von Innovationen. In: Hartmut Kugler (Hg.): www.germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags. Bd. 2. Bielefeld 2002, S. 991–1015; sowie ders., Lutz Danneberg u. Wolfgang Höppner (Hg.): Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion. Frankfurt a. M. [u. a.] 2005 (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte Bd. 8). 15 Vgl. Walter Erhart: »Wahrscheinlich haben wir beide recht«. Diskussion und Dissens unter »Laboratoriumsbedingungen«. Beobachtungen zu »Poetik und Hermeneutik« (1963–1966). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 35 (2010), H. 1, S. 77–103, S. 77f., S. 86 u. S. 100ff., das Zitat S. 102; siehe auch ders.: Die germanistische Moderne – eine Wissenschaftsgeschichte. In: Sabina Becker u. Helmuth Kiesel unter Mitarbeit v. Robert Krause (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin u. New York 2007, S. 145–166.

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bitus und epistemischen Dispositionen.16 Für wissenschaftsethische Grauzonen, die sich in der wissenschaftlichen Praxis zwischen problemorientierter Forschungsdiskussion, nötiger Netzwerkbildung und fragwürdigem Zitierkartell ergeben können, sensibilisierten Remigius Bunia und Till Dembeck.17 Methodisch weiterführende Anregungen gehen von dem praxeologischen Ansatz aus, mit dem Steffen Martus und Carlos Spoerhase auf die Relevanz literaturwissenschaftlicher Praktiken aufmerksam machten. Diese seien im routinemäßigen »›Betriebsmodus‹ kaum sichtbar«, weil sie weniger explizit verhandelt als im Zuge der akademischen Sozialisation wissenschaftlich tätiger Individuen verinnerlicht würden, sodass es gelte, wissenschaftliche Praxisformen vor allem »mit ihren stillschweigenden Konventionen und normalisierten und internalisierten Arbeitsabläufen« zu erfassen.18 Greifbar wird derartiges Praxiswissen naturgemäß weniger in abgeschlossenen Publikationen als vielmehr in Materialien, welche die vorausgegangene wissenschaftliche Arbeit selbst dokumentieren.19 Für die Wissenschaftshistoriographie der Germanistik haben dahingehend in den letzten Jahren vor allem Hans-Harald Müller, Mirko Nottscheid und Myriam Richter einschlägige Quellenkorpora erschlossen und aufgearbeitet.20 Einen bemerkenswerten Aspekt der populären Wahrnehmung 16 Vgl. Marcel Lepper: Philologie. Zur Einführung. Hamburg 2012. 17 Vgl. Remigius Bunia u. Till Dembeck: Freunde zitieren. Das Problem wissenschaftlicher Verbindlichkeit. In: Natalie Binczek u. Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties/Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. Heidelberg 2010, S. 161–195, bes. S. 164ff.; zu wissenschaftlichen Überzeugungsstrategien jenseits rationaler Argumente siehe Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase u. Dirk Werle (Hg.): Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750. Berlin u. Boston 2015 (Historia Hermeneutica Bd. 12). 18 Carlos Spoerhase u. Steffen Martus: Die Quellen der Praxis. Probleme einer historischen Praxeologie der Philologie. Einleitung. In: Zeitschrift für Germanistik; N. F. 23 (2013), H. 2, S. 212–225, hier S. 212; siehe auch dies.: Praxeologie der Literaturwissenschaft. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 35/36 (2009), S. 89–96. 19 Vgl. z. B. Carlos Spoerhase: Das »Laboratorium« der Philologie? Das philologische Seminar als Raum der Vermittlung von Praxiswissen. In: Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer u. Carlos Spoerhase (Hg.): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Berlin, München u. Boston 2015 (Linguae & Litterae Bd. 49), S. 53–80; sowie Carlos Spoerhase u. Mark-Georg Dehrmann: Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), H. 1, S. 105–117. 20 Vgl. Hans-Harald Müller u. Mirko Nottscheid (Hg.): Disziplingeschichte als community of practice. Der Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner aus den Jahren 1876 bis 1886. Stuttgart 2016 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik Bd. 6); Hans-Harald Müller u. Myriam Isabell Richter (Hg.): Praktizierte Germanistik. Die Berichte des Seminars für deutsche Philologie der Universität Graz 1873–1918. Stuttgart 2013 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik Bd. 5); siehe auch die Dokumentation von Uwe Meves (Hg.): Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess. 2 Bde. Berlin [u. a.] 2011.

Vom Nutzen und Nachteil der Kooperation für die Philologien

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philologischer Praxis vergegenwärtigte Erhart anhand literarischer Projektionen im Philologenroman des 19. bis 21. Jahrhunderts. In diesem Genre entfalte sich die wissenschaftliche Tätigkeit im Laboratorium der Bibliothek nicht nur zwischen Handwerk (techn8) und Wissen (epist8m8), sondern werden stets auch Züge von Besessenheit nicht nur im Umgang mit der Sache, sondern auch mit der Konkurrenz zugeschrieben, wie sie sonst dem Naturwissenschaftlertypus des mad scientist eignet.21 Immer wieder fällt auf, dass in der Wissenschaftsgeschichte der Philologien über die Verwendung von Begriffen wie ›Kommunikation‹, ›Netzwerk‹, ›Gemeinschaft‹ oder ›Schule‹ zwar durchaus konsensuell von produktiv interagierenden Forschergemeinschaften ausgegangen wird, dass aber das Moment der Kooperativität dennoch vergleichsweise selten als solches zur Sprache kommt. Diese Forschungslücke verdient nicht nur aus wissenschaftsgeschichtlichem, sondern mindestens ebenso sehr auch aus forschungspolitischem Blickwinkel weitaus größere Beachtung als bisher, erinnerte doch Hans-Harald Müller daran, dass bei der momentan weit verbreiteten Verbundforschungseuphorie »der Wissenschaftsrat noch 2009 ein[räumte], es gebe keine Daten, die nahelegen würden, dass die wissenschaftlichen Erträge von Einzelprojekten oder Forschergruppen denen von Sonderforschungsbereichen oder Forschungszentren nachstehen«.22 Zu Methoden, Gegenständen und Grenzen des oft, aber nicht notwendig kooperativen Arbeitens im Bereich der Interdisziplinarität existieren immerhin bereits praxistheoretische Überlegungen.23 Darüber hinaus wurden auch Anspruch und Wirklichkeit kooperativer Praktiken in GroßforschungsProjekten zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.24 Zudem nimmt die Frage nach der praktischen Umsetzung digitaler bzw. internetge21 Vgl. Walter Erhart: Was wollen Philologen wissen? Über Praktiken und Passionen der Literaturwissenschaft. In: Nicola Gess u. Sandra Janßen (Hg.): Wissensordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur. Berlin u. New York 2014 (spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature Bd. 42), S. 145–179, bes. S. 147 u. S. 152–156; dort auch weiterführende Literaturhinweise. 22 Hans-Harald Müller : Keine Forschung zur geisteswissenschaftlichen Großforschung? Anmerkungen zu einem Beitrag von Carlos Spoerhase. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38 (2010), S. 27–31, hier S. 28, unter Bezugnahme auf Wissenschaftsrat: Stellungnahme zu den Programmen Sonderforschungsbereiche und Forschungszentren der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Drs. 8916–09. Berlin, 30. 01. 2009, http://www.wissen schaftsrat.de/download/archiv/8916-09.pdf [18. 05. 2016], S. 6. 23 Vgl. z. B. die Beiträge in Lothar van Laak u. Katja Malsch (Hg.): Literaturwissenschaft – interdisziplinär. Heidelberg 2010. 24 Vgl. Carlos Spoerhase: Big Humanities. ›Größe‹ und ›Großforschung‹ als Kategorien geisteswissenschaftlicher Selbstbeobachtung. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/ 38 (2010), S. 9–27; vgl. auch Torsten Kahlert: ›Große Projekte‹. Mommsens Traum und der Diskurs um Big Science und Großforschung. In: Harald Müller u. Florian Eßer (Hg.): Wissenskulturen. Bedingungen wissenschaftlicher Innovation. Kassel 2012 (Studien des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte Bd. 12), S. 67–87.

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stützter Kooperationsformen in Forschung und Lehre einen zentralen Stellenwert in der Selbstbestimmung der digital humanities ein.25 Ohne spezifischen Fokus auf die Philologien, jedoch mit Ansätzen, die in vielen Bereichen auch für die Philologien relevant erscheinen (angefangen vom wissenschaftlichen EMail-Verkehr über das filehosting und die elektronischen Kommunikations- und Speichermedien bis hin zu den Verheißungen und Unwägbarkeiten des crowdsourcing in den digital humanities), widmet sich die Medienwissenschaft neuerdings verstärkt dem Forschungsfeld der ›Kooperation‹.26 Angesichts der bislang erst höchst vereinzelt erfolgten Untersuchungen zur Zusammenarbeit in den Philologien plädierte Jörg Schönert wiederholt und noch immer zu Recht dafür, »›Kooperativität‹ in ihren unterschiedlichen Praxisformen (bis hin zur Großforschung) in der Wissenschaftsforschung als markante[n] Gegenstandsbereich« stark zu machen.27 Eine übergreifende, systematische und historische Gesichtspunkte einbindende Aufarbeitung dieses Themenkomplexes stellt jedoch weiterhin ein Desiderat dar. Der bisherige Stand der Forschung lässt immerhin klar erkennen, dass in den Philologien diverse Formen der Zusammenarbeit denk- und machbar sind, wobei sowohl die Umsetzung als auch der Erfolg bzw. Misserfolg eines Kooperationsprojekts ebenso wie die wissenschaftsethische Bewertung jeweils von den institutionellen, sozialen und kommunikativen Umständen des Einzelfalls abhängen. Vor diesem Hintergrund zielt der mit dem vorliegenden Band intendierte wissenschaftliche Vorstoß auf die systematisierende Erfassung und Beschreibung konkreter Praktiken des Kooperationsverhaltens in den Philologien in verschiedenen zeitlichen Schnitten. Im Zentrum stehen kontextualisierende Fallstudien, die Phänomene des Kooperativen in verschiedenen philologischen 25 Vgl. Tanja Lange: Netzgestützte Kommunikation und Kooperation für Forschung (und Lehre) in den Geisteswissenschaften. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 22 (2006), H. 1, S. 83–107; vgl. auch Heike Neuroth, Andrea Rapp u. Sibylle Söring (Hg.): TextGrid. Von der Community – für die Community. Eine virtuelle Forschungsumgebung für die Geisteswissenschaften. Glückstadt 2015. 26 Insbesondere nahm im Jahr 2016 unter der Leitung von Erhard Schüttpelz an der Universität Siegen der SFB 1187 »Medien der Kooperation« seine Arbeit auf; vgl. im Einzelnen Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 15 (2015), H. 1 [Themenheft: Medien der Kooperation. Hg. v. der AG Medien der Kooperation]. – Siehe auch Nacim Ghanbari, Isabell Otto, Samantha Schramm u. Tristan Thielmann (Hg.): Kollaboration. Beiträge zu Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit [erscheint Paderborn 2016]. 27 Jörg Schönert: Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft. In: Klausnitzer, Spoerhase u. Werle (Hg.): Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften, S. 295–319, hier S. 318, im Rekurs auf Müller: Keine Forschung zur geisteswissenschaftlichen Großforschung? – Vgl. auch Jörg Schönert: Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung. In: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 384–408.

Vom Nutzen und Nachteil der Kooperation für die Philologien

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Disziplinen auf ihre Funktionsweisen, Kommunikationsformen, Strukturen, Motivationen, Außenwirkungen, Konflikte und Grenzen hin ausleuchten. Mit historischen Rück- und Ausblicken gilt die Aufmerksamkeit dabei schwerpunktmäßig dem 19. Jahrhundert als Konstituierungsphase der (National-)Philologien an den Universitäten. Das Erkenntnisinteresse des Bandes beschränkt sich indes nicht auf historische Konstellationen, sondern erstreckt sich auch auf aktuelle Möglichkeiten der Zusammenarbeit in den Philologien. Die Verankerung der Beiträge in unterschiedlichen Disziplinen verspricht insofern in besonderem Maße aussagekräftige Ergebnisse, als zum einen vielen kooperativen Forschungsprojekten inter- bzw. transdisziplinäre Fragestellungen zugrunde liegen und zum anderen die methodischen Zugänge aus den verschiedenen philologischen Fächern verwandt und daher auf vergleichbare arbeitspraktische Problemhorizonte verwiesen sind. Bei der konzeptionellen Profilierung des Bandes, die unter anderem im Rahmen eines Arbeitsgespräches am 29. Oktober 2014 an der Universität Potsdam gemeinsam mit einigen Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Bandes erfolgte, erwies es sich als pragmatisch sinnvoll, Begriffe wie ›Kooperation‹, ›Kollaboration‹, ›Zusammenarbeit‹, ›teamwork‹ u. ä. zwar grundsätzlich synonym, jedoch reflektiert nach Maßgabe der einzelnen Themen und Fragestellungen und mit allfälligen Konkretisierungen zu verwenden. Dementsprechend wird unter ›Kooperativität‹ (ursprünglich ein Terminus aus der Biochemie zur Bezeichnung molekularer Bindungsstärken) hier übergreifend die Fähigkeit, Bereitschaft und Möglichkeit wissenschaftlicher Subjekte zur Kooperation nach Maßgabe subjektiver Interessenlagen und sowohl implizit als auch explizit wirksamer Regulative verstanden. Im weiteren Sinne kooperativ angelegt ist jede Form von wissenschaftlicher Tätigkeit, denn was nützt die klügste Erkenntnis, wenn sie nicht vermittelt, wahrgenommen, diskutiert, anerkannt, fortgeschrieben und eventuell auch wieder verworfen wird. Nicht zuletzt wirken sich kooperative Zusammenhänge auch diachron so weitreichend aus, dass die epistemische Standortbestimmung forschender Subjekte als Zwerge auf den Schultern von Riesen (nani gigantum umeris insidentes) ebenso sprichwörtlich geworden ist28 wie die Vergeblichkeit des Ansinnens, das Rad neu erfinden zu wollen. Im engeren, synchronen und projektbezogenen Sinne sind grundsätzlich paritätische und hierarchische Kooperationsformen zu unterscheiden. In paritätischen Kooperationen teilen sich gleichrangige oder wenigstens nominell gleichberechtigte Forscherpersönlichkeiten die Aufgaben anteilig auf und tragen gemeinsam die Verantwortung für das Projekt. Unterscheiden lassen sich dabei ›sichtbare‹ und ›unsichtbare‹ Ko28 Siehe zur Geschichte dieser Formel den wissenschaftssoziologischen Essay von Robert K. Merton: On the Shoulders of Giants. A Shandean Postscript. New York 1965.

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operationen in Abhängigkeit davon, ob das Projekt mit namentlich gekennzeichneten Teilprojekten (z. B. einzelne Bände eines Nachschlagewerks oder einer Edition) bzw. Einzelteilen (z. B. Buchkapitel) realisiert wird oder aber als Ganzes in Ko-Autorschaft bzw. Ko-Herausgeberschaft unter allen Namen der paritätisch Beteiligten. Demgegenüber liegt in hierarchischen Kooperationsprojekten die Gesamtleitung bei einer oder mehreren Forscherpersönlichkeiten, der bzw. denen auf einer oder mehreren Ebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dazu oft Hilfswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie ggf. auch nicht-wissenschaftliche Kräfte unterstellt sind. Während letzteren administrative Aufgaben zukommen, erbringen untergeordnete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum einen wiederum ›sichtbare‹ (z. B. durch die Kennzeichnung »unter Mitarbeit von«) oder ›unsichtbare‹ (d. h. nur unter dem bzw. den Namen der Gesamtleitung verwertete) Zuarbeiten unterschiedlichen Ausmaßes29 bis hin zum kompletten ghostwriting. Zum anderen können sie auch mit der in eigenem Namen verantwortlichen Bearbeitung von Teilprojekten unter dem Dach der Gesamtleitung betraut werden. Zu den Zuarbeiten, die je nach Qualifikation und Versiertheit teils von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, teils von Hilfswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, oft mit dankender Erwähnung in Einleitungen und Vorworten, besorgt werden können, zählen insbesondere bibliographische und archivalische Recherchen, Erschließungstätigkeiten (z. B. die Erstellung von Inventaren oder Korpora, Digitalisierungen, Transkriptionen und Übersetzungen), Exzerptionen, Kommentierungen, Kollationierungen, Redaktions- und Korrekturtätigkeiten sowie der Aufbau und die Verwaltung von Zettelkästen bzw. Datenbanken oder Internetportalen. Ein wichtiger Grund, überhaupt kooperative Forschungszusammenschlüsse anzustreben, besteht im naheliegenden Wunsch nach Interaktion mit Gleichgesinnten zur allmählichen Verfertigung, aber auch zur Prüfung und Schärfung der Gedanken beim Austausch. Darüber hinaus ergibt sich die funktionale Notwendigkeit der arbeitsteiligen Vorgehensweise bei Aufgaben, welche die Lebensarbeitszeit einer einzelnen Forscherpersönlichkeit überschreiten, bei erheblicher Komplexität des zu untersuchenden Materials oder bei Standortgebundenheit der Quellen;30 hinzu kommen gegenwärtig hochschulpolitische

29 Vgl. etwa zur Vereinnahmung Wilhelm von Humboldts durch Friedrich August Wolf Jürgen Trabant: Humboldt, eine Fußnote? Wilhelm von Humboldt als Gründergestalt der modernen Altertumswissenschaft. In: Baertschi u. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike, S. 25–44. 30 Vgl. Kolk u. Dainat: »Geselliges Arbeiten«, S. 38f., hier mit Blick auf die Zulieferung von Abschriften benötigter Quellen. – Vgl. exemplarisch auch Karl Stackmann: Die Göttinger Abschriften des St. Galler ›Tatian‹ oder über die Mühsal althochdeutscher Studien in na-

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Vorlieben für (drittmittelgeförderte) Verbundforschung. Individuelle Motive können in Sachinteresse, persönlicher Verbundenheit gegenüber den Kooperationspartnerinnen bzw. -partnern, Pflichtgefühl, Ehrgeiz oder in Gemengelagen aus verschiedenen Faktoren liegen. Auch stellt sich regelmäßig die Frage, ob das Projekt aus dem laufenden Etat einer Universität, einer Akademie oder einer in ihrer rechtlichen Stellung vergleichbaren Institution finanziert wird, ob es sich um ergebnisoffene öffentliche Drittmittelforschung oder aber um möglicherweise interessengebundene Auftragsforschung handelt. Weitere Parameter von Kooperationen ergeben sich daraus, wie sich die Anteile an der Arbeitslast sowie am wirtschaftlichen und wissenschaftlichen (Reputations-)Gewinn auf die Mitglieder des Forschungszusammenschlusses verteilen und wie einheitliche Qualitätsstandards, die Einhaltung von Arbeitsplänen und Fristen sowie die Entscheidungsfindung im Streitfall sichergestellt werden sollen. Einfluss besitzt auch die Frage, ob die Zuarbeiten bezahlt (zum Lebensunterhalt oder als Zubrot) oder unbezahlt (in der Hoffnung auf anderweitige Entlohnung, z. B. durch ein späteres, bezahltes Beschäftigungsverhältnis) ausgeführt werden. Und schließlich müssen wissenschaftliche Kooperationen mitunter nicht nur räumliche Distanzen und disziplinäre Grenzen sowie persönliche Mentalitäten und eventuell auch Rivalitäten, sondern unter Umständen ganze Forschergenerationen überbrücken, wofür geeignete Medien, Interaktionsformen und ggf. Statuten zu schaffen sind. Für die wissenschaftsgeschichtliche Analyse philologischer Zusammenarbeit bieten deshalb nicht nur erfolgreiche, sondern auch gescheiterte bzw. gar nicht erst zustande gekommene Kooperationsprojekte Aufschluss. Interessant erscheinen allemal die Funktionszusammenhänge des Gelingens bzw. Scheiterns von Kooperationen, die freilich nicht wertend oder gar moralisierend, sondern deskriptiv, systematisierend und kontextualisierend untersucht werden sollen, um die Leistungsfähigkeit bestimmter Kooperationsformen unter bestimmten historischen Voraussetzungen erfassen zu können. Dem nie zustande gekommenen ›Symphilologisieren‹ August Wilhelm Schlegels und Jacob Grimms verdankt sich immerhin die reizvolle Wortschöpfung ›Symphilologie‹. Sie ist einerseits durchaus schillernd und unspezifisch, bewährt sich aber andererseits als äußerst anschlussfähig und inspirierend, nicht zuletzt aufgrund des mit dem ›Sym‹-Philologischen eröffneten Assoziationsraumes, der über die Frühgeschichte der philologischen Disziplinen zurück verweist bis zum antiken sympjsion mit seinen schönen Implikationen einer idealen Geistesgemeinschaft. In der Gegenwart vermag diese als Objekt einer hoffnungsvollen Sehnsucht nach dem nie Dagewesenen vielleicht zumindest den einen oder anderen Praxisschock abzufedern. Deshalb möchten wir ›Symphilologie‹ cum poleonischer Zeit. In: Althochdeutsch. Bd. 2. Hg. v. Rolf Bergmann, Heinrich Tiefenbach u. Lothar Voetz. Heidelberg 1987, S. 1504–1520, bes. S. 1514ff.

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grano salis verwenden: als heuristischen Reflexionsbegriff, mit dessen Hilfe sich eine Problemgeschichte31 des kooperativen Arbeitens in den Geisteswissenschaften entwickeln lässt. Die hier versammelten Studien zur Bedeutung kooperativer Arbeitsprozesse für die Philologien werden zur besseren Übersicht in drei Sektionen gebündelt. Jede von ihnen richtet zwar ihr besonderes Augenmerk auf einen bestimmten Problemhorizont der Kooperativität, enthält aber aufgrund der gemeinsamen Verpflichtung aller Beiträge auf die Analyse kooperativer Praktiken stets auch für die jeweiligen Nachbarsektionen relevante Beobachtungen. Sektion I – Prinzipien: Die Beiträge in dieser Sektion befassen sich mit grundlegenden historischen Weichenstellungen der Kooperativität mit Blick auf die Bedingtheit einzelner kooperativer Praxisformen im philologischen Betrieb, wobei Fragen der Kooperationsintensität, der Arbeitsteilung und der Rangordnung im Kollektiv ebenso angesprochen werden wie mediale Voraussetzungen, kommunikative Strukturen und epistemische Implikationen der Zusammenarbeit. Neben einem Empiriedefizit und begrifflichen Unschärfen in der Forschung zur Zusammenarbeit in den Philologien problematisiert Hans-Harald Müller die historischen und politischen Hintergründe der Kooperativität und ihrer Organisationsformen im wissenschaftlichen Großbetrieb der Akademien im 19. Jahrhundert. Auf dieser Basis gelangt er zu der Einschätzung, dass unter ›Symphilologie‹ weniger die tatsächliche Zusammenarbeit in Projektzusammenhängen als die methodische Selbstreflexion der Fächer zu verstehen sei. Steffen Martus stellt ausgehend von den Arbeitsweisen Jacob und Wilhelm Grimms (1786–1859) graduelle Abstufungen der Kooperativität sowie die hybride Verfasstheit der literaturwissenschaftlichen Praxis heraus. Dabei wird im Abgleich von individuellen und kollektiven Forschungsaktivitäten deutlich, dass in den Philologien bei fallweise unterschiedlich großer Kooperationsintensität eine prinzipielle Neigung zur Ausbildung kooperativer Formen besteht, die auf meist stillschweigend angewandten, aber umso wirkmächtigeren Regeln gründen. Ralf Klausnitzer macht Erkenntnisse des Epistemologen Ludwik Fleck (1896–1961) zu ›Denkstil‹ und ›Denkkollektiven‹ in den Naturwissenschaften für das Verständnis geisteswissenschaftlicher Beobachtungskollektive an der modernen Universität um und nach 1800 fruchtbar. Anhand der hermeneutischen und interpretativen Praktiken wissenschaftlicher Textlektüre schärft er den Blick für die Legitimierung disziplinenspezifischer Wahrnehmungs- und Beobachtungsstandards. Am Beispiel des 1873 gegründeten internationalen Orientalistenkongresses analysiert Pascale Rabault-Feuerhahn kollaborative Dynamiken einer disziplinären Formation. Sie problematisiert die widerstreitenden Kräfte von Spezialisierung und interdiszi31 Zum Begriff siehe z. B. Dirk Werle: Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 478–498.

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plinärer Vermittlung, nationalen Diskursen und Interkulturalität, wissenschaftlicher Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung sowie von Konkurrenz und Zusammenarbeit als notwendiger Voraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt. Auf der Kontrastfolie frühneuzeitlicher Inszenierungen gelehrter Arbeit als einsame Praxis beleuchtet Marcel Lepper am Beispiel Friedrich Creuzers (1771–1858) das Verhältnis von romantischer Programmatik und institutioneller Umsetzung der kooperativen Arbeit am Text im frühen 19. Jahrhundert. Im Gebrauch des Heidelberger Philologen erscheint ›Symphilologie‹ als nostalgisches Regulativ im sich ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Großbetrieb. Sektion II – Projekte: Die Frage, wie kooperative Arbeitsformen in verschiedenen historischen Projektzusammenhängen im Einzelnen praktisch umgesetzt wurden, verfolgen die Beiträge dieser Sektion. Abhängig vom jeweiligen Kontext und Projektzuschnitt kommen dabei unterschiedliche Modelle, Intensitäten und Funktionen von Kooperativität zur Sprache, in denen wissenschaftliche Zusammenarbeit nicht nur programmatisch oder pragmatisch angestrebt, sondern mitunter auch durchaus distanziert gesehen wurde. Der bemerkenswert elaborierten Zusammenarbeit im frühen Forschungsverbund der Fruchtbringenden Gesellschaft geht Stefanie Stockhorst nach. Anhand der Kurtzen Anleitung Zur Deutschen Poesi (1640) Ludwigs von Anhalt-Köthen und Christian Gueintz’ Deutscher Sprachlehre Entwurf (1641) zeigt sie nicht nur die kollaborative Qualitätskontrolle im Manuskriptstadium auf, sondern auch Kontroversen und dezidiertes Konkurrenzverhalten. Nacim Ghanbari zeigt am Beispiel des Korrespondenznetzwerks, das J. M. R. Lenz (1751–1792) im Entstehungsprozess seiner autobiographischen Prosadichtung Das Tagebuch in den 1770er Jahren nutzte, die Wirkweise von nicht-öffentlichen Schreibpraktiken im Vorfeld der Publikation. Aufgrund vergleichbarer Parameter liest sie diese Konstellation aus dem Literaturbetrieb als präfiguratives Modell für kollaborative Synergie in der Wissenschaft. Konzeptionelle und praktische Grenzen des Begriffs ›Symphilologie‹ für das wissenschaftliche Selbstverständnis der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert lotet Constanze Güthenke aus. Im Umfeld des klassischen Philologen August Boeckh (1785–1867) zeigt sie nicht nur Illusionen und Friktionen in kooperativen Zusammenhängen auf, sondern beobachtet darüber hinaus auch eine habituelle Zurschaustellung wissenschaftlicher Einzelleistungen. Am Beispiel von Georg Friedrich Beneckes, Wilhelm Müllers und Friedrich Zarnckes Mittelhochdeutschem Wörterbuch (1854–66) und von Matthias Lexers Mittelhochdeutschem Handwörterbuch (1872–78) wertet Norbert Kössinger die paratextuelle Inszenierung wissenschaftlicher Verdienste aus. Er stellt ein ausgeprägtes Pathos der Autoren bzw. Herausgeber bei der individuellen Zuschreibung philologischer Leistungen fest, auch wenn sie nicht vollends ohne fremde Vor- und Zuarbeiten auskommen. Mirko Nottscheid unternimmt exemplarische Rekonstruktionen

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kooperativer Strukturen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Publikum. Er verdeutlicht, wie die Zusammenarbeit zwischen Verlegern, Herausgebern und Bearbeitern in der frühen Neugermanistik in verschiedenen Projektformaten (Anthologie, Neudruck, Werkausgabe) organisatorisch wirtschaftlich ausgestaltet wurde und wie dabei der Bedarf an finanziellen und personellen Ressourcen expandierte. Sektion III – Perspektiven: Als Impuls für aktuelle und zukünftige Projektzuschnitte in den Philologien erfolgen in dieser Sektion versuchsweise Sondierungen, unter welchen Vorzeichen kooperatives Arbeiten stattfinden kann, welche Chancen es bietet und welchen Herausforderungen es zu begegnen gilt. Die Beiträge reflektieren reale und hypothetische bzw. fiktionale Szenarien der wissenschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb der Fächer, zwischen den Fächern und sogar über den engeren Kreis der Fachwissenschaft hinaus hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Grenzen. Markus Messling nimmt die Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-FranÅois Champollion (1790–1832) zum Anlass, um eine diskursive Verschränkung von wissenschaftlicher Erkenntnis und nationalkultureller Identität im napoleonischen Frankreich zu verdeutlichen. Er folgert, dass die philologische (Text-)Kritik als Praxisform der Standortbestimmung über ein zutiefst sinnstiftendes Potential verfügt, das nicht nur wissenschaftliche, sondern auch außerwissenschaftliche Kollektive mit diskursiver Evidenz unterfüttert. Anne Baillot skizziert verschiedene Formen der netz- und programmgestützten Kollaboration in digitalen Editionsprojekten, die zwar einerseits eine technikgestützte Öffnung der Wissenschaftsgemeinde bis hin zur Mitwirkung interessierter Laien ermöglichen, damit jedoch andererseits erhebliche Herausforderungen für das Richtmaß der wissenschaftlichen Autorität und für die Qualitätssicherung mit sich bringen. Die genuin kooperative Praxisform der Interdisziplinarität durchleuchtet Hans Jürgen Lüsebrink am Beispiel der im Grenzbereich von Literaturwissenschaft, Linguistik und Geschichtswissenschaft angesiedelten Begriffsgeschichte. Er macht plausibel, dass ›Interdisziplinarität‹ ein unerlässliches Instrumentarium für die kulturwissenschaftlich orientierten Philologien der Postmoderne darstellt, auch wenn der Anspruch einer integrativen Kooperation der Fächer faktisch oftmals nur kumulativ eingelöst werde. Schließlich verfolgt Ulrike Wels eine mentalitätengeschichtliche Dimension von Kooperativität in literarischen Entwürfen von Gelehrtenrepubliken bei Diego de Saavedra Fajardo (1584–1648) über Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) bis hin zu Arno Schmidt (1914–1979). Sie ermittelt, wie im Versuchsfeld der ästhetischen Projektion sowohl die inspirierenden als auch die destruktiven Kräfte wissenschaftlicher Kollektive angesetzt werden. Unser Dank gilt an erster Stelle der Grimm-Sozietät zu Berlin e. V., gegr. 1991, durch deren ermutigende Unterstützung es überhaupt erst möglich wurde, den vorliegenden Band zu realisieren. Wir danken der Niedersächsischen Staats- und

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Universitätsbibliothek Göttingen, namentlich Bärbel Mund (Abteilung Handschriften und Seltene Drucke), für die freundliche Erteilung der Reproduktionserlaubnis für die Adversarienhandschrift aus dem Bestand der SUB, die für die Umschlagillustration des vorliegenden Bandes verwendet wurde. Marie Millutat danken wir für ihr Engagement beim Layout des Umschlags. Besonderer Dank gebührt schließlich Katrin Schreinemachers für ihre überaus umsichtige und sorgfältige Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der in diesem Band versammelten Beiträge.

Sektion I: Prinzipien

Hans-Harald Müller

Groß- (und) Forschung? Symphilologie, geselliges Arbeiten und Großforschung in den Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts*

Über Kooperationsformen auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften wird – auch von Wissenschaftshistorikern – selten geforscht.1 Die vorliegenden Arbeiten leiden in der Regel unter zwei Problemen: Das erste betrifft die Bestimmung und Abgrenzung von Begriffen wie Großforschung, Großwissenschaft, Großbetrieb der Wissenschaft bzw. Forschung, gemeinschaftliches oder geselliges Arbeiten, Kooperation oder Kollaboration. Das zweite Problem resultiert aus dem mangelnden empirischen Gehalt der Forschungen: Es wird kaum je genau beschrieben, wer in den betreffenden Institutionen oder Projekten auf welche Weise und auf welchen Gebieten mit wem zusammenarbeitet. Mein Beitrag wird den Problemen nicht abhelfen, sie an drei ausgewählten Beispielen aber differenzieren und illustrieren, um am Ende einen kaum vermittelten Bogen * Torsten Kahlert, Katharina Schwarz, Carlos Spoerhase und Jens Thiel habe ich für eine kritische Lektüre früherer Versionen des Beitrags zu danken. 1 Vgl. aber z. B. Jörg Schönert: Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung. In: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 384–410; ders.: Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft. In: Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase u. Dirk Werle (Hg.): Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750. Berlin u. Boston 2015 (Historia Hermeneutica; Series Studia Bd. 12), S. 295–319; Carlos Spoerhase: Big Humanities. ›Größe‹ und ›Großforschung‹ als Kategorien geisteswissenschaftlicher Selbstbeobachtung. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38 (2010), S. 9–27; siehe dazu Torsten Kahlert: ›Große Projekte‹. Mommsens Traum und der Diskurs um Big Science und Großforschung. In: Harald Müller u. Florian Eßer (Hg.): Wissenskulturen. Bedingungen wissenschaftlicher Innovation. Kassel 2012 (Studien des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte Bd. 12), S. 67–86. – Vgl. ders.: Theodor Mommsen. Informelle Netzwerke und die Entstehung des Corpus Inscriptionum Latinarum um 1850. In: Christine Ottner u. Klaus Ries (Hg.): Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Ideen, Akteure, Institutionen. Stuttgart 2014 (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Bd. 48), S. 180–197. – Einige typische Kooperationsformen werden bestimmt in der Arbeit von Grit Laudel: Interdisziplinäre Forschungskooperation. Erfolgsbedingungen der Institution ›Sonderforschungsbereich‹. Berlin 1999, S. 29–42. Auch Laudel beklagt: »Obwohl das Phänomen Kooperation Gegenstand empirischer Forschung gewesen ist, fehlt es an Begriffsdefinitionen, die eine empirische Untersuchung leiten können.« (S. 29).

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von der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart zu schlagen. Wenden wir uns zunächst der Symphilologie zu. Der Begriff hat, im Kontext mit der Symphilosophie und Sympoesie des Athenäums-Fragments 125,2 einen Platz in der frühromantischen Ideengeschichte, aber es ist bislang nicht klargeworden, welcher Platz ihm in der Wissenschaftsgeschichte zukommt. Wenn August Wilhelm Schlegel am 13. Oktober 1832 an Jacob Grimm schrieb »[d]as sulvikokocei˜m würde mir großes Vergnügen bereiten«,3 dann bezeichnete er vermutlich in erster Linie einen Gedankenaustausch über philologische Probleme, nicht aber eine fest umrissene praktische Zusammenarbeit. Unklar bleibt, ob Martin Hertz in seiner Lachmann-Biographie Konkreteres als den Geist der Zusammenarbeit meinte, als er feststellte: »Gerade dieses sulvikokocei˜m war es, das damals die wenigen rüstigen und geschickten Arbeiter auf dem Felde deutschen Alterthums mit Freude an der Arbeit, mit dem edelsten Wetteifer und herzlicher Zuneigung erfüllte.«4 Selbst Moriz Haupts Charakterisierung der Lachmannschen Wolfram-Edition, die den drei Göttinger Freunden »Zum Gedächtniss treues Mitforschens«5 gewidmet ist, bietet, so aufschlussreich sie auch sonst sein mag, wenig Informationen über die Arbeitsweise der Forscher-Gemeinschaft: Seit kaum zwei Jahrzehnten ist die deutsche Philologie aus schwachen Keimen so weit gediehen, daß sie den Saaten benachbarter, seit langen Zeiten durch viele Hände bestellter Gefilde an gesundem und hohem Wuchse gleichsteht und zum Theil sie übertrifft. Hierbei ist allerdings die frische Kraft des Neubruchs, dessen Ergiebigkeit zu unablässiger Arbeit reizt, anzuschlagen, aber mehr noch die lautere, unselbstsüchtige Liebe zur Wissenschaft, die selbst um scheinbar Kleines sich angestrengte Mühe nicht verdrießen läßt, weil es im wissenschaftlichen Zusammenhange wichtig und unerläßlich ist, und die vertraute, gegenseitig ergänzende und fördernde Gemeinschaft. Aus diesem reinen wissenschaftlichen Sinne ist dieses Werk entstanden, sowie es durch die Widmung an die ›drei Freunde in Göttingen‹, denen es ›zum Gedächtniß treuen Mitforschens‹ zugeeignet ist, den vertrauten Kreis bezeichnet, dessen gemeinsame Thä2 »Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. […].« Friedrich Schlegel: Die Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. u. eingeleitet v. Hans Eichner. München, Paderborn u. Wien 1967, S. 185f., hier S. 185 (Nr. [125]). 3 August Wilhelm von Schlegel an Jacob Grimm, 13. Oktober 1832. In: Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Gesammelt u. erläutert durch Josef Körner. Bd. 1: Die Texte. Zürich [u. a.] 1930, S. 501–504, hier S. 503. 4 Martin Hertz: Karl Lachmann. Eine Biographie. Berlin 1851, S. 114. 5 Wolfram von Eschenbach. Hg. v. Karl Lachmann. Berlin 1833. Die Widmung lautet: »Drei Freunden in Göttingen. Ge. Fried. Benecke, Jac. Grimm, Wilh. Grimm. Zum Gedächtniss treues Mitforschens gewidmet.«

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tigkeit seine Grundlage ist, obwol es vielleicht nur dem Herausgeber in dieser gelingen konnte; jenen engverbundenen Kreis, aus dem fast Alles hervorgegangen ist, was wir in der deutschen Philologie Treffliches kennen.6

Vielleicht erweist sich für die Bestimmung des Begriffs der ›Symphilologie‹ einst der Begriff der ›Symphilosophie‹ als hilfreich, den Kurt Röttgers für die Wissenschaftsprogrammatik der Frühromantik zu explizieren versucht hat. Röttgers unterscheidet vier Begriffsvarianten; diejenige, die in unserem Kontext am ehesten einschlägig ist, bezeichnet eine emphatische Form gemeinschaftlichen Arbeitens, nämlich »Symphilosophie als bewußt kommunikative Erzeugung eines philosophischen Textes (eines gemeinsamen Werkes)«.7 Symphilologie, so lässt sich danach vielleicht vorläufig zusammenfassen, bezeichnet zum einen die Neigung zur oder den Geist der Zusammenarbeit, zum anderen recht anspruchsvolle Formen gemeinschaftlichen Philosophierens über Philologie und deren Ergebnisse. Ein wenig genauer als über die Kommunikationspraktiken und den wissenschaftlichen Austausch der Symphilologen sind wir über die gemeinschaftliche philologische Praxis der Brüder Grimm und ihrer Korrespondenten informiert. Ina Lelke hat sie in ihrer Arbeit über Die Brüder Grimm in Berlin zusammenfassend charakterisiert als den Austausch von Sammlungen, Exzerpten und Belegstellen sowie die Information »über neu entdeckte Manuskripte, verliehene Codices und Buchbestände von Privatbibliotheken«.8 Am präzisesten be6 Moriz Haupt: [Rez.] Karl Lachmann: Wolfram von Eschenbach. Herausgegeben von Karl Lachmann. Berlin 1833. In: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 223 (11. August 1835), S. 917–919; sowie Nr. 224 (12. August 1835), S. 921–923, hier S. 921. – Der Hinweis auf Haupts Rezension findet sich bei Holger Dainat u. Rainer Kolk: »Geselliges Arbeiten«. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987) [Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp], S. 7–41, hier S. 23. – Unter dem Begriff ›Geselliges Arbeiten‹ haben Holger Dainat und Rainer Kolk hier erstmals einige charakteristische Kommunikationsformen der vordisziplinären Frühgermanistik zusammengefasst. Der Begriff eignet sich indes eher zu einer Charakterisierung der Integration von privaten, öffentlichen, formalen und informellen Arbeitsanteilen, die in der Phase der Disziplinentstehung noch verbunden wurden, als zur Kennzeichnung empirischer Formen der Kooperation. Vgl. dazu auch Theresa Wobbe: Die longue dur8e von Frauen in der Wissenschaft. Orte, Organisationen, Anerkennung. In: dies. (Hg.): Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000. Berlin 2002 (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungsberichte Bd. 10), S. 1–30, hier S. 16–17. – Zur Omnipräsenz des Geselligkeitsbegriffs vgl. Emanuel Peter : Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und Kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999 (Studien zur deutschen Literatur Bd. 153). 7 Kurt Röttgers: Symphilosophieren. In: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981), S. 90–119, hier S. 91. 8 Ina Lelke: Die Bru¨ der Grimm in Berlin. Zum Verhältnis von Geselligkeit, Arbeitsweise und Disziplingenese im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2005 (Berliner Beiträge zur Wissen-

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schrieben ist bislang die in den ›Adversarien‹ überlieferte Kommunikation und Kooperation zwischen Jacob Grimm und dem Göttinger Bibliothekar und Professor Georg Benecke, der in der Frühphase der Germanistik eine wichtige Rolle spielte. Es handelt sich hierbei um einen organisierten und formalisierten Austausch von wissenschaftlichen Informationen, Kommentaren und kontroversen Auffassungen, der – von Grimms Seite zehn Jahre, von Beneckes Seite vier Jahre – neben der gleichzeitigen privaten Korrespondenz betrieben wurde.9 Die Anordnung der Adversarien in Spalten und die Nummerierung der Fragen ermöglichte im Hin und Her der Sendungen in der Regel eine präzise kontinuierliche Bezugnahme auf Fragen bzw. Thesen des Korrespondenzpartners. Die Funktion der Adversarien beschrieb Lothar Bluhm 1993 wie folgt: Sie waren die ökonomische Form eines intensivierten wissenschaftlichen Dialogs, gestatteten im wechselseitigen Austausch einen schnelleren und gezielteren Zugriff auf Probleme und Detailfragen, die das Vermögen eines Einzelnen überfordert hätten. Sie boten darüber hinaus auf der privaten Ebene einen Erprobungsraum für Hypothesen und erleichterten durch die Zusammenstellung einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen die Formulierung allgemeiner Gesetze, was sich besonders in Grimms Deutscher Grammatik produktiv niedergeschlagen hat. Als eine komprimierte Korrespondenzform verbinden die Adversarien Elemente von Beilage, Konzept, Korrektur und Notizensammlung mit solchen des Briefs.10

Die kooperativen Arbeitsformen im Umkreis der Grimms betreffen mithin in erster Linie die Beschaffung, Sammlung und Anordnung von Materialien, die für die Forschung benötigt werden (im Falle der Adversarien und der Edition kritischer Textausgaben wie des Iwein),11 aber auch den Forschungsprozess selbst. Symphilologie und die frühen Formen gemeinschaftlichen oder geselligen Arbeitens in der Germanistik gelten also, soweit bekannt, recht verschiedenen Bereichen philologischen Denkens und Arbeitens, die nicht durch einen Begriff bezeichnet werden können und sich auch nicht durch einander ersetzen lassen.12

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schaftsgeschichte Bd. 9), S. 92. – Vgl. auch dies.: Die Berliner Akademie der Wissenschaften und die »arbeitende Geselligkeit«. In: Theresa Wobbe (Hg.): Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000, S. 65–92. – Den Arbeiten von Ina Lelke verdanke ich eine Reihe von Anregungen und Hinweisen. Berthold Friemel: Die Göttinger Adversarienhandschrift Benecke-Grimm. In: Zeitschrift für Germanistik; M. F. 5 (1995), H. 1, S. 96–103, hier S. 97. Lothar Bluhm: Adnoten zum Gelehrtenbrief. Die Grimm-Beneckeschen »Adversarien«. In: Lothar Bluhm u. Andreas Meier (Hg.): Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Würzburg 1993, S. 93–107, hier S. 107. Vgl. dazu Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm – Benecke – Lachmann. Eine methodenkritische Analyse. Berlin 1975 (Philologische Studien und Quellen Bd. 77), bes. Abschnitt 3.2 Die beiden ersten Ausgaben des Iwein. Vgl. dagegen Vinzenz Hoppe u. Kaspar Renner : ›Symphilologie‹. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Briefwechsels zwischen Jacob Grimm und August Wilhelm von

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Während die Korrespondenznetzwerke der Brüder Grimm und anderer Forscher in der Frühzeit der Germanistik noch die verstetigten Kommunikations- und Kooperationsformen einer institutionalisierten Wissenschaft ersetzen mussten,13 gab es in der Preußischen Akademie der Wissenschaften bereits Ansätze einer organisierten Forschung,14 vor allem im Bereich der durch Friedrich August Wolf und August Boeckh erneuerten Altertumswissenschaft.15 Dass das Medium der Organisation die Forschung, die Wissenschaft und das Selbstverständnis der Wissenschaftler allmählich veränderte und ein neues Bild der Wissenschaft erzeugte, hat Hubert Laitko verdeutlicht. Auch im alten Bild der Wissenschaft als gemeinschaftliches Werk der Menschheit war, so Laitko, das Selbstgefühl des Wissenschaftlers – ungeachtet gelegentlicher Ausbrüche von Heroenkult – in der Regel nicht individualistisch. Man sah sich als Diener an einem überpersönlichen Werk, zu dem man Bausteine zu liefern hatte, deren Tauglichkeit nach überpersönlichen Objektivitätskriterien beurteilt wurde. Wenn man weiter blickte als die Vorgänger, dann deshalb, weil man auf deren Schultern stand, und man war sich bewußt, bestenfalls die eigenen Schultern den Nachfolgern für noch umfassendere Ausblicke darbieten zu dürfen. In diesem Bild war das Individuum unvermittelt mit dem Gesamtwerk konfrontiert. Das Organisationskonzept hingegen setzte den individuellen Wissenschaftler nicht direkt, sondern vermittelt über sein geregeltes Zusammenwirken zum Wissenschaftsganzen in Beziehung.16

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Schlegel. In: Ulrich Breuer, Remigius Bunia u. Armin Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie. Paderborn [u. a.]. 2013 (Schlegel-Studien Bd. 7), S. 71–96, hier S. 94: »Die durchaus technische Form der Adversarien, die Grimm und Benecke dabei entwickeln, scheint dem fortgeschrittenen Stand einer gleichermaßen spezialisierten wie professionalisierten Germanistik viel eher angemessen zu sein, als Schlegels noch frühromantisch geprägte Vision einer Symphilologie.« Vgl. dazu insgesamt Dainat u. Kolk: »Geselliges Arbeiten«. Vgl. zum folgenden Abschnitt auch Spoerhase: Big Humanities, vor allem den Abschnitt »Altertumswissenschaft als Avantgarde der ›Großwissenschaft‹?« (S. 14–17). Vgl. dazu Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet von Adolf Harnack. Erster Band. Zweite Hälfte. Berlin 1900, S. 667: »Aus der engen Verbindung der Philologie mit der Geschichte der antiken Philosophie, dem Rechtsstudium und der Kunstwissenschaft entsprang die neue Alterthumswissenschaft. Der ihren Plan entworfen und die zukünftigen Meister gebildet hatte [F. A. Wolf], hielt sich jetzt abseits; aber in dem Freundschaftsbund und der gemeinsamen Arbeit Niebuhrs, Schleiermachers, Savignys und Böckhs, denen Buttmann und Bekker zur Seite standen, wurde sie verwirklicht.« Hubert Laitko: Die Jahrhundertwende und die Idee der Organisation in der Wissenschaft. In: Wilfried Schröder (Hg.): From Newton to Einstein. A Festschrift in Honour of the 70th Birthday of Hans-Jürgen Treder. [o. O.] [Bremen-Roennebeck] 1998 (Mitteilungen des Arbeitskreises Geschichte der Geophysik DGG Bd. 17, H. 3/4), S. 286–309, hier S. 288. – Die Idee einer modernisierten Philologie verbindet etwa Julius Mützell 1835 noch mit dem alten Bild der Wissenschaft: »Zur Verwirklichung einer solchen Idee ist die Kraft des Einzelnen zu gering: nur durch eine Verständigung, durch eine gemeinsame Anstrengung Vieler kann sie vorbereitet und endlich erreicht werden« (Julius Mützell: Andeutungen über das Wesen und die Berechtigung der Philologie als Wissenschaft. Berlin 1835, S. 42).

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Die Idee einer überindividuellen Forschungsorganisation wurde in den Altertumswissenschaften schon bald nach der Neuordnung des Bildungswesens zu Beginn des 19. Jahrhunderts virulent – zur selben Zeit also wie der Humboldt’sche Imperativ zur individuellen Forschung in Einsamkeit und Freiheit,17 mit dem er alsbald in Konflikt zu geraten drohte. Historisch wurde dieser Konflikt bereits in der kritischen Bemerkung, mit der August Boeckh Anfang 1815 seinen Antrag auf Förderung der Erfassung »a l l e r antiken Inschriften«18 durch die Preußische Akademie der Wissenschaften einleitete, sehr deutlich. Die Akademie genüge den an sie zu richtenden Ansprüchen nicht, meinte Boeckh, und es könne keinesfalls ihr Zweck sein, »dass Einzelne einer sehr geringen und selten auch nur zur Hälfte versammelten Anzahl von Mitgliedern Abhandlungen vorlesen, welche bloss das Werk Einzelner sind«19 – einen solchen Zweck könne auch jede der zahlreichen Berliner Privatgesellschaften erfüllen. Boeckh fuhr fort: Der Hauptzweck einer Königlichen Akademie der Wissenschaften muss dieser sein, Unternehmungen zu machen und Arbeiten zu liefern, welche kein Einzelner leisten kann, theils weil seine Kräfte derselben nicht gewachsen sind, theils weil ein Aufwand dazu erfordert wird, welchen kein Privatmann zu machen wagen wird. Die mathematische Klasse der Akademie so wie die physische hat früherhin zu besonderen Unternehmungen Bewilligungen von Geldern erhalten: es würde aber ein grosses Vorurtheil sein zu glauben, dass die philologisch-historische Klasse dergleichen nicht bedürfe. Auch im Gebiete ihrer Forschungen giebt es Gegenstände, welche ohne Unterstützung des Staates durchaus unausführbar sind, und wenn sie nicht allmählich Bedürfnisse der Art zu befriedigen bestrebt ist, so verfehlt sie durchaus den Zweck der Akademie, und ihre Thätigkeit geht immer nur in dem Kreise fort, welchen der Einzelne ausfüllen kann.20

Dass gerade Boeckh mit seiner sonst so auf das Individuum konzentrierten Wissenschaftsauffassung21 zum Initiator einer kooperativen Forschung wurde,

17 Vgl. dazu Hubert Laitko: Persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation als Leitgedanke der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Reichweite und Grenzen, Ideal und Wirklichkeit. In: Bernhard vom Brocke u. Hubert Laitko: Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte: Das Harnack-Prinzip. Berlin u. New York 1996, S. 583–632, hier S. 591. 18 Zitiert nach Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 668. 19 Zitiert nach ebd., S. 669. – Der Hinweis auf Boeckhs Antrag findet sich in diesem Kontext schon bei Lelke: Die Bru¨ der Grimm in Berlin, S. 63. 20 Zitiert nach Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 669. 21 Vgl. Axel Horstmann: Die Forschung in der klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts. In: Alwin Diemer (Hg.): Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Referate und Diskussionen des 10. wissenschaftstheoretischen Kolloqui-

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bedarf vielleicht einer Erläuterung. Das Ziel von Boeckhs Inschriftenprojekt war, kurz gesagt, die Gewinnung eines integrativen, möglichst vollständigen Bildes des Altertums auf der Basis einer kritischen quellenkundlichen Erschließung der Überlieferung. »Die Erkenntniss des Alterthums in seinem ganzen Umfange kann also allein der Zweck dieser Philologie sein, und dies ist gewiss nichts Gemeines«, hieß es in Boeckhs Encyklopädie, »denn es ist ja Erkenntniss des Edelsten, was der menschliche Geist in Jahrtausenden hervorgebracht hat […]«.22 Eine solche Erkenntnis ist nach Boeckh freilich »nur ein Ideal, welches nie völlig erreicht werden kann, indem es unmöglich ist alle Einzelheiten zu einer Totalanschauung zu verbinden; aber es muss wenigstens das Bestreben dahin gehen und die Aufgabe darf nie aus den Augen gelassen werden.«23 Im Dienste dieses Bestrebens stand, so ist zu vermuten, Boeckhs Inschriftenprojekt. Die Sammlung, Ordnung und Kritik von Quellen im Dienste einer nur approximativ zu gewinnenden Totalanschauung des zugleich ideal und empirisch gedachten Altertums erschien ihm als eine einheitliche Aufgabe der organisierten Forschung. »Unternehmungen zu machen und Arbeiten zu liefern, welche kein Einzelner leisten kann«24 – dieser ursprünglich von Boeckh formulierte Grundsatz wurde

ums 1975. Meisenheim a. G. 1978 (Studien zur Wissenschaftstheorie Bd. 12), S. 27–57, bes. S. 40–48. 22 August Boeckh: Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hg. v. Ernst Bratuschek. 2. Aufl., besorgt v. Rudolf Klussmann. Leipzig 1886, S. 25; vgl. im Zusammenhang Axel Horstmann: Die Forschung in der klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts, S. 43. 23 Boeckh: Encyclopädie, S. 57. 24 In seiner Rede über Die von der historisch-philologischen Klasse veranlassten Unternehmungen der Berliner Akademie charakterisierte Boeckh dieselben etwas ausführlicher : »Die wissenschaftlichen Unternehmungen aber, welche eine Akademie hervorzurufen und zu unterstützen hat, sind in der Regel solche, welche nicht im Laufe eines oder zweier Jahre vollendet werden können; grössere Arbeiten, welche ausserordentliche Vorbereitungen, kostspielige Herbeischaffung eines bedeutenden und weit zerstreuten Stoffes und mühevolle selbst bei ungewöhnlicher Ausdauer langsam fortschreitende Verarbeitung desselben erheischen, endlich sogar zur Bekanntmachung der Beihülfe bedürfen, weil auch diese einen grossen Aufwand erzeugt, dessen baldige Ersetzung sich nach den gegebenen Umständen kaum erwarten lässt, solche weitaussehende Plane, deren allmälige Ausführung vielleicht in den ersten Jahren noch nicht einmal ein schon reifes Ergebniss liefert, was sich sofort vollständig aufweisen liesse, sind es eigentlich, für welche die Unterstützung einer Akademie mit vollem Rechte in Anspruch genommen wird, wodurch die Erreichung des Zweckes zugleich von der Persönlichkeit eines Einzelnen unabhängig gemacht und sicher gestellt wird.« (Boeckh: Einleitungsrede gehalten in der öffentlichen Sitzung der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften zur Feier des Geburtstagsfestes Seiner Majestät des Königs Friedrich Wilhelms III. am 4. August 1836. In: August Boeckh’s Reden. Gehalten auf der Universität und in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Hg. v. Ferdinand Ascherson. Leipzig 1859, S. 218–228, hier S. 222).

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fortan der »leitende Gedanke«25 der philosophisch-historischen Klasse der Berliner Akademie im 19. Jahrhundert. Wenngleich, wie Stefan Rebenich hervorgehoben hat, die Großwissenschaft recht eigentlich mit dem 27. April 1858, mit Theodor Mommsens Wahl zum ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, begann,26 weil erst Mommsen zum Motor der organisatorischen Modernisierung der Akademieprojekte wurde, ließen sich die systematischen Probleme des Formats Großforschung bereits anhand von Boeckhs Antrag zur Bearbeitung des Corpus Inscriptionum Graecorum erkennen. Die für das Projekt erforderlichen, in der Menge nur grob abschätzbaren Daten zu sammeln, zu sichten, kritisch zu prüfen und zu beschreiben war in der Tat eine Aufgabe, »welche kein Einzelner leisten kann«. Großprojekte diesen Ausmaßes betrachtete Theodor Mommsen als Aufgabe des Staates, die von der Akademie wahrzunehmen seien: Alle die wissenschaftlichen Aufgaben, welche die Kräfte des einzelnen Mannes und der lebensfähigen Association übersteigen, vor allem die überall grundlegende Arbeit der Sammlung und Sichtung des wissenschaftlichen Materials muß der Staat auf sich nehmen, wie sich der Reihe nach die Geldmittel und die geeigneten Personen und Gelegenheiten darbieten. Dazu bedarf er eines Vermittlers; und das rechte Organ des Staates für diese Vermittelung ist die Akademie.27

Durch »Theodor Mommsens vorbildliches Beispiel und unerhörte Energie« sei, so schrieb Konrad Burdach 1923, »immer überwiegender als Hauptaufgabe der Akademie der sogenannte Großbetrieb wissenschaftlicher Produktion organisiert worden«, d. h. die Arbeit an Unternehmungen umfassender Art, in denen große Stoffmassen durch Verteilung an mehrere Mitarbeiter und Hilfskräfte nach einem einheitlichen Plan unter Leitung eines Akademiemitglieds oder einer Akademie-Kommission herausgegeben oder kritisch behandelt werden, z. B. die griechischen und lateinischen Inschriften, die Kommentare zu den Werken des Aristoteles, die Werke der Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte, die Schriften der alten griechischen Ärzte, die Verwaltungs- und Staatsakten der brandenburgisch-preußischen Geschichte, die Korrespondenz Friedrichs des Großen, die Werke Leibnizens und Kants, das Wörterbuch der deutschen

25 Ebd., S. 670. – Vgl. den Zusammenhang resümierend Bernd Seidensticker : Die Altertumswissenschaften an der Berliner Akademie. Rückblick und Gegenwart. In: Hyperboreus 19 (2014), S. 72–87, hier S. 73. 26 Stefan Rebenich: Die Altertumswissenschaften an der Preussischen Akademie der Wissenschaften in der Zeit von U. von Wilamowitz-Moellendorf (1848–1931), A. von Harnack (1851–1930) und E. Meyer (1855–1930). In: Hyperboreus 19 (2014), S. 44–71, hier S. 46; differenzierter dazu Thorsten Kahlert: Theodor Mommsen. 27 Theodor Mommsen: Rede am Leibnizschen Gedächtnistage. 2. Juli 1874. In: Mommsen: Reden und Aufsätze. Berlin 1905, S. 39–49, hier S. 47.

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Rechtssprache, das Wörterbuch der ägyptischen Sprache, die enzyklopädischen Werke ›Das Pflanzenreich‹ und ›Das Tierreich‹.28

Die Resultate solcher Projekte betrachtete Hermann Diels, Mommsens Nachfolger als Sekretar der philosophisch-historischen Klasse der Akademie, freilich eher als eine Zulieferung zur Wissenschaft denn als Wissenschaft – oder gar Forschung – selbst: Daher bleibt der Großbetrieb der Akademien selbstverständlich auf Unternehmungen gerichtet, deren Methode und Ziel feststeht, die aber Ausdauer, Kenntnis und vor allem reichliche materielle Mittel zur Ausführung verlangen. Was auf diese Weise zustande kommt, ist in der Regel nicht selbst Wissenschaft in höchster Potenz, sondern vor allem Mittel zum Zweck, Erleichterung und Sicherung der von hier aus weiter Strebenden, Logarithmentafeln für die höhere Wissenschaft.29

Innovatorische Leistungen wurden nach Diels nicht von derartigen Projekten realisiert, sondern blieben dem Einzelnen vorbehalten: Aber daß eine ganze Akademie oder auch nur eine ihrer Kommissionen ein wirklich epoche-machendes wissenschaftliches Werk durch gemeinsame Arbeit zustande gebracht hätte, davon gibt es meines Wissens kein Beispiel. Selbst wo geniale Forscher mit beinah unumschränkter Vollmacht in den Akademie schalten und walten durften: ihr Eigenstes und Bestes haben sie nicht in den Akademieschriften oder gar in den großen Serienfolianten niedergelegt. Das geniale Werk liebt die Einsamkeit.30

Das vielleicht wichtigste systematische Problem, das die organisierte Großforschung aufwarf, war in der Tat das Verhältnis von individueller und kooperativer Arbeit. Wenn die eigentliche kreative Arbeit auf Seiten des Individuums lag – und davon waren die Mitglieder der Akademie überzeugt –, welche Leistung erbrachte dann die kooperative Arbeit, welche Funktion und welchen Sinn hatte sie? Für Theodor Mommsen stand außer Frage, dass der kooperativen Arbeit eine rein instrumentelle Funktion bei der Materialbeschaffung zukam:

28 Konrad Burdach: Die deutschen wissenschaftlichen Akademien und der schöpferische nationale Geist [1923, publiziert 1924]. In: ders.: Vorspiel. Gesammelte Schriften zur Geschichte des deutschen Geistes. Bd. 2: Goethe und sein Zeitalter. Halle/Saale 1926, S. 546–580, hier S. 556. – Eine vollständige Liste der Unternehmen und Kommissionen der Preußischen Akademie bis 1914 findet sich bei Bernhard vom Brocke: Verschenkte Optionen. Die Herausforderung der Preußischen Akademie durch neue Organisationsformen der Forschung um 1900. In: Jürgen Kocka [u. a.] (Hg.): Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich. Berlin 1999 (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungsberichte Bd. 7), S. 119–149, hier S. 127. 29 Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft. In: Wilhelm Lexis [u. a.] (Hg.): Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart. 2., verbesserte u. vermehrte Aufl., Berlin u. Leipzig 1912, S. 632–692, hier S. 668. 30 Ebd.

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Freilich große Erfolge werden in jeder Wissenschaft nur dem Ernst und dem Geist des einzelnen Arbeiters gelingen und lassen sich nicht durch Akademiebeschlüsse erzielen; wohl aber vermögen sie es dem Genie die Stätte zu bereiten, ihnen die Materialien zurechtzulegen, deren sie bedürftig sind. In diesem Sinne fasse ich meine Aufgabe und hoffe ich sie von Ihnen aufgefaßt zu sehen. Es ist die Grundlegung der historischen Wissenschaft, daß die Archive der Vergangenheit geordnet werden.31

Den ›treuen Arbeitern‹, die »dem genialen Forscher den Weg bahnen«,32 bleibt ihr Beitrag zum Forschungsergebnis verborgen; ob die Leistung des Einzelnen überhaupt sinnvoll ist, entscheidet erst die – in vielleicht ferner Zukunft erfolgende und in Einzelfällen nie erfolgte – Auswertung des von den Hilfsarbeitern gesammelten Materials. Mommsen drückte das in einem eigentümlich vormodernen Bild aus: Ob jedes Stück, das er aufhebt und aufheben muß, auch wirklich des Aufhebens wert sei, danach fragt der Archivar zunächst nicht. Wenn das weite Feld der lateinischen Inschriften einmal zu übersehen sein wird, so wird das taube Gestein unschädlich liegen bleiben, der wirklich fruchtbare Boden aber schon von denen, die es angeht, zu Acker- und Saatland umgebrochen werden.33

In der von Mommsen umrissenen Konzeption der organisierten Großforschung – die von der Akademie geförderten Wörterbücher und Editionen sowie die Katalogisierungen im Pflanzenreich und der Astronomie bedürften einer differenzierten Untersuchung und bleiben hier außer Betracht34 – wird die wissenschaftliche Tätigkeit in zwei Phasen aufgegliedert: eine Phase der Sammlung und Sichtung der Zeugnisse, die einen instrumentellen Charakter besitzt, und eine Phase der Auswertung, von der allein der Sinn des Gesamtprojekts abhängt – in Wilamowitz’ Formulierung: Der Großbetrieb der Wissenschaft kann die Initiative des einzelnen nicht ersetzen; […] aber der einzelne wird in vielen Fällen seine Gedanken nur im Großbetrieb durchführen können. Dazu muß ihm die gelehrte Körperschaft verhelfen. Und da sie nicht stirbt, kann sie für den Fortgang der Materialsammlung sorgen, deren wir nicht ent31 Theodor Mommsen: Antrittsrede. 8. Juli 1858. In: ders.: Reden und Aufsätze, S. 35–38, hier S. 37. 32 Theodor Mommsen: Rede am Leibnizschen Gedächtnistage. 2. Juli 1874, S. 47. 33 Theodor Mommsen: Antrittsrede. 8. Juli 1858. In: ders.: Reden und Aufsätze, S. 35–38, hier S. 38. 34 Von herausragender Qualität ist in unserem Kontext die Untersuchung »Das Woerterbuch der Aegyptischen Sprache – Ein ›Wissenschaftlicher Großbetrieb‹, das 4. Kapitel von Thomas L. Gertzen: Pcole de Berlin und »Goldenes Zeitalter« (1882–1914) der Ägyptologie als Wissenschaft. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Ebers, Erman und Sethe. Berlin [u. a.] 2013. – Gertzen resümiert nicht allein die Vorgeschichte und Geschichte des Wörterbuchs, sondern beschreibt auch die Organisation und die Kooperationsformen innerhalb des Wörterbuchprojekts. Den Hinweis auf Gertzens Buch verdanke ich Jens Thiel.

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raten können. Das ist viel, aber das Entscheidende fällt erst dem zu, der dies Material verwertet.35

August Boeckh hatte sich noch bemüht, der Materialbeschaffung eine eigene Würde zu verleihen, indem er sie – nach dem alten Bild der Wissenschaft – als Baustein zum einstigen »Prachtbau der menschlichen Erkenntnis« bezeichnete und darauf insistierte, dass prinzipiell jeder der an der Materialbeschaffung Beteiligten gleichberechtigt in der Lage sein müsse, anhand seines Beitrags die einstige Gesamtleistung zumindest zu antizipieren: Der volle Lohn für die mühsame Beschaffung des Materials, dessen die Wissenschaft bedarf, wird uns eben durch das Bewußtsein zutheil, daß die Bausteine, die wir zusammentragen, sich allmälig zu einem einheitlichen Kunstwerk und Prachtbau der menschlichen Erkenntnis fügen, wenn auch dessen Vollendung wegen der Unendlichkeit der Wissenschaft in weiter Ferne liegt. Ist für die Aufrichtung dieses Baues die Theilung der Arbeit ein nothwendiges Gesetz, kann der Einzelne auch bei der größten Begabung nicht das ganze in der Ausdehnung umfassen, so wird doch wie der Zweck des bürgerlichen Staates von der Gesammtheit seiner Glieder, also der Zweck der Wissenschaft von der Gesammtheit des Gelehrtenstaates vollbracht: nur sollen dem Wesen der Wissenschaft gemäß, in diesem alle ebenbürtig und keiner bloß Handlanger sein, jeder vielmehr, wie er sich auch beschränke, in seinem begrenzten Gegenstande der Tiefe nach die Idee des Ganzen mikrokosmisch erkennen.36

Mit dem letzten Satz berührte Boeckh das zweite systematische Problem der organisierten Projektarbeit:37 die Frage, ob – und gegebenenfalls in welchem Umfang – die Projektarbeit kollegial oder hierarchisch organisiert sein soll. Schon Boeckhs Strategien zur Umsetzung des Inschriftenwerks wiesen in die 35 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: Geschichte der Philologie. [Nachdruck der 3. Aufl. (1927)]. Leipzig 1959, S. 71. 36 August Boeckh: Festrede gehalten auf der Universität zu Berlin am 15. October 1855 [Ueber die Pflichten der Männer der Wissenschaft gemäß der bisherigen Entwickelung und dem gegenwärtigen Standpunct derselben]. In: August Boeckh’s Reden, S. 115–130, hier S. 128; zitiert bei Lelke: Die Bru¨der Grimm in Berlin, S. 42. – Im Kern wiederholte Boeckh hier, was er bereits 1827 in seiner Erwiderung auf Gottfried Hermann geschrieben hatte: »[…] die Philologie muß aus den Sprachdenkmälern, ohne beim Verstehen der Sprache selbst stehen zu bleiben, das ganze Gebiet der Thatsachen und des Gedankens darstellen, allerdings, was den Betrieb der Einzelnen betrifft, mit der möglichsten von Hermann empfohlenen Theilung der Arbeit; nur darf diese nicht fabrikmäßig zu sehr ins Kleine gehen, wie etwa wo Nadeln gemacht werden, der eine Drähte schmiedet, der andere zuspitzt, der dritte Köpfe dreht, der vierte sie aufsetzt, sondern jeder tüchtige Gelehrte muß zugleich bestrebt seyn sich die Umsicht des Fabrikherrn zu erwerben und einen großen Ueberblick zu gewinnen, ohne welchen er ein bloßer Handwerker seyn wird.« (August Boeckh: Ueber die Logisten und Euthynen der Athener, mit einem Vorwort und einem Anhang. In: Rheinisches Museum für Philologie und griechische Philosophie 1 [1827], S. 39–107, hier S. 42, auszugsweise zitiert bei Kahlert: Theodor Mommsen, S. 186). 37 Vgl. dazu Laitko: Persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation als Leitgedanke der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, S. 611.

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Richtung einer hierarchischen Ordnung. Bereits 1818 hielt er es für erforderlich »jüngere, durch kein anderes, wenigstens kein bedeutenden Zeitaufwand erforderndes Amt beschäftigte, thätige und talentvolle Männer« heranzuziehen, »welche theils von der Akademie Aufträge zu eigener Ausführung erhielten, theils die vielfach beschäftigten, älteren Mitglieder in ihrer akademischen Thätigkeit unterstützen und unter deren Anleitung arbeiten«.38 Diese Vorstellungen konnte Boeckh erst 1838 gegen die Widerstände in der Akademie durchsetzen;39 dazu zählte freilich noch nicht seine Idee der »Anstellung von Adjuncten«40 oder »Gehülfen«, wie sie Schleiermacher »aus dem Gesichtspunkt gemeinschaftlicher Arbeit unentbehrlich«41 schien. Mittelfristig bildete sich indes »eine Organisationsform heraus, in der die Kommissionsmitglieder lenkend und beaufsichtigend tätig waren, während die eigentliche Arbeit durch ›Hülfsarbeiter‹42 erledigt wurde, die an den Verhandlungen der Kommissionen keinen Anteil hatten«.43 Für Mommsen stand die hierarchische Struktur der akademischen Großforschung völlig außer Frage; für ihn galt das Prinzip, dass »die Großwissenschaft nicht von einem geleistet, aber von Einem geleitet wird«.44 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte die geisteswissenschaftliche Großforschung die Züge angenommen, die Laitko in dem eingangs zitierten 38 Aus Boeckhs Entwurf zu den Akademiestatuten zitiert von Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 686; vgl. ebd.: »Bei der Wahl derselben müsste aber nicht allein auf wissenschaftliche Qualifikation, sondern auch ganz vorzüglich auf ihren sittlichen Charakter gesehen werden, da man viel mit ihnen gemeinschaftlich arbeiten müsste, und sie folglich von der Art sein müssten, dass man sich leicht mit ihnen verständigen könnte. Sie müssten also lenksam und verträglich sein […].« Das Zitat findet sich in diesem Kontext schon bei Lelke: Die Bru¨der Grimm in Berlin, S. 64. 39 Vgl. Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 783. 40 Ebd., S. 687; zu den Adjuncten vgl. auch Boeckhs Ausführungen ebd., S. 703. 41 Ebd., S. 689. 42 Zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse für Hilfsarbeiter vgl. Petra Hoffmann: Weibliche Arbeitswelten in den Wissenschaften. Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890–1945. Berlin 2011, S. 236–237. – Prinzipiell galt: »Mehrheitlich hatten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Akademieprojekten keine Aussichten auf eine Stelle im Beamten- oder im Angestelltenverhältnis bei der Akademie und verblieben in befristeten und damit unsicheren Arbeitsverhältnissen ohne Aufstiegsperspektiven.« (ebd., S. 239). – Detaillierte empirische Untersuchungen zur Beschäftigung von Frauen in Akademieprojekten enthält der letzte Teil von Hoffmanns Arbeit, Wissenschaftlerinnen an der PAW zu Berlin, S. 231–348. 43 Rainer Hohlfeld, Jürgen Kocka u. Peter Th. Walter : Vorgeschichte, Struktur, wissenschaftliche und politische Bedeutung der Berliner Akademie im Kaiserreich. In: dies. (Hg.): Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich. Berlin 1999, S. 399–462, hier S. 439. 44 Theodor Mommsen: Antwort an Harnack, 3. Juli 1890. In: Mommsen: Reden und Aufsätze, S. 209.

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neuen, organisationsvermittelten Bild der Wissenschaft umrissen hat. Was Boeckh als einheitliche Aufgabe einer von der Akademie gemeinschaftlich organisierten und betriebenen Forschung konzipiert hatte, nämlich die Sammlung und kritische Prüfung antiker Quellen im Dienste einer Totalanschauung des zugleich ideal und empirisch gedachten Altertums, war in der rasanten Entwicklung der organisierten Forschung zerfallen in einen Teil der Sammlung und Prüfung, dem das Prädikat der Forschung allenfalls marginal zukam, und in einen – häufig gar nicht mehr verwirklichten – Teil der Auswertung und synthetischen Deutung einer kaum mehr überschaubaren Datenmenge. »Während die ›Heroen‹ noch in der Lage waren«, schreibt Stefan Rebenich, »die Ergebnisse ihrer weitverzweigten und komplexen Detailstudien zu überblicken und in großen Synthesen zu bündeln, vermochten sich ihre ›Epigonen‹ immer weniger aus der Isolation einer hochspezialisierten Realienforschung zu befreien.«45 Zugleich hatte Boeckhs Wissenschaftkonzeption ihre Verbindlichkeit verloren: An die Stelle der Idee, dass die Kultur der Griechen und Römer Ideal und Grundlage von Bildung und Wissenschaft war, war die Überzeugung getreten, dass das Ideal der Wissenschaft die organisierte empirische Forschung selbst war ; an die Stelle eines forschungsorientierenden Idealismus war ein Realismus getreten, von dem keine Orientierung mehr ausging.46 Im Gefolge der Altertumswissenschaften wuchsen der Wunsch und das Bedürfnis nach organisierter Forschung im letzten Jahrhundertdrittel auch in den jüngeren Geisteswissenschaften, die sich im Zuge des Ausbaus des höheren Bildungswesens in raschem Tempo differenzierten und die von dem explosionsartigen Anwachsen der Menge der in kurzer Zeit ermittelten Quellen betroffen waren. Die einem empiristischen Forschungsideal folgenden Wissenschaftler wurden früher oder später mit der Einsicht konfrontiert, dass sie als Individuen weder die Daten ihres Forschungsgebiets noch die Ergebnisse der auf demselben Gebiet arbeitenden Forscherinnen und Forscher je vollständig zur Kenntnis nehmen und verarbeiten können würden. Von dieser Einsicht ging Jakob Minor 1894 in seinem bekannten Aufsatz über Centralanstalten für literaturgeschichtliche Hilfsarbeiten aus:

45 Stefan Rebenich: Vom Nutzen und Nachteil der Großwissenschaft. Altertumswissenschaftliche Unternehmungen an der Berliner Akademie und Universität im 19. Jahrhundert. In: Annette M. Baertschi u. Colin G. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts. Berlin [u. a.] 2009 (Transformationen der Antike Bd. 3), S. 397–421, hier S. 411. 46 Vgl. ebd., S. 412ff., und Adrian Stähli: Vom Ende der Klassischen Archäologie. In: Stefan Altekamp [u. a.] (Hg.): Posthumanistische Klassische Archäologie. Historizität und Wissenschaftlichkeit von Interessen und Methoden. München 2001, S. 145–165.

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Der Zeit und Kraft eines Einzelnen und selbst des Fleißigsten spotten die Riesenmassen gedruckten und ungedruckten Materiales, denen wir gegenüberstehen. Jeder von uns hat eine Unmasse von Zeit und Mühe an Zettelkästen und Notizbücher gewendet, nur um sich zuletzt sagen zu müssen, daß unser Leben kurz ist und daß ein armer Teufel über den Anfängen dieser Arbeit sterben muß.47

Arbeitsteilung und Spezialisierung blieben, so behauptete Minor, so lange unzureichende Mittel, um der Probleme Herr zu werden, wie ihnen nicht eine organisierte »Verteilung der Arbeit, die Anweisung der Quellen und die Lieferung des Materiales vorausgehen, d. h. die Arbeit aus dem Ganzen«,48 für die der Staat durch Errichtung und Finanzierung von »Centralanstalten« eintreten müsse. Zu den Aufgaben dieser »Centralanstalten« zählte Minor unter anderem die Zulieferung der folgenden Materialien für die Forschung: – Register zu den sämtlichen Werken der Dichter ; – Chronologische Verzeichnisse der literarischen Werke; – Verzeichnisse der Briefe von und an historische Persönlichkeiten; – Regesten zu ihren Briefen und Memoirenwerken; – Zeugnisse und erläuternde Exkurse zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Dichtungen; – Sammlungen der Urteile von Zeitgenossen über Dichter und Dichtungen; – Verzeichnis der historischen und sagenhaften Stoffe (Lexikon der dichterischen Stoffe); – Verzeichnis der metrischen Formen; – Verzeichnis des Wortschatzes usw.49 Um die Jahrhundertwende wurden in der neueren Literaturwissenschaft allerdings auch die ersten Zweifel am empiristischen oder, wie die zeitgenössische Bezeichnung meist lautete, ›positivistischen‹ Forschungskonzept der Philologie artikuliert – Richard M. Meyers ›methodologische Skizze‹ Vollständigkeit50 diskutierte diese Zweifel im Zusammenhang. In der philologisch-historischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften spielte die Germanistik im 19. Jahrhundert kaum eine Rolle. 47 Jakob Minor: Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen Hilfsarbeiten. In: Euphorion 1 (1894), S. 17–26, hier S. 18. 48 Minor : Centralanstalten, S. 19. – Im Zusammenhang mit dem langwierigen Vergleich linguistischer Daten hatte Richard Heinzel schon 1871 mit dem – freilich ungleich bescheideneren – »Gedanken eines philologisch statistischen Bureaus« geliebäugelt, das auch andere Hilfsarbeiten übernehmen könne; vgl. den Brief Richard Heinzels an Wilhelm Scherer vom 6. April 1871 (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [ABBAW], Nachlass Scherer). 49 Minor : Centralanstalten, S. 20. 50 Vgl. Richard M. Meyer: »Vollständigkeit«. Eine methodologische Skizze. In: Euphorion 14 (1907), S. 1–17.

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Zwar waren Karl Lachmann, Jacob und Wilhelm Grimm, Eberhard Gottlieb Graff, Moriz Haupt, Karl Müllenhoff, Wilhelm Scherer und Karl Weinhold in Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen zu Ordentlichen Mitgliedern der Akademie gewählt worden,51 aber sie stellten keine nennenswerten Anträge für Forschungsprojekte. Die Akademie förderte auch Graffs »Althochdeutschen Sprachschatz« und das Grimm’sche Wörterbuch, aber, so schrieb Gustav Roethe, »das waren doch Kleinigkeiten. Die akademische Arbeitsorganisation hat keines ihrer germanistischen Mitglieder während des XIX. Jahrh. in Anspruch genommen.«52 1878 war die Akademie mit dem Vorschlag des Kronprinzen Friedrich Wilhelm konfrontiert worden, neben der mathematisch-naturwissenschaftlichen und der philologisch-historischen Klasse »an der Akademie eine dritte Klasse für deutsche Sprache und Literatur zu errichten«,53 deren Aufgabe unter anderem »eine amtliche Herausgabe sämmtlicher Werke der deutschen Klassiker«54 sein sollte, aber diese Zumutung hatte die Akademie so elegant wie bestimmt zurückgewiesen.55 Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Akademie verlieh Kaiser Wilhelm II. im März 1900 der philosophisch-historischen Klasse drei neue akademische Stellen »vorzugsweise für deutsche Sprachwissenschaft«,56 welche, nach Burdachs Worten, »endlich den so lange ersehnten nationalen Luftzug«57 brachten. Die Akademie nahm sie zum Anlass, die »Aufgaben der deutschen Philologie in größerem Stile anzugreifen«.58 Zu diesem Zweck wurde 1903 »eine besondere Deutsche Kommission gebildet, der außer den drei Germanisten der Akademie den HH. Schmidt, Burdach, Roethe, die HH. Diels, Koser, Dilthey angehörten«.59 Die Deutsche Kommission nahm

51 Zu den Wahlvorschlägen und Wahlverfahren im Einzelnen vgl. jetzt Uwe Meves: Wahlvorschläge für und von Germanisten an der Preussischen Akademie der Wissenschaften (1826–1900). Von Jacob Grimm bis Eduard Sievers. Stuttgart 2014 (Zeitschrift für deutsche Altertum und deutsche Literatur; Beihefte Bd. 21). 52 Gustav Roethe: Die Deutsche Kommission der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, ihre Vorgeschichte, ihre Arbeiten und Ziele. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 31 (1913), S. 37–74, hier S. 44. 53 Vgl. Meves: Wahlvorschläge, S. 84–86. 54 Ebd., S. 85. 55 Vgl. ebd., S. 90–94, den »Bericht der Akademie an den Staatsminister Falk, betr. die Einrichtung einer besonderen deutschen Klasse bei der Akademie«. – Vgl. dazu auch Burdach: Die deutschen wissenschaftlichen Akademien und der schöpferische nationale Geist, S. 559–560, der im Folgenden noch andere Initiativen nennt. 56 Generalbericht über Gründung, bisherige Tätigkeit und weitere Pläne der Deutschen Kommission. Aus den Akten zusammengestellt. In: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften 1905, I, S. 694–707, hier S. 694. 57 Burdach: Die deutschen wissenschaftlichen Akademien, S. 562. 58 Roethe: Die Deutsche Kommission der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, S. 46. 59 Generalbericht, S. 694.

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»in dem Großbetrieb organisierter Kollektiv-Arbeit fünf große Aufgaben« in Angriff: eine Inventarisierung sämtlicher älterer literarischer Handschriften deutscher Herkunft; eine Sammlung von Abdrucken literarischer ›Deutscher Texte‹ des ausgehenden Mittelalters; eine kritische Edition der Werke Wielands, der auch Ausgaben anderer großer Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts folgen sollen; die Bearbeitung von deutschen Dialektwörterbüchern; die Neuorganisation, Fortführung und Vollendung des deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm,60

dessen Leitung die Akademie sich nach Roethes Worten »nicht gewünscht«61 hatte. Im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Programms äußerte die Deutsche Kommission die – niemals erfüllte – Hoffnung, die vom Kaiser gewährten Stellen würden »ihren künftigen Herd in einem akademischen deutschen Institut finden, das der Mittelpunkt für die Erforschung des ganzen deutschen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart sein wird«.62 Burdachs Projekt, die ›Geschichte der deutschen Sprache‹, stellte eine Ausnahmeerscheinung unter den Projekten der Deutschen Kommission dar, weil es, obwohl Burdach eine Reihe von Hilfsarbeitern beschäftigte, auf eine monographische geschichtliche Darstellung abzielte, die er allein schrieb und verantwortete. Burdach unterließ es dann 1923 auch nicht, für die Zukunft der Akademie zu fordern: Bei der Ergänzung unserer Akademien dürfte nicht so überwiegend wie in den letzten Jahrzehnten der Gesichtspunkt entscheiden, ob der zu Berufende tauglich ist, an dem Großbetrieb der akademischen Kollektivarbeit tätig teilzunehmen. Sonst könnte es nämlich geschehen, daß die Akademie sich gerade die genialen Einspänner wie Jacob Grimm, Viktor Hehn, Jacob Burckhardt, Herman Grimm entgehen läßt und nur die großen Organisatoren und Schulhäupter zu den Ihren macht.63

Mit der Ausnahme von Burdachs Geschichte der deutschen Sprache nahmen sich die Forschungsvorhaben der Deutschen Kommission vom Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch wie ein kleineres Format jener Projekte aus, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den Altertumswissenschaften konzipiert und auf den Weg gebracht worden waren. Dass sie wie diese die Forschung eher 60 Burdach: Die deutschen wissenschaftlichen Akademien, S. 562f. 61 Roethe: Die Deutsche Kommission der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, S. 62. 62 Generalbericht, S. 695. 63 Burdach: Die deutschen wissenschaftlichen Akademien, S. 574, zitiert bei Holger Dainat: Die paradigmatische Rolle der Germanistik im Bereich der Philologien. Die Deutsche Kommission im disziplinären Kontext. In: Wolfram Fischer unter Mitarbeit v. Rainer Hohlfeld u. Peter Nötzoldt (Hg.): Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1914–1945. Berlin 2000 (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen: Forschungsberichte Bd. 8), S. 169–196, hier S. 185.

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vorbereiteten als selbst betrieben, unterstrich Roethe mit ähnlichen Formulierungen wie sein Amtsvorgänger Hermann Diels: Es liegt im Wesen der Organisation, daß in ihr die individuelle Betätigung zurücktreten muß, daß sie Aufgaben angreift, die unter einheitlicher Leitung doch von einer Vielzahl betrieben werden und die den ersten grundlegenden Leiter überleben können. Authentische Ausgaben, archivalische Sammlungen, Lexika und Repertorien das ist das eigentliche Feld organisierter akademischer Arbeit: sie bereitet mehr das Material, als daß sie es gestaltet; Darstellung bis in Tiefste dringende Untersuchung bleibt, mag sie auch einmal im Rahmen akademischer Arbeit auftreten, doch die Sache des Einzelnen, der immer die geistige Führung der Wissenschaft in Händen behalten wird. Die Deutsche Kommission ist sich dieser Grenzen durchaus bewußt gewesen.64

Mochte der Anteil an Forschung auch gering geschätzt werden: Im Gedächtnis blieb von den Akademieprojekten vor allem ihr organisatorischer Erfolg, sodass Stefan Rebenich resümieren konnte: »Entscheidenden Anteil an der organisatorischen Modernisierung der Wissenschaften in Deutschland hatte die Altertumsforschung.«65 An den Unternehmungen der philologisch-historischen Klasse der Akademie lassen sich in Umrissen dann auch schon die wichtigsten Merkmale der modernen Projektform von Forschung erkennen, die an die Stelle eines unabschließbaren Prozesses eine begrenzte Einheit des Forschungsprojekts setzte, die durch sachliche, soziale und zeitliche Schließung gekennzeichnet ist, will heißen, durch eine spezifizierte Begrenzung des Forschungsgegenstands, die Heraushebung der Personen, welche die Forschung leiten bzw. betreiben, und die Angabe eines Zeitraums, in dem das Projekt abzuschließen ist.66 Ausstrahlungskraft hatte die in den Altertumswissenschaften erfolgreiche organisierte Forschung eigentümlicher Weise auch auf die Wissenschaften, in denen es gar nicht um Sammlung, Sichtung und Ordnung der Archive der Vergangenheit, sondern um wissenschaftliche Innovation ging, wie etwa in den naturwissenschaftlichen Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im 20. Jahrhundert.67 Bei der Herstellung von wissenschaftshistorischen Kontinuitätszusammenhängen gilt es aber, organisatorische Modernisierung und wissenschaftliche Innovation auseinanderzuhalten. Wenn etwa ein Bogen von den altertumswissenschaftlichen Großunternehmungen der Preußischen Akademie des 19. Jahrhunderts über die Institute der Kaiser-Wilhelms-Gesellschaft zur big 64 Roethe: Die Deutsche Kommission der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, S. 48. 65 Rebenich: Die Altertumswissenschaften an der Preussischen Akademie der Wissenschaften, S. 51. 66 Vgl. Marc Torka: Die Projektförmigkeit der Forschung. Baden-Baden 2009 (Wissenschaftsund Technikforschung Bd. 3), S. 33. 67 Vgl. dazu vor allem den dritten Teil des Bandes Brocke u. Laitko: Die Kaiser-Wilhelm-/MaxPlanck-Gesellschaft und ihre Institute.

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science des 20. Jahrhunderts geschlagen wird,68 dann ist das ein Bogen über einer sehr heterogenen Basis, und solche Kontinuitätsstiftungen können sich allenfalls auf die Organisationsgeschichte der Forschung, nicht aber auf die Wissenschaftsgeschichte beziehen. Auf die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen dem materialen Gehalt der Forschung und ihrer Organisation hat Hermann Lübbe schon 197169 hingewiesen, und Marc Torka hat sie mit Hinweis auf die Projektförmigkeit von Forschung noch einmal akzentuiert: »Die Projektform ist primär ein Ausdruck von Organisation und nicht des Wissenschaftsbzw. Forschungssystems selbst.«70 Und es gilt noch einen gravierenden Unterschied zur modernen Projektförmigkeit der Forschung festzuhalten, die Torka in seiner Untersuchung erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzen lässt: Gilt für sie, so Torka, die Devise »Wir fördern Forschung und nicht Forscher«,71 so war das Konzept der Preußischen Akademie und des Harnack-Prinzips der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die persönlichkeitszentrierte Forschung.72 Charakteristisch für sie ist, »daß einzelnen Personen in einer Weise institutionell ausgezeichnet oder herausgehoben werden, die ihnen alle oder fast alle Variablen der betreffenden Einrichtung zu ihrer persönlichen Disposition stellt, von den institutionellen Zielen über die Personalpolitik und die Strukturierung bis hin zur laufenden Arbeitsorganisation.«73 Den ›epistemologischen Grund‹ für diese persönlichkeitsspezifische Forschung umriss Laitko wie folgt: Von den Personen, die von der KWG eine entsprechende institutionelle Auszeichnung erfuhren, wurde erwartet, daß sie über die Disposition verfügten, einen geltenden paradigmatischen Konsens zu sprengen. Vom Standpunkt der Forschungsorganisation betrachtet, ist die talentierte Persönlichkeit eine Sonde, die den Raum des Unerforschten tiefer abtastet, als es mit der Formulierung expliziter, mittelbarer Erkenntnisziele möglich ist. Daher reicht eine persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation der Möglichkeit nach weiter als eine sachzentrierte, die von klar definierten Untersuchungsgegenständen und Arbeitsgebieten ausgeht. Somit gibt es 68 Vgl. u. a. Rüdiger vom Bruch: Mommsen und Harnack. Die Geburt von Big Science aus den Geisteswissenschaften. In: Alexander Demandt [u. a.] (Hg.): Theodor Mommsen. Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert. Berlin [u. a.] 2005, S. 121–141. 69 Hermann Lübbe: Einige Probleme der Organisationsplanung in der geisteswissenschaftlichen Forschung. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hg.): Kolloquium über Forschungsplanung. Wiesbaden 1971, S. 117–124. 70 Torka: Die Projektförmigkeit der Forschung, S. 97. 71 Ebd., S. 287. »Die Projektform wurde relevant für die Wissenschaftsentwicklung, weil sie die überaus bedeutsame Verschiebung von einer auf privaten Forschungsinteressen und der erworbenen Reputation einzelner gründenden zu einer sich auf unpersönliche Kriterien der Forschung berufenden kollektiven Praxis ermöglichte.« 72 Vgl. dazu Laitko: Persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation als Leitgedanke der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft: Reichweite und Grenzen, Ideal und Wirklichkeit. 73 Ebd., S. 588.

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einen gewichtigen epistemologischen Grund dafür, Forschungsorganisationen auf Persönlichkeiten als Träger von Forschungsprogrammen […] auszurichten.74

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ›Symphilologie‹ vermutlich eher ein gemeinsames Nachdenken über Theorie und Praxis der philologischen Hermeneutik bezeichnet als die Zusammenarbeit in einem praktischen Projektzusammenhang. Das gemeinschaftliche Arbeiten im Grimm-Kreis charakterisiert in erster Linie eine Form der Kommunikation, in deren Mittelpunkt die Information über und der Austausch von Materialien steht sowie gelegentlich die Diskussion über die Angemessenheit materialer Forschungshypothesen. Die altertumswissenschaftlichen Großprojekte in der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurden in der Regel von einzelnen Forschern entwickelt, geplant und geleitet, aber von einer Vielzahl von Hilfskräften ausgeführt. Im Zentrum der Arbeit stand eine extensive Sammel- und kritische Ordnungstätigkeit, die aber in der Regel auch von Akademiemitgliedern lediglich als Vorbereitung für die Forschung, nicht als Forschung selbst betrachtet wurde. Solche Forschungsvorhaben sind nicht vergleichbar mit denen der überwiegend naturwissenschaftlichen Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Diese Ausführungen wären allenfalls von wissenschaftshistorischem Wert, wenn nicht 1968 der Wissenschaftsrat die geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereiche in sein Förderprogramm aufgenommen hätte, ohne jedoch die Geschichte der geisteswissenschaftlichen Großforschung vom 19. Jahrhundert bis ins ›Dritte Reich‹ zu berücksichtigen. Eine Begründung der Sonderforschungsbereiche und ihrer Relation zu den übrigen geisteswissenschaftlichen Förderformaten steht bis heute aus und ist angesichts der anhaltenden Kritik75 keineswegs überflüssig.

74 Ebd., S. 597. 75 Vgl. dazu Spoerhase: Big Humanities, S. 19–24.

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Literaturwissenschaftliche Kooperativität aus praxeologischer Perspektive – am Beispiel der ›Brüder Grimm‹*

Praxeologische Untersuchungen richten ein besonderes Augenmerk auf die Routinen und Gewohnheiten z. B. der Literaturwissenschaft, weil vieles von dem, was gut eingespielt funktioniert, von den gängigen Theorie-Programmen eher vorausgesetzt als erfasst wird, oder diesen sogar widerspricht. Im Anschluss u. a. an Fragestellungen der science studies, die sich jedoch vornehmlich mit den Naturwissenschaften und dort wiederum insbesondere mit Laborwissenschaften befasst haben, sollen gerade alltägliche Vollzüge darüber Auskunft geben, was beispielsweise eine wissenschaftliche ›Person‹ oder ›Persönlichkeit‹ ausmacht.1 Kompetent Germanistik zu betreiben, bedeutet dann etwa, die Welt wie ein Germanist zu betrachten. Es fällt nicht leicht, zu sagen, was dies eigentlich meint. Erfahrungsgemäß ist es jedenfalls entscheidend, dass man ›dazugehört‹ und ein Dazugehörigkeitsgespür für die eigene Wissenschaft »als Lebensform« entwickelt.2 Der Reflexionsbegriff der ›Symphilologie‹ passt insofern gut zu einer Praxeologie der Literaturwissenschaft, als er wie die romantische Rede von der ›Symphilosophie‹ oder ›Sympoesie‹ immer auf »Existenzweisen«3 hindeutet, in denen bestimmte Praxen ankern.4 Aus praxeologischer Perspektive erweist sich Literaturwissenschaft daher * Ich danke Carlos Spoerhase, Erika Thomalla und Daniel Zimmer für ihre kritische Lektüre. 1 Vgl. u. a. Science in Context 16 (2003), H. 1/2 [Themenheft: Scientific Personae and their Histories. Hg. v. Lorraine Daston u. H. Otto Sibum]. 2 Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Berlin 2014, S. 67, auch S. 91, S. 100, S. 105 u. S. 107f.; vgl. dazu auch Tomas Gerholm: On Tacit Knowledge in Academia. In: European Journal of Education 25 (1990), H. 3, S. 263–271. 3 So der Begriffsvorschlag von Bruno Latour (Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne. Übers. v. Gustav Roßler. Berlin 2014), der im Rahmen einer experimentellen »kollektive[n] Untersuchung« unterbreitet wurde (vgl. http://www.modesofexistence.org/ [10. 09. 2015]). 4 Vinzenz Hoppe u. Kaspar Renner : ›Symphilologie‹. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Briefwechsels zwischen Jacob Grimm und August Wilhelm von Schlegel. In: Ulrich Breuer, Remigius Bunia u. Armin Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie. Paderborn [u. a.]. 2013 (Schlegel-Studien Bd. 7), S. 71–96 (zum Begriff in einem Brief Schlegels an Grimm vgl. ebd., S. 75, u. S. 87ff.).

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prinzipiell als ein soziales und insofern symphilologisches Unternehmen: Literaturwissenschaftliche Praxis ist immer geteilte Praxis, und die Erkenntnisse des Fachs ergeben sich zu einem beträchtlichen Teil aus informellen, alltäglichen Interaktionen.5 Der Begriff der ›Einzelforschung‹ führt insofern zunächst in die Irre. Damit folgt die Praxeologie jenen Wissenschaftstheorien, die »wissenschaftliche Gemeinschaften und nicht Individuen als Subjekte der Erkenntnisproduktion und -distribution in Erscheinung treten« lassen.6 Gleichwohl ist es sinnvoll, ›kooperative Praxis‹ nicht als tautologischen Ausdruck zu behandeln, sondern ihre Spezifika noch einmal gesondert auszuzeichnen, wie Jörg Schönert dies in grundlegenden Artikeln getan hat: Demnach lässt sich kooperative Praxis als Bündel von Aktivitäten bestimmen, die projektförmig konzipiert und durchgeführt werden und arbeitsteilig organisiert sind. Dazu zählen auch interdisziplinäre oder überregionale Formen der Zusammenarbeit, die durch eine kooperative Praxis begünstigt werden.7 Von einer solchen dezidierten Kooperativität, wie sie Schönert beschreibt, könnte man – analog zu Michael Polanys Konzept des ›impliziten Wissens‹ (tacit knowledge)8 – eine Praxis der impliziten Kooperativität unterscheiden, die den literaturwissenschaftlichen Alltag auch da bestimmt, wo scheinbar unabhängige Einzelforschung betrieben wird. Seit den 1960er Jahren haben die institutionalisierten Formate dezidierter Kooperativität insbesondere im Bereich der Drittmittelförderung mit der Einrichtung u. a. von Forschergruppen, Sonderforschungsbereichen und Gradu5 Mit weiteren Literaturhinweisen siehe Steffen Martus u. Carlos Spoerhase: Praxeologie der Literaturwissenschaft. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 35/36 (2009), S. 89–96. Wichtig sind insbesondere Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1993; Marie Antoinette Glaser : Kommentar und Bildung. Zur Wissenschaftskultur der Literaturwissenschaft. In: Markus Arnold u. Roland Fischer (Hg.): Disziplinierungen. Kulturen der Wissenschaft im Vergleich. Wien 2004, S. 127–164; dies.: Literaturwissenschaft als Wissenschaftskultur. Zu den Praktiken, Mechanismen und Prinzipien einer Disziplin. Hamburg 2005 (Schriftenreihe Studien der Germanistik Bd. 14). 6 Ralf Klausnitzer : Wie lernt man, was geht? Konstitutive und regulative Regeln in Interpretationsgemeinschaften. In: Marie Lessing-Sattari, Maike Löhden, Almuth Meissner u. Dorothee Wieser (Hg.): Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens. Frankfurt a. M. [u. a.] 2015 (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik Bd. 27), S. 151–181, hier S. 165. 7 Vgl. Jörg Schönert: Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft. In: Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase u. Dirk Werle (Hg.): Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750. Berlin u. Boston 2015 (Historia Hermeneutica; Series Studia Bd. 12), S. 295–319, hier S. 295f.; so auch ders.: Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung. In: Brenner : Geist, Geld und Wissenschaft, S. 384–408, hier S. 384f. 8 Vgl. Michael Polanyi: Implizites Wissen. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 1985 [EA 1966].

Literaturwissenschaftliche Kooperativität aus praxeologischer Perspektive

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iertenkollegs merklich zugenommen. Die Kompetenz zu ihrer Organisation wird mittlerweile auf allen Karrierestufen erwartet (Studierende, DoktorandInnen, Postdocs, HochschullehrerInnen) und hat einen neuen Status im Reputationsmanagement eingenommen – auch wenn die basalen Qualifikationen nach wie vor personal zugerechnet werden. Kooperativität spielt zudem nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Lehre eine Rolle,9 wobei die akademische Selbstverwaltung als dritter Pfeiler konzeptionell mit einbezogen werden sollte. Verschiedene Formen der dezidierten Kooperativität ergeben sich gerade aus dem Zusammenhang von Lehr-, Lern- und Forschungspraktiken, sie weisen unterschiedliche Intensitätsgrade auf und können an verschiedenen Stationen von Lehr- und Forschungsprozessen vorkommen.10 Schließlich sollte man neben der Intensität über die ›Größe‹ von Kooperationseinheiten nachdenken.11 Um also die symphilologische Dimension von Literaturwissenschaft differenziert zu beschreiben, müsste man zunächst fragen, an welchen wissenschaftlichen Institutionen, in welcher Form, mit welcher »Kooperationsintensität«12 und in welcher ›Größe‹ Kooperativität gefordert, gefördert und/oder durchgeführt wird. Man müsste dann nach der Verankerung von dezidierter Kooperativität in Prozessen der Karriere, der Lehre, Forschung und Verwaltung fragen, diese Aspekte abwägen und zueinander ins Verhältnis setzen. Man müsste schließlich danach fragen, welche Folgen die Forderung, Förderung sowie Durchführung von dezidierter Kooperativität für verschiedene ›Arbeitseinheiten‹ und Praktiken der Germanistik (inklusive ihrer Darstellungsverfahren) hat, um zu ermessen, ob und gegebenenfalls wie sie die disziplinäre Entwicklung beeinflusst. Für all dies fehlt die Datengrundlage. Daher werde ich mich im Folgenden an einem historischen Beispiel orientieren, um zu erörtern, welche Aspekte von Kooperativität für eine praxeologische Perspektive auf die Symphilologie aufschlussreich sind. Als Beispiel bieten sich Jacob und Wilhelm Grimm aus mehreren Gründen an: 9 Zu Kooperationsproblemen in der Vermittlung von Lehre und Forschung aus praxeologischer Perspektive: Michael Kämper-van den Boogaart, Steffen Martus u. Carlos Spoerhase: Entproblematisieren. Überlegungen zur Vermittelbarkeit von Forschungswissen, zur Vermittlung von »falschem« Wissen und zur Funktion literaturwissenschaftlicher Terminologie. In: Zeitschrift für Germanistik; N. F. 21 (2011), H. 1, S. 8–24; Steffen Martus u. Carlos Spoerhase: Eine praxeologische Perspektive auf Einführungen. In: Claudius Sittig u. Jan Standke (Hg.): Literaturwissenschaftliche Lehrbuchkultur. Zu Geschichte und Gegenwart germanistischer Bildungsmedien. Würzburg 2013, S. 25–39. 10 Zu einem Vorschlag gewissermaßen maximal dezidierter Kooperationsintensität vgl. Schönert: Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft, S. 299, auch S. 313 zur Graduierbarkeit von Kooperativität sowie S. 316f. zur Tagungskooperativität. 11 Vgl. dazu Carlos Spoerhase: Big Humanities. ›Größe‹ und ›Großforschung‹ als Kategorien geisteswissenschaftlicher Selbstbeobachtung. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38 (2010), S. 9–27. 12 Schönert: Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft, S. 299.

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Sie entwickeln in der Inkubationszeit der disziplinären Neuausrichtung des Wissenschaftssystems13 ein ausgeprägtes Interesse an der symphilologischen Seite ihrer epistemischen Aktivitäten. Dies gilt allen voran für ihre Sammelprojekte, etwa – um nur den prominentesten Fall zu nennen – für die Kinder- und Hausmärchen. Aber auch bei großen Einzelleistungen wie der Deutschen Grammatik nutzt Jacob Grimm originelle Kommunikationsformen für kooperatives Forschen, so z. B. die ›Adversarien‹, die er mit Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann austauscht: In diesen hin und her gesandten Briefen werden in einer Spalte offene Probleme notiert, die der Briefpartner in einer zweiten Spalte kommentiert, sodass die Kooperationsintensität erhöht werden kann.14 Selbstverständlich wäre auch an die Erarbeitung des Deutschen Wörterbuchs zu denken, bei dem die Brüder Grimm in der Organisation von Wissenschaft nicht zuletzt eine politische Vision von sozialer Ordnung verfolgt haben:15 Hier wird von anderen gelesen und exzerpiert, die ersten Bände verfassen dann Jacob und Wilhelm Grimm. Nach ihrem Tod setzen immer wieder neue Formen der Kooperativität ein, auf deren Grundlage das Lexikon in einer ersten Fassung über etwa ein Jahrhundert hinweg fertiggestellt wird. Interessant sind die Grimms jedoch nicht nur wegen ihrer Neigung zu mehr oder weniger dezidierter Kooperativität, sondern auch, weil sie zugleich die Probleme symphilologischen Arbeitens thematisiert haben. Sie beziehen die Position von ›Einzelforschern‹, und dies führt zu permanenten Spannungen sogar im brüderlichen Verhältnis: Als erstes Buch mit dem Markennahmen »Brüder Grimm« erscheint 1812 Die beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem achten Jahrhundert: Das Lied von Hildebrand und Hadubrand und das Weißenbrunner Gebet zum erstenmal in ihrem Metrum dargestellt und herausgegeben durch die Brüder Grimm. Im Hintergrund toben Deutungskämpfe um den 13 Vgl. grundsätzlich zu dieser Position: Rainer Kolk u. Holger Dainat: »Geselliges Arbeiten«. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987) [Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp], S. 7–41; Rainer Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart [u. a.] 1994, S. 48–114; Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert. Hildesheim [u. a.] 1997 (Spolia Berolinensia; Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit Bd. 11). 14 Vgl. Berthold Friemel: Die Göttinger Adversarienhandschrift Benecke-Grimm. In: Zeitschrift für Germanistik; N. F. 5 (1995), H. 1, S. 96–103; Lothar Bluhm: Adnoten zum Gelehrtenbrief. Die Grimm-Beneckeschen »Adversarien«. In: ders. u. Andreas Meier (Hg.): Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Würzburg 1993, S. 93–107; Hoppe u. Renner : ›Symphilologie‹, S. 93f. 15 Vgl. Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. 4. Aufl., Berlin 2013, S. 480ff.

Literaturwissenschaftliche Kooperativität aus praxeologischer Perspektive

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richtigen Zugang zur älteren deutschen Literatur, die zwischen den Grimms insbesondere im Streit um die Zulässigkeit von Übersetzungen ausgetragen werden. Die Edition geht aus »vielem Besprechen und Widersprechen« hervor, wie Jacob Grimm gegenüber Savigny bemerkt, und zwar mit merklicher Erleichterung darüber, dass er und sein Bruder nach den intensiven Auseinandersetzungen doch noch in der Lage zum »Zusammenarbeiten« sind.16 Generell stand das Brüderpaar nicht sehr häufig gemeinsam auf einem Titelblatt, und nach den Irischen Elfenmärchen von 1826 war dies bis zum Deutschen Wörterbuch gar nicht mehr der Fall.17 Dafür verfügte Jacob Grimm am 22. Januar 1852: »auf den titel zu setzen: Deutsches Wörterbuch von Jacob Gr. und Wilhelm Gr.«18

Dieser Titel verstand sich als Programm: Während Karl Reimer 1838 die erste Anzeige noch den »Brüdern Grimm« zugeordnet hatte, wiesen sie sich nun als gemeinsam arbeitende Einzelforscher aus.19 Und so, wie Jacob Grimm und Wilhelm Grimm hier nebeneinander standen und nicht als amorphes Duett in Erscheinung traten, so arbeiteten sie auch am Wörterbuch nebeneinander her : Jeder für sich, jeder nach eigenen Vorstellungen an seinem Schreibtisch, der durch eine verschlossene Tür vom Schreibtisch des Bruders getrennt war. Jeder nahm sich seine »freiheit«.20 Die konkrete Konstellation, auf die ich mich im Folgenden beziehe, stammt aus der Zeit, als die Grimms nach Jahren der Unsicherheit erstmals einen Posten erhielten, auf dem sie ihre Studien gemeinsam, verhältnismäßig ungestört und gleichmäßig durchführen konnten: Als Jacob und Wilhelm Grimm nach den Befreiungskriegen eine dauerhafte Anstellung als Bibliothekare im Dienst des Hessischen Kurfürsten antraten, verwalteten sie im Museum Fridericianum einen Bestand, der im Lauf der Zeit auf rund 60.000 Bände wuchs. Drei Stunden hatte die Bibliothek täglich geöffnet. Den Rest des Tages konnten sich die Brüder fast frei einteilen, und auch während der Arbeitszeit blieb oft Raum, um eigene 16 Jacob Grimm an Savigny, 19. November 1812. In: Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Aus dem Savignyschen Nachlaß hg. in Verbindung mit Ingeborg Schnack v. Wilhelm Schoof. Berlin 1953, S. 140. 17 Vgl. Ludwig Denecke: Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm. Stuttgart 1971, S. 54f. u. S. 119. 18 Jacob Grimm an Hirzel, 22. Januar 1852. In: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 5: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit den Verlegern des »Deutschen Wörterbuchs« Karl Reimer und Salomon Hirzel. Hg. v. Alan Kirkness unter Mitarbeit von Simon Gilmour. Stuttgart 2007, S. 265, Nr. 80. 19 Karl Reimer an Jacob Grimm, 6. August 1838. In: ebd., S. 70–72, Nr. 17. 20 Jacob Grimm an Hirzel, 6. Dezember 1855. In: ebd., S. 458, Nr. 324.

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Interessen zu verfolgen. Sie sahen die Messkataloge durch, verhandelten mit Buchhändlern und Buchbindern, erledigten die anfallenden Abrechnungen und katalogisierten die neuen Bücher. Die Grimms – und das wird häufig vergessen – waren wesentlich Bibliothekare und wurden von außen auch so wahrgenommen. Mehrfach wurde überlegt, sie genau in dieser Funktion zu berufen: 1808 und 1829 in München, 1829 in Berlin, 1838 und 1845 in Weimar, 1838/39 in Oldenburg. Und auch nach Göttingen kamen die Grimms nicht primär als Philologen, sondern vor allem als hochqualifizierte Buchverwalter.21 Genauer muss man jedoch sagen: Die Grimms waren Forschungsbibliothekare, kombinierten also Rollen, die sich im Zuge der Modernisierung des Bibliotheks- und Wissenschaftsbetriebs ausdifferenziert haben.22 Zwar behauptete Jacob einmal, er sei kein »erzbibliothecar«,23 und dem Idealbild, wie es der Bibliothekstheoretiker Friedrich Adolf Ebert in Die Bildung des Bibliothekars (2. Aufl., 1820) entworfen habe, genüge er keinesfalls.24 Aber damit bezeichnete er sich wohl weniger als einen schlechten Bibliothekar. Gemeint war vielmehr, dass er Forschung nicht allein bibliothekarisch vorbereiten, sondern auch durchführen wollte. Er verstand sich mithin als Forschungsbibliothekar und als Bibliotheksforscher. »Zu einem Bibliothecar von Fach«, schrieb er an Achim von Arnim, »der an nichts Lust hat, als an Büchertiteln und Catalogen, ohne Rücksicht auf der Bücher Inhalt, bin ich von Natur nicht gemacht«.25 Diese institutionelle Verortung ist wichtig, denn Bibliotheken verwalten Grenzobjekte (boundary objects), die konsensuelles oder nicht-konsensuelles Anschlussverhalten von höchst diversen Akteursgruppen ermöglichen, wie sich im Folgenden zeigen wird.26 Nicht nur erfordern sie, insbesondere, wenn sie eine bestimmte Größe erreichen, dezidiert kooperatives Verhalten: Neben Jacob Grimm als zweitem Bibliothekar und Wilhelm Grimm als Bibliothekssekretär arbeitete noch Johann Ludwig Völkel als Oberbibliothekar im Museum Fride21 Vgl. Barbara Schäfer u. Ludwig Denecke: Die Brüder Grimm als Bibliothekare. Unter besonderer Berücksichtigung der Erwerbungs- und Katalogisierungspraxis während ihrer Amtszeit in der Kurfürstlichen Bibliothek in Kassel. In: Brüder Grimm Gedenken 15 (2003), S. 16–35, hier S. 18f. 22 Vgl. Uwe Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte. 3., verbesserte u. erweiterte Aufl., Stuttgart 2007, S. 121f. 23 Jacob Grimm an Savigny, 15. Juni 1829. In: Briefe der Brüder Grimm an Savigny, S. 351. 24 Vgl. Jacob Grimm an Benecke, 27. Juni 1812. In: Briefe der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm an Georg Friedrich Benecke aus den Jahren 1808–1829. Mit Anm. hg. v. Wilhelm Müller. Göttingen 1889, S. 151. 25 Jacob Grimm an Achim von Arnim, 13. März 1830. In: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet v. Reinhold Steig. Stuttgart u. Berlin 1904, S. 608. 26 Vgl. dazu Susan Leigh Star u. James R. Griesemer : Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects. Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–39. In: Social Studies of Science 19 (1989), H. 3, S. 387–420.

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ricianum. Darüber hinaus sind öffentliche Bibliotheken auf kooperative Anschlusshandlungen von Nutzern ausgerichtet, deren Interessen sehr unterschiedlich sind und nicht alle vorweg abgesehen werden können. Jacob Grimm reflektiert diese Implikationen in einer kleinen Bemerkung gegenüber dem Kurfürstlichen Oberhofmarschallamt, die ich ins Zentrum stellen will: »Mein Amt«, so berichtet er am 24. Mai 1823 rechtfertigend über seine neue Arbeit, »bestehet auszer in der Erhaltung, Bewahrung und Bearbeitung des bisherigen Bücher- und Handschriftenvorraths auch in der Fortführung der Bibliothek oder im Ankauf derjenigen Werke, welche der Anlage des Ganzen und dem Gange der Wiszenschaften nach für die Bibliothek angemeszen sind«.27 In diesem unscheinbaren Satz liegt ein großes Projekt verborgen. Denn indem die Grimms die Bibliotheksbestände ›bearbeiten‹ und die Bibliothek an »dem Gange der Wiszenschaften« orientieren, bestimmen sie deren Funktion in Kassel neu. Sie gestalten eine vornehmlich als Repräsentationsbibliothek konzipierte Sammlung zur Forschungsbibliothek um. Dadurch gehen sie auf dauerhaften Konfrontationskurs mit den kurfürstlichen Interessen und situieren ihre Tätigkeit im Rahmen eines spezifischen, eigensinnigen und umfassenden Zusammenhangs: ›der Wissenschaft‹. Diese Umgebung weist aus Perspektive Jacob Grimms bestimmte Grenzen und eine eigene Dynamik auf, denen gegenüber sich Institutionen wie eine Bibliothek sowie die involvierten Personen (Geldgeber, Bibliothekspersonal, Besucher, Benutzer u. a.) mit ihren unterschiedlichen Aktivitäten (Bücherfinanzierung, -beschaffung, -betrachtung, -studium u. a.) ›angemessen‹ oder ›unangemessen‹ verhalten können. Daraus ergibt sich – neben der bereits genannten sozialen Konstitution von Praxis – eine Reihe von Aspekten, die für die Frage nach den symphilologischen Dimensionen der Literaturwissenschaft und ihres kooperativen Umgangs mit epistemischen Dingen28 grundsätzlich wichtig sind.

27 Actenstücke über die Thätigkeit der Brüder Grimm im hessischen Staatsdienste. Hg. v. Edmund Stengel. Marburg 1886, S. 116. 28 Vgl. zu den Aspekten einer literaturwissenschaftlichen Praxeologie, die im Folgenden am Beispiel der Brüder Grimm getestet werden: Steffen Martus: Epistemische Dinge der Literaturwissenschaft? In: Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer u. Carlos Spoerhase (Hg.): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Berlin, München u. Boston 2015 (Linguae & Litterae Bd. 49), S. 23–51.

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I. Traditionell hatte die kurfürstliche Büchersammlung, die im Museum Fridericianum gemeinsam mit anderen Exponaten aufbewahrt wurde, dazu gedient, die Macht des Regenten zu demonstrieren.29 Entsprechend verstanden auch einige Besuchergruppen die Bibliothek als Schauveranstaltung, bei der es nicht um den lesenden oder gar studierenden Zugriff auf die Buchbestände ging. Am 26. Januar 1815 beschreibt Wilhelm in einem Brief an Arnim seine Tätigkeit: […] viele kommen bei der großen Menge von Büchern in Verlegenheit, wissen nicht, wo sie zugreifen wollen, und gehen fort nachdem sie gefragt, wie viel Bände die Bibliothek enthalte, ohne wiederzukommen. Andere wollen sie nur besehen, d. h. sie gehen in den Saal, bewundern dessen Länge, fragen gleichfalls nach der Anzahl und ob die Franzosen nichts gestohlen? Dann wünschen sie etwas zu sehen, wo ich allzeit die neue iconographie grecque von Visconti hole, weil die leicht zu tragen ist und wovon ein paar Blätter sie sättigen. Außerdem haben wir das Glück gehabt, daß Czernitschef [sc. der russische Kommandant, der Kassel 1813 einnahm] eine Haubitze hereingeworfen, die an einem Pfeiler abgeprallt, ein Fenster und eine Füllung eingeschlagen und endlich an ein paar juristischen Commentaren ihre Kraft gebrochen hat und ohne zu zünden niedergefallen ist. Dies erzähl ich mit Ausführlichkeit und zeige die verletzten Stellen, wo jeder sich noch im Pulver die Finger schwärzt und nicht weiter auf die Bibliothek zurückkommt.30

Viele Besucher benutzen die Bibliothek offenbar weiterhin als eine repräsentative Institution, nicht als Arbeitsraum. Das Kasseler Adressbuch von 1828 verspricht, die Bibliotheksangestellten, darunter auch die Grimms, werden »jedem Fremden zuvorkommend höflich« begegnen und ihm »die Natur-, Kunst- und wissenschaftlichen Schätze im Museum und in der Bibliothek mit lobenswerter Bereitwilligkeit« zeigen.31 Diese Ignoranz gegenüber den Interessen der Grimms charakterisiert nicht nur die Verhältnisse außerhalb der Wissenschaft. Auch nach ›Innen‹ müssen sie um die Legitimation ihrer Position kämpfen und um kooperative Unterstützung werben. So berichtet Wilhelm Grimm an Goethe am 1. August 1816, als er die Erträge der letzten Jahre überblickt, dass die »altdeutsche Literatur und was damit zusammenhängt« allenfalls bruchstückhaft erschlossen sei, dass daraus beim breiteren Publikum im schlechteren Fall »Abneigung«, im besseren Fall eine »gewiße Gleichgültigkeit« gegenüber dem Gegenstand resultiere und dass

29 Vgl. Wilhelm Hopf (Hg.): Die Landesbibliothek Kassel 1580–1930. Marburg 1930, S. 43ff. 30 Wilhelm Grimm an Achim von Arnim, 26. Januar 1815. In: Steig: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 317. 31 Briefwechsel zwischen Jenny von Droste-Hülshoff und Wilhelm Grimm. Hg. v. Karl Schulte Kemminghausen. Münster 1978, S. 154.

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selbst unter den Gelehrten »eine besondere Lebendigkeit und Freiheit des Geistes dazu gehört, um zu fühlen, daß sie beachtet zu werden verdiene«.32 Verallgemeinert bedeutet dies: Was die Grimms für angemessen halten, versteht sich nicht von selbst. Sie müssen den legitimatorischen Aspekt wissenschaftlicher Praxis nachdrücklich zur Geltung bringen, die eigene »Anstrengung des Wissens«33 nach ›Außen‹ und ›Innen‹ plausibilisieren und um Mitwirkung zumindest in Form von Zustimmung werben. Wann also dürfen sie sich vor anderen legitimiert fühlen, bestimmten ›Dingen‹ Zeit, Arbeit, personale, infrastrukturelle, mediale u. a. Ressourcen zu widmen? Diese Frage stellt sich den Grimms besonders deutlich: Wissenschaft hat sich an dieser Stelle der Disziplinengeschichte noch nicht autonomisiert und so weit in sich abgeschlossen, dass sich relativ viel von selbst versteht. Kooperationsofferten werden noch nicht primär in besonderen, innerwissenschaftlichen Situationen, z. B. in kompetitiven Konstellationen an einer Institution wie der Universität oder bei der Einwerbung von Drittmitteln, offensiv unterbreitet. Der entscheidende Punkt für die Symphilologie ist jedoch prinzipieller : Weil Forschung generell nicht nach »rein logischen Kriterien« abläuft, wie sich im Folgenden noch zeigen wird, sind die »sozialen Dimensionen des Erkennens« von grundlegender Bedeutung. Selbst starke Innovationsbehauptungen bedürfen der »Zustimmung der Deutungsgemeinschaft«, um als wissenschaftliche Leistung zu firmieren.34 Daher interagieren noch scheinbar einsame SchreibtischarbeiterInnen unterschwellig und permanent legitimatorisch mit ihrer Diskursgemeinschaft. Eine Arbeitsplatzstudie an Beispielen aus der Soziologie, deren Ergebnisse sich intuitiv auch auf die literaturwissenschaftliche Praxis übertragen lassen, hat das im wahrsten Sinn des Wortes vor Augen geführt: Kornelia Engert und Björn Krey haben anhand der unscheinbaren Gesten und Schreib-Lese-Praktiken beim Verfassen eines wissenschaftlichen Textes gezeigt, wie »Wissen« konkret aus einer »›internalisierten‹ Konversation« des Schreibenden »mit sich selbst als Anderem« hervorgeht. Die Schreibpraxis ist geprägt von ständigen Vor- und Rückgriffen, von Unterbrechungen, Um- und Neuformulierungen.35 Diese Verfahren lassen sich ebenso wie typische körperliche Aktivitäten (Haareraufen, Handkneten, Stirnreiben, Fußwippen, Fingertrommeln, Aufstehen und Herumgehen u. a.) oder (leises und lautes) Sprechen als Formatierungs- und Stabilisie32 Wilhelm Grimm an Goethe, 1. August 1816. In: Goethe und die Romantik. Briefe mit Erläuterungen. 2. Teil. Hg. v. Carl Schüddekopf u. Oskar Walzel. Weimar 1899, S. 211f. 33 Hans-Jörg Rheinberger : Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt a. M. 2006, S. 27. 34 Klausnitzer : Wie lernt man, was geht?, S. 166. 35 Kornelia Engert u. Björn Krey : Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen. Zur epistemischen Arbeit an und mit wissenschaftlichen Texten. In: Zeitschrift für Soziologie 42 (2013), H. 5, S. 366–384, hier S. 370.

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rungsmechanismus zwischen Vorstellen und Schreiben als Effekte permanenter Selbstevaluierung und Selbstlegitimation gegenüber einem imaginierten Beobachter deuten.36 Selbst beim Schreiben wird also nicht einfach aufgeschrieben, sondern »permanent ausprobiert, überprüft, überarbeitet und re-konzeptionalisiert«, sodass ein epistemisches Ding »im wechselseitigen ›rile taking‹ aus Schreiben und Lesen hervorgebracht« wird.37 Es handelt sich um die »Antizipation und Hereinnahmen« der Perspektive von anderen »in das eigene Tun«, sodass man Vertextungen als prinzipiell »kollaborative[ ] Schreibprojekt[e]« konzeptionalisieren kann, die »potentielle zukünftige Bezugnahmen auf den Text« – wie unterschwellig auch immer – stets einkalkulieren.38

II. Man könnte auch sagen: Der Text und das damit etablierte epistemische Ding wird für die Diskursgemeinschaft ›passend‹ oder eben ›angemessen‹ gemacht. Jacob Grimms Kategorie der Angemessenheit legt eine sehr vage – oder man könnte auch sagen: vielsagende und komplexe – Hinsicht auf Forschungsprozesse nahe, die über die Orientierung an wahr-/falsch-Fragen hinausgeht und den multinormativen Charakter wissenschaftlicher Praxis gerade auch in ihrer grundsätzlich kooperativen Dimension betrifft. Epistemische Akteure realisieren stets ein ganzes Arsenal an Normen, die sich nur locker um wissenschaftliche Zentralwerte wie Richtigkeit oder Wahrheit gruppieren. ›Angemessen‹ bedeutet im wissenschaftlichen Kontext dann gewiss, dass man bei Argumentation und Thesenbildung wahre Aussagen privilegiert (und nicht etwa primär unterhaltsame, erbauliche, gerechte u. a.). Es bedeutet aber noch sehr viel mehr :39 Forschungsperspektiven benötigen beispielsweise Aufmerksamkeit (damit sie für ein bestimmtes Klientel ›interessant‹, ›spannend‹ oder ›aufschlussreich‹ wirken); Fragestellungen sollten zu (von anderen) etablierten epistemischen Zusammenhängen passen und nach außen Überzeugungskraft entfalten (also Anschlussverhalten signalisieren und stimulieren); oder sie müssen bestimmten Darstellungsanforderungen genügen (also Beobachtern ihr Wissen um implizite und explizite Regularien zeigen). ›Angemessenes‹ literaturwissenschaftliches Verhalten ist kooperativ ausgerichtetes Verhalten. Wie flexibel die normativen Akzente gesetzt werden können, belegt das bemerkenswerte Phänomen, dass Thesen in gewissen Hinsichten sogar falsch sein 36 37 38 39

Vgl. ebd., S. 372f. Ebd., S. 374. Ebd., S. 368f. u. S. 380. Vgl. zur weitergehenden Rekonstruktion Mirco Limpinsel: Angemessenheit und Unangemessenheit. Studien zu einem hermeneutischen Topos. Berlin 2013.

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dürfen – dies gilt aber eben nur dann, wenn sie Anschlussverhalten stimulieren, das auf ›Wahres‹ zielt. So hat Jacob Grimm u. a. 1848 in seiner Geschichte der deutschen Sprache den »mut des fehlens« als epistemische Tugend riskanter Forschung verteidigt.40 Diesen Slogan kommentierte Wilhelm Scherer : »Das war der rechte Grundsatz für jeden, der in die Entwicklung einer Wissenschaft durch neue Gedanken einzugreifen hat. Wie weit wären wir zurück, wenn Jacob Grimm nicht den Muth des Fehlens gehabt hätte […]«.41 Mit solchen Äußerungen beunruhigte Scherer nicht zuletzt seine eigenen Schüler, die ihn zum »Positivisten« verzerrten. So bemerkte Erich Schmidt in seinem Nekrolog, dass Scherer in Polemiken oftmals programmatische Sätze abgezwungen worden seien, die man nicht so genau beim Wort nehmen dürfe, wie etwa diese: »man müsse den Muth des Fehlens haben; auf die wissenschaftliche Phantasie komme es an […]; eine der widerlichsten Gelehrtentugenden, recht innig verwandt mit der Feigheit, sei die Vorsicht […]«.42 Scherer selbst präzisiert in einer Vorlesung über »Wissenschaftliche Pflichten«, dass der Fehlermut lediglich in spezifischen Situationen angebracht sei: bei der Etablierung einer Disziplin oder bei der Bearbeitung vernachlässigter Forschungsgebiete, die »jener Epoche der Begründung gleich zu achten« seien.43 Mit anderen Worten: Fehler sind dann »mutig«, wenn sie ihre Mängel dadurch ausgleichen, dass sie weiterführende Forschungsaktivitäten ermöglichen, die zur Erzeugung von »Wahrheit« beitragen. Scherer etablierte damit als spezifische Form kooperativer Orientierung den neuen Forschungstypen des »Anregers«.44 Die ›Anregung‹, also die fehlertolerante Formulierung von fruchtbaren Problemen, der möglicherweise vorschnelle und visionäre Versuch ihrer Lösung und damit das offensiv einkalkulierte Scheitern im Hinblick auf wahre Aussagen, sollte, so meinte Scherer, als wissenschaftliche Qualität wahrgenommen werden. Dies war ein bedeutender Eingriff in das etablierte philologische Ethos. Der »Anreger« situiert sich in einem kooperativ gedachten Forschungsprozess und versteht den Irrtum daher nicht als Ausschlusskriterium aus der wissenschaftlichen Kommunikation.45

40 Jacob Grimm: Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 1. 2. Aufl., Leipzig 1853, S. VIII. Vgl. schon zu einer früheren Stelle: Hoppe u. Renner : ›Symphilologie‹, S. 82f. 41 Wilhelm Scherer : Jacob Grimm. 2., verbesserte Aufl., Berlin 1885, S. 328. 42 Materialien zur Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Von Wilhelm Scherer bis 1945. Mit einer Einführung von Gunter Reiss. Bd. 1: Von Scherer bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1973, S. 37. 43 Ebd., S. 50. 44 Wilhelm Scherer : Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886. Hg. u. kommentiert v. Mirko Nottscheid u. Hans-Harald Müller unter Mitarbeit v. Myriam Richter. Göttingen 2005, S. 151; vgl. auch ebd., S. 231f. 45 Vgl. Scherer : Jacob Grimm, S. 329.

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III. Der Aspekt des legitimen Fehler-Machens deutet an, wie sehr der multinormative Charakter wissenschaftlicher Praxis mit dem prozessualen Charakter etwa von Forschung zusammenhängt: mit dem »Gange der Wiszenschaften«, an dem Jacob Grimm die Bibliothek ausrichten wollte. In diachroner Perspektive darf Forschung »epistemische Dinge« nicht erschöpfen, sonst werden sie zu »technischen Objekten«. Hans-Jörg Rheinberger bezeichnet damit jenen Bereich, der in Forschungsprozessen routiniert mitläuft, ohne dass ihm noch die »Anstrengung des Wissens« gilt, sodass seine aktuelle Relevanz verblasst. Man muss also in einer Forschungsleistung zeigen, dass ein epistemisches Ding erkannt wurde, und zugleich, dass es für ›die Wissenschaft‹ noch etwas zu tun gibt und man sich weiterhin darum bemühen sollte. Oder anders: Forschung stiftet eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die auf einen kooperativen Umgang mit einem epistemischen Ding in der Zukunft verweist. Die Multinormativität und die Prozessualität wissenschaftlicher Praxis sind für spezifisches kooperatives Verhalten vielfach von Relevanz, etwa in Situationen der Fremdevaluation von Forschung: GutachterInnen müssen verstehen, an welcher Stelle eines Forschungsprozesses bestimmte Aussagen erhoben und welche Normen dabei zur Geltung gebracht werden. Verlangen sie zu früh zu viel, missachten Sie den Projektcharakter z. B. eines Antrags, verlangen sie zu wenig, setzen sie unter Umständen Steuergelder mit hohem Risiko aufs Spiel, weil ein Projekt noch zu unausgereift ist: Auch hier also ist Angemessenheit eine wichtige epistemische und symphilologische Tugend kooperativer Aktivität. Für die Kombination von Prozessualität und Kooperativität ist weiterhin der Hinweis von Jörg Schönert wichtig, dass Forschungsprozesse an unterschiedlichen Stationen mehr oder weniger dezidiert durch Zusammenarbeit bestimmt sind. Kooperative Datenrecherchen etwa müssen nicht zu entsprechender Datenauswertung oder der gemeinsamen Darstellung von Forschungsergebnissen führen etc.46 Vermutlich ist es ein Gradmesser für die Intensität von Kooperationen, an wie vielen Stellen eines Arbeitsablaufs Verbundforschung geplant und durchgeführt wird. Ebenso interessant ist, an welchen Stellen und mit welchen Formen das Kooperationsdesign eines Projekts verzeichnet wird: etwa im Titel, im Untertitel, im Vor- oder Nachwort, in der Danksagung oder – wie hier – in einer Fußnote am Anfang.

46 Vgl. Schönert: Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 387f.

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IV. Man muss also den Zusammenhang von Prozessen im Hinblick behalten, um die Kooperationsintensität angemessen zu beschreiben. Jacob Grimm spielt mit dem Hinweis auf die »Anlage des Ganzen« auf den tendenziell holistischen Charakter wissenschaftlicher Praxis an. Man könnte auch sagen: Das »Ganze« der Wissenschaft betrifft die synchrone Ansicht jener Qualitäten, die Forschungs-, Lehr- und Verwaltungsprozesse implizieren. Der tendenzielle Holismus von Praxen ist zumal für philologische Aktivitäten von Bedeutung, weil sie auf den ersten Blick ubiquitär und kollektiv verbreitet sind und man sich fragen muss, wann z. B. Lese- und Schreibtätigkeiten zur Literaturwissenschaft gehören, also als Teil einer spezifischen Praxis gelten sollten. Die Lösung für dieses schwierige Problem liegt darin, Praxis als Konstellation von Praktiken zu deuten: Praxis ist ein immer schon geteilter, mithin kollektiv verbindlicher Zusammenhang von Praktiken, bei dem man inferentielle Verpflichtungen47 eingeht, wenn man daran teilnimmt. Praxen erzeugen einen gewissen normativen Druck. Sie legen nahe, dass bestimmte Praktiken mit bestimmten anderen verbunden werden sollten, und zwar im Hinblick auf bestimmte ›Dinge‹, die ihre Gebrauchsgeschichte inkorporieren48 und denen »funktionale Koppelungen mit Operationen« inhärieren.49 Um es sehr vage zu illustrieren: Als Literaturwissenschaftler gewöhnt man sich an das ›Lesen mit Stift‹, mithin daran, die Lektüre auf Anschlussverhalten in Vorträgen oder Texten in bestimmten sozialen Kontexten mit ihren jeweiligen Praktiken auszurichten. Diese Verbindlichkeiten mögen in den Geisteswissenschaften im Vergleich zu experimentellen Naturwissenschaften relativ schwach ausfallen, sind aber nicht beliebig. Ohne das Gespür dafür, was zum »Ganzen« gehört, stellt sich kein Gespür dafür ein, was von dort aus gesehen noch dazu gehören könnte. In ihrer Funktion als Forschungsbibliothekare stellte sich den Grimms diese Herausforderung nicht nur implizit. Sie mussten darüber entscheiden, was überlieferungswert ist, und diesen Vorrat dann so ordnen, dass sie künftigen Nutzern zugänglich sein würden. »Bestände eine Bibliothek blosz in der Anhäufung, Aufstellung und Registrirung von Büchern«, so Jacob Grimm, »für47 So die Idee von Jaeggi: Kritik von Lebensformen, S. 115. 48 Andreas Reckwitz spricht von interobjektiven Beziehungen oder von Interobjektivität: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), H. 4, S. 282–301, hier S. 292; ders.: Auf dem Weg zu einer kultursoziologischen Analytik zwischen Praxeologie und Poststrukturalismus. In: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen. Wiesbaden 2010, S. 179–205, hier S. 191. 49 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek 2006, S. 55.

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wahr, es würde kein leichteres Amt geben, als das eines Bibliothecars. Soll sie aber nur das aufnehmen, was den Fortschritt der Wiszenschaft bezeichnet, den lebendigen Zusammenhang derselben darstellen, so wird dieses Amt schwer und mühsam, weil das fehlende aufgefunden, das neue aber in allen Wiszenschaften übersehen und beurtheilt seyn will«.50 Friedrich Adolf Ebert, dessen Schrift über die Die Bildung des Bibliothekars (21820) die Grimms kannten, formuliert es treffend: Wenn der Bibliothekar »das Organ zwischen Vor- und Nachwelt« bildet, dann benötigt er eine möglichst breite, geradezu enzyklopädische Bildung. »Wer für die Nachwelt wirken soll, muss (nicht vermessen sei’s gesagt!) in gewisser Art über der Mitwelt stehen […]«, weil die Bibliotheken »zu wissenschaftlichen Archiven für künftige Geschlechter geworden sind […]«.51 Der bestehenden Ordnung steht die Möglichkeit anderer, »künftiger« Nutzungen, die durch gegenwärtige Entscheidungen nicht verhindert werden dürfen, virtuell gegenüber. Phantasie und Realitätssinn, Leidenschaft für die Sache und Pragmatismus paaren sich, wenn diese unabschließbare Arbeit erledigt werden soll. So bemühte sich Jacob Grimm etwa insbesondere darum, dass die Pflichtexemplare nachgereicht wurden, die die Buchdrucker und Buchhändler nach einer Verfügung aus dem Jahr 1793 an die Bibliothek abzugeben hatten. Am 15. Dezember 1817 erklärte er, es gehe dabei nicht vorrangig um eine kostenlose Lieferung »von wichtigen Büchern«, also nicht um eine primär ökonomisch motivierte Aktion, sondern eher darum, dass »auf diesem Wege gewisse vaterländische Druckschriften, die an sich geringen Gehalt haben, aber für die hessische Geschichte zufällig einmal Werth bekommen können, für die Nachwelt erhalten werden […]«.52 Der holistische Charakter wissenschaftlicher Tätigkeiten, also die Situierung von Praktiken im Rahmen einer Vision vom kooperativen »Ganzen der Wissenschaft«, spielt in vielen Situationen eine Rolle. Er dürfte z. B. auch der Grund dafür sein, dass es vielfach als hoher Wert gilt, wenn Studierende sich die Themen ihrer Haus- oder Abschlussarbeiten selbst wählen. Die gelungene Themenselektion beweist ein Verständnis für die kollektive Intentionalität eines Fachs und für die Lücken, die es zu füllen gilt. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, in dem Listen möglicher Themen zur Verfügung gestellt werden. Interessant wird dies für symphilologische Interessen insbesondere dann, wenn DozentInnen damit eine Forschungsagenda verfolgen: Jörg Schönert berichtet aus den 1960er Jahren, dass »ein Ordinarius, der etwas galt, eine fortlaufend zu ergänzende Liste von Themen für Dissertationsvorhaben und Abschlußarbei50 Stengel (Hg.): Actenstücke über die Thätigkeit der Brüder Grimm im hessischen Staatsdienste, S. 118. 51 Friedrich Adolf Ebert: Die Bildung des Bibliothekars. Vollständige Faksimile-Ausgabe der 2. Auflage von 1820. Mit einem Nachwort v. Horst Kunze. Leipzig 1958, S. 10, S. 12 u. S. 26. 52 Wilhelm Hopf (Hg.): Die Landesbibliothek Kassel, S. 74 (Hervorhebung d. Verf.).

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ten« in der Schublade hatte, deren Durchführung ihm – wie im Fall von Friedrich Sengles Studie zur Biedermeierzeit – ›zuarbeitete‹.53

V. In der forschenden Bibliotheksarbeit geht es offensichtlich und handgreiflich um den Umgang mit Textausgaben, sodass der mediale Aspekt epistemischer Dinge eine große Rolle spielt. Wenn die Grimms eine planvolle Anschaffungspolitik einführen wollten, dann auch deswegen, weil sie sich an ›Lücken‹ störten bzw. die Vision einer lückenlosen Bibliothek entwickelten – oder anders: Weil sie auch im handgreiflichen Umgang mit Büchern bestimmte Ganzheitsbedürfnisse entwickelten. Die Grimms versuchten, wie die Bibliothekare vor ihnen, kostbare und seltene Werke zu erwerben. Sie arbeiteten jedoch zugleich gezielt die Leerstellen weiter auf, erwarben das »meiste Neue, was unser Fach berührt«, und machten die Bibliothek zu einem Arbeitsplatz, etwa durch die Anschaffung von Nachschlagewerken. Unter ihrer Ägide entwickelte sich die Kasseler Bibliothek nicht zuletzt zu einer hervorragenden Fachbibliothek für Sprach- und Literaturwissenschaftler.54 Als Forschungsbibliothekare richteten die Grimms ihre Arbeitsmedien auf künftige Nutzungsmöglichkeiten und Nutzer aus. Sie verbanden daher die holistische Dimension mit der Prozessualität von Forschung, indem sie die Praktiken ihrer Arbeitsbibliothek in die öffentliche Bibliothek übertrugen und diese Institution dadurch auf eine bestimmte Weise für sich selbst, aber auch für andere zugänglich machten: Die Grimms planten und pflegten schon sehr früh ihre Privatbibliothek.55 Insbesondere Jacob Grimm hinterließ während der Lektüre Spuren, zeichnete gleichsam quer durch die Bibliothek eine mentale Landkarte, um sich in der Unübersichtlichkeit der Bücherlandschaft nicht zu verirren: Anstreichungen und Unterstreichungen, Randnotizen und andere Bemerkungen machten den fremden Text den eigenen Fragestellungen gefügig. 53 Schönert: Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 388. 54 Vgl. Schäfer u. Denecke: Die Brüder Grimm als Bibliothekare, S. 26f.; Ludwig Denecke: Bibliotheksgeschichte am Beispiel Kassels. In: Hans-Jürgen Kahlfuß (Hg.): Ex Bibliotheca Casselana. 400 Jahre Landesbibliothek. Kassel 1980, S. 15–22, hier S. 18; Jacob Grimm an Savigny, 9. September 1823. In: Briefe der Brüder Grimm an Savigny, S. 327. 55 Hierzu und zum Folgenden siehe Ludwig Denecke: Bibliothek und Wissenschaft bei Jacob und Wilhelm Grimm. In: Ludwig Denecke (Hg.): Kasseler Vorträge in Erinnerung an den 200. Geburtstag der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Veranstaltet durch den Fachbereich Germanistik der Universität (Gesamthochschule) Kassel und die Brüder Grimm-Gesellschaft, Kassel e. V. Marburg 1988 (Schriften der Brüder-Grimm-Gesellschaft Bd. 19), S. 108–117, hier S. 110ff.; sowie Bernhard Lauer : Die Brüder Grimm als hessische Bibliothekare. In: Unsere Heimat 16 (2000), S. 13–27.

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Im Vorderdeckel notierte Jacob Grimm häufig biographische Bemerkungen zum Verfasser und ordnete die Bücher auf diese Weise literaturgeschichtlich ein. Am Ende eines Buchs folgten oftmals Stellenverweise mit Schlagworten, die bisweilen so umfangreich ausfielen, dass Blätter in die Bücher eingeheftet werden mussten. Schließlich kamen Hinweise auf andere Ausgaben des Werks und auf Rezensionen hinzu, sodass weitere intertextuelle Bezüge gestiftet wurden. Zur Einbettung der Bücher in kooperative Forschungszusammenhänge gehörte auch, dass die Grimms Verbesserungen auf Zetteln ins Buch legten oder in besonders eingerichteten Exemplaren Verbesserungen und Ergänzungen eintrugen, die auf neue Lektüren, Bücher- und Handschriftenfunde reagierten und neue Fassungen der Grimmschen Werke provozierten. Eben solche Verknüpfungen versuchten die Grimms auch in der kurfürstlichen Bibliothek quer durch die Bestände herzustellen: Sie nahmen im Katalog nicht allein den Obertitel auf, sondern verzettelten zudem die darin enthaltenen Einzeltitel, verteilten Signaturen für Sachgruppen, arbeiteten Namensverweise und weitere Informationen über Schlagworte ein, die mögliche Fragestellungen an den Bestand bedienten.56 Als kompetente Forscher zeigten sie ein deutliches Interesse daran, geschickt mit »wissenschaftlichen Repräsentationen« umzugehen, diese Repräsentationen also im Sinne einer »differentiellen Reproduktion« aufzufassen und so zu verketten, dass sie auf die »Spur« von epistemischen Dingen führten.57

VI. Für die Grimms ergaben sich diese offensive Medienarbeit sowie der holistische und prozessuale Charakter wissenschaftlicher Praxis mit seinen symphilologischen Implikationen nicht zufällig im Rahmen ihrer Arbeit in der (prospektiven) Forschungsbibliothek und ihrer Position als Forschungsbibliothekare. Einen weiteren Aspekt der Praxeologie kooperativer Literaturwissenschaft bildet deshalb die räumliche Dimension wissenschaftlicher Tätigkeit: Der dreidimensionale Eindruck einer Bibliothek, in der neben dem gesuchten Buch noch ein anderes, vielleicht auch relevantes steht und wo ein bestimmtes (latent ›vorhandenes‹) Forschungsgebiet strukturiert und mit Grenzen ›aufgestellt‹ ist, gibt in besonderer Weise »Orientierung auf dem Gesammtgebiete« (Wilhelm Scherer).58 Oder genauer : Eine (Fach-)Bibliothek vermittelt den Eindruck, dass 56 Vgl. Schäfer u. Denecke: Die Brüder Grimm als Bibliothekare, S. 32; Lauer : Die Brüder Grimm als hessische Bibliothekare, S. 22. 57 Rheinberger : Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 130. 58 Wilhelm Scherer : Promemoria betreffend das Germanische Seminar, die Müllenhoffsche

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es so etwas wie ein »Gesammtgebiet« überhaupt gibt und man z. B. mit einer »Wissenschaft« als »Ganzes« kalkulieren sollte, wenn man dazugehören möchte. In Bibliotheken kann man andere Nutzer beobachten und sehen, dass verschiedene Zugriffe auf die Bücherbestände möglich sind. Ein zweites Beispiel für die praxeologische Relevanz von Räumen ergibt sich aus der Forschungsperspektive der working place studies:59 Literaturwissenschaftliche Schreibaktivitäten sind zunächst an Personen und Schreibwerkzeuge gebunden, die allerdings in ihrer Tätigkeit von einem »geschützte[n] Reservat[]« umgeben sind.60 Dieses Arbeitsreservat erweist sich in der Regel als hochgradig fixiert. Nicht, dass philologische Erkenntnisse sich nicht vielerorts einstellen könnten: Aber der eigene, gewohnte Arbeitsraum (und dies kann auch ein Bibliotheksarbeitsplatz sein) stimuliert doch erheblich routinierte Kreativität, die im Rahmen einer »technische[n] Infrastruktur lokaler Büro- und Schreibtischsettings« stattfindet. Dabei wird etwa der zu verfassende Text als »Gegenüber« umgeben von einem »Nebeneinander von zu lesenden Materialsorten« auf mehreren Ebenen und vielen Schichten. Das Schreibsetting ist mithin »visuellräumlich« ausgerichtet und stellt diverse Möglichkeiten zur Aufmerksamkeitsfokussierung, -erweiterung, -konzentration und -entspannung zur Verfügung.61 Ein drittes Beispiel für die Bedeutung räumlicher Synchronizität bietet die Lehr-Lern-Szene des Seminars: In der Interaktion und im Beobachten der anderen bildet sich das Wissen darüber heraus, was zur Sache gehört, was zur Sache tut und was diese Sache mithin ist, wann Anschlusskommunikation stattfindet, wann man sich genug mit einer Frage befasst hat, welche Diversität von Hinsichten eine Sache aushält, bevor sie sich auflöst, u. v. a. m. Es zeugt von wissenschaftstheoretischer Naivität, wenn man glaubt, Anwesenheit sei eine lässliche Tugend, weil Wissen frei verfügbar und situativ ungebunden sei und man es sich genauso gut an einem Ort wie dem Seminarraum einer Universität mit den dort üblichen Praktiken wie an beliebigen anderen Orten aneignen könne. Man kann es sich aneignen, nur eben anders, und darüber müsste man reflektieren, wenn man etwa die Anwesenheitspflicht grundsätzlich aufhebt. Für die Literaturwissenschaft sind solche »Szenen geteilter Aufmerksamkeit«62 etwa im Hinblick auf »Fragen nach Begründung, Anwendung und Be-

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Bibliothek und Müllenhoffs Nachlaß. In: Uwe Meves (Hg.): Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess. Berlin u. New York 2011, S. 843–849, hier S. 846. Vgl. dazu Hubert Knoblauch u. Christian Heath: Technologie, Interaktion und Organisation. Die Workplace Studies. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 25 (1999), H. 2, S. 163–181. Engert u. Krey : Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen, S. 369. Ebd., S. 370. Vgl. dazu Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt a. M. 2006, bes. S. 77ff.

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grenzung der Regeln von Bedeutungszuweisung« zentral, denn »Interpretationen finden in Institutionen sowie im sozialen Austausch statt; und sie folgen einer Vielzahl von Regeln«.63 Das ist schon deshalb so, weil InterpretInnen sehr vieles tun: Sie stellen Ähnlichkeiten fest, markieren Relevanzen, wählen aus, erschließen Zusammenhänge, belegen, zitieren u. v. a. m. Entscheidend ist, dass es sich um einen zwar losen, aber dennoch in einer schwer zu explizierenden Weise verpflichtenden Zusammenhang von Praktiken handelt, die »nicht einzeln und isoliert, sondern gemeinsam und also in Gruppen erlernt und angewendet werden«.64 Dies gilt etwa im Hinblick auf das Verhältnis von Deskription und Interpretation: Zwar mag es möglich sein, »grundsätzlich Terminologienutzung« relativ unabhängig zu üben und auch anzuwenden, nicht aber »literaturwissenschaftlich sinnvolle Terminologienutzung«. Auch »Deskription« lässt sich »sinnvoll nur in ihrer komplexen Verknüpfung mit der Interpretation als der literaturwissenschaftlichen Handlungsform erlernen, die für den Umgang mit den deskriptiv gewonnenen Ergebnissen entscheidend ist, für ihre Gewichtung, Berücksichtigung oder Nicht-Berücksichtigung« – man muss also mit beidem bzw. mit einem Zusammenhang von Textumgangspraktiken »vertraut« werden.65 Ralf Klausnitzer hat die Relevanz von Szenen geteilter Aufmerksamkeit u. a. im Rekurs auf Ludwik Flecks Kategorie der »Denkkollektive«66 am Beispiel von ›Stoppregeln‹ der Analyse und Interpretation dargelegt. Man könnte ähnlich auch für die umgekehrte Aufforderung argumentieren, dafür also, dass freie Fahrt besteht, dass noch nicht Halt zu machen und dass eine Mindestgeschwindigkeit einzuhalten ist – neben dem Begriff der »Überinterpretation« müsste man wohl auch den der »Unterinterpretation« zulassen. In beiden Fällen gibt es keine »intrinsischen Grenzen«, die das bedeutungsgenerierende Zusammenspiel von Text und Kontext einschränken oder als Zielvorgabe markieren würden.67 Sehr wohl aber verfügen wir über »spezifische Intuitionen, die bestimmte Verknüpfungen ausschließen« und andere nahelegen.68 Es existieren mithin pragmatische Routinen und »sozialepistemische Zusammenhänge«, in denen Regeln »von spezifisch organisierten Kommunikationsgemeinschaften in konkreten epistemischen und sozialen Zusammenhängen 63 Klausnitzer : Wie lernt man, was geht?, S. 151. 64 Ebd., S. 162. 65 Tom Kindt: Deskription und Interpretation. Handlungstheoretische und praxeologische Reflexionen zu einer grundlegenden Unterscheidung. In: Lessing-Sattari, Löhden, Meissner u. Wieser (Hg.): Interpretationskulturen, S. 93–112, hier S. 107f. 66 Klausnitzer : Wie lernt man, was geht?, S. 161. Vgl. auch die Aktualisierung dieser Überlegungen im Beitrag Ralf Klausnitzers zum vorliegenden Band. 67 Klausnitzer : Wie lernt man, was geht?, S. 152. 68 Ebd., S. 173.

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erworben, eingeübt, angewendet und weitergegeben werden«.69 Dies geschieht »hochgradig« vermittelt im Rahmen »fortgesetzter Aushandlungs- und Diskussionsprozesse«,70 als Enkulturation in »rekursive Umgangsformen mit spezifischen Problemlagen«, bei der in »zeitaufwendigen« Vorgängen die »Verfahren eines zielgerichteten Wahrnehmens« vermittelt werden bzw. die »mitunter schwer zu verbalisierende[n] Akte des ›Sehens‹«, in denen sich Forschungsobjekte ergeben.71 Oder anders: Der Eindruck der Reguliertheit von Über- und Unterinterpretationen ergibt sich wesentlich aus den gemeinsam geübten »Praktiken von Interpretationsgemeinschaften«;72 und ein epistemisches Ding »versammelt« in sich eine Fülle von »Instanzen epistemischen Transfers« und stellt sich als soziale Gegebenheit ein.73 Das Sensorium für solche Grenzen und Möglichkeiten der Interpretation, das sehr viele Normen beachten muss, fällt in den Bereich des tacit knowledge bzw. des know-how. In Bibliotheks-, Arbeits- und / oder Seminarräumen ergibt sich beispielhaft eine besondere »Öffentlichkeit sprachlicher Symbole«.74 Es bilden sich spezifische Szenen geteilter Aufmerksamkeit, die für die sprachbasierte kognitive Evolution unerlässlich sind: Mehrere (auch virtuelle) Personen achten gemeinsam auf etwas Drittes (das aus dem Wahrnehmungsfeld ausgewählt wird) und zugleich wechselseitig auf die Aufmerksamkeit, die sie diesem Dritten schenken, sodass man bemerkt, was zu dem gehört »was wir gemeinsam tun«.75 Man muss also nicht allein (vermeintlich) erkennen, worin die Absicht einer Person im Hinblick auf einen Gegenstand liegt, sondern worin die Absicht einer Person im Hinblick auf meine Aufmerksamkeit im Hinblick auf einen Gegenstand liegt.76 Dafür ist die Möglichkeit, Imitation durch Rollentausch zu betreiben, von elementarer Bedeutung oder auf fortgeschrittener Stufe auch die Beobachtung von dritten Parteien bei der Kommunikation.77 Wichtig ist dreierlei: 1) Erst durch die »Wiederkehr derselben routinemäßigen, allgemeinen Aktivität« wird etwas als »relevant für die gemeinsame Tätigkeit« erkennbar.78 2) Da »kommunikative Absichten« immer situativ bestimmt werden müssen, gibt es für deren Erkenntnis keine feste Regel; letztlich bedeutet diese Fertigkeit – mit Ludwig Wittgenstein – die Integration in eine

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Ebd., S. 153, ähnlich auch ebd., S. 177. Ebd., S. 155. Ebd., S. 162f., auch S. 167. Ebd., S. 161. Ebd., S. 163f. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 165. Ebd., S. 129. Vgl. ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 138. Ebd., S. 143.

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»Lebensform«.79 3) Durch das Verständnis für den angemessenen »konventionellen Gebrauch« von Symbolen lernt man etwas darüber, wie die »kulturellen Vorfahren die Aufmerksamkeit der anderen in der Vergangenheit steuerten« (man lernt ein »historisch entstandene[s] Konglomerat«80) – und wenn man dies geschafft hat, dann kann man die Perspektive auf eine nicht beliebige Weise wechseln, also innovativ sein, ohne aus dem Zusammenhang eines »Ganzen« herauszufallen.

VII. Die Forschungsbibliothek stellt mithin enorm hohe implizite Kooperationsanforderungen. Ein Weg, um damit zurechtzukommen, besteht in der dezidierten Forschungskooperation. Diese Problemlösung konfrontierte die Grimms mit der organisatorischen Seite von Kooperativität. Ein Versuch in der langen Reihe von Projekten seit dem »Wunderhorn« wurde von Berlin aus gestartet und erreichte die Grimms über Goethe: 1816 schickte Wilhelm Grimm die Publikationen der letzten Jahre nach Weimar.81 In einem ausführlichen Schreiben kommentierte er die Werke, beschrieb die Bedeutung der Projekte und zeigte Perspektiven für die Forschung auf. Er reagierte damit auf die Gespräche, die er bei seinem zweiten Besuch bei Goethe im Juni desselben Jahres geführt hatte. Besuch und Büchersendung erwiesen sich als folgenreich, insbesondere Wilhelms Hinweis darauf, dass allein »ein geselliges Arbeiten und Unterstützung von oben her« die historische Erforschung voranbringe.82 Denn in Berlin projektierte Freiherr Karl vom Stein gerade eine Gesellschaft, die eine groß angelegte Sammlung historischer Quellen veranstalten sollte. Bereits während des Wiener Kongresses hatte Jacob Grimm sich an vom Stein gewandt, als er sich für die Rückgabe der altdeutschen Handschriften im Vatikan eingesetzt hatte. Aber erst in den 1820er Jahren nahm er direkten Kontakt auf, als er – letztlich vergeblich – Unterstützung für eine Reise nach Mailand suchte: Er wollte vor Ort den gerade entdeckten »gothischen Ulfilas« edieren und für seine sprachhistorischen Studien auswerten.83 79 Ebd., S. 142. 80 Ebd., S. 163. 81 Zum Folgenden: Reinhold Steig: Goethe und die Brüder Grimm. Ergänzt und mit einem Vorwort von Ludwig Denecke. Kassel 1972, S. 103ff. 82 Ebd., S. 115. 83 Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und dem Freiherrn vom Stein. Mitgeteilt von Wilhelm Schoof. In: Preußische Jahrbücher 238 (1934), S. 117–135; vgl. auch Jacob Grimm. Aus seinem Leben. Hg. v. Adolf Wilhelm Schoof. Bonn 1961, S. 183ff.; Meusebach u. Grimm: Briefwechsel, S. 317ff.

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Friedrich Carl von Savigny, der an den Planungen des Freiherrn für eine Forschungsgesellschaft federführend beteiligt war, hatte Jacob Grimm bereits im November 1814 in Wien davon und von seinem Ziel unterrichtet, die Brüder Grimm als »Secretäre« einer solchen »deutsche[n] Gesellschaft« zu installieren.84 Savigny hielt die Grimms über die weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden. Am 25. Mai 1816 teilte er Jacob seine »geheimsten Gedanken« mit: Er habe die Brüder Grimm zu »Generalsecretären ausersehen als die tauglichsten Personen, die zu diesem Berufe in Europa, Asia, Afrika und Amerika zu finden sind, was sich mit einer Anstellung bey der Universität zu Cöln sehr gut vereinigen ließe«. Er haben diese »geheimsten Gedanken […] dem Herrn von Stein unter den Fuß geben lassen«.85 Tatsächlich: Wenn es, wie Savigny meinte, um die »Verbrüderung der Deutschen verschiedener Staaten« gehen sollte, waren die Brüder Grimm prädestiniert dafür.86 Den sogenannten ›Berliner Plan‹ besprach vom Stein auf einer Rheinfahrt zu Görres auch mit Goethe, und zwar kurz bevor Wilhelm Grimm auf seiner Rheinreise dort eintreffen sollte.87 Am 21. August 1816 kam der entsprechende Plan in Weimar an. Zwei Tage später begann Goethe, einen Brief an den »Herrn Bibliothekar Grimm« zu diktieren, in dem er Wilhelm Grimm um sein Urteil bat und um Nachricht darüber, »unter welchen Hoffnungen und Aussichten Sie geneigt seyn könnten mit einzuwircken«.88 Der ›Berliner Plan‹ sah vor, dass »Alles dazu mitwirken« sollte, »was in irgend einem Theile von Deutschland Sinn und Geschmack für Geschichte hat«, um »für die Deutsche Geschichte große Werke« zu unternehmen. Die »Willkürlichkeit und Zufälligkeit der Gränzbestimmungen« im Deutschen Bund sollten dabei keine Rolle spielen, auch wenn aus pragmatischen Gründen »Landesgesellschaften« geplant waren.89 Letztlich handelte es sich um das Vorhaben, das soziale und politische Wissen des Mittelalters von den Alltäglichkeiten (Sitten, Gebräuche etc.) über die geographische, ökonomische bis hin zur rechtlichen Verfassung aufzuarbeiten. Die Grimms betraf dabei insbesondere § 14 des Plans, der sich auf die altdeutsche Literatur bezog.90 Wilhelm Grimm verfasste unter dem Datum vom 20. September 1816 gemeinsam mit Jacob ein ausführliches Gutachten für Goethe; Jacob Grimm äu-

84 Adolf Stoll: Friedrich Karl von Savigny. Ein Bild seines Lebens mit einer Sammlung seiner Briefe. Bd. 2. Berlin 1929, S. 126 u. S. 160f. 85 Ebd., S. 202. 86 Steig: Goethe und die Brüder Grimm, S. 131. 87 Ebd., S. 130. 88 Ebd., S. 134 u. S. 136. 89 Vgl. unter http://www.mgh-bibliothek.de/mgh/berlinerplan.html [19.03.2008]. 90 Vgl. Steig: Goethe und die Brüder Grimm, S. 133f.

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ßerte sich gegenüber Savigny rund eine Woche später.91 Die »Stimmung« hielten die Brüder Grimm für durchaus günstig. Aber sie betonten, wie wichtig es sei, bei allen großen, letztlich wohl auch unausführbaren Plänen an bereits geleistete Arbeiten konkret anzuknüpfen. Mit ihren Vorbehalten gegen allzu freischwebende Projektmacherei lagen sie, wie sich zeigte, richtig. Der ›Berliner Plan‹ wurde erst mit einiger Verzögerung und in einer schlankeren Version realisiert: in dem Forschungsinstitut der Monumenta Germaniae Historica, das aus der 1819 durch den Freiherrn vom Stein gegründeten »Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde« hervorging. Die Edition literarischer Quellen wurde dabei zurückgestellt. Immerhin hielt Jacob Grimm über den Briefwechsel mit Heinrich Pertz, dem ersten Präsidenten der Monumenta, den Kontakt zu dem Forschungsprojekt. Wilhelm Grimm legte seiner Stellungnahme für Goethe einen eigenen »Plan zu einer Gesellschaft für altd. Literatur« bei, den sein Bruder Jacob zwar für zu detailliert hielt,92 den aber Goethe gleichwohl an den Weimarer Großherzog und an den Freiherrn vom Stein weiterreichte. Dieser Exkurs wurde durch einen nur wenig älteren Vorschlag von Hans Georg von Hammerstein-Equord und durch eine »ähnliche Gesellschaft in Copenhagen« angeregt.93 In Wilhelm Grimms Plan wurde sehr viel feiner und genauer als im ›Berliner Plan‹ eine staatlich alimentierte Organisation entworfen, die flächendeckend »Denkmäler«, »Volkssitten«, »Rechtsbräuche«, »Sagen und Lieder«, Material für die Erforschung von »Mundarten« sowie insbesondere »Handschriften« sammeln sollte. Die Materialien dieses Archivs wollte er jedem Forscher zugänglich machen, also eine gemeinsame Basis für ein ›diszipliniertes‹ Projekt stiften.

VIII. Bei Wilhelm Grimms Konzept handelte es sich nur um einen unter vielen Versuchen zur Forschungskooperation; und auch dieser Plan der Grimms blieb ein Projekt. So verwundert es nicht, wenn Jacob Grimm eine eher skeptische Haltung gegenüber dezidierter Kooperativität entwickelte. An Georg Friedrich Benecke schrieb er am 13. Juli 1818, dass Forschungsgesellschaften entweder von oben gestiftet würden und dann vornehmlich repräsentativen Interessen dienten oder von »gutmüthigen Leuten« ausgingen, die aber von gelehrter Arbeit keine

91 Vgl. ebd., S. 188ff.; Jacob Grimm an Savigny, 28. September 1816. In: Briefe der Brüder Grimm an Savigny, S. 245ff. 92 Ebd., S. 248f. 93 Ebd., S. 249; dazu Briefwechsel der Brüder Grimm mit Hans Georg von HammersteinEquord. Hg. u. kommentiert v. Carola L. Gottzmann. Marburg 1985, S. 103ff.

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Ahnung hätten. Forschung nämlich gedeihe in der »Stille des Geistes«, »aus der Unabhängigkeit allein entspringt […] die Stärke zur Ausführung«. Das prinzipielle Argument, mit dem Jacob Grimm seine Position stützte, hatte er zuvor schon mehrfach formuliert: »Die Nothwendigkeit, ja die Herrlichkeit von Einwirkungen, Einflüßen, Mittheilungen der Menschen unter einander will ich gewiß nicht leugnen, es deucht mir nur, daß sich alles dies von selbst und unschuldig auf einem andern Wege darbieten müße, als den die förmliche Gesellschaft dazu eröffnet.«94 Bei allen Differenzen sind sich Jacob und Wilhelm Grimm an diesem Punkt doch sehr nahe. Wilhelm Grimms »Plan zu einer Gesellschaft für altd. Literatur« ging daher auf eine bemerkenswerte Weise mit dem Problem der offenen Zukunft um, das sich den Grimms als Bibliothekaren und als Forschern stellte. Über die Arbeiten der einzelnen Forscher hieß es dort: »Diese sind ganz frei und es findet keinerlei Beschränkung statt. Jede wißenschaftliche Bildung nimmt einen nothwendigen Gang, den keines Menschen Kraft bestimmen kann und dem man selbst eine falsche Richtung in einem einzelnen Punct nicht gewaltsam abschneiden darf, weil diese mit dem eigenthümlich trefflichen zusammenhängen kann«.95 Irrtümer und Fehler sind demnach unter Umständen unproblematisch und kein Indiz dafür, dass im Lauf der Zeit nicht hervorragende Ergebnisse erzielt werden könnten. Offenbar stellten die Grimms sich auch hier vor, dass Forschung wie ein sich selbst regulierender Prozess abläuft, den souveräne Eingriffe nicht nur nicht befördern, sondern behindern oder gar verhindern. Man könnte diesen Aspekt auf den Nenner der Autopoiesis oder Selbststeuerung epistemischer Dinge bringen, also auf den Eindruck, dass z. B. Interpretationen ›sich ergeben‹, und zwar nicht beliebig, sondern aus dem heraus, was bereits getan wurde und dann mit einer »tastenden Suche nach Differenzen«96 weitergeführt wird. Die tatsächlich geleistete Forschung hinge demnach mehr von vergangenen Erfahrungen als von künftigen Zielen ab sowie von einer Erfahrenheit, die produktive Abweichungen im Zuge dessen als Innovationschancen verbucht. Dies bedeutete freilich nicht, dass Prozesse der differentiellen Reproduktion individuelle Vorgänge wären; daran hat immer auch die Vergangenheit einer Disziplin Anteil.97 Gleichwohl dürfte in der Eigendynamik epistemischer Prozesse die größte Herausforderung bei der Organisation von dezidierter Kooperation liegen: Wenn sich epistemische Dinge in zeitintensiven Erfahrungen in Forschungszusammenhängen ergeben, dann müsste man dafür sorgen, dass Kooperierende ähnliche Erfahrungen machen und die Gemein94 Jacob Grimm an Benecke, 13. Juli 1818. In: Briefe der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm an Georg Friedrich Benecke, S. 98 u. S. 100. 95 Steig: Goethe und die Brüder Grimm, S. 149. 96 Rheinberger : Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 89. 97 Vgl. ebd., S. 26f.

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schaftsarbeit möglichst viele Stationen eines Forschungsprozesses strukturiert, damit mehr oder weniger vom selben epistemischen Ding die Rede ist.98 Aber wie man weiß: Es ist sehr schwer – und davon zeugt jede Tagungs- oder Seminardiskussion – gemeinsam ›bei der Sache‹ zu bleiben. Die Alternative besteht darin, gemeinsame Forschungsprozesse zu entwerfen, die weder auf Konsens noch auf die Unterstellung geteilter Intentionalität angewiesen sind.

IX. In den bisherigen Ausführungen war häufig von ›Regeln‹ die Rede. Dieser regulative Aspekt bei der kooperativen Konstitution epistemischer Dinge sei zumindest angemerkt, weil er für eine Praxeologie der Literaturwissenschaft ebenso zentral wie schwer zu fassen ist. Dies liegt insbesondere an der ›schweigenden‹ Verbindlichkeit vieler Vorgänge, bei denen es »keineswegs wahlund regellos« zugeht, bei denen jedoch »die Wirksamkeit« von Regeln »auf ihrer beiläufigen Gegenwärtigkeit bei der Anlage und Durchführung« von Forschung beruht.99 Jacob und Wilhelm Grimm artikulieren diese typische Forschungserfahrung mit dem Hinweis darauf, dass sich Ergebnisse zwar intentional nur schwer beherrschen lassen, dass sie sich jedoch aus der bisherigen Arbeit ergeben (also eher aus der Vergangenheit eines ›erfahrenen‹ Forschers hergeschrieben als auf dessen Zukunft und antizipierte Ergebnisse hingeschrieben werden) und dass solche selbstläuferischen Prozesse akzeptabel sind, weil sie mit einer bemerkenswerten ›Notwendigkeit‹ ablaufen oder sich zumindest retrospektiv so deuten lassen. Ein zweiter Grund dafür, dass dieser regulative Aspekt sich einer Festlegung entzieht, hängt wiederum in vielerlei Hinsicht mit dem holistischen Charakter epistemischer Prozesse zusammen. Dies betrifft etwa den »wissenschaftliche[n] Takt«, der – so eine aufschlussreiche Formulierung von Richard M. Meyer – auch in der Forschung und der Ausformulierung von Forschungsergebnissen etwas mit dem »Vorgefühl einer gewissen künstlerisch abgerundeten Gesamtordnung«, mit einem »künstlerisch wohlgefällige[n] Gesamtbild auch der wissenschaftlichen Tatsachen« sowie wie mit kulturell variablen Vorstellungen davon zu tun hat, was als »wohlgefällig« gilt.100 Im 19. Jahrhundert attestierten sich Philologen in diesem Zusammenhang beispielsweise »Takt«.101 Michael Polanyi spricht solche Sach98 99 100 101

Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 94. Richard M. Meyer : Gestalten und Probleme. Berlin 1905, S. 11 u. S. 13f. Lutz Danneberg: Dissens, ›ad-personam‹-Invektiven und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts. Wilamowitz-Moellendorff ›contra‹ Nietzsche. In: Ralf Klausnitzer u. Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie/Literatur-

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verhalte im Rahmen seiner Theorie des tacit knowledge an, wenn er nach der Qualität von Forschungsproblemen fragt und danach, wie die Überzeugungen beschaffen sind, die einen Forscher zu der Annahme bewegen, »dass es da etwas zu entdecken gibt«.102 Vermutlich spielen dabei Faustregeln eine große Rolle, die für die aktuelle Literaturwissenschaft noch zu identifizieren sind.103 Wichtig ist in diesem Kontext jedenfalls der Hinweis von Gilbert Ryle, dass die Bestimmung (bereichsspezifisch) intelligenten Handelns nur dann gelingt, wenn man regelmäßiges Verhalten beobachten kann: Man bezieht sich dabei nicht nur auf »einzelne Situationen« (in denen Gelingen zufällig sein könnte), sondern sagt »auch etwas Hypothetisches über viele verschiedene Verhaltensweisen des Handelnden in verschiedenen Situationen«.104 Zur Bestimmung der Grenzen literaturwissenschaftlicher Praxis und damit auch der Grenzen von Kooperation hat Ralf Klausnitzer den Vorschlag gemacht, auf konstitutive und regulative Regeln zu achten. Während regulativ bereits laufende und etablierte Prozesse strukturiert, geordnet, beschränkt etc. werden, stiften konstitutive Regeln überhaupt erst jene »Spiele«, die sie dann zugleich bestimmen. Die Pointe ist dabei: »Konstitutive Regeln können nicht verletzt werden, ohne dass sich das Spiel im Ganzen verändert bzw. endet […]«.105 Bedeutet dies, dass sich literaturwissenschaftliche ›Arbeitseinheiten‹ um bestimmte epistemische Dinge herum gruppieren und dass dafür bestimmte regulative Regeln idiosynkratisch gelten mögen (bzw. dass Verletzungen bestimmter regulativer Regeln anderer Arbeitseinheiten akzeptiert oder sogar gefordert werden können), dass es aber für die Literaturwissenschaft insgesamt auch konstitutive Regeln geben muss? Zumal im Hinblick auf die Bestimmung von Regeln der Interpretation herrscht dabei jedoch eine gewisse Ratlosigkeit.106

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theorie in der Kontroverse. Bern [u. a.] 2007 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; N. F. Bd. 19), S. 93–147; Thomas Petraschka: Takt als heuristische Kategorie in Erkenntnis- und Interpretationsprozessen. In: Albrecht, Danneberg, Krämer u. Spoerhase (Hg.): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, S. 591–607. Polanyi: Implizites Wissen, S. 31. Vgl. auch dazu Meyer: Gestalten und Probleme; Rheinberger weist für seinen Bereich auf einige »einfache Handlungsanweisungen« wie das »Symmetrieprinzip«, das »Homogenitätsprinzip« oder das »Exhaustionsprinzip« hin: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 95f. Andreas Kemmerling: Gilbert Ryle. Können und Wissen. In: Josef Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart III. Moore, Goodmann, Quine, Ryle, Strawson, Austin. 2., durchges. Aufl., Göttingen 1984, S. 127–167, hier S. 155. Klausnitzer: Wie lernt man, was geht?, S. 170. Vgl. als Test für ein neues allgemein akzeptables Beurteilungskriterium mit Belegen zur bisherigen Diskussion Simone Winko: Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literaturwissenschaftlicher Interpretation. In: Albrecht, Danneberg, Krämer u. Spoerhase (Hg.): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, S. 483–511.

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X. Viele der genannten Aspekte, insbesondere die prozessuale und die holistische Qualität von epistemischen Aktivitäten, laufen auf einen letzten wichtigen Aspekt für die Praxeologie kooperativer Literaturwissenschaft zu: die Hybridität epistemischer Dinge. Lehr- und Forschungsgegenstände ›ergeben‹ sich in einer Praxis, die vieles in sich »versammelt«, wie Bruno Latour es formuliert hat,107 sodass sich Gegebenheiten einstellen: Medial-Technisches, Soziales, Institutionelles u. a.; monetäre, organisatorische, personale, räumliche, temporale, affektive u. a. Ressourcen – das ist nur ein kleiner Ausschnitt an möglichen Faktoren, die zu berücksichtigen sind und die jeweils symphilologische Dimension in den Blick rücken. Die Zerlegung in einzelne Aspekte geht also in gewisser Weise grundsätzlich an der Praxis vorbei; allerdings darf diese auch nicht so holistisch gedeutet werden, dass in der hybriden Konstitution epistemischer Dinge immer alles und immer alles gleichermaßen eine Rolle spielt – eine Differenzierungsoption ergibt sich bereits aus der Multinormativität, die Clusterungen und Hierarchisierungen von Normen ermöglicht. Es bleibt also eine gewisse Spannung zwischen den holistischen und den hybriden Momenten der wissenschaftlichen Praxis, die konzeptionell noch aufzulösen ist. Die Aufmerksamkeit für die Hybridität literaturwissenschaftlicher Praxis ist jedenfalls wichtig, um die kooperative Reguliertheit zu verstehen: Jeder einzelne Faktor, der eine Praxis konstituiert, mag eine nur schwache Verbindlichkeit haben und häufig so oder auch anders ausgestaltet werden können; in der (variablen) Summe jedoch sorgen etwa die inferenziellen ›Verbindlichkeiten‹ von Praktiken für ein so hohes Maß an Verlässlichkeit, dass unterschiedliche Grade von Kooperationsintensität realisiert werden können. Anders formuliert: Erst in der Kooperation von Praktiken ergibt sich eine literaturwissenschaftliche Praxis, die wiederum in sich prinzipiell kooperativ angelegt ist und diverse Formate dezidierter Kooperation mit unterschiedlichen Graden der Kooperationsintensität ermöglicht.

107 Latour : Existenzweisen, passim.

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Gemeinsam einsam frei? Beobachter und Beobachtungskollektive an der modernen Universität

Wissenschaftliches Arbeiten beginnt auch in den text- und zeicheninterpretierenden Disziplinen mit Beobachtungen.1 Ob Geisteswissenschaftler sich über Texte beugen und sie (auf sehr verschiedene Art und Weise) lesen und exzerpieren oder in Archiven bislang unbekannte Details in unveröffentlichten Dokumente entdecken, ob sie Handschriften kollationieren und durch kritischen Vergleich von abweichenden Lesarten die Abhängigkeitsverhältnisse von Kodizes ermitteln, um Textverderbnisse emendieren oder editorische Entscheidungen treffen zu können: Stets vollziehen sie mehrfach dimensionierte Tätigkeiten eines intentionalen und gerichteten Wahrnehmens, das als grundlegender Modus des Erkennens und Basis allen Erfahrungswissens in lebensweltlichen Zusammenhängen von ebenso zentraler Bedeutung ist wie in spezialisierten Expertenkulturen. Geisteswissenschaftler beobachten jedoch nicht nur – auf je spezifische und noch zu klärende Weise – ihre Gegenstände und also Texteigenschaften oder bildkünstlerische Artefakte, archivalische Schriftstücke oder andere Dokumente. Ebenso aufmerksam observieren sie das Tun von Kollegen, die als Freunde bzw. Verbündete oder Konkurrenten registriert werden können, sowie die Wahrnehmung ihres Tuns in der kulturellen Öffentlichkeit. Und selbstverständlich werden auch sie beobachtet: von Angehörigen einer pluralisierten scientific community, von Instanzen der Bildungs- und Wissenschaftspolitik (die über ihre Alimentierung entscheiden) sowie von den Sensoren einer interessierten Öffentlichkeit. Die komplexen Operationen des wissenschaftlichen Beobachtens sind jedoch keineswegs so einfach strukturiert, wie es etwa literaturgeschichtliche Aussagen 1 Die vorliegenden Überlegungen nehmen früherere Überlegungen zu den epistemischen Konditionen des Beobachtens auf, siehe Ralf Klausnitzer: Literaturwissenschaft. Begriffe – Verfahren – Arbeitstechniken. 2., aktualisierte u. erweiterte. Aufl., Berlin u. New York 2012; sowie ders., Jan Behrs u. Benjamin Gittel: Wissenstransfer. Konditionen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis. Frankfurt a. M. u. Bern 2013 (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte Bd. 14).

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über Baumgarten und Klopstock nahelegen, die »am Schreibtisch, im akademischen Kollegium und vor dem Publikum schlicht und ergreifend literarische Texte beobachten, sie analysieren, synthetisieren, perspektivieren, kontextualisieren«.2 Und sie sind keineswegs individuelle Leistungen isolierter Wissenschaftsakteure. Im Gegenteil: Wie nur wenige andere epistemische Praktiken sind die Tätigkeiten des wissenschaftlichen Beobachtens sozial konditionierte Tätigkeiten, die in kooperativen Zusammenhängen ausgebildet und eingeübt, angewendet und weiter entwickelt werden. Das wusste bereits der polnische Wissenschaftsforscher Ludwik Fleck, der seit den 1930er Jahren die »Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache« untersuchte: Er entdeckte die Bildungselemente eines »wissenschaftlichen Denkkollektivs« und seines spezifischen »Denkstils« in jener kooperativen Formierung epistemischer Praktiken, die bereits für die Ebene der Observation grundlegende Funktionen übernehmen: »Die Objektivität wissenschaftlicher Beobachtung beruht einzig auf ihren Bindungen mit dem ganzen Vorrat an Wissen, Erfahrung und traditionellen Gewohnheiten des wissenschaftlichen Denkkollektivs.«3 Mit anderen Worten: Die Erzeugung von (gesichertem) Wissen ist untrennbar gebunden an Operationen des Beobachtens und Beschreibens, die als grundlegende epistemische Praktiken auf »Erfahrung« und »Geschicklichkeit« beruhen. Als komplexe Fertigkeiten lassen sie sich nicht durch »Wortformeln« ersetzen, sondern beruhen auf Regelkenntnissen, die in aufwändigen und nicht selten langwierigen Prozessen der Vermittlung und Übung weitergegeben und erworben werden müssen.4 Deshalb stellt die Einführung von ›Novizen‹ bzw. Studienanfängern in wissenschaftliche Umgangsformen einen grundlegenden und zeitaufwendigen Vorgang dar, in dem vor allem die Verfahren eines zielgerichteten Wahrnehmens zu vermitteln sind: Erst durch Instruktionen in mitunter schwer zu verbalisierende Akte des Beobachtens (von Artefakten und ihren Teilen, Zusammenhängen, Konstellationen etc.) werden neue Angehörige des Wissenschaftssystems mit den Fundamenten ihrer Disziplin vertraut gemacht. Der Übergang von einem anfänglich »unklaren Schauen« (»stillos«, »verworren« etc.) zu einem Wahrnehmen konkreter Formen erfolgt also in 2 So Frauke Berndt: Poema / Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750. Berlin u. Boston 2011 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Bd. 43), S. 3. 3 Ludwik Fleck: Schauen, Sehen, Wissen [1947]. In: ders.: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hg. u. kommentiert v. Sylwia Werner u. Claus Zittel. Frankfurt a. M. 2011, S. 390–418, hier S. 410. 4 Alle Zitate in Ludwik Fleck: Über die wissenschaftliche Beobachtung und Wahrnehmung im allgemeinen [1935]. In: ders.: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hg. u. kommentiert v. Sylwia Werner u. Claus Zittel. Frankfurt a. M. 2011, S. 211–238, hier S. 212: »Man muß also erst lernen, zu schauen, um das wahrnehmen zu können, was die Grundlage der gegebenen Disziplin bildet. Man muß eine gewisse Erfahrung, eine gewisse Geschicklichkeit erwerben, die sich nicht durch Wortformeln ersetzen lassen.«

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epistemischen und sozialen Zusammenhängen: Wie schon Fleck nachdrücklich unterstreicht, erfordert das »unmittelbare Gestaltsehen« ein »Erfahrensein in dem bestimmten Denkgebiete«, denn »erst nach vielen Erlebnissen, eventuell einer Vorbildung erwirbt man die Fähigkeit, Sinn, Gestalt, geschlossene Einheit unmittelbar wahrzunehmen.«5 Entscheidende Bedeutung gewinnen dabei Interaktionen mit personalen Wissensgebern, epistemischen Dingen und Instrumenten (die ein artefaktgenetisches Wissen speichern) sowie institutionellen Rahmungen. Die in Prozessen des Wissenstransfers erworbenen Prägungen leiten noch den ausgebildeten Forscher in seinen Observationen. Sie schaffen jene Kopplungen, die von Fleck als »Denkstil« eines »Denkkollektivs« beschrieben wurden. Zur historischen wie systematischen Aufklärung über die mitunter verwickelten und nur schwer rekonstruierbaren Vorgänge in »Denkkollektiven« und »Schulen« hat Fleck für die folgende Wissenschaftsforschung fruchtbare Anstrengungen unternommen. Meine Überlegungen schließen daran an und konzentrieren sich auf einen ausgewählten Aspekt wissenschaftlichen Handelns, wenn sie nach Voraussetzungen und Verfahren von Beobachtungen in kooperativen Zusammenhängen geisteswissenschaftlicher Praxis fragen und dabei vor allem jene Arbeitsformen in den Blick nehmen, die aufgrund ihrer nur schwer sichtbaren Qualitäten oftmals unbeachtet oder übersehen bleiben. Dabei geht es einerseits um initiierende Prozesse der wissenschaftlichen Sozialisation, die in sozialen Gruppen stattfindet und deren Bedeutung für die Erzeugung und Weitergabe von Wissen nicht zu unterschätzen ist. – Meine Überlegungen zielen andererseits auf die Verlaufsformen und Konsequenzen dieser kollektiven Einübung in Beobachtungsstrategien und Aufmerksamkeitsökonomien. Denn die Kompetenzen des Beobachtens werden nicht nur in sozialen Gruppen erworben und eingeübt; sie bestimmen auch das Verhalten von Forschern und Lehrern in der Regel auf längere Zeit und verfestigen sich zu Konditionen, die prägende Kraft für die Ausbildung nachrückender Generationen gewinnen können. Die leitende Frage meiner kurzen Reflexionen thematisiert die grundlegenden Zusammenhänge zwischen der Anwendung und dem Erwerb von observatorischem Regelwissen: Wie erlernt man eigentlich das (philologische) Beobachten? Sie hört sich vielleicht etwas trivial an, sollte aber nicht unterschätzt werden. Denn sie impliziert Problemstellungen, deren Reichweite an dieser Stelle nicht einmal angedeutet werden kann und die hier selbst nur knapp zu formulieren sind. Das erste Problem betrifft die komplexen Voraussetzungen anschlussfähigen Beobachtens: Klar dürfte sein, dass Beobachtungsakteure ei5 Ebd., S. 121. Wichtig aber auch der unmittelbar anschließende Hinweis: »Freilich verliert man zugleich die Fähigkeit, der Gestalt Widersprechendes zu sehen.«

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gentlich nur erfolgreich beobachten können, wenn hinlänglich deutlich ist, was und wie sie zu beobachten haben; Wissenschaftler müssen zuerst einmal etwas wissen, um etwas ›sehen‹ zu können.6 Dieses geforderte ›Wissen‹ aber ist nicht per se gegeben, sondern wird eigentlich erst durch Beobachtungen erzeugt. Die Frage nach dem Erwerb observatorischen Regelwissens lässt sich also präzisieren: Wie gelangt man in jenen Beobachtungszirkel, der – ähnlich wie der viel beschworene ›hermeneutische Zirkel‹ – eine zentrale Bewegung philologischer Erkenntnis ausmacht? Ein weiteres Problem ist mit der Unzugänglichkeit der eigenen Operationen verbunden: Geschulte Beobachter wissen (ebenfalls seit längerem und nicht erst seit Niklas Luhmann), dass sie die Tätigkeiten ihres Beobachtens nicht beobachten können.7 Diese ›blinden Flecken‹ von Observationen können zwar durch Temporalisierung aufgelöst werden (etwa indem man die eigenen Beobachtungsverfahren zeitlich versetzt untersucht und also einer Beobachtung zweiter Ordnung unterzieht), aber auch diese (Selbst-)Beobachtung wissenschaftlicher Praktiken kann ihr Operieren nicht beobachten, sodass sich der blinde Fleck der Beobachtung nur verschieben, nicht aber aufheben lässt. Vor diesem Hintergrund erhebt sich die Frage: Welche Folgen haben die ›blinden Flecken‹ von Beobachtungsordnungen, die sich aus den Limitationen von Beobachtern ergeben, die zwar beobachten können, was sie beobachten, aber eben nicht beobachten können, wie sie beobachten und denen gleichfalls verschlossen bleibt, was sie nicht beobachten? Um diese Fragen beantworten zu können, werde ich zunächst kursorisch wesentliche Aspekte des Beobachtens in den text- und zeicheninterpretierenden Disziplinen skizzieren (I.). Im nachfolgenden Abschnitt sind wesentliche Dimensionen des Erwerbs und der Vermittlung von Observationskompetenzen in geisteswissenschaftlichen »Beobachterkollektiven« und deren ›blinde Flecke‹ nachzuzeichnen (II.), bevor in einem abschließenden dritten Schritt die Ausbildung eines neuartigen kollektiven und kooperativen Beobachtertypus in der epistemischen und soziokulturellen Situation ›um 1800‹ zu konturieren ist (III.). Mit besonderer Konzentration auf die Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Fächer an der Berliner Universität nach 1810 und mit Seitenblicken auf die Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert ist dabei zu zeigen, mit welchen Dispositionen und Voraussetzungen sich kooperative Arbeitsformen auf der basalen Ebene des Beobachtens ausbilden – und welche Konsequenzen die kollektiv erworbenen Konditionierungsleistungen der Observation haben.

6 Vgl. bereits Fleck: Schauen, Sehen, Wissen [1947]. In: ders.: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, S. 290. 7 Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990, S. 68–121 (Beobachten); ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 92–164 (Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung).

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I.

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Beobachten in den text- und zeicheninterpretierenden Disziplinen

Als Richard Moritz Meyer – der nach eigener Aussage nichts anderes sein wollte als ein »deutscher Philolog aus Scherers Schule«8 – 1898 vor der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin auftritt und über Betrieb und Organisation der wissenschaftlichen Arbeit referiert,9 liegt seine universitäre Sozialisation in der Obhut des literatur- wie wissenschaftstheoretisch interessierten Wilhelm Scherer erst einige Jahre zurück. Das Studium der deutschen Philologie hatte er 1878 in Leipzig begonnen (wo Konrad Burdach und Gustav Roethe zu seinen Kommilitonen zählten) und seit dem Wintersemester 1879/80 in Berlin fortgesetzt (wo der – nicht nur von ihm hochverehrte – Wilhelm Scherer lehrte).10 1883 wurde Meyer mit einer Dissertation über die Lieder Neidharts von Reuental promoviert und habilitierte sich 1886 mit Studien über Lichtenberg und Swift.11 8 Vgl. Hans-Harald Müller : »Ich habe nie etwas anderes sein wollen als ein deutscher Philolog aus Scherers Schule.« Hinweise auf Richard Moritz Meyer. In: Wilfried Barner u. Christoph König (Hg.): Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933. Göttingen 2001 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte Bd. 3), S. 93–102. 9 Richard Moritz Meyer : Betrieb und Organisation der wissenschaftlichen Arbeit. In: Volkswirtschaftliche Zeitfragen. Vorträge und Abhandlungen hg. v. der volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin 19 (1898), H. 151/152, S. 1–55, nachfolgend zitiert nach dem Wiederabdruck in Richard Moritz Meyer: Gestalten und Probleme. Berlin 1905. – Zu den Konsequenzen dieser Beobachtungslehre für den Umgang mit Literatur vgl. Ralf Klausnitzer : »Literarische Kunst«. Richard Moritz Meyers Beobachtungen des Jahres 1913 und die Gegenwart der Vergangenheit. In: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur 38 (2013), H. 2, S. 514–539. 10 Die 1889 veröffentlichte Monographie Die altgermanische Poesie nach ihren formelhaften Elementen beschrieben ist »Dem Andenken meines verehrtesten Lehrers Wilhelm Scherer in Dankbarkeit gewidmet« (nachdem Meyer im Jahr zuvor postum Scherers Poetik herausgegeben hatte). Am 21. November 1910 unterschreibt er bei seinem Notar die Stiftungsurkunde der Wilhelm Scherer-Stiftung an der Universität Berlin, die er zu Ehren des »unvergeßlichen Lehrers Wilhelm Scherer, zur Unterstützung und Auszeichnung von Arbeiten und Arbeitern auf dem Gebiet der deutschen Philologie und zum Gedächtnis meines geliebten, auch nach Scherer benannten Sohnes Fritz Joachim Wilhelm Meyer« errichtet und mit einem Dotationskapital von insgesamt 100.000 Mark ausstattet. (Der Sohn war kurz vor Beginn seines Studiums verstorben.) Vgl. Notariatsprotokoll und Stiftungsurkunde vom 21. 11. 1910; Akten der Wilhelm Scherer-Stiftung im Archiv der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; dazu auch Gustav Roethe: Verzeichnis der Stipendien, Stiftungen und Preisaufgaben, die für die Studierenden der Philosophischen Fakultäten der Universität Berlin in Betracht kommen. Berlin 1911, S. 45. 11 Die erhoffte Karriere war ihm versperrt: Aufgrund seiner jüdischen Herkunft blieb die Berufung auf einen Lehrstuhl an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ebenso unmöglich wie die Mitgliedschaft an der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Zur Biographie siehe die materialgesättigte Darstellung von Roland Berbig: »Poesieprofessor« und »literarischer Ehrabschneider«. Der Berliner Literaturhistoriker Richard M. Meyer (1860–1914). In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 1 (1996), S. 37–99; sowie die Beiträge des Sammelbandes von Nils Fiebig u. Friederike Waldmann (Hg.): Richard

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Als Hochschullehrer an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität entwickelt er am Ende des 19. Jahrhunderts – lange vor Luhmann – eine Wissenschaftslehre, die das »Beobachten« und die »Beobachtung der Beobachtung« als grundlegende Operationen von Lehre und Forschung exponiert.12 Wissenschaft ist nach Meyer »das Bemühen, Beobachtungen in eine dauernde Form zu bringen«;13 als ihre wichtigste Ressource gilt »Aufmerksamkeit«, die zugleich zur zeitübergreifenden »Herrscherin geistiger Arbeit« erklärt wird.14 Der beständige Zufluss von Beobachtungen und ihre fortgesetzte Formatierung bzw. Umformatierung sicherten sowohl den »Fortschritt« als auch die »Kontinuität« der Erkenntnisproduktion.15 Die rekursiven Schrittfolgen der Observation verfestigten sich zu Methoden, die durch »Überlieferung« und also in Prozessen der Aufzeichnung, Speicherung und Aktualisierung weitergegeben und als »Ansammlung kondensierter Arbeit« tradiert werden.16 Wissenschaftliches Beobachten entsteht nach Meyer jedoch erst, wenn aus dem Vorrat von formulierten Beobachtungen, Analogien und Verallgemeinerungen von Analogienschlüssen »theoretische Ideen« gewonnen werden – wobei die besondere Leistung dieser »theoretischen Ideen« darin bestehe, dass sie aus der »Beobachtung der Beobachtung« hervorgehen und diese zugleich überschreiten: Sie ergänzen vorhandene Observationen »aus einer gewissen Divination heraus durch die Forderung neuer, erst nur noch vorausgesetzter Tatsachen«.17 Damit hat der Scherer-Schüler Richard M. Meyer wesentliche Aspekte des Beobachtens benannt. Zu ergänzen bleiben weitere wichtige Dimensionen einer grundlegenden epistemischen Operation, deren Spezifik zunächst darin besteht, Einzelnes aus einer Fülle gegebener Eindrücke zu unterscheiden und zu bezeichnen. Beobachten heißt also erst einmal Formen zu bilden, die als diskri-

12 13 14 15 16 17

M. Meyer. Germanist zwischen Goethe, Nietzsche und George. Göttingen 2009. Zum 100. Todestag des Gelehrten erschien Richard Moritz Meyer: Moral und Methode. Essays, Vorträge und Aphorismen. Hg. v. Nils Fiebig. Göttingen 2014. Ebenso verdienstvoll sind die Beiträge von Myriam Richter, die eine eindrucksvoll gestaltete Geschichte des von R. M. Meyer bewohnten Stadtpalais vorlegte (Voßstraße 16. Im Zentrum der (Ohn-)Macht. Köln 2011) und eine Edition der »Haus-Chronik« vorbereitet. Meyer : Betrieb und Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, S. 4 u. S. 9. Ebd., S. 2. Ebd., S. 4 u. S. 9. Ebd., S. 2. Ebd., S. 5. Ebd., S. 8. – Aufschlussreich und Niklas Luhmann vorwegnehmend ebd., S. 9: »Die theoretische Idee entsteht, um es prägnant auszudrücken, nicht aus der Beobachtung der Tatsachen, sondern aus der Beobachtung der Beobachtung. Ein denkender Geist sammelt, sichtet, ordnet nicht mehr Tatsachen, sondern formulierte Beobachtungen. Sie schließen sich ihm zu einem Ganzen zusammen. Er hat den Eindruck einer wohlgefügten Gesamtordnung. Hier oder da entdeckt er Lücken, die er, lediglich aus dem Gesamteindruck heraus, ergänzt. Damit gibt er theoretische Ideen. In diesem Augenblick entsteht eine Wissenschaft.«

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minierende Informationen (»dies und nicht jenes«, »jetzt und nicht später«) in weitere Operationen eingespeist werden können. Bedingung für die simultanen Prozesse von Unterscheidung und Bezeichnung sind rekursive Vernetzungen mit Gedächtnisinhalten – die Vergangenes repräsentieren – sowie die Fähigkeit, Anschlüsse – an zeitgleiche bzw. künftige Ereignisse – herzustellen. Nur heuristisch von diesen Prozessen der intentionalen und selektiv-aufmerksamen Perzeption von Objekten oder Vorgängen zu trennen sind die ebenfalls komplexen und vielfältigen Praktiken der Aufzeichnung und Kommunikation sowie der Deutung und Erklärung observierter Zusammenhänge: Beobachtungen beziehen sich grundsätzlich auf bereits gemachte Beobachtungen und also auf Vorannahmen bzw. vorhandene Wissensbestände. Sie konstituieren Tatsachen in einer vorliegenden oder neu zu schaffenden Beschreibungssprache und durch andere Verfahren zeichenhafter Vergegenständlichung. Und sie bedürfen der Darstellung und kommunikativen Vermittlung, um mit anderen Beobachtungen verglichen und theoretisch verallgemeinert werden zu können. Als grundlegende Weise der Orientierung in der Lebenswelt und im Umgang mit ästhetischen Artefakten sowie als konstitutiver Bestandteil wissenschaftlicher Praxis sind Beobachtungen also gebunden an 1. Subjekte oder Systeme, die 2. in intentionaler Weise Zeit und Aufmerksamkeit investieren, um 3. aktual gegebene Umweltausschnitte segmentierend zu erfassen, dabei 4. qualitative und quantitative Daten zu gewinnen, die in weitergehenden epistemischen Prozeduren verarbeitet sowie aufgezeichnet und weitergegeben werden können. Beobachtungen sind deshalb nicht singuläre Ereignisse, sondern komplexe Leistungen sozialer Subjekte oder Systeme. Als zielgerichtete und koordinierte Suchbewegungen schließen ihre Tätigkeiten des Beobachtens an vorgängige Informationen oder Fragestellungen an. Denn man kann eigentlich nur beobachten, wenn einem relativ genau klar ist, was man zu beobachten hat. Um es mit den Worten des bereits zitierten Ludwik Fleck zu sagen: »Um zu sehen, muß man zuerst wissen.«18 Deshalb gehen Beobachtungen über separierende Formbildung hinaus: In instruierten und reglementierten (nicht selten zeitaufwendigen) Verfahren, aber auch auf ungeregelte und zufällige Weise akkumulieren Observationsakteure empirische Befunde, um vorgängig formulierte Fragen beantworten und Hypothesen (auch theoretischer Art) überprüfen zu können. Verknappt gesagt: In der Einheit von Formbildung, Hypothesenprüfung und Tatsachenkonstitution übernehmen Beobachtungen fundamentale Funktionen für die Orientierung in natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelten. Sie bilden die Basis für Erfahrungs- und Kunstwissenschaften. Und sie sind von

18 Fleck: Schauen, Sehen, Wissen [1947]. In: ders.: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, S. 290.

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epistemischen Instruktionen und materialen Dispositiven ebenso abhängig wie von Vorannahmen und theoretischen Rahmungen. Beobachtungsleistungen sind nicht an Wahrnehmungsprozesse des Menschen gebunden, sondern finden sich bereits bei höheren tierischen Lebensformen.19 Gleichwohl hat erst der Mensch spezielle Kulturtechniken der Beobachtung entwickelt, die von der Fixierung und Speicherung observierter Zusammenhänge über die Entwicklung technischer Instrumente bis zu Reflexionen der Beobachtungsbedingungen und Verfahren der Fehlerkorrektur bei Beobachtungsverzerrungen reichen. Auch das systematische Nachdenken über die Bedeutung von Erfahrungswissen und die Rolle des Beobachters sind Leistungen, die nicht erst mit der Formierung neuzeitlicher Observations- und Experimentalkulturen beginnen. Die unterschiedlichen Einsätze führen schließlich zur Einsicht in die Theorieabhängigkeit von Beobachtungen, die sich gegen eine am entschiedensten im Wiener Kreis vertretene Trennung von (auf Beobachtung beruhenden) »Protokollsätzen« und auf ihnen aufbauenden Hypothesen bzw. »abgeleiteten Sätzen« durchgesetzt hat.20 Um wichtige Einsichten zu wiederholen: Beobachtungen werden in den spezialisierten Expertenkulturen der Wissenschaft ebenso gemacht und dargestellt, thematisiert und problematisiert wie in der Lebenswelt und in den ästhetisch formierten Welten der Kunst und der Literatur – wobei als Akteure dieser Observationen in allen drei Sektoren sozialisierte Individuen oder Kollektive oder auch Institutionen auftreten können. Beobachtungsprozesse werden stets in konkreten kulturellen und epistemischen Zusammenhängen realisiert und mit spezifischen Darstellungsverfahren formiert; sie werden mit Anschlusskognitionen verbunden und konstituieren Wissensansprüche, die durch weitere Beobachtungen zu verifizieren oder zu falsifizieren sind. Techniken der Beobachtung sind anspruchsvoll. Sie müssen in Lernprozessen erworben und durch Imitation eingeübt werden, um mit anschlussfähigen Ergebnissen fortgeführt zu werden. Welche Bedeutung und welche Variationsbreite die diversen Arten des Beobachtens in den Geisteswissenschaften haben, zeigt ein näherer Blick auf unterschiedliche Arten des Lesens als einer gleichsam fundamentalen Praktik in 19 Inwiefern diese durch Experimente von Verhaltensforschern belegten Beobachtungs- und Unterscheidungsleistungen ein Beleg für ein Denken der Tiere sind, ist Gegenstand einer aktuellen philosophischen Debatte. – Für einen Überblick vgl. etwa den Sammelband von Dominik Perler u. Markus Wild (Hg.): Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion. Frankfurt a. M. 2005. 20 Diese Vorstellung wird allerdings bereits im Wiener Kreis selbst und schließlich durch Quine entscheidend kritisiert. – Vgl. Rudolf Carnap: Über Protokollsätze. In: Erkenntnis 3 (1932), S. 215–228; Otto Neurath: Protokollsätze. In: Erkenntnis 3 (1932), S. 204–214; Willard O. Quine: Two Dogmas of Empiricism. In: The Philosophical Review 60 (1951), S. 20–43.

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den text- und zeicheninterpretierenden Disziplinen. Lesen wird von alphabetisierten und konditionierten Instanzen realisiert, die sich bei der Unterscheidung und Bedeutungszuweisung von Zeichen auf Textzustände oder -vorgänge konzentrieren, die entweder in den medialen Umgebungen ihrer Entstehungszeit (und also in der Handschrift bzw. im Erstdruck) oder ›isoliert‹ (und also in Auswahl- oder Gesamtausgaben) wahrgenommen werden. Schon diese unterschiedlichen Erscheinungsformen des Beobachtungsgegenstandes dirigieren in nicht zu unterschätzender Weise mögliche Observationen. Mit der Erstellung von Ausgaben unter Titeln wie »Gesammelte Werke« oder »Sämtliche Werke« werden zum einen materiale Textkorpora geschaffen, die (zumindest dem Anspruch nach) alle Publikationen eines Autors akkumulieren; verbunden damit sind zugleich Prozesse der Homogenisierung, in deren Rahmen unterschiedlich publizierte Texte vereinheitlicht und in einer Form veröffentlicht werden, deren identischer Charakter von der Papiersorte über die benutzte Drucktype bis zu einheitlichen Einbänden reicht. Historisch-kritische Gesamtausgaben unterstützen diese Vereinheitlichungen durch beobachtungsleitende Erschließungsmechanismen: Indices bzw. Register (Personenregister, Sachregister, Werkregister etc.) weisen das Vorkommen von Wörtern nach und erleichtern es, zwischen einzelnen Texten oder Textstellen explikative Beziehungen herzustellen. Daraus ergeben sich nicht zu unterschätzende Konsequenzen. Die Zusammenfassung von Textkorpora zu einem ›Werk‹ bzw. einem ›Œuvre‹ hat Folgen für deren Beobachtung. Werden Texte dem gleichen werkkonstitutiven Autornamen zugeordnet, lassen sich zwischen möglicherweise ganz disparaten Schriftstücken weitreichende Relationen herstellen: »Beziehungen der Homogenität, der Abhängigkeit, der wechselseitigen Beglaubigung, der gegenseitigen Erklärung oder der gleichzeitigen Verwendung«.21 Anders gesagt: Editorisch zusammengefasste ›Werke‹ bzw. Werkbestandteile bilden Bezugsgrößen für synchron oder diachron vorgehende Beobachtungsverfahren, in deren Rahmen spezifizierte Kontextzuweisungen vorgenommen werden – was unter anderem gestattet, schwer verständliche Stellen eines Textes durch leichter verständliche Stellen eines anderen Textes zu erklären. Dieses Parallelstellenverfahren kannten bereits die Philologen der Antike, die sie in der Formel von der interpretatio Homerum ex Homero bzw. poetam ex poeta konzeptualisierten.22 21 Michel Foucault: Was ist ein Autor? [1969]. In: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. FranÅois Ewald, übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270, hier S. 244. 22 Klar dürfte sein, wie problematisch ein solches Parallelstellenverfahren aufgrund seiner notwendigen Homogenitätsannahmen ist. Um ein Textkorpus zu bilden, in dem wechselseitige Explikationsrelationen legitim sind, muss ein Beobachter die sprachliche und thematische Kohärenz seiner Teile unterstellen – und das funktioniert eigentlich nur unter Rekurs auf das Konzept einer mehr oder weniger einheitlichen Autorpersönlichkeit und

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So verschieden wie die Darbietungsformen von Texten können auch die lesenden Umgangsformen mit ihnen ausfallen: Lektüren lassen qualitative, quantitative und zufällige Beobachtungen zu; selbst experimentelle Observationen sind möglich (etwa bei der Untersuchung emotionaler Reaktionen auf Texte, die beispielsweise mit veränderten Schlusspassagen präsentiert werden). Auf die lange und verwickelte Geschichte des qualitativ beobachtenden Lesens kann hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf die gleichfalls historisch länger verfolgten Einsätze einer quantitativen Literaturforschung.23 Nur knapp und stark selektiv sei auf weitere Konditionen von Beobachtungen hingewiesen, die sich aus verschiedenartigen materialen Zuständen von Texten ergeben. Wenn etwa im antiken Griechenland die Buchstabenschrift auf Schriftrollen aus Papyrus fixiert wird und die vorliegenden Texte also aus Wortschlangen ohne Zwischenräume und Interpunktionszeichen bestehen, wird ein lautes Vorlesen bzw. Murmeln notwendig. Denn erst durch einen Sprecher oder Vorleser wird diese scriptio continua zu einem gegliederten und verständlichen Text; erst im aktiven Akt des Lesens findet die Transformation der kontinuierlichen Schrift in eine diskontinuierliche Gliederung von bedeutungsrelevanten und bedeutungstragenden Segmenten statt. Bedeutsam ist deshalb die schon frühzeitig zum Bestandteil grammatischer Unterweisungen erklärte Übung des korrekten Lesens; schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert hebt Dionysius Thrax die Relevanz des buchstabierenden Trennens und Zusammenfügens sinngemäßer Zeichen für den Grammatik-Unterricht hervor. ihres intentionalen und konsistenten Handelns. Die Homogenität eines Werkes kann jedoch nur vorausgesetzt werden, wenn sich retrospektive Observationen auf eine ›stabile‹ Produktionsinstanz und deren mehr oder weniger kontinuierliche Schaffensprozesse verlassen können: was angesichts permanenter ›Neuerfindungen‹ von Werkschöpfern unter modernen Bedingungen schwierig geworden ist. Die Schwierigkeiten der Parallelstellenmethode benennt Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis [Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft, 1962]. In: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1967, S. 9–34; auch in: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack [u. a.]. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1978, S. 263–286. 23 Dazu einführend Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Berlin 1998; vertiefend Hans-Joachim Griep: Geschichte des Lesens. Von den Anfängen bis Gutenberg. Darmstadt 2005; Matthias Bickenbach: Eine innere Geschichte des Lesens. Tübingen 1999 (Communicatio Bd. 20) (dazu Helmut Zedelmaier : Die schwierige Lesegeschichte. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 123 [2001], H. 1, S. 78–98.); Alfred Messerli u. Roger Chartier (Hg.): Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Basel 2000; sowie Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin u. New York 2004. – Zu methodologischen Fragen noch immer Roger Chartier : Ist eine Geschichte des Lesens möglich? Vom Buch zum Lesen. Einige Hypothesen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 15 (1985), S. 250–273; ebenso informiert Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte Bd. 12).

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– Gleichfalls weitreichend und hier nur kurz anzudeuten bleibt die Einführung eines Textformats, das nach dem Bericht des Sueton auf Julius Caesar zurückgeht, der Schriftrollen teilen und zu Seiten zusammenfassen ließ, um sie seinen Truppen zuzusenden. Die so gebundenen Papyrus-Manuskripte (Codices) erleichtern nicht nur den Transport, sondern erlauben zugleich die Einführung von Seitenzahlen und damit eine bessere Orientierung in längeren Texten. Damit setzen sie prinzipiell die Möglichkeit diskontinuierlicher Lektüre frei, die für die Ausbildung philologischer Arbeitsformen von nicht zu unterschätzender Bedeutung werden sollte.24 – Ebenso bedeutsam für die Entwicklung der philologischen Beobachtungsgenauigkeit ist (um ein Beispiel aus der neueren Geschichte der Literaturwissenschaft zu geben) die Entwicklung eines Editionstypus, der die Möglichkeiten der fotomechanischen Reproduktion nutzt, um dem Leser die bzw. dem Text-Beobachter sämtliche Details buchstäblich vor Augen zu führen. Ein Beispiel dafür ist die von Roland Reuß und Peter Staengle veranstaltete Historisch-Kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte von Franz Kafka: Anstelle eines fortlaufenden Lesetextes präsentiert sie Kafkas Manuskripte als Wiedergabe originalen Handschrift mit diplomatischer Umschrift, d. h. in exakter Wiedergabe der Handschrift mit sämtlichen Eigenheiten und Fehlern im ursprünglichen Zusammenhang der Überlieferung. Dabei erweist sich vor allem die Reproduktion des Textzusammenhangs als Herausforderung: Die 1997 erschienene Edition von Franz Kafkas Romanfragment Der Process versammelt ohne Ent24 Zu den Technologien, die den Text als gegliedertes Ganzes herstellen und diesen kontinuierlich oder diskontinuierlich beobachten lassen, gehören die nach dem 9. Jahrhundert eingeführten Schriftzeichen ohne Lautwert (also Spatium, Interpunktionszeichen und graphische Gestaltungselemente) sowie grammatisch-syntaktische Ordnungselemente (wie Groß- und Kleinschreibung und Absätze); sie richten die Schrifttexte auf visuell konditionierte Beobachtungen aus. Andere Formen zur visuellen Organisation des Schriftbildes hatte es schon früher gegeben: Rotschreibung dient im alten Ägypten zur Hervorhebung von Überschriften und zur Kennzeichnung von intertextuellen Verweisen bei Glossen und Rezitationsvermerken. Variierende Schriftformate helfen bei der Unterscheidung von Text und Kommentar. Schrifttypen wie die Kursive und Anführungszeichen heben wichtige Stellen hervor oder markieren fremdsprachliche Textelemente. Aufschlussreich ist schließlich der Einsatz des Zeilenumbruchs zur Kennzeichnung von Versen und also von Poesie: Er erscheint schon in babylonischen und altägyptischen Texten. Im Verbund mit Formen des Seiten-Layouts wie dem Randkommentar, der Absatztrennung und der Einrückung entstehen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa die Konditionen für eine optische Gestaltung diskontinuierlich wahrnehmbarer Seiten, die ein stilles Lesen auf Grundlage visueller Wahrnehmung ermöglichen und weiter vorantreiben. Die so gestalteten Texte weisen rezeptionssteuernde Sicherungen auf; graphische Elemente bzw. die Layout-Qualitäten des Textes gewinnen an Bedeutung. – Siehe dazu umfassend Lutz Danneberg: Das perforierte Gewand. Geschichte und hermeneutische Funktion von distinctiones, partitiones und divisiones. In: Alexander Nebrig u. Carlos Spoerhase (Hg.): Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion. Bern [u. a.] 2012 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; N. F. Bd. 25), S. 89–132.

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scheidung über den Status der Kapitel und ihre vermutliche Anordnung der Handlung die faksimilierten Textkonvolute als Hefte in einem Schuber – und zwar genau so, wie man die Originale im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar vorfindet. Welche Folgen diese Edition für das philologische Beobachten hat, kann hier nur angedeutet werden: Zum einen erscheint der Autor durch seine Handschrift mitsamt ihren materialen Eigenschaften in einer Weise präsent, die nicht nur seine Todeserklärungen dementiert, sondern auch die Integrität der ursprünglichen Überlieferung gegenüber wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Eingriffen späterer Herausgeber verteidigt. Zum anderen enthält das technisch reproduzierte Abbild des handschriftlichen Urtextes eine Menge beobachtbarer Informationen: Eigenschaften des Trägermediums können ebenso wie das Schreibgerät und Gebrauchsspuren als Indizien für Dispositionen des Schreibens und des Schreibenden ausgewertet werden. Aus der Handschrift lässt sich auf die mentale Verfassung des Schreibers schließen; gestrichene oder verbesserte Stellen lassen sich als Zeugnisse verworfener Absichten entziffern und erlauben Folgerungen für die Beschreibung und Deutung des Textes. Alle diese hier knapp umrissenen Praktiken des Beobachtens sind an die Kapazitäten eines theoretisch reflektierten Lesers gebunden. Dieser verfügt über Kompetenzen, die kommunikativen Absichten von Autoren einschließlich der ästhetischen Komposition und der Bedeutung von Texten wahrzunehmen. Denn er entwickelt Haltungen einer Distanz, die es erlaubt, die ästhetischen und emotional faszinierenden Potentiale von Texten kategorial zu erfassen; zugleich verfügt er über ein Observations- und Reflexionsvermögen, das ihn in die Lage versetzt, die Prozesse seines Lesens und Verstehens explizit und intersubjektiv mitteilbar zu machen – was ein wesentliches Ergebnis seiner Ausbildung in sozial-epistemischen Zusammenhängen und ein Schritt auf dem Weg zur Integration in ein philologisches »Denkkollektiv« ist.25 – Dieser Ausbildung gilt im Folgenden die weitere Aufmerksamkeit. 25 Damit unterscheidet sich der theoretisch reflektierte Leser zum einen vom emotional und kognitiv beteiligten Leser, der literarische Textwelten als lebensweltliche Sinnstiftungsangebote auffasst und im Umgang mit literarischen Figuren zahlreiche Identifikationsleistungen vollzieht. Die Muster dieser identifikatorischen Interaktionen können verschieden ausfallen: Unterscheiden lassen sich assoziative, admirative, sympathetische, kathartische und ironische Identifikation; siehe dazu Hans Robert Jauß: Interaktionsmuster der Identifikation mit dem Helden. In: ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik I. Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung. München 1977, S. 212–258. – Weitergehende Formen der Beteiligung an literarischen Textwelten entwickeln applikative Leser : Sie kündigen den Fiktionspakt und stellen Fragen nach dem Realitätsgehalt bzw. der ›Wahrheit‹ literarischer Aussagen – so wie beispielsweise der platonische Sokrates, der im Dialog mit dem Rhapsoden Ion postulierte, man müsse die Kenntnisse von Experten konsultieren und dürfe sich nicht auf die Epen Homers verlassen, wenn man wissen wolle, wie man einen Wagen lenke, einen Kranken heile oder eine Schlacht gewinne (vgl. Platon: Ion 537a–539e).

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II.

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Zur Vermittlung von Observationskompetenzen

Beobachten in den Geisteswissenschaften stellt einen voraussetzungsreichen und komplexen Vorgang dar ; soviel dürfte trotz der nur knappen Hinweise hinreichend deutlich geworden sein. Wie aber erlernt man das Beobachten? Welche Techniken und Verfahren sind zu erwerben, um ›richtig‹ beobachten und entsprechende Beobachtungsleistungen mit Anschlusskognitionen verbinden zu können? Und wie vermitteln wissenschaftliche Akteure ihre Kenntnisse und Kompetenzen des Beobachtens – ob von Texteigenschaften, Kontextrelationen oder Institutionen – an nachfolgende Generationen? Erste wichtige Hinweise können systemtheoretische Überlegungen liefern, in deren Rahmen der Beobachtungsbegriff eine besondere Rolle spielt. Beobachtung wird hier als »Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung« konzeptualisiert, was es erlaubt, Beobachtungsordnungen zu separieren: Eine »Beobachtung zweiter Ordnung« operiert dabei als Beobachtung, welche die nicht sichtbaren Konditionen und also die ›blinden Flecke‹ der Beobachtung erster Ordnung sichtbar machen kann, jedoch in ihrer Operation der Beobachtung wiederum neue ›blinde Flecken‹ erzeugt.26 Zahlreiche wissenschaftliche Observationen funktionieren demnach als Form der (Selbst-)Beobachtung von Unterscheidungs- und Formbildungsprozessen auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung und reflektieren nicht nur was, sondern vor allem auch wie beobachtet wird. Wesentlich für die Prozesse der Unterscheidung und Bezeichnung (und deren Vermittlung und Einübung in den Vorgängen epistemischer Transfers) bleiben jene Operationen, mit denen Observationen vergegenständlicht und fixiert werden: Um Umweltausschnitte segmentieren und in ihren Relationen mit anderen Elementen beobachten zu können, bedarf es terminologischer Einheiten (und also einer Beschreibungssprache) sowie diverser Prozeduren zum Vergleichen und Differenzieren. Diese Praktiken müssen vermittelt und erlernt, eingeübt und angewendet werden. Und hier kommen kooperative Zusammenhänge ins Spiel. Denn vor dem Hintergrund der überaus komplexen Beziehungen zwischen diversifizierten Beobachtungsanordnungen wird deutlich, dass wissenschaftliche Observationen – und vor allem auch in den text- und zeicheninterpretierenden Disziplinen – in Prozessen des Lernens und Lehrens weitergegeben und geübt werden müssen. Die dabei zu vermittelnden Fähigkeiten umfassen u. a. Praktiken des Unterscheidens und Benennens von (gemeinsamen und differierenden) Merkmalen, Regeln analogischen und induktiven Schließens sowie Kompetenzen zur Herstellung von Anschlusskognitionen. 26 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 68–121; ähnlich ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 100.

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Doch wo und wie werden diese Prozeduren gelernt und eingeübt? An welchen sozialen Orten und Räumen des Wissens werden diese Praktiken der unterscheidenden Bezeichnung und der Verknüpfung mit Anschlusskognitionen vermittelt? Folgt man Ludwik Fleck, so findet dieser initiierende Prozess in sozialen Gruppen statt, deren Bedeutung für die Weitergabe von Wissen fundamental ist. Als Fleck, dessen Hauptwerk selbst ein Beispiel für verzögerte Prozesse der Weitergabe und Aufnahme von Wissen darstellt,27 in den 1930er Jahren die »Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache« untersucht, entdeckt er die Bildungselemente eines »wissenschaftlichen Denkkollektivs« und seines spezifischen »Denkstils« in jener Formierung verbindlicher Praktiken, die bereits auf der Ebene der Observation grundlegende Funktionen übernehmen: Wie schon zitiert, beruht nach Fleck die »Objektivität wissenschaftlicher Beobachtung« ausschließlich auf ihren Kopplungen mit dem gesamten Vorrat an Wissen, Erfahrung und Gewohnheiten des »wissenschaftlichen Denkkollektivs«.28 Wie kompliziert die Vorgänge sind, in deren Verlauf die Akte des »Sehens« und des wissenschaftlichen Beobachtens eingeübt und erfolgreich praktiziert werden können, demonstrierte Fleck am medizinhistorischen Beispiel des bakteriologischen Umgangs mit Streptokokken-Kolonien. Ausgangspunkt ist 1. »das zufällig sich bietende Material«, zu der 2. »die richtungsangebende psychologische Stimmung« tritt und sich mit 3. »kollektivpsychologisch (aus Fachgewohnheiten) motivierten Assoziationen« verbindet. Die 4. »unproduzierbare und retrospektiv nicht klar zu fassende ›erste‹ Beobachtung« liefert zunächst »ein Chaos«; ihr folgt 5. das »langsame und mühsame Herausarbeiten und Bewußtwerden ›was man eigentlich sieht‹« in Form einer »Erfahrungssammlung«, der sich als letzter Schritt 6. »das Herausgearbeitete und kurz im wissenschaftlichen Satz Zusammengefaßte« anschließt.29 27 Vgl. Karin Steffen: Wissen auf Wanderschaft. Zum Übersetzungsprozess des Werks von Ludwik Fleck. In: Dietlind Hüchtker u. Alfrun Kliems (Hg.): Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert. Wien [u. a.] 2011, S. 125–147. 28 Ludwik Fleck: Schauen, Sehen, Wissen [1947]. In: ders.: Denkstile und Tatsachen, S. 410. Dazu Michael Hagner : Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme. Zur historischen Epistemologie von Ludwik Fleck und Michael Polanyi. In: Lena Bader, Martin Gaier u. Falk Wolf (Hg.): Vergleichendes Sehen in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. München 2010, S. 575–595. 29 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und vom Denkkollektiv [1935]. Hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. Frankfurt a. M. 1980, S. 117. Fleck betont nachdrücklich und dezidiert gegen den Wiener Kreis, die Resultate dieser Observationen seien »künstliche Gebilde«, die zur ursprünglichen Absicht wie zum Inhalt der »ersten« Beobachtung nur in genetischer Beziehung stehen: »Folglich sind praktisch überhaupt keine Protokollsätze aufstellbar, die sich auf unmittelbare Beobachtungen beziehen würden und aus denen durch logisches Schließen die Ergebnisse folgten. Dergleichen ist nur während nachträglicher Legitimierung eines Wissens

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Zwei von Fleck hervorgehobene Aspekte verdienen in diesem Zusammenhang besondere Beachtung. Wichtig für die Vermittlung von Beobachtungspraktiken ist einerseits der allmählich erfolgende Übergang von einem anfänglichen »unklaren Schauen« zu einem Wahrnehmen konkreter Formen: Wie Fleck nachdrücklich unterstreicht, erfordert das »unmittelbare Gestaltsehen« eine langwierige Einübung in Muster und Verfahren und also ein »Erfahrensein in dem bestimmten Denkgebiete«; erst in Prozessen der wissenschaftlichen Sozialisation und mit zahlreichen eigenen Übungen erwirbt man das Vermögen, »Sinn« und »Gestalt« und also die »Einheit« von Phänomenen unmittelbar wahrzunehmen.30 – Entscheidend ist andererseits der aktive Einfluss von Wissensgebern und also von Instanzen epistemischen Transfers, die noch den ausgebildeten Forscher in seinen Observationen lenken und leiten: Die erste stilverworrene Beobachtung gleicht einem Gefühlschaos: Staunen, Suchen nach Ähnlichkeiten, Probieren, Zurückziehen; Hoffnung und Enttäuschung. Gefühl, Wille und Verstand arbeiten als untrennbare Einheit. Der Forscher tastet: alles weicht zurück, nirgends ein fester Halt. Alles wird als artifizielle, willensmäßige eigene Wirkung empfunden: jede Formulierung zerfließt bei der nächsten Probe. Er sucht den Widerstand, den Denkzwang, dem gegenüber er sich passiv fühlen könnte. Aus Erinnerung und Erziehung melden sich Helfer : im Momente der wissenschaftlichen Zeugung personifiziert der Forscher die Gesamtheit seiner körperlichen und geistigen Ahnen, aller Freunde und Feinde. Sie fördern und hemmen. Die Arbeit des Forschers heißt: im verwickelten Gemenge, im Chaos, dem er gegenübersteht, das, was seinem Willen gehorcht, von dem, was sich von selbst ergibt und sich dem Willen widersetzt, zu unterscheiden. Dies ist der feste Boden, den er, oder eigentlich das Denkkollektiv sucht, und immer wieder sucht. Dies sind die passiven Kopplungen […].31

Mit anderen Worten: Erst die Wirkungen sozialer Instanzen ermöglichen ein gerichtetes Beobachten, indem sie mit spezifizierten ›Vorgaben‹ ziellose Bewegungen und verworrene Wahrnehmungen kanalisieren und terminologisch fixieren. Diese Vorgaben erfolgen in erster Linie als Beobachtungsimperative, etwa in der Form: »Sieh diese Textstelle genauer an!« oder »Achte auf besondere Merkmale der Texteigenschaft x in ihrer Relation zu einer anderen Texteigenschaft y!« Ohne hier genauer auf Genese und Geltung dieser Beobachtungsimperative eingehen zu können, sollte deutlich werden, dass damit Formbildungsprozesse initiiert werden. Ergebnis der komplexen und später noch detaillierter darzumöglich, nicht aber während der eigentlichen Erkenntnisarbeit. In der Sprache der ersten Beobachtungen sind die Ergebnisse ebenso wenig aussagbar wie umgekehrt, die ersten Beobachtungen in der Sprache der Ergebnisse« (ebd., S. 118). 30 Ebd., S. 121. 31 Ebd. – Fleck unterscheidet zwischen aktiven und passiven Kopplungen: Aktive Kopplungen bezeichnen die kontingenten, wahlabhängigen Voraussetzungen im Erkenntnisprozess, passive Kopplungen die zwangsläufig erscheinenden Schritte und Ergebnisse.

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stellenden Instruktionen ist die (im günstigen Fall wiederholbare) Fähigkeit, selbständig Formen separieren und Gestalten beobachten zu können. Dabei – und auch darauf verweist schon Fleck – »verliert man zugleich die Fähigkeit, der Gestalt Widersprechendes zu sehen.«32 Mit anderen Worten: Der sozial vermittelte Erwerb von Beobachtungskompetenzen führt zu einer Ausbildung von Observationsdispositiven, die etwas ›sehen‹ lassen, was anderen Beobachtern möglicherweise verborgen bleibt – andererseits führt genau diese Disponierung zum ›Übersehen‹ und also zur ›Blindheit‹ gegenüber Phänomenen, für deren Wahrnehmung keine konditionierten Kapazitäten bereitstehen. Aufgegriffen und fortgeführt werden diese Überlegungen durch Thomas S. Kuhn.33 Obwohl er von vollkommen anderen Voraussetzungen ausgeht und mit anderen Problemen beschäftigt ist als der Sprach- und Wissenschaftsphilosoph Willard Van Orman Quine, radikalisiert Kuhn in gewisser Hinsicht dessen Einsicht, dass es keine theoriefreie Beobachtung geben könne (DuhemQuine-These) zu der Aussage, dass kein vollständig rationalisierbarer theoriebzw. paradigmenübergreifender Disput über ›Beobachtungsdaten‹ möglich sei.34 Die Leistung eines die »Normalwissenschaft« leitenden »Paradigmas« bestehe nämlich nicht nur darin, zu bestimmen, welche Beobachtungen gemacht werden oder wie sie zu interpretieren seien; ›paradigmatische‹ Vorstellungen und Klassifikationsschemata machten die Beobachtung und vor allem Beobachtungspraktiken überhaupt erst möglich und binden sie an Gruppen von Wissenschaftlern.35 Denn Kuhn geht – wie schon Fleck – von der fundamentalen Annahme aus, dass wissenschaftliche Gemeinschaften und nicht Individuen als 32 Ebd., S. 121. 33 Das Verhältnis Kuhns zu Fleck ist sowohl einflussgeschichtlich als auch hinsichtlich konzeptioneller Ähnlichkeiten keineswegs einfach zu beurteilen. Kuhn bezieht sich im Vorwort zur Structure of Scientific Revolution beiläufig auf Fleck, bestreitet jedoch im Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe von Flecks Hauptwerk einen weitergehenden Einfluss: »But I am not sure that I took anything much more concrete from Fleck’s work, though I obviously may and undoubtedly should have. […] The lines in the margin of my copy of the book suggest that I responded primarily to what had already been very much on my mind […].« (Thomas S. Kuhn: Foreword. In: Thaddeus J. Trenn u. Robert K. Merton [Hg.]: Ludwik Fleck. Genesis and Development of a Scientific Fact. Chicago 1979, S. VII–XI, hier S. IX). – Vgl. weitergehend Babette Babich: From Fleck’s Denkstil to Kuhn’s Paradigm. Conceptual Schemes and Incommensurability. In: International Studies in the Philosophy of Science 17 (2003), H. 1, S. 75–92; dies.: Paradigms and Thoughtstyles. Incommensurability and its Cold War Discontents from Kuhn’s Harvard to Fleck’s Unsung Lvov. In: Social Epistemology 17 (2003), S. 97–107. 34 Kuhn selbst hat versucht, seine Inkommensurabilitätsthese durch nicht immer glückliche Bezüge auf Quine zu erläutern. – Vgl. dazu Kathrin Hönig: »Im Spiegel der Bedeutung«. Eine Studie über die Begründbarkeit des Relativismus. Würzburg 2006 (Epistemata; Reihe Philosophie Bd. 406), S. 59, 62f. u. 91f. 35 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1967 [1962], Kap. III u. X.

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Subjekte der Wissenschaft in Erscheinung treten. Während er die die »Normalwissenschaft« leitenden Paradigmen zunächst durch sogenannte wissenschaftliche Revolutionen getrennt sieht, geht er später zu der These über, dass auch zeitgleich existierende Gruppen von Wissenschaftlern unterschiedlichen Paradigmen (die aus wissenschaftlichen Revolutionen hervorgegangen sind) angehören können.36 Dabei ist Kuhn davon überzeugt, dass wissenschaftliche Gemeinschaften durch kognitive Werte konstituiert werden, die in ihnen soziale Geltung haben: »Wenn wir wissen, was die Wissenschaftler schätzen, dürfen wir auch hoffen, daß wir verstehen können, welche Probleme sie behandeln und wie sie unter den besonderen Umständen eines Konfliktes wählen wu¨ rden.«37 Eben deshalb ist es für historische Untersuchungen unerlässlich, Institutionen und Wertesysteme zu analysieren, in denen wissenschaftliche Praktiken weitergegeben und erhärtet werden. In diesem Zusammenhang liefert Kuhn zunächst aufschlussreiche Erläuterungen zu den Arten und Formen des Wissens: »Die Bücher und die Lehrer, die uns diese Art Kenntnisse zur Verfügung stellen, bieten konkrete Beispiele zusammen mit einer Menge von theoretischen Verallgemeinerungen. Wissen besteht sowohl aus den konkreten Beispielen wie auch aus den theoretischen Verallgemeinerungen.«38 Dieses Wissen muss jedoch nicht zwingend mit empirischen Beobachtungen zusammenpassen. Im Gegenteil: Es gibt kein methodologisches Kriterium, »das voraussetzt, daß ein Wissenschaftler im voraus über jedes denkbare Beispiel sagen kann, ob es in seine Theorie hineinpaßt oder ob es seine Theorie falsifiziert. Die expliziten und impliziten Kriterien, die ihm zur Verfügung stehen, beantworten eine solche Frage nur in Bezug auf jene Fälle, die eindeutig in seine Theorie hineinpassen oder die ebenso eindeutig vom Gesichtspunkt seiner Theorie aus irrelevant sind. Nur solche Fälle erwartet er, und auf solche war seine Theorie von Anfang an gemünzt.«39 – Die eigentliche Tätigkeit des Wissenschaftlers beginnt für Kuhn angesichts der Konfrontation vorhandener Erklärungen mit individuellen Ereignissen: »Begegnet er einem unerwarteten Fall, so muß er weiterforschen, um seine Theorie auch auf einem Gebiet weiterzuentwickeln, das problematisch ist. Er mag dann die frühere Theorie einer anderen zuliebe verwerfen, und er mag

36 Vgl. Thomas S. Kuhn [1993]: Afterwords. In: ders.: The Road since Structure. Philosophical Essays, 1970–1993, with an Autobiographical Interview. Hg. v. James Conant u. John Haugeland. Chicago 2000, S. 224–252, hier S. 238. 37 Thomas S. Kuhn: Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit? In: Imre Lakatos u. Allan Musgrave (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig 1974, S. 1–23, hier S. 21f. 38 Ebd., S. 19. 39 Ebd., S. 19f.

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dafür auch gute Gründe haben. Aber keine rein logischen Kriterien können jene Konklusion diktieren, die er ziehen muß.«40 Dieses Fehlen von »rein logischen Kriterien« macht die sozialen Dimensionen des Erkennens so bedeutsam – sowohl auf der Ebene des Beobachtens als auch auf der Ebene des theoretischen Verallgemeinerns. Der Zusammenhang der Gruppe wirkt auf den in ihr sozialisierten Wissenschaftler insbesondere bei der Wahl konkurrierender Theorien: Für einen Wissenschaftler ist die Lösung eines begrifflichen oder eines instrumentellen Rätsels das Hauptziel. Sein Erfolg bei dieser Anstrengung wird durch die Anerkennung der Mitglieder seiner professionellen Gruppe belohnt, und nur die Anerkennung dieser Gruppe kommt für ihn in Frage. […] Diese Wertschätzungen, die die Normalwissenschaft diktieren, sind auch dann bedeutend, wenn eine Wahl zwischen den verschiedenen Theorien getroffen werden soll. Jemand, der als Rätsellöser trainiert ist, wird so viele frühere Rätsellösungen seiner Gruppe wie möglich beibehalten wollen. Außerdem wünscht er auch die Anzahl von solchen Rätseln zu maximieren, die nach seinem Vorschlag gelöst werden können. Aber selbst diese Wertschätzungen geraten manchmal in Konflikt miteinander, und das Problem der Wahl wird dadurch noch schwerer. Eben in diesem Zusammenhang mag die Untersuchung dessen sehr bedeutsam sein, was ein Wissenschaftler geneigt sein wird aufzugeben. Einfachheit, Genauigkeit (Präzision) und Übereinstimmung mit Theorien, die in anderen Fächern benützt werden, sind bedeutende Werte für die Wissenschaftler, aber sie diktieren nicht alle die Wahl, und sie kommen auch nicht alle auf dieselbe Weise zur Geltung. Und da dies so ist, wird auch die Einstimmigkeit der Gruppe einen enormen Wert darstellen.41

Um die Ausführungen zusammenzufassen: Primärer Ort der Weitergabe von Beobachtungswissen ist die soziale Gruppe, in der ›Novizen‹ in Theorie(n) und Praktiken von Observationen eingeführt werden. Diese zeitintensiven Vorgänge umfassen die Einübung in ein ›gerichtetes‹ Sehen und also das Treffen von Unterscheidungen ebenso wie die terminologisch adäquate Benennung und Einordnung in theoretische Fragestellungen – wobei die Regeln und Werte des sozialisierenden Kollektivs eine kaum zu überschätzende Rolle spielen. Während die Beobachtungspraktiken in den Naturwissenschaften und deren Weitergabe bereits intensiver erforscht wurden,42 liegen für die Geistes- und Sozialwissenschaften erst wenige Untersuchungen vor.43 Dabei zeigt sich, dass auch hier soziale Kopplungen ausschlaggebende Bedeutung besitzen. Ob beim Erlernen von Techniken der teilnehmenden Beobachtung in der ethnologischen 40 Ebd. 41 Ebd., S. 22. 42 Vgl. dazu die wichtigen Beiträge im Sammelband von Lorraine Daston u. Elizabeth Lunbeck (Hg.): Histories of Scientific Observation. Chicago 2011. 43 Siehe u. a. Rüdiger Inhetveen u. Rudolf Kötter (Hg.): Betrachten – Beobachten – Beschreiben. Beschreibungen in Kultur- und Naturwissenschaften. München 1996 (Erlanger Beiträge zur Wissenschaftsforschung).

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Feldforschung (die von ›sudden shock exercise‹ über ›narrative writing‹ und ›coding, classifying, indexing‹ bis hin zur Anfertigung eines ›participant-observation research report‹ reichen44) oder im philologischen Seminar : wechselseitige Observationen und Imitationen von wahrgenommenen Mustern in sozialen Zusammenhängen bilden den Motor für den Erwerb von Beobachtungstechniken. Nur knapp ist auf die wesentlichen Konditionen des Beobachtens im philologischen Seminar hinzuweisen, die von einem Kenner der Universitätsgeschichte wie William Clark sogar zum Ursprung moderner Forschung erklärt wurden.45 Das Seminar – das nicht mit dem heutigen Lehrveranstaltungsformat zu verwechseln ist, sondern eine eigenständige akademische Verwaltungseinheit mit fakultätsunabhängigen Haushaltsmitteln und geregelten Prozeduren der Aufnahme und Tätigkeit darstellt – entsteht eigentlich in privaten Kontexten;46 und es avanciert zu der universitären Institution, in der »bei intensiver Interaktion Fähigkeiten, Fertigkeiten und Methoden des eigenen Arbeitens ausgebildet und wissenschaftliche Normen, vor allem aber ein philologischer Takt gleichsam habituell internalisiert« werden.47 Welche Beobachtungspraktiken in den philologischen Seminaren und also in kooperativer Praxis des gemeinsamen Lernens vermittelt und eingeübt wurden, lässt sich nur eingeschränkt sagen – was vor allem mit der Schwierigkeit zusammenhängt, Praktiken allein anhand der Artefakte zu rekonstruieren, die 44 So demonstriert in Harold G. Levine, Ronald Gallimore, Thomas S. Weisner u. Jim L. Turner : Teaching Participant-Observation Research Methods. A Skills-Building Approach. In: Anthropology & Education Quarterly 11 (1980), H. 1, S. 38–54. 45 Vgl. William Clark: Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago 2006, S. 212: »a modern notion of research in fact emerged in German doctoral dissertations for subjects in arts and sciences, and most especially, in doctoral dissertations written by students who had been members of the seminars«. 46 Im deutschsprachigen Raum war es wohl der pietistische Theologe August Hermann Francke, der um 1700 das erste Seminar (für Theologen bzw. Lehrer) gründete und seinen Mitgliedern ›Freitische‹ zur Verfügung stellte. Als Begründer der Hallischen Waisenhäuser und der mit ihnen verbundenen Schulen kannte er das Problem, geeignete Lehrer und Erzieherpersönlichkeiten zu finden und auszubilden (zumal unter seinem Einfluss 1717 König Friedrich Wilhelm I. die allgemeine Schulpflicht in Preußen einführen und zahlreiche Schulen einrichten lassen sollte). Die 1691/94 unter Philipp Jakob Speners Einfluß gegründete Friedrichs-Universität Halle – an der neben August Hermann Francke auch andere Pioniere des Pietismus wie Joachim Justus Breithaupt, Paul Anton und Joachim Lange lehrten – war nicht ohne Grund 1729 Pflichtstudienort für alle preußischen Theologen. Mit den 1698/1702 zunächst als ›Annexum‹ der Universität gegründeten Franckeschen Stiftungen, die unter anderem eine Waisenhaus-Armenschule, ein Pädagogium zur Adelserziehung, einen Verlag sowie pietistische Medizinalanstalten umfassten, gewannen die Teilnehmer von Franckes ›Pflanzstätte‹ entsprechende Betätigungsfelder. 47 So Lutz Danneberg: Altphilologie, Theologie und die Genealogie der Literaturwissenschaft. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. III: Institutionen und Praxisfelder. Stuttgart u. Weimar 2007, S. 4–24, hier S. 19f.

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diese hervorgebracht haben. Die Untersuchungen von William Clark, die sich vor allem auf Christian Gottlob Heynes philologisches Seminar in Göttingen (ab 1763) und Friedrich August Wolfs philologisches Seminar in Halle (ab 1787) konzentrieren, dokumentieren auf jeden Fall veränderte Konditionen in der Weitergabe von Wissen, die mit der Nahkommunikation zwischen Professoren und fortgeschrittenen Studenten und einer dadurch ermöglichten wie geforderten aktiven Partizipation entstehen: Die aufgrund ihrer Leistungen ausgewählten Seminarteilnehmer erwerben durch kontinuierliche Übung im Interpretieren, Disputieren, Unterrichten eigenständige Fähigkeiten und Fertigkeiten; Studierende und Lehrende entwickeln ein innovationsorientiertes Wissensideal, das auf die Produktion neuer Erkenntnisse und Einsichten und also auf verstetigte Forschung ausgerichtet ist; wechselseitige Kritik der Seminaristen und Hinweise der Lehrenden tragen zur Ausbildung einer Diskursgemeinschaft bei, die differenzierende und disziplinierende Funktionen übernimmt – für die einzelnen Teilnehmer wie für die universitäre Wissensorganisation.48 Kurz: Im epistemischen Raum ›Seminar‹ mit Nahkommunikation und aktiver Partizipation entwickeln Studierende und Lehrende ein innovationsorientiertes Wissensideal, das sich auf die Produktion eigener Einsichten und neuer Erkenntnisse richtet. Mittel dafür bleiben textgebundene Observationen und fortgesetzte kritische Prüfungen, die sich sowohl auf die Gegenstände und Problemstellungen, als auch auf vorliegende Forschungen konzentrieren. Ebenso wichtig sind Techniken der wissenschaftlichen Aufmerksamkeitssteigerung, die zur Verfeinerung von Beobachtungen und zur Präzisierung von Anschlusskognitionen beitragen. Befördert werden diese Techniken von Beobachtungsimperativen, die philologische Lehrer vermitteln. Diesen ist im Folgenden exemplarisch nachzugehen.

III.

Zur Ausbildung kollektiver und kooperativer Beobachter

Wissenschaftliches Beobachten wird durch Instruktionen vermittelt und in sozialen Zusammenhängen eingeübt, die wiederholte Anwendbarkeit und methodische Transparenz sichern sollen. Wenn zu den grundlegenden Beobachtungsverfahren in den Philologien das Lesen gehört, lassen sich aus den Veränderungen der philologischen Lektüre weitreichende Einsichten in die

48 Zu seinen mit der Seminargründung verbundenen Absichten vgl. Friedrich August Wolf an Karl Abraham von Zedlitz vom 27. Januar 1787, abgedruckt in Siegfried Reiter : Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen. Bd. 1: Frühzeit. Hallische Meisterjahre. Stuttgart 1935, S. 53.

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Genese und den Transfer von Observationsordnungen gewinnen – insbesondere wenn diese Umstellungen in expliziter Weise formuliert werden. Ein Beispiel für diese Veränderungen in der observatorischen Praxis bilden jene Innovationen des Lesens, die im 18. Jahrhundert stattfinden und die zusammenhängende Organisation von Regel- und Anwendungswissen in veränderten Textumgangsformen verankern. Es ist der zunächst in Leipzig wirkende Philologe Johann Matthias Gesner (der später in Göttingen das erste philologische Seminar ins Leben rufen wird), der in seinem Vorwort zu einer 1732 veröffentlichten Schulausgabe des römischen Historikers Livius zwei Techniken der Lektüre unterscheidet: ein statarisches Lesen (lectio stataria) und ein kursorisches Lesen (lectio cursoria).49 Ein statarisches Lesen vollzieht sich langsam und häufig unterbrochen, weil der Text detailliert analysiert wird – mit der Folge, dass sein Gesamtzusammenhang nur schwer zu erfassen ist. Das kursorische Lesen funktioniert dagegen rasch, weil es nicht auf Einzelheiten, sondern den Gesamtzusammenhang ankommt. Zwar scheinen diese Formen des Lesens nur unterschiedliche rezeptive Praktiken zu sein. Doch das kursorische Lesen führt – so jedenfalls demonstriert es Gesner – zu einem fundamentalen Wandel der Wissensorganisation und der ihr korrespondierenden epistemischen Praktiken. Diese Lektüretechnik formiert Textumgangsweisen, deren innovative Qualitäten erst sichtbar werden, wenn man sich die Voraussetzungen und Zielstellungen des bis weit in die Frühe Neuzeit praktizierten Lesens als einer fundamentalen Textbeobachtungsform vergegenwärtigt: Die im Schulhumanismus des 17. Jahrhunderts verwurzelte lectio stataria zielt auf sprachlich-rhetorische Erkenntnisse und segmentiert die Lektüre in immer kleinere ›Portionen‹: Sinnvolle sprachliche Konstruktionen werden durch Unterbrechungen der Lektüre zerstört, wenn jedes Einzelwort zu übersetzen und grammatikalisch zu bestimmen ist; Textverlaufsformen und ganze Bücher werden nach festgelegten Routinen in immer kleinere Teile zerlegt und behandelt. Weil grammatische und lexikalische Gehalte im Zentrum stehen, bleiben semantische Zusammenhänge unzugänglich. Die Konsequenzen sind nicht verwunderlich und werden von Gesner – der 1730 bis 1734 als Rektor der Thomasschule in der Buchstadt Leipzig wirkt und 1738 das Seminar in Göttingen begründet – klar benannt: Während die (jungen) Leute die modernen Bücher mit den Abenteuern von Robinson und Gulliver verschlingen, weichen sie vor antiken Autoren zurück; die Werke von Homer und Vergil, von Plautus und Ovid bleiben fremd, weil sie nicht zusammenhängend wahrgenommen werden. 49 Johann Matthias Gesner : T. Livii Historiarum lib. qui supersunt, ex ed. et cum notis Joannis Clerici. Cum praef. Jo. Mattiae Gesneri. Leipzig 1732. – Der Autor selbst organisierte einen Neudruck dieses Vorworts unter dem Titel: In T. Livium Praefatio. In: Opuscula Minora varii argumenti. Bd. VIII. Vratislava 1745, S. 289–307.

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Dagegen richtet sich die kursorische Lektüre, die an neuer, d. h. moderner Literatur geschult ist. Dieses Lesen soll aber kein oberflächliches Überfliegen und kein hedonistisches Vergnügen sein, das sich dem Sog des Textes hingibt und auf Distanz verzichtet. Kursorische Lektüre realisiert sich vielmehr als Lesen eines Textes, der nicht eher aus der Hand gelegt werden soll, als bis das Buch ganz durchgelesen ist. Dabei sollen sowohl die Gesamtbedeutung(en) des Textes als auch die Bedeutungen der Einzelworte wie die der Wortverbindungen beobachtet werden – sodass neben semantischen Zusammenhängen formale und stilistische Eigenheiten nicht aus dem Blick geraten. Die wahrgenommenen Figuren der Rede werden vermerkt, ohne jedoch den Lesefluss zu bremsen. Auch bei ›dunklen Stellen‹ oder ungebräuchlichen Worten wird nicht Halt gemacht und der Schwung des Lesens gehemmt, sondern die schwierige Stelle wird markiert, um sie später zu behandeln. Die besonderen Leistungen einer gemeinschaftlich vermittelten kursorischen Lektüre für qualitative Beobachtungen sind noch einmal zu unterstreichen: Sie verschiebt die rezeptive Aufmerksamkeit von Einzelphänomenen zum Gesamtzusammenhang, und sie eröffnet Freiräume für Reflexionen, die sich jenseits grammatisch-rhetorischer Ordnungsverfahren ausbilden können. Voraussetzung dafür sind freilich bereits gewonnene Kenntnisse. Gesner selbst betont, dass eine ertragreiche kursorische Lektüre eigentlich erst bei fortgeschrittener Vertrautheit mit der literarischen Überlieferung möglich ist: So, wie wir Freunde und Vertraute nicht nur an der Sprache, sondern auch am Gesicht, der Körperhaltung und am Gang, schließlich sogar am Klang der Stimme erkennen könnten, müssten gute Leser nicht nur verstehen, was die Texte besagen, sondern auch darüber entscheiden, ob ein Buch oder ein Ausdruck tatsächlich von demjenigen Autoren stammt, dem es zugeschrieben wird. Es ist wohl kein Zufall, dass der Philologe Friedrich August Wolf, der im September 1787 in Halle sein philologisches Seminar begründen und mit den Prolegomena ad Homerum von 1795 die moderne Forschung zur antiken Epik initiieren wird, als junger Gelehrter einen klassischen Text zum Zweck kursorischen Lesens vorbereitet: Seine erste Buchpublikation ist eine Bearbeitung von Platons Symposion, die aus mehreren Gründen bemerkenswert bleibt. Sie umfasst neben einem Vorwort mit Erläuterungen zum kursorischen Lesen eine Einleitung mit der Darstellung von Textgeschichte und Gattungszugehörigkeit sowie eine ausführliche Zusammenfassung des dargebotenen Werkes, das mit einer Vielzahl erklärender Fußnoten erschlossen wird. Während Gesner seine Livius-Ausgabe gänzlich in lateinischer Sprache angeboten hatte, legte Wolf seine Platon-Edition – bis auf den griechischen Werktext – auf Deutsch vor. Grundkenntnisse der Originalsprache sind zwar nötig; sie werden durch Inhaltsübersicht und Erklärungen in deutscher Sprache aber auf didaktische Weise ausgebaut.

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Von entscheidender Bedeutung einer solchen kursorischen Lektüre bleibt der Umstand, dass sich veränderte Perspektiven auf das Verhältnis von Textganzem und Textteilen und damit neue Beobachtungshorizonte ergeben. Wolf, der seiner Platon-Ausgabe eine Zusammenfassung des Textgeschehens voranstellt, erläutert die Orientierungsleistungen eines Lesens, das spezifische Einstellungen erfordert wie hervorbringt: Dann wird ein Grundriss für den Leser ungefähr das, was für einen Reisenden eine Charte ist, er giebt ihm gleichsam einen Faden in die Hand, der ihn durch die labyrinthischen Gänge des philosophischen Drama glücklich hindurchleitet. So übersieht man alsdann ohne viel Mühe, in welcher genauen Beziehung auf, und Verbindung mit der Hauptidee Alles das steht, was man gewöhnlich Digression oder Episode nennt, und entdeckt, dass auch die kleinsten Theile an eben dem Faden befestigt sind, der das ganze Gewebe zusammenhält.«50

Die Konsequenzen dieser Instruktionen für den beobachtenden Umgang mit Text(welt)en sind nicht zu unterschätzen. Gilt nämlich Wissen nun als System von zusammenhängenden Kenntnissen und Verfahren, deren Elemente aufeinander aufbauen und aufeinander Bezug nehmen, sind Beobachtungen des Textganzen wie auch seiner Teile gleichermaßen unerlässliche Grundlage und immer wieder neu einzusetzendes Mittel. In diesem Zusammenhang gewinnen Instruktionen eine kaum zu überschätzende Qualität: Sie vermitteln zum einen die Bedingung der Möglichkeit der Einsichten in Zusammenhänge (etwa mithilfe eines »Fadens«, der den lernenden Leser »durch die labyrinthischen Gänge des philosophischen Drama glücklich hindurchleitet«). Die so vermittelten Einsichten prägen zum anderen observatorische Einstellungen aus, die es überhaupt möglich machen, zu entdecken, »in welcher genauen Beziehung auf, und Verbindung mit der Hauptidee Alles das steht, was man gewöhnlich Digression oder Episode nennt«. Um es knapp und stark verkürzt auszudrücken: Philologisches Beobachten katalysiert einen epistemischen Beziehungssinn, der noch kleinste Details eines Werkes oder einer Konstellation als möglicherweise bedeutungstragendes und/oder bedeutungsunterscheidendes Element wahrnimmt und auswertet. Entscheidend bleibt, dass diese Praktiken des philologischen Beobachtens in sozialen Zusammenhängen vermittelt werden – und dass sehr viel darauf ankommt, zu lernen, dieses Beobachtungswissen in veränderlichen Konstellationen zu gebrauchen. Auch dazu kann hier nur kurz auf Textumgangsformen im philologischen Seminar hingewiesen werden. Die Orte, an denen der neue, auf Beobachtungen basierende epistemische Beziehungssinn in sozialer Kooperation vermittelt und 50 Friedrich August Wolf: Platonos Symposion – Platons Gastmahl. Ein Dialog, hin und wieder verbessert, und mit kritischen und erklärenden Anmerkungen. Leipzig 1782, S. xxiii.

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eingeübt wird, entstehen nicht zufällig in der Zeit, in der sich ein prospektiv offener Wissensbegriff formiert. Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts hatte das Laboratorium als methodisch bewirtschaftetes ›Haus des Experiments‹ (allmählich und in widerspruchsreichen Prozessen) alchemistische Versuche abgelöst.51 Seit Beginn des 18. Jahrhunderts entstehen Seminarien als abgeschlossene Einheiten der Universitäten, in denen gemeinschaftliche Arbeit von Lehrenden und Studierenden gelebt wird. Den Unterschied zur bisher dominierenden Wissensvermittlung in Form der Vorlesung hatte der bereits mehrfach erwähnte Friedrich August Wolf in seinen Plänen für die Hallenser ›Pflanzstätte‹ deutlich benannt: Das Seminar soll der Ort sein, wo die 9 Mitglieder […] unter des Directors Aufsicht nach der Reihe gewählte pensa erklären, und über Materien, die in Philologie einschlagen, disputieren. Bei der ersten Uebung müßen sie sich ganz ein Auditorium von jungen Leuten vorstellen, für welches sie lehren, und ebenso sehr auf die Art, die Sachen zu entwickeln und andern beizubringen, als auf die Sachen selbst sehen. Auf diese Weise erlangt eine Anzahl auserlesener Studierenden eine dringende Aufforderung zu eigenen gelehrten Arbeiten, und Versuchen eigner Kräfte.52

Das Seminar basiert also auf einer epistemischen und sozialen Gemeinschaft (von Lehrenden und Studierenden), in deren Rahmen professionelle Fähigkeiten und Fertigkeiten durch fortgesetzte Übung entwickelt werden. Die Pointe dieser neuartigen ›Experimentalanordnung‹ des Wissenserwerbs besteht in der Erzeugung einer Kommunikationssituation, in der die Erzeugung wie die Vermittlung von Wissen an ein diskursives Probehandeln gebunden ist: Die Angehörigen des Seminars bilden virtuell einen zu unterrichtenden Schülerkreis; sie simulieren gleichsam ein Zielpublikum, vor dem sie als künftige Lehrer ihre Kenntnisse ebenso zu demonstrieren haben wie die Wege zu ihrer didaktischen Vermittlung. Damit entwickeln sie pädagogische und epistemische Kompetenzen – und zugleich ein Ethos, das nach Wolf grundlegend ist: Weil gute Lehrer stets auch forschend tätig sein sollen, müssen die Impulse seminaristischen

51 Zum Labor als Wissensraum siehe u. a. Steven Shapin: The House of Experiment in Seventeenth-Century England. In: Isis 79 (1988), H. 3, S. 373–404, allgemeiner zu ›Schauplätzen‹ des Wissens vgl. Adi Ophir u. Steven Shapin: The Place of Knowledge. A Methodological Survey. In: Science in Context 4 (1991), H. 1, S. 3–21; zu Laboratorien als »räumliche Dispositive, in denen die Produktion, Ordnung und Übermittlung des Wissens geschieht«, siehe Christoph Meinel: Chemische Laboratorien. Funktion und Disposition. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 287–302, das Zitat S. 287; Maurice Crosland: Early Laboratories c. 1600 – c. 1800 and the Location of Experimental Science. In: Annals of Science 62 (2005), H. 2, S. 233–253. 52 Friedrich August Wolf an Karl Abraham von Zedlitz, 27. Januar 1787, abgedruckt in Reiter : Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen. Bd. 1, S. 53.

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Wissenstransfers »den Geist der eignen angestrengten Forschung wecken und unterhalten.53 Im intensiven Arbeiten unter permanenter Beobachtung und fortgesetzter Kommunikation vollzieht sich mehr als nur die (imitierende) Übung handwerklicher Schrittfolgen. Vor allem werden Normen und Werte internalisiert, die wissenschaftliches Arbeiten nicht mehr auf Bestätigung vorausgehender Autoritäten festlegen, sondern innovative Bemühungen stimulieren. Dabei kommt dem instruierenden Hochschullehrer zentrale Bedeutung zu: Das Streben, Wolf ’s Urteil zu rechtfertigen und sich in seiner Meinung zu behaupten, nöthigte jeden zu angestrengtem Fleiß und führte wohl auch auf eigene Forschungen, zu denen Wolf in Privatgesprächen mit den beliebteren Seminaristen sowohl Anleitung als Ermunterung gab.54

Auf diese Weise realisiert sich jene starke Bindung zwischen ›Lehrer‹ und ›Schülern‹, die als Bedingung für die Entstehung und Formierung wissenschaftlicher Schulen angesehen werden kann. Innerhalb des Seminars führen fortgesetzte Übung und wechselseitige Kritik zu erweiterten Reflexionen – mit nachhaltigen Konsequenzen. Denn nun etabliert sich eine Kommunikationssituation, in welcher der Hochschullehrer und die aufgenommenen Seminaristen als Repräsentanten einer scientific community agieren und die Angehörigen sich redend und schreibend an diese »miniaturisierte disziplinäre Diskursgemeinschaft«55 wenden. Wie diese kommunikativen Interaktionen entstehen und in Wirkung treten, dokumentieren die im Nachlass von Friedrich August Wolf aufbewahrten Seminararbeiten.56 Sie zeigen nicht nur, dass der Hochschullehrer und Seminarleiter Wolf die vorgelegten schriftlichen Ausarbeitungen seiner Studierenden genau beobachtet und intensiv korrigiert hat: Neben sachlichen Mängeln und sprachlichen Defiziten kritisiert er vor allem fehlende wissenschaftliche Methoden. Sie zeigen ebenfalls, dass die studierenden Teilnehmer in der seminaristischen Praxis untereinander mit wechselseitigen Kommentaren in einen Dialog treten können, der weit über das Seminar hinausgehende Ergebnisse zeitigt.57 53 Ebd. – Dass alle »Schulmänner« im »Felde der Gelehrsamkeit« wohnen sollten, betont Friedrich August Wolf später nachdrücklich in seiner »Vorrede zur Encyclopädie«. In: Reinhard Markner u. Giuseppe Veltri (Hg.): Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie. Stuttgart 1999 (Palingenesia Bd. 67), S. 48–75, hier S. 58. 54 So prägnant Otto Schulz: Erinnerungen an Friedrich August Wolf. Berlin 1836, S. 21. 55 Thorsten Pohl: Die studentische Hausarbeit. Rekonstruktion ihrer ideen- und institutionsgeschichtlichen Entstehung. Heidelberg 2009 (Wissenschafts-Kommunikation Bd. 4), S. 193. 56 Siehe dazu Carlos Spoerhase u. Mark-Georg Dehrmann: Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), H. 1, S. 105–117, hier S. 113. 57 Ein Beispiel für solche fruchtbaren Interaktionen bieten Wolfs Seminaristen Ferdinand

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Auf diese Weise entsteht eine Diskursgemeinschaft, die differenzierende und disziplinierende Funktionen übernimmt – für den Einzelnen wie für das universitäre Fach. Von entscheidender Bedeutung bleibt freilich die Vermittlung wirksamer Innovationsimpulse, die forschende Bemühungen der beteiligten Akteure auslösen und längerfristig antreiben. Die noch weiter zu klärende Frage bleibt, wie in kooperativen Prozeduren wissenschaftlicher Nahkommunikation und intensiver Interaktion die Generierung neuen Wissens angestoßen und befördert wird. – In diesem Zusammenhang ist eine wesentliche Unterscheidung zwischen Labor und Seminar nachzutragen: Während in naturwissenschaftlichexperimentellen Disziplinen die Erzeugung neuen Wissens spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in mehr oder wenig ausgeprägter Weise mit der Entstehung und Entwicklung des Laboratoriums und seiner Technik verbunden bleibt, ist die philologische Wissensproduktion nicht grundsätzlich an die Konstellation des Seminars gebunden. Auch wenn aus der Seminararbeit (wie bei der Tätigkeit im Labor) neue Erkenntnisse in Gestalt von Publikationen erwachsen können, handelt es sich wohl eher um ein Voraussetzungsverhältnis: Seminaristische Praktiken des Wissenstransfers – also Übungen im Interpretieren, Disputieren, Unterrichten, Schreiben etc. – zielen auf die Ausbildung von Fähigkeiten, die später in Publikationen mit neuen epistemischen Geltungsansprüchen münden (können). Diese Differenz ergibt sich nach dem Dafürhalten prominenter Beobachter nicht zuletzt aus unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten auf ihre Gegenstände: Für [das] Verständnis geistiger Erscheinungen giebt es keine exacte Methode; es giebt keine Möglichkeit unwidersprechliche Beweise zu führen; es hilft keine Statistik, es hilft keine Deduction a priori; es hilft kein Experiment. Der Philolog hat kein Mikroskop und kein Scalpell; er kann nicht anatomisiren, er kann nur analysiren.58 Delbrück und Karl Morgenstern, die sich intensiv mit Platons Dialogen befassten. Als sie im Herbst 1790 schriftliche Arbeiten über Platons Werk Menon anfertigen, führen die konträren Auslegungen zu einer Kontroverse. Morgenstern formuliert seine Kritik in Erinnerungen gegen Hn. Delbrücks Aufsatz, auf den Delbrück (mit einem verlorenen Text) repliziert; schließlich liefert Morgenstern Meine dritte Erklärung über eine Stelle in Platons Menon gegen Hn. Delbrücks Aufsatz über meine Erinnerungen wider seine lateinische Dissertation. Die vorgebrachten philologisch-methodischen und sprachlich-rhetorischen Argumente nutzten nicht nur dem seminaristischen Opponenten: 1794 veröffentlicht Morgenstern den ersten modernen Kommentar zu Platons Politeia unter dem Titel De Platonis republica commentationes tres. 58 Wilhelm Scherer : Goethe-Philologie. In: ders.: Aufsätze über Goethe. Berlin 1886, S. 1–27, hier S. 4. – Ähnlich auch August Boeckh: Ueber die Pflichten der Männer der Wissenschaft [1855]. In: ders.: Gesammelte kleine Schriften. Bd. 2. Leipzig 1859, S. 115–130, hier S. 125, wo eine besondere Eigenschaft der textinterpretierenden Disziplinen darin gesehen wird, »dass […] dieser Theil der Erfahrungswissenschaften des mächtigen Hebels entbehrt, welchen die Naturforschung an dem Instrumentalen und dem Versuche hat, der von verständiger Absicht geleitet, bisweilen auch von Zufall begünstigt, die Natur zwingt ihr verbor-

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Kompensiert werden diese Schwierigkeiten (zumindest partiell) durch die Implementierung eines Wettbewerbskonzepts, das – im größeren Rahmen der wissenschaftlichen Gemeinschaft durch Aufstiegs- und Karrieremuster, Preisgelder und Stipendien gestärkt – idealiter zur Ausbildung eines Bildungstriebs führt, der den Willen zum Wissen habitualisiert. Katalysierend wirken dabei Prozesse der epistemischen Differenzierung, wie sie im Seminar mit der Vervielfältigung von Beobachterperspektiven vorliegen: Indem sich kompetitiv eingestellte Teilnehmer mit ähnlichen oder gleichen Gegenstandsbereichen und Problemstellungen beschäftigen, formieren sich Wahrnehmungsweisen, die weitergehend problematisiert und diskutiert, verworfen oder modifiziert werden können. Von entscheidender Bedeutung bleibt dabei stets die Funktion des Lehrers, der durch »Beispiel und Praxis« das vermittelt, »was als Verbindung persönlicher Kunst und kritischer Wissenschaft schwer lehrbar ist: Methode.«59

genes Inneres zu zeigen. Nichts kann der geschichtlichen Forschung einen Ersatz für Teleskop und Mikroskop und dem übrigen Apparat der physischen Wissenschaften geben.« 59 So Hans I. Bach: Jacob Bernays. Tübingen 1974 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts Bd. 30), S. 42: »Ritschl lehrte durch Beispiel und Praxis, was als Verbindung persönlicher Kunst und kritischer Wissenschaft schwer lehrbar ist: Methode. Das war das große Geheimwort des Seminars. Die Voraussetzungen dazu, angeborener Scharfsinn, weite Übersicht, Belesenheit und unermüdlichen Fleiß, mußte man mitbringen; Ritschl selbst las den ganzen Homer noch einmal durch, um mit Sicherheit sagen zu können, daß ein bestimmtes Wort nur einmal vorkomme. Dann aber galt es, den Rhythmus des Satzes, das Versmaß, den Sprachgebrauch, die individuelle Ausdrucksweise des Dichters und die geläufigen Fehler der Abschreiber zu berücksichtigen, aus vielen Einzelbeobachtungen Gesetze der Sprache zu finden, bis die Sicherheit des Handwerks sich mit plötzlicher Intuition zu der Erkenntnis verband: so und nicht anders muß es geheißen haben. Das Seminar gab keine fertigen Resultate mit; es war eine Werkstatt, eine Art Laboratorium lebendiger Forschung.«

Pascale Rabault-Feuerhahn

Orientalistenkongresse. Mündliche Formen der philologischen Zusammenarbeit – Funktionen, Probleme und historische Entwicklung*

I.

Einleitung

Stereotypen über das akademische Leben können hartnäckig sein – umso mehr, wenn es sich um Selbstdarstellungen handelt. Als Philologen, die sich der Entzifferung vergessener Schriften, der Erlernung exotischer Sprachen und dem Studium geographisch, ja meistens auch zeitlich entfernter Kulturen widmeten, haben sich die Orientalisten gerne und sehr früh, wenigstens seit Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Orientalistik ihren Aufschwung nahm, zu selbstvergessenen, in der Einsamkeit ihrer Studierstube über herausfordernde Handschriften gebeugten Gelehrten stilisiert. Solche (Selbst-)Charakterisierungen, die sowohl im brieflichen Austausch mit Fachkollegen als auch in Eröffnungsund Festreden, oder auch in Nekrologen zu finden sind, haben durchaus Wahres an sich. Sie verrieten und nährten zugleich ein tief verankertes Arbeitsethos, dem die Definition von Philologie, bzw. orientalischer1 Philologie, als inniges und persönliches Verhältnis zwischen dem einzelnen Forscher und seinem Textmaterial zugrunde lag. Hartnäckigkeit und Selbstvergessenheit waren in der Tat unbedingt erforderlich, um die intellektuelle und physische Herausforderung zu ertragen, die mit der Abschrift, Kritik und Deutung unzähliger handschriftlicher Seiten in manchmal kaum bekannten Schriften und Sprachen einherging.2 * Meinen herzlichen Dank an Sabine Mangold für ihr freundliches Korrekturlesen dieses Beitrags. 1 Termini wie ›Orient‹, ›Orientalistik‹, ›Orientalisten‹, ›orientalische Philologie‹ usw. werden heutzutage – teilweise infolge von Edward Saids Kritik am westlichen orientalism kaum mehr gebraucht. Ich benutze sie im vorliegenden Artikel trotzdem, weil sie lange Zeit, und wenigstens in der Periode, mit der ich mich hier befasse, in Gebrauch waren: nicht zuletzt im Internationalen Kongress der Orientalisten, der Gegenstand dieser Studie ist und erst 1973 in CongrHs international des sciences humaines en Asie et en Afrique du Nord umbenannt wurde. 2 Autobiographische Briefzeugnisse finden sich in Pascale Rabault-Feuerhahn: Voyages d’8tudes et migrations savantes. Paris, lieu fondateur et provisoire de l’indianisme allemand. In: Revue germanique internationale 7 (2008), S. 139–156.

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Dabei wäre es nicht sehr realistisch, sich die orientalistische Arbeit als rein individuelle Leistung vorzustellen. Nicht nur waren die Orientalisten auf die Fortschritte und Entdeckungen ihrer Vorgänger und ihrer zeitgenössischen Kollegen angewiesen, sondern es war ihnen vollkommen bewusst, dass das zu bearbeitende Material so umfangreich war, dass die Vereinigung aller zur Verfügung stehenden Kräfte eine unumstößliche Bedingung des Erfolgs war. Im Jahre 1823 rief August Wilhelm Schlegel (1767–1845) in seinen Überlegungen zum Studium der asiatischen Sprachen aus: »Was für ein weites Feld öffnet sich der geistigen Arbeit Europas! Die Ernte ist großzügig, wird es nicht an Erntearbeitern fehlen?«3 Am anderen Ende des 19. Jahrhunderts gebrauchte Ernest Renan dieselbe biblische Metapher (Lk 10,2), um die Gründung der italienischen morgenländischen Gesellschaft zu begrüßen: »Die Ernte ist groß, der Arbeiter aber sind wenige. Vereinen wir wenigstens unsere Bemühungen.«4 Die Förderung der internationalen Kooperation erschien als ein unentbehrliches Mittel, um die ständig anwachsende Masse an Material und Kenntnissen zu bewältigen. Eigentlich haben die orientalischen Studien von Anbeginn einen transnationalen Charakter aufgewiesen, indem sie sich im internationalen Briefverkehr und durch die Übersetzung und transnationale Zirkulation von Wissen und Werken entwickelten. Die Tätigkeit der Philologen stand also am Schnittpunkt von Zusammenarbeit und individueller Leistung. Diese Spannung wurde noch durch die im Zeitalter der Nationalismen und des Kolonialismus nicht zu übersehende Rivalität zwischen den Wissenschaftlern der verschiedenen europäischen Staaten gesteigert. Der internationale Kongress der Orientalisten, der 1873 in Paris gegründet wurde, war die erste Veranstaltung seiner Art im Bereich der Orientalistik und eine der ersten im wissenschaftlichen Bereich überhaupt. Die ersten internationalen wissenschaftlichen Kongresse wurden nämlich erst in den 1850er und 1860er Jahren gegründet.5 Erste Versuche, neben privaten Forschungsreisen oder brieflichem Austausch auch die institutionellen Formen der internationalen Kooperation zu fördern, hatte es schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegeben. Die seit langem existierenden Akademien boten durch die Wahl von ausländischen Mitgliedern und Korrespondenten gute Mittel dazu. Es 3 August Wilhelm von Schlegel: R8flexions sur l’8tude des langues asiatiques, adress8es / Sir James Mackintosh, suivies d’une Lettre / M. Horace Hayman Wilson. Bonn 1832, S. 97 (Übers. d. Verf.). 4 Ernest Renan an Angelo De Gubernatis, Paris, 12. Dezember 1886. In: Petre Ciureanu (Hg.): Renan, Taine et BrunetiHre / quelques amis italiens. Correspondance. Florenz 1956, S. 48 (Übers. d. Verf.). 5 Siehe Revue germanique internationale 12 (2010) [Themenheft: La fabrique internationale de la science. Les congrHs internationaux de 1865 / 1945. Hg. v. Wolf Feuerhahn u. Pascale Rabault-Feuerhahn].

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wurden außerdem gelehrte Gesellschaften gegründet, die ebenfalls ein System von Mitgliedern und Korrespondenten, sowie Publikationsorgane hervorbrachten: die Soci8t8 asiatique de Paris 1822, die Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 1823, die American Oriental Society 1842, die Deutsche Morgenländische Gesellschaft 1845. Letztere zum Beispiel organisierte jedes Jahr eine Tagung der deutschen Orientalisten, die im Übrigen bis heute fortlebt. Knüpfte der internationale Kongress der Orientalisten an solche Unternehmungen an, so unterschied er sich jedoch in mehrfacher Hinsicht davon: durch die Größe – der Kongress der Orientalisten zählte mehrere hundert Mitglieder (bzw. Teilnehmer und Zuhörer) aus verschiedenen Ländern –, durch die Zielsetzung, die wenigstens am Anfang auch praktische Zwecke beinhaltete, und nicht zuletzt durch die regelmäßige Abhaltung von internationalen wissenschaftlichen Zusammenkünften. Abgesehen von einigen grundlegenden Arbeiten6 wurden die wissenschaftlichen Kongresse lange Zeit kaum als mögliche Gegenstände der geschichtlichen Untersuchung betrachtet; vielmehr wurden die Kongressakten als Primärquellen in ihren jeweiligen Disziplinen gebraucht. In den letzten Jahren lässt sich jedoch ein wachsendes Interesse für die Geschichte dieser internationalen Veranstaltungen feststellen, die ja im ausgehenden 19. Jahrhundert und wenigstens bis in die Nachkriegszeit hinein eine große Bedeutung hatten und die zudem eine spezifische, erkundenswerte Form der wissenschaftlichen Tätigkeit verkörpern. Der internationale Kongress der Orientalisten brachte die meisten Akteure des Feldes zusammen; er befand sich an der Schnittstelle von akademischer Welt und breitem Publikum und vereinigte schließlich in sich einen streng geregelten, institutionalisierten Ablauf auf der einen Seite sowie informelle persönliche Beziehungen auf der anderen Seite. Diese verschiedenen Charakteristiken machen ihn zum wertvollen Untersuchungsgegenstand für die internationale Zusammenarbeit innerhalb der Orientalistik. Die bis dahin vorherrschenden schriftlichen Formen der wissenschaftlichen Kommunikation, die das Ethos der Orientalistik seit langem verkörperten, wurden nun durch den mündlichen Austausch ergänzt. Man darf die Tragweite dieser Entwicklung nicht unterschätzen. Sie brachte wichtige wissenschaftssoziologische, praktische und in6 Siehe u. a. Anne Rasmussen: L’internationale scientifique 1890–1914. Paris 1995; Mil Neuf Cent. Revue d’histoire intellectuelle 7 (1989) [Themenheft: Les congrHs. Lieux de l’8change intellectuel 1850–1914]; Relations internationales 62 (1990) [Themenheft: Les congrHs scientifiques internationaux]; Eckardt Fuchs: The Politics of the Republic of Learning. International Scientific Congresses in Europe, the Pacific Rim, and Latin America. In: ders. u. Benedikt Stuchtey (Hg.): Across Cultural Borders. Historiography in Global Perspective. Lanham [u. a.] 2002, S. 205–244. Ein beträchtlicher Teil des Beitrags von E. Fuchs ist den Kongressen der Orientalisten gewidmet.

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tellektuelle Folgen mit sich. Sie veränderte nämlich nicht nur die persönlichen Beziehungen zwischen Wissenschaftlern grundsätzlich, sondern sie hatte auch wichtige Konsequenzen für die Organisation der wissenschaftlichen Tätigkeit auf internationaler Ebene. In ihrem Buch Parler comme un livre weist FranÅoise Waquet darauf hin, dass Sprachlichkeit seit der Erfindung des Buchdrucks meist als überholte Form der wissenschaftlichen Praxis betrachtet wird. Folglich werde Sprachkultur überwiegend in Zusammenhang mit Volkskultur gebracht. Dabei werde die Rolle von Sprachlichkeit in der Wissenschaft völlig unterschätzt, obwohl die Sprachformen der wissenschaftlichen Kommunikation und Zusammenarbeit immer noch sehr lebendig seien und ausgearbeiteten Normen und Regeln entsprächen.7 Waren die Organisation und der Ablauf des internationalen Kongresses der Orientalisten von der Spannung zwischen individueller Arbeit, Kooperation und Wettbewerb stark geprägt, so hatte andererseits der Kongress als spezifische Form der wissenschaftlichen Tätigkeit konkrete Rückwirkungen auf das Selbstverständnis und die alltägliche Arbeit der Orientalisten.

II.

Ursprung und Zwecke des internationalen Kongresses der Orientalisten

Die Welle von Kongressgründungen, die in den 1850er Jahren anfing und in den folgenden Jahrzehnten drastisch zunahm,8 kann als Widerspiegelung und Folge historischer Veränderungen gedeutet werden, die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts stattgefunden haben: die Verbesserung und Beschleunigung der Verkehrsmittel, die Vervielfältigung der Informationsmedien, die Gründung verschiedener gelehrter Gesellschaften auf nationaler Ebene und nicht zuletzt der rasante Zug der Spezialisierung in den Orientwissenschaften. Initiator des Kongresses war der Professor für Japanologie an der Ecole des langues orientales vivantes (seit 1868) und Präsident der Pariser Gesellschaft für Ethnographie (Soci8t8 d’ethnographie de Paris) L8on de Rosny (1837–1914).9 7 FranÅoise Waquet: Parler comme un livre. L’oralit8 et le savoir (XVIe–XXe siHcle). Paris 2003, S. 7–10. 8 Im Jahre 1881 in Berlin spricht der Präsident des Kongresses August Dillmann von den »mit einem Zauberschlag emporgeschossenen internationalen Congressen« (Verhandlungen des fünften Orientalisten-Congresses gehalten zu Berlin im September 1881. Tl. 1: Bericht über die Verhandlungen. Berlin 1881, S. 31). 9 Die Soci8t8 d’ethnographie de Paris war in eine orientalische und eine amerikanische Sektion gegliedert. Dies ist der Grund, warum der erste Kongress der Amerikanisten in Nancy in Berufung auf und nach dem Muster des Orientalistenkongresses veranstaltet wurde (CongrHs international des orientalistes. Bd. III. Paris 1876, S. CXVII). Zu L8on de Rosny als Gründer des Orientalisten-Kongresses siehe Ren8 Sieffert: L8on de Rosny et le CongrHs des orienta-

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Sein eigentliches Vorhaben war es, durch die Einberufung einer internationalen Versammlung den Austausch von Kenntnissen über die japanische Kultur und Sprache und deren praktische Anwendungen zu begünstigen. Japanologisches Wissen war nämlich seit dem Anfang der Meiji Zeit in den späten 1860er Jahren stark angestiegen. Die Hauptaufgabe des Kongresses sollte darin bestehen, ein einheitliches System für die Umschreibung der unterschiedlichen Arten von japanischen Texten zu begründen.10 Das ursprüngliche Konzept wurde aber bald in zwei Richtungen erweitert. Wie aus der gewählten Benennung ›CongrHs international des orientalistes‹ hervorgeht, wurden weitere Bereiche der Orientalistik einbezogen. In der Tat bestand der Kongress schließlich aus zwei Sektionen: »8tudes japonaises« (Japanisch, Chinesisch, Koreanisch, Ainu und Lutschuan) und weiteren »8tudes orientales« (Ägyptologie, Assyriologie, Semitistik, indische, iranische und drawidische Studien, neuhellenistische und armenische Studien, tatarische, indo-chinesische und ozeanische Studien).11 Unter den fünf Unterzeichnern der provisorischen Statuten vom März 1873 waren L8on de Rosny und Jules Oppert (1825–1905, Professor für assyrische Philologie und Archäologie am CollHge de France seit 1869) die einzigen Akademiker. Die drei weiteren waren der Architekt und Maler Jean-Charles Geslin (1814–1885), der Pionierhauptmann Jules Le Vallois sowie der Buchhändler Charles Leclerc (1843–1889). Außerdem war kein akademischer Titel gefordert, um Mitglied zu werden. Im Mai 1873 kündigte das Organisationskomitee mit Stolz eine unerwartet hohe Zahl von Einschreibungen an, die nicht nur »Japanologen und beruflichen Orientalisten«, sondern auch »vielen Gelehrten aus allen Zweigen der philosophischen, positiven, historischen, politischen, industriellen und kommerziellen Wissenschaften« zu verdanken seien. Die Liste der für die japanische Sektion vorgeschlagenen Untersuchungsthemen wurde sogar auf politisch-diplomatische und wirtschaftliche Fragen erweitert, um den Erwartungen des Publikums besser zu entsprechen.12 Die Zahl der Einschreibungen stieg in den folgenden Jahren ständig. Nach Paris 1873 waren London 1874, Sankt Petersburg 1876, Florenz 1878, Berlin 1881, Leiden 1883, Wien 1886 und Stockholm-Christiania (Oslo) 1889 die gastgebenden Städte. Gab es in Berlin 290 Kongressmitglieder, so waren es ihrer 454 in Leiden, 424 in Wien und

listes. In: Le Japon et la France, image d’une d8couverte. Hg. v. Centre d’e´tudes japonaises de l’Institut national des langues et civilisations orientales durch Rene´ Sieffert. Paris 1974, S. 82–93; B8n8dicte Fabre-Müller, Pierre Leboulleux u. Philippe Rothstein: L8on de Rosny (1837–1914) de l’Orient / l’Am8rique. Lille 2014, S. 115–120. 10 Vgl. CongrHs international des orientalistes. PremiHre Session. Paris – 1873. Bd. 3. Paris 1876, S. III u. S. XIX. 11 Ebd., S. XIf. 12 Ebd., S. XVIII.

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713 in Stockholm und Christiania, um nur die in den 1880er Jahren stattfindenden Kongresse zu berücksichtigen.13 Schon bei der ersten Sitzung in Paris erweckten die Zusammensetzung des Organisationsausschusses und die breite nicht akademische Komponente des Kongresses das Misstrauen der Orientalisten vom Fach. Die Soci8t8 asiatique de Paris (der de Rosny angehörte) weigerte sich sogar, daran teilzunehmen. Als einzigartige internationale Versammlung erwies sich der Kongress jedoch als unumgänglich, zumal die Orientalisten im Ausland die Einladung mit Begeisterung annahmen. Im Laufe der Jahre nahmen immer mehr Gelehrte daran teil, was den wissenschaftlichen Standard erhöhte und eine Sogwirkung auslöste. Dies verschärfte allerdings die Spannung zwischen denjenigen, die den Kongress allen am Orient Interessierten öffnen wollten, und den Befürwortern einer Beschränkung auf die Vertreter der eigentlichen Orientalistik. Die Schwierigkeit, sich über den Zweck und die Form des Kongresses zu verständigen, mündete sogar in eine Spaltung: so wurden 1892 zwei konkurrierende »neunte« Orientalistenkongresse in London abgehalten.14 Die Lösung des Konfliktes lief über die Beseitigung der Amateure und der Vertreter nicht akademischer Interessen. Angesichts dieser Entwicklung, die den Sieg der Orientalistik bedeutete, milderte selbst Ernest Renan, der den ersten Kongress boykottiert hatte, seine Meinung.15 Die Kongresse stellten im 19. Jahrhundert in den Städten, wo sie organisiert wurden, ein wahres Ereignis dar,16 und sie wurden von der lokalen Presse aus13 Der Pariser Kongress von 1873 hatte 1.064 Mitglieder. Man muss aber zwischen der offiziellen Zahl der Kongressmitglieder (d. h. der Eingeschriebenen) und der Zahl der tatsächlich Anwesenden (meistens nur die Hälfte der Eingeschriebenen) unterscheiden. 14 Vgl. Eckardt Fuchs: The Politics of the Republic of Learning; Pascale Rabault-Feuerhahn: La science la robe au vent. Le congrHs international des orientalistes et la disciplinarisation des 8tudes orientales. In: Dossiers HEL N85. La disciplinarisation des savoirs linguistiques. Histoire et 8pist8mologie, http://htl.linguist.univ-paris-diderot.fr/_media/num5/articles/ra bault_2012.pdf, S. 6ff. [23. 05. 2016]. 15 »Nous [sc. Renan und Jules Mohl] infl8ch%mes un peu la rigueur de notre jugement dans les ann8es suivantes, quand nous v%mes ces congrHs prendre / l’8tranger un s8rieux qu’ils n’avaient pas dans leur premiHre institution.« (Renan an Max Müller, 5. Mai 1892. In: Ernest Renan: Œuvres complHtes. Bd. X. Hg. v. Henriette Psichari. Paris 1961, Nr. 831). 16 »Vom Moment der Landung an bis zum letzten Augenblick wurden sie [sc. die Congressmitglieder] überall mit einer Theilnahme begrüsst und empfangen, die geradezu jeder Beschreibung spottet. Ehrenpforten, Musik, Böllerschüsse, dichtgedrängte Volksmassen, durch die mit Mühe nur eine Gasse zum Passiren frei blieb, Hurrahrufe, Tücherschwenken, Blumenwerfen – nun, es hatte etwas geradezu Rührendes, Hinreissendes. […] das Volk betrachtete es als eine Ehre, dass der Congress nach Schweden, nach Norwegen kam, dass auf den Ruf seines Königs so viele Fremde sich aufgemacht und die weite Reise nicht gescheut hatten. Es war ungefähr so, wie wenn bei uns in einer Provinzialstadt der Gustav AdolfVerein eine Versammlung abhält.« (Albrecht Weber : Quousque tandem? Der achte internationale Orientalisten-Congress. Und der neunte? Berlin 1891, S. 6).

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führlich kommentiert. Insofern fungierte der internationale Kongress der Orientalisten auch als Forum, wo letztere ihr Fach, ihre Arbeit und ihre Ergebnisse bekannt zu machen suchten. Es galt, die Kräfte aller Subdisziplinen der Orientalistik zu vereinigen, um die Wichtigkeit dieses Forschungs- und Arbeitsfeldes bei dem breiten Publikum und den politischen Entscheidern geltend zu machen. Der Kongress hatte somit eine performative Dimension: durch das Zusammenbringen von Vertretern der verschiedenen Zweige der Orientalistik wurde die orientalistische Gemeinschaft eigentlich konstituiert. Die identitätsstiftende und repräsentative Funktion des Kongresses erklärt, warum die Frage nach den institutionellen, geographischen, sprachlichen und fachlichen Umrissen dieses angenommenen Ganzen – der Orientwissenschaften – so entscheidend war. Um den Kongress zu veranstalten, mussten sich die Organisatoren zunächst darüber einig werden, welche Sprachen, welche Weltregionen und welche Fachrichtungen legitim dazu gehörten, welche dagegen ausgeschlossen werden sollten. Durch den Kongress wurden Definitionsprobleme des Orients und der Orientwissenschaften explizit gemacht, die sich schon immer gestellt hatten, aber nie direkt formuliert und ausgearbeitet worden waren. Die Antwort auf diese Probleme war eigentlich zugleich exklusiv (indem bestimmte Gebiete ausgegrenzt wurden) und inklusiv. Indem sie sich vereinigten, wollten die Vertreter der verschiedenen Branchen der Orientwissenschaften nämlich nicht nur für ihre jeweiligen Fächer werben, sondern auch die Einheit des orientalistischen Wissens restaurieren, das sich im Zuge der Spezialisierung in Subdisziplinen zu zersetzen drohte. Über die Jahrzehnte hindurch, bis in das 20. Jahrhundert hinein, wurde (unter anderem in den Eröffnungsreden zu den verschiedenen Sitzungen des Kongresses) der Anspruch immer wieder erhoben, gegen die Aufsplitterung und die als übertrieben empfundene Aufteilung des Wissens zu kämpfen und somit den Überblick über den Orient als Ganzes zurückzugewinnen. Insofern sie sich mit Zivilisationen befassten, die bis dahin außerhalb des Blickfeldes des klassischen Humanismus gestanden hatten, schienen die Orientwissenschaften im Stande zu sein, das Puzzle der Menschheit mit neuen Stücken zu vervollständigen, und neue Aufschlüsse über die Geschichte des menschlichen Geistes zu bringen. Diese Überzeugung bildet ein Leitmotiv der Sitzungen des Kongresses. In Brüssel im Jahre 1938 meinte zum Beispiel Jean Capart, belgischer Ägyptologe und Vorsitzender des Kongresses: Die Orientalistik ist eine Erweiterung unseres Erfahrungsfeldes auf die Hälfte des Erdballs […]. Die Frage nach dem wie und warum der Orientalistik wird ihre Lösung in der folgenden Antwort finden: dank immer breiterer Erfahrungsfelder die Unveränderlichkeit der menschlichen Regeln der Zivilisation überprüfen.17 17 Discours de Jean Capart, pr8sident du CongrHs. In: Actes du XXe congrHs international des Orientalistes, Bruxelles 5–10 septembre 1938. Louvain 1938, S. 25 (Übers. d. Verf.).

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Ein solcher Anspruch gewann nach dem Zweiten Weltkrieg noch an Bedeutung. Raymond Schwab, der ihn zum Leitmotiv seines berühmten Buchs zur Geschichte der Orientrezeption in Europa La Renaissance orientale (1950) machte, stiftete schon zwei Jahre davor in seiner Eröffnungsrede zur 21. Sitzung des Kongresses in Paris im Jahre 1948 den Ausdruck »humanisme int8gral«, um das orientalistische Unternehmen zu charakterisieren. Die Orientalistik verkörperte somit die Hoffnung auf Weltoffenheit und internationale Verständigung, die die Wissenschaft zustande bringen sollte. Allerdings fand der Kongress nun in einem ganz anderen politischen und wissenschaftspolitischen Kontext als in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz statt. Der Schwerpunkt des akademischen Lebens lag nicht mehr in Westeuropa, sondern hatte sich in die USAverlagert; im Kontext des Kalten Krieges wurden auch die Orientwissenschaften von den USA und der UdSSR umkämpft; die Dekolonisierungswelle schritt ständig voran und betraf immer mehr Länder, die Gegenstand der orientalistischen Forschung waren. In diesem Kontext verbreitete sich das Modell der area studies, die sich zunächst in den USA entwickelt hatten, sehr schnell. Parallel zum Kongress der Orientalisten entstanden immer mehr Kongresse, die auf eine Weltregion fokussiert waren, wie der internationale Kongress der jungen Sinologen (Cambridge und London 1948), die Internationale Konferenz für äthiopische Studien (Rom 1959), der internationale Kongress der Afrikanisten (Accra 1962),18 der Internationale Kongress für semitische und hamitisch-semitische Sprachwissenschaft (Paris 1969), die Internationale Sanskritkonferenz (Delhi 1972), usw. Angesichts dieser Entwicklung bekam der Anspruch der Orientalisten, den humanistischen Horizont zu erweitern, eine neue Bedeutung. Indem sie sich darauf beriefen, versuchten sie nun, das herkömmliche holistische und philologische Konzept der Orientalistik gegen den neuen Zug der Aufsplitterung und das Aufkommen der Politik- und Sozialwissenschaften zu verteidigen.19 Auf jeden Fall zeigen diese Diskussionen, dass die Orientalisten sich im Rahmen des Kongresses immer wieder mit der Frage nach dem Zweck und der Relevanz ihrer Zusammenarbeit konfrontieren mussten.

18 Vgl. Pascale Rabault-Feuerhahn: L’africanisme est-il un orientalisme? Du congrHs international des orientalistes au congrHs international des africanistes. In: Hans-Jürgen Lüsebrink u. Michel Espagne (Hg.): Transferts de savoirs sur l’Afrique. Acteurs, institutions, m8dias en France et en Allemagne de l’8poque coloniale au postcolonialisme. Paris 2015, S. 227–251. 19 Vgl. Jean Filliozat: Projet de r8forme des congrHs internationaux des orientalistes. In: Le XXIXe CongrHs international des orientalistes. Paris – Juillet 1973. Paris 1975, S. 47–56.

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III.

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Wissenschaftliche Geselligkeitsformen

Da der Kongress alle Zweige der Orientwissenschaften zusammenbringen sollte, war die Zahl der Kongressmitglieder notwendig hoch. Das Programm musste also trotz des Anspruchs auf Einheit und interdisziplinären Dialog in Sektionen zerfallen. Diese variierten von einer Tagung auf die andere, nahmen aber meistens Einteilungen wieder auf, die an den europäischen und nordamerikanischen Universitäten schon galten, wie zum Beispiel Ägyptologie, Islamwissenschaft, semitische Studien, indogermanische Sprachen usw. Wie es heutzutage bei den meisten Kongressen noch der Fall ist, wechselten im Internationalen Kongress der Orientalisten Plenarsitzungen mit Sektionsarbeiten ab. Die Einberufung des Kongresses, seine materielle Verwirklichung und die Aufstellung des Programms machten ausführliche »Betriebsvorschriften« notwendig. Nach den endgültigen, im September 1873 von den Kongressteilnehmern angenommenen Statuten hieß es, Orientalisten-Kongresse sollten in Zukunft jährlich stattfinden und jeweils eine bestimmte Region des Orients zum Hauptthema haben.20 Der Ausdruck ›CongrHs des orientalistes‹ erhielt demnach eine doppelte Bedeutung. Einerseits meinte er eine permanente Organisation, die mit eigenen Statuten versehen war und somit zu einer Art Institution wurde. Andererseits bezeichnete er die einzelnen sukzessiven Orientalisten-Versammlungen (die sessions – Sitzungen, bzw. Tagungen, wie sie in den Pariser Statuten genannt wurden), die in Zukunft stattfinden würden. Die Dauerhaftigkeit und Kontinuität des Orientalisten-Kongresses, bzw. der Orientalisten-Kongresse, sollte durch ein Zentralkomitee (comit8 central d’organisation) gesichert werden, das am Ende jeder Tagung einberufen wurde und für die Veranstaltung der nächsten zuständig war.21 Dieses wählte Delegierte aus den verschiedenen auf der Tagung vertretenen Ländern, die die Informationen über die nächste Tagung verbreiteten, die Einschreibungen zentralisierten, usw. Die Zusammensetzung von Zentralkomitee und Delegierten hieß bezeichnenderweise comit8 de permanence (Permanenzkomitee). Ein zusätzlicher Kontinuitätsfaktor war die Tatsache, dass die von einer Tagung übriggebliebenen Gelder für die Organisation der folgenden gebraucht werden sollten (in Wirklichkeit war dies aber kaum der Fall). Jeder Kongress, der des Namens wert sein wollte, sollte großartig veranstaltet werden und neben dem Ablauf der wissenschaftlichen Sektionen feierliche 20 Der zeitliche Abstand zwischen den jeweiligen Sitzungen des Kongresses wurde schließlich verlängert und war in der Tat nicht ganz regelmäßig. 21 Bzw. der Präsident der zukünftigen Session wurde gewählt; er ernannte die Mitglieder des Zentralkomitees. Die Zusammensetzung des Büros des Zentralkomitees war provisorisch bis zur ersten Sitzung der neuen Tagung; danach wurden die Mitglieder des Büros von der internationalen Versammlung gewählt. (Art. 6 der endgültigen Pariser Statuten).

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Bankette, Musik- und Theateraufführungen, touristische Besichtigungen anbieten. Die Pracht der Festlichkeiten sollte der Bedeutung der wissenschaftlichen Tätigkeit angemessen sein und sie dem breiten Publikum auch zeigen. In der Zeitschrift The Academy gab ein Mitglied des Kongresses von 1889 folgende Beschreibung vom abschließenden Festmahl: Jedes Menü war von einem Band begleitet, der in orientalischem Stil gestaltet wurde und originelle Dichtungen über die verschiedenen Gerichte des Abendmahls auf Ägyptisch-Arabisch, Chinesisch, Äthiopisch, Sanskrit, Malay, Aramäisch, Hebräisch, Mandschu, Javanisch, Akkadisch, Türkisch, Koptisch, Hieroglyphen, Himyaritisch, Bischari, Japanisch und Jagatai enthielt, während der Champagner in klassischem Arabisch und der Wein auf einer babylonischen Tafel gelobt wurden, wobei der Dank in modernem Persisch von einem Dichter aus Isfahan verfasst worden war.22

Dieses Beispiel lässt den feierlichen und raffinierten Charakter der Festlichkeiten zum Vorschein kommen. Sie waren keine Nebenaspekte des Kongresses, sondern feste Bestandteile des Programms. Die angestrebte Vereinigung der verschiedenen Zweige der Orientalistik wurde in ihnen im Zeichen des Orientalismus verwirklicht. Bände die, wie der in diesem Zeitungsartikel erwähnte, im orientalisch-exotischen Stil verfasst waren und den Kongressmitgliedern geschenkt wurden, sollten in Letzteren das Andenken an den Kongress und das Gefühl der Zusammengehörigkeit nach dem Ende der Veranstaltung fortleben lassen. Die Festlichkeiten waren zudem eine Frage der nationalen Ehre für das gastgebende Land. Oft wurden die Kongresse gleichzeitig mit anderen am selben Ort stattfindenden Veranstaltungen von internationaler Bedeutung organisiert: gleichzeitig mit dem Pariser Kongress im Jahre 1873 gab es eine künstlerische Ausstellung im Palais de l’Industrie; der Kongress von 1883 in Leiden war um ein Jahr verschoben worden, damit er zur selben Zeit wie die Kolonialausstellung in Amsterdam stattfinden konnte. Letztes Beispiel weist im Übrigen darauf hin, dass die Zusammenkunft der Orientalisten im Rahmen des internationalen Kongresses nicht ohne politische Bedeutung war. Selbst wenn der Anteil der praktischen, politischen und wirtschaftlichen Themen im Laufe der Zeit sank, standen die Tagungen im Schutz der höchsten politischen Figuren (d. h. König, Präsident etc.) des gastgebenden Landes. Die Exkursionen, Aufführungen oder Ausstellungen, die in Verbindung mit dem Kongress organisiert wurden, sollten einerseits als geteilte Momente des Zusammenlebens das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Orientalisten stärken. Andererseits waren sie aber ein Mittel, alle Aspekte, durch welche das gastgebende Land sich mit dem Orient verbinden ließ, hervorzuheben. Der französische Sinologe Paul Demi8ville 22 Archibald Henry Sayce: The Oriental Congress in Scandinavia. In: The Academy, Nr. 907, 21. September 1889, S. 189ff., hier S. 189 (Übers. d. Verf.).

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(1894–1979) berichtete folgendermaßen über seine Erfahrungen auf der 25. Kongress-Sitzung in Moskau in 1960: War diese 25. Sitzung [des Kongresses] also nicht ganz frei von Spannungen, so wurden doch bei dieser Gelegenheit nützliche und wirksame Kontakte aufgenommen, mindestens in meiner eigenen Disziplin, wo ich sehen konnte, wie die französischen und sowjetischen Sinologen, und allgemeiner gesprochen alle, die lange Zeit vom eisernen Vorhang getrennt worden waren, Informationen und Meinungen mit offensichtlichem Spaß austauschten. […] Ausstellungen, Konzerte, Kinoaufführungen entspannten und belehrten uns zugleich. Es gab unter anderem an einem Abend im Theatersaal der Moskauer Universität eine unvergessliche Rezitation von mündlichen Epen, die von den russischen Ethnologen mit der Hilfe von etwa zehn professionellen Barden aus allen Regionen des sowjetischen Asiens rezitiert wurden. Von allen Seiten beglückwünschte man sich, sich kennenzulernen oder wieder kennenzulernen. Was kann man Besseres von einem internationalen Kongress erwarten?23

In diesem Auszug spielt Demi8ville auf Maos Entscheidung an, die Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion abzubrechen. Die chinesische Regierung hatte daher die Beteiligung der chinesischen Wissenschaftler am Kongress verboten; ihrerseits sagten die Russen die Internationale Tagung der jungen Sinologen ab, die unmittelbar vor dem Kongress stattfinden sollte. Anstatt die Abwesenheit der Chinesen auf dem Kongress weiter zu kommentieren, versucht Demi8ville die Tagung in ein positives Licht zu stellen, indem er seine hohe politische und symbolische Bedeutung als internationales Treffen jenseits des eisernen Vorhangs unterstreicht. Nach seinen Angaben waren (u. a. wegen der chinesischen Absage) zwar nicht alle 1500 registrierten Mitglieder anwesend, aber es wurden immerhin 766 Vorträge gehalten. Dem sowjetischen Organisationsausschuss lag daran, die Kongressgäste durch die ihnen erwiesene Gastfreundschaft positiv zu beeindrucken,24 sie durch das kulturelle Programm an den wesentlichen asiatischen Bestandteil der Sowjetunion zu erinnern (es wurde eine Exkursion nach Usbekistan organisiert), und sie schließlich auf die lange und wertvolle Tradition der russischen Orientalistik aufmerksam zu machen (Demi8ville hatte zum Beispiel die Gelegenheit, das Institut für Orientkunde in Leningrad zu besichtigen). Nationale Traditionen der Auseinandersetzung mit dem Orient wurden also an den verschiedenen Orten, wo der Kongress stattfand, rekonstruiert und mit Nachdruck betont. Dies diente oft der Rechtfertigung des orientalistischen Zweiges, der zum Hauptthema des Kongresses gewählt wurde. So waren die mit dem Russischen Reich zusammenhängenden Teile Asiens schon auf der dritten 23 Paul Demi8ville: Compte rendu du XXVe CongrHs des Orientalistes / Moscou. In: Compte rendu des s8ances de l’Acad8mie des Inscriptions et Belles-Lettres 104 (1960), H. 1, S. 292f. (Übers. d. Verf.). 24 Vgl. ebd., S. 292.

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Versammlung des Kongresses in Sankt Petersburg im Jahre 1876 in den Vordergrund gestellt worden, wie August Dillmann (1823–1894) nachträglich berichtete: […] neben den hochangesehenen Männern der Wissenschaft Russlands, neben den Lehrern seiner zahlreichen Bildungsanstalten, welche man in unserem Westen zu sehen nur selten das Vergnügen hat, wurden dort durch den Willen des Czaren die Vertreter der mannigfaltigsten Völker Asiens, die Ostiaken und Jakuten, die Georgier und Turkomanen, die Buräten und Japanesen mit ihren Kleidungen und Geräthen dem verwunderten Blick der Mitglieder dargeboten, und halfen, zusammen mit den Vorträgen seltenster Kenntnisse von Seiten seiner Gelehrten, einen überwältigenden Eindruck geben von der Menge des Forschungsmaterials und der Forschungsmittel, welche dieses ungeheure Reich in sich birgt, und einen Einblick eröffnen in ein von den Orientalisten des Westens noch wenig betretenes Arbeitsfeld.25

Im Laufe seines Textes gab Dillmann zu, dass eine solche direkte Verbindung mit dem Orient dem deutschen Volke fehle. Gleich darauf rechtfertigte er jedoch die Wahl Berlins als Kongressort für 1881, indem er auf die »Forschungslust, (den) Wissensdurst, (den) Erkenntnistrieb« hinwies, die die Deutschen seit dem 16. Jahrhundert angeregt hätten, sich der orientalischen Philologie und der allgemeinen Sprachwissenschaft zu widmen; als Beispiele zitierte er die Namen von Humboldt, Grimm oder auch Bopp. Der Kongress sollte aber nicht nur von der Tradition der deutschen Orientalistik und Sprachwissenschaft profitieren, sondern sie auch fördern: die Anwesenheit von Delegierten zahlreicher ausländischer Institutionen sollte die Regierung, den Adel und die »Geldaristokratie« auf den deutschen Rückstand im Bereich des praktischen Unterrichts der orientalischen Sprachen aufmerksam machen.26 Die Hinweise auf nationale Traditionen der Orientalistik zielten also auch darauf, eine kollektive Dynamik zu schaffen. Allerdings wurden nicht nur nationale Traditionen, sondern auch individuelle Leistungen auf dem Kongress begrüßt. Solche Auszeichnungen konnten verschiedene Formen annehmen. So wurde zum Beispiel in Florenz im Jahre 1878 der deutsche Indologe Theodor Benfey (1809–1881) für sein Lebenswerk geehrt; es wurde außerdem eine Preisaufgabe organisiert, die die beste Arbeit im Bereich der vedischen Studien belohnen sollte. Beide Unternehmungen setzten die Kooperation prominenter Orientalisten aus verschiedenen Ländern voraus, sei es um die nötigen Gelder zu sammeln, oder um die Jury des wissenschaftlichen Preises zu konstituieren.

25 Verhandlungen des fünften Orientalisten-Kongresses, S. 34. 26 Ebd., S. 37.

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IV.

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Der Kongress als Ort des interkulturellen Dialogs

In der eigentlichen Sektionsarbeit wie in den Nebenveranstaltungen spielte die Sprachlichkeit eine zentrale Rolle. Aufgrund der zahlreichen Teilnehmer mussten die Vorträge besonders kurz sein: auf den ersten Sitzungen durften sie zehn Minuten nicht überschreiten,27 und sie wurden nicht immer von Diskussionen gefolgt. Aus diesem Grunde wurden die Kongresse von vielen Philologen kritisiert, nach deren Meinung sie keine wissenschaftlichen Fortschritte mit sich bringen konnten. Manche meinten auch, dass die vielen Freizeitaktivitäten die Wissenschaftler zu sehr von der Arbeit ablenkten. So vermisste der deutsche Indologe Hermann Oldenberg (1854–1920) angesichts der vielen »glänzenden Feste« auf dem 8. Kongress in Stockholm und Christiana (1889) »de[n] stille[n] Verkehr des Forschers mit dem Mitforscher, jenes wechselseitige Geben und Empfangen, aus welchem die einsame Arbeit des Gelehrten neue Frische und neue Vertiefung schöpft.«28 Im Laufe der Jahre wurden die Referate länger und es wurde auch mehr Zeit für Diskussionen eingeräumt. Außerdem waren die meisten Kongressteilnehmer von der Fruchtbarkeit des direkten Kontakts mit ausländischen Kollegen überzeugt. Im Jahre 1881 in Berlin behauptete August Dillmann, die »eigentliche Bedeutung« der Kongresse würde »in dem Zusammenschluss der Männer verschiedenster Nationen zu einem gemeinsamen Zweck, in ihrem internationalen Charakter« bestehen, denn die Wissenschaft sei ja »international an sich«.29 Wie aber konnten Dialog und Kooperation in einem internationalen, durch Mehrsprachigkeit und Wettbewerb gekennzeichneten Kontext zu Stande kommen? Das Problem der internationalen Verständigung stand im Mittelpunkt des Kongresses, dessen ursprünglicher Zweck ja die Erfindung eines einheitlichen Transkriptionssystems der japanischen Schrift in Europa war.30 Ein solches System wurde auf dem ersten Pariser Kongress von 1873 wohl angenommen, aber es konnte sich in Wirklichkeit nie durchsetzen. Die Festsetzung von internationalen Transkriptionssystemen verschiedener orientalischer Sprachen blieb jedoch ein ständiges Anliegen des Kongresses. Was die sprachliche Kommunikation im Rahmen des Kongresses anbelangt, so waren auf der ersten Tagung in Paris alle Sprachen erlaubt. Nach Artikel 5 der provisorischen Statuten sollte die Versammlung entscheiden, ob ein Vortrag in 27 Vgl. CongrHs international des orientalistes. PremiHre Session. Paris – 1873. Bd. 3. Paris 1876, S. XV (RHglement des s8ances, article 2). 28 Hermann Oldenberg: Der achte internationale Orientalistenkongreß. In: Deutsche Rundschau 61 (1889), Nr. 11, S. 297–300, hier S. 300. 29 Verhandlungen des fünften Orientalisten-Kongresses, S. 31. 30 Vgl. CongrHs international des orientalistes. PremiHre Session. Paris – 1873. Bd. 3. Paris 1876, S. V.

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einer Fremdsprache gehalten werden durfte. In solchen Fällen wurde ein Sekretär ernannt, der die betroffene Sprache verstand und den entsprechenden Teil des Sitzungsprotokolls schreiben sollte.31 Dies konnte natürlich nicht alle Verständigungsprobleme lösen. Die endgültigen Statuten, die von der Generalversammlung am Ende des Pariser Kongresses angenommen wurden, ließen schließlich nur noch Französisch und die Sprache des gastgebenden Landes als Vortragssprachen zu (Art. 16). Allerdings war auch diese Bestimmung nicht wirklich haltbar, und die Situation entwickelte sich während der folgenden Tagungen des Kongresses weiter. So berichtete der indische Philologe Ramakrishna Gopal Bhandarkar (1837–1925) über den Kosmopolitismus und die Mehrsprachigkeit des Kongresses von 1886 in Wien: Am Abend gab es ein Treffen in einem der Hotels, damit die Kongressmitglieder einander kennenlernen konnten. Es gab eine große Teilnehmerzahl, ich wurde vielen Gelehrten vorgestellt und tauschte Visitenkarten mit vielen von ihnen aus. Es gab zwei Ägypter mit elfenbeinfarbener Haut und türkischen Kappen, einen Chinesen, den Sekretär der chinesischen Gesandtschaft in seiner Nationaltracht mit einem langen Zopf, einen europäisch angezogenen Japaner, einen indischen Muslim, der aus Aligarh gebürtig war und sich in Cambridge ausgebildet hatte und gleich gekleidet war, und ´. mich selbst mit meinem Turban und uparnem ˙ [Am folgenden Tag in der ›arischen Sektion‹] hielten die Engländer und ich Vorträge auf Englisch, die deutschen Gelehrten auf Deutsch, mit Ausnahme von Dr. Stein, dem Ungar, und von Dr. Hoernle, die Englisch sprachen. Nur einer der französischen Gelehrten hielt einen Vortrag, und er war auf Französisch; und der Italiener trug in der Sprache seiner Heimat vor. Nur diese vier Sprachen waren von dem Kongress anerkannt.32

Dies war auf den folgenden Tagungen noch der Fall. Als Angelo De Gubernatis (1840–1913) in Hamburg im Jahre 1902 die Akten der vorigen Tagung (Rom 1899) auf Französisch vorzustellen anfing, wurde er von der Versammlung mit der Bitte unterbrochen, auf Italienisch fortzufahren.33 Waren nicht alle Gelehrten im Stande, sich in den vier europäischen Hauptsprachen auszudrücken, so konnten sie sie in den meisten Fällen wenigstens verstehen. Dies war aber mit den orientalischen Sprachen, die in den Vorträgen behandelt wurden, viel weniger der Fall. Selbst wenn viele Orientwissenschaftler am Ende des 19. Jahrhunderts immer noch in mehreren orientalischen Sprachen ausgebildet wurden, so beherrschten sie sie nicht alle im gleichen Maße, und sie kannten sich auch 31 Vgl. ebd., S. XV. 32 Ramakrishna Gopal Bhandarkar : My Visit to the Vienna Congress. In: Journal of the Bombay Branch of the Royal Asiatic Society XVII (1889), S. 72–95, hier S. 79f. (Übers. d. Verf.). 33 Diese Episode wurde in den Kongressakten auf Französisch erzählt: »L’Assembl8e applaudit et s’8crie: A la tribune! A la tribune! Parli in italiano!« (Verhandlungen des XIII. Internationalen Orientalisten-Kongresses. Hamburg September 1902. Leiden 1904, S. 419).

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nicht in allen auf dem Kongress vertretenen Fachrichtungen aus. Das Journal de GenHve, das über die Tagung des Kongresses in Genf im Jahre 1894 täglich berichtete, fasste die aus der Zusammenführung so verschiedener Disziplinen für das breite Publikum sowie für die Wissenschaftler resultierende Herausforderung folgendermaßen zusammen: Wir werden die beiden Tage von Samstag und Heute absichtlich sehr kurz behandeln. Man muss nämlich zugeben, dass auf diesem Kongress ein Tag den anderen relativ gleicht – vielleicht nicht in den Augen der Fachmänner, deren Eifer unendlich und deren Geduld grenzenlos sind, aber doch in denen der einfachen Schaulustigen, die alle diese sehr spezialisierten Arbeiten gar nicht verstehen […] In der den semitischen Sprachen gewidmeten Sektion […] hat Herr Oppert einige Keilinschriften in armenischer Sprache gedeutet. Da er bereitwillig darauf hinwies, dass nur vier Personen in Europa die von ihm angesprochenen Fragen verstehen können, erscheint es uns sinnlos, darauf weiter einzugehen.34

Wollten die Organisatoren des Kongresses die verschiedenen Zweige der Orientalistik vereinigen und somit einen Überblick über die menschliche Kultur und Geschichte verschaffen, so stieß dieser Zweck auf objektive Hindernisse. Die Verständigungsprobleme waren nicht nur sprachlicher, sondern auch kultureller Natur, wobei beide Gründe sich oft verbanden. Bhandarkars Bericht über sein Treffen mit anderen ›orientalischen‹ Kongressmitgliedern könnte den Eindruck vermitteln, als seien diese zahlreich gewesen. Eigentlich war eher das Gegenteil der Fall. Dies lag zum einen daran, dass der Kongress bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit Ausnahme von Algier im Jahre 1905 stets in Europa und nie in einem ›orientalischen‹ Land stattfand.35 Zum anderen entsprach die Untervertretung der ›Orientalen‹ auf dem Kongress den tatsächlichen Machtverhältnissen innerhalb der akademischen Welt und dem nachhaltigen wissenschaftlichen Überlegenheitsglauben der okzidentalen Philologen gegenüber ihren morgenländischen Kollegen. Die indischen, japanischen oder türkischen Mitglieder mit ihren einheimischen Festtrachten und ihren Reden in ihren Muttersprachen stachen aus der Masse der Kongressteilnehmer besonders hervor und erweckten den falschen Eindruck, als seien sie besonders zahlreich. Obwohl sie nach seiner Berechnung nur 1/14 der Kongressmitglieder auf der Tagung von 1889 in Stockholm und Christiania darstellten, betonte der deutsche Indologe Albrecht Weber die 34 [Anon.]: Le congrHs international des orientalistes. In: Gazette de Lausanne et journal Suisse, Nr. 215, 11. September 1894 (Übers. d. Verf.). 35 Damals (1905) gehörte Algerien zu Frankreich. 1951 versammelte sich der Internationale Kongress der Orientalisten in Istanbul, dann vier Sitzungen später 1964 in Neu Delhi. Die zwei nächsten Tagungen fanden auch außerhalb Europas, allerdings in abendländischen Ländern statt (Ann Arbor 1967 und Canberra 1971).

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»überaus große Zahl geborener Orientalen«.36 Zwar musste er als Stubenphilologe zugeben, dass er sonst selten die Gelegenheit hatte, Muttersprachler sprechen zu hören. Andererseits aber gelang es ihm nicht, über klischeehafte Vorstellungen derjenigen orientalischen Sprachen, die nicht seine persönliche Spezialität waren, hinauszukommen. So erwähnte er den »interessanten«, ja »instruktiven« Charakter der »allen Orientalen gleichmäßig üblichen Vortragsweise, mit den nasalen, kläglichen, hier und da fast an das Miauen einer Katze erinnernden Cadenzen«. Vor allen Dingen vertrat er die Meinung, eine große Zahl von orientalischen Teilnehmern könne dem wissenschaftlichen Charakter der Tagung nur schaden: Die Orientalisten-Congresse sind bisher rein wissenschaftlichen Zwecken dienstbar gewesen. Es ist ganz schön, wenn bei ihnen als Schmuck und Zierrath auch der Orient selbst zu Worte und zur Erscheinung kommt. Wenn aber der wissenschaftliche Charakter derselben nicht leiden soll, dürfen sie nicht zu einer Art Schaustellung, wie sie etwa eben ein Seminar für moderne orientalische Sprachen veranstalten könnte, benutzt werden. Es mag schwer sein, hier die richtige Grenze zu halten, wenn man die Orientalen einmal in der Weise, wie es diesmal geschehen ist, heranzieht. […] Wollte man noch weiter gehen hierin, so würden die Orientalisten-Congresse Gefahr laufen, aufzuhören solche zu sein und vielmehr zu Congressen von Orientalen und OrientReisenden herabsinken.37

Das Missbehagen, aber auch die verachtungsvolle Haltung des sich in der Tradition der deutschen Altorientalistik ausschließlich für das Schriftliche und Altertümliche interessierenden Gelehrten ist hier nicht zu überhören. Seine Vorbehalte hatten auch einen kolonialpolitischen Hintergrund: so wies er zum Beispiel auf die Gefahr hin, den Hochmut der orientalischen »Untertanen« zu nähren, indem man ihnen das Wort gebe; auch berief er sich auf die »Kulturmission« der okzidentalischen Völker und sprach den auf dem Kongress anwesenden »islamitischen Gesichtern« jede »Spur von wirklicher Intelligenz« ab.38 Die Vorstellung der Überlegenheit der abendländischen Philologie gegenüber den einheimischen gelehrten Traditionen war unter den Orientalisten sehr verbreitet. Allerdings war diese Ansicht bei den Stubenphilologen besonders zugespitzt, während die zu diesem Zeitpunkt dank der verbesserten Verkehrsmittel immer zahlreicher werdenden Orientalisten, die den Orient bereisten oder sich dort für längere Zeit aufhielten, das lokale Wissen höher bewerteten. So unterstrich Hermann Oldenberg die auf dem Kongress erwiesene Kluft zwischen »indischer« und »europäischer Schule«: 36 Die Verteilung war wie folgt: aus Ägypten 7, Algier 2, Japan 3, Indien 4, Persien 4, der Türkei 28 (vgl. Albrecht Weber : Quousque tandem? Berlin 1894, S. 2). 37 Ebd., S. 3f. 38 Ebd., S. 5.

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Auf der einen Seite stehen Gelehrte, welche entscheidende Jahre ihres Lebens in Indien, im täglichen Verkehr mit einheimischen Sanskritkennern zugebracht haben, für die das Sanskrit geradezu eine lebende Sprache, die moderne Auffassung der Inder von der Bedeutung ihrer alten Literatur eine wichtige Autorität ist. Ihnen reihen sich auf der anderen Seite Forscher an, welche dem heutigen Dasein Indiens in der Regel fern stehen, von der jüngeren indischen Tradition weitaus geringer denken als Jene, aber ihre volle Energie dafür einsetzen, die von der altclassischen Philologie und der historischen Grammatik entwickelten Methoden der Untersuchung auf die Räthsel, welche das alte Indien der Wissenschaft aufgibt, anzuwenden.39

In den folgenden Jahrzehnten, insbesondere in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg, stieg die Zahl der ›Orientalen‹ auf dem Kongress an und sie fanden auch mehr und mehr offizielle Anerkennung.40 Selbst wenn der Anspruch auf Universalismus sicherlich übertrieben war, so hat der Internationale Kongress der Orientalisten zweifelsohne zur Aufwertung der Arbeit nichtwestlicher Wissenschaftler beigetragen.

V.

Was bleibt? Internationale Projekte im Zeitalter der Großwissenschaft

Gesprochenes verfliegt, Geschriebenes bleibt: so heißt das Sprichwort. Doch es lässt sich im Falle des internationalen Kongresses der Orientalisten nicht ganz bestätigen. Zunächst haben viele Vorträge, Reden und sogar Diskussionen in schriftlicher Form überlebt. Die Kongressakten bilden in dieser Hinsicht natürlich die reichste Quelle. Ihr Inhalt variiert sehr von einer Tagung auf die andere, aber sie enthalten immer wenigstens die Titel und Zusammenfassungen der Vorträge. Sehr oft werden alle auf der Eröffnungs- und Abschlussfeier gehaltenen Reden auch wiedergegeben. Manchmal ist auch die Abschrift der Debatten, die in den jeweiligen Sektionen des Kongresses stattgefunden haben, darin zu finden. Liefern die Akten die offizielle, ausgewählte Version des Verlaufs und Inhalts des Kongresses, so können diese Quellen durch Archivmaterial (z. B. aus den Kultus-, Auslands- oder Kolonialministerien der teilnehmenden Länder), zeitgenössische Zeitschriftenberichte, private Briefwechsel zwischen Philologen und sogar Tagebücher ergänzt werden. So hat der Latinist Ren8 Amacker in Ferdinand de Saussures Nachlass Notizen gefunden, in welchen der schweizerische Sprachwissenschaftler die heftigen Debatten über das anzunehmende Transkriptionssystem des Sanskrits auf dem Kongress von 1894 in Genf er39 Oldenberg: Der achte internationale Orientalistenkongress, S. 298f. 40 Vgl. Rabault-Feuerhahn: Du congrHs international des orientalistes au congrHs international des africanistes, S. 239f.

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zählt.41 Es zeigt sich, dass Saussure sich dem vorgeschlagenen System vehement widersetzte, weil es in seinen Augen zu Verwechslungen zwischen manchen Buchstaben führen konnte. Seine Einwände wurden jedoch übergangen, was ihn sehr beleidigte und er als ein Zeichen seines Außenseitertums gegenüber den Hauptvertretern der Orientalistik interpretierte. In seinen Papieren berichtet er ausführlich vom mündlichen Austausch: Nach dieser Verlesung [sc. von Saussures Einwänden] hatte ich eine freundliche Unterredung darüber mit diesen Herren während fast 34 Stunde und ich muss sagen, dass sie allem, was ich sagte, aufmerksam zuhörten und es auch ernst diskutierten. Was den Inhalt aber angeht, so hat Herr Senart nur die Idee geäussert (und dies, aus reiner förmlicher Höflichkeit), dass ich trotzdem eine Rolle in der [Transkriptions-]Kommission weiter annehmen könnte. Gegen das von mir ausgesprochene Wort von »Rücktritt« hat keiner protestiert. […] Ich war im voraus das verdächtige Mitglied, das die Kommission nicht annehmen wollte und […] ich war sowieso nicht berechtigt, um den Vorsitz einer fast ausschließlich aus den Autoritäten der Orientalistik zusammengesetzten Kommission inne zu haben.42

Dieses Zeugnis liefert wichtige wissenschaftssoziologische Hinweise über den Verlauf der Diskussionen und die Hierarchie innerhalb der Sektionen. Über die gehaltenen Vorträge hinaus ermisst sich der Gewinn des Kongresses an den Impulsen zu neuen Forschungen, Sichtweisen und Projekten. Ein wichtiger Aspekt des Kongresses bestand nämlich in der Annahme von Anträgen durch die verschiedenen Sektionen, die meistens am Ende des Kongresses der Generalversammlung der Kongressmitglieder noch vorgelegt wurden. Manche Anträge hatten zum Ziel, bestimmte Wege, Ziele und Methoden der Forschung zu begünstigen, andere wollten eher die Durchführung internationaler Kooperationsprojekte ermöglichen. In Hamburg im Jahre 1902 wurde von der Sektion VII B (»Afrikanische Sprachen. Mit Ausschluss des Aegyptologischen, allgemeinen semitischen und islamischen Gebietes«) eine Resolution in Form eines Wunsches verfasst, und zwar dass »ein Publicieren von elementaren Grammatiken, Wörterbüchern und Chrestomathieen einem Publicieren von tiefergehenden und wirklich wissenschaftlichen Grammatiken etc.« Platz machen sollte.43 Die Resolution hatte eigentlich zum Ziel, die afrikanischen Studien als reife Disziplin anerkennen zu lassen. Im Zeitalter der Großwissenschaft, die der Kongress selbst ja verkörperte, war die Errichtung internationaler Kooperationsprojekte ein Hauptanliegen. Selbst wenn deren Verwirklichung aufgrund des weiterbestehenden internationalen 41 Vgl. Ren8 Amacker : Ferdinand de Saussure et la transcription officielle du sanscrit (1894). In: Cahiers Ferdinand de Saussure 59 (2006), S. 175–178. 42 Ebd., S. 177 (Übers. d. Verf.). 43 Verhandlungen des XIII. Internationalen Orientalisten Kongresses, S. 353.

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Wettbewerbs und der politischen Spannungen und Kriege nicht reibungslos verlief, so sind mehrere in der Tat zustande gekommen. Die Enzyklopädie des Islams, die gegenwärtig ihre siebente Auflage erlebt, findet ihren Ursprung im Kongress von 1874 in London, wo ein solches Projekt von William Robertson Smith vorgeschlagen wurde. Ein so umfangreiches Unternehmen war ohne die Finanzierung durch verschiedene Regierungen und Institutionen undenkbar ; da die unterschiedlichen Geldgeber aber verlangten, dass die Enzyklopädie in ihren jeweiligen Sprachen gedruckt werde, musste diese schließlich dreisprachig erscheinen (Englisch, Deutsch und Französisch).44 Ein weiteres wichtiges religionswissenschaftliches Editionsprojekt, das im Rahmen des Kongresses entstand, waren die Sacred Books of the East, die vom Indologen und Sprach- und Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller und seinen Mitarbeitern und Nachfolgern in Oxford von 1879 bis 1910 in 50 Bänden veröffentlicht wurden. In einem Brief an die Mitglieder des Kongresses von Rom in 1899 betonte Max Müller die entscheidende Rolle der Gruppendynamik bei einer solchen Unternehmung: Die Idee [der Sacred Books of the East] hat ihren Ursprung in einem unserer Kongresse und ich war seit langem auf diesen Kongress gespannt, weil ich zeigen wollte, dass ich mein Wort gehalten hatte, soweit ein Herausgeber es tun kann. Alle meine Mitarbeiter sind dem Projekt treu geblieben und ich kann ihnen nicht genug danken für die Opfer, die sie gemacht haben. Fast alle hatten ihre eigene offizielle Arbeit; viele mussten literarische Arbeiten aufgeben, für die sie sich doch mehr interessierten als für bloße Übersetzung. Sie mussten unter großem Druck arbeiten, wobei sie viele Dinge weniger vollendet lassen mussten, als sie es wünschten. Aber die Hoffnung, die ich in der Einleitung zum Ausdruck gebracht habe, dass der gütige Leser und Kritiker, wie er früher genannt zu werden pflegte, nachsichtig sein würde, wurde nicht getäuscht, und der Verkauf der Bücherreihe zeigt, dass solche Übersetzungen gewünscht waren – und zwar dringend.45

Nicht nur Publikationen, sondern auch Feldforschungen wurden von dem Kongress gefördert und ermöglicht. So wurde zum Beispiel auf der Tagung von 1899 in Rom der vom russischen Turkologen Wilhelm Friedrich Radloff formulierte Vorschlag angenommen, einen internationalen Verein zur geschichtlichen, archäologischen, linguistischen und ethnographischen Erforschung Zentralasiens zu gründen. Ein solcher Verein wurde in der Tat in Sankt Peters44 Siehe Arie Molendijk: Les premiers congrHs d’histoire des religions, ou comment faire de la religion un objet de science? In: Revue germanique internationale 12 (2010) [Themenheft: La fabrique internationale de la science. Les congrHs internationaux de 1865 / 1945. Hg. v. Wolf Feuerhahn u. Pascale Rabault-Feuerhahn], S. 91–103, hier S. 103. 45 Note adress8e par le Professeur Friedrich Max Müller / M. A. De Gubernatis et communiqu8e au XII [!] congrHs des orientalistes. In: Actes du douziHme congrHs international des orientalistes. Rome 1899. Florenz 1901, S. 5f. (Übers. d. Verf.).

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burg mit dem Ziel gegründet, internationale Wissenschaftsexpeditionen zur Erforschung der Altertümer und der alten Völker Asiens zu organisieren und zu finanzieren. Die starke Entwicklung der Turfanforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts findet also ihren Ursprung in dem internationalen Kongress der Orientalisten, selbst wenn sie im Kontext des Great Game der Großmächte in Zentralasien und der aufsteigenden Spannungen zwischen den westeuropäischen Staaten nicht frei von nationalistischen Hintergedanken und Rivalitäten war. Durch die Änderung der Größenordnung, die der internationale Kongress in mehrfacher Hinsicht – Teilnehmerzahl, Dauer der gesamten Veranstaltung, Zusammenkunft auf internationaler Ebene, Durchführung internationaler Kooperationsprojekte – mit sich brachte, bedeutete er einen wichtigen Einschnitt in die wissenschaftlichen Praktiken und sogar das Selbstverständnis der Orientalisten. Selbst wenn nicht alle sich daran beteiligten und manche ihre Unzufriedenheit mit dem mondänen Unterton oder der materiellen Organisation des Ganzen ausdrückten, so war er ein unersetzlicher Ort des interpersonalen und interkulturellen Austauschs; vor allen Dingen machte er es notwendig und möglich, sich mit zentralen Definitionsproblemen der Orientalistik auseinanderzusetzen, die sonst nur latent präsent gewesen waren. Die Umrisse des Kongresses und seiner Sektionen entwarfen nämlich die wandelnde Karte des ›Orients‹ als wissenschaftlichen Objekts. Was war eigentlich unter ›Orient‹ zu verstehen, aus welchen Weltregionen setzte er sich zusammen und warum war es so wichtig, diese in ein Ganzes zu subsumieren? Paradoxerweise ließ eben die angestrebte Kooperation zwischen den Vertretern der verschiedenen Zweige der Orientalistik den konstruierten Charakter, der letzterer innewohnt, verstärkt zum Vorschein kommen. Selbst wenn der humanistische Anspruch, der diese Zusammenstellung leitete, mitreißend wirkte, trug der Kongress also als globales intellektuelles Projekt die Keime des eigenen Abklingens in sich. Außerdem verfolgte er zwei potentiell widersprüchliche Zwecke, indem er zur gleichen Zeit die Professionalisierung der Orientalistik förderte und als Gegengewicht zur Spezialisierung verstanden wurde. Es war in der Tat schwierig, die Zusammenarbeit über die einzelnen Sektionen hinaus voranzutreiben. Der Erfolg der internationalen Kongresse als wissenschaftliche Kommunikationsformen trug auch dazu bei, die Bedeutung des Internationalen Kongresses der Orientalisten zu verringern. Von vorn herein nahmen die meisten Orientalisten an verschiedenen internationalen Kongressen (z. B. für Geschichte und Vorgeschichte, Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft) teil. Im Laufe der Zeit stand der Internationale Orientalisten-Kongress immer mehr im Wettbewerb mit spezialisierteren Kongressen. Es entstanden außerdem weitere, kleinere Formen der internationalen Zusammenkunft (Tagungen über bestimmte Themen), die den Kongress seines Privilegs beraubten und ihm oft vorgezogen wurden. Auf jeden

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Fall zeigt die Geschichte des Internationalen Kongresses der Orientalisten, dass die Geschichte der Philologie und damit der Wissenschaften nicht linear ist. Sie lässt unter anderem erkennen, dass die Tendenz zur Spezialisierung keineswegs den teleologischen Horizont der wissenschaftlichen Modernität bildet. Diese lässt sich vielmehr durch die stetige Spannung zwischen Spezialisierung und interdisziplinärem Dialog charakterisieren: der Ausgang ist weder endgültig noch voraussehbar.

Marcel Lepper

Philologische Zusammenarbeit und institutionelle Infrastruktur im frühen 19. Jahrhundert: Traditionen, Programme, Konflikte

Die Philologie hat, etymologisch, die Liebe im Namen. So kann Friedrich Creuzer (1771–1858) gegenüber Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) die Wortliebe und die Philologenliebe in Verbindung bringen, wenn er von der »Liebe zu Ihnen« und der »Symphilologie mit Ihnen« spricht.1 Eine hyperbolische Wendung, die Konzepte von Kollegialität und Kooperation emphatisch übersteigert? Creuzer, der an der Universität Marburg zwischen 1800 und 1804 die Eloquenz fachlich vertreten hat, weiß genau um die rhetorische Funktion und Leistung solcher Wendungen. Sie setzen ein charismatisches Element gegen die Rationalität der institutionellen Strukturen, auf die sie angewiesen sind; sie stehen im Kontrast zu den Topoi der Institutionen- und Kollegenschelte und sorgen, Vertrautheit und Nähe evozierend, für einen kommunikativen Rahmen, innerhalb dessen wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Details aus den institutionellen Strukturen ausgetauscht werden können. Was auf den ersten Blick wie eine Absage an die Institutionen aussehen mag, steht insofern in einer engen Symbiose mit ebendiesen Institutionen. Will man romantische Programme philologischer Zusammenarbeit auf den Prüfstand stellen, so lässt sich entsprechend von der institutionellen wie von der rhetorischen Seite ansetzen. In vier Schritten kann die Annäherung an ›symphilologische‹ Konzepte und Praktiken unternommen werden. Der Beitrag geht von den weit in die frühe Neuzeit zurückreichenden architektonischen und diskursiven Traditionen aus, die auf die Vereinzelung gelehrter Arbeit hin ausgerichtet sind (I.). Die Einbettung solcher Modelle in ihr institutionelles Gefüge weist den Weg zu den infrastrukturellen Bedingungen (II.) und Konflikten (III.) solitärer wie interaktiver Forschung – exemplarisch untersucht am Fall des Heidelberger Philologen Creuzer. Vor solchem Hintergrund können Schlegels und Creuzers Konzepte der Zusammenarbeit rhetorisch evaluiert werden (IV.). 1 Friedrich Creuzer an Friedrich Karl von Savigny, 31. Mai 1808. In: Briefe Friedrich Creuzers an Savigny (1799–1850). Hg. v. Hellfried Dahlmann unter Mitarbeit v. Ingeborg Schnack. Berlin 1972, S. 244.

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I.

Marcel Lepper

Gehäuse für die Stillarbeit

»Wissenschaft im Gehäuse«, so betitelte Rüdiger vom Bruch einen einschlägigen Beitrag zum Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven.2 Unter einem »Gehäuse« mag man sich, technologisch, die Ummantelung eines komplexen Systems vorstellen; auch, pomologisch, eine samentragende Kapsel oder, konchyliologisch, die Schale von Schnecken. Ikonographisch hat die Metapher von der »Wissenschaft im Gehäuse« ihre frühneuzeitlichen Vorläufer in der Darstellung des Gelehrten »im Gehäus«: so im Falle von Jan van Eycks Tafelbild Hieronymus im Studierzimmer (1442), Antonello da Messinas Ölgemälde Hieronymus im Gehäus (1474), Domenico Ghirlandaios gleichnamigem Fresko (1480) oder Albrecht Dürers Kupferstich (1492).3 Dargestellt wird jeweils der Kirchenvater Hieronymus (347–420), als Humanist in der Gelehrtenstube stilisiert, bei der Arbeit an der lateinischen Übersetzung des Neuen Testaments. Das Wort »Gehäus« oder »Gehäuse« kann in solchem Zusammenhang eine bauliche Struktur, eine Behausung oder einen Hausteil meinen: ein Gemach, oder in diesem Fall, ein Studierzimmer.4 In seinem ›Gehäuse‹ ist der Gelehrte so geschützt wie solitär : in den Bildwerken des 15. und 16. Jahrhunderts am Schreibtisch oder Lesepult, das durch ein seitliches Fenster erleuchtet wird, allein mit der Schrift, umgeben von Büchern, Pergamenten, Schreibwerkzeugen, allegorischen Tieren und verrätselten Gegenständen. Die ›Gehäuse‹-Ikonographie bietet die Möglichkeit, den Kontrasthintergrund zu rekonstruieren, von dem sich die Rede von der gelehrten Zusammenarbeit abhebt. Die gelehrte Praxis ist, so der Bildeindruck der ›Gehäuse‹-Szenen, eine keineswegs gesellige, sondern einsame Angelegenheit, und wird als solche nicht nur dargestellt, sondern aufgrund der angeführten Darstellungen eingeübt. Der Humanist Angelo Decembrio (1415–1467) berichtet, dass es unter wohlhabenden Gelehrten üblich sei, Darstellungen des Heiligen Hieronymus im Studierzimmer anzubringen, da sie geeignet seien, für die notwendige konzentrierte Arbeitsatmosphäre, nämlich für »Einsamkeit und Stille« (»solitudinem et silentium«) ein Vor- und Meditationsbild zu geben.5 Ob man das »humanistische

2 Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft im Gehäuse. Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), H. 1, S. 37–49. 3 Vgl. Hubert Locher : Domenico Ghirlandaios Heiliger Hieronymus im Gehäuse. Malerkonkurrenz und Gelehrtenstreit. Frankfurt a. M. 1998; van Eyck: Institute of Arts, Detroit; Antonello da Messina: National Gallery, London; Ghirlandaio: Ognissanti, Florenz; Dürer : Kupferstichkabinett, Kunstmuseum Basel. 4 Vgl. Art. ›Gehäuse‹. In: Elmar Seebold u. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23., erweiterte Aufl., Berlin u. New York, S. 306. 5 Zitiert bei Wolfgang Liebenwein: Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600. Berlin 1977 (Frankfurter Forschungen zur Kunst Bd. 6), S. 69–70; es

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Einsamkeitsideal«6 aus der klösterlichen Zellenstruktur, aus den Rhythmen des Studiums und der Kontemplation herleitet oder umgekehrt in programmatischen Schriften wie denen Petrarcas (De vita solitaria, 1346; De otio religiosorum, 1347) säkulare Referenzen auf ältere Frömmigkeitsprogramme sucht: In jedem Fall ist das ›Gehäuse‹ der Ort der ungestörten, kontinuierlichen Arbeit, zugleich der Raum, in dem aufgrund eines solchen vertieften Studiums Erkenntnismomente möglich werden, die über eine Repetition des Schulwissens hinausgehen. Die kunsthistorische Forschung hat dies an Sandro Botticellis Augustinus-Fresko (1480) gezeigt, welches von den Hieronymus-Darstellungen dahingehend abweicht, dass der Gelehrte von den Schriften aufschaut, den Blick ins Unbestimmte richtend, die rechte Hand zur Brust führend.7 Die augustinischen Confessiones (VIII, 12) liefern das Narrativ für den Rückzug in die gelehrte Einsamkeit, die solche Momente ermöglicht.8 Die Aufforderung »Nimm, lies!« (»Tolle, lege!«) wird als Ermutigung zum stillen Lesen interpretiert: arripui, aperui [codicem] et legi in silentio capitulum, quo primum coniecti sunt oculi mei.9 Ich ergriff das Buch, öffnete es und las still für mich den Abschnitt, der mir zuerst in die Augen fiel.10

Der Prozess des stillen Lesens muss nicht in der Struktur eines Erleuchtungsoder Bekehrungsereignisses beschrieben werden; die philologische Forschung hat, ausgehend von Eduard Nordens Beobachtungen (1898) zur augustinischen Schilderung des lautlosen Lesens des Bischofs Ambrosius (Conf. VI, 3), präzise die Praktiken des stillen Lesens in der Antike rekonstruiert, die ohne mystisches Erleben auskommen.11 In beiden Fällen, in der gelehrten Routine wie in deren visionärem Steigerungs- und Gegenmodus, scheint der Protagonist mit seinen Büchern, seinen Eingebungen allein zu sein; das ›Gehäuse‹ erfüllt den Zweck, soziale Interaktion aus der Studienszene zugunsten der konzentrierten Lektüre

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handelt sich dabei häufig auch um Darstellungen des Hieronymus in der Wüste, d. h. um einen eremitischen Modus der solitudo. Berndt Hamm: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen. Hg. v. Reinhold Friedrich u. Wolfgang Simon. Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Bd. 54), S. 181ff. Vgl. Damian Dombrowski: Die religiösen Gemälde Sandro Botticellis. Malerei als »pia philosophia«. Berlin u. München 2010, S. 140. Vgl. dazu die Mosse-Lecture von Stephen Greenblatt 2015, Humboldt-Universität zu Berlin: Augustine in the Garden (gehalten am 18. Mai 2015). Augustinus: Confessiones. Hg. v. Kurt Flasch. Stuttgart 2009, VIII, 12; Hervorhebung d. Verf. Augustinus: Bekenntnisse. Übers. v. Otto F. Lachmann. Leipzig 1888, VIII, 12. Vgl. Eduard Norden: Die antike Kunstprosa. Vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance. Bd. 1. Leipzig u. Berlin 1898, S. 6; zum Forschungsstand Stephan Busch: Lautes und leises Lesen in der Antike. In: Rheinisches Museum für Philologie 145 (2002), S. 1–45.

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herauszuhalten. Solche Gehäusestrukturen bieten etwa die carrel desks, die in Klöstern seit dem späten Mittelalter mit ihren abschirmenden Seitenwänden dazu dienen, den Mönchen die Konzentration auf die vor ihnen liegenden Schriften zu ermöglichen.12 An der Kernszene des lesenden, um Verständnis, Interpretation, Übersetzung und Kommentar bemühten Subjekts scheint sich zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert strukturell erstaunlich wenig zu ändern, folgt man den entsprechenden Bilddarstellungen und Dokumentationen. Aquarelliert Moritz Hoffmann (1820–1896) das Arbeitszimmer Jacob Grimms (1785–1863), dann zeigt er Schreibtisch und Bücherregale, den Arbeitsplatz des Philologen, Druckwerke und Manuskriptstapel in Griffweite; Licht fällt von der Seite in den Raum.13 So verhält es sich noch, wenn Ludwig Knaus (1829–1910) den Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903) malt: Tisch, Manuskripte, Bücherschrank; Licht aus Betrachterrichtung erhellt den ansonsten dunklen Raum.14 Ausgetauscht wurden, so scheint es, allein die religiösen und dynastischen Symbole; die allegorischen Tiere, die den Gelehrten in den frühneuzeitlichen Darstellungen umgeben, fehlen in den Darstellungen der Philologen- und Historikerstube des 19. Jahrhunderts, auch Madonnenbild und Kruzifix. Über den Apparaten wacht stattdessen streng die Historie: im Falle des Mommsen-Bildes in Gestalt einer großen Caesar-Büste; im Falle des Gemäldes von Jacob Grimms Arbeitszimmer in Form einer gelehrten Ahnengalerie, darunter Jacob Grimms Urgroßvater Friedrich Grimm (1672–1748), Geistlicher der reformierten Landeskirche in Hanau. Die Darstellungen verweisen auf eine Kernstruktur des gelehrten Arbeitens – und zugleich auf einen Topos, nämlich auf die seit dem späten 18. Jahrhundert ausgeprägte, pejorative Rede von der »Stubengelahrtheit« oder »Stubengelehrsamkeit«, der es an Urbanität und Welterfahrung mangelt.15 Die Struktur und ihre Problematik finden sich materialseitig anhand von gelehrten Nachlässen 12 Zum stillen Grammatikstudium nach benediktinischem Modell Dom Le Clerq: Love of Learning and the Desire for God. A Study of Monastic Culture [1957]. Übers. v. Catherine Misrahi. 2. Aufl., New York 1982, S. 18; zur architektonischen Struktur der Arbeitsnischen und Carrels vgl. Roger Rosewell: The Medieval Monastery. London 2012, S. 30. 13 Der Gelehrte selbst hat in diesem Fall den Raum verlassen und muss imaginiert werden; GNM Nürnberg; vgl. Marcel Lepper: Philologie. Zur Einführung. Hamburg 2012, S. 135f. 14 Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie. 15 Vgl. die entsprechenden Art. im Deutschen Wörterbuch. Von Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet v. der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches. Bd. 20: Strom–Szische. Leipzig 1942, Sp. 174ff.; schon Satiren des 15. Jahrhunderts zeigen den Büchernarren im ›Gehäuse‹, so der entsprechende Holzschnitt in Sebastian Brants Narrenschiff (1494); statt des Heiligen Hieronymus sitzt ein Narr mit übergroßer Brille und Staubwedel am Lesepult; vgl. Katharina Bahlmann, Elisabeth Oy-Marra u. Cornelia Schneider (Hg.): Gewusst wo! Wissen schafft Räume. Die Verortung des Denkens im Spiegel der Druckgraphik. Berlin 2008 (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften Bd. 5), S. 224.

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seit der frühen Neuzeit bestätigt; den darin enthaltenen, idiosynkratischen Notat- und Exzerptsystemen, deren bester Benutzer derjenige zu sein scheint, der sie angelegt hat.16 Habituell weist sich die solitäre Arbeitsstruktur durch das Stereotyp des kauzigen Gelehrten aus, der wie Edward Casaubon in George Eliots Roman Middlemarch (1871–74) an seinem opus magnum arbeitet und, misstrauisch und abweisend gegenüber kritischem Austausch, an unplausiblen Lösungen für überholte Probleme laboriert.17 Ist ein Entgrenzungsideal, das im Schlegel’schen Begriff der ›Symphilologie‹ erfasst wird, unter solchen Bedingungen mehr als eine romantische Utopie, ein Traum aus dem ›Gehäuse‹, dessen Wände den Gelehrten von der Außenwelt abschirmen?18 Oder brauchen die Visionen von der philologischen Zusammenarbeit vielmehr die Vorstellung der Vereinsamung, um ihren eigenen, innovativen Aspekt hervorzuheben?

II.

Infrastrukturelle Voraussetzungen

Wenn Rüdiger vom Bruch (2000) von der »Wissenschaft im Gehäuse« in institutionengeschichtlicher Hinsicht spricht, dann kommt, anders als die Ikonographie des stillen Gelehrten es nahelegen mag, die Erstbedeutung von »Gehäuse« ins Spiel, die das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm verzeichnet: »Gehäuse« nämlich als collectivum zu »Haus«; im Sinne des ganzen Hauswesens, die Hausbewohner inbegriffen.19 In solchem Sinne beschränkt sich das ›Gehäuse‹ nicht auf die Mikrostruktur der gelehrten Lese- und Schreibzelle, sondern umfasst die Interaktionen, Institutionen und Infrastrukturen, die eine solche Mikrostruktur erst ermöglichen: in letzterer Hinsicht das tatsächliche und metaphorische oikos, in dem die gelehrte Arbeit stattfindet; Kloster- und Campusanlage, Akademie- und Universitätsarchitektur ; Bibliotheken, Archive, Kataloge, Ablagen, Seminar- und Handapparate, Verwaltungen und Speisesäle, wie von William Clark (2006) aus wissenschafts-, von Markus Krajewski (2002) 16 Im Detail dazu Marcel Lepper: Zettelwelt, Denklabor. Oder : Was Wissenschaftler hinterlassen. Eine Sichtung. In: Quarto 33/34 (2011), S. 27–33; ders.: Notizbücher. Prozessbegleitende Dokumentationen philologischer Arbeit. In: Zeitschrift für Germanistik; N. F. 23 (2013), H. 2, S. 343–358. 17 Philologiegeschichtlich lassen sich die polemischen Schilderungen von Laßberg bei Annette von Droste-Hülshoff anführen; dazu Marcel Lepper : Annette von Droste-Hülshoff und Joseph von Laßberg. Geduldsphilologie und Ungeduldspoetik 1835–1848. In: Claudia Liebrand, Irmtraud Hnilica u. Thomas Wortmann (Hg.): Redigierte Tradition. Literaturhistorische Positionierungen Annette von Droste-Hülshoffs. Paderborn 2010, S. 279–294. 18 Zum Begriff vgl. die Einleitung zum vorliegenden Band. – Siehe zum Begriff der ›Symphilosophie‹ Friedrich Schlegel: Die Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. u. eingeleitet v. Hans Eichner. München, Paderborn u. Wien 1967, S. 185f., hier S. 185 (Nr. [125]). 19 Vgl. Art. ›Gehäuse‹. In: Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Sp. 2330.

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aus medienhistorischer Sicht rekonstruiert.20 So sorgen bibliothekarische carrel desks, in Anlehnung an die erwähnten klösterlichen Möbel konstruiert, zwar für Vereinzelung und Konzentration; sie tun dies aber als Teil eines größeren, institutionellen und infrastrukturellen Arrangements. Die Leistung des einzelnen ›Gehäuses‹ und seiner Darstellungen liegt weniger darin, dass es konkrete Störeffekte filtert, sondern dass es Voraussetzungen und die Resultate der gelehrten Arbeit ausblendet, nämlich die größeren ›Gehäuse‹, in die es eingelassen ist. Schon in den frühneuzeitlichen Darstellungen wird die Verkapselung im »Gehäuse« in mehrfacher Hinsicht durchbrochen: Während van Eycks Hieronymus, den Kopf in die Hand gestützt, versonnen in einem Codex liest, ist das Gesicht des Gelehrten bei Ghirlandaio offen dem Betrachter zugewandt. In der Faust der linken Hand hält er ein zusammengefaltetes Stück Pergament, in der rechten das Schreibgerät. Der Gelehrte kommuniziert, offenbar beantwortet er einen Brief.21 Müssen die institutionellen Strukturen der gelehrten Interaktion jeweils historisch präzise kontextualisiert werden, so konstatiert die wissenschaftshistorische Forschung für den westeuropäischen Raum klassischerweise eine Transformation von der vormodernen zur modernen Institutionalität, die zwischen dem im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert angesetzt wird. Sie setzt bei den Prozessen der Ausprägung wissenschaftlicher Disziplinen an, darunter die Gründung der modernen Philologien, die ältere Konzepte aus dem Erbe der artes liberales ablösen.22 Das institutionelle ›Gehäuse‹ dieser Philologien ist im 19. Jahrhundert weniger denn je gleichzusetzen mit der isolierten Philologenstube. Vielmehr umfasst es ein komplexes Gefüge akademischer, bibliothekarischer und archivarischer Infrastrukturen sowie kommunikativer und kooperativer Praktiken, die solche Strukturen aktivieren und ausbauen. Von dieser Seite betrachtet ist gelehrte Zusammenarbeit nicht die Ausnahme oder das Programm, sondern immer schon, nämlich aus den institutionellen und infrastrukturellen Bedingungen heraus, die Regel. Nolens volens sind Gelehrte darauf angewiesen, Apparate zu benutzen und zu erweitern. In diesen Prozessen kreuzen sich ihre Wege, und an diesen Wegkreuzungen wird Interaktion initiiert. Es lohnt sich, die Vorstellung solcher gelehrten Interaktion zu 20 Vgl. William Clark: Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago 2006; Markus Krajewski: ZettelWirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Berlin 2002 (Copyrights Bd. 4). 21 Vgl. Barbara Conring: Hieronymus als Briefeschreiber. Ein Beitrag zur spätantiken Epistolographie. Tübingen 2001 (Studien und Texte zu Antike und Christentum Bd. 8). 22 Vgl. Hans-Harald Müller u. Marcel Lepper (Hg.): Disziplinenentstehung, Disziplinenkonfiguration. Stuttgart [voraussichtlich 2016] (Beiträge zur Geschichte der Germanistik Bd. 8), dort ein ausführlicher Forschungsbericht; Grundzüge zuvor bei Lepper: Philologie, S. 41–45.

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entplatonisieren und zu entromantisieren, stattdessen die konkreten, materialen Konditionen genauer anzusehen: Woher hat der Gelehrte das Buch, das auf seinem Pult liegt? Wer hat es zuletzt in den Händen gehabt, wer hat es kommentiert, wer hat es veruntreut, wer zurückgebracht? Wer hätte es gern und bekommt es nicht, wer verfügt über Zugangsrechte, wem wird es vorenthalten? Wem gehört, wer verwaltet die Bibliothek, aus dem es stammt?23 Eine konkrete Fallbetrachtung kann helfen, sich aufgrund einer solchen Heuristik dem Verhältnis von institutioneller Infrastruktur und gelehrter Interaktion zu nähern. Wenn Friedrich Creuzer in einem Brief an Friedrich Carl von Savigny den Begriff der ›Symphilologie‹ ins Spiel bringt, dann kombiniert er die Frage der – gewünschten – Zusammenarbeit unmittelbar mit der Frage der – defizitären – Infrastruktur.24 Ihm gehe es um die »Möglichkeit philologischer Forschung«, und er sehne sich entsprechend erstens »nach Büchern, die ich hier zu so etwas gar nicht habe, auch nicht zu kriegen hoffen darf«; zweitens nach dem »lebendigen gelehrten Verkehr«. Hofft er, an gemeinsame Marburger Zeiten anküpfend, auf eine wiederzubelebende Form der »Symphilologie«, dann »umgeben von hinlänglichem literarischen Apparat«.25 Die Klage adressiert die problematischen universitätspolitischen Bedingungen in Heidelberg zwischen institutioneller Modernisierung und staatlicher Reglementierung. Die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzung im 17. und 18. Jahrhundert und der verspäteten gegenreformatorischen Tendenzen sind noch deutlich spürbar. Heidelberg ist gerade erst, nämlich 1806, an das Großherzogtum Baden übergegangen, und die Reorganisation ist in vollem Gange. Wenn er die Hilfe Savignys bei der Vermittlung einer Stelle in Landshut sucht, dann steht dahinter ein Gestus der Unzufriedenheit und des Unbehagens in der philologischen Disziplin, ihren institutionellen und infrastrukturellen Bedingungen, wie er sich auch 1809 bei der Beurteilung der Verhältnisse in Leiden äußert. Auf welche Defizite bezieht sich Creuzer in seinem Brief an Savigny genau? Anhaltspunkte liefert seine programmatische Einführung in das Akademische 23 Die Fragen können zurückgreifen auf neuere und neueste Ansätze aus der Wissenschaftssoziologie, der Bibliotheks- und Benutzerforschung, u. a. bei Andrew Abbott: Professionalism and the Future of Librarianship. In: Library Trends 46 (1998), S. 430–443; ders.: Library Research Infrastructure for Humanistic and Social Scientific Scholarship. In: MichHle Lamont, Charles Camic u. Neil Gross (Hg.): Knowledge in the Making. Chicago 2011, S. 43–87; Kerstin Schoof: Kooperatives Lernen als Herausforderung für Universitätsbibliotheken. Veränderungen in der Konzeption und Nutzung von Lernräumen. Berlin 2010. 24 Creuzer an Savigny, 31. Mai 1808, S. 244; zum Kontext Frank Engehausen: Creuzers Leben im Spiegel seiner Autobiographie. In: Jürgen Paul Schwindt [u. a.] (Hg.): Friedrich Creuzer 1771–1858. Philologie und Mythologie im Zeitalter der Romantik. Heidelberg 2008 (Archiv und Museum der Universität Heidelberg. Schriften Bd. 12), S. 25–40. 25 Creuzer an Savigny, 31. Mai 1808, S. 244; zum Nostalgieaspekt der Creuzer-Stelle vgl. den Beitrag von Constanze Güthenke im vorliegenden Band.

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Studium des Altertums (1807). Darin vergleicht er den aktuellen institutionellen Rahmen und den Bestandsstatus mit demjenigen, den der Heidelberger Gräzist Friedrich Sylburg (1536–1596) vorfand. Kann sich die philologische Forschung zwischen dem mittleren 16. und dem frühen 19. Jahrhundert in erstaunlicher Kontinuität begreifen, so liegen zwischen Sylburg und Creuzer gravierende institutionelle Ereignisse: Der Kernbestand der Heidelberger Universitätsbibliothek, der ältesten und zu diesem Zeitpunkt bedeutendsten im deutschsprachigen Raum, wurde 1622 nach der Eroberung Heidelbergs von Herzog Maximilian I. von Bayern an Papst Gregor XV. übergeben.26 Als Sohn eines Buchbindermeisters ist Creuzer mit der Konkretion des philologischen Materialbezugs vertraut. Die öffentliche Form der programmatischen Studieneinführung (1807) setzt die Vorgabe, dass er die ernüchternde, institutionelle und infrastrukturelle Bilanz anders als im Brief an Savigny (1808) nur indirekt formulieren, gleichwohl mit einem Appell an Regierung, Behörden und Universitätsleitung verbinden kann, den reduzierten »Vorrath« an Büchern und Handschriften wieder zu vermehren.27 Zwar stehen uns nicht mehr die Hülfsmittel zu Gebot, die ehemals Sylburge im sechzehnten Jahrhundert die hiesige Bibliothek lieferte, deren Schätze im Fach der Griechischen Literatur er selbst verzeichnete, die der große Salmasius benutzte, und über welche Janus Gruterus (Guytere) die Aufsicht führte, indessen wird eine Regierung, die das Gedeihen der Wissenschaft und jeder Musenkunst so ernstlich will, auch auf die fernere Vermehrung unsere Vorraths bedacht seyn.28

1816, d. h. in der Folge des Wiener Kongresses, können tatsächlich einige Teile der Bibliothek, insbesondere die deutschen Handschriften, nach Heidelberg zurückgegeben werden, während große Teile sich bis heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana befinden. Führt seit 2014 eine Datenbank die Bestände der ehemaligen Bibliotheca Palatina virtuell und kooperativ wieder zusammen, so

26 Zu diesem klassischen Fall der Provenienzgeschichte bereits im frühen 19. Jahrhundert Friedrich Wilken: Geschichte der Bildung, Beraubung und Vernichtung der alten Heidelbergischen Büchersammlungen. Ein Beytrag zur Literärgeschichte vornehmlich des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts nebst einem Verzeichniß der im Jahr 1816 von dem Papst Pius VII. der Universität Heidelberg zurückgegebenen Handschriften und einigen Schriftproben. Heidelberg 1817; die Geschichte der Palatina wurde zuletzt fiktional aufgearbeitet bei Katja Behrens: Der Raub des Bücherschatzes. München 2012. 27 Zur Vorratsmetapher Marcel Lepper: Bücherschatz und Bücherarbeit. Ökonomische Ordnungen des Schriftguts im 17. Jahrhundert. In: Guillaume Garner u. Sandra Richter (Hg.): Eigennutz und gute Ordnung. Akten des Wolfenbütteler Barockkongresses 2012. Wiesbaden 2016 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 54), S. 405–427. 28 Friedrich Creuzer: Das Akademische Studium des Altertums [1807]. Hg. v. Jürgen Paul Schwindt. 2. Aufl., Heidelberg 2010, S. 112f.

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bleiben die Fragen von Eigentum, Standort und Zugang philologisch elementar.29 Creuzers Hinweis zu den »Schätze[n] im Fach der Griechischen Literatur« erfasst Fragen der philologischen Arbeitsteiligkeit im internationalen Kontext. Nicht Friedrich Sylburg allein wird genannt, sondern auch der französische Philologe Claudius Salmasius (Claude de Saumaise, 1588–1653), der aufgrund seiner Korrespondenz mit Scaliger und Casaubon nach Heidelberg reist und die Bibliotheksbestände noch vor ihrem Abtransport sieht. Gleiches gilt für den bei Creuzer angeführten Antwerpener Philologen Jan Gruyter (1560–1627), der in Heidelberg im Kreis von Martin Opitz (1597–1639) und Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635) wirkte und 1603 die Nachfolge von Paul Melissus Schede (1539–1602) als Leiter der Bibliothek antrat. Diese philologisch-bibliothekarische Tradition reicht, strukturell betrachtet, bis zu Karl Zangemeister (1837–1902), der, als Altphilologe in den Großprojekten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, darunter im Corpus inscriptionum latinarum ausgebildet, 1868 seine Bibliotheksdirektorenstelle in Heidelberg antritt und zugleich als Professor für Epigraphik lehrt. Zur Zeit Creuzers ist es der Orientalist Friedrich Wilken (1777–1840), der nach dem Studium bei Heyne, Schlözer und Eichhorn in Göttingen als Professor wie als Oberbibliothekar in Heidelberg wirkt und die Restrukturierung der Universitätsbibliothek nach der Säkularisation betreibt. Die institutionelle Verzahnung von Bibliotheken, philologischen und historischen Fächern im 19. Jahrhundert kann in ihrer Bedeutung für die philologische Interaktion kaum überschätzt werden.30 Man denke an Georg Friedrich Benecke (1762–1844), der als Philologe wie als Bibliothekar in Göttingen wirkt; an Jacob Grimm, der in Kassel und Göttingen als Bibliothekar tätig ist; an Theodor Georg von Karajan (1810–1873), der nach dem Studium in Wien beim Hofkammerarchiv und in der Hofbibliothek, zugleich als Mediävist arbeitet. Bibliotheken und Archive sind in ihrer Personal- und Bestandsstruktur immer schon auf Arbeitsteiligkeit hin angelegt. Anders ist die Arbeit an und mit großen 29 »Für die Recherche stehen die Erschließungsdaten der in Heidelberg und in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrten Palatina-Handschriften sowie die bibliographischen Daten der ca. 13.000 heute ebenfalls in Rom liegenden Druckschriften der Bibliotheca Palatina (Stampati Palatini) zur Verfügung. Suchbar sind Entstehungszusammenhänge, kodikologische oder paläographische Sachverhalte, Signaturen, Vorbesitzer, Autoren, Werke, Initien (nur bei Handschriften) sowie die Sacherschließung der Texte mittels des normierten Vokabulars der Gemeinsamen Normdatei (GND). Digitalisate der Handschriften sind – soweit bereits verfügbar – direkt verlinkt« (https://palatina-search.bsz-bw.de [30. 06. 2016]). 30 Grundlagen dazu bei Elmar Mittler : 19. und 20. Jahrhundert. Der Triumph des Buches und die Professionalisierung der Bibliothek. In: Konrad Umlauf u. Stefan Gradmann (Hg.): Handbuch Bibliothek. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2012, S. 338–350; Anett Lütteken: Aufklärung und Historismus. In: Marcel Lepper u. Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 45–56.

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Korpora nicht durchführbar, und ohne solche Korpora wiederum keine vertiefte philologische Zusammenarbeit denkbar. Ohne »hinlänglichen literarischen Apparat«, wie es in Creuzers Brief an Savigny heißt, lässt sich das gemeinsam angestrebte philologische »Quellenstudium« nicht realisieren.31 Ohne gemeinsame philologische und bibliothekarische Anstrengungen wiederum ist ein solcher »Apparat« nicht zu haben. Apparatarbeit ist freilich nicht in Schlegels Sinn ›symphilologisch‹, d. h. nicht auf Intensität und Nähe, auf einen freundschaftlichen Modus des umfassenden Austauschs und der wechselseitigen Ergänzung ausgerichtet. Vielmehr ist sie hierarchisch organisiert. So verweist Creuzer auf Schellenbergs Sammlung der Fragmente des Antimachos, die »unter Wolfs Leitung« veranstaltet worden sei.32 Vergleichbares gilt für die Asymmetrien, wie sie der akademischen Lehre zugrunde liegen. Das philologische Seminar, das im 18. Jahrhundert mit seinen spezifischen Räumen und Arbeitsweisen neben Auditorium und Bibliothek tritt, verfügt über einen Apparat, der Forschung ermöglicht und Kommunikation zentriert.33 Muss nach Creuzers programmatischem Akademischen Studium des Altertums (1807) die philologische, institutionelle Struktur auch die Arbeit mit Studierenden im »Seminar« umfassen,34 so reduziert sich die Lehre auf der nichtöffentlichen Rückseite, in Creuzers freundschaftlichen Korrespondenzen, auf eine lästige Pflicht.35 Dabei übt das Seminar durchaus in Praktiken der philologischen Zusammenarbeit ein, der wechselseitigen Ergänzung und Kritik; dies freilich nicht im Modus der individuellen, freundschaftlichen Zuneigung und des Vertrauensverhältnisses, sondern der wechselseitigen Lern- und Leistungskontrolle: Hierdurch, wie durch fleissig zu haltende Examinatoria, wird der Vortheil erreicht, dass der Lehrer mit dem Fortschreiten der Zuhörer fortdauernd bekannt bleibt. Sehr gross 31 Zum »Quellenstudium« vgl. Creuzer: Das Akademische Studium des Altertums, S. 3f.; vom »gründlichen Quellenstudium« ist auch in Creuzers Brief an Savigny vom 31. Mai 1808, S. 244, die Rede; zum Quellenbegriff in den Philologien des 19. Jahrhunderts ausführlich Marcel Lepper : Quelle und Prinzip. Rhetorische Grundlagen, poetische Konzepte, philologische Metaphorik. Paderborn (Habil.-Schrift, erscheint im Frühjahr 2017). 32 Creuzer: Das akademische Studium des Altertums, S. 105. 33 Vgl. Carlos Spoerhase u. Mark-Georg Dehrmann: Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), H. 1, S. 105–117; Hans-Harald Müller u. Myriam Isabell Richter (Hg.): Praktizierte Germanistik. Die Berichte des Seminars für deutsche Philologie der Universität Graz 1873–1918. Stuttgart 2013 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik Bd. 5); James Axtell: Wisdom’s Workshop. The Rise of the Modern University. Princeton 2016, S. 221–275. 34 Creuzer: Das akademische Studium des Altertums, S. 21. 35 Der Topos von der lästigen Lehre dient auf rhetorisch einschlägige wie durchaus zweifelhafte Weise dazu, die Qualität der Forschung zu beglaubigen: Die Forschung sei ihm immer lieber gewesen als die Lehre, schreibt Creuzer an Savigny. Vgl. den Brief Creuzers an Savigny vom 31. Mai 1808, S. 244.

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sind auch die Vortheile gegenseitiger Censur unter den Seminaristen selbst. In dieser Absicht werden eingelieferte schriftliche Arbeiten dem Einen oder Andern abwechselnd zur Beurtheilung vorgelegt, und zuweilen Disputirübungen über eine aufgestellte Thesis gehalten.36

Der Reiz und die Problematik eines Konzepts von ›Symphilologie‹, wie Creuzer es 1808 lanciert, liegt, zusammengefasst, darin, dass es institutionelle und infrastrukturelle Fragen koppelt, sich aber am Ende auf einen Austausch richtet, der gerade nicht institutionell und infrastrukturell motiviert wäre: stattdessen im Sinne Schlegels gegenstandsorientiert, persönlich, unhierarchisch. Liegt darin mehr als eine Illusion, ein Traum aus dem ›großen Gehäuse‹, der beiseite zu lassen sucht, was er voraussetzt?

III.

Grenzen der Gemeinschaft

Liest man Creuzers autobiographische Skizze Aus dem Leben eines alten Professors (1848), dann ergibt sich in deutlichem Gegensatz zur humanistischen Bibliotheksfrequentation und Geselligkeit, auch im Kontrast zur Projektphilologie der zweiten Jahrhunderthälfte, im Widerspruch schließlich zum Brief an Savigny, zunächst der Eindruck, dass der »lebendige[] gelehrte[] Verkehr« für Creuzers eigene philologische Bücherarbeit durchaus nachrangig gewesen sei: Creuzer beschreibt seine Bibel- und Herodot-Studien, seine Arbeit an Herders Geist der Ebräischen Poesie in der ersten Person Singular.37 Es handelt sich um konventionelle Szenen des Gelehrten im ›Gehäuse‹. Jürgen Paul Schwindt analysiert die Darstellungsform, indem er die Verben in Creuzers Autobiographie herauspräpariert, die auf komtemplative Erkenntnis, nicht auf Interaktion setzen: »›Öffnete… die Augen‹, ›in Gedanken mit mir herumtrug‹, ›leitete mich‹, ›verglich‹, ›fand‹«.38 Creuzers rhetorisch grundierte Arbeitsweise, seine »inventorische, dispositionelle und elokutorische« Leistung, die auf Kommunikation und Vermittlung setzen, sorgen für Rezeptionserfolge, bringen ihn aber auch, so Schwindt, in Konflikt mit der zeitgenössischen Philologie.39 Muss er aufgrund der erfahrenen Ablehnung so insistierend beschreiben, »wie er sich an allem Anfang selbst überzeugte«, und verfängt er sich dadurch in 36 Creuzer: Das akademische Studium des Altertums, S. 103. 37 Friedrich Creuzer : Aus dem Leben eines alten Professors. Leipzig 1848, S. 10. 38 Jürgen Paul Schwindt: Einleitung. In: Creuzer : Das Akademische Studium des Altertums, S. VII–XLII, hier S. XII. 39 Antiinstitutionell ist Creuzers Zugangsweise gleichwohl nicht, wie sich am Programm für das Akademische Studium des Altertums, ebenso an den mit dem Heidelberger Theologen Carl Daub (1765–1836) zusammen herausgegebenen Studien (1805ff.) und den Heidelbergischen Jahrbüchern (1808ff.) ablesen lässt.

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einer reflexiven Schleife, aus der es keinen veritablen, vermittelnden Ausweg gibt? Oder erfährt er Ablehnung, weil sein Philologieverständnis trotz des im Brief an Savigny artikulierten Wunsches nach Zusammenarbeit im Kern idiosynkratisch, gerade nicht ›symphilologisch‹ ist?40 Bereits direkt nach der Berufung nach Heidelberg 1804, eigentlich schon als Professor der Eloquenz in Marburg 1800, setzt Creuzer agonal an, wenn er sich mit der universitätspolitischen Situation und der kollegialen Zusammenarbeit befasst.41 Der Verdacht topischer Klage liegt nicht fern, und so stößt man, schreitet man die Topik der gelehrten Zusammenarbeit ab, auf deren Tücken: die Grenzen des gelehrten Miteinander, auf Langeweile, Verachtung, Arroganz und Stumpfsinn, auf Rechthaberei, Missgunst, Unzuverlässigkeit, Korruption, Betrug und Verrat, auf die Ausdrucksformen von Enttäuschung, Überdruss und Entnervtheit. Um im Bild des ›Gehäuses‹ zu bleiben: Spöttisch zeigt Robert Browning (1812–1889) die Grenzen der romantischen Klosterfaszination, wenn er im »Soliloquy of the Spanish Cloister« die Aggressivität ausstellt, die sich in der Klausur anstaut: Statt nach gelehrten Kommentaren suchen die Mönche nach lateinischen und griechischen Schimpfwörtern füreinander. Wenn James Turner (2014) die Geschichte der Philologie von der griechischen Antike bis ins 19. Jahrhundert verfolgt, dann spricht er in solcher Hinsicht von »cloistered bookworms«. Die gelehrte Interaktion betrachtet Turner mit Blick auf die störenden, oppressiven, eskalatorischen Aspekte: »quarreling endlessly in the Muses’ bird-cage«.42 Im Gegensatz zum »cloister« hebt die Metapher des »birdcage« an der Geschlossenheit nicht den Aspekt des Schutzes, sondern eher das Problem der Gefangenschaft hervor – und zwar der allzu geselligen Gefangenschaft, deren Kakophonie durch die ›Gitterstäbe‹ nach außen dringt. Turners Metapher vom Käfig verdankt sich dem Dichterphilosophen Timon von Phleius (320–230 v. Chr.), der das ptolemäische Museion als ein solches ›Gehäuse‹ verspottet, in dem sich Büchermenschen wie eingesperrte Vögel zanken.43 Das Museion, der Musentempel mit seiner Bibliothek, in der die aus öffentlichen Mitteln alimentierten alexandrinischen Gelehrten zusammenkamen, um zu studieren und zu lehren, gilt häufig als Modell des institutionen- und infrastrukturgebundenen philologischen Zusammenwirkens. Zeigt die Stelle, wie eng die Frage der philologischen Interaktion seit den Anfängen an bibliothekarische Infrastruktur geknüpft ist, so gilt das, folgt man Timon von Phleius, 40 Schwindt: Einleitung, S. XIII. 41 Ausführlich bei Engehausen: Creuzers Leben, S. 27–30. 42 James Turner : Philology. The Forgotten Origins of the Modern Humanities. Princeton 2014, S. 3. 43 Vgl. Bernhard Zimmermann u. Antonios Rengakos: Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Bd. 2: Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit. München 2014, Abschnitt: Höfisches Umfeld und Bibliotheken, S. 36.

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keineswegs im harmonischen, gar ›symphilologischen‹ Sinn: Philologische Arbeit besteht seit alexandrinischer Zeit zu erheblichen Anteilen nicht nur aus dem Konflikt um Deutungsansätze, sondern um die infrastrukturellen Bedingungen und Grenzen solcher Deutungsarbeit.

IV.

Rhetorik der Intensität

›Symphilologie‹ ist nicht gleich ›Symphilologie‹: Vielmehr öffnet sich ein breites Spektrum von Kommunikations- und Interaktionsmodi, das von institutioneller Rollenkommunikation über die lockere Kooperation in Fachfragen und lehrstuhl- und projektbezogene Zusammenarbeit bis hin zu freundschaftlicher Vertrautheit in Kernfragen der Forschung, der theoretischen Reflexion und praktischen Umsetzung reicht. Creuzers Verständnis von ›Symphilologie‹, wie es sich im Brief an Savigny artikuliert, setzt gegenüber konventionellen Formen der gelehrten Kommunikation auf Intensivierung und deren Probleme. Es geht in seiner Markierung von Defiziten über institutionelle und infrastrukturelle Fragen hinaus. Aus ihm sprechen nicht zuletzt persönliche Ratlosigkeit und Reorientierungsbedürfnisse – dies nach dem Suizid der Karoline von Günderode (1780–1806), mit der Creuzer für kurze Zeit eine ganz eigene Form der ›Symphilologie‹ und ›Sympoesie‹, nämlich das außereheliche Experiment riskiert hatte, Leben und Bücher zu teilen.44 Aufgrund einer solchen skeptischen Perspektivierung lohnt es sich, die für diesen Band wesentliche Stelle aus Friedrich Schlegels 125. Athenäums-Fragment (1798) einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Der Wortlaut sei noch einmal zitiert: Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich des Gedankens nicht erwehren, zwei Geister möchten eigentlich zusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbunden alles sein, was sie könnten.45

Die Stelle lässt sich zunächst grammatisch entlang der zwei Sätze zergliedern. Während der zweite Teil auf die Utopie fusionierter, individueller Eigenschaften und poetischer Kompetenzen hinausläuft,46 zielt der erste Teil, konkreter und 44 Vgl. zum Hintergrund Dagmar von Gersdorff: »Die Erde ist mir Heimat nicht geworden.« Das Leben der Karoline von Günderrode. Frankfurt a. M. 2006. 45 Schlegel: Die Athenäums-Fragmente, S. 185. 46 Es folgt an der Stelle, weniger häufig zitiert, der im Konjunktiv gefasste Verweis auf die als wünschenswert begriffene Kunst, »Individuen« zu einem künstlichen Individuum »zu ver-

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praktischer, auf wissenschaftliche und künstlerische Prozesse der gemeinsamen Werkkonstituierung. Die konjunktivische Wendung »Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen« wird in ihrem Neuheitspathos durch die Bemerkung »daß es nichts Seltnes mehr wäre« abgeschwächt. Tatsächlich greift die selbstreferentielle Struktur der Athenäums-Fragmente auch hier. »Symphilosophie und Sympoesie« sind zwar noch nicht »allgemein[e]« Praxis, aber auch nicht unerprobt – und prototypisch im Text selbst umgesetzt: Denn was wäre selbiger anderes als das »gemeinschaftliche Werk[ ]« sich »gegenseitig ergänzende[r] Naturen«, nämlich ein Ergebnis der Zusammenarbeit von Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel (1767–1845), Friedrich Schleiermacher (1768–1834) und Friedrich von Hardenberg (1772–1801)? Zweifellos erprobt Schlegel mit einigen seiner Zeitgenossen unkonventionelle Formen des Zusammenlebens und -arbeitens: Mit Friedrich Schleiermacher in der Berliner Wohn- und Lesegemeinschaft, mit Rahel Varnhagen von Ense (1771–1833) und Henriette Herz (1764–1847) in deren Salons, mit dem Bruder August Wilhelm in der Gründung des Athenäum, schließlich in der Wohn- und Dichtgemeinschaft zu viert in Jena mit Dorothea Veit (1764–1839), dem Bruder August Wilhelm und dessen Ehefrau Caroline (1763–1809), mit Besuch von Friedrich von Hardenberg, Sophie Mereau (1770–1806), Clemens Brentano (1778–1842), von Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854). Bezieht sich der Begriff der ›Innigkeit‹ in der AthenäumsStelle auf diese Experimente, so verdeckt er gleichwohl viererlei: Erstens die Bedingungen der individuellen dichterischen und philosophischen, auch der philologischen Arbeit (so als wüssten die einzelnen Gelehrten und Dichter in ihren Schreibklausen nicht um deren institutionellen und kommunikativen Verflechtungen); zweitens die Voraussetzungen gemeinsamer dichterischer und philosophischer, auch philologischer Projekte (so als käme es allein auf die beteiligten »Naturen«, nicht aber auf die Arbeitsbedingungen an); drittens die Probleme solchen Zusammenwirkens (so als würden kooperative und subsidiäre Strukturen zwingend harmonisch verlaufen und zu einer Steigerung der Erträge führen); viertens schließlich die Umsetzung und Kritik solcher Vergemeinschaftung in der longue dur8e (so als wäre das romantische Konzept »ganz neu«). Poetische und philosophische, erst recht philologische Zusammenarbeit ist, so lässt sich zugunsten eines differenzierten Verständnisses der SchlegelStelle ins Feld führen, in erheblichem Maße an die Bereitstellung, Verhandlung und Nutzung infrastruktureller Bedingungen gekoppelt – und dies mit allen schmelzen« und dadurch deren individuelle Fähigkeiten nicht allein zu addieren, sondern ein neues Individuum von umfassenderen oder besser ausbalancierten Fähigkeiten entstehen zu lassen – veranschaulicht am Beispiel des Dichterkollegen Jean Paul und der Figur des Peter Lebrecht (1795) aus Ludwig Tiecks gleichnamiger Erzählung, deren Name von Tieck auch als Pseudonym eingesetzt wird.

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Schwierigkeiten: »Sympoesie« ohne Salons, Zeitschriften und Verlage ist um 1800 schwer vorstellbar, und »Symphilosophie« kaum ohne die disziplinären fakultären Strukturen mit ihren selektiven Mechanismen, ihren Exklusions- und Inklusionsmodi. Solches lässt sich auch für Creuzers Konzept der ›Symphilologie‹ aus dem Savigny-Brief zeigen: Erstens dient es dazu, in der Beschwörung von persönlicher Nähe eine gemeinsame Beobachtungs- und Sprechposition zu erobern, die scheinbar außerhalb der Institutionen steht und deren Modi thematisch machen kann; dabei wird verdeckt, dass es eben die scheinbar unbeteiligt beobachteten und besprochenen Institutionen sind, welche die Voraussetzungen und Ziele solcher Kommunikation abstecken und gewährleisten. Das Freundschafts- und Liebeskonzept radikalisiert die Selektivität der gelehrten Kommunikation. Selektionsüberlegungen lauten bei Creuzer etwa folgendermaßen: Denn 1) an v. Zentner kann ich doch nicht schreiben. 2) an Jacobs wollte ich wohl schreiben. Ich habe die freundschaftlichsten Briefe von ihm. Allein ich muß überhaupt fürchten, daß mir des alten Vossens Haß in München bei Jacobi u. Jacobs schlechte Dienste geleistet hat.47

Romantisch überprägt ist das humanistische Freundschafts- und Liebesverständnis in der Individualitäts- und Ausschließlichkeitsformel: »einzig auf Sie zählen«; dies auch um den Preis der Herabsetzung der solchermaßen exkludierten, sonstigen Mitglieder der philologischen Institutionen: Es gehört zur Sache und ich muß es Ihnen also selbst sagen, daß ich noch niemals mit einem Menschen einen lebendigen gelehrten Verkehr gehabt habe, als mit Ihnen. Seit dem Marburger Aufenthalt stehe ich in diesem Stück ganz allein. Böckh, obwohl von würdiger Denkart und gelehrt, ermangelt doch der Universitalität, um für dasjenige Empfänglichkeit zu behalten, was den Andern gerade jezt interessirt.48

Zweitens hilft das ›Symphilologie‹-Konzept dabei, das Gelingen offener, strategischer Kommunikation zu ermöglichen, indem der Strategieaspekt überblendet wird. Unmittelbar nach der Aufbietung der Innigkeitsrhetorik findet Creuzer zu handfesten finanziellen Fragen: Von 2500 fl schrieb ich, weil ich, falls Landshut so teuer wie Heidelb. jezt ist, bei der anfänglichen Ungewißheit der Honorarieneinnahme, nicht einsehe, wie ich mit viel weniger auskommen kann. Hier kann ich mir fast kein Buch kaufen. Reicht in L. wenigeres hin, so bin ich mit 2000 fl zufrieden.49

Größer könnte der Kontrast zwischen konkreten, ökonomischen und sublimen, erkenntnisbezogenen Interessen nicht sein. 47 Creuzer an Savigny, 31. Mai 1808, S. 244. 48 Ebd. 49 Ebd.

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Keineswegs ist in einer solchen institutionellen und rhetorischen Analyse in Abrede zu stellen, dass Creuzer durchaus ernsthaft das historisch Unerreichbare zurückzugewinnen sucht, nämlich was in religiösen Praktiken der gemeinsamen Lektüre und Auslegung vorgeprägt ist, so bei Augustinus in den Confessiones (VIII, 12) im Anschluss an das tolle, lege-Erlebnis. Auf die Erkenntnis im Zuge der stillen Stellenarbeit folgen der Austausch, das wechselseitige Zeigen von Stellen, das gemeinsame Lesen.50 Tum interiecto aut digito aut nescio quo alio signo, codicem clausi, et tranquillo iam vultu indicavi Alypio. At ille quid in se ageretur – quod ego nesciebam – sic indicavit. petit videre quid legissem: ostendi, et adtendit etiam ultra quam ego legeram. (Conf., ebd.) Alsdann legte ich den Finger oder ein anderes Zeichen hinein, schloß das Buch und erzählte mit ruhiger Miene dem Alypius, was mir geschehen war. Er aber erzählte mir auch, was in ihm vorging und wovon ich nichts wußte. Er wünschte die Stelle zu lesen, ich zeigte sie ihm, und er las auch das Weitere. (Bekenntnisse, ebd.)

Das augustinische Paulus-Studium, wie Benozzo Gozzoli (um 1420–1497) es in dem Fresco »Tolle, lege« (1464) darstellt, vollzieht sich, genau betrachtet, nicht in der Zelle, sondern im Freien; noch genauer gesagt: in einem Wechsel aus Individuallektüre und Austausch. Das gilt auch für die Nachstellung der Szene in Petrarcas Confessiones-Lektüre auf dem Mont Ventoux (1336): Auf den Blick in die Landschaft folgt der Blick in den Augustinus-Text; die scheinbare Einsamkeit ist aufgehoben durch die Schilderung im gelehrten Brief, nämlich an den Augustinermönch, den Freund und Beichtvater Francesco Dionigi (1300–1342).51 Auf eine solche Augustinus-Lektüre verweist noch Creuzers Kollege und Mitherausgeber der Studien, der Theologe Carl Daub (1765–1836), in einem Beitrag zur »Lehre von den symbolischen Büchern« (1805).52 Die augustinische Hermeneutik De doctrina christiana (Buch 1) kann der Zeichen- und Interpretationslehre (Buch 2 und 3) das Liebesgebot aus dem Johannes-Evangelium (13,34; 15,12–17) mit dem Hinweis voranstellen, die »Liebe« zu Gott und den Mitmenschen sei zugleich »Grundlage und Ziel aller Schriftauslegung«.53 So attraktiv das augustinische Versprechen 50 Vgl. zur hermeneutischen Stellenarbeit Wolfgang Braungart u. Joachim Jacob: Stellen, schöne Stellen. Oder : Wo das Verstehen beginnt. Göttingen 2012 (Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik Bd. 1), insbes. S. 17–23 u. S. 66–74; Eva Geulen: Stellen-Lese. In: Modern Language Notes 116 (2001), H. 3, S. 475–501. 51 Vgl. Christian Moser : Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2006 (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Bd. 36), S. 387–709. 52 Carl Daub: Orthodoxie und Heterodoxie, ein Beitrag zur Lehre von den symbolischen Büchern. In: Carl Daub u. Friedrich Creuzer (Hg.): Studien. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1805, S. 104–173, hier S. 139. 53 Augustinus: De doctrina christiana. Hg. u. übers. v. Karla Pollmann. Stuttgart 2002, I, 22 [S. 27]; dazu das Nachwort der Herausgeberin, S. 264.

Philologische Zusammenarbeit und institutionelle Infrastruktur

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einer Balance von solitärer und gemeinsamer Textarbeit, von persönlichen Intensitätserlebnissen und deren Fügung ins ›Gehäuse‹ erscheinen mag: Für die institutionell ausgebaute, professionalisierte und disziplinarisierte Grammatik, Kritik und Hermeneutik um 1800 ist solche »Liebe« nurmehr ein leistungsstarkes Zitat. ›Symphilologie‹ ist nicht mehr »Grundlage und Ziel«, sondern ein rhetorisches Regulativ im philologischen Betrieb, der im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Großbetrieb werden wird.

Sektion II: Projekte

Stefanie Stockhorst

Zur Archäologie der philologischen Zusammenarbeit am Beispiel der Fruchtbringenden Gesellschaft: Programm, Projekte und Praxis*

I.

Einleitung

Infolge von Komplexitätszuwachs der Gegenstände, Professionalisierung und Institutionalisierung, gepaart mit dem Anspruch auf methodische Konsistenz und systematische Vollständigkeit, wurde es spätestens im Laufe des 19. Jahrhunderts immer schwieriger, die großen Herausforderungen des philologischen Arbeitens – allen voran Edition und Lexikographie – im Alleingang zu bewältigen. So klagte Wilhelm Grimm aus gegebenem Anlass in einem Brief an Goethe vom 1. August 1816, die wissenschaftliche Aufarbeitung der älteren deutschen Literatur nehme, gegeben die Leistungsfähigkeit einzelner Forscher, viel zu viel Zeit in Anspruch: »Diesem Mangel scheint nur ein geselliges Arbeiten und Unterstützung von oben her abzuhelfen.«1 Offensichtlich richtet sich sein Wunsch nicht auf die traditionelle Geselligkeit der Salons und Tafelrunden, sondern auf die Einrichtung von aus öffentlicher Hand finanzierten philologischen Großprojekten mit weisungsgebundenen Mitarbeiterstäben. Stärker paritätisch ausgerichtete Formen der philologischen Zusammenarbeit als die von Grimm gewünschten kamen im deutschen Sprachraum indes schon rund 200 Jahre vor seinem Brief mit der Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft auf. Bei dieser Gesellschaft handelt es sich um die erste, mitgliederstärkste und einflussreichste unter den deutschsprachigen literarischen Sozietäten des Barock. Sie setzte sich – mit philologischem Erkenntnisinteresse und sowohl po* Großer Dank gilt Andreas Herz (Wolfenbüttel), der mir mit überwältigender Sachkenntnis gezeigt hat, welche Zusammenhänge und Materialien für meine Fragestellung ergiebig sein würden, wichtige Anregungen machte und mir damals noch unveröffentlichte Forschungsarbeiten im Typoskript zur Kenntnis gab. 1 Wilhelm Grimm an Johann Wolfgang von Goethe, 1. August 1816. In: Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6. Bdn. Hg. v. Karl Robert Mandelkow. Briefe an Goethe, Bd. 2: Briefe der Jahre 1809–1832. München 1988 [Taschenbuchausgabe der 3. Aufl., München 1988], S. 195–199 (Nr. 457), hier S. 199.

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litischen als auch konfessionellen Absichten – programmatisch für die Erforschung, Regulierung und Verwendung der deutschen Sprache ein.2 Die Gründung erfolgte durch eine gute Handvoll Fürsten und Hofleute, an der Spitze stand Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen (1579–1650).3 Schnell fand sie große Verbreitung unter »den Fürsten, Räten und Adligen Deutschlands und unter den Angehörigen der Führungsschichten anderer europäischer Länder«.4 Als Fürst Ludwig starb, verzeichnete die Fruchtbringende Gesellschaft die »außergewöhnlich große Zahl von 527 Mitgliedern«.5 Obwohl die Mitgliederstruktur in hohem Maße adelig geprägt war, beschränkte die Gesellschaft ihren Aktionsradius nicht auf dieses Milieu, sondern »öffnete ihre Reihen Gelehrten aus anderen gesellschaftlichen Bereichen«.6 Die »große Bedeutung, die ihre Sprachpflege für so viele kulturelle, ethische, religiöse, soziale und selbst für politische Belange gewinnen sollte«,7 verdankt sich einem wichtigen ›Alleinstellungsmerkmal‹ gegenüber anderen zeitgenössischen Reformbewegungen. Sie kennzeichnete sich durch eine zeitgemäße und anschlussfähige Fokussierung, denn es konzentrierte sich der Reformationsgedanke in der Fruchtbringenden Gesellschaft auf die Sprache und des weiteren auf die Motivierung der Führungsschicht für eine Reform der Wissenschaft, religiösen Erbauung, Sittlichkeit und Literatur aus dem Geist einer christlichen, nichtkonfessionellen und patriotischen, jedoch friedlichen Selbsterneuerung.8

Begreift man die universitäre deutsche Philologie als »Kommunikationsgemeinschaft von Spezialisten, die auf gemeinsame Problemstellungen und Gegenstände verpflichtet sind«,9 so bestehen durchaus Übereinstimmungen mit 2 Vgl. im knappen Überblick zu den literarischen Sozietäten der Frühen Neuzeit im europäischen Kontext Stefanie Stockhorst: Art. ›Sprachgesellschaft‹. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern hg. v. Friedrich Jaeger. Bd. 12: Silber – System. Stuttgart 2010, Sp. 456–464. 3 Vgl. Klaus Conermann: Zum vorliegenden Bande. In: Die Deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesellschaft. Kritische Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten (Reihe I), Dokumente und Darstellungen (Reihe II). Im Auftrag der Herzog August Bibliothek hg. v. Martin Bircher u. Klaus Conermann. Fürst Ludwig von AnhaltKöthen. Werke. Erster Band. Hg. v. Klaus Conermann. Die ersten Gesellschaftsbücher der Fruchtbringenden Gesellschaft (1622, 1624 und 1628). Johannis Baptistae Gelli Vornehmen Florentinischen Academici Anmutige Gespräch Capricci del Bottaio genandt (1619). Reihe II. Abteilung A: Köthen. Bd. 1. Tübingen 1992, S. *1–*41, hier S. *4. 4 Conermann: Zum vorliegenden Bande, S. *4. 5 Ebd., S. *5. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Holger Dainat u. Rainer Kolk: »Geselliges Arbeiten«. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift

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der Fruchtbringenden Gesellschaft, wenn man die Formulierung leicht modifiziert und stark differenziert. Sie ließe sich dann im Sinne einer richtungweisenden Vor- und Frühgeschichte des Faches verstehen als Kommunikationsgemeinschaft von Spezialisten – obgleich bestallte Gelehrte wie der Wittenberger Rhetorikprofessor Augustus Buchner (1591–1661) die Ausnahme unter den Mitgliedern bildeten – und interessierten bzw. wohlwollenden Dilettanten, die weder professionell noch institutionell eingebunden waren, wohl aber aus Überzeugung gemeinsame Problemstellungen und Gegenstände verfolgten. Diese gehörten im weitesten Sinne der Philologie an, ein Terminus, der bereits damals gebräuchlich war und »nichts anderes als die Wissenschaft der Sprachen«10 bezeichnete. Im Unterschied zu den Universitäten bot die Fruchtbringende Gesellschaft weder Lehrveranstaltungen noch Nachwuchsförderung – wer hier zu Wort kam, konnte schon fachliche Meriten vorweisen. Was die Arbeit der Fruchtbringer ausmacht, ist eine frühneuzeitliche Form der Vergesellschaftung von philologischen Interessen oder, wenn man so möchte, Verbundforschung zu vormodernen Konditionen. Vor wenigen Jahren schürten Steffen Martus und Carlos Spoerhase die germanistikgeschichtliche Aufmerksamkeit dafür, dass das »einer Disziplin Gemeinsame […] weniger auf der Ebene von geteilten Gegenstandsbereichen, Problemstellungen, Theorien und Methoden zu finden [sei] als auf der Ebene eines geteilten Repertoires an Praktiken«.11 Die Herausbildung dieser Praktiken in der deutschen Philologie beginnt freilich lange vor ihrer Etablierung als universitärer Disziplin. Im Folgenden sollen die Funktionsweisen dieses überaus effizienten Kooperationsnetzwerkes vor der Institutionalisierung des Faches durchleuchtet werden, was insofern relevant erscheint, als die Ergebnisse und Praxisformen eines Faches nicht nur synchron aufeinander verwiesen sind,12 sondern durch ihre konventionelle Genese auch eine zutiefst historische Prägung besitzen. Die überlieferten Zeugnisse der Fruchtbringenden Gesellschaft lassen erkennen,13 wie teils bis heute übliche philologische Praktiken ausgehandelt und diskursiv bzw. performativ etabliert wurden, während noch die

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für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987) [Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp], S. 7*–41*, hier S. 7*. Johann Andreas Fabricius: Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. Bd. 1. Leipzig 1752 [Reprint Hildesheim u. New York 1978], S. 67. Steffen Martus u. Carlos Spoerhase: Praxeologie der Literaturwissenschaft. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 35/36 (2009), S. 89–96, hier S. 90. Vgl. Peter J. Brenner : Einleitung: Die ›Lebenswelt‹ der Literaturwissenschaft als Forschungsgegenstand. In: ders. (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 7–17, bes. S. 9. Vgl. mit anderen Beispielen zur Vorgeschichte der Germanistik im 17. Jahrhundert Dainat u. Kolk: »Geselliges Arbeiten«, bes. S. 8*–12*.

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ältere, außerwissenschaftliche Praxisform der höfischen Konversationskultur die Zusammenarbeit regulierte. Der Fokus der nachstehenden, ohnedies höchst exemplarischen Untersuchung liegt auf den Praktiken der Zusammenarbeit unter den Fruchtbringern, sodass die Auseinandersetzung mit den Gegenständen ihrer Projekte auf das zum Verständnis Nötige beschränkt wird. Dabei werden die Begriffe ›Zusammenarbeit‹ und ›Kooperation‹ synonym verwendet für gegenstands- bzw. problembezogene Aktivitäten, an der, ungeachtet der Anteile und Hierarchien, mehr als ein wissenschaftliches Subjekt mitwirkt.

II.

Programm: Minimalstatuten und konversationelle Zusammenarbeit

Die formale Organisation der Fruchtbringenden Gesellschaft zeichnete sich durch den weitgehenden Verzicht auf explizite Regularien aus. Es gab weder ausgearbeitete Statuten noch eine Geschäftsordnung, keine Protokolle oder auch nur turnusmäßige Mitgliederversammlungen, schon gar nicht im Plenum. Auch eine »feudale Privilegierung oder die rechtlichen Formen der Ämterorganisation, der Gütergemeinschaft oder des Syndikats [gehörten] nicht zu den konstitutiven Merkmalen«14 der Fruchtbringer, die sich nicht zu einer rechtsfähigen Körperschaft, sondern zu einer Gesellschaft zusammengeschlossen hatten. Dies brachte größere individuelle Handlungsspielräume mit sich, aber zugleich auch größere Risiken des Scheiterns: »Für die Erreichung des Verbandszwecks«, so Conermann, »sind die Gesellschafter unmittelbar verantwortlich, so daß Gesellschaften immer unstabil bleiben und oft wenig erfolgreich sind.«15 Trotzdem besaßen die Fruchtbringer im Ergebnis funktionierende »Verkehrsformen, die als Gewohnheiten zwar entwicklungsfähig waren, aber nicht einer systematischen vereinsrechtlichen Regelung unterlagen«.16 Einen knappen Einblick in das institutionelle Selbstverständnis der Gesellschaft vermittelt der Kurtze Bericht der Fruchtbringenden Gesellschafft Zweck und Vorhaben,17 enthalten im ersten Gesellschaftsbuch (1622), im dritten Ge14 Klaus Conermann: Die Tugendliche Gesellschaft und ihre Verhältnis zur Fruchtbringenden Gesellschaft. Sittenzucht, Gesellschaftsidee und Akademiegedanke zwischen Renaissance und Aufklärung. In: Daphnis 17 (1988), H. 3 [Themenheft: Sprachgesellschaften – Galante Poetinnen. Hg. v. Erika A. Metzger u. Richard E. Schade], S. 513–626, hier S. 532. 15 Conermann: Die Tugendliche Gesellschaft, S. 533. 16 Ebd., S. 534. 17 Kurtzer Bericht der Fruchtbringenden Gesellschafft Zweck und Vorhaben. Gedruckt zu Cöthen / Jm Jahr / 1622. In: Die Deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesellschaft. Kritische Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten (Reihe I), Dokumente und Darstellungen (Reihe II). Im Auftrag der Herzog August Bibliothek hg. v. Martin Bircher u. Klaus Conermann. Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen. Werke. Erster Band.

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sellschaftsbuch (1628) sowie fast unverändert auch in den folgenden Ausgaben (1629/30, 1641/44 und 1646). Dieser Text, der von allen Fruchtbringer-Dokumenten einer Satzung am nächsten kommt, erklärt die Fruchtbringer als »Fürstlicher und Adelicher Personen zusammenkunfft«,18 ohne jedoch auf den im gesellschaftsinternen Umgang gepflegten Egalitarismus einzugehen. Der Status der Mitglieder innerhalb der Gesellschaft bestimmte sich nicht nach dem (adelsinternen) sozialen Rang, der vielmehr durch Gesellschaftsnamen symbolisch verdeckt wurde, sondern nach der Aufnahmereihenfolge.19 Als höchster Leitgedanke wird die »anreitzung der löblichen Jugend / zu allerley hohen Tugenden« genannt, was man über den Weg der Sprachpflege nach dem Vorbild der europäischen Nachbarländer, insbesondere der zeitgenössischen italienischen Akademien, zu erreichen hoffte, »beydes zuerhaltung guten vertrawens / erbawung wolanstendiger Sitten / als nützlicher außübung jedes Volcks LandsSprachen / auffgerichtet«.20 Auch wenn es sich demnach bei der Spracharbeit ›nur‹ um ein Mittel zum Zweck handelte, wurde sie mit kompetitivem Ehrgeiz zum Programmwert erhoben, gingen die Fruchtbringer doch von der Prämisse aus, dass »unsere weitgeehrte hochdeutsche Muttersprache / so wol an alter / schönen und zierlichen Reden / als auch an überfluß eigentlicher und wolbedeutlicher Wort / so jede Sachen besser als die Frembden recht zu verstehen geben können / einen nicht geringen vorzug hat«.21 Vor dem Hintergrund der sprachpatriotischen Zwecksetzung wird der Bogen zu den übergeordneten Zielen geschlagen, zu deren Beförderung die Fruchtbringer ein Netzwerk von Gleichgesinnten bieten wollten. Man habe deshalb beschlossen, die Gesellschaft »doch also anzurichten / damit jedermänniglichen / so ein Liebhaber aller Erbarkeit / Tugend und Höfligkeit / vornehmlich aber des Vaterlands / durch anleitung der darzu erkornen überflüssigen Matery / anlaß hette / desto eher nach einnehmung dieses guten vorhabens sich freywilliglich da hinein zubegeben«.22 Ähnlich wie im heutigen corporate design gab sich die Gesellschaft ein

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20 21 22

Hg. v. Klaus Conermann. Die ersten Gesellschaftsbücher der Fruchtbringenden Gesellschaft (1622, 1624 und 1628). Johannis Baptistae Gelli Vornehmen Florentinischen Academici Anmutige Gespräch Capricci del Bottaio genandt (1619). Reihe II. Abteilung A: Köthen. Bd. 1. Tübingen 1992, S. [7]–[10]. Kurtzer Bericht der Fruchtbringenden Gesellschafft, S. [8]. Vgl. Klaus Conermann, Andreas Herz u. Helwig Schmidt-Glintzer : Die Fruchtbringende Gesellschaft. Gesellschaftsgedanke und Akademiebewegung. In: Detlef Döring u. Kurt Nowak (Hg.): Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820). Teil I. Stuttgart u. Leipzig 2000 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse Bd. 76, H. 2), S. 19–38, hier S. 20f. Kurtzer Bericht der Fruchtbringenden Gesellschafft, S. [8]. Ebd. Ebd., S. [8]f.

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sinnbildliches Erkennungszeichen, nämlich den Früchte tragenden, unbeugsam in die Höhe wachsenden Palmbaum (daher auch die Bezeichnung ›Palmenorden‹) und wählte als Motto Alles zu Nutzen, weil »in und bey dieser Gesellschaft alles zu nutzen / frommen und ergetzung / niemand aber zu leide / schaden oder verdruß gerichtet sein«23 sollte. Zudem besaßen alle Mitglieder einen Gesellschaftsnamen sowie ein dazu passendes individuelles Emblem mit einem Bildgegenstand aus dem weiteren Bereich von der heimischen und exotischen Flora, des Feldbaus und der Pflanzenzucht. Sie sollten nicht allein auff eine besondere Matery jhren Nahmen richten / sondern auch ein darzu bequemes Gemähld jhnen wehlen / und ein darauff sich wolschickendes Wort / den zweck und die bedeutung machende / drüber austrücken lasse / wie solchem zu folge ein jedweder Gesellschaffter / der hinein zu treten gesinnet / auch zuthun schuldig.24

Die durchgängige botanische Metaphorik steht für Artenvielfalt, Wachstum und Ertrag, um zu vergegenwärtigen, dass man »überall frucht zuschaffen gefliessen seyn«25 sollte. Der vielfältige Nutzen der Pflanzen erstreckt sich auf ihre Verwendung als Nahrungs- und Genussmittel, als phytotherapeutische materia medica, als Baustoffe u. v. m., und die jeweiligen Eigenschaften wurden in den Auslegungsversen zu jeder Imprese ins Moralische und Religiöse transzendiert. Pflanzen boten sich der Fruchtbringenden Gesellschaft auch aufgrund ihrer Friedfertigkeit an, während die Tierwelt von Nahrungskampf und Fraß untereinander geschlagen war.26 Als Vereinsabzeichen sollte jedes Mitglied eine kleine Gesellschaftsmedaille anfertigen lassen und tragen, die »deren in Golt geschmeltztes Gemählde / Nahmen und Wort auff der einen wie auch sein selbst eigenes / auf der ander seiten an einem sittich grünen seiden Band«27 Etliche Fruchtbringer-Porträts zeigen das Mitglied mit einem solchen ›Gesellschaftspfennig‹. Der Sinngehalt dieser emblematisch aufgeladenen Gesellschaftspfennige ist nicht zu unterschätzen. Bei isolierter Betrachtung stimmt es, wenn Manger feststellt, die Prinzipien des Gesellschaftsbuches »verraten […] nichts, was über Sprachpflege, Verhaltenslehre und Erkennungsmerkmal hinausginge«.28 Denn das erklärte Selbstverständnis der Gesellschaft beschränkt sich im Grunde auf 23 24 25 26

Ebd., S. [9]f. Ebd., S. [9]. Ebd. Vgl. dazu im einzelnen Andreas Herz: Die Namen der Pflanzen. In: Zeitschrift für Ideengeschichte VII (2013), H. 1, S. 48–55. 27 Kurtzer Bericht der Fruchtbringenden Gesellschafft, S. [10]. 28 Klaus Manger: Teutschhertziger Kulturpatriotismus in der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: ders. (Hg.): Die Fruchtbringer – eine Teutschhertzige Gesellschaft. Heidelberg 2001 (Jenaer Germanistische Forschungen; N. F. Bd. 10), S. 79–104, hier S. 84.

Zur Archäologie der philologischen Zusammenarbeit

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zwei Direktiven. Die erste richtet sich formal auf gefällige und gesellige Umgangsformen: Erstlichen daß sich ein jedweder in dieser Gesellschafft / erbar / nütz= und ergetzlich bezeigen / und also überall handeln solle / bey Zusammenkünfften gütig / frölig / lustig und erträglich in worten und wercken sein / auch wie darbey keiner dem andern ein ergetzlich wort für übel auffzunehmen / also sol man sich aller groben verdrießlichen reden / und schertzes darbey enthalten.29

Die zweite verlangt noch einmal dezidiert das Engagement für die Reinheit der deutschen Hochsprache: Fürs ander / daß man die Hochdeutsche Sprache in jhren rechten wesen und standt / ohne einmischung frembder außländischer wort / auffs möglichste und thunlichste erhalte / und sich so wohl der besten außsprache im reden / alß reinesten Art im schreiben und Reimen=dichten befleißigen.30

Die tatsächliche Komplexität und der Nuancenreichtum der Fruchtbringerprogrammatik lassen sich hieraus nur bedingt erkennen. Ablesbar sind sie vielmehr aus den Gesellschaftsnamen und Emblemen der Mitglieder, die allerdings der kundigen Entschlüsselung bedürfen,31 sowie nicht zuletzt aus den Werken und Briefen der philologisch und literarisch aktiven Mitglieder. Was die Verkehrsformen der Mitglieder untereinander betraf, gab es keine weitergehenden Festsetzungen. Allerdings war das in einer adelsdominierten Vereinigung wie der Fruchtbringenden Gesellschaft auch nicht zwingend erforderlich, weil die Mitglieder ohnehin über einen gemeinsamen Comment für die Interaktion verfügten. Er speist sich aus bekannten und bewährten höfischen Verhaltensnormen, wie sie maßgeblich Baldassare Castiglione in seinem Libro del Cortegiano (1528) zusammengetragen hatte. Im Kreis der Fruchtbringenden Gesellschaft orientierte man sich insbesondere an dem »umfassenden, ständeübergreifenden Modus gesellschaftlicher Kommunikation«, den Stefano Guazzo in La Civil Conversatione (1584) vertrat und der insofern mit den Praxisformen der Fruchtbringer übereinstimmte, als es sich dabei um »eine a- und antizeremonielle Höflichkeit«32 handelte. Das höfische Verhaltensideal der conversatio, 29 30 31 32

Kurtzer Bericht der Fruchtbringenden Gesellschafft, S. [10]. Ebd. Vgl. Conermann: Zum vorliegenden Bande, S. *7. Conermann, Herz u. Schmidt-Glintzer : Die Fruchtbringende Gesellschaft, S. 24; vgl. ausführlich zu italienischen Vorbildern der akademischen Konversation Klaus Conermann: War die Fruchtbringende Gesellschaft eine Akademie? Über das Verhältnis der Fruchtbringenden Gesellschaft zu den italienischen Akademien. In: Martin Bircher u. Ferdinand van Ingen (Hg.): Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 28. bis 30. Juni 1977. Vorträge und Berichte. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 7), S. 103–130, hier S. 112ff., S. 116f. u. S. 121f.

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»sowohl auf den menschlichen Umgang im allgemeinen als auch auf den sprachlichen Verkehr, die Konversation, im besonderen gerichtet«, machte, so Conermann zutreffend, nicht weniger als »den Kern des Programms«33 der Fruchtbringenden Gesellschaft aus. Bei aller Vorliebe für das Geistreiche, Spielerische und Leichte blieb die Interaktionsform der conversatio keineswegs unverbindlich; vielmehr ist sie, wie Merzbacher erläutert, als »Teil höfischer Kultur […] Erkenntnisarbeit und Kunstspiel zugleich, auf Mündlichkeit beruhend«.34 Dass bei Zusammenkünften der Mitglieder ein durchaus feucht-fröhlicher Rahmen geschaffen wurde,35 hängt vor diesem Hintergrund sicher nicht nur mit den opulenten Bewirtungskonventionen des Barock zusammen, sondern auch mit der heutzutage allzu oft unterschätzten Absicht, in der zwanglosen Geselligkeit von Symposien in platonischer Tradition ohne Themenbindung und Berichtspflicht Netzwerke zu knüpfen, Projekte zu entwerfen, Thesen argumentativ zu erproben und Kreativität freizusetzen, eine Form der conversatione allegra, wie sie – aus gutem Grund – schon bei den Gastmählern (stravizzi) der italienischen Akademien üblich war. Neben der höfischen conversatio bot auch das Tugendideal der Fruchtbringer eine wichtige Orientierung für das Verhalten der Mitglieder, was der Teutsche Palmbaum (1647) des Wolfenbütteler Hofbeamten Carl Gustav von Hille (vor 1590–1647) verdeutlicht. Es handelte sich dabei, so der Untertitel, um eine Lobschrift Von der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft, in der Hille am Ende des Dreißigjährigen Krieges dafür eintrat, nicht nur nach Weisheit zu streben, sondern auch nach Eintracht, um den Verlust von Treue bzw. Vertrauen zu beheben. Prägnant fordert er, »daß man das Teutsche Vertrauen mündlich und schriftlich wieder aufrichte / befördere / erhalte: Die Warheit in Reden und Schreiben hervorleuchten lasse / von derselben keines Weges absetze; sondern vielmehr derselben die Larve des Betrugs abnehme«.36 Den Angelpunkt seiner

33 Conermann: War die Fruchtbringende Gesellschaft eine Akademie?, S. 113. 34 Dieter Merzbacher: Conversatio und Editio. Textkorrektur in der Fruchtbringenden Gesellschaft und editorische Wiedergabe aufgezeigt an zwei Texten Christoph von Dohnas (1582–1637). In: Martin Stern unter Mitarbeit v. Beatrice Grob, Wolfram Groddeck u. Helmut Puff (Hg.): Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Basler Editoren-Kolloquium 19.–22. März 1990, autor- und werkbezogene Referate. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio Bd. 1), S. 35–51, hier S. 38. 35 Vgl. Günther Hoppe: Traditions- und Spannungsfelder um die Fruchtbringende Gesellschaft im Spiegel ihres Alltags (1617–1629). In: Klaus Garber u. Heinz Wismann unter Mitwirkung v. Winfried Siebers (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Bd. II. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit Bd. 27), S. 1230–1260, hier S. 1249. 36 Carl Gustav von Hille: Der Teutsche Palmbaum: Das ist / Lobschrift Von der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft / Anfang / Satzungen / Vorhaben / Namen / Sprüchen / Gemählen / Schriften und unverwelklichem Tugendruhm. In: Fruchtbringende Gesellschaft.

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Schrift bildet die »Einsicht in die Unhintergehbarkeit einer verlässlichen Kommunikation und Ausgleichsbereitschaft für eine friedliche Vergesellschaftung«,37 was im Großen die Politik betraf, im Kleinen aber auch den Umgang der Mitglieder untereinander, mithin nicht zuletzt deren philologische Kooperation, regulierte. An Aktualität hat diese Einsicht, die der Herausbildung einer disziplinären Ethik in der deutschen Philologie lange vorausgeht,38 nichts verloren, wie die Zusammenschau von fachübergreifenden methodischen und ethischen Standards in den Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis (1998/2013)39 vor Augen führt. Als wichtigstes institutionengeschichtliches Modell sowohl für die volkssprachlichen Erkenntnisinteressen als auch für die nicht satzungsmäßig, sondern konversationell geregelten Verkehrsformen der Fruchtbringenden Gesellschaft darf die 1582 in Florenz gegründete Accademia della Crusca gelten, der Ludwig von Anhalt-Köthen unter dem Gesellschaftsnamen L’Acceso (dt. Der Entzündete) als erstes deutsches Mitglied angehörte, wenngleich die ›deutsche Akademie‹ insbesondere mit der Dominanz von Protestantismus, Patriotismus und Sprachpurismus durchaus ein eigenes Gepräge aufwies.40 Umgekehrt steht die Fruchtbringende Gesellschaft in Vorläuferschaft zu den späteren staatlichen Akademien der Wissenschaften, die flankierend zu den Universitäten wichtige Impulse für die Forschung gaben und im 18. Jahrhundert auf dem Gebiet der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung Funktionen der literarischen Sozietäten übernahmen.41 Während es sich jedoch bei Akademien um Einrichtungen eines Staates handelte, die jeweils unter der Obhut eines Landesherren von diesem oft auch finanzielle und personelle Mittel für die Forschung erhielten,42 strebte die Fruchtbringende Gesellschaft – freilich unter der Ägide Fürst Ludwigs – im Interesse von Überstaatlichkeit danach, möglichst

37 38

39 40 41

42

Quellen und Dokumente in vier Bdn. Bd. 2. Hg. v. Martin Bircher. München 1970 [Reprint der Ausgabe Nürnberg 1647], S. 77. Andreas Herz: Aufrichtigkeit, Vertrauen, Frieden. Eine historische Spurensuche im Umkreis der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Euphorion 105 (2011), S. 317–359, hier S. 359. Vgl. zu den Anfängen im Rahmen der universitären Institutionalisierung des Faches Rainer Kolk: Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), S. 51–73. In aktueller Fassung online unter http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_ stellungnahmen/download/empfehlung_wiss_praxis_1310.pdf [29. 07. 2015]. Vgl. zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden ausführlich Conermann: War die Fruchtbringende Gesellschaft eine Akademie?, S. 103–130. Vgl. Jürgen Kiefer: Vom Nutzen der Akademien der Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. In: Klaus Manger im Auftrag der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt (Hg.): Convivium Academicum. Vorträge im Jubiläumsjahr 2004. Erfurt 2006, S. 47–59, hier S. 53 u. S. 56. Vgl. Kiefer : Vom Nutzen der Akademien, bes. S. 47.

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viele Fürsten zu integrieren,43 ohne über ein eigenes Forschungsbudget zu verfügen. Weitere Unterschiede liegen in der »deutliche[n] utilitaristische[n] Ausrichtung«44 der Akademien und in ihrem zunehmend bürgerlichen Gepräge, mit der die Ablösung spielerisch-konventioneller Umgangsformen durch eine kritische, eben akademische Streitkultur einherging. Als freier Personenbund, der jenseits von sozialer Stellung und ohne staatliches Patronat ebenso für humanistische wie für humane Zielsetzungen eintrat, kann die Fruchtbringende Gesellschaft im weiteren Sinne nämlich auch als Vorläuferin für Bünde wie die Illuminaten angesehen werden.45

III.

Projekte: Zum Verhältnis von kollektiven Zielen und individuellen Leistungen

Unter den Betätigungsfeldern der Fruchtbringer mit der größten ›Sichtbarkeit‹ im Sinne der gegenwärtigen hochschulpolitischen Begriffsverwendung rangieren Lexikon, Orthographie, Grammatik, Rhetorik, Poetologie, Poesie und Übersetzungen (zur Erprobung und Verbesserung der eigenen Sprache)46 ganz oben. Nach 31-jährigem Bestehen der Gesellschaft bilanziert ihr Gründungsdirektor Ludwig von Anhalt-Köthen sichtlich zufrieden, dass das durch einschlägige Publikationen der Mitglieder in den Vordergrund gerückte Projekt, die »fortpflantzung der Muttersprache«, im Verbund der Mitglieder aus Lehr-, Ehrund Wehrstand erfolgreich betrieben worden sei: Das fürnemste aber ist, das von anfang her und noch, bis nun in das einund dreyssigste Jhar, in der geselschaft wol erwogen und betrachtet gewesen das von wegen der freyen künste wissenschaft, die gelehrten, auch edel, sowol als die erfarnen in waffen gehalten werden können, so doch die feder am meisten führen müßen, nicht möchten ausgeschlossen sein, und man ihrer nützlich, Zu fortpflantzung der Muttersprache, Zu gebrauchen, inmassen auch solches vielfältig von ihnen geschehen, und an den Tag gekommen.47

43 44 45 46

Vgl. Conermann, Herz u. Schmidt-Glintzer : Die Fruchtbringende Gesellschaft, S. 28 u. S. 35. Kiefer : Vom Nutzen der Akademien, S. 58. Vgl. Conermann: Die Tugendliche Gesellschaft, S. 551. Vgl. zusammenfassend zu den Übersetzungsaktivitäten der Fruchtbringenden Gesellschaft Ulrike Gleixner : Sprachreform durch Übersetzen. Die Fruchtbringende Gesellschaft und ihre »Verdeutschungsleistung« in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Werkstattgeschichte 48 (2008), S. 7–23. 47 Ludwig von Anhalt Köthen an Rudolph von Dietrichstein, 18. Januar 1648. In: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke. Urkundlicher Beitrag zur Geschichte der deutschen Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert. Leipzig 1855 [Reprint Hildesheim u. New York 1973], S. 98.

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Allerdings erlangte die Fruchtbringende Gesellschaft ihr spezifisches »sprachwissenschaftlich-literarisches Profil«, mit dem sie die größte und nachhaltigste Wirkung erzielte, »vor allem seit den 1640er Jahren«,48 also vergleichsweise spät. Bis dahin waren ihr Zusammenhalt und ihre Aktivitäten von der Selbstverständigung mit Bekenntnis zu einer gemeinsamen Tugendprogrammatik getragen, die »als erstes Gesellschaftsziel«49 gelten darf. Sie bildete die Grundlage für die angestrebte politische und religiöse Erneuerung auf einer gemeinsamen Wertebasis. Die konfessionelle Stoßrichtung erhielt im letzten gedruckten Gesellschaftsbuch von 1646 insofern eine besondere Pointe, als dort für die Gründung der FG 1617 Rückbezug auf das hundertjährige Reformationsjubiläum, genommen wurde. Eine solche explizite Traditionsstiftung zum Reformationsjahr 1517, da das Wort Gottes und die Verkündigung des Evangeliums unverfälscht gegeben worden seien und so ein unschlagbares apologetisches und symbolkräftiges Argument für den Sprachausbau der deutschen Muttersprache in Stellung gebracht werden konnte, fehlte noch im Kurtzen Bericht von 1622.50 In der Fruchtbringer-Bewegung, die sich ausdrücklich auf die Pflege des (vernakulären) Wortes verpflichtete, fungierte der reformatorische Grundsatz des sola scriptura mit entsprechenden Reinheits- und Klarheitsimplikationen nicht nur als Quasi-Glaubensbekenntnis in der Frühgeschichte der deutschen Philologie, sondern zielt auch ganz konkret auf die »Reinigung der Kirchensprache vom Lateinischen«.51 Trotz konfessioneller und politischer Ziele52 bildete die Fruchtbringende Gesellschaft jedoch, wie Andreas Herz und Gabriele Ball betonen, »kein protestantisches Kampf- und Verteidigungsbündnis, keine anti-habsburgische Sammelbewegung in einem militanten Sinne, auch wenn es Impulse dazu bei den Fruchtbringern gegeben haben mochte«.53 Geschaffen wurde vielmehr eine 48 Georg Schmidt: Die Anfänge der Fruchtbringenden Gesellschaft als politisch motivierte Sammlungsbewegung und höfische Akademie. In: Klaus Manger (Hg.): Die Fruchtbringer – eine Teutschhertzige Gesellschaft. Heidelberg 2001 (Jenaer Germanistische Forschungen; N. F. Bd. 10), S. 5–37, hier S. 37. 49 Hoppe: Traditions- und Spannungsfelder, S. 1238. 50 Vgl. zum weiteren Kontext von Deutschsprachigkeit und Konfessionalisierung Klaus Garber : Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche ›Barock‹-Literatur. Zu den konfessionspolitischen Ursprüngen der deutschen Nationalliteratur. In: Heinz Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der zweiten Reformation. Gütersloh 1986 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Bd. 195), S. 317–348. 51 Conermann: Die Tugendliche Gesellschaft, S. 569. 52 Vgl. Schmidt: Die Anfänge der Fruchtbringenden Gesellschaft, bes. S. 21–37. 53 Andreas Herz u. Gabriele Ball: Eine deutsche Akademie im Spannungsfeld von Sprache, Kultur und Politik: Die Fruchtbringende Gesellschaft. In: Konrad Scheuermann u. Jördis Frank (Hg.): neu entdeckt / Thüringen – Land der Residenzen. Katalog 1, S. 132–146, hier S. 135.

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herrschafts- und hierarchiereduzierte Plattform für den produktiven Austausch über die linguistischen, rhetorischen, poetologischen und ethischen Dimensionen der deutschen Sprache. Deren Beherrschung galt in der Frühen Neuzeit als Schlüsselkompetenz, sah man sie nicht nur als wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Mensch und Tier, sondern wegen eines postulierten Zusammenhanges von res und der sie bezeichnenden verba auch als hermeneutisches Instrument und nicht zuletzt als Trägerin nationaler Tugenden, die zu einer kollektiven Identitätsstiftung verhelfen sollte. Für die Mehrheit der Mitglieder blieb es beim Bekenntnis zu dem überwölbenden Projekt der Gesellschaft, während die inhaltliche Forschungsarbeit von einigen wenigen bewältigt wurde. Auf den ersten Blick recht ernüchternd resümiert Günther Hoppe, dass »in der FG der Kreis der an akademieartiger Arbeit beteiligten Mitglieder, der eigentlichen ›Fruchtbringer‹, noch beträchtlich unter jenem Fünftel der überhaupt literarisch Tätigen lag«54 und dass es »eine Gruppe von Gesellschaftern« gab, »deren Stärke gut ein Drittel aller 527 in der Ära Ludwigs von Anhalt Aufgenommenen betrug«, der »auch bei einiger Weitherzigkeit geistige Bemühung oder literarisches Interesse nicht anzumerken sind«.55 Über die Jahre stieg der Anteil dieser »Illiterati«,56 der Pagen, Soldaten oder Landjunker, von denen keinerlei intellektuellen Impulse ausgingen, weil solche Aufnahmen im Dreißigjährigen Krieg »durchaus als ein taktisches Mittel zu Besänftigung der Kriegsfurie«57 eingesetzt wurden, weil ein dokumentiertes Interesse an großen und ›runden‹ Mitgliederzahlen bestand58 und weil die Fruchtbringende Gesellschaft nach ihrem Selbstverständnis keine gelehrte Distinktion vom Dilettantismus vornahm, sondern sich als Zusammenschluss von Gleichgesinnten positionierte, bei denen nicht die Produktivität, sondern die Haltung den Ausschlag gab. Was die Unternehmungen der produktiven Mitglieder angeht, sind Phasen zu unterscheiden, zumindest eine frühere und eine spätere. In der früheren Phase fand rege gemeinsame Arbeit in kleineren Kreisen statt. Zu den Projekten, an denen, oft initiiert durch Arbeitsaufträge Fürst Ludwigs, mehrere Personen mitwirkten, gehörten insbesondere »zirkulierende Impresenentwürfe, öffentliche Gesellschaftsschreiben, Dichtungen und Übersetzungen mit gegenseitigen Verbesserungsvorschlägen, Korrekturen, Überarbeitungen«.59 Aufgrund großer 54 55 56 57 58 59

Hoppe: Traditions- und Spannungsfelder, S. 1233. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1237. Vgl. ebd., S. 1241. Andreas Herz: Akademieschriften der Fruchtbringenden Gesellschaft in ihrer Spätzeit und die Werke Georg Neumarks als Editionsdesiderate. In: Hans-Gert Roloff unter redaktioneller Mitarbeit v. Renate Meincke (Hg.): Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur

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Mitgliederzahlen, räumlicher Distanzen und fehlender Statuten konnten die resultierenden Publikationen, so Andreas Herz, »nur unter der Bedingung eines aktiven und koordinierenden Zentrums der sprach- und literaturreformerischen Akademiezwecke entstehen, wie es mit Person und Hof Fürst Ludwigs in Köthen gegeben war – ein quasi institutioneller Rahmen, der den Titel ›Akademie‹ für die FG durchaus rechtfertigt«.60 Neben den thematischen Projekten sind in der brieflichen Überlieferung auch administrative »Vorgänge der Gesellschaft« als gemeinschaftliche Arbeiten dokumentiert, darunter, wie Merzbacher zusammenfasst, die »Aufnahme von Mitgliedern, Umlagen für die ›Gesellschaftsbücher‹, Ersuchen um Wappenvisierungen und Impresevorlagen, Vorschläge für Gesellschaftsnamen, -worte und -pflanzen, Bücherbestellungen, Köthener Druckerei«.61 Hinzu kam die laufende Aktualisierung der Gesellschaftsbücher, die zwischen 1622 und 1646 im Druck erschienen, bis zum Tode Fürst Ludwigs 1650 aber handschriftlich fortgeführt wurden,62 sodass offenbar ein nicht geringer Anteil der Tätigkeit auf die Selbstbespiegelung bzw. auf die künstlerisch-literarische Objektivation der Gesellschaft als solcher entfiel. Die spätere Phase kennzeichnet sich durch das Fehlen eines tatkräftigen Diskursmanagements nach dem Tod Fürst Ludwigs. »Es ist kein Geheimnis«, so Herz, »daß in dieser letzten Periode unter Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1667–1680) – wie übrigens bereits unter seinem Vorgänger, Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar – eine lebendige gesellschaftsinterne Diskussion weitgehend fehlt.«63 Während die gemeinsame inhaltliche Arbeit nachließ, kam es unter den späteren Oberhäuptern zu einer verstärkten Bürokratisierung, allerdings, so Herz, »ohne daß von der ›Geschäftsführung‹ noch nennenswerte spezifisch fruchtbringerische Impulse ausgingen«.64 Die Arbeiten der Mitglieder entstanden gerade in dieser Spätzeit typischerweise »auf eigene Faust und Rechnung«65 aus dem programmatischen Selbstverständnis und der Prestigeverbürgung der Gesellschaft heraus, jedoch unter Verzicht auf weitergehende Markierungen als deren Früchte. Bis in die 1970er Jahre neigte die literaturwissenschaftliche Forschung dazu, der Fruchtbringenden Gesellschaft jegliche Meriten als Forschungsverbund abzusprechen, um sie vielmehr als Sammelbecken für unabhängige Individu-

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Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Erster Teil. Amsterdam 1997 (Chloe; Beihefte zum Daphnis Bd. 24), S. 511–528, hier S. 512; vgl. zum exemplarischen Nachweis dieser Praxis Merzbacher: Conversatio und Editio, S. 35–51. Herz: Akademieschriften der Fruchtbringenden Gesellschaft, S. 514. Merzbacher: Conversatio und Editio, S. 37. Vgl. Herz: Akademieschriften der Fruchtbringenden Gesellschaft, S. 513f. Ebd., S. 512. Ebd., S. 514. Ebd.

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alleistungen zu marginalisieren.66 Diese Fehleinschätzung wurde mittlerweile grundlegend korrigiert. Insbesondere die imposanten Ergebnisse aus dem seit 1988 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel laufenden Forschungsund Editionsprojekt zur Arbeit der Fruchtbringer belegen ein hohes Maß an koordinierter, fachbezogener Vernetzung unter den Mitgliedern sowie eine große Strahlkraft der sprach- und literaturpolitischen Ziele der Gesellschaft, die weit über den Kreis ihrer Mitglieder hinausreichte. Die Gesellschaft wirkte regelrecht als ›Leuchtturm‹ der barocken Sprach- und Literaturwissenschaft, auch wenn sie sich nicht durch ein durch zahlreiche Mitglieder gemeinsam verantwortetes Großprojekt profilierte. Gleichwohl bleibt die Abwägung, ob es sich bei den Arbeiten der Mitglieder um (unmittelbare) Erfolge der Gesellschaft handelt, gerade in der Spätphase schwierig, handelt es sich doch zumindest tendenziell um »Einzelleistungen von Individuen, die auch Mitglieder der societas fructifera waren«.67 In der frühen Phase hingegen lassen sich Arbeiten der Mitglieder eindeutiger als »gemeinschaftliche Leistung der Akademie«68 identifizieren, wenn etwa die Manuskripte vor der Drucklegung unter ausgewählten Mitgliedern zirkuliert wurden. So weist Christian Gueintz seine Deutsche Rechtschreibung Auf sonderbares gut befinden Durch den Ordnenden verfasset / Von der Fruchtbringenden Geselschaft übersehen / und zur nachricht an den tag gegeben (1645) im Untertitel sehr prominent als Kooperationsprojekt aus, während Justus Georg Schottelius’ Teutsche Vers- oder Reimkunst (1645) paratextuell durch eine Lobadresse unter Gesellschaftsnamen als Akademiearbeit markiert wird, die Georg Philipp Harsdörffer (der Spielende) an seinen Mitgesellschafter Schottelius (der Suchende) richtet. Somit erscheint es jedenfalls legitim, Leistungen, die von Individuen in kritischem Austausch mit anderen Individuen unter dem Dach der Gesellschaft nach Maßgabe gemeinsamer Programmwerte erbracht wurden, als Erfolge der spezifischen Kooperationsform zu verbuchen. Weitergehend lässt sich auch Caspar von Stielers Wörterbuch Der Deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs, oder Teutscher Sprachschatz (1691), das erste umfassende Wörterbuch der deutschen Sprache, insofern als Werk der Fruchtbringer auffassen, als deren 66 Vereinzelt begegnet diese seit Karl Goedeke kolportierte Sicht auch später, z. B.: »[E]s gab eine reiche kulturpatriotische Wirksamkeit der einzelnen Autoren des 17. Jahrhunderts. Aber nur insofern, als sich diese als Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft bekannten, war das auch die Wirksamkeit der Fruchtbringenden Gesellschaft.« (Manger : Teutschhertziger Kulturpatriotismus, S. 95). Vgl. zur Kritik bereits Ferdinand van Ingen: Die Erforschung der Sprachgesellschaften unter sozialgeschichtlichem Aspekt. In: ders. u. Martin Bircher (Hg.): Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 28. bis 30. Juni 1977. Vorträge und Berichte. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 7), S. 9–26, bes. S. 9f. 67 Conermann, Herz u. Schmidt-Glintzer : Die Fruchtbringende Gesellschaft, S. 36. 68 Ebd., S. 27.

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diskursiver Konsens und eine ganze Reihe von Vorarbeiten (Wilhelm von Kalcheim gen. Lohausen, Christian Gueintz, Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius u. a.) darin fortgeschrieben wurde, sodass Stieler damit, elf Jahre nach dem Tod des letzten Gesellschaftsoberhaupts und in Form einer Individualleistung, doch eine »späte Erfüllung der Pläne seiner Sozietät«69 vollbrachte.

IV.

Praxis: Zwei Beispiele für Dynamiken und Friktionen

In manchen Fällen lassen sich die Abläufe der Zusammenarbeit innerhalb der Fruchtbringenden Gesellschaft anhand der Korrespondenzen recht genau nachvollziehen. Für zwei Projekte, in beiden Fällen Monographien mit individueller Autorschaft, deren Manuskripte jedoch sowohl von Mitgliedern der Gesellschaft als auch von außenstehenden Experten kritisch gegengelesen wurden, stellen die Falttafeln im 5. Editionsband der Köthener Briefe zusammen, welche Materialien ausgetauscht wurden. Diese Übersicht, aus der sich die relevanten Textfassungen, Abschriften, Briefe, Gutachten und dergleichen ersehen lassen, bildet die Grundlage für die folgenden Ausführungen, in denen sich das Augenmerk insbesondere auf die Dynamiken und Friktionen des Austausches richtet. Bei dem ersten Beispiel handelt es sich um die Kurtze Anleitung Zur Deutschen Poesi (1640),70 an dessen Entstehungsprozess neben dem Autor und zugleich Oberhaupt der Fruchtbringer, Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen, auch der eingangs erwähnte Buchner, Herzog August der Jüngere, sowie aus dessen Umkreis der Braunschweiger Superintendent Balthasar Walther (1586–1640) und der damalige Fürstenerzieher Justus Georg Schottelius (1612–1676), und ferner der Hallenser Gymnasialrektor Christian Gueintz (1592–1750) beteiligt waren. Hierbei als Außengutachter tätig, wurden Buchner (1641), Schottelius (1642) und Gueintz (1641) erst später in die Gesellschaft aufgenommen, Walther hingegen gar nicht. Am 28. Oktober 1639 ging die Anleitung samt Mustergedichten, wie sie üblicherweise in barocken Poetiken zur Veranschaulichung der Dichtungsregeln abgedruckt wurden, in Abschrift der ersten Handschrift an Augustus Buchner zur Korrektur (Brief Nr. 391028). Buchner antwortete am 19. November 1639 (Brief Nr. 391119) mit ausführlichen Verbesserungsvorschlägen zu Anlei69 Conermann, Herz u. Schmidt-Glintzer : Die Fruchtbringende Gesellschaft, S. 27. 70 Vgl. die Falttafel in Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Fünfter Band 1617–1650. Unter Mitarbeit v. Gabriele Ball u. Andreas Herz hg. v. Klaus Conermann. Reihe I, Abteilung A: Köthen, Bd. 5. Leipzig, Berlin u. New York 2010, nach S. 352.

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tungstext und Mustergedichten. Seine Kritik möge, wie er hierarchiebewusst schreibt, »keines wegs zu verbeßerung selbiger, Sondern bloß nur E. F. G. gnedigen willen unterthenig zugehorsamen angesehen« werden. Um die große Menge seiner Anmerkungen nicht anstößig wirken zu lassen, erinnert er den Fürsten, dass er »neulich, dero gnediger meinung, zwar nach der sachen zu wenig, ietzt fast zu viel gethan«.71 Außerdem nutzt er die Gelegenheit, eine normative Dichtungslehre korrigierend mitzugestalten, um seine besondere metrische Vorliebe für daktylische Verse, die deswegen heute noch als ›BuchnerArt‹ bekannt ist, stark zu machen, weil Ludwig sie nicht behandelt hatte. Zu diesem Zweck führt er den Komponisten Heinrich Schütz (1585–1672) als Autorität an, der ihn wissen lassen habe, daktylische Verse seien vorzüglich zur Vertonung geeignet; es »könne kaum einige andere art Deutscher Reime, mit beßerer und anmuthiger manier in die Musick gesezt werden, allß eben diese Dactylische«.72 Ludwig griff diese Anregung nicht auf. Während er »seine Verbesserungen meist nicht begründet«,73 antwortet er Buchner am 28. Oktober 1639 zu dessen speziellem metrischen Anliegen, es sei im Deutschen noch zu wenig erprobt: [D]ie art, worinnen man der Dactilorum, als darinnen die erste silbe lang, die andern zwo kurz fallen, sich gebrauchen kan, hatt man mit willen ausgelaßen, weil der gesänge so mancherley, insonderheit aber die letzte artt unser deutschen sprache so wol lautend und ihr anstendig nicht ermeßen worden, iedoch der kunst wegen eben so wol noch vorgestellet werden können.74

Eine überarbeitete Fassung der Anleitung sandte Ludwig am 13. März 1640 (mit Brief Nr. 400313) in zweiter Abschrift an Christian Gueintz und am 23. März 1640 (mit Brief Nr. 400323) in dritter Abschrift an Herzog August den Jüngeren. Was bis zur Erstellung der endgültigen Manuskriptfassung diskutiert wurde, ist nicht bekannt. Der Druck erfolgte 1640 anonym und ohne Erwähnung der beteiligten Korrekturleser, jedoch mit einer kurzen Erklärung zum DaktylenProblem, die ein Bewusstsein für aktuelle Tendenzen markiert, ohne jedoch die Grenzen der Konvention zu überschreiten: »Alhier aber hat man solche / weil sie noch so üblich nicht / auch sonsten dem Deutschen Masse und der Sprache hohen ansehen nach im lesen nicht allzu wohl lauten / mit fleiß übergangen / 71 Augustus Buchner an Fürst Ludwig, 19. November 1639. In: ebd., Nr. 391119, S. 322. 72 Augustus Buchner an Fürst Ludwig, 19. November 1639. In: ebd., Nr. 391119, S. 323. 73 Andreas Herz: Die Rechtschreibdebatte in der Fruchtbringenden Gesellschaft. Probleme und Parameter der Normierung. In: Werner Kügel (Hg.): »Erfreuliche Nützlichkeit – Keim göttlicher Ehre«. Beiträge zum Harsdörffer-Birken. Colloquium des Pegnesischen Blumenordens im Oktober 2014. Passau 2015, S. 67–137, hier S. 80. 74 Fürst Ludwig an Augustus Buchner, 28. Oktober 1639. In: Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen, Reihe I, Abteilung A: Köthen, Bd. 5, Nr. 391028, S. 313.

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und bey der leichtesten / gebräuchlichsten und ansehnlichsten art verbleiben wollen.«75 Ein zweites, ungefähr zeitgleiches Beispiel für ein erfolgreiches Kooperationsprojekt der Fruchtbringenden Gesellschaft bietet Gueintz’ Deutscher Sprachlehre Entwurf (1641),76 zu dem sich während der Verfertigung Fürst Ludwig, dazu Buchner und nach dessen Bekunden auch der Wittenberger Theologieprofessor Jacob Martini (1570–1649), den Ludwig vor Ort hinzuzuziehen gebeten hatte, sowie ferner, vermittelt durch Herzog August, auch Schottelius äußerten.77 Gueintz reichte sein als Auftragsarbeit entstandenes Manuskript im November 1638 bei Fürst Ludwig ein, der einen zumindest lückenhaft überlieferten Begutachtungsprozess in Gang setzte. Die zweite Abschrift der zweiten Handschrift schickte er ohne Nennung ihres Autors am 14. Mai 1639 (mit Brief Nr. 390514) an Martin Opitz, und zwar mitt dem begehren er wolle zu mussiger zeitt vielleicht zu seiner erlustigung solche arbeit durchlesen durchsehen, seinem sinnreichen verstande und erfharenheit nach erwegen, und also verbessern, das dieselbe dan mitt beyderseitt erinnerungen dem verfasser von hinnen dem ersten entwerffer und verfasser wieder möchte zugeschicket, und ans tagelichtt durch den druck gebrachtt werden.78

Nach anscheinend recht langer Postlaufzeit bestätigt Opitz am 7. August 1639 (Brief Nr. 390807) den Eingang für den 5. August und verspricht eine baldige Stellungnahme: »Wolle es allso der Nährende in gnaden vermercken, vndt des wolgemeinten vrtheils auff erwehntes buch [sc. Ludwigs Bibeldichtung Das Buch Hiob, 1638], auch ietzt v¨ bersendete nützliche Sprachlehre [sc. des Christian Gueintz] (für welche ich […] demütig danke) ehist gewertig sein.«79 Die Einlösung seines Versprechens scheiterte daran, dass Opitz am 20. August 1639 an der Pest starb. 75 [Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen]: Günstiger lieber Leser. In: ders.: Kurtze Anleitung Zur Deutschen Poesi oder Reim-Kunst mit ihren unterschiedenen Arten und Mustern Reimweise verfertiget und vorgestellet. Köthen 1640, fol. aijrf., hier fol. aijv. – Zitiert nach dem Digitalisat in der Wolfenbütteler digitalen Bibliothek, diglib. hab.de/drucke/um-40/start.htm [01. 07. 2015]. 76 Vgl. die Falttafel in Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen, Reihe I, Abteilung A: Köthen, Bd. 5, nach S. 432. 77 Ludwig legte das Manuskript noch weiteren Experten wie Hans von Dieskau, Martin Opitz, Diederich von dem Werder und Balthasar Walther zur Durchsicht vor, von denen jedoch aus unterschiedlichen Gründen keine Stellungnahmen vorliegen (vgl. Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen, Reihe I, Abteilung A: Köthen, Bd. 5, Nr. 390114, Kommentar 13, S. 126). 78 Fürst Ludwig an Martin Opitz, 14. Mai 1639. In: Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen, Reihe I, Abteilung A: Köthen, Bd. 5, Nr. 390514, S. 168. 79 Martin Opitz an Fürst Ludwig, 7. August 1639. In: ebd., Nr. 390807, S. 202.

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Eine dritte Abschrift der zweiten Handschrift schickte Ludwig daraufhin am 28. Oktober 1639 (mit Brief Nr. 391028) an Buchner, der nun unter Fachkonsil mit Martini die Begutachtung übernehmen sollte, da »her Opitz die schuldt der natur in Danzig bezhalet [!]« habe: Woruber unser gnediges und gütliches gesinnen, ihr wollet solches wergklein, eurer gutten bequemigkeit und gelegenheit nach, mit mueße durchlesen, erwegen, mit herren D. Jacobo Martini daraus notturftige unterrede pflegen, auch ihr beiderseits, es dahin mit euerem vernunftigen bedencken richten Das Sie nach euerer genugsamen erwegung[,] verbeßerung und übersehung könne unserer Land und Muttersprache zu ehren, und iedermenniglichen zu nutzen ans tagelicht durch den druck kommen […].80

Wie Opitz erhielt Buchner den Text zum blind peer review, jedoch vermutet Ludwig in seinem Begleitschreiben zu Recht, dass der »verfasser [ihm] aus der stellung [sc. hier Stil, gemeint ist die auffällig große Gliederungstiefe des Textes] nicht kan unbekandt sein«.81 Ein Gutachten mit Korrektur- und Verbesserungsvorschlägen unter präziser Angabe von Seiten und Zeilen zu den Stellen, die er ausführlich kommentiert, schickte Buchner am 22. Januar 1640 (mit Brief Nr. 400122) an Ludwig. Er versichert, Martini habe seine Hinweise zur Kenntnis genommen und für zutreffend befunden: »Und hatt er Jhm diese meine gedancken allerdinges gefallen laßen, und nichtes darbey zuerinnern gehabt.«82 Vor allem teile Martini die Einschätzung, dass der Text viel zu stark dichotomisch untergliedert sei, was als durchgängiges Stil- bzw. Strukturmerkmal, wenn überhaupt, nur durch den Autor oder durch einen Helfer in Abstimmung mit dem Autor behoben werden könne: Weill aber daß werck einmal so abgefaßt, und wir unß nicht zuziehmen eracht ohn des Authorn vorbewust, und E. Fürstl. Gn. gnedigen befehl an frembde arbeit hand anzulegen, und selbige in andere form zugießen, Allß stellen E. Fürstl. Gn. zu Dero Hocherleuchteten urtheil wir unterthenig anheim, was diesfalls zu thun, und ob daß werck bey seiner art, wie es iezo gefaßt, verbleiben, oder in einem und andern, entweder von dem Auctor selbst, oder sonst iemande, doch mit beliebung deßelben, geendert werden soll.83

Ludwig übersandte Gueintz eine Abschrift von Buchners Gutachten sowie eine Abschrift seiner eigenen kritischen Anmerkungen (beides vor Brief Nr. 400214, 14. Februar 1640). In seiner Andwort auff die Erinnerungen (vermutlich als Beilage zu Brief Nr. 400301, 1. März 1640) greift Gueintz gegenüber Ludwig zwei der Kritikpunkte argumentierend auf: 80 81 82 83

Fürst Ludwig an Augustus Buchner, 28. Oktober 1639. In: ebd., Nr. 391028, S. 313. Ebd. Augustus Buchner an Fürst Ludwig, 22. Januar 1640. In: ebd., Nr. 400122, S. 417. Ebd.

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Gewiß ist es, daß wegen der zertheilung vnd der deutschen kunstwörter [sc. die sprachliche Gestaltung des Glossars grammatischer Fachbegriffe] anfänglich dem vngelartem vnd Ekelem leser es wird wunderlich vorkommen. Aber man kan es anfangs erinnern, daß albereit davon Cicero in officijs vnd Tusculanischen Büchern solches beantwortet habe, da Er aus dem Grichischen viel ins Latein übersetzet. Were auch vngereumbt andere deutsch lehren wollen vnd selbst in seiner Sprache vor sich daßelbe nicht gebrauchen. Doch kan man dem also helffen, daß es nur mit kleinen Buchstaben gedruckt, was gezeichnet, vnd mit rott vnterstrichen, würde; daß aber für die Anfang[en]den mit groben, daß was streitig mit gantz kleinen, so hilfft man allen.84

Die Abschrift einer revidierten Fassung schickte Ludwig am 23. März 1640 (mit Brief Nr. 400323) an Herzog August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel, um dessen »hochverstendiges urtheil darüber zuvernehmen«. Zugleich bat er darum, dass »h. Balthasar Walter drüber möchte vernommen werden«,85 der allerdings wegen gesundheitlicher Beeinträchtigung nicht mehr helfen konnte und am 15. November 1640 starb. Ludwig erteilte die Aufgabe nunmehr Schottelius, der nicht nur eine überaus kritische Expertise retournierte (mit Brief vor Nr. 400528, 28. Mai 1640), sondern auch seine Teutsche Sprachkunst (1641) als Gegenposition zu Gueintz’ Manuskript vorbereitete. Ludwig reichte Schottelius’ Einschätzung an Gueintz weiter, der ihm am 28. Mai 1640 (mit Brief Nr. 400528) mit einer sichtlich aufgebrachten Stellungnahme antwortete, die in der Sache wenig konsensuell ausfällt86 und den Verdacht gegenüber Schottelius, sich fremdes geistiges Eigentum aneignen zu wollen, mehr als nur andeutet. Letzteres wäre in einem modernen Doppelblindverfahren der Begutachtung zumindest nicht in diesem Stadium aufgetreten, sondern vielleicht erst nach Erscheinen von Schottelius’ konkurrierender Publikation: Bitte nach Jhren Hohen Fürstlichen Nachsinnen es zu erwegen, und in obacht zu nehmen, ob man nicht wieder alle bißhero erwiesene Gründe newerung suche, und ob man nicht den andern den preiß des Fleisses und des Anfangs zum wenigsten zweyfelhafftig zu machen gedencke. Meine wenigheit hat nicht ursach jemand was anderß vorzuschreiben, alß was der Gebrauch der in Sprachen alles vermag (es müsten dan alle von Anfang der welt hierin geirret haben) und mehr alß alle regeln; ja bißweilen auch wie ein tyran die regeln zwinget und übertrifft.87 84 Christian Gueintz an Fürst Ludwig, 1. März 1640. In: ebd., Nr. 400301, S. 464. 85 Fürst Ludwig an Herzog August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel, 23. März 1640. In: ebd., Nr. 400323, S. 495. 86 Vgl. ausführlich zu den sachlichen Anlässen für diesen Dissens Andreas Herz: Ratio und consuetudo. Sprachnorm und Sprachvarianz in der grammatikologischen Kontroverse der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Eva Cancik-Kirschbaum u. Anita Traninger (Hg.): Wissen in Bewegung. Institution – Iteration – Transfer. Wiesbaden 2015 (Episteme in Bewegung Bd. 1), S. 255–287, hier S. 258ff. 87 Christian Gueintz an Fürst Ludwig, 28. Mai 1640. In: Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen, Reihe I, Abteilung A: Köthen, Bd. 5, Nr. 400528, S. 507.

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Mit einer sprachpatriotischen Doppelwidmung an die Fürsten Ludwig und August publizierte Gueintz 1641 seine Deutsche Sprachlehre, wobei er zwar nicht ausdrücklich auf eine Beteiligung der Fruchtbringenden Gesellschaft am Schaffensprozess verweist, wohl aber auf deren Existenz und Ziele anspielt, wenn er mitteilt, Ludwig und August hätten »befreündete Gemüter erwecket / so in solchen zerrüttungen und Barbareyen / die wissenschaften ehren und vermehren«.88 Den Gutachtervorschlag eines mehrsprachigen Glossars setzte er in der Druckfassung trotz der gegenüber Ludwig signalisierten Kompromissbereitschaft letzten Endes doch nicht um, sondern entschied sich für ein lateinischdeutsches Glossar, das weder vollständig noch alphabetisch angelegt ist (sondern nach ›Systemstellen‹), wohl aber seine verwendete deutsche Grammatik-Fachsprache zusammentrug. Diesen innovativen Zug kündigt Gueintz in der Leservorrede äußerst zurückhaltend an: »Der Entwurf der Kunstwörter / ist ferner daß sie Deutsch sein können versuchet.«89

V.

Fazit

Aus den vorgängigen Skizzen zu Organisationsform, Programmatik und Arbeitsweisen der Fruchtbringenden Gesellschaft lassen sich grundlegende Aspekte der Zusammenarbeit exemplarisch ablesen: Die Aktivitäten beruhten weniger auf Strukturen als auf Individuen, sowohl auf denen, die als verantwortliche Autoren für verschiedenste Publikationen zeichneten, als auch auf dem Gesellschaftsoberhaupt. Die zentrale Koordination der Projekte und der Abläufe ihrer Realisierung lag bei Fürst Ludwig. Er entschied, welche Stimmen innerhalb der Debatten gehört werden sollten, er gab Gutachten in Auftrag, er lenkte Meinungen und initiierte Auftragsforschung im Dienste der Gesellschaftsinteressen. Seine Tätigkeit führte auf der Ebene der Fürstenkorrespondenz zu einer Verquickung von Symphilologie und politischer Netzwerkbildung. Im weiteren Interaktionszusammenhang der Gesellschaft kamen zudem Vertreter ungleichen sozialen Ranges über die gemeinsamen philologischen Gegenstände miteinander ins Gespräch, die zwar im rhetorischen Gestus unverkennbares Hierarchiebewusstsein an den Tag legten, jedoch in der Sache auf Augenhöhe kommunizierten. Zudem vernetzte die Gesellschaft nicht nur ver88 Christian Gueintz: Denen Durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten und Herren […]. In: ders.: Deutscher Sprachlehre Entwurf. Köthen 1641, fol. ijr–iijv, hier fol. iijrf. – Zitiert nach dem Digitalisat der Wolfenbütteler digitalen Bibliothek, diglib.hab.de/drucke/ko-209-1s/ start.htm [01. 07. 2015]. 89 Christian Gueintz: An den Leser. In: ders.: Deutscher Sprachlehre Entwurf. Köthen 1641, fol. iiijv–vijv, hier fol. vjv. – Zitiert nach dem Digitalisat der Wolfenbütteler digitalen Bibliothek, diglib.hab.de/drucke/ko-209-1s/start.htm [01. 07. 2015].

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schiedene Generationen, sondern auch Mitglieder mit Nicht-Mitgliedern, unter letzteren insbesondere solche, die nach Aufnahme strebten, was im Fall von Schottelius und Gueintz auch gelang, nachdem sie ihre Expertise nicht nur durch eigene Publikationen, sondern auch durch philologische Dienstleistungen als Gutachter für die Gesellschaft unter Beweis gestellt hatten. Die Abläufe des Schreibens, Gegenlesens und Publizierens gingen bei den Fruchtbringern nicht signifikant langsamer vonstatten als im Zeitalter der digitalen Recherche und Kommunikation. Sie umfassten Wechselspiele der Umsetzung oder Zurückweisung von Korrekturvorschlägen, Experimentierfreude mit unterschiedlichem Ausgang (Gueintz ließ sich auf das Risiko neuer Formen ein, Ludwig nicht) ebenso wie Konstellationen der Konkurrenz. Am Beispiel der gegeneinander gerichteten Publikationen von Schottelius und Gueintz zeigt sich eine beachtliche Offenheit, die es ermöglichte, beide Autoren in die Gesellschaft aufzunehmen, da sie beide einen für wichtig befundenen Beitrag zur Erforschung der deutschen Sprache geleistet hatten, mit dem sie zwar kein gemeinsames Dogma, wohl aber die übergeordneten Ziele der Gesellschaft befördert hatten. Mithin konnten sich die Individualleistungen theoretisch, methodisch und argumentativ frei entfalten, waren aber, salopp gesprochen, ›eingenordet‹ auf die höherrangigen Programmwerte der Sprach-, Treue- und Tugendpflege. Zu erwähnen sind im Licht der Frage nach der Zusammenarbeit schließlich die für nötige Hilfs- und Zuarbeiten zuständigen Personen, z. B. Sekretäre, welche die Abschriften der teilweise recht umfangreichen Manuskripte besorgten, ohne inhaltlich am Diskurs beteiligt zu werden. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Köthener Offizin, deren Infrastruktur zumindest den Anhalter Fruchtbringern zur Verfügung stand.90 Demnach arbeitete das kooperative Netzwerk der Fruchtbringer mit einer dreifachen Stratifikation, bestehend aus der strategischen Ebene, auf der das Diskursmanagement durch das Gesellschaftsoberhaupt erfolgte, einer operativen Ebene, auf der die literarisch aktiven Mitglieder sich über im Entstehen befindliche Werke austauschten, und einer auxiliaren Ebene der Schreibarbeiten. Die beiden vorgestellten Kooperationsbeispiele stellen im Rahmen der Fruchtbringer-Aktivitäten keine Ausnahme dar. Unter dem Lemma »Gesellschaftliche Kritik/ Korrektur von Werken« führt das Register der Wolfenbütteler Briefedition allein für die Köthener Briefbände die stolze Anzahl von rund 180 Briefen, Briefbeilagen und Briefkommentaren auf, in denen es um die Zirkulation von Manuskripten unter Mitgliedern der Fruchtbringenden Gesellschaft

90 Einzelheiten bei Klaus Conermann: Die fürstliche Offizin zu Köthen. Druckerei, Verlagswesen und Buchhandel im Dienste des Ratichianismus und der Fruchtbringenden Gesellschaft (1618–1644/50). In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24 (1997), H. 1, S. 121–178.

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zum Zwecke der kritischen Durchsicht geht.91 Aufgrund der Themenvielfalt – am häufigsten ging es um Grammatik und Orthographie, aber auch Wortschatz und Wortgeschichte, Prosodie, Metrik und Poetologie sowie Fragen der Übersetzung kamen zur Sprache – ebenso wie der Intensität des Austausches unter den Mitgliedern nennt Andreas Herz das kooperative Netzwerk der Fruchtbringer griffig »ein wahres Laboratorium der entstehenden deutschen Philologie«.92 Gemeinsame Sachprojekte betrieben die Mitglieder nicht nur untereinander, sondern auch in weitergehenden Kooperationen, etwa mit der Tugendlichen Gesellschaft. Diese weibliche Tugendgesellschaft war 1619 durch neun Frauen gegründet worden, darunter an erster Stelle Anna Sophia von Anhalt (1584–1652), seit 1613 Ehefrau des Grafen Carl Günther von Schwarzburg-Rudolstadt und Schwester Ludwigs von Anhalt-Köthen, sowie Amoena Amalia von BentheimTecklenburg (1586–1625), die Ehefrau Ludwigs. Auch wenn der Tugendlichen Gesellschaft weder die sprachreformerische Programmatik noch die öffentliche Wirkung der Fruchtbringenden Gesellschaft eignete, so realisierten die beiden Sozietäten mit der ersten deutschsprachigen Übersetzung des sog. Novellino (13. Jh.) ein gemeinsames Projekt: Den Erzehlungen aus den mittlern Zeiten (1624) wurde sicher nicht von ungefähr die Ausgabe von 1572 mit dem richtungweisenden Titelzusatz Libro di Novelle e di bel Parlar gentile zugrunde gelegt, klingt hier doch nicht nur das ›schöne‹ Reden im Sinne der Wohlredenheit (ars bene dicendi) an, sondern auch das höfliche, das auf ein konversationelles Miteinander hinwirkt, sodass die (Sym-)Philologie hier einen selbstreferentiellen Zug erhält. Die Übersetzung wurde in regem Austausch gemeinsam hergestellt, was sich anschaulich aus dem Manuskript ersehen lässt, das von mehreren Händen niedergeschrieben und korrigiert wurde.93 Die philologischen Aktivitäten der Fruchtbringer waren zwar (auch) von außerwissenschaftlichen Interessen geleitet und damit in gewisser Weise ›nur‹ Mittel zum Zweck. Im Ergebnis betrieb die Gesellschaft aber gleichsam eine Panphilologie oder progressive Universalphilologie, die durch Treffen, Korre91 Vgl. Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Fünfter Band 1617–1650. Unter Mitarbeit v. Gabriele Ball u. Andreas Herz hg. v. Klaus Conermann. Reihe I, Abteilung A: Köthen, Bd. 6. Leipzig, Berlin u. Boston 2013, S. 836f. 92 Wichtige Vorstöße zur Aufarbeitung der Sprachdebatte in der Fruchtbringenden Gesellschaft unternimmt Herz: Die Rechtschreibdebatte in der Fruchtbringenden Gesellschaft; sowie ders.: Ratio und consuetudo, das Zitat S. 257. 93 Vgl. Conermann: Die Tugendliche Gesellschaft, S. 593f. – Ein Digitalisat dieses Manuskripts befindet sich neuerdings online in den Digitalen Sammlungen der Universitätsbibliothek Gießen, http://digisam.ub.uni-giessen.de/diglit/hs-105 [27. 06. 2015]; vgl. auch die Printedition: Die Erzehlungen aus den mittlern Zeiten. Mit einem reprographischen Nachdruck der italienischen Vorlage hg. u. erl. v. Ulrich Seelbach. Stuttgart 1985 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart Bd. 311).

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spondenz, Buchkontakt (gegenseitige Lektüre der Publikationen) und eine wohlkalkulierte Dedikations- und Vorredenpolitik nachgerade ein (für die Bestandsdauer der Gesellschaft) immerwährendes Symposium erschuf, befeuert durch die Wunschvorstellung einer sprachlich vermittelten deutschen Tugend. Ihre enorme Leistungsfähigkeit in der Erforschung, Regulierung und Verbreitung der vernakulären Sprache gründet auf bestimmten historischen Voraussetzungen: Ihr Funktionieren beruhte auf der impliziten Gültigkeit des höfischen Konversationsideals ebenso wie auf einem »christlich-naturrechtlichen Begriff von Gesellschaft, welcher auch die menschliche Rede einschließt«.94 Der Palmenorden erfüllte seine Aufgaben, die im 18. Jahrhundert von den Akademien der Wissenschaften, den Universitäten und den Institutionen des aufkommenden Literaturbetriebs, unter anderem den Deutschen Gesellschaften des Gottsched-Kreises, übernommen wurden, im Bedingungsgefüge der vorinstitutionellen Zusammenarbeit einer Adelsgesellschaft. Seine Zielsetzungen erwuchsen aus der materiellen und moralischen Zerrüttung des Dreißigjährigen Krieges. Bemerkenswert und keineswegs obsolet erscheint jedoch die Tatsache, dass die Beteiligten einerseits extrem unbürokratisch und andererseits extrem effizient kooperierten: Die Zusammenarbeit war aus der Sache heraus motiviert und bewährte sich als Praxisform mit stillschweigendem Einvernehmen der Beteiligten über ihre Funktionsweise. Daher gilt für das von Günther Hoppe zutreffend konstatierte »Defizit an Struktur und Statut, auch hinsichtlich des Maßes der Einbindung aller Mitglieder der FG in die Sachprojekte wie des ›Mangels‹ an einem zentralen Sachprojekt (in der Art des Vocabulario der Crusca [sc. das erste Wörterbuch der italienischen Sprache])«95 die lateinische Pennälerweisheit des abest non deest. Hier kann man von den Alten lernen.

94 Conermann: Die Tugendliche Gesellschaft, S. 526. 95 Hoppe: Traditions- und Spannungsfelder, S. 1230, im Rekurs auf Conermann: War die Fruchtbringende Gesellschaft eine Akademie?, bes. S. 110ff.

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Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert. Lenz’ Das Tagebuch als Beispiel freundschaftlicher Publizität

I. In seiner Dankrede zur Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises erinnert der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani an den verstorbenen Germanisten Heinz Ludwig Arnold: Ich studierte noch, schrieb nebenher für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, als Lutz mich in einem Brief bat, ihn mit der persischen Gegenwartsliteratur vertraut zu machen. Zum Dank für einen kleinen Dienst hielt er mir ein Leben lang die Treue, unterstützte mich, wo er konnte, rezensierte meine Dissertation über den Koran, obwohl ihm die Materie fremd war, und las Das Buch der von Neil Young Getöteten, dessen Materie ihn erst recht befremden musste. Er verbesserte das Manuskript und verschickte es mit seinem Briefkopf und Renommee so beharrlich an Verlage, bis die Zusage für meine erste literarische Veröffentlichung endlich vorlag.1

Die kurze Erzählung einer inspirierenden Kontaktaufnahme ist für die Frage nach Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften aufschlussreich. Sieht man das Publizieren als Hauptelement geisteswissenschaftlicher Arbeit an, so benennt die zitierte Passage mit den Praktiken der Briefkommunikation, gegenseitigen Lektüre und kritischen Verbesserung von Manuskripten Tätigkeiten, die in ihrem Zusammenspiel als Voraussetzung erfolgreicher Autorschaft anzusehen sind und sich im Vorfeld der Publikation zutragen. Abseits der Institutionen ›Zeitung‹ und ›Verlag‹ und quer zu den akademischen Disziplinen sorgen offenbar langjährige freundschaftliche Verbindungen für ein soziales Netzwerk, ohne das der einzelne Autor nicht zu reüssieren vermag. Wovon sich heute offenbar nur rückblickend und im Schutz einer Dankrede berichten lässt, hat eine Geschichte, die Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist: Sie beginnt damit, dass im 18. Jahrhundert Formen literarischer Kooperation von Praktiken der Patronage und Freundschaft nur schwer zu unterschei1 Navid Kermani: Dein Name. Dankrede zum Joseph-Breitbach-Preis. In: Merkur 69 (2015), H. 789, S. 5–19, hier S. 6.

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den sind. Die Aufnahme einer Briefkommunikation und die Adressierung des Briefpartners als ›Freund‹ gehen mit der Einwerbung einer kooperativen Verbindung Hand in Hand. Eine solche Verbindung kommt zum einen durch den Austausch von Informationen bezüglich Verlagen und Kontakten zu Buchhändlern sowie Rezensenten zustande. Sie wird zum anderen sichtbar in den Praktiken der Verbesserung, Kommentierung und Kritik. ›Freundschaft‹ wird im Folgenden daher weniger in der Tradition der Empfindsamkeit und als egalitäre, spezifisch bürgerliche soziale Haltung verstanden,2 sondern als Kategorie literarischer Arbeitsteilung. Sie ist – wie die Gelehrtengeschichte des 18. Jahrhunderts zeigt3 – auf Bildungsinstitutionen bezogen und daher keine rein private Beziehung, weshalb von der Untersuchung der Medienpraktiken von Patronage und freundschaftlicher Kritik Aufschlüsse über die Frage nach Kooperationsformen in der institutionalisierten Geistes- und Literaturwissenschaft zu erwarten sind. Die freundschaftliche Verbesserung von Texten verweist auf ein im 18. Jahrhundert ausdifferenziertes Kommunikationsmodell. Zunächst signalisiert die in Briefen vorgebrachte Anfrage von Verbesserung und Kritik, dass der Briefschreiber mit den Konventionen gelehrter Korrespondenz vertraut ist, gehört doch die Bitte um Kritik zu den ersten Schritten der Kontaktanbahnung.4 Die Einwerbung kritischer Anmerkungen als Anwerbung von Freundschaft ist daher von formelhafter Qualität.5 Ihre Beständigkeit jedoch bezieht die Topik von Freundschaft und Kritik aus der Fülle kritischer Praktiken. Mag sein, dass die erste Bitte um Kritik zunächst nur eine höfliche Grußformel ist, doch schon die zweite wird sich vermutlich auf den tatsächlichen Austausch von Anmerkungen beziehen. Wie genau die Kommunikation zwischen Autoren im Zeichen der Verbesserung von Manuskripten und Drucken ausgesehen hat, welcher Techniken und Formeln sie sich dabei bedienten, kurz: welche Medien und Praktiken sie einsetzten, sind Fragen, die ich mit dem Konzept des kollaborativen Schreibens 2 Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler : Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984. 3 Vgl. Heinrich Bosse: Der Lehr- und Lernmarkt des Ancien R8gime. In: ders.: Bildungsrevolution 1770–1830. Hg. mit einem Gespräch v. Nacim Ghanbari. Heidelberg 2012 (Reihe Siegen; Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft Bd. 169), S. 15–46. 4 Vgl. Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden, New York u. Köln 1995 (Brill’s Studies in Intellectual History Bd. 62), S. 243f. 5 In seinem unveröffentlichten Drama Pandämonium Germanicum lässt Lenz eine der Figuren rufen: »Er ist von meinen vertrautsten Freunden und schreibt kein Blatt, das er nicht vorher mir weist.« Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 1: Dramen – Dramatische Fragmente – Übersetzungen Shakespeares. München u. Wien 1987, S. 252.

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verbinden möchte. Semantisch dem Begriff der Kooperation eng verwandt, betont ›Kollaboration‹ den Aspekt gemeinsamen Arbeitens. Das in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft noch relativ ungebräuchliche Fremdwort ›Kollaboration‹ hat gegenüber der Bezeichnung ›literarische Zusammenarbeit‹6 den Vorteil, einen interdisziplinären Forschungskontext anzuzeigen, der an den aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussionen partizipiert.7 ›Kooperation‹ und ›Kollaboration‹ werden in diesem Zusammenhang unter Verzicht intentionalistischer Sozialmodelle bestimmt.8 Der Name für diese Form epistemologischer Verzichtserklärung lautete und lautet noch immer : Medien der Kollaboration und kollaborative Schreibmedien. Wer nach den Medien und Praktiken kollaborativen Schreibens im 18. Jahrhundert fragt, kommt nicht umhin, sich mit der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik auseinanderzusetzen: Autor und Werk als disziplinäre Grundkategorien forcieren die doppelte Unterscheidung von Selbst- versus Fremdkorrektur sowie von privater Kollaboration versus öffentlicher Autorschaft. In dieser Konstellation gehören Freundschaft und Patronage auf die Seite privater Zirkel, von denen sich der mündige Autor loszusagen hat, um die öffentliche Bühne zu betreten.9 Texte mit prekärem Werkstatus sind daher ausgezeichnete Quellen, um diese Dynamik zu untersuchen und eine Begrifflichkeit zu kultivieren, die das autonomieästhetische Bias der Literaturwissenschaft hinter sich lässt.

II. In der dreibändigen Ausgabe der Werke und Briefe von Jakob Michael Reinhold Lenz finden sich drei Texte, deren Kommentierung und werkhistorische Einordnung durch die Herausgeberin Sigrid Damm Einblicke in die Widersprüche und Probleme einer sozial- und medienhistorisch interessierten Literaturwissenschaft gewähren: Die Rubrik »Prosadichtungen« versammelt mit Das Tagebuch, Moralische Bekehrung eines Poeten und Der Waldbruder ein Pendant zu 6 Vgl. hierzu Bodo Plachta (Hg.): Literarische Zusammenarbeit. Tübingen 2001. 7 Vgl. Isabell Otto, Nacim Ghanbari, Samantha Schramm u. Tristan Thielmann (Hg.): Kollaboration. Beiträge zu Medientheorie und Kulturgeschichte von Zusammenarbeit. Paderborn [im Druck]. In den aktuellen Debatten ist wiederum eine weitere Verwendungsweise des Wortes festzustellen, wenn mit ›Kollaboration‹ eine Form utopischer Vergesellschaftung assoziiert wird. Vgl. Mark Terkessidis: Kollaboration. Berlin 2015. 8 Vgl. Erhard Schüttpelz u. Sebastian Gießmann: Medien der Kooperation. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Navigationen 15 (2015), H. 1, S. 7–55. 9 Vgl. Carlos Spoerhase: »Manuscript für Freunde«. Die materielle Textualität literarischer Netzwerke, 1760–1830 (Gleim, Klopstock, Lavater, Fichte, Reinhold, Goethe). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88 (2014), H. 2, S. 172–205.

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Werthers Leiden Schriften, die in der Literaturgeschichte häufig als »Schriften für Goethe«10 zusammengefasst werden, da Lenz die Manuskripte Goethe zuschickte und überdies Motive aus dessen Werk übernahm und weiterführte. Keine der genannten Schriften wird zu Lenz’ Lebzeiten gedruckt. Das Tagebuch und Der Waldbruder verbleiben in Goethes Besitz, der nach Lenz’ Tod mit Schiller über ihre Veröffentlichung entscheidet: Der Waldbruder wird für den Druck in Die Horen freigegeben.11 Das Tagebuch und Moralische Bekehrung eines Poeten will Goethe hingegen nicht veröffentlichen. Die Historizität des Phänomens einer Manuskriptübergabe bei unklarer Veröffentlichungsabsicht ist der Irritation abzulesen, die Sigrid Damm angesichts der genannten Schriften nicht verhehlen mag: Es verträgt sich nur schwer mit der Werkförmigkeit der Schriften, denen die Herausgeberin teilweise »inhaltliche und stilistische Geschlossenheit« bescheinigt.12 Als störend wertet sie ebenfalls die persönlichen Anreden, die sich durch Das Tagebuch und Moralische Bekehrung eines Poeten ziehen. Die genannten Schriften scheinen in einem Niemandsland beheimatet zu sein, in dem sich der Dramenautor Lenz, vermittelt über Briefe, in das Reich experimenteller Prosa hinüberträumt. Eine weitere Quelle der Irritation besteht im noch wenig bedachten Akt der Manuskriptübergabe bzw. -schenkung. Die Vermutung, dass Lenz Goethe die 10 Vgl. Rüdiger Scholz: Eine längst fällige historisch-kritische Gesamtausgabe: Jakob Michael Reinhold Lenz. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 195–229, hier S. 219. 11 Zur Bedeutung Schillers als Nachlassverwalter von Lenz vgl. Steven D. Martinson: Friedrich Schiller’s Preservation of the Work of J. M. R. Lenz. In: William Collins Donahue u. Scott Denham (Hg.): History and Literature. Essays in Honor of Karl S. Guthke. Tübingen 2000, S. 319–326. 12 Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus – Prosadichtungen – Theoretische Schriften. München u. Wien 1987, S. 882. Fragen kollaborativen Schreibens werden überdies in Aufsätzen verhandelt, die die Fertigstellung historisch-kritischer Werkausgaben begleiten und ausgehend von der Frage nach der Zugehörigkeit der Briefe zum Werk der Autorinnen und Autoren den Anteil der jeweiligen Briefpartnerinnen und -partner an den Texten thematisieren. Dies gilt zum Beispiel für die Edition der Werke Jean Pauls: Da einige Manuskripte deutliche Spuren einer fremden Hand aufweisen, stellen editionsphilologische Werkstattberichte die Bedeutung der Freunde als Kritiker und Verbesserer fest. Vgl. Monika Meier : »Heureusement« – Christian Otto als »Publikum«, »Leser« und »Rezensent« Jean Pauls. In: Jahrbuch der JeanPaul-Gesellschaft 41 (2006), S. 97–111; Barbara Hahn: »Geliebtester Schriftsteller«. Esther Gads Korrespondenz mit Jean Paul. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 25 (1990), S. 7–42. Doch hängt die Rezeption dieser Studien von der Aufmerksamkeit ab, die die Germanistik dem Schicksal einer Werkausgabe schenken mag und die in der Regel mit der Überreichung der vollständigen Werkausgabe an die Öffentlichkeit ihren Höhepunkt erreicht. Wenn sich die Werkausgabe als Grundlage germanistischer Forschung und Hilfsmittel erster Güte durchsetzt, geraten die Aufsätze aus dem Bereich der Werkgenese und damit die Frage nach dem Phänomen literarischer Kooperation und Patronage in Vergessenheit.

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

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Manuskripte geschenkt habe,13 leistet der Vorstellung einer exklusiven Gemeinschaft Vorschub, in der Lenz allein das Urteil seines mächtigen Freundes gelten lässt und das allgemeine Lesepublikum ausschließt. Die Briefe von Lenz vermitteln einen anderen Eindruck und helfen dabei, den Mythos ›Goethe/Lenz‹ medienhistorisch neu zu befragen.14 Auffallend an den Briefen ist die Dringlichkeit, mit der Lenz seine Freunde ersucht, Manuskripte zum Druck zu befördern. Da ihm »Buchhändlerverbindungen« fehlen,15 werden die Freunde als Vermittler adressiert und gebeten, sich für seine Werke zu verwenden.16 Herder wird unter anderem mit Die Soldaten und Pandämonium Germanicum betraut.17 Lavater erhält Die Wolken und Der neue Menoza.18 Der Hofmeister wird an Salzmann geschickt, Der Engländer an Schlosser.19 Als Herausgeber des Deutschen Museums lässt Boie mehrere Schriften drucken, unter anderem das Schauspiel Die Freunde machen den Philosophen.20 Die Algierer, eine Bearbeitung der Captivi von Plautus, geht an Gotter.21 Lenz verfügt also über ein Netz an Kontakten, in dem Goethe nur einer der vielen Adressaten seiner Schriften zu sein scheint – und noch dazu ein bisweilen gemiedener, fordert Lenz doch seine Freunde in einigen Fällen auf, Goethe keine Informationen über seine Stücke und Publikationsabsichten zukommen zu lassen.22 Für eine Reihe weiterer Texte wird in den Briefen allerdings sehr wohl das Wort ›Geschenk‹ verwendet. Zum Beispiel für das Gedicht Petrarch: Lavater! ich habe Dir einen Vorschlag. Du hast einen Buchhändler dem Du aufhelfen möchtest. Ich habe ein Gedicht das mir am Herzen liegt, hier ist eine Probe davon. Ich möchte Deinem Buchhändler das Gedicht schenken, wenn er mir sauberen Druck, sauberes Papier und allenfalls ein paar gutgestochene Vignetten, die zum Text paßten 13 Vgl. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 859. 14 Vgl. hierzu die nach wie vor erhellende Untersuchung von Erich Unglaub: »Das mit Fingern deutende Publicum«. Das Bild des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz in der literarischen Öffentlichkeit 1770–1814. Frankfurt a. Main [u. a.] 1983, S. 139–176. Zur rhetorischen Stilisierung der Briefe vgl. Jens Haustein: Jacob Michael Reinhold Lenz als Briefschreiber. In: Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter (Hg.): »Unaufhörlich Lenz gelesen …«. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. Stuttgart u. Weimar 1994, S. 337–352. 15 »Sie haben Buchhändlerverbindungen, ich will kann und werde nie welche haben.« Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 3: Gedichte – Briefe. München u. Wien 1987, S. 343. 16 Vgl. Unglaub: »Das mit Fingern deutende Publikum«, S. 150. 17 Vgl. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 338; ebd., Bd. 1, S. 739. 18 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 334–336; ebd., Bd. 1, S. 720. 19 Vgl. ebd., S. 708 u. S. 752. 20 Vgl. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 854. 21 Vgl. ebd., S. 348 u. S. 355f. 22 »Auch Goethen sag nichts davon, diesmal laß uns was alleine tun. Desto mehr Freude hat er dran wenn er überrascht wird. Ich hab ihm geschrieben ich arbeitete – aber nicht was?« – »Vor allen Dingen sagen Sie aber Goethen kein Wort von alledem, wenn Ihnen meine Freundschaft noch wert ist.« Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 336 u. S. 356.

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und bei denen Du ihm mit Deinem Geschmack zu Rate gingest verspräche. Es wäre mir sehr viel dran gelegen das Gedicht noch vor meiner Abreise in fremde Länder fertig zu sehen, um es jemanden überreichen lassen zu können, der sehr viel Anteil daran nehmen wird.23

Als Geschenk ist das Manuskript Bestandteil eines buchhändlerischen Tauschgeschäfts. Auch die Manuskripte, die Lenz Kayser zukommen lässt, sieht Kayser im mündlich inszenierten Duktus als Geschenke an: »Du mir die Sachen schenken mir das Glück das ich noch vor einem Jahr kaum wähnen dürfte – das Glück Dein Freund zu sein, vor der Welt mich nennen zu dürfen? – Herausgeber Deiner Sachen – –«.24 Als letztes Beispiel sei die Coriolan-Übersetzung genannt, die Lenz Herzog Karl August widmet25 und in Weimar überreicht. Die Schenkung ist ein öffentlicher Akt, und die Beispiele zeigen, dass das überreichte Manuskript ein Druck oder zumindest eine Reinschrift sein sollte.

III. Die Manuskripte wiederum, die Lenz Goethe zukommen lässt, sind keine Geschenke. Hier scheint es zunächst darum gegangen zu sein, die noch nicht publizierten Schriften einem befreundeten Autor zum Zweck der Verbesserung und Kritik vorzulegen. Diese Form kollaborativen Schreibens gehorcht einem eigenen Zeitregime. Das Einholen und die Einverleibung der Kritik dulden keinen Aufschub, weshalb die Manuskripte auf die Reise gehen, ohne dass der Autor zuvor hätte Abschriften anfertigen können.26 Nicht anders ist die Sorge zu verstehen, das einmal aus der Hand Gegebene nicht mehr zurückzuerhalten: »Herder! Ich will und muß ein Recepisse haben, ob Du die ›Soldaten‹, eine Komödie, erhalten hast. Ich habe sie Dir schon seit acht Wochen unterm Couvert der Jungfer König über Darmstadt zugeschickt, wie das Pandaemonium. Es ist mein einzig Manuskript, und wenn es verloren ist, so ist mein Leben mit verloren.«27 Obwohl auch Lenz die genieästhetische Rhetorik bedient, an seinen Stücken nie zu ›feilen‹,28 enthalten einige Briefe an ihn Anmerkungen und 23 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 328; vgl. hierzu auch Unglaub: »Das mit Fingern deutende Publicum«, S. 148f. 24 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 391. 25 »Seiner Durchlaucht dem Herzog unterthänigst gewidmet von Lenzen«. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 783. 26 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 355f., S. 385, S. 397 u. S. 406. 27 Ebd., Bd. 3, S. 339f. 28 Dieser Widerspruch scheint nach wie vor wirksam zu sein: »Ich musste auch diesen Text nach einem ersten handschriftlichen Entwurf zigmal überarbeiten. Soll ich eine hohe Zahl nennen? Zwölfmal? Zwanzigmal? Ich könnte behaupten: Zwanzigmal habe ich diesen Text ausgedruckt, überarbeitet, neugeschrieben und korrigiert – aber stehe ich dann nicht wie ein

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Verbesserungen, also ausdrücklich erwünschte Veränderungen seiner Schriften.29 So wie Lenz über eine Reihe von Freunden verfügt, die seine Texte an interessierte Buchhändler oder Vermittler von Buchhändlerkontakten weiterleiten, ist er auch Teil eines Netzwerks kritischer Kommunikation. Er steht in Korrespondenz mit Salzmann, Gotter, Herder, Sophie von La Roche und Merck – um nur einige zu nennen –, die seine Texte offenbar nicht nur weiterleiten, sondern auch verbessern. Aus den lückenhaft überlieferten Briefen lässt sich rekonstruieren, dass auch Goethe sich Lenz als ein verbessernd beratender Freund zur Verfügung stellte.30 Die Zirkulation von kritischen Anmerkungen stellt Nähe her – man denke an die Gleichsetzung von »Korrektur« und »Liebesdienst« in Lenz’ Briefen an Lavater31 –, ist jedoch nicht frei von ständischen Reglements. Parallel zum Gleichheit stiftenden Akt kritischen Austauschs gibt es daher den häufigeren Fall der Urteilsenthaltung, die auf wirksame Weise Grenzen markiert und aufrechterhält: Die Anekdote über Klopstock, er sei ein Mann, der nur sich selbst und die Zeitung lese,32 sagt viel aus über dessen Status als Patron, genauso wie die kritische Enthaltung Gottfried August Bürgers gegenüber den Gedichten Philippine Gatterers erlaubt, Rückschlüsse auf die Geschlechterpolitik der gelehrten Republik zu ziehen.33 Vor diesem Hintergrund ist Das Tagebuch beides

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pedantischer Beamter meines eigenen Schreibens da? Als Literaturbürokrat? Nein, ich behaupte lieber, all das, was ich hier von mir gebe, sei mir klingend wohlformuliert in einem Guss aus der Feder geflossen, es ist mir halt gegeben, ich bin geküsst.« David Wagner : Sie essen Aal, gehen tanzen. In: Merkur 69 (2015), H. 794, S. 75–78, hier S. 77. Vgl. beispielsweise Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 362. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 845. Goethes ›Korrekturpolitik‹ ist eine eigene Untersuchung wert. Vgl. Jochen Golz: Der Publikumsfreund Schiller und sein Autor Goethe. Ein Blick in die Werkstatt der Venezianischen Epigramme. In: Plachta: Literarische Zusammenarbeit, S. 121–130, hier S. 129; Edith Nahler : Johann Peter Eckermann und Friedrich Wilhelm Riemer als Herausgeber von Goethes literarischem Nachlaß. In: Karl-Heinz Hahn (Hg.): Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte. Studien. Weimar 1991, S. 75–84; Barbara Becker-Cantarino: Goethe as a Critic of Literary Women. In: Karl J. Fink u. Max L. Baeumer (Hg.): Goethe as a Critic of Literature. Lanham 1984, S. 160–181; Ernst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: ders. (Hg.): Beiträge zur Goetheforschung. Berlin 1951, S. 1–34, hier S. 16. Von Interesse ist außerdem Miriam Albracht, Iuditha Balint u. Frank Weiher (Hg.): Goethe und die Arbeit. Paderborn [in Vorbereitung]. Vgl. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 309 u. S. 335. Vgl. Annette Lüchow: ›Die heilige Cohorte‹. Klopstock und der Göttinger Hainbund. In: Kevin Hilliard u. Katrin Maria Kohl (Hg.): Klopstock an der Grenze der Epochen. Berlin 1995, S. 152–220, hier S. 169. »Die Gedichtchen erfüllen als gesellschaftliche Scherze insgesamt (freilich eins mehr, das andere weniger) ihren Zweck, nämlich den, zu belustigen. Und was kann man weiter verlangen? Eine gutmütige Kritik kann es alsdann kaum über ihr Herz bringen, Fehler aufzusuchen und gegen einander abzuzählen.« Gottfried August Bürger und Philippine Gatterer.

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zugleich: Bitte um Kritik, vorgebracht von Lenz aus der Haltung des Klienten heraus, und Kommentar : von gleich zu gleich. Die vielfachen formalen und inhaltlichen Anspielungen auf Goethes Werther (1774) nehmen die Form eines ›Mitschreibens‹ an den Schriften des Freundes an. Der Anfang des Tagebuchs, der dem ersten Eintrag »Erster Tag« vorangeht, wird in der Literaturwissenschaft häufig als »Vorrede«, »Vorspann«, »Vorbericht«, »Rahmenerzählung« oder »Einleitung« bezeichnet.34 Für die expositorische Funktion dieses Abschnitts sprechen die Anführung der zentralen Figuren des nachfolgenden Dramas sowie die Anmerkung des letzten Satzes, dem Tagebuch nicht vorgreifen zu wollen.35 Hinzu kommt, dass die Absätze dieses Textes – wie nur aus der Handschrift zu ersehen36 – leicht und gleichmäßig eingerückt sind, während das Nachfolgende auf Absatzmarkierungen verzichtet. Obwohl der Anfang in dieser gestalterischen Hinsicht vom Rest abweicht, gibt es gute Gründe dafür, ihn als Teil des Tagebuchs selbst – und damit als erste Aufzeichnung – zu lesen. Um eine weitere Beobachtung zur Handschrift anzuschließen: Der Eintrag »Erster Tag« schließt unmittelbar – wenn auch auf einer neuen Seite – an den Anfang an. Es ist somit davon auszugehen, dass der Schreibprozess mit diesem Text einsetzte. Als kontrastierendes Beispiel lässt sich die – von Lenz selbst so bezeichnete – »Vorrede« der Moralischen Bekehrung eines Poeten heranziehen. Da diese Vorrede auf einem gesonderten Blatt geEin Briefwechsel aus Göttingens empfindsamer Zeit. Hg. v. Erich Ebstein. Leipzig 1921, S. 135. 34 Vgl. Rudolf Käser : Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des »Sturm und Drang«: Herder – Goethe – Lenz. Bern [u. a.] 1987, S. 309 u. S. 316; Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 859; Jürgen Stötzer : Das vom Pathos der Zerrissenheit geprägte Subjekt. Eigenwert und Stellung der epischen Texte im Gesamtwerk von Jakob Michael Reinhold Lenz. Frankfurt a. Main [u. a.] 1992, S. 45; Jörg Schönert: Literarische Exerzitien der Selbstdisziplinierung. »Das Tagebuch« im Kontext der Straßburger Prosa-Schriften von J. M. R. Lenz. In: Stephan u. Winter : »Unaufhörlich Lenz gelesen …«, S. 309–324, hier S. 313; Inge Stephan: »Meteore« und »Sterne«. Zur Textkonkurrenz zwischen Lenz und Goethe. In: Lenz-Jahrbuch 5 (1995), S. 22–43, hier S. 28; Karin A. Wurst: Das Schlaraffenland verwilderter Ideen. Narrative Strategien in J. M. R. Lenz’ Erzählwerk. Würzburg 2014, S. 119. 35 Für diesen Hinweis danke ich herzlich Lisa Utsch. 36 Die Handschrift des Tagebuchs liegt in Form eines Heftes vor. Es besteht aus mehreren ineinander gelegten Seiten, die in der Mitte gefaltet, jedoch nicht gebunden sind. ›Wunderliche Hefte‹: Die Worte, die Goethe in seinem Brief vom 1. Februar 1797 an Schiller verwendet, um den Nachlass von Lenz zu charakterisieren, sind zumindest auf materialer Ebene zutreffend. Verglichen mit der Handschrift eines weiteren Textes, den Lenz Goethe zuschickt, dem Pandämonium Germanicum, macht jedoch Das Tagebuch einen ›angebrochenen‹ Eindruck. Erstere besitzt eine Art Umschlag, auf dem in der Mitte der Titel steht. Vgl. Berlin, StB PKB, NL Lenz, Bd. 3 (Nr. 183), Bl. 44 u. Bd. 3 (Nr. 218), Bl. 60. Ob auch Das Tagebuch ursprünglich mit einem Umschlag versehen war, lässt sich nur schwer entscheiden – sicher ist, dass uns das Heft nur unvollständig vorliegt: Innerhalb der drei zehntägigen Zyklen, aus denen Das Tagebuch besteht, gibt es im Übergang vom zweiten zum dritten Zyklus eine Lücke von fünf Tagen.

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schrieben ist, vermutet man, dass sie erst nachträglich entstand.37 Der Vergleich der beiden Handschriften erschwert somit die Deutung des ersten Abschnitts des Tagebuchs als Vorrede und Exposition. Für die Literarizität des Anfangs spricht bereits der erste Satz des Tagebuchs. Er ist als Zitat zu lesen, da der Erzähler den Adressaten Goethe auf eine Weise ins Vertrauen zieht, wie man es seit Samuel Richardsons Pamela, or, Virtue Rewarded (1740) allein von der ›Tochter in Not‹ kennt, die an die fernen Eltern schreibt: »My dear Father and Mother, I have great trouble, and some comfort, to acquaint you with.«38 So wie Pamelas Schreiben vom jungen Dienstherrn überwacht wird, skizziert auch der Erzähler des Tagebuchs eine Schreibsituation, in der er mit Hindernissen zu kämpfen hat: »Ich habe das Tagebuch unter den Augen meines bittersten Feindes und von dem ich abhing – geschrieben, in einer Sprache die er nicht verstund, aus der ich es dir wörtlich übersetze. Bisweilen hat er mir über die Schulter hineingesehen« (S. 289).39 Der bitterste Feind ist ein Offizier – im Tagebuch »der Schwager« genannt –, für den der Erzähler arbeitet und in dessen Haus er wohnt. Er berichtet mehrfach davon, wie ihm der Offizier nachstellt. Die Interaktion mit dem Offizier ist homoerotisch gefärbt40 – »er […] küßte mir die Schulter« (S. 315) – und die Situation ähnelt der der verfolgten Unschuld, die, einen Augenblick unbewacht, vom bösen Verführer überrumpelt wird: »Wir waren allein im Zimmer« (ebd.). Diese Ähnlichkeit wird sogar zum Gegenstand eines boshaften Scherzes, wenn der Schwager meint, der Erzähler, der über »Weh auf der Brust« klagt (S. 313), »werde wohl itzt auch Engheiten bekommen wie sie« (S. 314). Der Erzähler besetzt die Position der ›Verfolgten‹. Für die Deutung des Tagebuchs ist damit eine wichtige intertextuelle Semantik gewonnen.

37 Vgl. Ulrich Kaufmann: Neuer Blick auf alte Funde. Die Lenziana in Weimar. In: David Hill (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk. Opladen 1994, S. 214–221, hier S. 217. 38 Samuel Richardson: Pamela; or, Virtue Rewarded [1740]. Hg. v. Peter Sabor. London 1985, S. 43. Zur Rezeption von Richardsons Pamela in Deutschland vgl. die klassische Studie von Lawrence Marsden Price: Die Aufnahme englischer Literatur in Deutschland 1500–1960. Übers. v. Maxwell E. Knight. Bern u. München 1961 [1953], S. 169–186. 39 Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die folgende Ausgabe des Tagebuchs: Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 289–329. 40 Vgl. hierzu auch Roman Graf: The Homosexual, the Prostitute, and the Castrato. Closet Performances by J. M. R. Lenz. In: Alice A. Kuzniar (Hg.): Outing Goethe & his Age. Stanford 1996, S. 77–93. Allerdings verbucht Graf auch die für die empfindsame Briefkultur nicht ungewöhnliche Liebesbekundung zwischen männlichen Freunden ohne Umschweife als Teil homoerotischen Spiels. Vgl. Graf: The Homosexual, S. 80.

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IV. In der jüngeren literaturwissenschaftlichen Besprechung von Lenz’ Tagebuch wird der fiktionale Status des Textes kaum mehr bestritten. Galt er lange Zeit als persönliches autobiographisches Dokument, liegen inzwischen einige Studien vor, die – als formbewusste Gegenstrategie zur ›inhaltistischen‹ Vorgehensweise – die komplexe Form des Tagebuchs, sein Spiel mit verschiedenen Zeitebenen und die intertextuellen Verweise diskutieren.41 Doch auch in diesen Studien wird der Anfang des Tagebuchs aus der formalen Analyse ausgespart und lediglich die reale Briefkommunikation der beiden befreundeten Autoren als Erklärung bemüht. Man kann also behaupten, dass die alte Verachtung dieses Textes als »privates Dokument«42 in den neueren Aufsätzen als Geringschätzung des »Einleitungsteil[s]«43 wiederkehrt. Die briefförmigen Elemente des Tagebuchs werden überdies nicht interpretiert, obwohl sich die Goethe-Anrede des Anfangs in den nachfolgenden Einträgen wiederholt.44 Der Vergleich dieser ersten Aufzeichnung mit den drei folgenden Zyklen, die jeweils – bis auf die genannten Lücken zwischen dem zweiten und dritten Zyklus – aus Einträgen zu zehn Tagen bestehen, liefert wichtige Argumente für die Deutungshypothese, dass Lenz mit dem Tagebuch die Emanzipation eines verfolgten Klienten von seinem Patron und Peiniger dramatisiert. Der erste Zyklus führt den Erzähler als Klienten ein, indem er die für Lenz’ Klienten typische Bewegungsform des Schleichens und Hin- und Herlaufens etabliert.45 Auf eine knappe szenische Formel gebracht: ›Ich ging hin … und wieder fort‹. Jede Tagesnotiz zeichnet die Bewegungen des Helden auf, der – um sich »zu zerstreuen« (S. 293) und meist unschlüssig – das Haus der geliebten Araminta aufsucht, um es – bisweilen genauso unschlüssig – wieder zu verlassen. Selbst für das höchste Glück des Verliebten findet der letzte Satz des Zyklus nur mehr die Bewegung leisen Fortschleichens: »[S]ie stand auf und ging fort und ich nachdem ich dem Weibe noch einige Mienen gemacht, trunken von meinem 41 Vgl. Katharina Grätz: Aporien des Sturm und Drang. Die Selbstdemontage des Subjekts in J. M. R. Lenz’ Erzählung Das Tagebuch. In: Euphorion 97 (2003), H. 2, S. 163–191; Schönert: Literarische Exerzitien; sowie Stötzer : Das vom Pathos der Zerrissenheit geprägte Subjekt, S. 39–64. 42 »Das ›Tagebuch‹ ist genau genommen keine Dichtung, sondern ein privates Dokument, von seinem Verfasser keineswegs zur Veröffentlichung bestimmt.« Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Hg. v. Britta Titel u. Hellmut Haug. Bd. 1. Stuttgart 1966, S. 629. 43 »Er [Lenz, N.G.] stellt den eigentlichen Tagebuchaufzeichnungen einen orientierenden Einleitungsteil voran.« Grätz: Aporien des Sturm und Drang, S. 169. 44 Um nur zwei Beispiele zu nennen: »– O Göthe hier laß mich die Feder weglegen und weinen« (S. 303) und »Stell dir vor Goethe!« (S. 317). 45 Vgl. die Bühnenanweisung zur Figur des Baccalaureus in Das Väterchen: »Schleicht sich näher und auf Herrn Schlingens Stuhl, wo er ununterbrochen ißt und trinkt, ohne auf die Gesellschaft Acht zu geben.« Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 36.

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Glück, schlich fort« (S. 296). Wenn der Held des Tagebuchs nicht schleicht, bricht er hastig auf und fliegt davon (vgl. S. 294).46 Abendgesellschaften halten Anfang und Schluss des Zyklus zusammen, während die übrigen Einträge in loser Aneinanderreihung von nachmittäglichen Zusammenkünften im Haus erzählen. Diese Zusammenkünfte können als Elemente eines Kammerspiels dechiffriert werden, und Das Tagebuch erinnert durch die Typisierung der Figuren und deren abruptes Auf- und Abtreten an die commedia dell’arte. In diesem rudimentären Drama sieht sich der Held in seinem amourösen Ansinnen vom Schwager und von dessen abwesendem Bruder Scipio bedroht und präsentiert sich vom ersten Eintrag an als jemand, der sich gern ablenken lässt: »Mich zu zerstreuen ging ich hin und fand dort ein niedlich junges Weib, mit der ich mancherlei redte. Araminta tat nicht eifersüchtig« (S. 293). Neben dem »niedlich jungen Weib«, von dem wiederholt die Rede sein wird, taucht als weitere Variation der Araminta ihre Schwester auf, von der es heißt, dass sie »das erstemal öffentlich zum Bezaubern gesungen hatte« (S. 294). Als Abweichung von der Konstellation einer um Übertragungsfiguren erweiterten m8nage / trois liest sich der Eintrag zum sechsten Tag, der die Kette zerstreut-abgelenkter Handlungen mit der Statik der Lektüre unterbricht: »Ich las deinen Werther« (S. 295). Mit dem wiederholten Verweis auf Goethes Werther47 ist eine stilistische und motivische Veränderung des Tagebuchs angezeigt, die insbesondere die Schreibweise des zweiten Zyklus kennzeichnet: Die kurzen, mitunter zweizeiligen Notizen werden abgelöst durch Einträge, die sich über mehrere Seiten ziehen und die Vorgeschichte der Figuren offen legen. Die Kammer der Araminta als räumlicher Bezugspunkt wird erweitert um eine ländliche Szenerie, die sich durch fahrende Kutschen und dunkle Landhäuser auszeichnet.48 Der charakteristische Eröffnungssatz des ersten Zyklus »Ich ging hin« wird im zweiten Zyklus versetzt und in die ausschweifenden Überlegungen des Helden eingebettet (vgl. S. 304). Der Konflikt zwischen dem Erzähler und seinem Dienstherren, dem Schwager, unterbricht das Liebesdrama.49 46 Vgl. hierzu auch folgende Bühnenanweisung in der ersten Szene von Pandämonium Germanicum: »Lenz kriecht auf allen Vieren.« Lenz: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 248. Zu den »Bewegungsqualitäten« bei Lenz vgl. auch Georg-Michael Schulz: »Läuffer läuft fort.« Lenz und die Bühnenanweisung im Drama des 18. Jahrhunderts. In: Hill (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz, S. 190–201, hier S. 198. 47 »Ich ging hin aber den Nachmittag (alles das würkte der Werther) und blieb mit der Schwester […]« (S. 295). 48 Rudolf Käser liest diese Passagen als Anspielungen auf einen Schwangerschaftsabbruch. Vgl. ders.: Die Schwierigkeit, ich zu sagen, S. 322. 49 Die Beobachtung, dass die »selbstunterbrechenden Texte von Lenz« die Tendenz haben, »plötzlich umzuschalten und in umgekehrte Richtung zu gehen«, lässt sich daher auch auf Das Tagebuch münzen: Der zweite Zyklus unterbricht das Liebesdrama und eröffnet eine neue Szene. Vgl. Alan Leidner : Zur Selbstunterbrechung in den Werken von Jakob Michael

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Der Erzähler des zweiten Zyklus scheint dementsprechend verwandelt. Im ersten Zyklus noch ein Bote auf Abruf, zeigt er sich im zweiten entschlossen, »von dem Schwager auszuziehen und so in völliger Freiheit und die Qual meiner Seele von niemand beobachtet oder gehemmt, den Ausgang der Sache abzuwarten« (S. 304). Die Emphase der Emanzipation wird allein durch die Form des Tagebuchs selbst und die Iteration der zehntägigen Struktur hintertrieben. So ist schon dem Anfang des zweiten Zyklus der Überdruss der Wiederholung eingeschrieben: »Schon wieder setzten mich ihre Komplimente und Unvorsichtigkeiten in Bestürzung« (S. 297). Auch der zweite Eintrag wartet mit einem repetitiven Vorgang auf: »Schon wieder große Komplimente auf den Abend durch den Schwager« (S. 298). Alle Vorgänge erweisen sich als reflexhafte Reenactments früherer Verfehlungen und Rettungsversuche. So auch der Plan des endgültigen Auszugs aus dem Haus der Dienstherren. Der Auszug aus dem Haus bedient sich der Sündenfallmetapher und wird im Tagebuch als Fortsetzung eines Traums erzählt: Der erste Eintrag des zweiten Zyklus handelt davon, wie der Erzähler »einen tiefen Keller hinab« (S. 297) fällt. Erst »im Fallen« fällt ihm die Prophezeiung einer »Kaffeesatzwahrsagerin« (ebd.) ein, und er bleibt »auf der sechsten Stufe ungefähr glücklich aufrecht […] stehen« (ebd.).50 Im sechsten Eintrag dann der zweite Vorfall. Während der Erzähler dem Schwager bei seinem Eintreten in die dunkle Kammer mit Licht entgegentritt, erinnert er sich an einen Traum, in dem er vom Schwager bedrängt wurde. Diese Erinnerung bewahrt ihn davor, vom Degen des Schwagers verletzt zu werden, der beim Eintreten – »das Gesicht ganz verzerrt« (S. 306) – auf ihn stürzt.51 Der Traum des Erzählers und seine Deutung sind für das Verständnis des Tagebuchs erhellend. In diesem Traum führt der Erzähler »einen Wagen mit zwei großen schwarzen Pferden« (ebd.) und muss zusehen, wie ihm ein Pferd »plötzlich« davonläuft. Er fährt mit nur einem Pferd weiter, bis auch dieses sich losreißt. Der Erzähler kommt »im Angesicht eines großen Schlosses« zum Stehen und betritt das Schloss, »wo ich […] an einer großen Tafel aß, woran mein Vater und Scipio und meine Verwandte saßen« (ebd.). Der Gleichklang von »aß« und »saßen« ruft die Vorstellung einer asymmetrischen Situation auf, in der der Reinhold Lenz. In: Karin A. Wurst (Hg.): J. R. M. [!] Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag. Köln, Weimar u. Wien 1992, S. 46–63, hier S. 51 u. S. 62. 50 Die akribische Auflistung der Bühnenanweisungen im Neuen Menoza zeigt das Fallen als eine der bei Lenz vorherrschenden Bewegungsformen an. Vgl. Schulz: »Läuffer läuft fort«, S. 198f. 51 »Ich wich schnell zur Seite aus, da seine Degenspitze mir schon auf dem Brustlatz saß, etwas zu schnell, als daß er den Spaß länger fortsetzen konnte, da er in dem lustigsten Humor von der Welt war. Er lachte überlaut – vielleicht ein ganz Partei neckischer Gnomen mit ihm: ich lachte auch – dachte aber, dies soll mich vielleicht zu einer ernsthaftern Szene von dieser Art vorbereiten und panzerte meine Brust« (S. 306f.).

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Erzähler womöglich als Parasit an der Tafel der Großen – so die Umschrift der großen Tafel – ›mit isst‹. Überhaupt ist in dieser Traumsequenz die Häufung des Adjektivs ›groß‹ auffällig und lässt den Erzähler entsprechend schrumpfen: zwei große Pferde, ein großes Schloss, eine große Tafel. In diese Szene bricht plötzlich »eine kleine Gestalt« (ebd.) herein, die den Erzähler an den Schwager erinnert. Dieser »rote Zwerg« (ebd.) drängt ihn in die Ecke, bis er ihm fast den Atem nimmt. Aus dieser Not wird der Erzähler schließlich von Scipio befreit – womit der Traum endet. Auffällig ist die Umdeutung des passiven Verlassenwerdens in den Vorgang aktiver Emanzipation. Statt Licht ins Dunkel zu bringen, hält Das Tagebuch eine klassische Fehldeutung fest. Während der Traum davon handelt, wie die Pferde plötzlich lospreschen und den Erzähler ›sitzen lassen‹, versetzt sich dieser in der Wiedergabe seines Traums in die Position der ausbrechenden Pferde: »– Einige Stücke dieses Traums waren wirklich seither schon in Erfüllung gegangen, ich hatte mich vom ältesten geschieden – hernach vom mittelsten und das mit nicht wenig Geräusch […]« (ebd.). Als weitere Auffälligkeit ist die ambivalente Position Scipios – abwesender Dienstherr und der älteste der drei adligen Brüder – zu nennen. Der Traumtext verortet ihn sowohl auf der Seite der störrischen Pferde (Dienstherren) als auch auf der Seite der Verwandten. Scipio ist darüber hinaus Teil des Konflikts und gleichzeitig Retter in der Not: »Scipio so deucht’ es mich, kam dazu, nahm sich meiner an und schaffte den roten Zwerg fort« (ebd.). Gemäß den Deutungsvorgaben des Erzählers ist die Rettung durch Scipio derjenige Teil des Traums, der noch nicht in Erfüllung gegangen ist.

V. Die Unzugänglichkeit von Lenz’ Tagebuch ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass auf der strukturalen Ebene des Textes Scipio und Goethe eine vergleichbare Position besetzen. Die intertextuelle Rahmung der Pamela-Konstellation und der Traum zeigen den ›abwesenden älteren Bruder/Vater‹ als Wunschfigur an, von deren Wiederkehr sich der Erzähler einerseits die Auflösung seiner Konflikte erhofft und die er andererseits ebenfalls auf der Seite der Peiniger vermutet. Eine solche Deutung setzt allerdings voraus, die in der Literaturwissenschaft geläufige semantische Trennung zwischen Freund, Dienstherr und Patron aufzugeben. Übertragen auf das spezifische, stets in der »Nachbarschaft zu Goethe«52 operierende Schreiben von Lenz bedeutet dies, dass Lenz seine Publizität mit dem Verlust der Patronage als Modus literarischer Kooperation bezahlt sieht und sie – in der Traumlogik des Tagebuchs – mit dem 52 Unglaub: »Das mit Fingern deutende Publicum«, S. 176.

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unwiderruflichen Auszug aus dem Haus und dem Sündenfall assoziiert. Außerhalb der kollaborativen Schreibsituation mit Goethe nimmt sich Lenz vor allem als »verunglückten Komödienschreiber«53 wahr. Eine solch problematisierende Deutung von Lenz’ »Quasi-Publizität«54 unterstützen neuere Arbeiten aus dem Bereich der Medien-/Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, die eine Revision des paradigmatischen Gegensatzes ›privat im Medium der Handschrift‹ versus ›öffentlich im Medium des Drucks‹ einfordern.55 Die Kritik an der Gleichsetzung von Öffentlichkeit und Druck ist um die Kritik der Kategorie des Privaten in der Literaturwissenschaft zu erweitern. Denn während die Begriffe ›Öffentlichkeit‹ und ›Druck‹ einen erhöhten Analysebedarf anzeigen, signalisiert die Kennzeichnung einer Schrift als ›privat‹ die Unmöglichkeit einer ernsthaften Auseinandersetzung.56 Die Tatsache, dass Lenz nach wie vor als Dramatiker geschätzt wird, ist nicht zuletzt auf die teilweise Klassifizierung seiner Prosaschriften als private Dokumente zurückzuführen. Das Konzept der Kollaboration korrigiert das analytische Ungleichgewicht zwischen ›veröffentlichtem‹ und ›privat-unveröffentlichtem‹ Schreiben. Die Untersuchung kollaborativer Praktiken verbindet die als unvereinbar gedachten Sphären und verdeutlicht insbesondere für das 18. Jahrhundert sowohl die Vorläufigkeit des Drucks als auch die Dynamik kritischer Netzwerke, die jenseits anonymer Rezensionsorgane wirksam werden. Dabei wird die Grenze kollaborativen Schreibens sichtbar, gedacht als Summe kritischer, verbessernder Praktiken: Während sich freundschaftliche Kritik und Verbesserung auf das gemeinsame Ziel einer erfolgreichen Veröffentlichung richten, zeugen Lenz’ Manuskriptsendungen an Goethe von einer Schreibpraxis, welche die Druckabsicht dem Austausch zwischen befreundeten Autoren unterordnet. Die kollaborative Verbindung von Lenz und Goethe stellt schließlich insofern einen ›normalen Ausnahmefall‹ dar, als Goethes Urteilsenthaltung bei Lenz das persistente Verschicken von Manuskripten bewirkt. Ausgehend von der theoretischen Annahme einer ›langen Dauer‹ der Praktiken im Gegensatz zur ›kurzen Dauer‹ wissenschaftlicher und ästhetischer Programmatik sind abschließend zwei Punkte festzuhalten: Die verschiedenen Konstellationen freundschaftlicher Publizität im 18. Jahrhundert lassen sich vermittelt über kollaborative Praktiken der Verbesserung und Kritik für die 53 Vgl. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 329. 54 Unglaub: »Das mit Fingern deutende Publicum«, S. 176. 55 Vgl. Carlos Spoerhase: Empfindsame Lyrik im Medium des modernen Manuskriptbuchs. Das »Silberne Buch« von Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 69 (2014), S. 59–75, hier S. 61f. 56 Vgl. hierzu die Überlegungen zum verkürzten Verständnis des »Manuscripts für Freunde« als Privatdruck in Spoerhase: »Manuscript für Freunde«, S. 197f.

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

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Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften, deren Frühgeschichte in der Regel im 19. Jahrhundert verortet wird, aufschließen. Kooperation in den Geisteswissenschaften kann daran anschließend als Zusammenspiel von Praktiken und (hier briefförmigen) Genres definiert werden, welche die institutionellen und disziplinären Grenzen zugunsten freundschaftlicher Netzwerke auflösen und dabei nicht selten asymmetrische Verhältnisse der Patronage und neue Formen akademischen Mäzenatentums etablieren.

Constanze Güthenke

Das Erkennen des Einzelnen. August Boeckhs Symphilologie

I.

Symphilologie und Nostalgie

Die Geisteswissenschaften haben kooperative Arbeit nicht als Teil ihrer Fachidentitäten integriert, und sie tun sich noch immer schwer, Arbeitsweisen zu erkennen und anzuerkennen, die Arbeit im doppelten Sinne des Wortes teilen, nämlich sowohl in der Bedeutung des trennenden Auseinanderteilens und Verteilens, als auch in der des verbindenden miteinander Teilens.1 Ich möchte hier versuchsweise den epistemischen Voraussetzungen solcher Schwierigkeiten und ihren fachlichen Genealogien nachgehen, mit einem Schwerpunkt auf der klassischen Philologie, die sich selbst über lange Strecken im langen 19. Jahrhundert als grundsätzliche Philologie verstand und auch von anderen so verstanden wurde. Der Begriff ›Symphilologie‹ soll in diesem Band, so seine Herausgeber, zur Reflektion über die Möglichkeit kooperativen Arbeitens, historisch, gegenwärtig und zukünftig, in den Geisteswissenschaften einladen. Doch in der Formulierung des Begriffs zeigen sich sogleich gewisse Spannungen: einerseits ist Symphilologie nach dem Modell Schlegel’scher Symphilosophie ein ambitiöses, idealisches Programm; andererseits werden Kooperationspraxen sehr schnell im historischen Sinne von Zu- und Hilfsarbeiten als metonymisch für alle Formen der Arbeitsteilung in einer Wissensgemeinschaft verstanden. Reflektiert dies ein eigenes Unbehagen angesichts der Schwierigkeit, kooperative Handlungen nicht nur historisch und gegenwärtig neu sichtbar zu machen, sondern auch selbst einer neuen Wertschätzung zuzuführen? Noch dazu gesellt sich eine andere Spannung: Ist Symphilologie vorwärts oder rückwärts gewandt? Im Kontext Friedrich Schlegels ist Symphilologie ein Ruf nach einer ›zukunftsweisenden‹, in hohem Maße reflektiven und produktiven Symphilosophie (die ihrerseits bereits auf einem antiken Begriff des sulvikosovei˜m fußt), 1 Siehe z. B. V8ronique G8ly : Partages de l’Antiquit8. Un paradigme pour le comparatisme. In: Revue de Litt8rature Compar8e 344 (2012), H. 4, S. 387–395, mit weiteren Literaturangaben.

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wird dann jedoch konkretisiert in Bezug auf August Wilhelm Schlegels Einladung an den jüngeren Kollegen Jacob Grimm zu symphilologischer Lern- und Diskussionsgemeinschaft. Vor Kurzem haben Vinzenz Hoppe und Kaspar Renner in ihrer feinsinnigen Analyse der Schlegel’schen Anfrage bei Grimm gezeigt, dass Schlegel mit seinem Ansinnen einer Symphilologie tatsächlich einen zu dem Zeitpunkt bereits nostalgischen und überholten Begriff von ›Wissensgemeinschaft‹ und ›Geselligkeit‹ evoziert, der strategisch über die neueren Gefälle einer sich ausdifferenzierenden Wissenschaft (in diesem Fall der Indologie als Disziplin) und ihrer konkurrierenden Territorien und Persönlichkeiten hinweg helfen soll und letztendlich von Grimm auch auf nahezu repräsentative Weise nicht angenommen wird. Hoppe und Renner kommentieren dazu die essentiell hierarchischen Erwartungen, die Schlegels Symphilologie markieren: Das anvisierte Verhältnis der ›Symphilologen‹ ist nichts anderes als das von Lehrer und Schüler, mit Grimm in der Rolle des Lernenden, abgefedert durch den geselligen, heimischen und natürlichen Rahmen, in dem Tischgespräch und Spaziergang erwähnt werden. Hoppe und Renner nennen dies eine »Politik des Gastmahls«,2 und die platonischen Anklänge an eine gesellige Wissensgemeinschaft sind nicht von ungefähr. Der idyllisch-natürliche Rahmen der »heitern Gegend«, die Schlegel preist,3 mag auch ein Echo der Schauplatzgestaltung von Platons Dialog Phaedrus sein, in der Sokrates und Phaedrus am Fluss vor der Stadt Eros und Rhetorik diskutieren. Dies ist nicht unähnlich den vielen zeitgenössischen Evokationen des sokratischen und auch bei Extension des platonischen Kultes der Wissensgemeinschaft unter Freunden.4 Dass, nebenbei gesagt, dies auch der Dialog ist, der am explizitesten Platons Kritik an der Sekundarität der Schrift im Gegensatz zur Adaptabilität des mündlichen Gesprächs formuliert (274b–277d), mag die Evokationskraft dieser Urszene einer pädagogischen Wissensgemeinschaft noch steigern. In der Zeit um und nach 1800, zu der Verschriftlichung, zum Beispiel in der exklusiven 2 Vinzenz Hoppe u. Kaspar Renner : Symphilologie. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Briefwechsels zwischen Jacob Grimm und August Wilhelm von Schlegel. In: Ulrich Breuer, Remigius Bunia u. Armin Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie. Paderborn 2013 (Schlegel Studien Bd. 7), S. 71–96, hier S. 88. 3 August Wilhelm Schlegel an Jacob Grimm, 28. Februar 1827. In: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 8: Briefwechsel der Brüder Grimm mit Friedrich von Schlegel und August Wilhelm von Schlegel. Hg. v. Elisabeth Stoye-Balk, Vinzenz Hoppe u. Philip Kraut [erscheint voraussichtlich Stuttgart 2016]; hier zitiert nach Hoppe u. Renner : Symphilologie, S. 88. 4 Ein Überblick über das Material und seine Signifikanz für eine Platon-Rezeption, die den Kreis der Bewunderer und Adepten im Sinne des empfindsamen Freundschaftskultes vorstellt, bei Bernd Auerochs: Platon um 1800. Zu seinem Bild bei Stolberg, Wieland, Schlegel und Schleiermacher. In: Klaus Manger (Hg.): Wieland-Studien III. Sigmaringen 1996 (Wieland-Archiv Biberach), S. 161–193.

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Seminarkultur, ein zentraler Teil der Wissenskultur wird, die damit weniger Emphase auf Mündlichkeit als artikulierten Teil wissenschaftlichen Arbeitens und Qualifizierens legt, nimmt eine solche Szene also zugleich, neben ihrem Identifikationspotential, noch stärker nostalgische Züge an.5 Ich werde im Folgenden auch noch einmal auf die Linie zurückkommen, die von dem natürlichen, idyllischen oder zumindest sozial ebenbürtigen Rahmen einer idealisierten platonischen Lerngeselligkeit zu der im philologischen Seminar institutionalisierten Wissensproduktion läuft. Wenn ›Symphilologie‹ hier im Fall von Schlegel und Grimm also als notwendige, Status affirmierende Illusion erscheint, die symptomatisch eine sich herausdifferenzierende Landkarte neuer Disziplinen und neuer Disziplinarität markiert, so muss dies kein Einzelfall sein. Zwei weitere Vergleichsfälle mögen hier hilfreich sein. Friedrich August Wolfs Programmschrift Darstellung der Alterthumswissenschaft von 1807, die gerne als Gründungsdokument der altertumswissenschaftlichen Philologie gesehen wird, erwähnt und zitiert in einer Fußnote epischen Ausmaßes die »in einem Briefwechsel verstreute[n] Gedanken eines Gelehrten« und Symphilologen, eines ›gewissen einst mit uns mitphilologisierenden Edelmannes‹ (»sulvikokocoOmt|r tim|r pohû Bli˜m jakoO jÁcahoO«).6 Jürgen Trabant hat gezeigt, dass der namenlose Edelmann, »wie man deren«, laut Wolf, »in unseren Zeiten höchst selten unter Männern seines Standes findet«, kein Geringerer als Wilhelm von Humboldt ist, dessen Aufsatz Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondre (1793) von Wolf im Text der Fußnote über mehrere Seiten hinweg ausführlich exzerpiert wird.7 Trabant wertet Wolfs Charakterisierung Humboldts als sulvikokocoOmt|r tim|r, als Ausdruck eines »professorale[n] Loben[s] und Verdrängen[s]« zugleich, das er als zukunftsweisend sieht für die untergeordnete Rolle, die Humboldt als für die Philologie wichtigem, jedoch nicht universitär institutionalisiertem Denker auch später innerhalb der Historiographie der Disziplin zu eigen wird.8 Die »Erniedrigung und multiple Zerstörung des symphilologierenden Textes« ist dabei besonders auffällig, denn die Textpassagen, ohne 5 Carlos Spoerhase u. Mark-Georg Dehrmann: Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), H. 1, S. 105–117, hier S. 108. 6 Friedrich August Wolf: Darstellung der Alterthums-Wissenschaft. In: ders.: Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache. Bd. 2: Deutsche Aufsätze. Hg. v. Gottfried Bernhardy. Halle 1869, S. 808–895, hier S. 888. 7 Jürgen Trabant: Humboldt, eine Fußnote? Wilhelm von Humboldt als Gründergestalt der modernen Altertumswissenschaft. In: Annett M. Baertschi u. Colin G. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts. Berlin [u. a.] 2009 (Transformationen der Antike Bd. 3), S. 25–43. 8 Ebd., S. 29.

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Autornamen und falsch datiert aus dem Haupttext ausgeschlossen, sind in der Tat keine »durch einen angenehmen Zufall mir vorliegenden Bruchstücke«, wie Wolf will, auch kein Transkript eines rein geselligen Momentes, sondern ein systematischer Text, aus dem Wolf auswählt.9 Ein Text zudem, der einen methodologischen Ganzheitsanspruch stellt, und für Humboldt auf einen Ruf nach einer großen, vergleichenden Kulturgeschichte der Menschheit hinausläuft. Auch hier also sehen wir ein Verdecken komplexer intellektueller Beziehungen im Rahmen der Konstitution einer wissenschaftlichen Disziplin, das über die Symphilologie strategisch und nachträglich ein utopisch-geselliges Gegenmoment beisteuert. Ein drittes Beispiel ist der Begriff der ›Symphilologie‹ wie ihn der Klassische Philologe Friedrich Creuzer 1808 in einem Brief aus Heidelberg an den Rechtshistoriker Friedrich Karl von Savigny benutzt. Hier drückt Creuzer sein Bedauern aus über einen erfolglos angedachten Plan, den Freund an die Universität Heidelberg zu locken, sowie sein Unbehagen an der eigenen Situation: Was die Hauptsache betrifft, so können Sie wohl, ohne Fingerzeig, aus den vielen Gründen meines letzten Briefs die 2 Hauptgründe herausfinden. Es ist 1) meine Sehnsucht nach der Möglichkeit philologischer Forschung (welche leztere mir immer lieber gewesen ist als das Lehren vom Katheder) und folglich nach Büchern, die ich hier zu so etwas gar nicht habe, auch nicht zu kriegen hoffen darf. 2) Das 2te ist die Liebe zu Ihnen und die Symphilologie mit Ihnen. Es gehört zur Sache und ich muß es Ihnen also selbst sagen, daß ich noch niemals mit einem Menschen einen lebendigen gelehrten Verkehr gehabt habe, als mit Ihnen. Seit dem Marburger Aufenthalt stehe ich in diesem Stück ganz allein. [Der jüngere, neue Kollege] Böckh, obwohl von würdiger Denkart und gelehrt, ermangelt doch der Universalität, um für dasjenige Empfänglichkeit zu behalten, was den Andern gerade jezt interessirt. Jene Symphilologie hoffte ich nun, jezt in reifern Jahren, mit Ihnen da wieder anzuknüpfen, wo sie abgebrochen worden, umgeben von hinlänglichem literarischen Apparat.10

Dahlmann, der Herausgeber des Briefwechsels, verweist an dieser Stelle auf zwei weitere Briefe aus der von Creuzer erwähnten Marburger Zeit (Nr. 3 vom 20. April 1799 und Nr. 15 vom 2. September 1799), die, unter Einfluss der Ideen Friedrich Schlegels, diesmal von der »Symphilosophie« mit Savigny sprechen: zwischen der gemeinsamen Marburger Zeit und der rückblickenden Heidelberger Warte des mittlerweile etablierten Professors Creuzer steht also auch der Wechsel von der einst geforderten Symphilosophie zur erinnerten Symphilologie: kann es die Institutionalisierung sein, die dem Ausleben des »Syn-« im Wege steht? Auch Creuzer im Übrigen ist, wie Schlegel im Vergleich zu Grimm 9 Ebd. 10 Friedrich Creuzer an Friedrich Karl von Savigny, 31. Mai 1808. In: Briefe Friedrich Creuzers an Savigny (1799–1850). Hg. v. Hellfried Dahlmann unter Mitarbeit v. Ingeborg Schnack. Berlin 1972, S. 244.

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und Wolf im Vergleich zu Humboldt, der Ältere, und auch hier finden wir das Erwähnen der Symphilologie eingebettet in eine vergangene Idylle, eine rückwärtsgewandte Utopie. Auch im Falle Creuzers zu einem Zeitpunkt, als das Verhältnis zwischen ihm und Savigny weiterhin freundlich aber viel weniger intensiv als zuvor ist,11 und zu einem Zeitpunkt an dem Savigny in Landshut seine eigene erfolgreiche universitäre Karriere verfolgt, im Einzugsbereich von altphilologischen Kollegen wie Friedrich Ast, den Creuzer, wie er mehrfach insinuiert, wenig schätzt. Ist der Appell an die Symphilologie also grundsätzlich ein nostalgisches Phänomen, ein selbst-verspätendes Verorten in einer neu disziplinierten Akademie? Eine notwendig erinnerte Vor- oder Grundform eigenständiger Philologie und Philologien? Dass die Philologie selbst sich als eine nachträgliche Form des Wissens versteht, lässt sich gut an dem von Creuzer erwähnten (und in seiner Wertschätzung ungenügend dem Universellen empfänglichen) jüngeren Kollegen August Boeckh zeigen, der 1811 einem Ruf an die neugegründete Berliner Universität folgte und dort über fünfzig Jahre das Philologische Seminar programmatisch für die deutsche Altertumswissenschaft prägte.12 In seiner über fünfzig Jahre hinweg gehaltenen Vorlesung Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften erhebt Boeckh die Philologie zu einem quasi-aristotelischen zivilisatorischen Grundbedürfnis (in Analogie zum menschlichen Nachahmungstrieb): Der menschliche Geist theilt sich in allerlei Zeichen und Symbolen mit, aber der adäquateste Ausdruck der Erkenntniss ist die Sprache. Das gesprochene oder geschriebene Wort zu erforschen, ist – wie der Name der Philologie besagt – der ursprünglichste philologische Trieb, dessen Allgemeinheit und Nothwendigkeit auch schon daraus klar ist, weil ohne Mittheilung die Wissenschaft überhaupt und selbst das Leben übel beraten wäre, so dass die Philologie in der That eine der ersten Bedingungen des Lebens, ein Element ist, welches in der tiefsten Menschennatur und in der Kette der Kultur als ein ursprüngliches aufgefunden wird. Sie beruht auf einem Grundtrieb gebildeter Völker ; vikosovei˜m kann auch das ungebildete Volk, nicht vikokocei˜m.13

11 Vgl. ebd., S. 12ff. 12 Axel Horstmann: Antike Theoria und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzeption der Philologie. Frankfurt a. M. 1992 (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften Bd. 17); Thomas Poiss: Die unendliche Aufgabe. August Boeckh als Begründer des Philologischen Seminars. In: Baertschi u. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike, S. 45–72; ders.: Zur Idee der Philologie. Der Streit zwischen Gottfried Hermann und August Boeckh. In: Karl Sier u. Eva Wöckener-Gade (Hg.): Gottfried Hermann (1772–1848). Internationales Symposium in Leipzig 11.–13. Oktober 2007. Tübingen 2010, S. 143–163; Christiane Hackel u. Sabine Seifert (Hg.): August Boeckh. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik. Berlin 2013 (Berliner Intellektuelle um 1800 Bd. 3). 13 August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hg. v. Ernst Bratuschek. Leipzig 1877, S. 11f.

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Allerdings, im gleichen Atemzug, definiert er die Philologie auch als Epiphenomän: Ebenso sehen wir nun, warum [die Philologie] selbst dem Begriff nach einseitig auf das Alterthum beschränkt worden ist. Es geschah dies, weil die neuere Zeit erst noch im Produciren begriffen ist und also ein Abschluss überhaupt nicht so fest gemacht werden kann, auch eine Betrachtung derselben sich nicht so sehr als nothwendig aufdrängt, indem sie unmittelbar vorliegt. Das Alterthum dagegen ist entfernter, entfremdeter, unverständlicher und fragmentarischer und bedarf daher der Reconstruction in höherem Grade. Bei den Griechen ist die erste bedeutende Philologie entstanden, nachdem die Production relative abgeschlossen war ; denn mit Aristoteles schliesst dies alte Zeitalter, und die alexandrinische Philologie, die sehr tüchtig und kräftig war, erfasste die Reflexion über das vor ihr nun abgeschlossene Alterthum.14

Dies ist nicht nur der Versuch, die Philologie der (vor allem) griechischen und römischen Kultur anderen, neuen Philologien vorzuziehen: der Verweis auf Aristoteles und die nachfolgende Gelehrtenkultur Alexandrias und der Hellenistischen Epoche ist eine Geste der Selbstverordnung und Selbsthistorisierung der Altertumswissenschaft, die prinzipiell damit schon zu einem notwendigen Teil der Kultur erhoben wird, die sie studiert, deren Nachträglichkeit damit aber auch programmatisch zementiert ist.15 Hermann Usener wird Genealogie, Analogie und Idealität solcher Historiographie in einer Rede von 1884 noch pointierter formulieren, wenn er das Urmodell auf die kreative Periode weniger Generationen von Platons Akademie bis zu Aristoteles Schule verkürzt: »Die Schöpfung der Wissenschaft des griechischen nicht nur, sondern überhaupt des klassischen Altertums, ist das Werk von nur zwei oder, um dem äußeren Anschein zuliebe das äußerste zuzugeben, von drei Generationen: des Platon, des Aristoteles und der unmittelbaren Schüler des letzteren«.16 Trotz solcher Verkürzung skizziert Usener eine Geschichte der Akademie und des Lykeion, die bis in die nach-klassische Antike und Justinian reicht, mit Ausblick auf alle Formen ritueller wissenschaftlicher Gemeinschaft (eines von Useners Hauptinteressen war die Religionsgeschichte). Damit ist das genealogische Ur-Modell einer wissenschaftlichen Gemeinschaft vorgestellt, geprägt von »gemeinsamer Forschung« und Symphilosophieren, notiert als suswok\feim ja· sulvikosovei˜m 1m aqtai˜r, sowohl untereinander als auch mit 14 Boeckh: Encyklopädie und Methodologie, S. 12. 15 Die Affinität mit den Alexandrinisch-Hellenistischen Philologen hält sich als Topos der Altertumswissenschaft von F. A. Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795) bis hin zu Rudolf Pfeiffer : History of Classical Scholarship. From the Beginnings to the End of the Hellenistic Age. Oxford 1968. 16 Hermann Usener: Organisation der wissenschaftlichen Arbeit. Bilder aus der Geschichte der Wissenschaft. In: Vorträge und Aufsätze. Leipzig u. Berlin 1907, S. 67–102, hier S. 73 [zuerst veröffentlicht in Preussische Jahrbücher LIII (1884), S. 1–25].

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einem Meister, der jedoch auch erkennbar hierarchische Strukturen nicht fehlen.17 Hier ist Useners Bilanz: Es kann keine schiefere Vorstellung von der Akademie und dem Lykeion ersonnen werden als die, welche sie zu bloßen um den Lehrer gescharten Gruppen von Lernenden macht. Diese Schulen waren Vereinigungen ebensosehr zu gemeinsamer Forschung und Arbeit als zum Hören und Lernen. Die Zahl der Mitglieder umfaßte die ganze Stufenreihe von dem zum erstenmal an die Wissenschaft herantretenden Jüngling bis zu dem selbständig forschenden Manne. Diese gereifteren mitforschenden Glieder der Schule hindert nichts, selbst Schüler zu bilden und doch zugleich dem Schulhaupt sich unterzuordnen.18

Und weiter, nach Hervorhebung der »scharfen Scheidung zwischen der Masse der bloßen Schüler und dem engeren Kreise von Forschungsgenossen, die erst beide zusammen mit dem Oberhaupte das Ganze der Schule konstituieren«: Wir stehen hier vor der Lösung des Rätsels, das uns beim Herantreten an die Akademie empfing. Das ganze Geheimnis der riesenhaften Leistungen, durch welche das vierte Jahrhundert vor Christo fast alle Wissenschaften begründete und ausbildete, liegt darin, daß der Kopf des Meisters nach einheitlichen Gesichtspunkten und nach großem, auf ein Ziel gerichtetem Plane die verschiedensten Gebiete des Wissens durchforschen, Material sammeln, Aufgaben bearbeiten ließ, und dass er für jede Arbeit die geeignete Kraft zu ermitteln und zu bestimmen wußte. Nur eine großartige Organisation der gemeinsamen Arbeit konnte so Großes schaffen, und die Möglichkeit für diese war gegeben in der Institution der mitforschenden Freunde, die willig sich der einheitlichen Leitung des Meisters unterordnen und selbst schon für ihre besonderen Aufgaben sich hilfreiche Jünger heranzuziehen vermögen.19

Mit diesem imaginierten, nostalgischen Spektrum von platonischer Gemeinschaft hin zur aristotelischen Projektverteilung eines taxonomischen Wissens als Urszene ist dann natürlich auch der analoge Schritt zur modernen Großwissenschaft und ihrer arbeitsteiligen Projekte nur ein kurzer. Dass solche Großwissenschaft (der Terminus geht auf Harnack zurück) ein besonders dominantes Modell gerade der Altertumswissenschaft im 19. Jahrhundert darstellte, ist bekannt. Was unterschätzt sein mag, sind der Leidensdruck und der bewusst genutzte, protestantische Entsagungs- und Pflichtdiskurs, der selbst von den Organisatoren solcher Großprojekte artikuliert wird, und somit das Gegenstück zur symphilosophischen Urszene der Antike darstellt. Hier sind zwei repräsentative Zeugnisse von Theodor Mommsen und Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, die respektiven Projektleiter der römischen und griechischen Inschriftenkorpora der Berliner Akademie der Wissenschaften. 17 Usener verweist hier für den Gebrauch der griechischen Begriffe auf Diogenes Laertius V 70 (bzüglich Lykon) und X 17 (bezüglich Epikur). 18 Usener : Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, S. 81. 19 Ebd., S. 82.

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Mommsen unterstreicht, apropos Leibniz, das Akademie-Ideal, warnt aber zugleich vor den negativen Folgen, in einer Kombination architektonischer und organisch-physiologischer Bildlichkeit: Die Wissenschaft allerdings schreitet unaufhaltsam und gewaltig vorwärts; aber dem emporsteigenden Riesenbau gegenüber erscheint der einzelne Arbeiter immer kleiner und geringer. Für die weitgedehnten Kreise der Gesamtforschung, die dem einzelnen fremd sind, sucht er sich wohl Achtung und Wohlwollen zu bewahren; […] Wenn Leibnizens Akademie als Fortführerin seiner Arbeiten betrachtet werden darf und wenn sie darin ihre rechte Legitimation hat, so können wir uns doch nicht verbergen und müssen uns damit abfinden, dass diese Fortführung […] ein Surrogat ist, unentbehrlich und wirksam, aber nicht unbedingt gesund und nicht unbedingt erfreulich. Unser Werk lobt keinen Meister und keines Meisters Auge erfreut sich an ihm; denn es hat keinen Meister und wir sind alle nur Gesellen.20

Wilamowitz’ Lob des aufopfernden Dienens und Tadel einer egoistischen Wissenschaft lässt die Großwissenschaft gleichermaßen weniger als erhofften Dauerzustand denn als temporäre Ausnahme erscheinen: So handelt der rechte Diener der Wissenschaft. Alles Eigene wirft er beiseite und greift an, was sie jetzt gerade fordert. Egoisten, die von der Wissenschaft nur vornehmen, wozu sie der eigene Geist und die eigene Neigung treibt, mögen von der Höhe ihrer Inspiration vornehm darauf herabsehen. Wir wissen, daß wir Diener sind, tun unsere Pflicht und bringen willig die Opfer, die gerade ein freiwillig übernommener Dienst immer verlangt.21

Natürlich steht hinter solchen Aussagen einerseits ganz pragmatisch die Tatsache, ein Opfer des eigenen Erfolges zu sein: die erfolgreiche staatlich finanzierte Sicherung solcher Großprojekte, institutionell verankert innerhalb einer neuen Wissenschaft, die auf Vollständigkeit zielt, erzeugt Druck nach Ergebnissen.22 Das Hilfsarbeitertum und Fachmann-Dasein ist dabei allerdings nicht unbedingt Zeichen stärker ausgeprägter Kooperation: wenn überhaupt, so ist dies weniger ein symphilologein als ein paraphilologein, ein Nebeneinander-Arbeiten im Namen einer ›Gesamtforschung‹. Gerade das Missbehagen angesichts solcher Spezialisierung und Fragmentierung drückt sich aus in dem nostalgi20 Theodor Mommsen: Ansprache am Leibnizschen Gedächtnistage (1895). In: ders.: Reden und Aufsätze. Berlin 1905, S. 196f. – Siehe ebenfalls Martin Hose: ›… und Pflicht geht vor Neigung‹. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und das Leiden am Großbetrieb der Wissenschaft. In: Baertschi u. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike, S. 445–480, hier S. 456. 21 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Gedächtnisrede auf Hermann Diels. In: Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. Berlin 1922, S. CIV–CVII, hier S. CVI. 22 Stefan Rebenich: Vom Nutzen und Nachteil der Großwissenschaft. Altertumswissenschaftliche Unternehmungen an der Berliner Akademie und Universität im 19. Jahrhundert. In: Baertschi u. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike, S. 397–421.

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schen Wunschbild, das Usener von der Forschungsgemeinschaft unter der Leitung des individuellen und individualisierten Meisters zeichnet. Und wenn Mommsen und Wilamowitz explizit den Mangel an Wertschätzung und Gefallen solcher Meister erwähnen, so ist es kein Zufall, dass gerade diese beiden Forscher selbst topos-artig seit ihren Lebzeiten als inspirierte Meisterfiguren innerhalb der fachinternen Wissenschaftsgeschichte stilisiert worden sind. Dieses symbiotische Verhältnis von nostalgischer Symphilologie und realer Arbeitsteilung allein erklärt jedoch noch nicht die Spannung zwischen der neuen professionalisierten Wissenschaft inklusive ihrer Großprojekte und der Relevanz, die auch weiterhin dem individuellen Forscher als Maß wissenschaftlicher Produktion zukommt, ein Verhältnis, das letztlich die (Un-)Möglichkeiten befriedigender Zusammenarbeit bis heute definiert. Anders ausgedrückt: wieso ist kooperatives Arbeiten auch weiterhin viel weniger Teil der Fachidentität besonders der philologischen Disziplinen, im Vergleich zu anderen Wissenschaften?

II.

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Das Privilegieren der Einzelleistung in der Philologie ist eine Frage nach einer Epistemologie der Exklusivität: der einzelne Forscher steht seinem Forschungsobjekt gegenüber, dem er, wenn auch im Kollektiv der Disziplinargemeinschaft sicher und hierarchisch verankert, individuell und als Ausdruck seiner Individualität verpflichtet ist. Woher rührt dies? Zum einen aus der engen Verbindung von Individualität und dem Bildungsbegriff, die beide wiederum reflexiv auf das Forschungsobjekt, hier der antiken Kultur, bezogen werden, all dies in einem Rahmen, in dem das Verstehen des Anderen, des Selbst und der historischen Vergangenheit konstitutiv ist. Der Bildungsbegriff strukturierte Bedingungen und Inhalte von Interpretationen als auch die Rechtfertigung der eigenen Praxis. In der Logik eines neuen erzieherischen Modells, geprägt durch Historisierung, wurde das Verstehen der Menschheitsgeschichte ein Nachvollziehen der Bildung, wie sie sich in einzelnen Epochen, Nationen und Gesellschaften manifestierte. Das antike Griechenland insbesondere stellte eine geschichtliche Erscheinung dar, in der sich Vernunft, Schönheit und Selbstrealisierung auf das Harmonischste äußerten. Bildung, als Programm der Selbstwerdung und Selbstverbesserung, verband sich somit mit dem Verstehen der Antike als ihren Hauptinhalt wie auch als Methode und Ziel des Verstehensprozesses. Gerade die griechische Antike, die den ganzen Kreislauf von Werden, Reifen und Vergehen einzuschließen schien, wurde so zum Instrument des geschichtlichen Verstehens und damit des Fortschritts. In dem Maße, in dem Bildung mit der Entwicklung des Individuums zu tun hat, wurde

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die Antike als Ganzes als Individuum imaginiert. Sie zu erforschen beinhaltete also, ihren Charakter und ihr Wesen zu verstehen, ein Programm, das vielleicht am eindrücklichsten Wilhelm von Humboldt formuliert hat, der später mit der Entwicklung der Struktur und des wissenschaftlichen Programms der neuen Universität Berlin betraut wurde. Sein Aufsatz Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondre (1793) – eben jener Aufsatz, dessen Kennzeichnung Wolf, wie oben erwähnt, in seiner gigantischen Fußnote unterschlägt – fordert: Das Studium einer Nation gewährt schlechterdings alle diejenigen Vortheile, welche die Geschichte überhaupt darbietet, indem dieselbe durch Beispiele von Handlungen und Begebenheiten die Menschenkenntniss erweitert, die Beurtheilungskraft schärft, den Charakter erhöht und verbessert; aber es thut noch mehr. Indem es nicht sowohl dem Faden auf einander folgender Begebenheiten nachspürt, als vielmehr den Zustand und die gänzliche Lage der Nation zu erforschen versucht, liefert es gleichsam eine Biographie derselben.23

Das Vorstellen der Nation als Individuum unterstreicht die Reziprozität von Forschungsgegenstand und Forscher, sowie die Reziprozität von Methode und Inhalt: vor allem die Textobjekte der Philologie werden als Ausdruck nationalen und individuellen Charakters gewertet. Das Bildungsideal, seine Rhetorik und Praktiken, geht mit dem Aufstieg der großwissenschaftlichen Projekte nicht zwangsläufig verloren. Ganzheitsanspruch und Synthese verbinden beide, das herausgebildete Individuum, antik oder modern, bleibt im Grunde Auftrag und sichtbarer Beweis von Forschung und Pädagogik. Es ist nicht zu vergessen, dass gerade im deutschen Wissenschaftsgefüge, in der die Philologie als Disziplin mit selbstbehauptetem Leitungsanspruch steht, Lehre und Forschung historisch zusammengehören. Dies mag, mit Bezug auf das Lernverhältnis, auch das Fortbestehen hierarchischer Modelle in Formen der Kooperation unterstützen. Ferner wird das enge und ausschließliche Verhältnis zwischen antikem Individuum, Antike als Individuum, und Text als individuellem Ausdruck einerseits und dem einzelnen modernen, wissenschaftlichen Kenner andererseits noch durch gewisse Traditionen des Lesens, Interpretierens und Korrigierens gestärkt.24 Da ist zum einen die Tradition einer Textkritik, die das persönliche Talent und die Inspiration des Kritikers unterstreicht. Dies soll heißen, dass die Emendation oder Verbesserung von überlieferten Texten durch Konjekturen ope ingenii verstanden wird, als Alternative oder Komplement zur Emendation ope codicorum, also durch Kollation aller verfügbaren Manuskripte. Dies ist eine 23 Wilhelm von Humboldt: Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondre. [1793]. In: Gesammelte Schriften Bd. 1. Erste Abteilung: Werke. Erster Band: 1785–1795. Hg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1968 [EA 1903], S. 255–281, hier S. 256. 24 Siehe dazu auch den Beitrag von Ralf Klausnitzer im vorliegenden Band.

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Methodenaufteilung mit antiken Vorbildern und einem Stammbaum bis in die Moderne. Auch wenn wir die Textkritik des 19. Jahrhunderts jetzt vorwiegend mit Programmen wie der stemmatischen Rekonstruktion Lachmanns verbinden, so bleibt individuelles Talent doch ein anerkannter, oft bewunderter Faktor.25 Das, was der Einzelne nun in einem Text erkennt, wird wiederum als der Ausdruck dessen verstanden, der den Text produziert hat. Kathy Eden hat kürzlich überzeugend argumentiert, dass die Erwartung einer engen, ›intimen‹ oder ›familiären‹ Beziehung zwischen Text, Autor, und Leser sich nicht nur sehr genau bis zu Petrarca und seinen Briefen an antike Autoren ad familiares zurückverfolgen lässt, sondern sich stark an verfügbaren antiken Modellen von Texterzeugung und Verstehen seit Aristoteles orientiert.26 Mit anderen Worten: Moderne, westliche Philologien können sich unter anderem auf ein Modell des Lesens und Verstehens berufen, das mit Bezug auf Aristoteles’ Rhetorik das Eigene, dem Eigenen Angemessene, und Vertraute betont, sowie die Distanz, beziehungsweise das Überkommen von Distanz, als Grundmotivation des Schreibens und Lesens einschließt. Es mag nun als ein (zu) weiter Weg erscheinen von hier zu den Inschriftensammlungen der Akademie, denen kein Fragment zu klein sein soll, und zweifelsohne sind die Änderungen, die zwischen 1800 und 1900 eine zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung mit sich bringen, von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Arbeitsteilung, das uns noch heute plagt. Aber die Verfügbarkeit solcher Lese- und Interpretationsmodelle, und die zentrale Rolle, die dem Individuum als Objekt und Subjekt des Wissens zukommt, hat den konzeptuellen Rahmen wissenschaftlicher Gemeinschaft und ihrer Praktiken doch nachhaltig mitbestimmt. Die grundsätzliche Herausforderung des Verstehens sowohl untereinander als auch im Bezug auf das Objekt des Studiums ist eindrücklich formuliert in Friedrich Schleiermachers Programmschrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errich25 Siehe z. B. Boeckh, der zwar Hermann für die übermassige Zahl seiner Konjekturen kritisiert, aber doch dem Arbeiten ope ingenii grundsätzlich einen Platz einräumt: Encyklopädie und Methodologie, S. 173–175. Zur Rolle von Talent, Ingenium, und Takt siehe u. a. Sean Alexander Gurd: Iphigeneias at Aulis. Textual Multiplicities, Radical Philologies. Ithaca/New York u. London 2005; Kristine Louise Haugen: Richard Bentley. Poetry and Enlightenment. Cambridge/Mass. 2011; Glenn W. Most: Introduction. In: Sebastiano Timpanaro: The Genesis of Lachmann’s Method. Hg. u. übers. v. Glenn W. Most. Chicago 2005; sowie Thomas Petraschka: Takt als heuristische Kategorie in Erkenntnis- und Interpretationsprozessen. In: Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer u. Carlos Spoerhase (Hg.): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Berlin, München u. Boston 2015 (Linguae & Litterae Bd. 49), S. 591–607. 26 Kathy Eden: The Renaissance Rediscovery of Intimacy. Chicago u. London 2012.

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tende (1808).27 Ähnlich Boeckh (der bei ihm studiert hatte und ihm verbunden blieb), postuliert auch Schleiermacher ein menschliches Grundbedürfnis nach Wissenschaft, das jedoch im Folgenden, wie auch bei Boeckh, sogleich wieder als ein Zivilisationsphänomen qualifiziert wird: »Man kann annehmen, dass fast allgemein die Voraussetzung gemacht wird, es solle unter den Menschen nicht nur Kenntnisse aller Art geben, sondern auch eine Wissenschaft«.28 Solche Wissenschaft zielt auf ein gemeinschaftliches Werk, in dem Sinne, dass wissenschaftliche Bemühungen danach streben, »in eines zusammenzugehen«, und dass Gemeinschaft Ausdruck einer »ununterbrochen fortlaufenden Überlieferung von den ersten Anfängen an« ist.29 Gemeinschaft und Einzelner ergänzen sich dabei: »Die Wissenschaft, wie sie in der Gesamtheit der gebildeten Völker als ihr gemeinschaftliches Werk und Besitztum vorhanden ist, soll den Einzelnen zur Erkenntnis heranbilden, und der Einzelne soll auch wiederum an seinem Teil die Wissenschaft weiter bilden«.30 Dies eröffnet das Spektrum sowohl synchroner als auch diachroner Gemeinschaft: und gerade in den historisch-philologisch interpretierenden Wissenschaften ist die Vorstellung der Kommunikation und Verbindung mit den Vorgängern besonders ausgeprägt. Wissenschaft ist grundlegend kommunikativ (»das erste Gesetz jedes auf Erkenntnis gerichteten Bestrebens ist Mitteilung«),31 tatsächliches Erkennen kann jedoch nicht durch Zwang oder Autorität provoziert werden, sondern nur durch solche Kräfte, die den Willen zur Erkenntnis steigern, zu denen Schleiermacher Liebe, Glaube, und Ehre zählt. Diese Liste sollte uns zum einen daran erinnern, dass Schleiermacher der Philosoph und Philologe vor allem auch Theologe war und dass es gilt, die Rolle der (protestantisch-) christlichen Ethik für das Verständnis auch von philologischer Gemeinschaft nicht zu unterschätzen. Für diese sind vor allem die Verantwortung und Moral des Einzelnen sowie der innerliche Bezug zu Textquellen wesentliche Bestandteile. Sie sollte uns aber auch daran erinnern, dass die Frage nach dem, was eine Gemeinschaft von Kennern zusammenhält, enorme Überlegungskraft verlangte: Schleiermacher erwähnt ganz explizit, dass eine der wichtigsten Eigenschaften des neuen universitären Betriebs der Mangel an automatischer sozialer Differenzierung ist: alle Studenten, ungeachtet ihrer Umstände und ihres Talents für die Wissen27 Im Folgenden zitiert nach Ernst Aurich: Die Idee der deutschen Universität. Darmstadt 1956, S. 219–308. Die Schrift wurde übrigens von Friedrich Karl von Savigny im Mai 1808 in den von seinem vormaligen Symphilologen Friedrich Creuzer herausgegebenen Heidelberger Jahrbüchern der Litteratur, Jg. 1/III, S. 297–305, positiv besprochen. – Siehe auch Creuzer an Savigny, 17. Mai 1808. In: Dahlmann (Hg.): Briefe Friedrich Creuzers an Savigny, S. 241. 28 Schleiermacher : Gelegentliche Gedanken, S. 223. 29 Ebd., S. 244. 30 Ebd., S. 234. 31 Ebd., S. 224.

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schaft, müssen gleich behandelt werden. Natürlich, andere Differenzierungen – zum Beispiel die in verschiedene Disziplinen und verschiedene Grade der Qualifikationen – kennzeichnen dann zunehmend die moderne Wissenschaft, aber dies führt uns vor Augen, wie unmittelbar, herausfordernd, und verunsichernd die geänderten Sozialstrukturen des wissenschaftlichen Betriebes und der ständisch nicht länger gebundenen Individuen in ihm waren. Die nostalgischen Modelle der Symphilologie und der vertrauten Kreise Gleichgesinnter stehen vor diesem Hintergrund einer auf neue Art offenen Institution noch einmal in neuem Licht. Nähe und Distanz sowohl untereinander wie auch zum Objekt der Forschung, Gemeinschaft einerseits und Bestehen auf der Eigenart und Eigenleistung andererseits sind jeweils strukturell aneinander gebunden. Erkennen ist Sache des Einzelnen, jedoch mit gemeinschaftlichem, institutionell sanktioniertem Anspruch.

III.

Boeckhs Arbeitweise

Das von Boeckh geprägte Schlagwort von der Aufgabe der Philologie als »Erkenntnis des Erkannten« ist in seinen Encyklopädie-Vorlesungen ausgesprochen.32 Die über mehrere Jahrzehnte wiederholten Vorlesungen spiegeln gut den Rahmen wider, in dem ein idealistisch-metaphysischer Entwurf wissenschaftlicher, ganzheitlicher Gemeinschaft mit der Diagnose pragmatisch-institutionalisierter Philologie koexistiert. Die Encyklopädie ist generell ein Dokument, das sowohl die Theoretisierung einer umfassenden Philologie fordert und betreibt, als auch die Paradoxien und Herausforderungen der Philologie als einer übergreifenden Methode aufzeigt, direkt und indirekt – und in ihrer Textform als stetig überarbeiteten Vorlesungsgrundlage, in die augenscheinlich Materialien aus neuen Lektüren, Gesprächen, Korrespondenzen einfließen –, beinahe eine Symphilologie des Einzelnen darstellt.33 Boeckhs Ansatz und Erwartungshaltung gegenüber dem Verhältnis von Einzelleistung und disziplinärer Gemeinschaft ist dem oben skizzierten nicht unähnlich, auch sein Erkennen geschieht durch das jeweils individuelle Subjekt, das in einen institutionellen Rahmen eingebettet ist. Auch Boeckh kennt und 32 Boeckh: Encyklopädie und Methodologie, S. 55. 33 Die Textausgabe ist selbst das Produkt einer eigenartigen asymmetrischen Symphilologie, glaubt man dem Vorwort des posthumen Boeckh-Herausgebers und Boeckh-Schülers Ernst Bratuscheks, der, nicht ohne den Ausdruck eines bewundernden Meisterdiskurses, die Betonung auf den direkten Vortrag Boeckhs legt, und seine eignenen Interventionen in Boeckhs oft überarbeiteten Vorlesungsnotizen mit ihrer ›vollständigen Übereinstimmung‹ in philologischen Dingen und philologischer Methode begründet; Ernst Bratuschek: Vorwort. In: Encyklopädie und Methodologie, S. III–VI.

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benutzt das Doppelmodell sowohl von platonisch-akademischer Gemeinschaft und Aristotelischer Taxonomie: Die Philologie an sich, als reflektiert und nachträglich, beginnt für ihn, wie schon oben erwähnt, mit Aristoteles; zugleich zieht sich die platonische Sprache der Ideenschau als Ziel des Einzelnen und seiner Zunft wie ein roter Faden durch seine programmatische Schrift.34 Noch dazu steht Boeckh für den erfolgreichen Altertumswissenschaftler, der sowohl durch Einzelprojekte einen Namen erwarb als auch sich durch die Leitung von Großprojekten verdient machte, selbst wenn dies von Boeckh, mit dem Großprojekt der Inscriptiones Graecae, nicht unwesentlich als Belastung empfunden wurde (minus des Gehorsamkeitsgestus, den wir bei Wilamowitz finden).35 In diesem letzten Teil möchte ich nachverfolgen, wie gemeinschaftliches Arbeiten in der Praxis aussah für einen Wissenschaftler, dem die Kraft einer theoretisch durchleuchteten und methodologisch anspruchsvollen Philologie von grundlegender Wichtigkeit war, und wie sich Möglichkeiten und Grenzen kooperativer Arbeit manifestieren und artikulieren. 1821 erscheint der Pindar-Kommentar Pindari epiniciorum interpretatio latina cum commentario perpetuo als vierter und letzter Band der Gesamtausgabe des Dichters: Pindari opera quae supersunt. Textum in genuina metra restituit et ex fide librorum manuscriptorum doctorumque coniecturis recensuit annotationem criticam scholia integra interpretationem latinam commentarium perpetuum et indices adiecit Augustus Boeckhius (Leipzig 1811–1821). Dieser letzte Teilband (nach Textausgabe, einer Abhandlung über Pindars Metrik, und einer Ausgabe der Scholien), dessen Planung Boeckh über ein Jahrzehnt vorangetrieben hatte, war in der Tat ein Gemeinschaftsprojekt: der Kommentar zu den Olympien und Pythien war Boeckhs Bereich, der Kommentar zu den Isthmien und Nemeen stammte von Boeckhs nahezu gleichaltrigem Göttinger Freund und Kollegen Ludolf Dissen. Boeckh hatte Dissen bereits kurz nach Veröffentlichung des ersten Bandes der (Text-)Ausgabe 1811 den Vorschlag unterbreitet, den Kommentar gemeinsam vorzunehmen, und, wie sein Biograph Max Hoffmann schreibt, war »[v]on vornherein [] eine Teilung der Oden verabredet, aber auch gemeinsame Durcharbeitung; es sollten nicht zwei völlig getrennte Arbeiten nur äußerlich einander ergänzen«.36 34 Im Bezug auf Aristoteles sei nicht unerwähnt, dass Boeckh auch das große Editionsprojekt der Akademie zu Aristoteles ab 1821 auf die Beine stellt. 35 Zu Boeckhs Ambivalenz gegenüber der ›Arbeitsteilung‹ der Akademieprojekte, siehe seine Kommentare über die Akademie nicht nur als Forum welches über den Einzelnen hinausgeht, sondern auch, in Briefen an Welcker und an Niebuhr, als wahlweise »todt« und »Leiche«; zitiert nach Poiss: Die unendliche Aufgabe. In: Baertschi u. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike, S. 55f. 36 Briefwechsel zwischen August Boeckh und Ludolf Dissen Pindar und Anderes betreffend. Hg. v. Max Hoffmann. Leipzig 1907, S. 2. – Der erste Brief Boeckhs, der die geplante Zusammenarbeit explizit erwähnt stammt vom 6. August 1812: »Wie steht es aber mit Ihrer

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Das wichtige Pindar-Gesamtprojekt, das sich über zehn Jahre erstreckt und, was den Kommentar anbelangt, in dem erhaltenen und veröffentlichten Briefwechsel von Boeckh und Dissen gut dokumentiert ist, ist in vieler Hinsicht ein Projekt, das für Boeckhs Werk repräsentativ ist: als das Unternehmen, die ganze griechische Kultur durch ein wiederum repräsentatives Individuum darstellbar zu machen.37 Zugleich ist es ein Projekt, das sich in eine wissenschaftliche Genealogie und Gemeinschaft einschreibt: Boeckhs Ein-Mann-Großprojekt beginnt nicht vor dem Hintergrund eines Vakuums: Heyne hatte seit den 1770er Jahren über Pindar publiziert und 1798 eine ähnlich vollständige Pindar-Ausgabe mit Apparat und Ausgabe der Scholien erstellt, noch dazu mit einem Anhang zur Metrik von Gottfried Hermann. Wie Thomas Poiss es ausdrückt: »nichts musste bald nach 1800 überflüssiger erscheinen als eine komplette neue Pindarausgabe«;38 1817 erscheint zudem eine Neuauflage der Heyne-Ausgabe. 1820 erscheinen eine Textfassung und Übersetzung von Friedrich Thiersch (auch mit ihm korrespondiert Boeckh freundlich), sowie eine editio minor durch C. W. Ahlwardt (der Boeckh ablehnend gegenüber steht); aus Boeckhs Feder folgen noch programmatische Akademieabhandlungen zu Pindar, sowie eine eigene editio minor 1825. Schließlich veröffentlicht auch Dissen, auf Verlangen des Verlegers, 1830 eine kürzere Textausgabe mit Kommentar, die auf Boeckhs Textfassung beruht, und wiederum von Boeckh ausführlich rezensiert wird. Die Kollaboration von Boeckh und Dissen steht also in einem größeren Geflecht, in dem die demonstrative Einzelleistung der jeweiligen Verfasser vor dem Hintergrund der sich zunehmend professionalisierenden und differenzierenden Disziplin markiert wird: Heynes Ausgabe, mit Hermanns Anhang, eröffnet den Zugang zu Pindar neu; Boeckh, jünger als Herrmann, und eine bewusst erfahrene Generation später als Heyne, setzt in den ersten zwei Teilbänden seiner Ausgabe den Text nach komplett anderen metrischen Unterteilungen, die die Erscheinung der Lyrik Pindars grundlegend verändern (und bis heute nachhaltig im Fach akzeptiert worden sind). Thiersch steuert eine deutsche Übersetzung bei, die sich Boeckh, wie er selbst an Thiersch schreibt, nicht zugetraut hätte. Ahlwardt, ungeachtet seines relativ geringen Einflusses, macht durch die (nicht bestätigte) Behauptung auf sich aufmerksam, bisher unbekannte Manuskripte zu Rate gezogen zu haben. An Dissen schließlich wird bis heute durch seinen Vorschlag einer strukturgebenden ›Grundidee‹ erinnert, die sich in jeder Theilnahme an der Sache? Wollten Sie nicht an dem Commentar versprochenermaßen bald arbeiten? Besonders angenehm wäre mirs, wenn Sie die Nemea und Isthmia übernähmen. Sie wissen, daß ich den erklärenden Commentar meine. Der Verleger wünscht ganz besonders Ihre Theilnahme«, S. 9. 37 Thomas Poiss: August Boeckhs Pindar-Studien. In: Hackel u. Seifert (Hg.): August Boeckh, S. 27–43, hier S. 28f. 38 Ebd., S. 33.

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Pindarischen Ode identifizieren lässt. Kurzum, das von Boeckh entworfene und von Dissen mit ausgeführte Projekt des Kommentars ist für den wissenschaftlichen Status des, bzw. der Autoren mit ausschlaggebend. Dies schlägt sich sichtlich in den Modifikationen nieder, die Boeckh in den von Dissen beigetragenen Kommentaren vornimmt und dem Korrespondenten gegenüber sorgfältig, und wenn es zur Drucklegung kommt oft ex post facto dokumentiert. So besteht er nicht nur wiederholt darauf, selbst kleine Meinungsunterschiede zwischen ihm und Dissen genau im Text zu kennzeichnen, sondern er fügt oft selbst in der dritten Person Querverweise zu Boeckh in der Stimme Dissens ein, die weniger Findehilfe als Ventriloquismus darstellen.39 Wessen Stimme hören wir?40 Die zehn Jahre der Entstehung reflektieren darüber hinaus Boeckhs Werdegang von der ersten Stelle in Heidelberg zum Ordinariat in Berlin, zu Seminargründung und Seminarvorsitz, Akademie-Mitgliedschaft, und schließlich Rektorat. Aus dem Briefwechsel ist ersichtlich, dass Dissens Laufbahn weniger steil ansteigt, sein Arbeitstempo langsamer ist (ein wiederholter Topos des Briefwechsels), er größere Selbstzweifel hegt, das Projekt immer wieder verschleppt, Boeckhs Wunsch nach Kooperation anzweifelt. Boeckh als die treibende Kraft insistiert, schmeichelt, und überträgt die detaillierten Diskussionen der jeweiligen Interpretationen Pindars effizient in die fertiggestellten Druckvorlagen. Alle regelmäßig beschworene Freundschaft täuscht also nicht über eine auch hier vorliegende Asymmetrie des Arbeitsverhältnisses hinweg, die sowohl rhetorisch verdeckt als auch praktisch hervorgehoben wird, selbst wenn die Kooperation auf Tatsachen beruht statt auf Plänen und der Tonfall, im Vergleich zu Schlegel oder Creuzer, weniger nostalgisch ist als utopisch, vorwärtsgerichtet, und idealisch. Am 24. Juli 1820 schreibt Boeckh nach Dissens endlicher Übersendung einiger Epinikien-Kommentare zu Nem 1 begeistert: »Sagen Sie, sind wir Brüder? Sind wir ehemals zusammengewesen und gespalten worden?«41 Schon Max Hoffmann, der Herausgeber des Briefwechsels, hat hier die Anspielung auf den Mythos des Aristophanes aus Platons Symposium erkannt, der von der Zweiteilung der ehemals ganzheitlichen Kugelwesen handelt und so die Entstehung der Eros – wie auch, nicht zu vergessen, das Nicht-artikulieren-können der 39 Beispiele finden sich unter anderem in den Briefen vom 24. Juli 1820 (S. 41f.) (bezüglich Nem 1) oder vom 19. April 1821 (S. 131), mit besonderem Bezug auf die unterschiedlichen Ansätze von Boeckh und Hermann, in einer der von Dissen verfassten Passagen des Kommentars. 40 Vielleicht eine besonders treffende Ironie, dass die Frage nach der persona Pindars, ob sie ein Ich des Einzelnen oder ein Wir des Chorischen reflektiert, oder zwischen beiden wechseln kann, in der wissenschaftlichen Diskussion noch immer zur Diskussion steht. 41 Hoffmann (Hg.): Briefwechsel, S. 40.

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Menschen apropos des eigenen Verlangens erklärt.42 Dem enthusiastisch-egalitären Zuruf folgt eine erstaunliche Darbietung der tatsächlichen Praxis Boeckhs, der seinem Korrespondenten aufzeigt, wie er im Sinne völliger Übereinstimmung ein Textstück Dissens, welches genau von ihrer Seelenverwandtschaft angesichts Pindars handelt, modifiziert und im Text transponiert: Sagen Sie, sind wir Brüder? Sind wir ehemals zusammengewesen und gespalten worden? Welche wunderbare Harmonie! Aber deshalb müssen Sie mir auch erlauben, uns bisweilen noch mehr zu harmonisiren, indem wir uns ganz durcheinandermischen. Das habe ich soeben gethan, nachdem ich Ihre unvergleichlich treffliche Auseinandersetzung über den Herkulesmythos von Nem. 1 gelesen habe. Da haben Sie ein Epiphonem über die hermeneutische Kunst gemacht, was immer vor meiner Seele geschwebt hat, und das konnte ich an der Stelle nicht lassen, denn es kommt da zu spät. Es muß vorn hinein, in das Proömium, wohin ichs nun geschrieben habe mit folgender Einleitung: »In hoc autem interpretandi genere, ut in ceteris rebus prope omnibus, ego et Dissenius ita conspiramus, utrumque ut eadem plane via incedere videas, nec nisi nostris commentariis nomina auctorum imposita essent, uter singula scripsisset facile posset discerni. Nam illum eodem plane modo de Pindari ingenio iudicare et illius explicationes demonstrant, et haec eiusdem verba quae ex meo prorsus animo scripta sunt.« Bei einer gemeinsamen Arbeit halte ichs für erlaubt, solche Umstellungen zu machen; ich hoffe auf Ihren Beifall. Übrigens giebt mir Ihre übermäßige Bescheidenheit große Rechte; ich werde aber bescheidenen Gebrauch davon machen. Daß hier und da ein Wort geändert werden muß, liegt schon darin gegeben, daß Sie das meinige nicht sehen können, also manches, was Ihnen ferner lag, sich nach gemachten Untersuchungen modificirt. Sie sind hier im Nachtheil, und wieder bin ich im Nachtheil, weil Sie nichts an mir ändern können.43

Natürlich spiegelt dies die Bedingungen kooperativer Arbeit über räumliche Distanz zu einer Zeit wieder, in der Korrekturen nicht im Minutentakt beantwortet werden konnten: und derjenige, der nicht die Endfassung redigiert, ist im Nachteil, wie Boeckh erkennt. Boeckhs Schmeichelei, dass er von Dissens Änderungen ebenso profitierte, mag aufrichtig sein – aber vielleicht noch mehr legt Boeckh hier seinen Finger indirekt auf genau die Wunde und die Dynamik, die 42 Dass ein sokratisch-, bzw. platonisch-erotisches Modell von Wissenserwerb und Wissensvermittlung tiefe Resonanzen hat in der Selbstbestimmung der Altertumswissenschaft und ihrer Erfahrung der Antike, ist ein eigenes Thema. Siehe dazu z. B. Constanze Güthenke: The Potter’s Daughter’s Sons. German Classical Scholarship and the Language of Love Circa 1800. Representations 109 (2010), H. 1, S. 122–147; Daniel Orrells: Classical Culture and Modern Masculinity. Oxford 2011. Dissen selber drückt Verlangen und Asymmetrie gleichermassen aus, in seinem Brief an Boeckh vom 28. August 1832: »Wissen Sie noch, wie Sie sich vorgesetzt hatten einen Theil ihrer Kraft dem Platon zu widmen? Auch ich dachte immer einmal, an einem Dialoge, etwa dem Phädon, die Kunstdarstellung des Platon con amore zu entwickeln, soviel ich davon verstehe; aber das wird wohl auch dabei bleiben.« Hoffmann (Hg.): Briefwechsel, S. 222. 43 Ebd., S. 40f.

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das Verlangen des Altertumswissenschaftlers (wie in Aristophanes’ geteilten Wesen) strukturell aufrecht erhält. Das »Nichts ändern können« ist auch ein Hinweis auf die nicht räumliche, sondern zeitliche Distanz zum antiken Wissenschaftsobjekt selbst, die mögliche Erfahrung eines asymmetrischen, einseitigen Dialogs. Die Asymmetrie, die den Wunsch nach vollständigem Verstehen des Anderen immer als Möglichkeit begleitet, ist in die philologisch-historischen Wissenschaften der Moderne und ihre Vorstellung von Individualität einbeschrieben. Das Beharren auf dem Eigenen, durch das Andere, ist das Gegenstück. Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass die wissenschaftliche Praxis, wenn es an das gemeinsame Arbeiten geht, letztendlich der gleichen Herausforderung gegenüber steht.

Norbert Kössinger

»Seines fleisses darf sich jeder rühmen.« Die mittelhochdeutschen Wörterbücher (BMZ und Lexer) als Formen kooperativen Arbeitens

I. »Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen«, so heißt es in Gotthold Ephraim Lessings Hamburgischer Dramaturgie, und so ist es später auch in Büchmanns Geflügelte Worte eingegangen.1 Eine (noch zu schreibende) Kulturgeschichte des Fleißes könnte nicht nur im Kontext von Schule – man denke an Fleißbildchen und ähnliche Formen bis heute üblicher Belobigung –, sondern auch in der Wissenschaftshistorie der Germanistik reiches Anschauungsmaterial für ihren Gegenstandsbereich finden. Denn das, was von Lessing in seiner Dramaturgie in Abgrenzung zu »jedermann« ausführlich mit Studium, Erfahrung und Urteilsfähigkeit begründet werden muss, wird im Zuge der Etablierung und Konsolidierung der Germanistik als Universitätsdisziplin um die Mitte des 19. Jahrhunderts bald eine grundsätzliche Frage wissenschaftlicher Ethik, wie Rainer Kolk in verschiedenen Beiträgen gezeigt hat.2 Fleiß allein reicht aber eben nicht aus; ein größer geschnürtes Bündel an Qualifikationen und Qualitäten muss hinzutreten. Inwiefern in diesem Zusammenhang Formen kooperativen Arbeitens von Bedeutung sind, möchte ich im Folgenden an einem kleinen Ausschnitt darlegen, der mir charakteristisch zu sein scheint für die frühe Phase der Germanistik als universitärer Disziplin. Dabei gilt, dass philologische Leistun-

1 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: ders.: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 4: Dramaturgische Schriften. München 1973, S. 229–707, 101.–104. Stück, S. 693–707, hier S. 699. In der ersten Auflage des Büchmann fehlt dieses Zitat noch, aufgenommen ist es spätestens in die Auflage von 1871 (vgl. Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volks. 6., verbesserte u. vermehrte Aufl., Berlin 1871, S. 46). 2 Exemplarisch sei verwiesen auf Rainer Kolk: Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 14 (1989), S. 50–73. – Man vergleiche zu Wortgeschichte und Herkunft Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23., erweiterte Aufl., bearbeitet v. Elmar Seebold. Berlin [u. a.] 1999, S. 272; sowie Jacob und Wilhelm Grimm: Art. ›Fleisz‹. In: Deutsches Wörterbuch Bd. 3 (1862), Sp. 1763–1768.

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gen zuschreibbar sein müssen; sie brauchen im besten Falle einen ›Erfinder‹, zumindest einen eindeutig benennbaren Urheber.3 Die Beispiele, auf die ich mich konzentriere, sind die Entstehungsgeschichten der beiden großen mittelhochdeutschen Wörterbücher, des sogenannten BMZ (für Beneckes, Müllers und Zarnckes Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 1854–66) und Lexers Mittelhochdeutschem Handwörterbuch (1872–78). Ich biete zwei kleine Fallstudien zu diesen beiden Wörterbüchern, und zwar strikt aus der Perspektive der Herausgeber-Vorreden zu diesen lexikographischen Großunternehmen.4 Es wird zu zeigen sein, dass diese für ganz bestimmte Formen der Inszenierung von kooperativem Arbeiten stehen können, die sich keineswegs mit der Realität der Wörterbucharbeit decken müssen.5

II. Zuerst zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch. Schon aus der Titelei des ersten Bandes, erschienen in sechs Lieferungen von 1848–1854, geht hervor, dass dieses Wörterbuch Resultat eines Prozesses ist, der mehr als eine Forschergeneration umfasst. Es heißt dort: »Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. Ausgearbeitet von Dr. Wilhelm Müller A. O. Professor in Göttingen«.6 Wilhelm Müller, ein Schüler Beneckes, bezieht in seiner Vorrede zum ersten Band, datiert auf Dezember 1853, ausführlich Stellung zu seiner Ausarbeitung und zu seinem Verhältnis gegenüber der in Beneckes Nachlass vorgefundenen Grundlage:7 »Es scheint die meinung verbreitet zu sein, 3 Das scheint mir im Übrigen auch in Zeiten der ›Verbundforschung‹ unverändert zu gelten. 4 Eine umfassende Aufarbeitung der Entstehungs- und frühen Rezeptionsgeschichte von BMZ und Lexer im Kontext der Lexikographie zum Mittelhochdeutschen um die Jahrhundertmitte aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht wäre wünschenswert, kann hier aber nur für einen kleinen Ausschnitt geleistet werden. 5 Zur Geschichte vgl. den Überblick von Klaus Grubmüller : Lexikologie und Lexikographie des Mittelhochdeutschen. In: Werner Besch [u. a.] (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl., Berlin [u. a.] 2000 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Bd. 2/2), S. 1340–1350. 6 Ich zitiere im Folgenden nach Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. Ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem Alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf. Stuttgart 1990. – Vgl. zur Entstehungsgeschichte auch das Vorwort von Eberhard Nellmann (S. 5*–7*); sowie Kurt Gärtner : Das Wörterbuch zu Wolframs ›Parzival‹ von Wilhelm Müller. In: Kurt Gärtner u. Joachim Heinzle (Hg.): Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Tübingen 1989, S. 225–234. 7 Benecke war in Göttingen von 1805–1812 außerordentlicher Professor für Englisch, 1814–1844 ordentlicher Professor für Englisch und Mittelhochdeutsch, ab 1815 Bibliothekar

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auch bei denen, die es besser wissen konnten, dass dieser nachlass ein, wenn auch nicht in jeder hinsicht vollendetes, doch zu einem gewissen abschlusse gediehenes wörterbuch enthalte […].« Allerdings: »Die sache verhält sich indes ganz anders, wie der leser aus der nachfolgenden darstellung sehen wird.«8 Müller bietet dann eine ausführliche Beschreibung von Beneckes Nachlass und seiner Arbeitsweise, die darlegt, wie viel bei Benecke im Stadium der Vorarbeit steckengeblieben ist und wie unsystematisch dessen Bearbeitung im Ganzen erfolgte, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich über einen sehr langen Zeitraum erstreckte, auch wenn am Ende mehrere Buchstabengruppen vollständig ausgearbeitet im Nachlass vorliegen.9 Müller beschließt diesen Abschnitt mit der Bemerkung: Es war Benecke nicht vergönnt, das werk, auf welches er eine dreissigjährige, freilich durch bibliotheksgeschäfte und andere unterbrechungen gehemmte sorgfalt verwandt hatte, vollendet zu sehen; im jahre 1844 beschloss der um die begründung der deutschen philologie hochverdiente und doch so bescheidene mann sein thätiges leben.10

Er verweist zudem darauf, dass Benecke selbst »sich nicht deutlich darüber ausspricht, dass er die herausgabe eines solchen werkes vorhabe«11 und nennt eine Publikation Beneckes, in der diese Frage bewusst, wohl als reine Geste der Bescheidenheit, offen blieb. Unentschieden bleibt bei Benecke auch die Frage, ob die Sache von einem Einzelnen oder im »verein« durchgeführt werden sollte: Nachgerade aber ist ein werk der art möglich geworden, und somit ist es auch pflicht ernstlich an die ausführung der arbeit zu denken, ob durch einen mit sorgfältiger umsicht gebildeten verein mehrerer mitarbeiter oder durch einen einzelnen der sich durch seine gelehrsamkeit, seinen eifer, seine musse dazu berufen findet, mag die zeit lehren; fürs erste genüge es die sache in anregung zu bringen.12

Müller grenzt sich also auf der einen Seite vom historisch gewachsenen Wörterbuchkonzept des akademischen Lehrers ab, auf der anderen bleibt er ihm deutlich verpflichtet: Nach Beneckes tode übernahm ich auf den wunsch der erben die durchsicht seines handschriftlichen nachlasses. […] Die durchsicht des wörterbuches begründete bald

8 9 10 11 12

der Universitätsbibliothek. – Zu Benecke vgl. Lothar Bluhm: Art. ›Benecke, Georg Friedrich‹. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Bd. 1: A–G. Berlin [u. a.] 2003, S. 131ff. Zu Müller vgl. Ulrich Hunger : Art. ›Müller, Wilhelm Konrad Hermann‹. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Bd. 2: H–Q. Berlin [u. a.] 2003, S. 1288f. Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. I, S. III. Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. I, S. V. Ebd., S. VI. Ebd., S. V. Georg Friedrich Benecke: Über ein mittelhochdeutsches Wörterbuch. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum 1 (1841), S. 39–56, hier S. 39.

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in mir die überzeugung, dass es bei dem grossen mangel an hilfsmitteln zur erlernung des mittelhochdeutschen äusserst wünschenswerth sei, wenn jemand die fortsetzung und vollendung übernähme.13

Nach der Absage des großen Karl Lachmann ergibt sich für Müller als einzig folgerichtige Konsequenz: Nun hielt ich mich um so mehr verpflichtet, diese mühe zu übernehmen, weil es zweifelhaft war, ob ein anderer sich zu dieser arbeit oder in der nächsten zeit zu einem ähnlichen ausführlichen werke verstehen würde, und erkaufte zu dem zwecke die handschrift des wörterbuches nebst dem zubehör von den erben.14

Das Weitere in der Vorrede ist Auseinandersetzung mit der Frage, wie konkret in pragmatischer Hinsicht mit Beneckes Material und Vorgaben umzugehen war : Systematische Ergänzungen und Vervollständigung (z. B. die Einarbeitung von neu erschienenen Textausgaben und Belegstellen) oder Umarbeitung (z. B. die korrekte Einordnung von Lemmata innerhalb der spezifischen, auf Benecke zurückgehenden Ordnung des Lexikons nach Wortstämmen). Müllers Schlussbemerkung ist dann nicht nur vorauseilende Apologetik gegenüber potentiellen Kritikern, sondern auch eine ziemlich – und aus heutiger Sicht durchaus zu Recht – selbstbewusste Einschätzung seiner eigenen Leistung, für die er sich neben Benecke auf die »meister des faches« stützen kann: Ich werde bei meiner arbeit, die zu einer zeit unternommen und ausgeführt ist, wo jedes jahr neue belehrungen brachte, berichtigungen mit dank annehmen, muss aber im voraus gegen jede beurtheilung einsprache thun, die nicht berücksichtigt, was ich unter den vorliegenden umständen geben wollte und konnte. Ist auch nicht alles geleistet, was vielleicht jetzt schon geleistet werden konnte, so darf ich mir doch bewust [!] sein, dass ich mit hilfe des nachlasses von Benecke, meines quellenstudiums und mit benutzung dessen, was die meister des faches zu tage förderten, für die mittelhochdeutsche lexikographie eine grundlage geschaffen habe, welche viele mit dank benutzen werden und an die andere ihre weitern forschungen und berichtigungen anschliessen können.15

Ziehen wir ein erstes Zwischenfazit: Schon bis zu diesem Punkt ist die Entstehungsgeschichte des Mittelhochdeutschen Wörterbuches die einer komplexen ›generationenübergreifenden Kooperation‹, geprägt durch eine Lehrer-SchülerBeziehung, mit der der Schüler nach dem Tod des Lehrers souverän umzugehen versteht, ohne dabei den akademischen Lehrer bloßzustellen und auch ohne auf eine eigenständige Prägung in der Umsetzung des Projekts zu verzichten. Darüber hinaus wird der Kontext einer Fachdisziplin aufgerufen, die sich in kriti13 Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. I, S. VI. 14 Ebd. 15 Ebd., S. XII.

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scher Weise mit dem Vorgelegten auseinandersetzt oder in sich anschließenden bzw. unmittelbar dem Wörterbuch dienenden Arbeiten beiträgt.16 Die Sache wird nun dadurch noch etwas komplizierter, dass tatsächlich ein Kooperationspartner neben Müller tritt, wie dieser bereits in der Vorrede zu Band I angekündigt und begründet hatte: »Zugleich erklärt sich daraus [sc. aus dem Verhältnis der Arbeit Müllers zum Nachlass Beneckes] das langsame erscheinen des werkes, für dessen raschern fortgang gesorgt ist, indem Herr Dr. Zarncke in Leipzig es übernommen hat, die buchstaben M bis S zu bearbeiten, während ich gleichzeitig T bis Z ausführe.«17 Wie es zu dieser Kooperation gekommen ist, wird weder in den Vorbemerkungen Müllers noch später von Zarncke näher erläutert. Komplikationen gibt es in der Zusammenarbeit lediglich wegen einer Erkrankung Zarnckes, die eine Verschiebung des Arbeitsprogramms in der Weise nötig macht, dass Zarncke am Ende ›nur‹ die Buchstabengruppe M bis R bearbeitet (Bd. II/1, erschienen 1863), Müller wie vorgesehen T bis Z (Bd. III, erschienen 1861) und darüber hinaus zusätzlich von Zarncke den Buchstaben S (Bd. II/2, erschienen 1866) übernimmt.18 Was den Gegenstandsbereich selbst betrifft, verläuft die Kooperation zwischen Göttingen (Müller) und Leipzig (Zarncke) offensichtlich reibungslos. Zarncke führt Beneckes Nachlass im Vergleich zu Müller in auffällig emphatischer Weise ein: nie habe ich diese aufzeichnungen ohne innige hochachtung für den verstorbenen zur hand genommen, dem die feinere begriffsbestimmung der mittelhochdeutschen sprache so viel verdankt. sein reiches und so seelenvolles wissen verrieth sich auch hier oftmals – zuweilen fast rührend –, aber eine nur annähernd genügende, eine nur nennenswerthe vorlage zur ausarbeitung eines wörterbuches wären sie selbst für ihn nicht gewesen, der doch überall hätte zwischen den zeilen lesen können, geschweige für andere.19

Dieses Lob steht nicht ohne Grund an dieser Stelle, denn im Folgenden wird unmittelbar deutlich, worauf es Zarncke eigentlich ankommt: hoffentlich wird man daher auch da, wo man noch immer fortfährt, unsere arbeit unter Benecke’s namen zu citieren, endlich zu der angemesseneren verweisung »mhd. wörterbuch« sich bequemen. durch die alleinige nennung von Benecke’s namen wird 16 Vgl. dazu insbesondere die namentlichen Nennungen am Schluss der Vorrede. Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. I, S. XIIIf. 17 Ebd., S. IX; ähnlich in der Vorrede Müllers zu Bd. III, S. IV. – Zu Zarncke vgl. den von der Redaktion verfassten Artikel: ›Zarncke, Friedrich Carl Theodor‹. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Bd. 3: R–Z. Berlin [u. a.] 2003, S. 2083–2086. 18 Vgl. Zarnckes Vorrede zu Bd. II/2, S. III. Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch ist in Einzellieferungen erschienen, von denen einige selbst kurze Vorbemerkungen enthalten haben, welche hier unberücksichtigt bleiben. 19 Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. II/1, S. III.

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unsere überwiegend selbständige arbeit zum scheine einer blossen bearbeitung herabgedrückt, wogegen wir ein recht haben zu protestieren.20

Nur hier betont Zarncke, dass es sich bei der Erarbeitung des Wörterbuchs um eine Kooperation mit Müller handelt, die gegenüber Beneckes Vorarbeiten als selbständige zu gelten hat (»unsere arbeit«), ansonsten steht konsequent – sei es bei Zarncke, sei es bei Müller – »ich« oder »meine arbeit«.21 Die von Zarncke eingeforderte ›neutrale‹ Bezeichnung des Wörterbuchs hat sich im Übrigen bis heute nicht durchsetzen können; der erste Ideengeber hat sich unauslöschlich in die Tradition eingeschrieben, die in der Titelei offensichtlich nur zufällig eine alphabetische ist. Bereits Müller weist im Vorwort zu Band I darauf hin, dass seine ursprüngliche Titelgebung von der Fachgemeinschaft offenbar nicht in erwarteter Weise aufgenommen wurde: Da diese beiden buchstaben die erste lieferung nicht ganz ausfüllen, so war hier der vorläufige titel, den ich dem werke gegeben hatte, passend. Ich konnte auch nicht erwarten, dass man ihn […] so misverstehn würde, als ob Benecke ein ganz fertiges handschriftliches wörterbuch hinterlassen habe, das nur in die druckerei geschickt zu werden brauchte und bei dem zusätze entbehrt werden konnten.22

Müller hat deswegen den Titel spätestens 1854, beim vollständigen Vorliegen des ersten Bandes, leicht abgeändert. In den Anzeigen der Neuerscheinungen im Intelligenzblatt zur Allgemeinen Literatur-Zeitung lautet er für die erste (April 1847) und noch für die zweite (Dezember 1848) Lieferung folgendermaßen: »Mittelhochdeutsches Wörterbuch aus dem Nachlasse von Georg Friedrich Benecke herausgegeben und bearbeitet von Dr. Wilhelm Müller, a. o. Professor in Göttingen.«23 Aus der Formulierung »aus dem Nachlasse« wird – wie oben zitiert – »unter Benutzung des Nachlasses«. Auch Müllers kurzer Ankündigungstext zur ersten Lieferung liest sich in der Tat mit einem etwas anderen 20 Ebd. In der Vorrede findet sich hierzu eine Anmerkung, in der Zarncke hervorhebt, was unmittelbar auf Beneckes Vorarbeiten zurückgeht und welche Schwierigkeiten damit verbunden sind: »Eigenthum Benecke’s sind fast alle citate aus Bodmer’s minnesingern, ferner die aus der Martina. ihre Auffindung aber verursachte grosse mühe, da Benecke stets nur die seite (meist selbst ohne beifügung von a und b) citiert hatte, oft auch die citate nicht zutrafen. namentlich ist mir das letztere bei der Martina aufgefallen, seit ich dieselbe habe benutzen können, und ich bin fast zu der vermuthung gedrängt, dass Benecke zuweilen statt der blätter der handschrift die seiner abschrift citiert hat.« 21 Exemplarisch Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. II/1, S. III. An einer Stelle ist in Bezug auf die gemeinsame Quellennutzung noch vom Wir die Rede. Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. II/1, S. IV. 22 Ebd., Bd. I, S. VIIIf. 23 Intelligenzblatt zur Allgemeinen Literatur-Zeitung (1847), Nr. 34, Sp. 277f., u. ebd. (1848), Nr. 45, Sp. 335. – Diesen Hinweis (und mehr) verdanke ich Ralf Plate (Trier) und Nils Hansen (Göttingen) vom Mittelhochdeutschen Wörterbuch (Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur und Akademie der Wissenschaften zu Göttingen).

»Seines fleisses darf sich jeder rühmen.«

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Akzent als seine spätere korrigierende Vorbemerkung zum kompletten ersten Band: »Ueber das Verhältniss meiner Arbeit zu der von Benecke bemerke ich, dass sie hauptsächlich darin bestand, das noch nicht Vollendete dem Plane des Verewigten [sc. Benecke] gemäss auszuführen, auf der andern Seite aber aus eigenen Sammlungen das noch fehlende zu ergänzen.«24 Möglicherweise ist Müller erst im Laufe der Bearbeitung die unterschiedliche Dichte der Vorarbeiten Beneckes klar geworden, eine deutlichere Betonung der eigenen Arbeitsleistung haben jedenfalls sowohl Müller als auch Zarncke offensichtlich für nötig gehalten.25 Kooperatives Arbeiten liegt hier – nach den Aussagen der Vorreden – lediglich insofern vor, als es sich bei der Fertigstellung des Wörterbuches um einen arbeitsteiligen Prozess handelt, bei dem zwei Mitarbeiter schneller zum Ziel kommen als einer allein. Die Erarbeitung der Einzelartikel des Lexikons selbst greift in keiner Weise ineinander.26 Jeder arbeitet für sich seine Alphabetstrecken aus und zieht dafür Beneckes – und teilweise auch andere – Vorarbeiten als Hilfsmittel hinzu. Insofern sind das ›Ich‹ der Vorreden und die entsprechenden Titeleien der Bände und Teilbände nur folgerichtig. Ein ›Wir‹ tritt – wie ausgeführt – nur dann punktuell in den Blick, wenn es um Abgrenzung gegenüber den Leistungen des ›Anregers‹ Benecke geht und somit letztlich auch um eine gemeinsame Art und Weise der Positionierung im Kontext des jungen Faches, bei der Zarncke auf Müllers Seite steht. Dafür müssen zwei Beispiele genügen: Erstens legt auch Zarncke in seiner Vorrede nochmals explizit Wert darauf zu betonen, dass er »wohl behaupten [darf], dass das hauptsächlichste material allein durch mich zusammengebracht worden ist.«27 Unmittelbar daneben steht bei ihm die zitierte Reverenz an Beneckes Leistung, danach vor allem und am ausführlichsten aber an »W[ilhelm] Wackernagel, der alle einem lexicographen wünschenswerthen eigenschaften in einer weise in sich vereinigt, dass man fast bedauern möchte, dass das mittelhochdeutsche wörterbuch nicht von ihm ausgegangen sei.«28 Eine fast extreme Form der Hochschätzung im Vergleich zu Nennungen anderer zeitgenössischer Gelehrter gegenüber diesem Schüler Karl Lachmanns, der 1840 ein Altdeutsches Lesebuch mit Wörterbuch vorgelegt hatte, 24 Intelligenzblatt zur Allgemeinen Literatur-Zeitung (1847), Nr. 34, Sp. 277. 25 Ein anschauliches Beispiel für eine Zitierweise, wie sie Müller und Zarncke nicht wollten, ist der Anfang eines Artikels von Jacob Grimm im Deutschen Wörterbuch 2 (1860), Sp. 241. Es heißt dort: »BORGEN, mutuari, ein Wort das Benecke 1, 162 schwieriger darstellt als nöthig ist.« 26 Im Vorwort zu Band II/2 spricht Müller immerhin davon, dass er »viele aufzeichnungen meines mitarbeiters« für die Ausarbeitung des Buchstabens S verwenden konnte (Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. II/2, S. III). Diese Möglichkeit ist natürlich allein auf die Krankheit Zarnckes zurückzuführen. 27 Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. II/1, S. IV. 28 Ebd.

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das 1861 separat als Altdeutsches Handwörterbuch erschienen war und sehr positiv aufgenommen wurde.29 Zweitens: Müller geht in der Vorrede zu Band 3 (1861) auf »ergänzungen und berichtigungen«30 ein und bemerkt: Einige sind solchen werken entnommen, die mir bei der bearbeitung des betreffenden wortes noch nicht zugänglich waren; bei andern hat man übersehen, dass das angeblich ausgelassene sich in dem wörterbuche findet; einzelne sind unrichtig und ungerecht oder unnöthig mit gift versetzt. In der folge werden sich bei dem weitern fortschritte der deutschen sprachwissenschaft noch mehr gelegenheiten zu ergänzungen darbieten. Mögen diejenigen die sie geben, doch auch nicht vergessen, dass sie durch das wörterbuch die anregung zu ihren bemerkungen erhalten haben und demselben zum theil auch wohl die mittel der ausführung verdanken.31

Sachliche Kritik in der vorgetragenen Form ist also akzeptabel. Müller jedoch konnte es sich nicht verkneifen, hinter das Wort »ungerecht« einen Asterisk zu setzen, der auf eine Anmerkung verweist, in der er sich mit einem derjenigen auseinandersetzt, von denen er sich ungerecht behandelt fühlt, nämlich Moriz Haupt. Dieser hatte in seiner Ausgabe der Lieder Neidharts von 1858 die Zuordnung eines Wortes zu einem bestimmten Wortstamm als »unrichtig« bezeichnet.32 Müller verteidigt (aus heutiger Sicht) zu Recht seine damalige Lemmazuordnung und zeigt in einem Verweis ein zweites Missverständnis Haupts an. Dann aber wird er polemisch: Für die freundliche art, mit der herr Haupt darauf ausgeht die arbeit Beneckes von der eines nicht genannten zu scheiden, bedanke ich mich; ich wünsche nur, dass es seiner vorurtheilsfreien kritik künftig besser gelingen möge das richtige zu treffen als bis jetzt hier und in andern dingen.33

Es ist natürlich klar : Der bei Haupt Ungenannte ist Müller selbst. Worüber dieser sich ärgert, ist die Tatsache, dass Haupt in einer Anmerkung zu einem Lied Neidharts eine mit Kritik garnierte Unterscheidung trifft zwischen dem, was im Mittelhochdeutschen Wörterbuch steht gegenüber dem, was Benecke in seinen Vorarbeiten geleistet hatte: »die von Jacob Grimm […] hingeworfene vermutung […] wird im mhd. wörterb[uch] […] als eigene meinung, ich weiss nicht ob Beneckes, wiederholt.«34 Gegen eben diese Unterscheidung wenden sich Müller und Zarncke – wie gezeigt – in ihren Vorbemerkungen mit Vehemenz.35 Das 29 Vgl. noch Edward Schröder : Art. ›Wackernagel, Wilhelm‹. In: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896), S. 464: »in der Knappheit und Schärfe seiner Bedeutungsangaben unübertroffen.« 30 Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. III, S. IV. 31 Ebd., S. IVf. 32 Neidhart von Reuenthal. Hg. v. Moriz Haupt. Leipzig 1858, S. 156. 33 Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. III, S. V. 34 Neidhart von Reuenthal, S. 144. 35 Das gilt auch für Zarncke, der sich gegen die »hämische verdächtigung meines charakters«

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ändert sich auch in Müllers Vorrede zum (chronologisch) letzten Band nicht: Er »beruhigt« sich selbst damit, dass auch schon die frühern bände nicht wenig zu der genauern kenntnis der mittelhochdeutschen sprache beigetragen haben und dass er [sc. der Verfasser] bei seiner langen arbeit – die erste lieferung des ersten bandes erschien noch vor den stürmen des jahres 1848 – sich stets die strengste sorgfalt zur pflicht gemacht hat.36

Am Ende der Vorrede stehen Verse aus dem Prolog des Tristan Gottfrieds von Straßburg, »mit welchen der erste begründer dieses werkes die vorrede seines wörterbuches zu Hartmanns Iwein beginnt.«37 Was sich bei Benecke 1833 aber noch als unverfängliche Hinführung zu ein »paar worte[n] als vorrede« liest, die der Leser als »wohl nicht ganz überflüssig«38 hinnehmen mag, das wird bei Müller 1866 zu einem (sicher etwas verbitterten) Reflex auf eine völlig veränderte Forschungslandschaft und -diskussion, in der er seine eigene Leistung nicht angemessen gewürdigt sieht: Ich hœre es velschen harte vil, daz man doch gerne haben wil; d. ist des lützeln ze vil: d. will man des man niht enwil. (V. 8–12) (»Ich höre oft, wie man das schlecht macht, was man doch gerne haben will: da ist des wenigen zu viel, da will man, wovon man nichts will.«39)

III. Die Entstehungsgeschichte von Lexers Mittelhochdeutschem Handwörterbuch ist eine Fortsetzungsgeschichte zu Benecke–Müller–Zarncke: Bereits ein Jahr, nachdem der letzte Band des Mittelhochdeutschen Wörterbuches erschienen war, trat Salomon Hirzel, der Verleger des Wörterbuchs, an Matthias Lexer40 heran,

36 37 38 39 40

durch Karl Müllenhoff wehrt (Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. II/1, S. V). Vgl. zu Müllenhoff: Wolfgang Höppner : Art. ›Müllenhoff, Karl Vicor‹. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Bd. 2: H–Q. Berlin [u. a.] 2003, S. 1276–1278. Vgl. exemplarisch Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im »Nibelungenstreit«. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 30), bes. S. 36–52. Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. II/2, S. IV. Ebd. Wörterbuch zu Hartmannes Iwein von Geo[rg] Friedr[ich] Benecke. Göttingen 1833, S. III. Übersetzung nach Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 2: Übers. v. Peter Knecht. Mit einer Einführung in das Werk v. Tomas Tomasek. Berlin [u. a.] 2004, S. 3. Zu Lexer vgl. Horst Brunner (Hg.): Matthias von Lexer. Beiträge zu seinem Leben und Schaffen. Stuttgart 1993 (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik Bd. 80); sowie Horst

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mit dem Angebot einer dreifachen Aufgabe: nämlich der Ausarbeitung eines Handwörterbuches, »das zugleich ein alphabetischer index und ein supplement zum grossen mittelhochdeutschen wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke sein sollte«.41 Der Hintergrund für dieses Angebot ist nicht zuletzt die schwere Benutzbarkeit des älteren Wörterbuchs wegen seiner gewöhnungsbedürftigen und voraussetzungsreichen Lemmaanordnung nach Wortstämmen. An dieser Ordnung wurde u. a. von Jacob Grimm Kritik geübt, gegen die Müller im Vorwort zum ersten Band des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs Einspruch erhoben hatte.42 Lexer, der bereits reiche Erfahrung auf dem Gebiet der Lexikographie mitbrachte, setzte diesen Arbeitsplan (und noch mehr) um, und zwar in der »Rekordzeit von zehn Jahren (1869–1878)«.43 Das Handwörterbuch erscheint in drei Bänden 1872, 1876 und 1878.44 Lexer bemerkt gleich zu Beginn seiner Vorrede zum ersten Band, dass es »unmöglich gewesen [wäre], dem mühsamen werke einigermaßen den stempel der vollendung aufzudrücken, wenn nicht erwünschte beihilfe von anderer seite gekommen wäre«.45 Diese Hilfe kommt nach Aussage des Vorwortes allererst zum Tragen in der Benutzung des Nachlasses von Wilhelm Grimm, dann aber auch in einer nicht zustande gekommenen Kooperation mit der Person, die bereits Zarncke erwähnt hatte: Wilhelm Wackernagel hat dem vorliegenden buche seine grösste aufmerksamkeit zugewendet und viele mängel desselben würden beseitigt worden sein, wenn sein scharfblickendes auge noch länger auf meiner arbeit hätte ruhen können und sein freundlicher, gerne erteilter rat nicht plötzlich verstummt wäre.46

Ende 1869 stirbt Wackernagel, nachdem beide im Oktober noch »einige frohe tage in München«47 verlebt hatten und Wackernagel Lexer in verschiedener Hinsicht unterstützt hatte.48 Beiden – Wilhelm Grimm und Wilhelm Wackernagel – ist das Handwörterbuch, wie aus dem Vorsatzblatt zu Band I hervorgeht,

41 42 43 44

45 46 47 48

Brunner : Art. ›Lexer, Matthias von‹. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Bd. 2: H–Q. Berlin [u. a.] 2003, S. 1080–1082. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878. Mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. Stuttgart 1992, S. V. Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. I, S. XIII mit Anmerkung. Ebd., S. 6*. Das Erscheinungsdatum der einzelnen Lieferungen mit reichen Materialien zur Entstehungsgeschichte ist angegeben bei Kurt Gärtner : Das Handexemplar von Matthias Lexers ›Mittelhochdeutschem Handwörterbuch‹. In: Horst Brunner (Hg.): Matthias von Lexer. Beiträge zu seinem Leben und Schaffen. Stuttgart 1993 (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik; Beihefte Bd. 80), S. 109–131, hier S. 118. Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. I, S. VI. Ebd., S. VII. Ebd. Zu Wackernagel vgl. Cathrin Rollberg: Art. ›Wackernagel, Wilhelm‹. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Bd. 3: R–Z. Berlin [u. a.] 2003, S. 1965ff.

»Seines fleisses darf sich jeder rühmen.«

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zugeeignet. Hilfestellung erhält Lexer selbst von Fedor Bech, einem besonders heiklen Fall, wie aus dem Folgenden deutlich wird: Da Bech selbst mit dem gedanken umgeht, ein mittelhochdeutsches handwörterbuch auszuarbeiten, war natürlich an eine mir zu gestattende benutzung seines materials nicht zu denken, und es verdient um so grössere anerkennung, dass er mir gleich auf meine erste anfrage hin […] sich erbot, »mir aus seiner sammlung mitteilungen zukommen zu lassen, soweit er es verantworten könne vor denen, welche in den letzten jahren ihm dazu beigesteuert hätten«.49

In einem anderen Fall bleibt Lexer die erwartete Unterstützung versagt: Franz Pfeiffer verwies in einem Aufsatz auf Material, das er zurückgelegt hatte, »[…] bereit, es nebst andern derartigen beiträgen dem in aussicht stehenden supplementbande zum mittelhochd[eutschen] wörterbuche zu gute kommen zu lassen«.50 Lexer hat nach eigener Aussage schriftlich Kontakt zu Pfeiffer gesucht, aber : »Mein brief wurde nicht beantwortet (dass er ihn empfangen und seinen inhalt mit freunden besprochen hat, weiss ich aus bester quelle), und ich kann nur wünschen, dass mir […] nicht viel wesentliches entgangen ist«.51 Hinter dieser Verschlossenheit Pfeiffers steht ohne Zweifel die Grüppchenbildung innerhalb der Germanistik, bei der Lexer als Schüler Moriz Haupts sozusagen auf der falschen Seite steht. Es ist ja auch bereits als Faktum für sich signifikant, dass die Anregung dieses Wörterbuchs nicht (nur) auf ein von den Forschern geäußertes Desiderat zurückgeht, sondern letztlich auf den Verleger Hirzel, dem Lexer am Ende seines Vorwortes zum ersten Band ausführlich Dank abstattet und dessen Andenken er im Vorwort zum dritten Band einen eigenen Absatz widmet.52 Die Reihe an Helfern und Förderern, die Lexer am Ende des Vorwortes über Grimm, Wackernagel und Bech hinaus namentlich oder indirekt nennt und sich für deren Beiträge bedankt, ist lang und umfasst ca. 20 Personen. Es sticht hier allein noch eine Person heraus – Karl Hildebrand (1846–1875), ein Schüler Zarnckes53 – der für Band I und bis zu seinem Tod für Teile von Band II als eine Art ›Hilfskraft‹ fungiert zu haben scheint. Lexer jedenfalls dankt ihm »für die sorgfältige lesung der correctur«.54

49 50 51 52 53 54

Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. I, S. VIII. Ebd., S. VIII, im Original gesperrt. Ebd. Ebd., S. XIf., u. Bd. III, S. IV. Hildebrand ist nicht im Internationalen Germanistenlexikon geführt. Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. I, S. XI; sowie das Vorwort zu Bd. II.

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IV. Als kurzes Resümee bleibt festzuhalten, dass die »soziale Dimension« der skizzierten Entstehungsgeschichten aus wissenschaftshistorischer Perspektive kaum zu überschätzen ist, wie Rainer Kolk einlässlich u. a. bereits am Beispiel Lexers gezeigt hat.55 Sie stehen darüber hinaus in einem diskursiven Diskussionszusammenhang, der nicht mehr nur die reine Sammeltätigkeit betrifft. Zunehmend kommen auch Grundfragen wissenschaftlicher Standards und die frühe Schulenbildung in der universitären Fachdisziplin in den Blick. Die lexikographischen Arbeiten auf dem Gebiet des Mittelhochdeutschen in dieser Zeit bleiben dabei aber gewiss herausragende Leistungen einzelner Forscher, deren Arbeitsweise noch keine arbeitsteiligen Teamzusammenhänge kennt, wie sie für spätere Forschung kennzeichnend sein können.56 Sie sind gerade keine Formen kooperativen Arbeitens in diesem Sinne. Beneckes Nachlass liefert eine Grundlage, an der Müller und Zarncke sich in Auseinandersetzung mit der Forschung reiben und abarbeiten, wo sie heftig um die Anerkennung ihrer eigenen Leistung ringen müssen. Lexer kann sich – neben dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch – auf die Nachlässe von Grimm und Wackernagel stützen, die ihm aber nur für kleine Bereiche seiner Arbeit weiterhelfen. Das Gros bestreitet er ganz wesentlich im Alleingang. Die studentische und die wissenschaftliche Hilfskraft sowie Formate wie Sonderforschungsbereiche, Akademievorhaben oder Vergleichbares müssen erst noch erfunden werden.57 55 Rainer Kolk: »Mitarbeiter und Nachfolger«. Matthias Lexer und die Germanistik seiner Zeit. In: Horst Brunner (Hg.): Matthias von Lexer. Beiträge zu seinem Leben und Schaffen. Stuttgart 1993 (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 80), S. 21–32, das Zitat S. 24. 56 Ein Beispiel dafür ist das Leipziger Althochdeutsche Wörterbuch. Vgl. dazu Brigitte Bulitta: Das Althochdeutsche Wörterbuch. Philologische Grundlagenforschung an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. In: Holger Runow (Hg.): Historische Lexikographie des Deutschen. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57 (2010), H. 4, S. 363–377; sowie Ingeborg Köppe: Das Althochdeutsche Wörterbuch. In: Heinz Penzlin (Hg.): Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Geschichte ausgewählter Arbeitsvorhaben. Stuttgart [u. a.] 1999, S. 73–90. 57 Die Geschichte der studentischen und wissenschaftlichen Hilfskraft ist – zumal aus geisteswissenschaftlicher Perspektive – noch nicht aufgearbeitet. Vgl. aus naturwissenschaftlicher Sicht den Sammelband von Klaus Hentschel (Hg.): Unsichtbare Hände. Zur Rolle von Laborassistenten, Mechanikern, Zeichnern u. a. Amanuenses in der physikalischen Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Stuttgart 2008. – Vgl. auch den kurzen Überblick mit weiterführenden Hinweisen von Klaus Hentschel: Unsichtbare Hände in der Wissenschaft. Auf der Suche nach den ungewürdigten Helfern der Forschung. In: Physik Journal 8 (2009), S. 37–40. Vorläufig müssen die Definitionen der Hochschulgesetze der Länder und die von Matthias Politycki genügen; vgl. ders.: Weiberroman. Historisch-kritische Gesamtausgabe. München 1997, S. 411, Anm. 25: »Hilfswissenschaftler Stelle. Die Aufgabe des Hiwis besteht in der Regel darin, Bücher für den Professor aus den Regalen zu holen, Wörter darin zu

»Seines fleisses darf sich jeder rühmen.«

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Am Ende steht in dieser frühen Phase der Germanistik somit der ›Fleiß‹ des einzelnen Forschers, wie die Rezensenten zu Lexers Wörterbüchern unisono hervorheben.58 Aber es ist eben ein Fleiß, der nun an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden ist und einem genau bestimmbaren Zweck dienen soll, nämlich dem Dienst an der Fachwissenschaft, »unserer herrlichen deutschen wissenschaft zu nutz und frommen«.59 Um den Bogen zurück zum Anfang zu schlagen, sei ein letztes Mal aus Lexers Vorwort zitiert: »Seines fleisses darf sich jeder rühmen«, und so darf ich wol auch von mir sagen, dass ich in der verhältnismässig kurzen zeit, welche seit dem beginne dieses werkes verflossen ist, alle meine kräfte angestrengt habe, um dasselbe auf die ihm gebührende höhe der germanistischen philologie zu bringen.60

suchen oder sogar ganze Sätze, die Bücher zurückzuräumen in die Regale. Kopieren können sollte er auch.« Die Abkürzung Hiwi ist aus bekannten historischen Gründen zu vermeiden. 58 Vgl. die Zitate von Anton Ueberfelder und Wilhelm Scherer bei Kolk: »Mitarbeiter und Nachfolger«, S. 24 u. S. 25. Immer fällt das Stichwort. 59 Mittelhochdeutsches Handwörterbuch Bd. III, S. IV. 60 Ebd., Bd. I, S. VI.

Mirko Nottscheid

Wissenschaft, Verlag, Mäzenatentum. Kooperative Strukturen in der frühen Neugermanistik – das Beispiel von Editionsreihen und Werkausgaben

I.

Einleitung

Ein kaum untersuchtes, aber sehr ergiebiges Feld, auf dem sich Kooperationsformen auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften untersuchen lassen, sind die zahlreichen philologischen Editionsunternehmen, die bei der fachlichen Institutionalisierung sowohl der Altgermanistik als auch der Neueren deutschen Literaturgeschichte eine wichtige Rolle gespielt haben.1 Es fällt zunächst auf, in welchem Umfang gerade die frühen Neugermanisten sich sehr schnell als kooperative Fachgemeinschaft organisierten und inszenierten, deren Keimzelle Wilhelm Scherers Straßburger und Berliner Seminarübungen bildeten. Aus dieser ›Schule‹ gingen seit Mitte der 1870er Jahre etliche Absolventen hervor, die ihren fachlichen Schwerpunkt bereits während der Qualifikationsphase auf die neuere Literaturgeschichte legten und nach ihrer Habilitation auf Professuren 1 Vgl. für die Mediävistik z. B. Ulrich Hunger : Romantische Germanistik und Textphilologie. Konzepte zur Erforschung mittelalterlicher Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987) [Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp], S. 42–68; für die neuere Literaturgeschichte Hans-Harald Müller : Wissenschaftsgeschichte und neugermanistische Editionsphilologie. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 23 (2009), S. 1–13. Im Bereich der germanistischen Edition wurden fachgeschichtliche Fragestellungen in letzter Zeit verstärkt unter konzeptionsgeschichtlichen und wissenschaftsbiografischen Gesichtspunkten untersucht. Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth u. Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition Bd. 2); Roland S. Kamzelak, Rüdiger Nutt-Kofoth u. Bodo Plachta (Hg.): Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext. Biografische, institutionelle, intellektuelle Rahmen in der Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren. Berlin u. Boston 2011 (Bausteine zur Geschichte der Edition Bd. 3). Eine relativ frühe editionsgeschichtliche Fallstudie, die kooperative Aspekte bereits stärker miteinbezieht, ist Klaus Kanzog: Edition und Engagement. 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists. 2 Bde. Berlin u. New York 1979 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N. F. Bd. 75 [199]). Für Hinweise und Kritik danke ich Rüdiger NuttKofoth und Hans-Harald Müller.

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Mirko Nottscheid

für dieses Fach in Österreich und Deutschland gelangten: darunter Erich Schmidt in Straßburg, Wien und Berlin (1877/1881/1887), Jakob Minor in Prag und Wien (1884/1885), August Sauer in Graz und Prag (1883/1886), Bernhard Seuffert in Graz (1886) und Richard Maria Werner in Lemberg (1883), die hier jeweils ihrerseits Seminare mit neugermanistischer Abteilung leiteten und den informellen Fachdiskurs über ein intensiv gepflegtes briefliches Netzwerk organisierten.2 Frühe Zeugnisse der Kooperation aus dieser Gruppe sind beispielsweise der von Scherer herausgegebene Sammelband Aus Goethes Frühzeit,3 in den er auch kleinere Beiträge aufnahm, die aus Seminarvorträgen seiner Hörer hervorgegangen waren, und die von Jakob Minor und August Sauer gemeinsam publizierte Monographie Studien zur Goethe-Philologie,4 bei der die Autoren es dem Publikum überließen, die in sich abgeschlossenen Beiträge einem der beiden Autoren zuzuweisen.5 Die intensive Teilnahme der Nachwuchswissenschaftler an den größeren von Scherer initiierten und/oder geleiteten wissenschaftlichen Unternehmungen – hier ist vor allem an die Deutsche Literaturzeitung (1880ff.) und die Weimarer Ausgabe von Goethes Werken (1887ff.) zu denken – stärkte zwar die im Seminar geknüpften persönlichen und fachlichen Bindungen, trug aber auch zur Außenwahrnehmung eines auf Profilierung angelegten ›Schulverbandes‹ bei. Dieser Eindruck relativiert sich freilich mit Blick auf die während der disziplinären Konstitutionsphase gegründeten neugermanistischen Zeitschriften und Editionsreihen, die zur Aufrechterhaltung ihres Betriebes zwangsläufig auf breitere kooperative Strukturen angewiesen waren. Während die dauerhafte Etablierung eines eigenständigen neugermanistischen Fachperiodikums erst 1894 mit der Gründung von August Sauers Euphorion gelang, erlebte die neugermanistische Edition bereits seit Mitte der 1870er Jahre eine 2 Vgl. Mirko Nottscheid: »vorbild und muster«. Praxeologische Aspekte in Wilhelm Scherers Korrespondenz mit deutschen und österreichischen Schülern in der Konstitutionsphase der Neueren deutschen Literaturgeschichte (1876–1886). In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 23 (2013), H. 2, S. 374–389. 3 Wilhelm Scherer : Aus Goethes Frühzeit. Bruchstücke eines Commentares zum jungen Goethe. Mit Beiträgen von Jacob Minor, Max Posner, Erich Schmidt. Straßburg u. London 1879 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Bd. 34). 4 Jakob Minor u. August Sauer : Studien zur Goethe-Philologie. Wien 1880. 5 Vgl. Wilhelm Scherer an August Sauer, 30. November 1880: »In den Studien zur GoethePhilol., nehme ich an, daß eine Untersuchung des 1. und 2. Götz (die Vergleichung, mein ich) von Ihnen herrührt […]. Ist es unrichtig, so bitte ich Sie um Auskunft.« (zitiert nach HansHarald Müller u. Mirko Nottscheid [Hg.]: Disziplinenentwicklung als ›community of practice‹. Der Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner aus den Jahren 1876 bis 1886. Stuttgart 2016 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik Bd. 6) [im Folgenden: Briefwechsel Scherer – Sauer – Seuffert – Werner], Nr. 50, S. 324).

Wissenschaft, Verlag, Mäzenatentum

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erste Blüte, also deutlich vor der für die germanistische Großforschung maßstabsetzenden Weimarer Ausgabe. Vor allem drei Aspekte sind anzuführen, die hier aktivierend wirkten: Zum einen drängte die scientific community, nicht zuletzt die an den höheren Schulen tätigen forschenden Lehrer, auf die Bereitstellung von auf kritischer Grundlage hergestellten Texten; auch für die Arbeit in den germanistischen Seminaren wurden diese dringend benötigt. Zweitens bestand die Notwendigkeit, das aus der älteren deutschen Philologie übernommene textkritische und editorische Rüstzeug in größerem Maßstab auf Texte der neueren Literaturgeschichte anzuwenden, wofür zu diesem Zeitpunkt nur wenige größere Gesamtausgaben als Modelle existierten.6 Dafür boten gerade die auf die Veröffentlichung einzelner, auch kürzerer Texte oder Werkauswahlen in Serie angelegten Editionsreihen ein willkommenes Experimentierfeld, zumal hier dem einzelnen Herausgeber in methodischer Hinsicht eine größere Freiheit gewährt werden konnte, als dies später bei den großen staatlich geförderten Editionen der Fall sein konnte. Diese Flexibilität beförderte innovative, an den Erfordernissen der jeweiligen Überlieferung orientierte Herausgeberentscheidungen. Zum Dritten aber differenzierte sich zu dieser Zeit das Anforderungsprofil des germanistischen Hochschullehrers, der sich im Zuge der Qualifizierung für einen Lehrstuhl nun nicht mehr ›nur‹ in individueller Forschung und Lehre, sondern auch bei der Organisation größerer Forschungsunternehmungen zu bewähren hatte.7 Die Herausgabe von Zeitschriften und Buchreihen, darunter Editionen, eröffnete hier ein willkommenes Tätigkeitsfeld, das zudem eine Möglichkeit bot, die für gewöhnlich existentiell krisenhafte Phase zwischen der Habilitation und dem endgültigen Ruf auf eine Professur finanziell zu überbrücken.8 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass bei der Edition von Texten aus der neueren deutschen Literaturgeschichte in dieser Phase der Disziplingenese nicht allein wissenschaftliche Fragen im Vordergrund standen. Es spielten dabei – stärker als bei den altgermanistischen Editionen – auch ökonomische Gesichtspunkte des Verlagswesens eine wichtige Rolle, die auf die Auswahl der 6 Zu nennen sind die Lessing-Ausgabe von Karl Lachmann (1838–40; neu bearbeitet von Franz Muncker 1886–1924), Karl Goedekes Schiller-Ausgabe (1867–76) und Bernhard Suphans Herder-Ausgabe (1877–1913). 7 Vgl. Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im »Nibelungenstreit«. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 30), S. 49. 8 Vgl. Martin Schmeiser : Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870–1920. Eine verstehend soziologische Untersuchung. Stuttgart 1994, bes. S. 30–41.

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Texte, ihre Darbietung und die Formen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit einwirkten. Denn die Ausgaben ›moderner‹ Texte mussten sich auf einem literarischen Markt behaupten, auf welchem seit der Aufhebung des so genannten ›Klassikerprivilegs‹ (1867) eine schier unübersichtliche Inflation an preiswerten, in vielfachen Variationen und Verbreitungsformen aufgelegten Ausgaben gerade der prominentesten Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts herrschte.9 Zwar genügten diese oft fehlerhaften Lesetexte, die in stereotypierter Form nicht selten jahrzehntelang nachgedruckt wurden, kaum wissenschaftlichen Ansprüchen. Dennoch musste sich auch die viel kleinere wissenschaftliche Buchproduktion zwangsläufig an den Lesebedürfnissen des bildungsbeflissenen Bürgertums orientieren, sofern sie auf Dauer rentable Ergebnisse erzielen wollte. Bislang ist kaum untersucht, welche Handlungsspielräume sich den Verlegern und den wissenschaftlichen Herausgebern unter diesen Umständen eröffneten, welche verschiedenen Kooperationsformen zwischen ihnen angestrebt und erprobt wurden und sich in der Praxis herausbildeten, noch wie sich die konkrete Zusammenarbeit zwischen herausgebenden Redakteuren und Bearbeitern im Einzelfall gestaltete. In Anbetracht dieser Forschungslage kann ich im Folgenden nur exemplarische Einblicke in vier Bereiche geben, wobei ich mich auf langfristige, seriell angelegte editorische Unternehmungen mit wissenschaftlichem Anspruch beschränke, die in besonderer Weise zur Ausbildung kooperativer Zusammenhänge beitrugen:10 1. die Aktivitäten wissenschaftlicher Subskriptionsvereine (Buchgesellschaften) auf dem Gebiet der Edition, am Beispiel der Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart; 2. Joseph Kürschners Reihe Deutsche National-Litteratur (1882ff.) als Beispiel für eine großangelegte verlegerische Initiative zur Erschließung der deutschen Literatur durch Wissenschaftler, aber für den größeren Buchmarkt; 3. die germanistischen Neudruckreihen seit den 1870er Jahren als Versuche einzelner Neugermanisten, selbst einen Markt für wissenschaftliche Editionen zu erschließen; 4. die Weimarer Ausgabe von Goethes Werken als frühes Beispiel für aus Drittmitteln geförderte Großforschung auf dem Gebiet der neugermanistischen Edition. 9 Vgl. hierzu neuerdings die in ihren quantitativen Ergebnissen verblüffende und für die Geschichte der populären Klassikerausgaben überhaupt aufschlussreiche Fallstudie von Doris Fouquet-Plümacher : Kleist auf dem Buchmarkt. Klassikerausgaben für das Bürgertum. Hildesheim [u. a.] 2014 (Germanistische Texte und Studien Bd. 94). 10 Zur Bedeutung serieller Editionstypen allgemein vgl. auch Bodo Plachta: Editionsreihen – Konzepte und Ziele einer Editionsform des 19. Jahrhunderts. In: Thomas Bein (Hg.): Vom Nutzen der Editionen. Berlin u. Boston 2015 (Beihefte zu editio Bd. 39), S. 259–266.

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II.

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Zwanglose Forschung: Wissenschaftliche Buchgesellschaften

Aufrufe zur Finanzierung literarischer und wissenschaftlicher Werke durch Subskription haben in den deutschsprachigen Ländern eine lange Tradition.11 Die vereinsförmig organisierte Buchgemeinschaft, die Verlag und Buchhandel umgeht und ihre Produkte jenseits ökonomischen Gewinnstrebens einem begrenzten Kreis von Abonnenten zugänglich macht, etablierte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts.12 Wissenschaftliche Buchgemeinschaften haben vor allem in der Frühgeschichte wissenschaftlicher Disziplinen eine Rolle gespielt, indem sie der sich formierenden scientific community wissenschaftliche Werke zugänglich machten, deren Veröffentlichung der Verlagsbuchhandel aufgrund hoher Produktionskosten und geringer Absatzerwartungen scheute. Sie nahmen dabei zugleich Aufgaben wahr, die spätestens im 20. Jahrhundert weitgehend von der staatlichen Wissenschaftsförderung übernommen wurden.13 Für die frühe Germanistik ist hier vor allem auf den Litterarischen Verein in Stuttgart hinzuweisen, der 1839 unter dem Protektorat des Königs von Württemberg gegründet wurde und bis 1920 bestand. Seine jahrzehntelange, fruchtbare editorische Tätigkeit schlug sich in einer umfangreichen Schriftenreihe, der Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart (BLVS), nieder, die es bis zur Auflösung des Vereins auf beeindruckende 266 Bände brachte. Manuel Braun und Sandra Richter haben dieses Unternehmen, das sowohl für die germanistische Mediävistik wie für die neuere Literaturgeschichte bedeutend war, treffend als einen Vorläufer moderner kooperativer Großforschung charakterisiert: »eines der wichtigsten geisteswissenschaftlichen Projekte dieser Zeit«.14 11 Vgl. Helmut Buske: Art. ›Subcriptions-Gesellschaft‹. In: Severin Corsten, Stephan Füssel, Günther Pflug [u. a.] (Hg.): Lexikon des gesamten Buchwesens. Bd. 7. 2., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart 2007 [im Folgenden: LGB2], S. 298; Karl Gutzmer : Art. ›Subskription‹. In: ebd., S. 298f. 12 Vgl. Peter R. Frank: Art. ›Buchgemeinschaften‹. In: ebd., Bd. 4. Stuttgart 1995, S. 592–597. 13 Zu den verschiedenen Typen wissenschaftlicher Vereine und ihrer Bedeutung für die Disziplingenese der Germanistik vgl. Hans-Harald Müller u. Mirko Nottscheid: Wissenschaft ohne Universität – Forschung ohne Staat. Die Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur (1888–1938). Berlin u. Boston 2011 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Bd. 70 [304]), bes. S. 4–13 u. S. 89–101. 14 Manuel Braun u. Sandra Richter : »Vergoldung vergeht, Schweinsleder besteht«. Die ›Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart‹ als Beispiel für Editionsphilologie und Förderpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38 (2010), S. 32–54, hier S. 32. Die folgende Skizze beruht überwiegend auf dieser grundlegenden Studie. Vgl. außerdem Dirk Werle: Großforschung vor der Großforschung? Anmerkungen zum Beitrag von Sandra Richter und Manuel Braun. In: ebd., S. 55–59; Ursula Burkhardt: Germanistik in Südwestdeutschland. Die Geschichte einer Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Freiburg. Tübingen 1976

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Das vorrangige Ziel der Gründer des Vereins bestand darin, die Jahresbeiträge seines durchschnittlich etwa 300 Personen und Körperschaften umfassenden Mitgliederstamms, der sich vornehmlich aus bürgerlichen Gelehrten und Literaturenthusiasten, adligen Mäzenaten und zahlreichen öffentlichen Bibliotheken rekrutierte, »auf die Herausgabe werthvoller, sei es handschriftlicher, sei es älterer schon gedruckter, aber bereits aus dem Buchhandel verschwundener und sehr selten gewordener Werke zu verwenden, und zwar solcher, die dem germanischen oder romanischen Sprachgebiete angehören und ein allgemeines Interesse darbieten, also vorzugsweise Schriften geschichtlichen oder poetischen Inhalts«.15 Das hier zum Ausdruck kommende, ›rein‹ wissenschaftliche Bestreben, der künftigen Forschung schwer erreichbares oder gänzlich unbekanntes Material zugänglich zu machen, sollte weder durch die kommerziellen Interessen eines Verlags noch bibliophile oder andere, auf ein nicht wissenschaftliches Publikum orientierte Rücksichten beschränkt werden. Diesen Zielen dienten auch die relativ flachen Strukturen des Vereins: Die Verwaltung, vor allem die redaktionellen Arbeiten und die Korrespondenz mit den Herausgebern und der Buchdruckerei, lag in den Händen des jeweiligen Vorsitzenden,16 der bei den Geschäften durch einen Kassierer und einen zwölfköpfigen Beirat, Gesellschaftsausschuss genannt, unterstützt wurde. Die Mitglieder des Ausschusses, der über die Aufnahme der zur Veröffentlichung angebotenen Ausgaben entschied, wurden jährlich von der Generalversammlung neu gewählt bzw. bestätigt. Da es sich um prominente Germanisten und Romanisten aus dem gesamten deutschsprachigen Raum handelte, dürften die Abstimmungen jedoch kaum je in direkter Aussprache, sondern im schriftlichen Umlaufverfahren erledigt worden sein. Angebote erreichten den Verein von vielen Seiten, zumal das streng überwachte Budget der BLVS auch einen Posten für die Honorierung der Herausgeber vorsah. Der Schwerpunkt der Reihe lag anfangs auf dem deutschen und romanischen Mittelalter, wo sich die Reihe mit der Edition einzelner bedeutender Leithandschriften ihre ersten Meriten erwarb; das Programm dehnte sich aber bald auf das Spätmittelalter und den gesamten Bereich der Frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert hinein aus. Im Zentrum standen dabei literarische Texte im weitesten Sinne, veröffentlicht wurden aber auch kulturhistorisch bedeutende Quellen, wie Chroniken, Urkundenbücher oder Reiseberichte. (Contubernium Bd. 14), S. 110–114, u. Gerd Hiersemann: Art. ›Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart‹. In: LGB2. Bd. 1. 1987, S. 380. 15 Adelbert von Keller : Zum hundertsten Bande der Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. Eine Denkschrift von dem Präsidenten des Vereins. Tübingen 1870, S. 16f. 16 Dieses Amt hatten über die längste Zeit drei prominente Tübinger Hochschullehrer inne: von 1849 an Adelbert von Keller, dem 1883 Wilhelm Ludwig Holland und von 1891 bis 1920 Hermann Fischer folgten, die beide Schüler Kellers waren.

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In methodischer Hinsicht war die BLVS keiner bestimmten Richtung der zeitgenössischen Germanistik verpflichtet.17 Die jeweiligen Bearbeiter konnten relativ frei über die Auswahl der Texte, etwaige Kürzungen, die Prinzipien der Textkonstitution und die Aufnahme editorischer Beigaben entscheiden. Deutlich ist insgesamt eine – wohl hauptsächlich den begrenzten finanziellen Mitteln und dem Pragmatismus des umfangreichen Publikationsprogrammes von jährlich drei bis sechs Bänden geschuldete – Tendenz zu urkundengetreuer, diplomatischer Wiedergabe der Vorlagen. Dementsprechend fehlen in der Reihe überwiegend aufwendige, mehrere Fassungen eines Werkes bietende kritische oder umfassend kommentierte Ausgaben.18 Andererseits war es dem Verein wohl nur durch diese Zurückhaltung möglich, innerhalb eines ökonomisch vertretbaren Rahmens so umfangreiche und zeitaufwendige Projekte umzusetzen, wie sie beispielsweise mit den Ausgaben der Werke von Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen (4 Bde., 1854–62), Paul Fleming (3 Bde., 1863–65), Hans Sachs (26 Bde., 1870–1908) und Georg Wickram (8 Bde., 1901–06), der Auswahl aus der Korrespondenz der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orl8ans (insgesamt 8 Bde., 1843–1903) oder den Briefwechseln Ludwig Gleims mit Johann Peter Uz (1899) und Karl Wilhelm Ramler (1907) vorliegen. Diese Unternehmungen, die beim Publikum ein »spezifisches (literar-)historisches Interesse«19 voraussetzten, wären zu diesem Zeitpunkt wohl kaum über den profitorientierten Verlagsbuchhandel zu realisieren gewesen. Sie sind zugleich vielfach Beispiele früher lokaler oder überregionaler Forschungskooperation, bei der sich mehrere Forscher an einer Edition beteiligten, wie Adelbert von Keller (Tübingen) und Edmund Goetze (Dresden) bei Hans Sachs oder Johannes Bolte und Willy Scheel (beide Berlin) im Falle Georg Wickrams. Das thematisch wie methodisch nach vielen Seiten offene Programm der bürgerlichen Subskriptionsvereinigungen geriet nach der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend in Konkurrenz zu den mittlerweile ausgebauten staatlich geförderten Forschungsunternehmen der wissenschaftlichen Akademien, die mit ihren langfristigen Arbeitsstellen und Publikationsreihen nicht 17 Diese ›Überparteilichkeit‹ spiegelt sich auch in der personellen Zusammensetzung des Gesellschaftsausschusses, dem z. B. im – hier willkürlich herausgegriffenen – Jahr 1908 (vgl. Hans Sachs. Bd. 26. Hg. v. Edmund Goetze. Tübingen 1908 [BLVS Bd. 250], Vortitel verso) Johannes Bolte (Berlin), Ernst Martin (Straßburg), Gustav Meyer von Knonau (Zürich), Hermann Paul (München), Erich Schmidt (Berlin), Anton E. Schönbach (Graz), Eduard Sievers (Leipzig), Elias von Steinmeyer (Erlangen), Philipp Strauch (Halle), Ludwig Tobler (Berlin) und Karl Voretzsch (Tübingen) angehörten. 18 Vgl. Burkhardt: Germanistik in Südwestdeutschland, S. 113, die darauf hinweist, dass sich dieses Programm zwar »unausgesprochen gegen Lachmanns textkritische Methode« gewandt habe, diese Tendenz aber eben »nicht theoretisch – sondern finanziell« begründet gewesen sei. 19 Braun u. Richter : »Vergoldung vergeht, Schweinsleder besteht«, S. 43.

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nur über größere Ressourcen verfügten, sondern dabei auch verstärkt auf die Durchsetzung einheitlicher editionsphilologischer Standards drangen.20 Anders als viele Innovationsprojekte des wissenschaftsinteressierten Bürgertums, die sich unter dem Eindruck der auf den Ersten Weltkrieg folgenden Wirtschafts- und Legitimationskrisen auflösten, verschwanden oder – oft unter Überschreibung ihres Namens und ihrer Urheber – in staatliche Obhut übergingen, blieb die Bibliothek des Litterarischen Vereins zumindest als ›Marke‹ erhalten: 1924 übernahm der Leipziger (später Stuttgarter) Hiersemann-Verlag die Reihe in sein Programm, wo sie bis heute fortbesteht.

III.

Zwischen Popularisierung und Wissenschaftsanspruch: Joseph Kürschners Deutsche Nationallitteratur

Die Deutsche Nationallitteratur (DNL) kann als der erste erfolgreiche Versuch gelten, die wichtigsten Werke der deutschen Literatur, von den Anfängen bis zu Goethes Tod, »in einer großangelegten Textsammlung […] in relativer Vollständigkeit und wissenschaftl[ich] durchgesehen zusammenzustellen«.21 Die Reihe, in der zwischen 1882 und 1899 nicht weniger als 164 Bände in (222 Bänden) erschienen, war ein Unternehmen des Stuttgarter Verlegers Wilhelm Spemann. Ihr eigentlicher Initiator war aber Spemanns ›Literarischer Leiter‹ Joseph Kürschner, ein erfahrener Organisator und Redakteur, der für die einzelnen Bände ein großes Feld namhafter Herausgeber einwarb.22 Die Bände erschienen in wöchentlichen Lieferungen zu etwa 7 Bogen, die zu niedrigem Preis, anfangs 50 Pfennig, über den Buchhandel oder im Abonnement bezogen werden konnten.23 Darin wie auch in ihrer relativ anspruchsvollen Aufmachung unterschied sich die DNL nicht von Dutzenden ähnlich aufgemachter popularisierender Klassikerserien. Ihr Alleinstellungsmerkmal bestand im Anspruch der ›Wissenschaftlichkeit‹, das dem Leser durch den Untertitel der Gesamtreihe – »historisch-kritische Ausgabe« – angezeigt wurde. Umfangreichere biografische und werkgeschichtliche Einleitungen sowie textkritische Apparate und Sacherläuterungen sollten es – wie es im Prospekt heißt – »auch 20 Vgl. ebd., S. 50f. 21 Robert F. Arnold: Allgemeine Bücherkunde zur neueren deutschen Literaturgeschichte. 4. Aufl. Neu bearbeitet v. Herbert Jacob. Berlin 1966, S. 158. 22 Zu Kürschner und seinen vielfältigen Aktivitäten im literarischen Leben vgl. ausführlich Rudolf Wilhelm Balzer : Aus den Anfängen schriftstellerischer Interessenverbände. Joseph Kürschner : Autor – Funktionär – Verleger. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 16 (1976), Sp. 1457–1648. Eine größere Untersuchung der DNL fehlt, zum Folgenden vgl. Balzer, Sp. 1517–1519, und Kanzog: Edition und Engagement, Bd. 1, S. 251f. 23 Vgl. Balzer : Aus den Anfängen, Sp. 1517.

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weiteren Kreisen« ermöglichen, »den Entwicklungsgang unserer Literatur zu erfassen und deren Werke mit Genuß und Verständnis in sich aufzunehmen«.24 Für den akademischen Außenseiter und Literaturenthusiasten Kürschner, einen gelernten Mechaniker, der auf dem zweiten Bildungsweg bei Friedrich Zarncke in Leipzig germanistische Vorlesungen gehört und sich vom einfachen Theaterkritiker zum angesehenen Verlagsfachmann mit einem Jahresgehalt von 20.000 Mark emporgearbeitet hatte, bedeutete die Reihe nicht zuletzt einen persönlichen Distinktionsgewinn und die Möglichkeit »auch auf wissenschaftlichem Gebiet Meriten zu erwerben«.25 Der seinerzeit noch kaum etablierte Begriff ›historisch-kritisch‹, den Karl Goedeke für seine Schiller-Ausgabe (1867ff.) eingeführt hatte,26 wurde von Kürschner noch nicht im Sinne einer so umfassenden textgeschichtlichen Dokumentation, wie sie heute damit verbunden wird, benutzt. Er eröffnete aber, wie Klaus Kanzog festgestellt hat, dem jeweiligen Herausgeber die Möglichkeit, »philologische Grundlagenforschung zu betreiben und seine Ausgabe auch für den Literaturhistoriker interessant zu machen«.27 Organisatorisches Zentrum der DNL war Kürschner, der in Absprache mit dem prominenten Heidelberger Germanisten Karl Bartsch den Gesamtplan der Reihe entwarf, mit den Bearbeitern korrespondierte und als alleinige Agentur zwischen ihnen, dem Verlag und der Druckerei fungierte. Kürschner achtete auf die äußere Gleichförmigkeit der Ausgaben, die meist nur eine Auswahl der ›wichtigsten‹ Werke eines Autors enthalten durften, deren Text nach einheitlichen Grundsätzen zu ›revidieren‹ war. Darüber hinaus legte er den Mitarbeitern in editorischer Hinsicht kaum Restriktionen auf. Er verstand es aber, den auf die schnelle Fertigung und Vertrieb orientierten Produktionsprozess seiner anderen Verlagsartikel (Zeitschriften, Lexika, Handbücher) auf die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern zu übertragen: Die editorische Herstellung des Textes erfolgte in der Regel auf Grundlage einer vom Herausgeber bestimmten älteren Ausgabe, die diesem für die Bearbeitung in Form eines durchschossenen Exemplars zugänglich gemacht wurde, in das die Änderungen im Text und der kritische Apparat handschriftlich eingetragen wurden.28 Die Herausgeber wur24 Subskriptionsprospekt »Deutsche Nationallitteratur«, zitiert nach Kanzog: Edition und Engagement, Bd. 1, S. 251. 25 Balzer : Aus den Anfängen, Sp. 1520. 26 Vgl. Klaus Kanzog: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München 1970, S. 15. 27 Kanzog: Edition und Engagement, Bd. 1, S. 251. 28 Vgl. den bei Kanzog: Edition und Engagement, Bd. 1, S. 252, zitierten Brief von Kürschner an Rudolf Köhler vom 29. April 1882, der in knapper Form die Bedingungen einer WielandAuswahlausgabe für die DNL umreißt: »Sobald Sie mir eine Disposition geschickt haben, werde ich Ihnen eine von Ihnen zu bestimmende Ausgabe mit durchschossenem Papier zugehen lassen, um Text und Anmerkungen zu besorgen.« Die Bedeutung durchschossener

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den zudem von mehrfachen Korrekturumläufen entlastet, mit denen Kürschner Korrektoren beauftragte. Diese Produktionsbedingungen ermöglichten erst das schnelle Erscheinen der DNL, deren Vertrieb auf zeitnahe Verfügbarkeit der Einzellieferungen angewiesen war. In Verbindung mit den relativ großzügigen Honoraren, die Kürschner zahlte, machte dies das Unternehmen auch für solche Mitarbeiter interessant, die ihm, vor allem aufgrund seiner populären Akzente, misstrauten. Für den mittellosen Grazer Privatdozenten Richard Maria Werner waren die 600 Mark, die ihm Kürschner für eine zweibändige Auswahlausgabe aus den Romantikern in Aussicht stellte, eine so gewaltige Summe, dass er dem Angebot nur mit Mühe widerstehen konnte, obwohl er die DNL, wie er Wilhelm Scherer schrieb, »für ein ganz verfeltes […], für ein totgeborenes kind«29 hielt. Auch August Sauer, der für die DNL u. a. die beiden mehrbändigen Anthologien Stürmer und Dränger (1883) und Der Göttinger Dichterbund (1887–1895) besorgte, schätzte den wissenschaftlichen Ertrag der Reihe, die mit ihren modernisierten Texten rein »populäre Zwecke« verfolge, anfänglich nur als gering ein; er habe, wie Sauer seinem skeptischen Kollegen Bernhard Seuffert bereits im Sommer 1882 mitteilte, »Speemanns [!] Anerbieten hauptsächlich aus pekuniären Gründen« annehmen müssen: »Die Arbeit ist nicht groß – der Sommer wird freilich draufgehn – u. das Honorar erträglich, zumal die Correcturen wegfallen. So lange ich keine Anstellung habe, kann ich nichts von mir weisen, was den Lebensunterhalt halbwegs erträglich macht.«30 Sauer vermisste bei Kürschner zwar ein einheitliches Konzept, sah dies aber, wie er Scherer mit Blick auf seine Ausgabe der Stürmer und Dränger schrieb, auch als Chance an, sich durch besonders gründliche Arbeit von anderen Mitarbeitern der Reihe abzusetzen: Wissenschaftlich ist nicht viel herausgekommen; aber die Anordnung der Lenzischen Gedichte (worunter ein paar neue) die Auswahl aus Schubart, die Anmerkungen zum Pandaemon.[ium] german.[icum] und zum Prometheus werden gewiß brauchbar sein. Ich denke mir, daß d. einzelne aus seinen Bänden doch machen kann, was er will, wie bei Hempel [d. h. Gustav Hempels Reihe Nationalbibliothek sämmtlicher deutscher Classiker]: wo doch [Robert] Boxberger und Consorten auch viel Schund aufgestapelt haben.31 Korrekturexemplare für die moderne Verlagsarbeit ist noch nicht genauer untersucht worden. Aus kultur- und buchgeschichtlicher Perspektive vgl. Arndt Brendecke: ›Durchschossene Exemplare‹. Über eine Schnittstelle zwischen Handschrift und Druck. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 59 (2005), S. 50–64. 29 Werner an Scherer, 17. November 1882. Briefwechsel Scherer – Sauer – Seuffert – Werner, Nr. 36, S. 260. 30 Sauer an Seuffert, 7. Juni 1882. Österreichische Nationalbibliothek (im Folgenden: ÖNB), 422/1–19. 31 Sauer an Scherer, 26. Januar 1883. Briefwechsel Scherer – Sauer – Seuffert – Werner, Nr. 65, S. 339.

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Später sollte sich Sauer jedoch auch über Kürschners hastige Produktion beklagen, vor allem über die fehlende abschließende Kontrolle, in deren Folge sich Fehler und Nachlässigkeiten einschlichen. Der fehlerhafte Abdruck von Johann Leisewitz’ Drama Julius von Tarent (1774) innerhalb der Stürmer und Dränger sei »darauf zurückzuführen, daß statt der echten Ausgabe (die mir Kürschner geschickt hatte) ohne mein Wissen ein Nachdruck in die Druckerei gegeben wurde, was ich erst zu spät bemerkte«; auch führe man, wie er entschuldigend hinzufügte, »in solchen Samml.[ungen] einen steten Kampf mit den Correctoren«.32 Kürschners Angebot, die populäre äußere Form der DNL mit grundlegenden textkritischen Studien zu verbinden, wurde in höchst unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Viele der Ausgaben lehnen sich eng an früher erschienene, eigene oder fremde Editionen an. In anderen Fällen stellen die DNL-Ausgaben jedoch wichtige Stufen einer editorischen und/oder kommentatorischen Werkerschließung dar. Dies gilt z. B. für die vierbändige Auswahl aus Klopstocks Werken (1884), die Richard Hamel auf Grundlage umfangreicher textkritischer Studien – vor allem zum Messias-Fragment – besorgte; er hatte sie zuvor bereits in monographischer Form veröffentlicht.33 Eine bedeutende philologische Leistung stellt auch die Kleist-Ausgabe (1885) von Theophil Zolling dar, der in seiner umfangreichen Einleitung den Stand der damaligen Forschung aufarbeitete und zahlreiche, bisher ungedruckte Briefe und Handschriften erstmals berücksichtigte.34 In wirtschaftlicher Hinsicht erwies sich die groß angelegte DNL-Offensive als Misserfolg: Kürschner und Spemann mussten bald erkennen, dass sie das Publikumsinteresse an wissenschaftlich aufbereiteten Texten überschätzt hatten. Nur ein Zehntel der enormen Startauflage von 30.000 Exemplaren der ersten Lieferungen konnte an Abonnenten abgesetzt werden. Hauptsächlich aus Prestigegründen und querfinanziert durch erfolgreichere Unternehmungen hielt der Verlag die Produktion der Reihe, starken Verlusten zum Trotz, bis zum Abschluss durch.35 Das bedeutendste Verdienst der DNL ist wohl in ihrem Beitrag zur Etablierung der modernen Studienausgabe zu erblicken. An Kürschners Anspruch, die kanonisierten Werke der deutschen Literaturgeschichte in zuverlässigen, von Wissenschaftlern besorgten Editionen für breitere Leserschichten zu erschließen, knüpfen in stark modernisierter, auf die Einhaltung einheitlicher Grundsätze bedachter Form und mit einem stärkeren Akzent auf ausführlicher Kom32 33 34 35

Sauer an Seuffert, 25. oder 26. Januar 1890. ÖNB, 422/1–174. Richard Hamel: Klopstock-Studien. 3 Hefte. Rostock 1879f. Vgl. Kanzog: Edition und Engagement, Bd. 1, S. 251ff. Vgl. Balzer : Aus den Anfängen, Sp. 1519f.

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mentierung die Editionen in der Bibliothek deutscher Klassiker an, die 1981 von den Verlagen Suhrkamp und Insel ins Leben gerufen wurde.36

IV.

Dies- und jenseits der kritischen Ausgaben: Die germanistischen Neudruckreihen

Die germanistischen Neudruckreihen waren ein anderer Publikationstyp, mit dem die junge Neugermanistik seit Mitte der 1870er Jahre verstärkt hervortrat, zum einen in dem Bestreben, die für den Unterricht der oberen Klassen am Gymnasium und die wissenschaftlichen Übungen in den Universitätsseminaren benötigten Realien zu erarbeiten, zum anderen um die Forschungsergebnisse ihrer Disziplin in eine breitere, wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit hinein zu vermitteln.37 Technisch gesehen handelt es sich bei den ›Neudrucken‹ um kritisch durchgesehene (und oft emendierte), sorgfältig hergestellte Nachdrucke bedeutender älterer Drucke – mit und ohne aufwendigere Beigaben wie Einleitungen, kritischen Apparat, Kommentare oder Register.38 Den Anfang machte 1876 Wilhelm Braune mit seinen Neudrucken deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts bei Niemeyer in Halle/S., zugleich die langlebigste Reihe dieser Art, die in dieser Form bis 1957 existierte. Bernhard Seuffert zog 1880 nach mit den Deutschen Literaturdenkmalen des 18. (später : 18. und 19.) Jahrhunderts in Neudrucken (im Folgenden: DLD), welche die Phase zwischen Spätbarock und Romantik abdeckten – mit einem deutlichen Schwerpunkten auf Anakreontik, Aufklärung, Sturm und Drang und Goethezeit. Die Reihe wurde 1891 von August Sauer übernommen und existierte unter wechselnden Herausgebern bis 1924. An die Großunternehmen von Braune und Seuffert schlossen bald weitere, meist kurzlebige Reihen mit regionalen oder sachlichen Schwerpunkten an: z. B. die Wiener Neudrucke (1883–86), die Quellenschriften zur neueren deutschen Literatur (1886–1919), die Berliner Neudrucke (1888–94) und die Bibliothek älterer deutscher Übersetzungen (1894–99). Die relativ flexible, an die jeweiligen Bedürfnisse der Texte und die Interessen 36 Vgl. Gottfried Honnefelder (Hg.): Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker. Frankfurt a. M. 1985. 37 Zum Folgenden vgl. ausführlich Marcel Illetschko u. Mirko Nottscheid: Kritische Ausgabe oder Neudruck? Editorische Praxis, konkurrierende Editionstypen und zielgruppenorientiertes Edieren am Beginn der Neugermanistik. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 28 (2014), S. 102–126. 38 Vgl. Dieter Kranz: Art. ›Neudruck‹. In: LGB2. Bd. 5 (1999), S. 337. Zur Abgrenzung von verwandten, aber nicht identischen Begriffen wie ›Nachdruck‹, ›Neuausgabe‹, ›Reprint‹, ›Faksimile‹ vgl. Illetschko u. Nottscheid: Kritische Ausgabe, S. 103, Anm. 3.

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der Herausgeber anpassbare Publikationsform des Neudruckes entwickelte sich nicht zufällig im zeitlichen Vorfeld der großen kritischen Ausgaben: Den Literaturhistorikern bot sie die Gelegenheit, die meist zuerst anhand älterer Texte eingeübten Praktiken von Textkritik und Edition auf dem Feld der neueren Literaturgeschichte zu erproben. Die Verlage, die Investitionen im Bereich der neueren Literaturgeschichte erwogen, konnten hier den Markt für Editionen mit wissenschaftlichem Anspruch sondieren, ohne sich sofort auf die unwägbaren Risiken einzulassen, die mit der Herausgabe großer, vielbändiger Werkausgaben verbunden waren. Dennoch stellten die Neudrucke für die beteiligten Wissenschaftler eine vergleichsweise aufwendige Kooperationsform dar. Zwar sollten die Editionen in erster Linie die Forschung voranbringen; da sie sich jedoch als ausschließlich verlagsfinanzierte Produkte am Markt behaupten mussten, spielte der ökonomische Faktor eine bedeutende Rolle. Die Mehrfachadressierung der Reihen, die auch für Laien interessant sein sollten, erforderte eine sorgfältige Planung bei der Auswahl der Texte, die nicht zuletzt im Hinblick auf ihre Verkäuflichkeit erwogen wurde. Auch die vergleichsweise breite Vielfalt der in den Neudrucken präsenten Autoren, Gattungen und Textformen bedingte die intensive Abstimmung zwischen Reihen- und Bandherausgebern. Die ersten Jahrgänge der DLD plante Seuffert in intensiver brieflicher Diskussion mit seinem Lehrer Wilhelm Scherer. Scherer griff zwar bei vielen seiner Vorschläge auf den Kanon zurück, den er zu dieser Zeit (1880–83) in seiner lieferungsweise erscheinenden Literaturgeschichte zu etablieren suchte;39 er argumentierte aber vor allem marktstrategisch: Seuffert sollte »amüsante Sachen« drucken, »die man kennt, von denen man gehört hat«, und alle literarischen Gattungen berücksichtigen: »Denn die Hauptsache ist zunächst daß Sie ein großes Publicum für das Unternehmen gewinnen.«40 Einige frühe Titel, etwa die Neudrucke von Ludwig Gleims Preußischen Kriegsliedern in Lessings Ausgabe (1758, Neudruck 1882) oder De la litt8rature allemande von Friedrich II. (1780, Neudruck 1883), schließen erkennbar an den Preußen-Hype der Jahre nach der Reichsgründung an. In anderen Fällen suchten Scherer und Seuffert die Attraktivität der Neudrucke dadurch zu steigern, dass sie Dinge boten, die zu dieser Zeit meist keine Aufnahme in die Gesamtausgaben eines Autors fanden, etwa frühe Druckfassungen, wie im Fall von Goethes Faust-Fragment (1790/ 1882), oder seiner Novelle Die guten Weiber (1801/1885), deren Neudruck Franz Ludwig Catels Kupferstiche aus dem Taschenbuch für Damen beigegeben wurden. 39 Wilhelm Scherer : Geschichte der deutschen Litteratur. Berlin 1883 [u. ö.]. 40 Scherer an Seuffert, 31. Oktober 1880. Briefwechsel Scherer – Sauer – Seuffert – Werner, Nr. 53, S. 111.

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Bei vielen Neudrucken spielte auch der überschaubare Umfang ihrer Vorlagen eine Rolle, was das verlegerische Risiko begrenzte. »Warum nicht Oberon? Nicht krit. schr[i]ften? Weil sie zu dickleibig sind«, erläuterte Seuffert gegenüber August Sauer seine Strategie: Wälzer […] darf ich nur ausnahmsweise bringen. Jetzt steht [Karl Philipp Moritz’] Anton Reiser als solcher in aussicht: der darf doch auf grosses publikum rechnen. Wer kauft mir aber [Johann Jakob] Breitingers Dichtk[un]st ab? Und die wäre das nötigste. Unter 7–8 m[ark]. könnte ich sie nicht neudrucken. Wo sind dann die abnehmer? […] Diese u. andere stücke sind nicht ausgeschlossen für die zukunft; aber zunächst muss kleines heft auf kleines heft kommen. nur so kann das unternehmen in schwung kommen; nur was unter 1 m. kostet, hat absatz. Kaufen aber einmal leute einige zeit hinter einander billige nummern, so nehmen sie dann der vollständigkeit der serie wegen auch eine teuerere in kauf.41

Anders als bei Kürschners Großunternehmen oblag die Textgestalt der Neudrucke bis zum Imprimatur allein den jeweiligen Bearbeitern und der Kontrolle des Hauptherausgebers, die der Verlag für ihre Arbeit nicht mit einem Pauschal-, sondern einem Bogenhonorar honorierte, dessen Höhe jedoch je nach Aufwand – bemessen etwa an der Notwendigkeit eines kritischen Apparates oder der Einbeziehung handschriftlicher Materialien – schwanken konnte.42 Details der Einrichtung des Druckes wurden oft bis in Einzelheiten hinein ausführlich diskutiert, wie Seufferts Korrespondenz mit seinem Hauptmitarbeiter Sauer eindrucksvoll belegt.43 Über das Mammutprojekt von Sauers Ausgabe der Gedichte von Johann Peter Uz nach den jeweils frühesten Drucken (1890) in den DLD, deren Entstehung sich im Briefwechsel über beinahe ein Jahrzehnt im Detail verfolgen lässt, tauschten die beiden lange Fragelisten miteinander aus; das folgende Beispiel einer Antwort Seufferts betrifft Vor41 Seuffert an Sauer, 20. Juni 1882. Staatsarchiv Würzburg (im Folgenden: StAW), NL Seuffert, Kasten 26. 42 Von der G. J. Göschen’schen Verlagsbuchhandlung (Stuttgart), die 1890 den Verlag der DLD von den in Konkurs gegangenen Brüdern Henninger (Heilbronn) übernommen hatte, bezog Seuffert 1891 als Reihenherausgeber ein Honorar von 8 Mark pro redigiertem Bogen. Die jeweiligen Bandherausgeber wurden nach dem jeweiligen philologischen Aufwand entlohnt: »1) 15 freiex. + 1 in aushängebogen. 2) für die einleitung 18 m.[ark] pro bogen. 3) für den textkritischen apparat erhöhung des texthonorars um 3 m.[ark] pr.[o] b.[ogen] 4) für den text 10–15 m.[ark pro Bogen] je nachdem [ob] er aus kurzzeiligen versen oder aus prosa, ein glatter abdruck oder eine sammlung ist; [a]uch die berühmtheit des namens des herausgebers kann preisschwankungen nötig machen.« (Seuffert an Sauer, 10. Februar 1891. StAW, NL Seuffert, Kasten 26). 43 Zum Quellenwert der Korrespondenz vgl. Mirko Nottscheid, Desiree Hebenstreit u. Marcel Illetschko: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert (1880 bis 1926). Ein wissenschaftsgeschichtliches Forschungsprojekt untersucht die Anfänge der modernen Neugermanistik in Deutschland und Österreich. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 46 (2014), H. 1, S. 191–202.

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schläge zu Einzelheiten der typographischen Gestaltung des Textes sowie zur Einrichtung des textkritischen Apparates der verschiedenen Fassungen von Uz’ Gedicht Lobgesang des Frühlings/Der Frühling (1741):44 Ich schreib also zu Ihrem promemoria ja und nein und gebe hier erläuterungen zu den N[ota]B[enes] daselbst mit der bedingung, dass Sie all das nur als unmassgebliche verlangte äusserungen auffassen. NB1 Frühling und einleitungsged an Gleim.] Ich stimme für folgende fassung: Sie drucken: Lobgsang des Frühlings. [An Hrn. Gleim in Berlin. 1741] 1 folgt vers 1–72 […] [Der Frühling. 1741.] 2 folgt vers 73ff. (nicht neue verszählung). Damit ist die gedichtzählung der späteren sammlung gewahrt, und die textgestalt und texteinheit der ersten. Spätere fassung in den fussnoten. Es ist der weg, den Sie mit bezifferung 1 und 1a vorschlagen, ich würde wagen statt 1a gleich 2 zu setzen u. die späteren überschriften in klammern beizusetzen. Den apparat dazu stell ich mir so vor: 1 Die eingeklammerte Überschrift fehlt Belustigungen (oder A?), V. 1–72 wurden als selbständiges gedicht erst abgetrennt und erhielten dabei die Überschrift […] folgt apparat. 2 Die eingeklammerte Überschrift fehlt Belustigungen (oder A?) vgl. zu V. 1.45

Eine genauere Untersuchung der verschiedenen Neudruckreihen würde durchaus unterschiedliche Konzeptionen und Arbeitsstile der verschiedenen Herausgeber erkennen lassen. Bernhard Seuffert bestand bei den DLD auf einer besonders penibel zu übenden Emendationskritik der Texte, die sich in der souveränen Beseitigung von Textfehlern und typographischen Idiosynkrasien, aber auch in normalisierenden Eingriffen in die Interpunktion des Originals beweisen sollte und gerade dadurch, wie er in einer Rezension schrieb, den ›kritischen‹ vom rein ›handwerksmäßigen‹ Neudrucker unterscheide.46 Bei Scherer beklagte er sich 1885, dass ihn die Redaktion »immer mehr Zeit« koste: Teils durch zahlreichere Angebote, die ich prüfen muss, teils durch die ewigen Fragen über Einrichtung der Ausgaben, womit mich die letzten Mitarbeiter plagten, oder 44 Vgl. Johann Peter Uz: Sämtliche Poetische Werke. Hg. v. August Sauer. Stuttgart 1890 (DLD Bd. 33–38), S. 7–12 bzw. S. 13–19. 45 Seuffert an Sauer, 1. Mai 1889. StAW, NL Seuffert, Kasten 26. 46 Vgl. Bernhard Seuffert [Rez.]: Wiener Neudrucke. Hg. v. August Sauer. Bd. 1–3. Wien 1883. In: Anzeiger für deutsches Altertum 9 (1883), S. 310ff., hier S. 311.

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durch die Notwendigkeit, den Text auch selbst mit dem Originale zu vergleichen, um der Lässigkeit der Herausgeber auf die Spur zu kommen, und ihre entsetzlichen Einleitungen stilistisch und sachlich durchzukorrigieren. Wenn Sie die Hefte 23 und 24, Anton Reiser und Ifflands Laufbahn, die jetzt bald fertig sind, sehen, werden Sie sich erstaunen, dass ich den HH. [Ludwig] Geiger und [Hugo] Holstein noch so viel durchlaufen liess. Aber ich tat wahrhaftig schon mehr, als sich lohnt, an deren Einleitungen. Und überhaupt dankt mir kein Mensch die Zeit, die ich auf die Sammlung verwende. Da macht sichs Sauer leichter, wie ich bei seinem jüngsten Hiersein von ihm erfuhr.47

Die Neudrucke mit ihrer offenen, zwischen kritischer Ausgabe und kommentiertem Lesetext oszillierenden Konzeption eröffneten der frühen Neugermanistik ein vielfältiges Experimentierfeld.48 Die tendenzielle Ausrichtung der Reihen auf Erstdrucke und frühe Fassungen ermöglichte es den Herausgebern, originelle Lösungswege einzuschlagen, die oft quer zum später so wirkungsmächtigen Dogma der Fassung ›letzter‹ Hand lagen. Dazu nur ein Beispiel: Seinem Neudruck von Heines Buch der Lieder legte Ernst Elster 1887 auf Anregung Bernhard Seufferts weder den Text der ersten Buchausgabe (1827) oder den der vorhergehenden Ausgaben der Einzelzyklen zugrunde, sondern die Textgestalt der Erstdrucke der einzelnen Gedichte in Journalen, Zeitungen und Almanachen. Angeordnet wurden sie indes nach der letzten, von Heine bearbeiteten Auflage des Buch der Lieder (1844). Dieser Konzeption folgten mit Modifikationen auch die erwähnte Uz-Ausgabe von Sauer sowie eine von Carl Schüddekopf für die DLD besorgte Ausgabe der Gedichte von Johann Nikolaus Götz aus den Jahren 1745–1765 in ursprünglicher Gestalt (1893). Beispiele wie diese zeigen, dass die philologischen Großunternehmungen der Epoche die zeitgenössische Diskussion um methodische Standards in der Edition neuerer Texte keineswegs vollständig abbilden.

V.

Mäzenatentum und wissenschaftlicher Großbetrieb: Die Weimarer Goethe-Ausgabe

Die Weimarer Ausgabe der Werke Goethes (im Folgenden: WA) mit ihren 143, zwischen 1887 und 1919 erschienenen Bänden kann als das erste editorische Großunternehmen der Neugermanistik gelten, das überwiegend aus ›Drittmitteln‹, nämlich dem Vermögen der Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, finanziert wurde. Großherzogin Sophie stiftete und unterhielt nicht allein das 47 Seuffert an Scherer, 6. Oktober 1885. Briefwechsel Scherer – Sauer – Seuffert – Werner, Nr. 139, S. 200. 48 Vgl. hierzu mit weiteren Beispielen Illetschko u. Nottscheid: Kritische Ausgabe, S. 115–119.

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1885 gegründete Goethe-Archiv, das spätestens mit dem Erwerb von Schillers Nachlass (1889) begann, auch Aufgaben eines überregionalen Literaturarchivs wahrzunehmen. Sie trug auch die Kosten, die für die Herstellung der WA, die Honorierung der zahlreichen Mitarbeiter und die für ihre Arbeit unumgänglichen Archivaufenthalte anfielen.49 Bei dieser Konstellation war das unternehmerische Risiko des Verlegers Hermann Boehlau überschaubar, der zwar die wissenschaftlichen Ansprüche des Unternehmens mittrug, zugleich aber die angesichts der großen Konkurrenz begrenzten Absatzmöglichkeiten einer Ausgabe dieses Formats realistisch einzuschätzen wusste.50 Etwaige Überschüsse des Unternehmens flossen zurück in den Unterhalt der Weimarer Institute.51 Plan und Organisation der WAwurden nach dem Tode Walter von Goethes im April 1885, der die Großherzogin zur Erbin von Goethes Nachlass bestimmt hatte, bekanntlich sehr schnell ins Werk gesetzt: Die Großherzogin zog als wissenschaftlichen Berater den Juristen Gustav von Loeper hinzu, der seine außergewöhnliche Doppelqualifikation als Direktor des Königlichen Hausarchivs und ausgewiesener Goetheforscher einbrachte und seinerseits als wissenschaftliche Experten Wilhelm Scherer und dessen Schüler Erich Schmidt kooptierte, der noch im gleichen Jahr erster Direktor des Goethe-Archivs wurde. Diese kleine Gruppe verstand es, die früh signalisierte Bereitschaft der Großherzogin, den lange verschlossenen Goethe-Nachlass nun für die wissenschaftliche Benutzung zu öffnen, in den Plan einer monumentalen, alle Bereiche von Goethes literarischem Schaffen umfassenden kritischen Ausgabe zu überführen. Dabei erwiesen sich drei Entscheidungen als besonders folgenreich: Erstens in wissenschaftspolitisch-konservatorischer Hinsicht die Kopplung der 49 Zur Genese dieser Stiftungen im kulturhistorischen Kontext vgl. Detlef Jena: Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach. Dignität und Geschäftssinn. In: Hellmut Th. Seemann u. Thorsten Valk (Hg.): Das Zeitalter der Enkel. Kulturpolitik und Klassik-Rezeption unter Carl Alexander. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2010. Göttingen 2010, S. 105–120. Die Beiträge dieses Sammelbandes, auf die ich im Folgenden verschiedentlich zurückgreife, markieren den derzeitigen Forschungsstand zur Geschichte der in Weimar lozierten Goethe-Institutionen (Archiv, Museum, Ausgabe, Gesellschaft). 50 Vgl. Peter-Henning Haischer : »In majorem Goethii gloriam«? Zu Geschichte und Bedeutung der ›Weimarischen Ausgabe‹ von Goethes Werken. In: Seemann u. Valk (Hg.): Das Zeitalter der Enkel, S. 123–147, hier S. 137ff. 51 Vgl. Haischer : »In majorem Goethii gloriam«?, S. 135. Erst durch dieses Detail wird die von Scherer in einem Brief an Erich Schmidt vom 14. April 1886 referierte Kalkulation verständlich: »Böhlau hat einen Voranschlag der Kosten gemacht, die ziemlich beträchtlich sind, aber doch zu seiner und meiner Überraschung schon bei einer ersten Auflage von 3000 Exemplaren (Band zu 25 Bogen kostet 2 Mark) einen Reingewinn von 1000 Mark pro Band für die padrona [d. i. Großherzogin Sophie] herausgefunden.« (Wilhelm Scherer u. Erich Schmidt: Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt. Hg. v. Werner Richter u. Eberhard Lämmert. Berlin 1963, Nr. 301, S. 232).

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Mirko Nottscheid

Nutzung des Archivs an das Einverständnis der Großherzogin, die den Machern der WA den exklusiven Zugriff auf den Nachlass einräumte und damit konkurrierende Unternehmungen faktisch ausschloss.52 Gleichzeitig behielt sich die Großherzogin die ›Sekretierung‹ einzelner Bestände (Stichwort: ›Erotika‹) vor.53 Zweitens in methodisch-editionsphilologischer Hinsicht die wesentlich auf Wilhelm Scherer zurückgehende Konzeption einer Ausgabe ›letzter Hand‹. Drittens in institutioneller Hinsicht der Aufbau einer differenzierten Organisationsstruktur mit Verteilung der editorischen Arbeit auf mehr als 60 Einzelherausgeber.54 Vor allem die Zugrundelegung der sogenannten Fassung C nach der von Goethe selbst initiierten, von Karl Wilhelm Göttling philologisch eingerichteten Vollständigen Ausgabe letzter Hand (40 Bde., 1827–1830) bildet bis heute ein Hauptargument der Kritiker der WA, zumal vielversprechende Alternativen verworfen wurden, wie sie z. B. in der Ausgabe Der junge Goethe (3 Bde., 1875) von Salomon Hirzel und Michael Bernays bereits angelegt waren.55 Peter-Henning Haischer hat darauf hingewiesen, dass bei der äußeren Gestaltung der WA, ihrer Orientierung auf die kanonisierte Druckgeschichte und der ›Atomisierung‹ der Textgenese im Apparat neben dem zeitgenössischen vollendungsästhetischen Autor-Bild auch wirtschaftliche Argumente mitspielten: Denn die WA sei eben nicht »als eine rein wissenschaftliche Ausgabe geplant worden«, sondern sie sollte »auch den Bedürfnissen des allgemeinen Publikums dienen«: Neben methodischen fanden […] auch ökonomische Aspekte Eingang in Überlegungen zur Apparatgestaltung. Die Rede von der Ausgabe als nationalem Monument war ja durchaus vom Publikum ausgegangen, dessen nationales Bewusstsein mit den Werken seiner Klassiker bereichert werden sollte. Der Anspruch des Monumentalen setzte letztlich der Wissenschaftlichkeit Grenzen.56

Die von Loeper und Scherer für die WA entworfene, durchaus moderne Organisationsstruktur mit ihrer Hierarchie aus leitenden Redaktoren und ausführenden Bearbeitern war zumindest in der seinerzeitigen Germanistik ohne Vorbild, die damals noch kaum an den Großbetrieb der wissenschaftlichen Akademien angeschlossen war. Zentrales Leitungsorgan der WA war ihr Redaktionsausschuss, ursprünglich ›Redaktionscomitee‹ genannt, als dessen erste und älteste Mitglieder Scherer, Loeper und Schmidt in großer Eile die Grund52 Vgl. Haischer : »In majorem Goethii gloriam«, S. 132f. 53 Vgl. Haischer : »In majorem Goethii gloriam«, S. 136. Dazu jetzt differenziert W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer Zensoren. Hannover 2015. 54 Vgl. das Mitarbeiterverzeichnis in WA I, Bd. 55 (1918), S. 709ff. 55 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Goethe-Editionen. In: ders. u. Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren, S. 95–116, hier S. 101f. 56 Haischer : »In majorem Goethii gloriam«, S. 139.

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sätze für die Weimarische Ausgabe von Goethes Werken entwarfen, die bereits im Sommer 1886 an die Mitarbeiter versandt wurden und – mit wenigen späteren Modifikationen – die bindende Grundlage für alle an der WA beteiligten Herausgeber bilden sollten. Die weiteren Details hat Scherer, noch recht roh, in einem Brief an Erich Schmidt vom 21. Mai 1885 skizziert: Auf Grund dieser Instruktion [der Richtlinien] werden von uns die Mitarbeiter gewählt – viele, jeder für ein oder zwei Bände (8o Format der Ausgabe letzter Hand, also ca. 50 Bände), damit die Ausbeutung des Archivs nach dieser Seite hin und die Mitteilung dessen, was es zur Textherstellung enthält, möglichst rasch vor sich gehe. – Die Mitglieder des Redaktionscomit8s verteilen unter sich die Bände, also in drei Massen. Jeder bestimmt für seine Masse die Mitarbeiter (doch in Übereinstimmung mit den andern zwei Collegen). Die von den Mitarbeitern ausgearbeiteten, druckfertig gemachten Bände gehen durch die Hand des betreffenden Redaktionsmitgliedes entweder an Herrn von Loeper zur Superrevision oder direkt in die Druckerei. Das müssen wir erst noch feststellen. Die Controlle, welche das Redaktionsmitglied übt, erstreckt sich im wesentlichen auf Innehaltung der Grundsätze, die für alle bindend sind. Die Mitarbeiter und eigentlichen Herausgeber werden etwa bogenweise honoriert; die Redakteure für den Band, den sie controllieren und fertig abliefern. / Die Mitarbeiter haben das Goethe-Archiv in Weimar zu benutzen, sollen aber Diäten von der Großherzogin bekommen.57

Was Scherer hier knapp als »Innehaltung der Grundsätze« umschreibt – also Überwachung der Editionsprinzipien – bedeutete für die Mitglieder des Ausschusses, auch ›Redaktoren‹ genannt, in der Praxis den Aufbau und die Pflege intensiver Arbeitsbeziehungen zu den Bearbeitern der ihnen anvertrauten Bände. Als Gremium beriet der Ausschuss – aufgrund seiner überregionalen Zusammensetzung wohl meist im schriftlichen Umlaufverfahren – über Zweifelsfälle und spezielle Probleme, die sich aus der Editionsarbeit ergaben. Für die von Scherer erwähnte »Superrevision« wurde die besonders verantwortungsvolle Funktion des ›Generalkorrektors‹ geschaffen. Sie wurde 1886/87 zunächst von Bernhard Seuffert, danach, bis zum Abschluss der WA, von Julius Wahle ausgeübt, einem Beamten des Goethe-Archivs. Diese Personalie deutet die enge Verknüpfung zwischen Archiv- und Editionsbetrieb an: Die wenigen Angestellten des Goethe-Archivs waren in der Regel auch Mitarbeiter der GoetheAusgabe, die über lange Jahre den Vorrang gegenüber der eigentlichen archivarischen Erschließungsarbeit genoss.58 Zusätzliche Arbeiten fielen vor allem durch die Betreuung der auswärtigen Mitarbeiter an, welche die Handschriften zwar nur vor Ort benutzen durften,59 aber auch außerhalb ihrer dortigen Auf57 Briefwechsel Scherer u. Schmidt, Nr. 259, S. 202. 58 Vgl. Gerhard Schmid: »Ein nationales Kleinod«. Zur Gründung des Goethe- und SchillerArchivs. In: Seemann u. Valk (Hg.): Das Zeitalter der Enkel, S. 229–249, hier S. 246f. 59 Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch weithin übliche Praxis, Handschriften

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Mirko Nottscheid

enthalte mit Materialien, z. B. Abschriften aus Briefen und Tagebüchern oder seltenen Drucken, versorgt werden mussten.60 Erwähnt sei noch ein ursprünglicher Plan Scherers, durch dessen Ausführung das Goethe-Archiv ein modernes, Forschung und Lehre verbindendes wissenschaftliches Institut geworden wäre: Die Großherzogin sollte bestimmt werden als weitere Abteilung unter Erich Schmidts Leitung »ein Seminar für neuere deutsche Philologie« zu gründen: »mit einer Anzahl von Stipendien (von 1200–1500 M [jährlich]) für solche deutsche Philologen, die ihren Dr. gemacht haben und dadurch die Möglichkeit erhalten, 1–2 Jahre (wie die ragazzi des archäologischen Instituts in Rom) sich ausschließlich unter Ihrer Leitung, dem Studium der modernen Literatur zu widmen«.61 Von den diversen Editionsunternehmungen der frühen Neugermanistik, die oben charakterisiert wurden, unterschied sich das Projekt der WA sehr grundsätzlich. Im Gegensatz zu den Reihenherausgebern, die meist ein hohes Maß an konzeptueller Freiheit besaßen, die sie auch mit den jeweiligen Bearbeitern teilten, standen bei der WA sowohl die Auswahl der zu edierenden Werke als auch die methodische Vorgehensweise von vornherein fest. An der Stelle eines Reihenherausgebers stand hier als Kollektiv eine Lenkungsgruppe, welche die zahlreichen Bandherausgeber ›von oben‹ anleiten und auf ein gemeinsames Editionskonzept einschwören musste, das für eine Vielzahl höchst unterschiedlich überlieferter Texte in Einzelverhandlungen mit den Bandherausgebern durch- und umgesetzt werden musste. Innerhalb dieser Struktur konnten die zur Mitarbeit herangezogenen Wissenschaftler, sofern sie mit den editorischen Vorgaben nicht übereinstimmten, das Angebot einer Herausgeberschaft nur annehmen oder ablehnen (was in einigen wenigen Fällen tatsächlich geschah).62 Grundsätzliche Modifikationen am Konzept waren nicht vorgesehen, obgleich die editorische Praxis durch eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitsstile geprägt wurde, welche die in den Richtlinien angestrebte ›Uniformität‹ der WA unterliefen. Der informelle Fachdiskurs zwischen den Beteiligten liefert zahlreiche Belege für die mühsamen, beide Seiten belastenden Verhandlungen über Einzelheiten und Sonderfälle des editorischen Vorgehens. und seltene Drucke auch direkt an Gelehrte auszuleihen, war infolge des verheerenden Brandes in der Bibliothek von Theodor Mommsen, dem am 12. Juli 1880 unersetzliches Material zum Opfer gefallen war, stark eingeschränkt worden. 60 Inwieweit dies zu geschehen hatte, war indes durchaus umstritten. Vgl. Sauer an Seuffert, Brief vom 22./23. August 1888 (ÖNB, 422/1–126): »Und weil ich schon im Fragen bin, so möchte ich gerne wissen, ob [Bernhard] Suphan (oder [Julius] Wahle) zu Auskünften verpflichtet sind; ob sie Auszüge aus Tagebüchern etc. liefern müßen oder ob das Gefälligkeit gegen den Specialherausgeber ist. Ich brauche nothwendig alle Theaterzettel der Aufführungen des Götz u. andere Dinge, die ich mir nur aus Weimar zu verschaffen weiß.« 61 Scherer an Schmidt, 4. Juni 1885. In: Scherer u. Schmidt: Briefwechsel, Nr. 261, S. 206. 62 Vgl. Haischer : »In majorem Goethii gloriam«, S. 134f.

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Eine wichtige Quelle für diese Vorgänge ist erneut die Korrespondenz zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert, die zur Gruppe der jungen und verlässlichen Nachwuchswissenschaftler gehörten, die von Scherer und Erich Schmidt 1885 unmittelbar für die Arbeiten an der WA herangezogen wurden.63 Mit dem Götz von Berlichingen (Sauer) bzw. dem Werther (Seuffert) bearbeiteten beide innerhalb der WA wichtige Texte. Als erster Generalkorrektor der WA, der als langjähriger Redaktor zahlreiche Bände zu betreuen hatte, gehörte Seuffert zudem zum inner circle der Weimarer Goethe-Organisation. Die Korrespondenz, die den Forschern – damals noch wesentlich stärker als heute – die persönliche Kommunikation ersetzen musste, war nicht nur der zentrale Ort zum Austausch über alle methodischen Probleme der Goethe-Edition. Ihr wurden aber auch die zunehmenden Verunsicherungen und Frustrationen über die Organisation des Editionsbetriebs anvertraut.64 Neben bestimmten Personalentscheidungen – dies betraf vor allem die Berufung des Herder-Editors Bernhard Suphan zum Nachfolger Erich Schmidts in Weimar, der 1887 auf den durch Scherers Tod freigewordenen Berliner Lehrstuhl gewechselt war – und Problemen bei der Kommunikation mit der Weimarer Zentralleitung, die jenseits der Archivaufenthalte (die von der Großherzogin in der Regel nur einmalig finanziell gefördert wurden)65 nur auf dem Korrespondenzwege aufrecht erhalten werden konnte, gaben vor allem fehlende Vorarbeiten und Hilfsmittel bald Anstoß zu Bedenken. Schon im Herbst 1888, kaum ein Jahr nach Erscheinen des ersten Bandes, monierte Sauer die ungenügenden Grundlagen, mit denen er sich bei der Arbeit an seiner Götz-Edition konfrontiert sah: Jetzt, wo ich nach einer Pause wieder zu den Sachen zurückkehre, stehe ich einem Chaos gegenüber. Man hätte unbedingt critische Grundsätze ausarbeiten müßen; eine Geschichte der Goethe-Ausgaben vorher schreiben lassen sollen. Der Text des Gö[t]z ist so viel ich sehe dreimal durch unechte Ausgaben hindurchgegangen. Der 2. Ausg. vom Jahre 74 liegt ein Nachdruck der ersten Ausgabe zu Grunde; der Göschenschen Ausg liegt h zu Grunde; A baut sich auf der 4bändigen Göschenschen Ausgabe auf, die doch

63 Vgl. Scherer an Schmidt, 21. Mai 1885. In: Scherer u. Schmidt: Briefwechsel, Nr. 259, S. 203: »Wir wollen, wenn sich unsere Projekte verwirklichen, alles junge Volk anstellen: Seuffert, Minor, Sauer, Waldberg, Weilen?, Burdach, Schröder etc. etc.« 64 Zum Folgenden vgl. ausführlich Illetschko u. Nottscheid: Kritische Ausgabe, S. 119–125. 65 Eine Karte Sauers an Seuffert vom 27. Mai 1893 (ÖNB, 422/1–221) deutet diesbezüglich an, dass die Reisekosten nur einmalig erstattet, jedoch der Aufenthalt in Weimar im Bedarfsfall auch wiederholt erstattet wurde. Als Honorare für die Edition wurden für die Bearbeiter 1 Mark je Seite Text und 4 Mark je Seite Apparat bezahlt; der Redaktor erhielt 5 Mark, der Generalkorrektor 4 Mark pro kontrolliertem Bogen. – Vgl. Scherer an Schmidt, 28. Februar 1886. In: Briefwechsel Scherer u. Schmidt, Nr. 295, S. 227.

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auch unecht ist. Muß nun alles was nachweislich aus diesen Ausgaben stammt, aus dem Text wieder herausgeschafft werden.66

Bald führten Fehlentscheidungen und umwegige Kommunikationsstrukturen zu langwierigen Verzögerungen und aufwendigen Wiederholungen in den Arbeitsabläufen. So hatte Sauer von Beginn an gegen die Entscheidung des Redaktionsausschusses Stellung bezogen, beim Götz neben der Fassung letzter Hand (1827) lediglich die älteste Fassung von 1771 abzudrucken, was ihn zwang, die zahlreichen Varianten der verschiedenen Bearbeitungen Goethes für die Bühne (1804ff.) in den Apparat einzuschachteln. Nur widerwillig, schreibt Sauer 1889, habe er sich »auf den Boden der ›Goetheverfassung‹ gestellt, ohne an deren Richtigkeit zu glauben«: »Die Mühe war furchtbar. Ich habe Texte & Apparate schon genug gemacht wie Sie wissen; etwas so schwieriges & subtiles noch nicht. Ich schrieb das ganze 3mal um, habe das ganze vorige Jahr damit vertändelt, mußte dreimal abbrechen, weil ich ganz stumpf gew[or]den worden [!] war von dem Lesartenchaos.«67 Die nachträgliche Entscheidung der Redaktoren, die Bühnenfassung auch als selbständigen Text aufzunehmen, zwang Sauer, den textkritischen Apparat noch einmal vollständig neu aufzubauen. Begründet wurde diese Kehrtwende von Bernhard Suphan nicht nur mit der von Sauer vorausgesagten Unübersichtlichkeit des Apparates, sondern auch mit der zu erwartenden Resonanz des Publikums, das eben kein rein wissenschaftliches sei: »Aber er [der Apparat] ist 312 Seiten lang; […] Das gäbe 13 Bogen Druck. Ich fürchte, wir fremden das lesende Publicum immer mehr an, bewirken, daß es sich mit scheuer Ehrfurcht vor dieser Ausgabe zurückzieht. Und daß wir dann in unserer papiernen Burg allein sitzen.«68 Aus der selbstkritischen Rückschau kam Seuffert 1924 zu dem Schluss, dass sich die Verteilung der WA auf einen vielköpfigen, überregionalen Mitarbeiterstab mit Zentralleitung in Weimar nicht bewährt habe: 1) waren die Vielen [Mitarbeiter] trotz genauer Vorschriften und trotz Leitung der natürlich verschieden strengen Redaktoren nicht zu gleicher Einrichtung ihres Anteils zu erziehen. 2) wurden die Druckmanuskripte zu Sammelbänden nicht gleichzeitig eingereicht, traten also Herstellungsaufenthalte ein. 3) mussten Personen von hervorragender Goethekenntnis verwendet werden, die gleichwohl die besondere Schulung zu einer Textgestaltung nicht besassen. Daher rührt die starke Ungleichheit nicht nur der Ausführung, sondern auch des Wertes. Erich Schmidt […] und ich […] erwogen zeitig das Einstampfen einzelner Bände. Überhaupt war das Unternehmen von vornherein überhastet, dem Eifer der Großherzogin musste Raum geöffnet werden […].69 66 67 68 69

Sauer an Seuffert, 22./23. August 1888. ÖNB, 422/1–126. Sauer an Seuffert, 16. Februar 1889. ÖNB, 422/1–143. Suphan an Sauer, 15. Februar 1889. Wienbibliothek im Rathaus, I. N. 164.977. Erich Leitner : Eine unveröffentlichte Kritik der Weimarer Goethe-Ausgabe aus dem Nach-

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Zu diesem Zeitpunkt stand Seuffert indes bereits zwei Jahrzehnte im Dienste eines anderen, aus öffentlichen Mitteln geförderten Editionsprojektes: der historisch-kritischen Ausgabe von Christoph Martin Wielands Gesammelten Schriften, mit deren Leitung ihn die Königliche Akademie der Wissenschaften 1904 beauftragt hatte. Die Vorbereitungen für dieses Unternehmen reichen freilich bis in die frühen 1880er Jahre zurück, als Seuffert – damals noch im Hinblick auf eine umfassende Wieland-Biographie, die nie erscheinen sollte – mit der systematischen Erschließung der Quellen begann. Nicht zuletzt die Erfahrungen als Redaktor der WA dürften Seuffert dazu bewogen haben, die Wieland-Ausgabe durch eine Serie ausführlicher Prolegomena (9 Teile, 1904–41) vorzubereiten, womit er zugleich einen Publikationstyp kreierte, der dann im 20. Jahrhundert wiederholt nachgeahmt wurde.70 Bei aller berechtigten Kritik an der WA ist festzustellen, dass diese, nicht allein im Hinblick auf das Tempo ihrer Fertigstellung, eine bedeutende organisatorische Leistung darstellt. Nicht zuletzt die Schwächen des Unternehmens – sowohl in planerischer wie methodischer Hinsicht – sensibilisierten bereits viele der unmittelbar Beteiligten für Probleme, die mit der Planung, Durchführung und methodischen Grundierung kritischer Ausgaben verbunden sind.71 Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet dürfte auch der »papierne[] Mythos«,72 als den Norbert Oellers die WA charakterisiert hat, zum Fortschritt des Editionswesens beigetragen haben.

lass Bernhard Seufferts. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 71 (1971), S. 8–13, hier S. 10f. 70 Vgl. Klaus Gerlach: Bernhard Seuffert und »Wielands gesammelte Schriften«. Das Problem der Institutionalisierung von Editionen unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen. In: Kamzelak, Nutt-Kofoth u. Plachta (Hg.): Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext, S. 113–128, hier S. 120f. 71 Während sich die Methodendiskussion der neugermanistischen Editionsphilologie spätestens seit den 1920er Jahren immer deutlicher um Kernfragen wie Textkonstitution, Apparatgestaltung und Textgenese herum profiliert hat, und seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht mehr abgerissen ist, wurden Planung und Organisation größerer editorischer Unternehmungen als eigenständiges Themenfeld eher selten berührt. – Vgl. Rose-Maria Hurlebusch: Zur Methodik der Vorbereitung historisch-kritischer Ausgaben. In: Gunter Martens u. Hans Zeller (Hg.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. München 1971, S. 401–412; Otto Pöggeler : Die historisch-kritische Edition in der Wissenschaftsorganisation. In: Walter Jaeschke, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings [u. a.] (Hg.): Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte. Hamburg 1987, S. 27–37. 72 Nobert Oellers: Die Sophienausgabe als nationales Projekt. In: Jochen Golz u. Justus H. Ulbricht (Hg.): Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland. Köln u. Weimar 2005, S. 103–112, hier S. 105.

238

VI.

Mirko Nottscheid

Fazit

Editionen tragen sich nicht selbst. Bei ihren Versuchen, tragfähige Modelle zur Finanzierung der Ausgaben zu etablieren, waren Wissenschaftler, Verleger und Mäzene äußerst einfallsreich. Sieht man vom Modell der vereinsförmigen Vorfinanzierung innerhalb der wissenschaftlichen Buchgesellschaft ab, das im 20. Jahrhundert für den Bereich der Editionen nur mehr von marginaler Bedeutung war, so zeichnen sich in der historischen Entwicklung zwei Richtungen ab: 1. Verlage kooptieren wissenschaftliche Herausgeber, deren Freiheitsrahmen tendenziell enger wird; die Kooperation bleibt in der Regel die zwischen Verlag und Herausgeber bzw. Reihenherausgeber und Bandherausgeber. 2. Wissenschaftler suchen sich durch private oder staatliche Drittmittelfinanzierung vom Verlag unabhängig zu machen. Dieses Modell impliziert – wenigstens bei größeren Projekten wie Gesamtausgaben – einen immer höheren organisatorischen Aufwand bei der Einwerbung und Durchführung von Projekten, und es lässt sich tendenziell nur noch im Verbund von mehreren Wissenschaftlern durchführen. Für die fachliche Organisation der Abläufe mussten indes Prozesse und kommunikative Strukturen zur Absicherung der Forschungsergebnisse, für welche die Neugermanistik im späten 19. Jahrhundert noch über keine Erfahrungen verfügte, erst langsam ausgebildet werden. Die WA kann insofern als Prototyp arbeitsteiliger germanistischer Großforschung gelten, wie sie dann verstärkt erst seit der Jahrhundertwende praktiziert wurde, z. B. in den arbeitsstellenförmig organisierten Editionsunternehmungen der Deutschen Kommission (gegründet 1903) bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, zu denen auch die Wieland-Ausgabe gehörte.73

73 Vgl. Gerlach: Bernhard Seuffert, S. 113ff.

Sektion III: Perspektiven

Markus Messling

Décryptologies. Zur Struktur der modernen Philologie zwischen Materialpolitik und einsamen Erkenntnissen

I.

Makrogeschichte 1: Philologie als Gesellschaftsprojekt

Champollion zum Beispiel. Kaum ein Name strahlt derart glänzend, wenn es um die Erfolge der modernen europäischen Philologie geht. Jean-FranÅois Champollion – der jüngere der beiden Brüder aus jenem Figeac, das der ältere Zeit seines Lebens als Namenszusatz tragen sollte, während der jüngere schlicht als ›le jeune‹ in die Geschichte eingegangen ist: Jean-FranÅois Champollion le jeune. Er ist ein Held der modernen Wissenschaft. Nach jahrhundertelangem Dunkel bringt er Licht in die Geschichte, und dies im umfassendsten Sinne des Wortes: Europa, das seine christliche Herkunft, die alte Genealogie, 1793 symbolisch mit dem Kopf des Königs von sich abgetrennt hatte, kann doch ohne die Gewissheit einer Herkunft nicht leben. Wenn aber die Ursprungsdeutungen nach dem Abkühlen der Bibelauslegung nicht mehr heilig sind, so erscheinen sie aufgrund ihrer wissenschaftlichen Natur nur umso wahrer. Die Religiosität geht in Ton und Haltung auf die neuen Ursprünge über, die umso stärker erhöht, ja sakralisiert werden.1 Woher aber kommt die moderne Zivilisation, deren Kulminationspunkt für die Revolutionäre Paris ist? Auf welchen Schultern steht Frankreich, dessen universeller Anspruch doch nur geltend gemacht werden kann, wenn es sich als kulturell legitimen Hegemon der Menschheit betrachten kann. 1 Vgl. hierzu die immer noch fundamentalen Ausführungen zum Fortleben des biblischen Konzepts der Ursprünge und Abstammungen in der Philologie des 19. Jahrhunderts in Maurice Olender : Les Langues du Paradis. Aryens et s8mites. Un couple providentiel. Paris 1989; sowie die Arbeiten von Pascale Rabault-Feuerhahn: L’archive des origines. Sanskrit, philologie, anthropologie dans l’Allemagne du XIXe siHcle. Pr8face de Charles Malamoud. Paris 2008, bes. S. 195–252, und Suzanne L. Marchand, die betont, dass die weitreichende Säkularisierung des Wissens im Übergang zum 19. Jahrhundert durchaus nicht bedeutete, dass die Theologie sich aus der Reflexion und Diskussion der Frage der Ursprünglichkeit verabschiedete, sondern vielmehr die Neudefinition der Menschheitsgeschichte im 19. Jahrhundert eine Kontroverse um den Ort und die Zukunft der Religion in sich trug (vgl. Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race and Scholarship. Washington u. New York 2009, bes. S. xxviii–xxxiv).

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Mögen die eigentlichen Gründe für den Aufbruch an den Nil auch militärische sein, Napoleon Bonaparte inszeniert Ägypten als Ort zivilisatorischer Herkunft und Frankreich als dessen weltgeschichtlichen Wiedergänger, und zwar erst recht nach den bitteren Niederlagen gegen die Engländer und dem Untergang der französischen Flotte vor Abuk%r. Was das Nilland in der Antike, sei Frankreich für die Moderne: Hier die Wiege der Schrift und das erwachende historische Bewusstsein; dort die Wiege der modernen – also historischen – Wissenschaft und des Freiheitsbewusstseins. Daher ist Ägypten für Napoleon wohl ein politischer, zumindest aber ein propagandistischer Topos – das Nilland muss erforscht und angeeignet werden, um Frankreich als legitime Erbin und Erneuerin ins Zentrum der Weltzivilisation zu setzen. Der Anspruch der französischen Nation auf Universalität zeigt sich nicht zuletzt in der führenden Rolle bei der Lektüre der Universalgeschichte und ihrer vermeintlichen Ursprünge. Und hier nun kommt Champollion ins Spiel.2 Seine Entzifferung der Hieroglyphen macht Ägypten erst richtig lesbar und verleiht Frankreich damit den Schlüssel zur Verwaltung des Zivilisationsanspruchs. Die Größe ›des Ägypters‹ wird zur Größe seiner Nation stilisiert. Selbst die Restauration, die den Bonapartisten Champollion Zeit seines Lebens bekämpft und seinen Weg erschwert hatte, weil seine Leistung den Wahrheitsgehalt der biblischen Geschichte in Frage stellte, findet über den Nationalismus zu ihrer Art der Versöhnung: Champollion, der nur zehn Jahre nach seinem großen Coup jung an Jahren versterben sollte, wird nach seinem Tod unmittelbar zum Kleinod der Nation erhoben.3 Dieser kurze Aufriss zeigt bereits, dass die Vorstellung von der Philologie als einer einsamen, mönchischen Praxis in gewisser Hinsicht falsch, jedenfalls ergänzungsbedürftig ist. Schon die biblische Textarbeit hatte immer dem übergeordneten Ziel der wahrhaftigen Exegese gedient, durch die sie legitimiert und institutionell befördert wurde. Spätestens aber mit der ›Säkularisierung‹ der Philologie, das heißt mit ihrer Überführung in ein Projekt allgemeiner Hermeneutik und geistphilosophischer Geschichtsdeutung,4 welches durch die Er-

2 Vgl. das Kapitel 2 Philologie und Nationalismus in Markus Messling: Champollions Hieroglyphen. Philologie und Weltaneignung. Berlin 2012, S. 21–50. 3 Vgl. Markus Messling: Les Hi8roglyphes de Champollion. Philologie et conquÞte du monde. Pdition r8vis8e et 8largie. Traduction de Kaja Antonowicz. Grenoble 2015, S. 24–27. Interessant ist vor allem die Rede von Silvestre de Sacy (1833), der als mächtiger Wissenschaftspolitiker der Restaurationszeit Champollions Forschungen nicht positiv gegenüber gestanden hatte. Siehe auch Markus Messling: Philologie, d8chiffrement d’8critures et th8orie des civilisations. In: Michel Espagne, Nora Lafi u. Pascale Rabault-Feuerhahn (Hg.): Silvestre de Sacy. Le projet europ8en d’une science orientaliste. Paris 2014, S. 219–229, bes. S. 228f. 4 Vgl. hierzu Michael Werner : A propos de la notion de philologie moderne. ProblHmes de d8finition dans l’espace franco-allemand. In: Michel Espagne u. Michael Werner (Hg.):

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fahrung der sprachlichen Vielfalt seit der Eroberung der Amerikas ausgelöst wird und das sich im 18. Jahrhundert durch eine erweiterte Komparatistik als moderner Wissensbereich konstituiert, wird die Philologie schließlich zur Grundlage der Nation.5 Damit geht ein Wechsel der Archive einher, der das biblische Hebräisch aus dem Zentrum rückt und, je nach Kontext, das Griechische, das Altägyptische, später Sanskrit und die indoeuropäischen Textkulturen auflädt. Wie Maurice Olender gezeigt hat, bleibt trotz dieser Verschiebung die christliche Heilsgeschichte der ideologische Kern des philologischen Projekts, nur dass die semitische Kultur nun von dem unaufhaltsamen Aufstiegswillen der modernen europäischen Nationen abgeschnitten wird.6 Wo aber hat ›Ägypten‹ in dieser Umstellung seinen Platz? Das bonapartistische Ägypten-Projekt folgt der revolutionären Vorstellung einer symbolischen translatio imperii, wobei das französische Empire nicht mehr nur Erbe Roms, sondern auch der zivilisatorischen Tiefe, also Griechenlands und Ägyptens, wäre.7 Diese translatio ist eine zivilisatorische, sie ist in universalhistorischen Etappen der Menschheitsentwicklung gedacht, nicht in Begriffen ›realer‹ historischer Herkunft. Die Romantiker sollten gegen diesen französischen Zivilisationsanspruch das alte genealogische Kulturmodell wieder starkmachen; in Frankreich unmittelbar nach der Revolution,8 in Deutschland nach der Wendung der Romantik in die Restauration unter Napoleons Besatzung.9 Beide Herkunftserzählungen aber folgen einer Obsession

5

6 7 8 9

Philologiques I. Contribution / l’histoire des disciplines litt8raires en France et en Allemagne au XIXe siHcle. Paris 1990, S. 11–21, bes. S. 16–19. Vgl. hierzu die grundlegenden Bände von Hellmut Flashar, Karlfried Gründer u. Axel Horstmann (Hg.): Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Göttingen 1979; sowie Mayotte Bollack u. Heinz Wismann (Hg.): Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert II/Philologie et herm8neutique au 19Hme siHcle II. Bearbeitet von Theodor Lindken. Göttingen 1983. – Siehe die Problemaufrisse in Markus Messling: France – Allemagne. Philologie h8g8monique vs. philologie 8rudite? f propos des traditions diff8rentes de la culture textuelle. In: Didier Alexandre u. Wolfgang Asholt (Hg.): France-Allemagne, regards et objets crois8s. La litt8rature allemande vue de France – La litt8rature franÅaise vue d’Allemagne. Tübingen 2011, S. 93–110, bes. S. 93–95, und Marcel Lepper: Philologie zur Einführung. Hamburg 2012, S. 57–60. Vgl. Olender : Les Langues du Paradis. Vgl. noch einmal Messling: Champollions Hieroglyphen, S. 31–36. Vgl. die Ausführungen zur Frühromantik in Antoine Compagnon: Les antimodernes de Joseph de Maistre / Roland Barthes. Paris 2005. Besonders deutlich sichtbar wird das in Friedrich Schlegels Indien-Philologie. Vgl. Jürgen Trabant: Indien vs. Amerika. Über Friedrich Schlegels ›Sprache und Weisheit der Indier‹. In: Philipp Krämer, Markus A. Lenz u. Markus Messling (Hg.): Rassedenken in der Sprach- und Textreflexion. Kommentierte Grundlagentexte des langen 19. Jahrhunderts. Paderborn 2015, S. 27–46; sowie das Kapitel 2.3 Friedrich Schlegel: Heilsgeschichte, Genealogie, Anthropologie in Markus Messling: Gebeugter Geist. Rassismus und Erkenntnis in der modernen europäischen Philologie. Göttingen 2016 (Philologien: Theorie – Praxis – Geschichte), S. 130–153.

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des Ursprungs, welche die erschütterte Identität des christlichen Europas begleitet. In Champollions frühen Arbeiten, entstanden im philologischen ›Labor‹ der Pariser Lehrjahre 1808 und 1809, in denen der junge Forscher orientalische Sprachen lernt und die Herkunft und Geschichte des Alten Ägypten zu verstehen sucht, kann man sehen, wie Champollion die Neuerung des indoeuropäischen Stemmas mit der zivilisatorischen translatio nach dem Modell ›Ägypten – Rom – Paris‹ in Einklang zu bringen sucht – was er schlussendlich aufgeben wird.10 Die Bedeutung seiner Entzifferung gut zehn Jahre später erklärt sich aus dieser identitätspolitischen Relevanz.11 In kaum einem philologischen Projekt wird all dies derart sichtbar werden wie in der Philologie Ernest Renans, einem der großen philologischen Nachfolger von Champollion am CollHge de France, in dessen Arbeit über die »semitischen« Sprachen und Texte sich Säkularisierungsanspruch, idealistische Geschichtsphilosophie, Imperialismus und Erfindung des voluntaristischen Nationenbegriffs miteinander verschränken.12 Die moderne Philologie ist ein Projekt, in dem sich die philologische Entfaltung der Narrationen der Menschheit mit der großen Narration vom Aufstieg des »europäischen Geistes« spiralförmig verschlingt.13

II.

Mikrogeschichte 1: Coptica – close reading

Zurück zu Champollion. Die Entzifferung der Hieroglyphen findet in seinem Mikrokosmos statt. Sie ist die Leistung nicht nur umfassender Bildung, sondern auch gedanklicher Schärfe und Umtriebigkeit. Die weitreichenden Sprachkenntnisse und historischen Einsichten erlauben es Champollion, in einer der spektakulärsten Entschlüsselungsgeschichten den Königsweg einzuschlagen. Der Schlüssel wird das Koptische sein. Als ihm dies klar wird, fasst er zunächst seine Kenntnisse des Koptischen, die weit über die Grammatiken und Wörterbücher seiner Zeit hinausgingen, in einer zweibändigen Grammatik zusammen. Sein Anliegen, diese durch die Pariser Akademie veröffentlichen zu lassen, scheitert jedoch an einem Gutachten Silvestre de Sacys, der Champollions Hinweis, die Bücher seien die Grundlage weiterer Entzifferungen, mit dem Argument zurückwies, dass das Koptische eine ganz junge Sprache sei, sodass man 10 Vgl. das Kapitel 3.1 Jean-FranÅois Champollion le jeune: ägyptisches Texterbe und die Herkunft der europäischen Moderne in Messling: Gebeugter Geist. 11 Vgl. die Ausführungen zu den damit einhergehenden Kompensationsprozessen vom Symbolismus bis zur Psychoanalyse in Messling: Les Hi8roglyphes de Champollion, S. 65–75. 12 Vgl. zum inneren Aufbau von Renans Denken Pascale Rabault-Feuerhahn: Ernest Renans »Laboratorium der Philologie«. Rassebegriff und liberaler Anspruch. In: Krämer, Lenz u. Messling (Hg.): Rassedenken in der Sprach- und Textreflexion, S. 267–294. 13 Vgl. hierzu jetzt grundlegend Messling: Gebeugter Geist, S. 182–215.

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es nicht ohne Weiteres als die Sprache der alten Ägypter ansehen könne.14 Der Baron Silvestre de Sacy, Doyen der entstehenden Orientalistik des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, sollte als wichtiger Wissenschaftspolitiker der Restauration Misstrauen gegenüber einem Projekt haben, das die christliche Menschheitserzählung durch das empirisch belegte Alter des Nillandes zu entkräften drohte. Dass es eine Verbindung zwischen der koptischen Sprache und dem Altägyptischen gibt, wusste Champollion allerdings bereits besser, denn er hatte 1813, also zwei Jahre zuvor, eine erste wichtige Entdeckung gemacht, die Fritz Hintze wie folgt beschreibt: Da es im Koptischen 6 Endungen gibt, mit denen man die pronominalen Verhältnisse bezeichnet, so müsste es für diese Endungen auch in den Hieroglyphen 6 besondere Zeichen gegeben haben. Diese sucht er nun im Demotischen und im Hieratischen aufzufinden. Wo im griechischen Text von Rosetta »er« oder »sein« vorkommt, da steht im hieroglyphischen Text eine kleine gehörnte Schlange, im demotischen Text aber ein Zeichen, von dem er aus seinen paläographischen Vorarbeiten weiß, dass es aus dieser Schlange entstanden ist. Er erkennt auch, dass dieses demotische Zeichen noch in der koptischen Schrift fortlebt und dort ein f ist und zugleich das Pronomen der 3. Person. So ergibt sich ihm, ohne jeden Zweifel, dass in den Hieroglyphen die kleine gehörnte Schlange das Zeichen der 3. Person und mit dem koptischen f identisch ist. Damit war der Lautwert einer Hieroglyphe nicht erraten oder durch Vergleiche festgestellt, sondern zwingend nachgewiesen.15

Wie en passant hatte Champollion damit zunächst einmal nachgewiesen, dass das koptische Alphabet nicht nur aus den griechischen Buchstaben bestand, sondern in etwas abgewandelter Form offensichtlich Zeichen aus dem Demotischen übernommen hatte, mit denen Lautwerte der ägyptischen Volkssprache ausgedrückt wurden, die das griechische Alphabet nicht kannte. Es sollte sich herausstellen, dass über das hier extrapolierte »f« hinaus noch sechs weitere Zeichen demotischen Ursprungs in der koptischen Schrift existierten (vgl. die Abbildung). Die Tatsache aber, dass im Koptischen Lautwerte existierten, die mit Hilfe von demotischen Schriftzeichen ausgedrückt werden konnten, legte nun tatsächlich über den genealogischen Zusammenhang einiger Schriftzeichen hinaus auch einen Zusammenhang der ägyptischen und der koptischen Sprache nahe. Denn es war schwer vorstellbar, dass die sieben demotischen Schriftzeichen willkürlich für im Griechischen nicht existente koptische Phoneme gewählt wurden. 14 Vgl. Fritz Hintze: Champollion. Entzifferer der Hieroglyphen. Festvortrag an der HumboldtUniversität Berlin zum 150. Jahrestag der Entzifferung der Hieroglyphen am 22. September 1822. Berlin 1973, S. 12. 15 Hintze: Champollion, S. 11f.; vgl. auch Ernst Doblhofer : Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen. Leipzig 2000, S. 73.

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Abb.: Koptische Schriftzeichen demotischer Herkunft. Aus: Haarmann: Universalgeschichte der Schrift, S. 439.

Sehr viel wahrscheinlicher war es, dass diejenigen Zeichen gewählt wurden, die schon im Demotischen für ebenjene Phoneme gestanden hatten, für die sie auch im Koptischen stehen sollten. Das Koptische, das mit seinem vorwiegend grie-

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chisch-unzialschriftlichen Alphabet und der engen Verbindung seiner Verbreitungsgeschichte16 mit der Christianisierung Ägyptens zunächst auch noch für Silvestre de Sacy in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit dem Altägyptischen zu stehen schien, war damit über den Beweis der Übernahme von bestimmten phonetischen Zeichen aus dem Demotischen als ägyptische (Nachfolge-)Sprache identifiziert. Champollion geht bestärkt durch diese Entdeckung nicht nur von einer lautlichen Ähnlichkeit, sondern sogar von einer weitgehenden phonetischen Identität der koptischen Sprache und des Altägyptischen aus.17 Er ist der Überzeugung, dass, wenn man jede Hieroglyphe über das Demotische ins Koptische übertragen könne, der Lautwert jeder einzelnen Hieroglyphe bestimmbar sei. In seiner berühmten Lettre / M. Dacier (1822), mit der er schließlich seine weltbewegenden Entzifferungen der Acad8mie des Inscriptions et Belles-Lettres bekannt machen sollte, hält er es sogar für möglich, den Namen der phonetischen Hieroglyphen über den Namen des von der Hieroglyphe Dargestellten im Koptischen zu bestimmen: Je ne doute point, monsieur, que si nous pouvions d8terminer d’une maniHre certaine l’objet que figurent ou expriment tous les autres hi8roglyphes phon8tiques compris dans notre alphabet, il ne me f0t trHs facile de montrer, dans les lexiques 8gyptienscoptes, les noms de ces mÞmes objets commenÅant par la consonne ou les voyelles que leur image repr8sente dans le systHme hi8roglyphique phon8tique.18

Mit dem Übergang von den Gleichungen mit griechischen, römischen und hebräischen Buchstaben zur Identifizierung mit koptischen Buchstaben bzw. deren Lautwerten gelingt Champollion tatsächlich der Durchbruch zur Identifizierung der altägyptischen Phonogramme.19 Der Gleichsetzung der koptischen Sprache mit dem Altägyptischen jedoch liegen zwei wesentliche Irrtümer zu Grunde, die erst die nachchampollionsche Forschung aufgedeckt hat: Zum einen sollte sich die Vorstellung von der einen altägyptischen Sprache, welche eine Jahrtausende währende Kontinuität der Hieroglyphenschrift suggerierte, als falsch erweisen. Seit Adolf Ermans Neuägyptischer Grammatik 16 Zu Entstehung und Verbreitung von koptischer Sprache und Schrift siehe Harald Haarmann: Universalgeschichte der Schrift. 2. Aufl., Frankfurt a. M. u. New York 1991, S. 436–442. 17 Dies wird auch aus dem Untertitel seiner Grammaire Pgyptienne (Paris 1836 [postum; entst. 1830]) deutlich, der Principes g8n8raux de l’8criture sacr8e 8gyptienne appliqu8e / la repr8sentation de la langue parl8e lautet und so die Hieroglyphen als eine spezifische Schrift der einen ägyptischen Sprache ansieht. 18 Jean-FranÅois Champollion: Lettre / M. Dacier, secr8taire perp8tuel de l’Acad8mie royale des Inscriptions et Belles-Lettres, relative / l’alphabet des hi8roglyphes phon8tiques employ8s par les Egyptiens pour inscrire sur leurs monuments les titres, les noms et les surnoms des souverains grecs et romains. Paris 1822 [Nachdruck Aalen 1963], S. 37. 19 Vgl. Wolfgang Schenkel: Einführung in die altägyptische Sprachwissenschaft. Darmstadt 1990, S. 28.

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(1880) hat man die verschiedenen altägyptischen Varietäten zunehmend ausdifferenziert, und zwar als: Altägyptisch, Mittelägyptisch, Spätmittelägyptisch, Medioneuägyptisch, Neuägyptisch I, Neuägyptisch II, Frühdemotisch, Demotisch I, Demotisch II, Koptisch – einige Autoren unterscheiden sogar noch mehr Varietäten.20 Für Champollions Entzifferung der Königskartuschen sollte dies kein größeres Hindernis darstellen, weil die Pharaonennamen und -titel natürlich in den Varietäten tradiert wurden und kanonisiert waren.21 Auch für die so elementare Beschäftigung mit dem Rosettastein fällt dies nicht sehr ins Gewicht, weil der dort aufgeschriebene ägyptische Text aus der Zeit demotischer Sprachverwendung stammt und dem Koptischen so historisch tatsächlich sehr nah ist. Bei der umfassenden Bestimmung der Konsonanten und der Entzifferung von alten Texten musste dies jedoch zu Irrtümern führen, weil »die Phoneme der älteren Zeit im Laufe der Sprachgeschichte entweder zusammenfielen (so z. B. s und ´s) oder in so verwickelten Beziehungen untereinander stehen, dass eine Entwirrung vom Kopt[ischen] her nur schwer oder gar nicht möglich ist (z. B. in der Gruppe der ›k-Laute‹ oder auch bis zu einem gewissen Grad der ›tLaute‹)«.22 Auch sollte die angenommene Identität von koptischer und ›ägyptischer‹ Sprache Champollion veranlassen, grammatische Differenzen entweder für Irregularitäten oder aber für graphische Umstellungen zu halten, und somit als Differenz in der schriftlichen Wiedergabe ein und derselben Sprache zu betrachten.23 Die Sätze und Wörter des »Ägyptischen« konnte Champollion vom Koptischen aus zwar erstaunlich weitreichend entziffern, »aber über das eigentliche System der Schrift, die er doch zu lesen verstand, war er sich nie recht klar geworden.«24 So ist es auch der Blick vom Koptischen aus, der Champollion annehmen lässt, dass alle lautlichen Schreibungen aus einzelnen Buchstaben, oder besser monokonsonantischen Zeichen bestünden.25 20 Vgl. hierzu das Kapitel zur ägyptisch-koptischen Sprachgeschichte in Schenkel: Einführung in die altägyptische Sprachwissenschaft, S. 7–10; sowie die Tabelle zur Sprachentwicklung in Richard Parkinson: Cracking Codes. The Rosetta Stone and Decipherment. London 1999, S. 49. – Auch Champollion erkennt zwar durchaus bereits lautliche Verschiedenheiten und Abweichungen, bezeichnet sie allerdings als Dialekte einer »langue 8gyptienne« und beurteilt sie letztlich als Soziolekte, so z. B. eine von ihm als »Baschmourique« bezeichnete Varietät, in der er »le langage vulgaire de l’Pgypte moyenne« sieht (vgl. Champollion: Lettre / M. Dacier, S. 21). Die Sprachverschiedenheit bleibt ihm noch verschlossen. 21 Vgl. James P. Allen: Middle Egyptian. An Introduction to the Language and Culture of Hieroglyphs. Cambridge 2000, S. 64ff. 22 Schenkel: Einführung in die altägyptische Sprachwissenschaft, S. 29. 23 Vgl. ebd., S. 18. 24 Hintze: Champollion, S. 17. 25 Vgl. hierzu Jean-FranÅois Champollion: Introducion. In: ders.: Grammaire Pgyptienne ou principes g8n8raux de l’8criture sacr8e 8gyptienne appliqu8e / la repr8sentation de la langue parl8e. Publi8 sur le manuscrit autographe, par l’ordre de M. Guizot, Ministre de l’In-

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Dass zwischen dem Koptischen und ›dem‹ Ägyptischen nicht nur graphische, sondern sprachliche Verschiedenheiten vorliegen, sah zuerst der deutsche Archäologe Richard Lepsius, mit dessen Lettre / M. le Prof. Rosellini (1837) die ägyptische Grammatik als eigener Forschungszweig neben der koptischen Grammatik etabliert wurde.26 Ungeachtet dieser Einwände von einem späteren Kenntnisstand aus war es ohne jeden Zweifel die koptische Sprachkompetenz, die es Champollion ermöglichte, wenn auch nicht so sehr in das grammatische System, so doch in die hieroglyphischen Wörter und Texte einzudringen. Die Entzifferung phonetischer Hieroglyphen wäre, wie das Beispiel des Hornviper-Zeichens gezeigt hat, ohne die zu seiner Zeit einzigartigen Kenntnisse der koptischen Sprache undenkbar gewesen.

III.

Jeu d’échelles: Coptica/Kopten – Emigrantennetzwerke

Wie kommt es aber, dass Champollion sich einer möglichen Bedeutung des Koptischen überhaupt bewusst war und daher die Sprache erlernte? Des Bruchs mit der lange währenden und bis in seine Zeit hinein ragenden Rezeptionstradition der Hieroglyphen in der europäischen Kultur, den seine Entzifferungen unzweifelhaft bedeuten, war sich Champollion sehr bewusst. Explizit stellt er in seinem programmatischen Vorwort zur Grammaire Pgyptienne sein philologisches Verfahren gegen die Irrtümer eines »charlatanisme habituel«.27 Champollion spielt damit auf die aus der Renaissance hervorgegangene, durch eine florierende Rezeption des Horapollon bedingte, barocke Metaphysik der Hiestruction publique. Hg. v. Jacques-Joseph Champollion-Figeac. Paris 1836 [1830; Nachdruck Paris 1984, hg. v. Institut d’Orient/Michel Sidhom], S. xviij.; siehe auch Doblhofer: Entzifferung alter Schriften und Sprachen, S. 87. – Diese falsche Annahme sollte durch die Entzifferung der griechisch-römischen Königsnamen verstärkt werden, in denen von der Möglichkeit, alphabetische Zeichen zu generieren und ausschließlich monokonsonantische Zeichen zu verwenden, exzessiver Gebrauch gemacht wurde, sodass sie tatsächlich innerhalb der Hieroglyphenschrift einen besonderen Fall darstellen. Diesen Hinweis verdanke ich Stephan Seidlmayer (BBAW/DAI Kairo). 26 Richard Lepsius: Lettre / M. le Professur Rosellini, Membre de l’Institut de corresponandance arch8ologique etc. etc., sur l’Alphabet hi8roglyphique. Avec deux planches. Rome 1837. – Vgl. auch Schenkel: Einführung in die altägyptische Sprachwissenschaft, S. 18f. – Hier spannt sich der Bogen zu Wilhelm von Humboldt, dessen Rede Über vier ägyptische, löwenköpfige Bildsäulen in den hiesigen königlichen Antikensammlungen, gehalten am 24. März 1825 vor der Berliner Akademie, die zugleich eine Eloge auf Champollions Leistungen ist, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entscheidung der Akademie gehabt haben dürfte, einen Gelehrten auszuwählen, der sich der Ägyptologie widmen sollte. Angestoßen wurde dieses Unterfangen von Wilhelms Bruder Alexander – die Wahl der Akademie fiel auf Lepsius. 27 Champollion: Introduction, S. ix.

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roglyphen an, deren herausgehobener Exponent der Jesuit Athanasius Kircher war.28 Gleichwohl aber würdigt Champollion Kircher, auf dessen umfangreiche ägyptologische Materialsammlungen er in seinen ersten Entzifferungsarbeiten zurückgreift,29 für dessen grundlegende lexikalische und grammatische Beschäftigung mit der koptischen Sprache: Par une singularit8 bien digne de remarque, ce fut le P. Kircher lui-mÞme qui donna, en 1643, sous le titre de Lingua aegyptiaca restitua, le texte et la traduction de manuscrits arabes recueillis en Orient par Pietro della Valle, et contenant des grammaires de la langue copte; plus, un vocabulaire copte-arabe. Dans cet ouvrage, qui, malgr8 ses innombrables imperfections, a beaucoup contribu8 / r8pandre l’8tude de la langue copte […].30

In der Anregung zum Studium dieser alten Volkssprache liegt Kirchers unbestrittenes Verdienst. Vor dem Hintergrund von Kirchers und anderer Anmerkungen zur koptischen Sprache, etwa de Guignes und des Abb8 Barth8lemy,31 sollte Champollion dann zu jener Erkenntnis gelangen, die oben beschrieben wurde und die so grundlegend ist, dass in ihr ein Schlüssel zu seinen Entzifferungen liegen sollte: das Wissen nämlich um einen genealogischen Zusammenhang des Koptischen mit dem Altägyptischen.32 Der junge Jean-FranÅois ging somit fest davon aus, dass der Weg zur Erschließung und Entzifferung der altägyptischen Schrift nur über das Studium der halbverschollenen koptischen Sprache führen könne. In dieser Überzeugung sollte ihn auch eine Abhandlung 28 Zum frühneuzeitlichen Diskurs über die ägyptischen Hieroglyphen, insbesondere zu Athanasius Kirchers Arbeiten vgl. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Mit einem Vorwort von Jacques Le Goff. München 1993, S. 153–167, und Ernst Doblhofer : Zeichen und Wunder. Die Entzifferung verschollener Schriften und Sprachen. Wien, Berlin u. Stuttgart 1957, S. 49–52. – Dass dem aus der Renaissance- und Barockzeit hervorgegangenen mystifizierend-kosmologischen Diskurs über die Hieroglyphen eine ganz eigene und auch zu würdigende Funktion in der europäischen Reflexion über Bild und Schrift zukommt, die die Bedeutung eines auf einem Missverständnis beruhenden Kuriositätenkabinetts überschreitet, zeigt die von Aleida und Jan Assmann vorgelegte »Faszinationsgeschichte« der Hieroglyphen. Vgl. Aleida Assmann u. Jan Assmann (Hg.): Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie. München 2003 (Archäologie der literarischen Kommunikation Bd. VIII). 29 Champollion: Lettre / M. Dacier, S. 19. 30 Champollion: Introduction, S. ix. 31 Chr8tien Louis Joseph de Guignes: M8moire dans lequel on prouve, que les Chinois sont une colonie 8gyptienne. L0 dans I’Assembl8e publique de l’Acad8mie Royale des Inscriptions & Belles-Lettres, le 14 Novembre 1758. Avec un Pr8cis du M8moire de M. l’Abb8 Barth8lemy, sur les Lettres Ph8niciennes; l0 dans l’Assembl8e publique de la mÞme Acad8mie le 12 Avril 1758. Paris 1759. 32 Vgl. Doblhofer : Entzifferung alter Schriften und Sprachen, S. 51f. u. S. 69; sowie historisch Antoine-Isaac Baron Silvestre de Sacy : Notice sur la vie et les ouvrages de M. Champollion le jeune. Vortrag gehalten zur Eröffnung der öffentlichen Sitzung der Acad8mie des Inscriptions et Belles-Lettres am 2. August 1833. Paris 1833, S. 12.

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des Pater Bonjour über die koptischen Manuskripte des Vatikanischen Archivs in Rom bestärken.33 In den älteren Darstellungen der Entzifferungsgeschichte wird oftmals allein auf Champollions Lektüren und die philologische Vorgeschichte verwiesen. In Wahrheit aber liegt die Einsicht in die relevante Stellung des Koptischen an der Schnittstelle zwischen der Einsamkeit philologischer Erkenntnis und dem Austausch mit der Welt der Gelehrten und den Netzwerken der Kenntnisreichen. So sollte man nicht die Bedeutung jener Milieus unterschätzen, welche in Marseille und Paris durch die Immigration ägyptischer Flüchtlinge entstanden, die im Schlepptau der gescheiterten Napoleonischen Ägyptenexpedition nach Frankreich geflohen waren, weil sie im Nilland als Kollaborateure verfolgt wurden. Diese arabischen und koptischen Milieus haben den jungen Champollion massiv geprägt. Anouar Louca beschreibt Champollions Freundschaft zu Gelehrten wie dem Dichter Sabbagh, dem Arabisten und Sprachlehrer Joseph Agoub, seinem kongenialen koptischen Kollegen Elias Bocthor, Professor an der Pcole des Langues Orientales in Paris, der wie Champollion selbst in jungen Jahren versterben sollte, sowie zum Pater Youhanna Chiftigi (al-Chiftichi), dem Priester der ägyptisch-koptischen Gemeinde Saint-Roch in Paris.34 Dank dieser Begegnungen hat Champollion offensichtlich nicht nur gelernt, Arabisch flüssig zu lesen und zu schreiben, sondern auch das Koptische als lebendige Sprache zu betrachten. Vermutlich dürften Einsichten in die koptische Liturgie, zu deren Verständnis wie auch zur Entzifferung koptischer Manuskripte zahlreiche Gespräche mit dem Pater Chiftigi dienten, Champollion die historische Tiefe des Koptischen vermittelt haben. Dieses Wissen sollte ihm ein unschätzbares sprachliches Werkzeug und jedenfalls konzeptuelle und phonetische Hinweise zur Entschlüsselung des Demotischen liefern.35 Champollions Einbindung in Netzwerke sollte noch eine andere Bedeutung zukommen. Gerade aufgrund der eingangs beschriebenen gesellschaftspolitischen Dimension des Ägypten-Paradigmas, das – wesentlich durch Champollions eigene Leistungen bedingt – nicht nur auf der Forschungsebene einen Graben zwischen der überlieferten kosmologischen Deutung der Hieroglyphen und ihrer Lektüre aufbrechen ließ, sondern auch verfeindete Lager einer ›aufklärerischen‹ und einer ›restaurativen‹ Philologie und Wissenschaftspolitik formierte, brauchte Champollion Verbündete, die helfen konnten, seine Erkenntnisse durchzusetzen. Anhand seines Showdown mit dem deutschen Gelehrten Gustav Seyffarth vor einer breiten Kulisse aus Wissenschaftlern, Ver33 Vgl. Doblhofer: Entzifferung alter Schriften und Sprachen, S. 69. 34 Vgl. die Hommage an diese Gelehrten in Anouar Louca: L’autre Pgypte de Bonaparte / Taha Hussein. Kairo 2006, S. 92–95 u. S. 97f. 35 Vgl. ebd., S. 95ff.

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tretern der vatikanischen Archive und der Kurie, diplomatischen Gesandten und Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, der in der russischen Gesandtschaft in Rom im Jahr 1826 stattfand, habe ich an anderem Ort die Verstrickung der Champollionschen Forschung mit epistemischen und wissenschaftspolitischen Erdbeben sowie auch mit den persönlichen Eitelkeiten und Konkurrenzkämpfen seiner Zeit aufgefächert.36 Doch wandern wir das jeu d’8chelles erst noch einmal hinunter in die Welt der Manuskripte, von den Dimensionen der gemeinschaftlichen Produktion und Verteidigung von Wissensbeständen zurück zu Champollions philologischer Praxis.

IV.

Mikrogeschichte 2: Hieratisch – Arbeit am Material

Champollion hatte der Acad8mie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres bereits am 27. August 1821 – also ein Jahr vor seiner Lettre / M. Dacier – ein M8moire sur l’8criture hi8ratique vorgelegt, in dem es ihm gelungen war nachzuweisen, dass die hieratische Schrift einerseits die Vorgängerin der demotischen Schrift, andererseits eine Kursivform, genauer gesagt sogar eine Tachygraphie der Hieroglyphenschrift war.37 Diese Erkenntnis war das Ergebnis einer mehr als zehnjährigen Arbeit, in der Champollion alle ihm verfügbaren Zeichen gesammelt und klassifiziert hatte. Besondere Bedeutung kommt dabei seinen Studien der gleichermaßen in hieratischer Schrift und in Hieroglyphen verfassten »Totenbücher« zu, die in den Grabmälern des alten Ägypten gefunden und nun in der Description de l’Pgypte38 veröffentlicht worden waren. Ohne die Zeichen eigentlich zu verstehen, vergleicht Champollion die beiden Schriftarten so lange, bis er die hieratischen Zeichen und die Hieroglyphen jeweils ineinander übersetzen kann. Schließlich gelingt es ihm, jedes ihm zugängliche Zeichen vom Demotischen über das Hieratische ins Hieroglyphische (und umgekehrt) zu übertragen.39 Diese Erkenntnis von einem genealogischen Zusammenhang der

36 Vgl. Markus Messling: Duell in Rom. Das Ringen um die Hieroglyphen. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2009), H. 4, S. 17–32; zu den Folgen der Durchsetzung des Champollion’schen Paradigmas für die poetische und symbolische Ökonomie der Moderne vgl. Messling: Les Hi8roglyphes de Champollion, S. 65–82. 37 Vgl. Hintze: Champollion, S. 13, Dewachter : Champollion. Un scribe pour l’Egypte. Paris1990, S. 40; siehe auch Champollion: Lettre / M. Dacier, S. 5 u. S. 37ff. 38 Edm8 FranÅois Jomard, Michel-Ange Lancret [u. a.] (Hg.): Description de l’Pgypte, ou Recueil des observations et des recherches qui ont 8t8 faites en Pgypte pendant l’exp8dition de l’arm8e franÅaise. 23 Bde. 10 Textbände, 10 Bände mit Tafeln, 2 ›Mammutfolio‹ für übergroße Tafeln, 1 Atlas. Publi8 par les ordres de S. M. l’Empereur Napol8on le Grand. Paris 1809–1829. 39 Doblhofer: Entzifferung alter Schriften und Sprachen, S. 75ff.

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drei Schriftsysteme aber sollte nach Champollions Identifikation phonetischer Zeichen im Demotischen weitreichende Folgen haben, denn: L’emploi de ces caractHres phon8tiques une fois constat8 dans l’8criture d8motique, je devais naturellement en conclure que puisque les signes de cette 8criture populaire 8taient, ainsi que je l’ai expos8, emprunt8s de l’8criture hi8ratique ou sacerdotale, et puisque encore les signes de cette 8criture hi8ratique ne sont, comme en l’a reconnu par mes divers m8moires, qu’une repr8sentation abr8g8e, une v8ritable tachygraphie des hi8roglyphes, cette troisiHme espHce d’8criture, l’hi8roglyphique pure, devait avoir aussi un certain nombre de ses signes dou8s de la facult8 d’exprimer les sons; en un mot, qu’il existait 8galement une s8rie d’hi8roglyphes phon8tiques.40

Wenn die drei Schriftarten tatsächlich nur formale Varianten zueinander darstellten, so konnten auch das Hieratische und Hieroglyphische keine rein ideographischen Schriftsysteme sein, sondern mussten sich, wie das Demotische, auch aus phonetischen Zeichen zusammensetzen. Dass die Verwendung von Phonogrammen ein ganz wesentliches Prinzip der Hieroglyphenschrift darstellt, sollte die große Errungenschaft der Lettre / M. Dacier sein, mit der Champollion die alte und hartnäckige Vorstellung von der reinen Bilder- oder Symbolschrift unwiderlegbar entkräften sollte. Worauf es mir hier ankommt, sind nicht die philologischen Schritte in Richtung Entzifferung – die natürlich zeigen, wie methodisch reflektiert und diszipliniert Champollion das Problem immer weiter einkreiste. Von einem Geniestreich im Sinne eines quasi voraussetzungslosen ›plötzlichen Findens‹ zu sprechen, macht aber auch aus einem anderen Grund wenig Sinn. Man überliest bei den Entzifferungsgeschichten oft und leicht die materialen Voraussetzungen, weil es uns heute nicht mehr erstaunlich erscheint, dass die altägyptischen Texte zur Verfügung standen. An Champollions Vorgehensweise wird dabei deutlich, dass seine Arbeit nur erfolgreich sein konnte, wenn sich das verfügbare Material permanent erweiterte, um möglichst viele Schriftzeichen zusammensammeln zu können. Da Champollion die Zeichen ja noch gar nicht lesen konnte, ist diese materiale Dimension die eigentliche systematische Voraussetzung. Die Materialbasis selbst wird hier zum Bedeutungsträger, bevor sich der Vorhang der Geschichte überhaupt hebt. Dies aber war nur möglich, weil sich seit Napoleons Ägypten-Expedition ein Tross an Abenteurern, Archäologen, Ausgräbern und Sammlern in Bewegung gesetzt hatte, der mit der Description de l’Pgypte eines der größten Forschungs- und Publikationsprojekte im Bereich der europäischen Erforschung der Menschheitskultur in Gang hielt, aus dem zugleich die großen ägyptologischen Museen in Paris, London, Turin und Berlin und eine wahre Ägyptomanie hervorgingen, die sich nach dem militärischen Scheitern der Expedition – vor allem in Frankreich, aber auch darüber hinaus – zu einer 40 Champollion: Lettre / M. Dacier, S. 5.

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wissenschaftlichen, philologischen, literarischen und schließlich zu einer gesamtkulturellen ›Aneignung‹ auswuchs, die bis in die Lebenspraxis eindrang und in der Architektur, Einrichtung und Mode einen ›style retour d’Pgypte‹, einen ›ägyptisierenden Stil‹, ausprägte.41 Dieses Kulturphänomen aber ist vom Universalismus nach französischem Vorbild und den imperialen Eroberungspolitiken Europas nicht zu trennen.

V.

Makrogeschichte 2: Europäische Materialpolitik

Die teilweise spektakulären und abenteuerlichen Lebenswege zentraler Protagonisten der blühenden frühen Ausgrabungsphase können nicht kaschieren,42 dass Ausgrabungen und ›Abbau‹ von Monumenten und Kunstgegenständen ein breit angelegtes Geschäft waren, in dem unzählige Europäer und Ägypter zu Geld zu kommen suchten. Fr8d8ric Cailliaud, Geologe in Diensten des ägyptischen Vizekönigs Mehmet Ali Pascha und Gefährte des legendären französischen Generalkonsuls in Alexandria, Bernardino Drovetti, auf der Reise in die oberägyptischen Gegenden, vermittelt in seinem Reisebericht Voyage / l’oasis de ThHbes et dans les d8serts situ8s / l’Orient et / l’Occident de la Th8ba"de43 einen Eindruck der Goldgräberstimmung im Jahre 1818: In Theben fand ich sehr viele Europäer versammelt, die in interessanten Ausgrabungen arbeiteten, in Qurna, auf den Ruinen von Medinet Abu und im Memnonium; der gesamte Raum der Ruinen von Karnak war bedeckt mit Trennlinien, die das Terrain der Franzosen, jenes der Engländer, jenes der Iren, jenes der Italiener & c. absteckten. Europäische Damen liefen durch die Ruinen, drangen in die Katakomben ein, so wie die anderen Reisenden. Alle bemühten sich, Antiquitäten zu finden oder zu kaufen; niemand zeigte sich von der Hitze oder den Anstrengungen beeindruckt; zu jeder Tagesund Nachtzeit liefen Reisende durch die Gräber oder die Ebene; inmitten dieses allgemeinen Eifers, die schlichte Neugier zu befriedigen oder übersehene Antiquitäten zu entdecken, entstanden manchmal ernstliche Auseinandersetzungen zwischen den 41 Vgl. Jean-Marcel Humbert: Le style »retour d’Pgypte«. Sources et prolongements. In: ders. (Hg.): Bonaparte et l’Pgypte. Feu et lumiHres. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Institut du Monde Arabe Paris/Mus8e des Beaux-Arts Arras. Paris 2008, S. 274–278, das Zitat S. 274; sowie Karen van Landuyt: L’exp8dition d’Pgypte et la mode. In: Humbert (Hg.): Bonaparte et l’Pgypte, S. 279–297; sowie für den ›ägyptischen Stil‹ in Russland Natalia E. Koroleva: Egyptology and Egyptomania in Russia in the XIXth and the Beginning of the XXth Century. In: Jean-Claude Goyon u. Christine Cardin (Hg.): Actes du neuviHme CongrHs international des Pgyptologues. Grenoble, 6.–12. septembre 2004. Bd. I. Leuven [u. a.] 2007 (Orientalia Lovaniensia Analecta Bd. 150), S. 1037–1041. 42 Die Ausführungen unter diesem Punkt gehen zurück auf das Kapitel Kolonialer Kulturraub und die Dimensionen der Ägyptmanie in Messling: Champollions Hieroglyphen, S. 109–116. 43 Reise in die Oase von Theben und in die Wüsten, die im Osten und Westen des thebanischen Gebiets liegen.

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Führern mehrerer Reisender verschiedener Nationalitäten; es kam sogar vor, dass sie sich mit Waffen bedrohten: Glücklicher Weise gingen die Auseinandersetzungen aber nur bis zu diesem Punkt. Mir ist aufgefallen, dass die Araber diese Streitereien ziemlich mögen, weil sie fast immer zu ihrem Vorteil verlaufen. Die Männer reichen mittlerweile für die Grabungen nicht mehr aus; sie setzen daher ihre Frauen dazu ein, auch in den Katakomben zu graben: Sie durchstreifen ohne Unterlass die größten und die kleinsten Gräber. Und alle, bis zu ihren Kindern vom neunten Lebensjahr an, arbeiten ununterbrochen daran, die Erde nach draußen zu tragen. Dies hat sich so sehr zu einer Manie hochgesteigert, dass die Araber ihre Ländereien gänzlich vernachlässigen würden, um sich ausschließlich der Suche nach Antiquitäten zu widmen, wenn die K.chef oder Q.ymaq.m sie nicht mit Nachdruck anhalten würden, ihr Land zu kultivieren.44

Auch wenn Theben um 1820 sicher in Bezug auf die Intensität der Grabungen einen besonderen Fall darstellt, begreift man doch, dass es sich bei den Ausgrabungen und Grabkammer-Öffnungen nicht um punktuelle Arbeiten einiger Archäologen in einsamen Denkmälern eines großen Landes handelte, sondern um ein internationalisiertes Unterfangen größeren Stils. Betrachtet man die Listen der Sammlungen, erhält der dabei gemachte Gewinn Gestalt: Allein für die erste Sammlung Drovettis listet Giulio Cordero di San Quintino, der zuständige Kurator des Turiner Museums, 169 Papyri, 485 Metallobjekte, 454 Holzgegenstände, 1.500 Skarabäen, 175 Statuetten, 102 Mumien, 90 Alabastervasen und 95 Statuen auf.45 Cailliauds Bericht legt dabei selbst die Mechanismen offen, nach denen gearbeitet wurde. Natürlich waren alle großen Sammler selbst an Ausgrabungen beteiligt, leiteten meist die Bergung spektakulärer Funde oder betrieben die Suche nach neuen Grabungsorten. Schnell jedoch dehnte sich das Geschäft aus, und die Europäer griffen zunehmend auf die Arbeitskraft der ansässigen Fellachen zurück. Diesen musste die Suche nach Aegyptica im Vergleich zur harten Landarbeit als leicht verdientes Geld erscheinen. So suchten sie auch auf eigene Faust, in dem Wissen, dass die Europäer Geld bieten würden. Einige der Sammler perfektionierten dieses System. Drovetti etwa erwarb sich bei den Einheimischen den Ruf, nicht zu geizen, sondern die geforderte Summe zu zahlen – was auch Diebstähle aus den eigenen Grabungen verhindern sollte. Wenn seine Kollektionen auch aus eigenen archäologischen Unternehmungen hervorgingen, so stammten doch viele der von ihm gesammelten Objekte aus 44 Fr8d8ric Cailliaud: Voyage / l’oasis de ThHbes et dans les d8serts situ8s / l’Orient et / l’Occident de la Th8ba"de fait pendant les ann8es 1815, 1816, 1817 et 1818. R8dig8 et publi8 par E. F. Jomard [enthält ein Kapitel von Bernardino Drovetti]. 2 Tle. Paris 1821/1862, S. 82 (Übers. d. Verf.). 45 Vgl. Ronald T. Ridley : Napoleon’s Proconsul in Egypt. The Life and Times of Bernardino Drovetti. London 1998, S. 257.

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Ankäufen von Ägyptern.46 Diese arbeiteten in den antiken Monumenten und Gräbern nicht nur ohne archäologischen Sachverstand, sondern oftmals auch ohne kulturelle Wertschätzung der altägyptischen Stätten. Man kann sich den erheblichen Schaden nur zu gut vorstellen, der durch diese unkontrollierte Ausbeute entstanden ist. Im Namen des schnellen Geldes, aber auch im Namen der Wissenschaft, die oft genug genau jenes Wissen für immer verloren gehen ließ, das sie durch die Bergung von Aegyptica für die Menschheit bewahren wollte – durch die Zerstörung der Anlagen, durch mangelnde Aufzeichnungen, durch unsachgemäßen Transport. Nicht selten konnte der Sinn von Objekten nicht mehr eruiert werden, da sich ihre Einbettung in eine spezifische Umgebung – einen Tempel, eine Grabkammer – nicht mehr rekonstruieren ließ. Gegenstände gingen auf den langen Transportwegen schlicht für immer verloren. Ein besonders prominenter Fall ist dabei die Sammlung des Freiherrn Johann Heinrich Carl Menu von Minutoli, der 1820 bis 1821 auf Geheiß Friedrich Wilhelm III. ins Nilland entsandt wurde, um dem preußischen Drang Genüge zu tun, durch eine eigene ägyptologische Sammlung zu den westlichen Kulturzentren aufzuschließen. Seine Ausbeute nach der einjährigen Reise war offensichtlich beträchtlich und sie erreichte auch europäisches Festland in Triest. Von dort lässt Minutoli 23 der 120 Kisten über Land nach Berlin bringen, die restlichen 97 Kisten werden nach Hamburg verschifft. In einem tosenden Sturm, kurz vor ihrem Ziel, gehen sie mit dem Segler »Gottfried« in der Nacht vom 11. zum 12. März 1822 in der Elbmündung unter, wo sie im Schlick versinken. Es bleibt der kleinere, unbedeutendere ›Rest‹, der den Gründungsstock der Berliner ägyptischen Sammlungen darstellt. Man darf dabei gewiss nicht alle Protagonisten über einen Kamm scheren und Gier oder Anerkennung zu den alleinigen Prinzipien erheben, von denen sich die Ausgräber leiten ließen.47 Die großen Sammler arbeiteten nicht vorwiegend für private Hand, sondern von vornherein für die Abteilungen öffentlicher Museen; und auch wenn sie dadurch Ruhm suchten und finanzielle Interessen verfolgten, so waren die Gewinne doch oftmals deutlich geringer als erhofft, was ihre archäologische Leidenschaft nicht schmälerte. Von Belzoni wird berichtet, dass er 46 Vgl. ebd., S. 252. 47 Wie es etwa Daniel Meyerson tut: »Die habgierigen ausländischen Konsuln – und Drovetti ganz vorne mit dabei! – deren korrupte Agenten fiebrig vor Gier in den Ruinen herumwühlen – ignorant gegenüber dem Tod durch Seuchen oder Massaker auf dem rechtlosen Land, besessen vom Gewinn, während sie ihre großen Sammlungen zusammensuchen: Sphingen und Götter und Dämonen […]« (Übers. d. Verf.); im Original: »The rapacious foreign consuls – Drovetti foremost among them! – with their corrupt agents, feverish with greed, scavenge among the ruins – oblivious to death by plague or massacre in the lawless countryside, obsessed with gain as they gather their great collections: sphinxes and gods and demons […]« (Daniel Meyerson: The Linguist and the Emperor. Napoleon and Champollion’s Quest to Decipher the Rosetta Stone. New York 2004, S. 246f.).

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– vom Standpunkt heutiger Grabungsstandards aus betrachtet – technische Fortschritte bei der archäologischen Arbeit machte.48 Giuseppe Passalacqua muss hingegen bereits im Bewusstsein der Relevanz einer ganzheitlichen Dokumentation von Grabungsstätten gearbeitet haben: »Mit einer Präzision und Professionalität, die für seine Zeit vorbildhaft sind, dokumentiert er den Grabfund, bevor er ihn birgt. Die unveröffentlicht gebliebenen originalen Zeichnungen und Aquarelle […] verdienen allerhöchste Anerkennung.«49 Gleichwohl zeigen nicht zuletzt solche Einschätzungen wie die von Cailliaud, zu denen man jene anderer Zeitgenossen, etwa Jean Jacques Rifauds oder Joseph d’Estourmels, hinzufügen könnte,50 dass man es sich zu leicht macht, wenn man die Zerstörungen an den altägyptischen Kulturstätten allein aus dem Desinteresse Mehmet Ali Paschas an der altägyptischen Kultur und aus seiner Duldung und bisweilen auch seiner Anordnung, Steine oder Säulen antiker Monumente für den Bau von Zuckerrohr-Raffinerien, Seiden-Manufakturen oder WaffenFabriken zu verwenden, erklärt.51 In der Tat haben der ägyptische Vizekönig und seine Verwaltung keine rühmliche Rolle beim Schutz der Altertümer gespielt. Mehmet Alis schwankende Haltung hat Gaston Wiet in seinem großen Buch Mohammed Ali et les BeauxArts (1950) dokumentiert: Immer wieder wurden von ihm, durchaus auch von der Liebe für altägyptische Kunst motiviert, Anordnungen erlassen, die Monumente schützen sollten; allerdings wurde ihre Umsetzung offensichtlich wenig hartnäckig überwacht und durchgesetzt, dabei immer wieder auch von den Industrialisierungsinteressen seiner eigenen Regentschaft gezielt unterlaufen.52 Es besteht kein Zweifel daran, dass die Modernisierung Ägyptens unter Mehmet Alis Herrschaft einen erheblichen kulturellen Preis hatte. Die Proteste der Europäer jedoch, insbesondere des französischen Generalkonsuls JeanFranÅois Mimaut, die seit den 1830er Jahren in Mehmet Alis Audienzen vorgetragen werden, erscheinen dabei ähnlich ambivalent. Aus ihnen spricht zwar sachlicher Ernst, andererseits aber beenden die europäischen Gesandten mitnichten die Anschaffungspolitik ihrer Landsleute und Regierungen, sondern führen die von Salt und Drovetti entfachte Konkurrenz fort. Verschweigen darf man auch nicht die Tatsache, dass bereits in den 1830er Jahren insbesondere von 48 Vgl. Warren R. Dawson u. Eric P. Uphill: Who was Who in Egyptology. 3. Aufl., überarbeitet u. hg. v. Morris L. Bierbrier. London 1995, S. 41. 49 Dietrich Wildung: Preußen am Nil. Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Berlin 2002, S. 17. 50 Vgl. Gaston Wiet: Mohammed Ali et les Beaux-Arts. Centenaire de Mohammed Ali. Kairo 1950, S. 22ff. 51 So perspektivieren die Geschichte Lesley Adkins u. Roy Adkins: The Keys of Egypt. The Race to Read the Hieroglyphs. London 2000, S. 238. 52 Wiet: Mohammed Ali et les Beaux-Arts, S. 21–39.

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französischen Strategen die – wie sich bald herausstellt – irreale Befürchtung geäußert wird, die modernen ägyptischen Manufakturen könnten den Absatz europäischer Produkte gefährden.53 Die Fürsprache europäischer Offizieller für den Kulturgüterschutz erhält damit den fahlen Beigeschmack einer Verhinderungspolitik.

VI.

Abkühlung der Textkultur und die Funktion philologischer Kritik

Auch Champollion sollte zur Sammlungsgeschichte beitragen, indem er Sammlungen begutachtete, Ankaufsempfehlungen für Museen aussprach und auch selbst Gegenstände aus Ägypten mitführte.54 Er ist ein Kind des Frankreichs seiner Zeit, in dem höchste wissenschaftliche Reflexion und imperiale Geste epistemisch verwoben sind. Die Ägyptenreise, die er erst in den Jahren 1828/29, und damit spät in seiner ägyptologischen Laufbahn und drei Jahre vor seinem Tod, unternehmen sollte, führt ihm allerdings die Problematik der Zerstörung der Kulturgüter am Nil derart klar vor Augen, dass sein universalistischer Optimismus einen Riss erfährt. Vor der Abreise aus Alexandria schreibt er einen Brief an den ägyptischen Vizekönig Mehmet Ali Pascha, in dem er eine Begrenzung und Kontrolle der Ausgrabungen fordert. Sein Glaube, dass die Geschichte der Menschheitszivilisation dort entschlüsselt werden könne, wo die moderne Wissenschaft, die moderne Philologie, am avanciertesten sei, in den großen europäischen Zentren, wird durch die Überzeugung ergänzt, wenn nicht gewendet, dass die großen Kulturstätten für die Menschheit erhalten werden sollen. Der imperial gewordene Universalismus erfährt hier durch seine ihm inhärente zerstörerische Dimension eine Rückwendung auf sich selbst, die sein kritisches Potential freilegt.55 Darin erkennt man die reflektorische Qualität Champollions, die es ihm auch in seiner philologischen Arbeit immer wieder erlaubt hatte, eine skeptische Haltung gegenüber überbrachten Auffassungen einzunehmen, was ihm – etwa in der Frage der Stellung des Koptischen oder der Relevanz der phonetischen Struktur der Hieroglyphen – entscheidende intellektuelle Durchbrüche ermöglicht hatte. Die hier exemplarisch entwickelte Einbindung der Philologie in große gesellschaftliche Fragen wie jene der Herkunft oder der Nation ist heute weitge53 Ebd., S. 7f. 54 Vgl. Messling: Champollions Hieroglyphen, S. 122. 55 Diese Auseinandersetzung mit dem Universalismus ist das Anliegen meines Buches über Champollions Philologie und ihre Zeit gewesen (Messling: Champollions Hieroglyphen; ders.: Les Hi8roglyphes de Champollion).

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hend aufgehoben. Die Philologie wohnt vielmehr einer Abkühlung der textkulturellen Vermittlung von Gesellschaft bei, in der sie sich selbst zunehmend in der Defensive sieht. Ein literarischer oder Bildungskanon dient kaum noch als Horizont gesellschaftlicher Aushandlung, und auch unser Weltverständnis ist nur noch beschränkt ein philologisches.56 Digitalisierung und große Datenmengen werfen Fragen nach der Erkenntnisfähigkeit von Texthermeneutik auf.57 Philologisch konstruierte große Narrationen wie jene der Hegelschen Philosophie der Geschichte, die ihre Argumente über den Aufstieg des Geistes wesentlich aus einer geistphilosophischen Altertumsphilologie bezog und in der zugleich der ›Besitz‹ philologischer Avanciertheit zum Argument für ein gesteigertes Freiheitsbewusstsein wird, sind heute nicht nur nicht mehr haltbar, sondern auch nicht mehr wünschenswert.58 Dennoch ist die Philologie auch in ihrem Geltungsverlust nicht aus den gesellschaftlichen Fragen zu lösen, die sie selbst vorangetrieben hat. Was Champollions Projekt auch in dieser Konstellation als relevant abgewonnen werden kann, ist die Funktion der Kritik. Kritik bedeutet dabei nicht schlicht Zurückweisung, sondern eine »zweifelnde Standort-Bestimmung, die Revisionen und Neusetzungen provoziert«.59 Der Philologie kommt dabei die Bedeutung zu, sich in den sprachlichen Verhandlungen der Abkühlungsprozesse der Textgesellschaft zu analysieren und zu positionieren und anthropologisch ›heiße‹ Gesellschaftsprojekte etwa der Ökonomie, Biotechnik und des medialen Wandels ebenfalls einer Kritik zu unterziehen. Wenn die moderne Hermeneutik als Welt-Hermeneutik entstanden ist, so liegt in der philologischen Kompetenz eine Kritikfähigkeit sprachlich produzierter Wirklichkeit. Einerseits ermöglicht sie Sensibilität für diskursive Strukturen; sie befördert so ein kritisches Verständnis gesellschaftlicher Ordnungen und ihrer narratologischen Gestaltung.60 56 Darauf hat bereits gleichermaßen pessimistisch und hellsichtig Auerbach in seinem Aufsatz zur Philologie der Weltliteratur hingewiesen. Vgl. Erich Auerbach: Philologie der Weltliteratur. In: Walter Muschg, Emil Staiger in Verbindung mit Walter Henzen (Hg.): Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag. Bern 1952, S. 39–50. Vgl. hierzu Franck Hofmann: Spannung als »philologische Heimat« des Menschen? Zum Verhältnis von Erfahrung und Weltliteratur bei Erich Auerbach. In: G8rard Raulet u. Jean-Marie Valentin (Hg.): Akten des XI. Germanistenkongresses Paris 2005. Bd. 5: Kulturwissenschaft vs. Philologie. Bern u. Frankfurt a. M. 2008, S. 99–103. 57 Vgl. Franco Moretti: Graphs, Maps, Trees. Abstract Models for Literary History. London u. New York 2005; sowie Marcel Lepper : Big Data – Global Villages. In: Philological Encounters 1 (2016), S. 131–162. 58 Vgl. Albrecht Koschorke: Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013. Berlin 2015. 59 Vgl. Andrea Allerkamp, Pablo Valdivia Orozco u. Sophie Witt: Einleitung. Zum Gegen/Stand der Kritik. In: dies. (Hg.): Gegen/Stand der Kritik. Berlin 2015, S. 7–26, hier S. 8. 60 Vgl. Michel Foucault: Les Mots et les choses. Une arch8ologie des sciences humaines. Paris 1966, Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin 2004; sowie Jacques RanciHre: Politique de la litt8rature. Paris 2007.

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Andererseits entsteht die Qualität individueller Texte, insbesondere literarischer Produktionen, gerade in der Transgression von Diskursstrukturen. In der Arbeit an ihnen kann ein Bewusstsein von Freiheit entstehen.61 Auch eine Philologie, die das Gesellschaftliche nicht mehr als Leitwissenschaft strukturieren und betreiben kann, bleibt an Fragen der anthropologischen Modellierung und deren Kritik gebunden, wie sie Champollions Philologie im Kontext des Universalismus aufwarf. Die Stärke einer abgekühlten Disziplin besteht darin, dass sie zur Selbstreflexivität gezwungen ist. Dies betrifft nicht nur ihre gesellschaftliche Stellung, sondern auch ihre eigenen erkenntnistheoretischen Prämissen. In der Tradition, in der Champollion steht und die uns von Champollion aus zukommt, gilt dies insbesondere für ihren eurozentrischen Gehalt – wie auch für deren Kritik, wie sie sich schon bei Champollion selbst abzeichnet. Die Rolle der Philologie in den standardisierenden Globalisierungsprozessen zu durchdenken, unter denen wir leben, stellt daher heute die Anforderung einer neuen Öffnung zur Welt, die nationalphilologische Besonderheiten nicht vergisst, weil in ihnen ein erkenntnistheoretischer (und institutioneller) Wert liegt, aber diese in Verbindung zu setzen weiß. Eine solche Zusammenarbeit der Philologien der Welt basiert wesentlich auf dem nichthegemonialen Vergleich und birgt nicht nur ein Bewusstsein von kultureller Relativität, sondern auch von Universalität in sich, welches in der Erfahrung entsteht, dass philologische Praxis eine stets different entfaltete, aber universale Kulturtechnik darstellt.62 Die Bedeutung der sich dabei konstituierenden Interessensgemeinschaft dürfte nicht nur eine politische sein, sondern auch eine wissenschaftliche. Schon der glühende Republikaner Champollion war nicht nur menschlich von der europaweiten Vernetzung und brieflichen Diskussion seines Ansatzes beglückt, sondern seine Erkenntnisse hätten sich ohne die Standes- und Nationsgrenzen überschreitenden Allianzen in diesem ersten ›europäischen‹ Forschungsvorhaben der Hieroglyphenentzifferung schlicht nicht durchsetzen können. Philologie und philologische Kritik sind damals wie heute – auch – ein Gemeinschaftsunterfangen.

61 Dies haben Edward W. Said: Humanism and Democratic Criticism. New York 2004 und Sheldon Pollock: Philologie und Freiheit. Berlin 2016 hervorgehoben. 62 Vgl. Sheldon Pollock: Future Philology? The Fate of a Soft Science in a Hard World. In: Critical Inquiry 35 (2009), H. 4, S. 931–961 (zugleich in dt. Fassung: Zukunftsphilologie? In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 35/36 [2009], S. 25–50); ders.: Comparison without Hegemony. In: Hans Joas u. Barbro Klein (Hg.): The Benefit of Broad Horizons. Intellectual and Institutional Preconditions for a Global Social Science. Festschrift for Björn Wittrock. Leiden u. Boston, S. 185–204.

Anne Baillot

Was tun mit der Weisheit der Massen? Moderne Philologie im digitalen Zeitalter

I.

Einleitung

Philologisch zuverlässige digitale Texte bereitzustellen ist eine der größten Herausforderungen der modernen Literaturwissenschaft. Noch scheitert die Erfüllung dieser Aufgabe an der begrenzten bzw. verfehlten Rezeption, die Online-Texten widerfährt. Es fehlt immer noch weitestgehend das Bewusstsein dafür, was ein philologisch zuverlässiger digitaler Text ist oder gar, dass es einen solchen geben kann. Zahlreiche LiteraturwissenschaftlerInnen orientieren sich nach wie vor an gescannten Buchseiten – dabei sind Scans, selbst von Buchseiten, nur bedingt als Text zu betrachten, und sicherlich nicht als philologisch zuverlässiger Text. Die Schwierigkeit, gute digitale Texte als solche zu identifizieren, addiert sich mit negativen Vorurteilen gegenüber der Produktion von Wissen durch eine Gemeinschaft im Gegensatz zur Leistung eines Einzelnen.1 Denn die digitale Textproduktion ist in der Regel Gemeinschaftssache, und damit kann sie als Paradebeispiel für Formen der philologischen Zusammenarbeit dienen, wie sie in diesem Band unter dem Reflexionsbegriff der ›Symphilologie‹ thematisiert werden. Digitale Editionswissenschaft ist in ihrer Grundstruktur kollaborativ, doch es gilt, die unterschiedlichen Ebenen zu differenzieren, auf denen diese Zusammenarbeit stattfindet. Die Struktur dieser verschiedenen Niveaus wird oft verkannt, was zu Missverständnissen führt, insbesondere in der Anerkennung der damit einhergehenden geisteswissenschaftlichen Leistung. So soll es im Folgenden darum gehen, die Mechanismen der kollaborativen digitalen Textherstellung, wie sie heute weltweit praktiziert wird, zu entschlüsseln; die digitalen Textstandards darzustellen, die auch von einer (teilweise institutionalisierten) Gemeinschaft herausgearbeitet werden; Wege zu zeigen, wie man sich diese textuellen Methoden produktiv und zukunftweisend aneignen kann; und 1 Vgl. dazu problematisierend den Beitrag von Constanze Güthenke im vorliegenden Band.

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letztlich dadurch auch die Formen der Zusammenarbeit zu reflektieren, die in den letzten Jahrhunderten die geisteswissenschaftliche Wissensproduktion subkutan durchzogen haben. Dabei konzentriere ich mich auf zwei für den gegenwärtigen Zusammenhang besonders aussagekräftige Aspekte: Zum einen die Textherstellung (Edition) und zum anderen die Textauszeichnung (Annotation), die in der digitalen Editionswissenschaft eng mit einander zusammenhängen. Andere Aspekte der philologischen Arbeit (wie z. B. Kommentieren, Interpretieren, Kritisieren) werden am Rande erwähnt. Hier stehen also die kollaborativen Methoden im Mittelpunkt, die bei der Herstellung von digitalen Texten für die moderne Literaturwissenschaft, primär in der Edition und in der Auszeichnung, verwendet werden. Ich gehe zunächst auf die unterschiedlichen Arten von wissenschaftlichen digitalen Editionen ein, die es heute gibt. Im Anschluss werden die Prinzipien der sogenannten social editions dargestellt, die auf breit aufgestellten Kollaborationen basieren, sowie auf dem immer weiter verbreiteten Phänomen der spielbasierten Kooperationen. Im Fazit wird der Bogen zur frühromantischen Symphilologie geschlagen.

II.

Digitale wissenschaftliche Editionen: Typologien und Qualitätsstandards2

Bevor ich auf den hier einschlägigen Aspekt der kollaborativen Ausarbeitung von digitalen Editionen eingehe, sollen zum besseren Verständnis der Produktions- und Rezeptionsphänomene, die damit zusammenhängen, ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Typologie der wissenschaftlichen digitalen Editionen vorangeschickt werden. In der deutschen editionswissenschaftlichen Tradition haben sich für den Druck eine Reihe von Kategorien etabliert, die schon auf der Titelseite der jeweiligen Edition die Form ihrer Ausarbeitung signalisieren (›Studienausgabe‹, ›historisch-kritische Edition‹, ›Leseausgabe‹, ›Faksimile-Ausgabe‹ etc.). Demgegenüber gibt es in digitalen Editionen derzeit keine feste Begrifflichkeit, die einheitlich verwendet wird.3 In Ermangelung 2 Siehe zur Vertiefung der definitorischen Aspekte den von mir und Markus Schnöpf verfassten Aufsatz Von wissenschaftlichen Editionen als interoperable Projekte, oder: Was können eigentlich digitale Editionen? In: Wolfgang Schmale (Hg.): Digital Humanities. Praktiken der Digitalisierung, der Dissemination und der Selbstreflexivität. Stuttgart 2015 (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft. Beihefte Bd. 91), S. 139–156. 3 Die Titel variieren in ihrer Ausformulierung stark. Versuche, Typologien einheitlich zu etablieren, haben sich derzeit nicht durchgesetzt. Teilweise wird ausschließlich mit ›digitaler Edition‹ gearbeitet (https://www.uzh.ch/cosmov/edition/ssl-dir/V4/ [21. 11. 2015]), teilweise wird die Textgattung mit angekündigt (http://www.briefedition.alfred-escher.ch/ [21. 11. 2015], http://august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/ [21. 11. 2015]); bei Gesamtwerken steht oft der edierte Autor im Mittelpunkt und/oder der Begriff ›Portal‹ (http://www.weber-

Was tun mit der Weisheit der Massen? Moderne Philologie im digitalen Zeitalter

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einer eindeutigen Artikulation der Editionsart erschließt sich – zumindest im deutschsprachigen Bereich – für die LeserInnen bzw. NutzerInnen, und insbesondere die an Kenntlichmachung der Editionsart gewohnten WissenschaftlerInnen, nicht unmittelbar, ob es sich um wissenschaftlich fundierte oder dilettantisch bzw. privatwirtschaftlich betriebene Editionen handelt, die jeweils online konsultierbar sind. Im nordamerikanischen Raum ist die Etablierung von Typologien bei digitalen Editionen weiter fortgeschritten, nicht zuletzt, weil dort dem digitalen Medium eine länger zurückliegende, und damit inzwischen größere Akzeptanz widerfährt. Insgesamt spricht man in der Regel bei digitalen wissenschaftlichen Editionen von electronic scholarly editions.4 Die Unterschiede zwischen den Editionsarten lassen sich entweder anhand ihrer editorischen Prämissen definieren (wobei hauptsächlich das Verständnis von Text als autorisiertes Werk, als Prozess oder als Dokument einschlägig ist)5 oder aber – ein für die hiesigen Betrachtungen besonders interessanter Ansatz – anhand der technischen Grundlage, auf der die Struktur der jeweiligen Edition basiert. Eine solche Typologie schlägt der Spezialist für social editions Ray Siemens vor : a basic typology of electronic scholarly editions via the approach each type takes in handling and engaging its textual materials: from edited electronic text plus analytical tools for its readers (dynamic text), to text plus a static set of additional supporting materials in digital form for reader navigation and subsequent analysis (hypertextual edition), to text augmented by both dynamic analytical means and hypertextualitylinked access to fixed resources plus automated means of discovering and interrelating external resources (dynamic edition). Such a typology, reductive as it may be, allows us to look forward – as Robinson (2010), Shillingsburg (2006), Bryant (2002), McGann gesamtausgabe.de/ [21. 11. 2015], http://hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/start [21. 11. 2015]). Eine Ressourcenzusammenführung aus Primär- und Sekundärquellen findet man bei Nietzschesource (http://www.nietzschesource.org/ [21. 11. 2015]), ansonsten werden Quellenmischungen oft unter dem schlichten Begriff ›digital‹ subsumiert; vgl. beispielsweise http://www.derdigitalepeters.de/ [21. 11. 2015]. Immer mehr werden im deutschsprachigen Bereich Begriffe aus der traditionellen Editionswissenschaft selbst auf digital born Editionen transponiert; vgl. http://www.arthur-schnitzler.de/ [21. 11. 2015]. Die am 15. Juli 2015 freigeschaltete Edition der Fontane-Tagebücher ist die einzige, die sowohl die ›Portal‹- als auch die traditionelle editionswissenschaftliche Begrifflichkeit verwendet, und interessanterweise auch die einzige, die den Namen der Haupteditorin so prominent hervorhebt (http://fontanenb.dariah.eu/index.html [21. 11. 2015]) – ein einmaliger Versuch, traditionelle mit modernen Qualitätskriterien zusammenzuführen. 4 So etwa das Referenzwerk von Peter L. Shillingsburg: Scholarly Editing in the Computer Age. Theory and Practice (Athens/GA [u. a.] 1986), das 1996 bereits die dritte Auflage erlebt hatte. 5 Vgl. Shillingsburg: Scholarly Editing in the Computer Age, z. B. S. 11, S. 18, S. 21 u. S. 36. – Solche Typologien schließen nicht primär an die deutsche, sondern die an die englischsprachige editionswissenschaftliche Tradition an, bei der Fragen der text corruption und der Bewertung des dokumentarischen Wertes eines Textes im Mittelpunkt der Ausdifferenzierung zwischen Editionsarten stehen.

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(2001), Gabler (2010) and many others (as well as those mentioned, beyond specific citation) have encouraged us to do variously.6

Es fragt sich aber, wie hoch der Erkenntnisgewinn für die NutzerInnen sein kann, die von der Bezeichnung als ›Dynamische Edition‹ auszugehen haben. Mit Editionsarchitektur und Ausarbeitungsvorgängen sind NutzerInnen nicht immer vertraut, und so können nicht explizit eingewiesene NutzerInnen schlecht einschätzen, womit sie es im Sinne einer Verortung in der ganzen Palette des Möglichen zu tun haben. Daher stellt sich akut für die NutzerInnen die Frage, woran sie bei einer Online-Ressource, die ihnen eine edierte Textquelle zur Verfügung stellt, die wissenschaftliche Qualität festmachen können. Anleitungen zur Beurteilung von digitalen Editionen gibt es allerdings. Das Institut für Dokumentologie und Editorik hat einen einschlägigen »Kriterienkatalog für die Besprechung digitaler Editionen«7 erarbeitet. Dabei steht keine editionsdefinitorische Aufgabe im Mittelpunkt, sondern die Ausformulierung einer Reihe von Qualitätsstandards, die der Beurteilung von Editionen dienen sollen. Ebenfalls um Handlungsempfehlungen handelt es sich bei den Richtlinien der AG germanistische Editionen von 2012.8 Die Kriterien zur Begutachtung wissenschaftlicher Editionen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) enthalten einen ähnlich formulierten Absatz zu digitalen Editionen.9 Anhand dieser Empfehlungen lassen sich Qualitätskriterien für wissenschaftliche digitale Editionen am ehesten festhalten.

III.

Kollaborative Mechanismen in digitalen Editionen: Arbeitsvorgänge und Autorschaftszuschreibung

Nach diesem Überblick zur Definition der wissenschaftlichen digitalen Editionen möchte ich nun zu der Frage übergehen, ob und inwiefern sich digitale Editionen grundsätzlich von Printeditionen unterscheiden, weil sie auf kollaborativen Mechanismen beruhen. Vergleicht man digitale mit Printeditionen, steht die Nicht-Diskriminierung 6 Raymond Siemens [u. a.]: Toward Modeling the Social Edition. An Approach to Understanding the Electronic Scholarly Edition in the Context of New and Emerging Social Media, S. 2. (http://web.uvic.ca/~siemens/pub/2011-SocialEdition.pdf [21. 11. 2015]). Ray Siemens ist derjenige Forscher, der sich am meisten mit sozialen Editionen beschäftigt hat; neben den von ihm genannten Textwissenschaftlern wäre auch David Greetham zu nennen. 7 http://ide.i-d-e.de/publikationen/weitereschriften/kriterien-version-1-1/ [21. 11. 2015]. 8 http://www.ag-edition.org/empfehlungen_editionen_v01.pdf [21. 11. 2015]. 9 http://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/informationen_fachwissen schaften/geistes_sozialwissenschaften/kriterien_begutachtung_wissenschaftlicher_editionen/ index.html [21. 11. 2015].

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der Ein- bzw. Mehrzahl in der Herausgeberschaft (keiner der oben genannten Richtlinien geht es darum, die Qualität einer Edition an einer Einzel- bzw. Mehrfachautorschaft festzumachen) in einer bewährten Tradition. Wissenschaftliche Editionen des Zuschnitts einer historisch-kritischen Ausgabe sind selten Sache eines Einzelnen, erfordern sie ja eine Vielfalt von Kompetenzen und einen zeitlichen Aufwand, die mit Blick auf die Ansprüche des akademischen Publikationsmarktes längst nicht mehr aus der Kraft eines Einzelnen zu bewältigen sind (falls sie es je gewesen sind). In diesem Sinne unterscheiden sich wohl digitale Editionen nicht grundsätzlich von Printeditionen, die in der Regel die Entstehungszuständigkeiten mit Angaben wie »herausgegeben von«, »kommentiert von« und »bearbeitet von« kennzeichnen. Ein Unterschied liegt allerdings in der feingranularen Handhabung der wissenschaftlichen Editorschaft und Editorenfunktion. In der Printwelt definieren »herausgegeben von« und »bearbeitet von« sowohl Tätigkeiten als auch Hierarchien, insbesondere, was die wissenschaftliche Verantwortung für das Unternehmen angeht. Die digitale Handhabung von wissenschaftlicher Autorschaft (hier : Editorschaft) ist im Kern demokratischer angelegt. Es werden erstens die Leistungen im Einzelnen erkennbar : Die Standards der digitalen Textherstellung, wie sie die Text Encoding Initiative (TEI) seit den 1980er Jahren erarbeitet,10 ermöglichen es, die Zuordnung von editorischen Leistungen viel genauer zu kennzeichnen als es in Printeditionen möglich wäre. Jede einzelne Anmerkung oder editorische Entscheidung kann einer bestimmten Person (und einem bestimmten Bearbeitungszeitpunkt) zugeordnet werden.11 Damit steht zweitens keine Teamhierarchie im Vordergrund, sondern ein Kompetenznetz, das insgesamt die Edition zu tragen hat. Auf diesen letzten Aspekt will ich hier nicht tiefer eingehen, wohl aber auf den ersten: Wie kann diese Autorschaftszuordnung en d8tail gewährleistet werden, ohne zu Lasten des Workflows und der Leserlichkeit zu gehen? Diese Möglichkeit wird dadurch gegeben, dass eine digitale Edition im Grunde zwei Textebenen enthält: die Anzeige in HTML (das, was die NutzerInnen in ihrem Browser sehen) und den Quellcode, der wesentlich mehr Informationen enthält als die Anzeige (beim derzeitigen Stand der digitalen Editionsnutzung) anbieten kann.12 Zu den TEI-Grundregeln gehört eine klare Dokumentation aller Ar10 Die Text Encoding Initiative ist selbst eine breit angelegte Gemeinschaft (vgl. http://www.teic.org/ [21. 11. 2015]). 11 Diese können entweder in der Webanzeige unsichtbar sein und ausschließlich im Quellcode vorhanden sein oder beispielsweise in einem Pop-up-Fenster erscheinen, womit der Lesefluss nicht gestört wird. 12 Der Quellcode ist allerdings nicht immer konsultierbar. Alle oben genannten Empfehlungsrichtlinien unterstreichen jedoch, wie wichtig es ist, den Quellcode zur Verfügung zu stellen.

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beitsschritte, und damit aller Zuständigkeiten, die im Quellcode einsehbar sind.13 Je nach Projektmittel und -ziel wird diese Verzeichnung unterschiedlich genau gehandhabt; ein Pflichtelement in XML/TEI-Dokumenten ist sie aber grundsätzlich. Das primäre Ziel einer peniblen Aufzeichnung der Zuständigkeiten und Arbeitsschritte besteht darin, Fehler möglichst leicht nachvollziehen und beheben zu können. Es hat aber auch zur Folge, dass der Beitrag des Einzelnen nicht mehr mit pauschalen Ausdrücken wie »bearbeitet von« gekennzeichnet wird, sondern Schritt für Schritt rekonstruiert – und ausgewertet – werden kann. Die Grundanlage digitaler Editionen (mit einem XML-Quellcode einerseits und einer HTML-Anzeige andererseits) macht es also möglich, beliebig viele Editoren mitwirken zu lassen, da sie bei jedem Beitrag die Möglichkeit haben, diesen zu signieren, ohne dass es den Nutzer im Lesefluss stören würde. Die juristische und inhaltliche Verantwortung kann entsprechend immer auf den Einzelbeitrag und auf den entsprechenden Autor abgewälzt werden. Dies eröffnet ein breites Feld an Möglichkeiten wissenschaftlicher Zusammenarbeit, die in so detaillierter Form in der Printwelt nicht gängig ist. So ist in einer digitalen Edition nichts einfacher, als einen Sachkommentar von einem ausgewiesenen Experten verfassen zu lassen, der nicht zum primären Editorenteam gehört, und dies, ohne das Lektüreverhalten zu stören und den Ehrenkodex zu verletzen. Aber auch ›fremde‹ Zuarbeiten zum editorischen Prozess können viel weiter gehen als das Verfassen eines Einzelkommentars durch einen Fachspezialisten. Die oben zitierte Typologie der digitalen Editionen von Ray Siemens orientiert sich speziell an der Form der Einbettung textfremder Inhalte (supporting material) in das editorische Vorhaben. So gilt es insbesondere, den Inhalt und die Form solcher Beiträge genau zu bestimmen, die sowohl textfremde Informationen beinhalten, als auch durch die digitalen Technologien die Möglichkeit in sich bergen, von außen in die Edition integriert zu werden. Was gehört zur Edition und was nicht, wer gehört dazu und wer nicht? Es geht dabei um Informationen, die den Quelltext auf diversen Ebenen umrahmen: Metadaten informieren über die dokumentarische Quelle, linguistische Auszeichnungen über Wortarten, textgenetische Angaben über Zensurphänomene, Entitäten erlauben die (biographische, bibliographische, geographische etc.) Zuordnung von Eigennamen – um nur die gängigsten Verfahren zu nennen. Zur Illustration der Herausforderungen, die damit zusammenhängen, möchte ich einige Erfahrungswerte ins Spiel bringen, die ich im Rahmen der vierjährigen Entwicklung der digitalen Edition Briefe und Texte aus dem intel13 Die revision history ist ein Pflichtelement im Header (vgl. http://www.tei-c.org/release/doc/ tei-p5-doc/en/html/HD.html [21. 11. 2015]).

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lektuellen Berlin um 1800 gewonnen habe.14 Wie es der Titel andeuten möchte, enthält diese – in der Anzeige traditionell gehaltene Edition, die für jedes Dokument einen Scan der Handschrift, mehrere Transkriptionen und Zusatzinformation bereitstellt – unterschiedliche Textsorten von unterschiedlichen Autoren, die die literarische und geisteswissenschaftliche Tätigkeit im Berlin der Sattelzeit dokumentieren und interpretierbar machen. Dort werden unter einem gemeinsamen Auszeichnungsschema Texte diverser Gattungen zusammengeführt.15 Die Textaufbereitung qua Codierung (Annotation) weist zwei Schwerpunkte auf: Es geht einerseits darum, die Mechanismen der Textgestaltung zu erschließen (was wurde von den AutorInnen, ihren NachlassverwalterInnen und EditorInnen, im Laufe der Zeit gestrichen, hinzugefügt, verbessert?) und andererseits darum, die Mechanismen der Zusammenarbeit zu beobachten (wer hat in diesem Schreib- und Veröffentlichungsprozess was gestrichen, wer hat was von wem übernommen oder ist im Gegenteil von einer Lesart abgewichen?). Es werden damit sowohl die textuellen Phänomene erfasst (Streichungen, Hinzufügungen anhand der Handschrift) als auch die Zuordnung von Eingriffen und die Identifizierung von Erwähnungen von Personen und Werken. Führt man beide Ebenen zusammen, eröffnet sich die Möglichkeit, Zensur und Intertextualität großflächiger, und damit systematischer zu erforschen als es einzelne Fallbeispiele leisten können. Damit ist ein wichtiger Aspekt dessen angesprochen, was die Eigenart von digitalen Editionen ausmacht und der auch erklärt, warum diese nicht anders als im Zusammenschluss von Kräften und Ressourcen zu bewerkstelligen sind, nämlich: die Größenordnung. Digitale Editionen haben das Potential, vergleichsweise komplexe Informationsmengen miteinander zu verknüpfen. Die Edition Briefe und Texte zählt beispielsweise 12.000 Streichungen sowie über 6 000 verzeichnete Personen – alles Angaben, die manuell vorgenommen wurden. Dies ist sicherlich mit dem Apparat einer Mittel- bis Langzeitedition vergleichbar, aber mit dem Unterschied, dass im digitalen Bereich in der Regel mit einem wesentlich komprimierteren Zeitfenster gearbeitet wird. Die Förderzeit bis zur Präsentation der Ergebnisse ist in der Regel kürzer. Da, wo weniger Zeit zur Verfügung steht, bleibt nur noch die Möglichkeit, die Arbeit auf ungleich mehr Schultern zu verteilen. Dies bedeutet einerseits, extrem rationalisierte 14 Vgl. http://www.berliner-intellektuelle.eu [05. 09. 2016]. Diese Edition ist weder autor- noch gattungszentriert, sondern mit Blick auf eine spezifische Forschungsfrage entwickelt worden. Was damit gemeint ist, habe ich zusammen mit Anna Busch im Aufsatz »Berliner Intellektuelle um 1800« als Programm. Über Potential und Grenzen digitalen Edierens. In: Literaturkritik.de 16 (2014), H. 9, S. 40–54, erläutert (vgl. http://www.literaturkritik.de/pu blic/rezension.php?rez_id=19678& ausgabe=201409 [21. 11. 2015]). 15 Die Kodierungsrichtlinien können unter http://www.berliner-intellektuelle.eu/encodingguidelines.pdf [05. 09. 2016] heruntergeladen werden.

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Arbeitsvorgänge in Editorenteams auf die Beine zu stellen (klare Aufteilung der Aufgaben, effiziente Dienstwege, gut funktionierende gemeinsame Arbeitsumgebungen, zuverlässige Speicherungsmechanismen, ein realistischer Zeitplan, Anpassungsfähigkeit des Arbeitsprozesses und der Mitarbeiter) sowie – darauf weist ebenfalls das Siemens-Zitat hin – das Heranziehen externer Quellen via Hyperlinks. Wie komplex die Vorgänge sind, die externe Quellen heranziehen, lässt sich am Beispiel der biographischen Informationen gut zeigen. Bei den zahlreichen Personen, die in der Edition Briefe und Texte vorkommen, fanden sich einige Informationen online, die den Editoren zwar nicht immer zuverlässig genug erschienen, aber in Ermangelung anderer Quellen so leicht nicht von der Hand zu weisen waren – dies gilt nicht zuletzt für Wikipedia-Einträge. Aus Sicht der EditorInnen handelt es sich dabei um vorhandenes, nicht eigens produziertes, unter Umständen auch nicht gesichertes Wissen, im Falle von Wikipedia aber auch um Wissen, das womöglich zu einem späteren Zeitpunkt unter derselben URL durchaus richtig und gesichert sein kann (wenn z. B. bei einem WikipediaArtikel Belege fehlen, die jedoch zu einem späteren Zeitpunkt eingearbeitet werden könnten). Soll man sie einfach ignorieren oder behutsam mit einbauen? Auf alle Fälle gilt dabei, klar zwischen den Informationen zu unterscheiden, die als editionseigene und denjenigen, die als editionsfremd zu gelten haben. Biographische Informationen aus unterschiedlichen Quellen (einige archivalisch, andere bibliothekarisch, andere wissenschaftlich und auch solche wie die Wikipedia-Einträge) können mithilfe eines Wikipedia-Dienstes namens GND-BEACON zusammengeführt werden.16 Diese einfache technische Lösung wurde in unserer Edition eingebaut und so finden die NutzerInnen unter jedem biographischen Eintrag der Edition Briefe und Texte eine Liste von Links, die sie zu weiteren Online-Quellen führen, bei denen Informationen zur entsprechenden Person vorliegen (vorausgesetzt, die Zuordnung der GND-Nummer stimmt).17 Die Rückführung der Information auf den/die Autorin bzw. die Institution, die dahinter steht, ist immer möglich, da die Seiten verlinkt werden (und nicht etwa zitiert oder paraphrasiert: Die Inhalte bleiben an ihrem Ursprungsort). Auf diese Weise erhalten die NutzerInnen im biographischen Eintrag selbst die vom Editorenteam zusammengestellte und verantwortete Information, und sie haben darüber hinaus über eine Linkliste die Möglichkeit, weitere Ressourcen dazu zu konsultieren, ohne dass das Editorenteam beispielsweise für Wikipedia-Informationen zu bürgen hätte. Das GND-BEACON wird von einer Reihe namhafter Institutionen und Vor16 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:BEACON [21. 11. 2015]. 17 Zu GND-Nummern vgl. http://www.dnb.de/DE/Standardisierung/GND/gnd_node.html [21. 11. 2015].

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haben verwendet und hat sich insofern in der Praxis als qualitativ gesichertes Verfahren zur Wissensaggregation etabliert. Allerdings bleibt die Frage nach der Rechtslage von Hyperlinks eine heikle und selbst im Rahmen der durch Julia Reda initiierten Reform des europäischen Urheberrechts mit Blick auf die digitalen Herausforderungen eine noch nicht geklärte.18 Insofern hat man es bei dem GND-BEACON mit einem ziemlich interessanten – und nicht so geläufigen – Fall einer interinstitutionellen Kooperation zu tun, die auf gegenseitiger Anerkennung basiert und dennoch über eine in Wissenschaftskreisen berüchtigte Plattform wie Wikipedia zustande kommen konnte.19 Die Qualitätssicherung wird zum Teil durch die Mitwirkung namhafter Institutionen gewährleistet, zum Teil durch die gegenseitige Beobachtung über die Zeit und zum Teil durch ein Grundvertrauen auf den Verstand der NutzerInnen, die selbständig die gute von der schlechten Information zu scheiden im Stande sein müssen. Eine solche Kooperationsstruktur ist symptomatisch für die tatsächliche Verschiebung der editorischen Leistung im digitalen Bereich. Will man argumentieren, dass eine Edition nur vom Editorenteam zusammengestelltes Wissen anzubieten hat (was in der Printwelt wohl stimmen mag), widerspricht man der Verlinkung als einem der Grundprinzipien von digitalen Editionen – einem Prinzip, das in allen zitierten Empfehlungshandreichungen als fundamental erachtet wird: Denn die Möglichkeit zur Aggregation, zur Zusammenführung von Informationen aus diversen digitalen Quellen zur Steigerung des Erkenntnisgewinns ist konstitutiv für digitale Geisteswissenschaften. Damit hängt nicht zuletzt die Schwierigkeit zusammen, Autorschaft, wissenschaftliche Reputation und Zitierweisen von der Printwelt in die digitale Welt zu transponieren, denn Letztere wird durch Praxisgemeinschaften (communities of practice)20 strukturiert, während erstere auf der Kenntlichmachung der Einzelleistung beruht. 18 Im Entwurf für eine Richtlinie zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt vom 31. August 2016 wird die Nutzung von Links ermöglicht, jedoch ohne Zitat oder Kommentar aus der verlinkten Ressource, was die Nutzerfreiheit stark einschränkt (Kommentar von Julia Reda: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/leistungsschutzrecht-voellig-jenseits-von-gutund-boese-julia-reda-zum-eu-vorschlag-a-1110455.html und weitere Informationen dazu: https://irights.info/artikel/eu-kommission-urheberrecht-impact-assessment/27812 [02. 09. 2016]). 19 Zu Fragen der Anerkennung von Wikipedia-Beiträgen im geisteswissenschaftlichen Betrieb vgl. Anne Baillot u. Christof Schöch: Schreibt Wikipedia Biographien? Autorität und Reputation beim Verfassen biographischer Artikel. In: Christian Klein u. Falko Schnicke (Hg.): Legitimationsmechanismen des Biographischen. Kontexte – Akteure – Techniken – Grenzen. Berlin [u. a.] 2016, S. 299–320 (Autorenversion konsultierbar unter https://halshs.archivesouvertes.fr/halshs-01133239 [21. 11. 2015]). 20 Vgl. hierzu vor allem Siemens: Toward Modeling the Social Edition, S. 9f: »The term ›community of practice‹ refers to a group that forms around a particular interest, where individual members participate in collaborative activities of various kinds. Active involvement in the group is key ; through this involvement, group members ›develop a shared

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Wissenschaftliche Autorschaft stellt sich in der digitalen Welt wesentlich differenzierter dar als in der Printwelt. Der/die wissenschaftliche/r Autor/in ist der/die Verantwortliche für die Edition, aber auch die Person, die (in welchem Ausmaß auch immer) Kommentare schreibt, die Person, die (in welchem Ausmaß auch immer) biographische oder bibliographische Informationen zusammenführt, die Person, die die Datenarchitektur der Edition (bei Datenbanken wohl die Datenbankstruktur) konzipiert und umsetzt, die Person, die das Webdesign entwickelt etc. Während in der Printwelt der Verlag einer anderen Kompetenzsphäre zugeordnet wird als die Zusammenführung der im Objekt ›Buch‹ zu findenden Inhalte, gilt es in der digitalen Welt, das Objekt Edition als ein Ganzes zu betrachten, an dem unterschiedliche (darunter webdesignspezifische) Kompetenzen mitwirken, wobei jede dieser Kompetenzen zur Realisierung des Objektes notwendig ist. Auch die Art und Weise, wie eine Information vermittelt wird (per Link oder per Pop-Up? per Mouseover oder in einer extra Spalte angezeigt?), gehört zur Arbeit der digitalen EditorInnen, genauso wie die Transkription der Handschrift, die Kennzeichnung der Streichungen und die Mitwirkung an der Anreicherung von GND-Datensätzen. Wissenschaftliche Reputation basiert damit auch nicht mehr nur auf der Einzelleistung, sondern auf der Anschlussfähigkeit von zusammengetragenen Informationen und Informationsstrukturen. Damit stellt sich die Frage, wie eine Edition zitiert werden soll, wenn jeder einzelne, dazu geleistete wissenschaftliche Beitrag in die Zitierweise einzufließen hat und anders herum, wie jede(r) einzelne Beitragende seine Leistung auf der Publikationsliste aufzuführen hat: Denn darauf beruht ja weiterhin wissenschaftliche Reputation. In ihrer Grundanlage stellen also digitale Editionen eine ganze Reihe von Gewohnheiten im Bereich der Wissensproduktion und -anerkennung sowie der damit zusammenhängenden akademischen Mechanismen aus der Printwelt in Frage. Sie konfrontieren die Geisteswissenschaften mit der Frage, was eine geisteswissenschaftliche Leistung genau ist. In diesem Zusammenhang sei noch auf die Metadaten als besonders komplexen Fall der Autorschaftszuordnung hingewiesen. Metadaten gelten in der Regel als rechtefrei und können noch am ehesten die Verbindungsfunktion

repertoire of resources: experiences, stories, tools, ways of addressing recurring problems – in short a shared practice‹. Knowledge-building communities as a particular kind of community of practice take ›as an explicit goal the development of individual and collective understanding‹ (Hoadley and Kilner 2005, p. 33). In academe, we have noted communities of practice via varied names, and have described such large and now well-established initiatives as the Text Encoding Initiative – and even humanities computing and the digital humanities, earlier – in these terms; indeed, the digital humanities readily understand such collaborative formations (Inman et al., 2004).«

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zwischen verschiedenen Ressourcen gewährleisten.21 Sie können unterschiedlich umfangreich und genau sein und damit auch unterschiedlich verknüpfbar. Aber sie sind oft in formalisierten bzw. standardisierten Formaten (Daten im ISO-Format, Personen per GND-Nummer, etc.) erfasst und damit leichter aggregierbar als es Text und Auszeichnungen sind, die meist eine eigene Semantik haben. Metadaten ermöglichen es, dass der Scan einer Buchseite im Internet überhaupt gefunden werden kann, denn es kann online primär nach Text (z. B. Autorname, Schlagworte, Daten) gesucht werden. Metadaten ermöglichen auch die Übernahme von archivarischen und bibliothekarischen Informationen und sollten eigentlich umgekehrt auch die Übernahme von (wissenschaftlichen) Metadaten durch Bibliotheken und Archive ermöglichen. Diese Übergänge scheitern heutzutage nicht vorrangig an technischen Herausforderungen, die etwa mit den unterschiedlichen Formaten, die von Wissenschaftlern, Archivaren und Bibliothekaren verwendet werden, zusammenhängen. Sie kommen vor Allem deswegen nicht zustande, weil die Autorschaftskonzepte, die im akademischen bzw. im bibliothekarischen und archivarischen System vorherrschen, sich unterscheiden. Genau genommen gibt es im akademischen Bereich schlichtweg kein Konzept für Metadatenautorschaft über die TEI-Richtlinien hinaus. Das Potential an Erkenntnisgewinn, das mit einer kooperativen Nutzung von Metadatensätzen zusammenhängt, bleibt damit weitestgehend unausgeschöpft. So sind wissenschaftliche Editorenteams mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert, was die Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung einer digitalen Edition angeht. Umso verdienstvoller sind die Versuche, eine noch breitere Kollaboration bei philologisch angelegten Unternehmen anzustreben. Das haben jedoch – zugegeben, primär im anglo-amerikanischen Raum – unterschiedliche WissenschaftlerInnen versucht. Auf die Gestaltung und Ergebnisse solcher Vorhaben möchte ich nun im letzten Teil eingehen.

IV.

Crowdsourcing, social editing, gamification

Beim crowdsourcing handelt es sich um ein Verfahren, bei dem eine Gruppe Teilaufgaben übernimmt. Bei dieser Gruppe kann es sich entweder um eine feste Gruppe handeln, die Beiträge von außen (in der Regel registrierte Nutzer) zu einem bestimmten, strukturell vordefinierten Vorhaben betreut, oder um eine offene Gemeinschaft von Beitragenden (registriert oder nicht), die sich ihre

21 Auf genau dieser Prämisse beruht der Erfolg des Suchdienstes CorrespSearch, http://cor respsearch.bbaw.de/ [21. 11. 2015].

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eigenen Regulierungsregeln erarbeitet (letzteres ist bei Wikisource der Fall).22 Je nach Größe der Gruppe, Kompetenz ihrer Mitglieder und Anspruch des Vorhabens ist der Koordinationsaufwand anders gelagert. Im Bereich der Edition ist crowdsourcing das Grundprinzip der sogenannten social editions. Social editions sind so konzipiert, dass externe NutzerInnen am editorischen Prozess beteiligt sind. Es kann sich dabei um fachkompetente TeilnehmerInnen handeln; in der Regel ist es eher eine interessierte Öffentlichkeit im breiteren Sinne. Dies geht mit besonderen Herausforderungen einher. Ray Siemens unterstreicht nicht zuletzt, wie wichtig es bei crowdsourcingProjekten wie social editions ist, Kontrollinstanzen effizient zu gestalten: [B]ased on experience with humanities projects that have had extra-academic appeal and active engagement, many in our community have highlighted ways in which digital scholarship can welcome the contributions of participants from outside academia, via means of control and regulation that are not wholly foreign to processes used by humanists traditionally. The key to success in this instance is being very clear in our understanding of what it is we do, how we do it, and how we evaluate the results of what we’ve done across our pertinent activities, regardless of how we articulate, group, and model those activities.23

Wie Siemens es hier andeutet, ist eine sehr exakte Regulierung der Arbeitsabläufe nötig, damit das Verfahren Früchte tragen kann. Es verlangt insbesondere die Konzeption einer Kollaborationsumgebung, also einer Eingabemaske für die Erfassung von relevanten Textdaten, in der man sich als Beitragende/r vergleichsweise leicht zurechtfindet und ebenso intuitiv Beiträge einspeisen kann. Aspekte der Arbeitsergonomie spielen dabei eine wichtige Rolle. Das wohl bekannteste und erfolgreichste Beispiel eines solchen Unternehmens ist das Projekt Transcribe Bentham,24 das bereits 2010 vom University College London ins Leben gerufen wurde. Unter der Bezeichnung collaborative transcription initiative werden dort über 170 Kästen an handschriftlichem Material aus dem Nachlass Jeremy Benthams digitalisiert. Sie werden von den registrierten Nutzern transkribiert und der Öffentlichkeit anschließend zugänglich gemacht. Blog und Twitter-Account informieren über die Fortschritte der Transkriptionsarbeit; die fleißigsten Transkribenden werden namentlich benannt und öffentlich gelobt. Eine eigens zu diesem Zwecke erarbeitete Transkriptionsoberfläche macht das Herzstück des Unternehmens aus; sie ist im Laufe der Zeit verbessert und weiterentwickelt worden. Bei Transcribe Bentham wird das Material von der Institution zur Verfügung gestellt und digitalisiert; es handelt sich um eine geschlossene Sammlung, die es 22 https://de.wikisource.org/wiki/Hauptseite [21. 11. 2015]. 23 Vgl. Siemens: Toward Modeling the Social Edition, S. 10f. 24 http://blogs.ucl.ac.uk/transcribe-bentham [21. 11. 2015].

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ausschließlich zu transkribieren gilt.25 Anders bei den Letters of 1916,26 die sich wiederum eine »crowdsourced digital collection of letters« nennt und wozu zwei Arten von Beiträgen geleistet werden können: Es können zum einen Briefe transkribiert werden und zum anderen private, einschlägige Briefe eingereicht werden.27 Also geht es zeitgleich mit ihrer Transkription auch darum, die Sammlung zu konstituieren. Letters of 1916 wird an der Universität Maynooth durchgeführt und ist um ein für die irische Nation konstitutives Ereignis konzipiert, nämlich den Aufstand von Ostern 1916. Die Partizipation einer interessierten Öffentlichkeit wird durch die Wahl dieses einen, Identifikation stiftenden historischen Ereignisses befördert, wobei auch die Gattung Brief, an der Schnittstelle zwischen Historizität und Privatheit, sicherlich bewusst als weiterer Ansporn zur Beteiligung eingesetzt wurde. Die Transkriptionsoberfläche ist so konzipiert, dass der Beitragende über Themen einsteigen soll. Letters of 1916 hat im September 2014 begonnen. Die Plattform hat eine Reihe von Features übernommen, die sich bei Transcribe Bentham bewährt haben: die Social Media-Präsenz, die Webseite in Form eines Blogs. Trotz des großen Designaufwandes ist der Erfolg jedoch noch bescheiden – nicht zuletzt weil das Redaktionsteam, das mit der Kontrolle der externalisierten Transkriptions- und Sammlungskonstitutionsvorgänge betraut ist, nicht groß genug ist, um mit den eingespeisten Beiträgen Schritt zu halten. Ein Weg, um die aufwendige Korrektur- und Nachredaktionsarbeit geringer zu halten, besteht darin, ein System der gegenseitigen Korrektur der Beitragenden einzurichten. Von der Prämisse ausgehend, dass Wissen (insbesondere was nicht-analytische Verfahren, d. h. beispielsweise Transkriptionen oder in einem geringeren Ausmaß Beschreibungen, angeht) grundsätzlich konvergiert, kann man mehreren Personen die gleiche Handschrift zur Transkription vorlegen und dem Computer die Transkription »beibringen«, welche die Mehrheit der Transkribenden für richtig erachtet hat. Dafür braucht es aber eine sehr große mitwirkende Gruppe, um statistisch einigermaßen zuverlässige Ergebnisse zu erreichen. So funktionieren beispielsweise captchas,28 wobei ausgerechnet captchas ein Paradebeispiel dafür sind, dass ein solches Verfahren bei sehr kurzen Texteinheiten funktioniert, die von enorm vielen Menschen bearbeitet werden. In dem Moment, in dem größere Texteinheiten aufbereitet werden sollen, muss bei den externen TeilnehmerInnen eine starke intrinsische Motivation vorhanden sein, damit diese sich die nötige Mühe machen. Eine solche 25 Ebenso bei Europeana, http://www.transcribathon.eu/ [21. 11. 2015]. 26 http://dh.tcd.ie/letters1916/ [21. 11. 2015]. 27 Eine reine Sammelaktion ist das Projekt Liebesbriefarchiv, https://liebesbriefarchiv.word press.com/ [21. 11. 2015], das allerdings von Wissenschaftlerinnen getragen wird und wissenschaftlich ausgewertet werden soll. 28 https://de.wikipedia.org/wiki/Captcha [21. 11. 2015].

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Motivation hervorzurufen, verlangt vertiefte Überlegungen zur Nutzerfreundlichkeit. In den oben genannten Fällen ist es mit Sicherheit die persönlichöffentliche Relevanz, die vom zu edierenden Text ausging, die als Kooperationsansporn ausschlaggebend war. So weist das wissenschaftliche Unternehmen ein offensichtliches Interesse für eine breitere Öffentlichkeit auf. Das kann ein national relevantes historisches Ereignis, aber auch ein bestimmtes Thema oder eine Quelle sein29 – oder die Form, in der die Bearbeitung des Korpus angeboten wird. Es hat sich weiterhin gezeigt, dass potentielle externe TeilnehmerInnen eher dazu geneigt sind, sich produktiv an einem Projekt zu beteiligen, wenn es spielerischen Charakter hat als wenn es nach ›Arbeit‹ aussieht. So erreicht auch gamification30 als Interaktionsoberfläche mit spielerischen Zügen die Geisteswissenschaften, wie es das erfolgreiche Spiel ARTigo31 beweist, das am Institut für Kunstgeschichte der LMU München entwickelt wurde. In ARTigo bekommen (unregistrierte) NutzerInnen das Bild eines Kunstwerkes angezeigt, bei dem sie 30 Sekunden zur Verfügung haben, um passende Schlagworte zu assoziieren, die in ein kleines Fenster unter dem Bild eingetippt werden. Die Stoppuhr läuft zeitgleich bei einem/einer (unbekannten) Konkurrenten/Konkurrentin, der/die das gleiche Bild auch angezeigt bekommt. Die Anzahl der vom Gegner/von der Gegnerin angegebenen Schlagworte sowie die Stärke der Schlagworte, die man selbst angibt (d. h. wie oft sie bereits angegeben wurden und damit auf das Bild zutreffen), werden ununterbrochen aktualisiert. So entsteht ein Wettbewerb mit einem/einer unbekannten Konkurrenten/Konkurrentin, wer am schnellsten mehr treffende Schlagworte zum angezeigten Kunstwerk eingeben kann. Eine Runde dauert 2 12 Minuten bei 5 Kunstwerken. In einem zweiten Schritt der Spielentwicklung wurde eine Tabu-Version eingebaut, bei der bestimmte Schlagworte nicht verwendet werden dürfen – mit dem Ziel, Anzahl und Bandbreite der mit einem Bild assoziierten Schlagworte zu erweitern. Registrierte NutzerInnen können ihre Leistungen speichern. 29 Vgl. den erstaunlichen Erfolg der social edition des Devonshire Manuscript, die über ein wiki bewerkstelligt wurde, https://en.wikibooks.org/wiki/The_Devonshire_Manuscript [21. 11. 2015]. 30 Über die Definition von gamification lässt sich streiten; eine gute Klarstellung bietet die Einleitung zur Bibliographie Concerning Game-Design Models for Digital Social Knowledge Creation (http://www.erudit.org/revue/memoires/2014/v5/n2/1024783ar.html [21. 11.2015]): »definitions of gamification provoke an array of opinions. While the term is often used in an ambiguous sense, referring to all game-like or gaming-inspired instances in non-gaming contexts, many scholars justly differentiate between gamification, serious games, playful design, and other related approaches. Sebastian Deterding et al. (2011) offer a well-articulated definition, stating that gamification is ›the use of game design elements in non-game contexts‹ (p. 2), but they also note that gameful design may be a better term for use within academic contexts, since it carries less baggage than gamification (p. 6)«. 31 https://www.artigo.org/ [21. 11. 2015].

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Ähnlich hat das DFG-geförderte Personendatenrepositorium mit einem Spiel versucht, der crowd die Zuordnung von GND-Nummern nahezulegen32 – mit geringem Erfolg. Der Ansporn, (virtuelle) Goldstücke zu sammeln, reicht wohl kaum noch für ein Publikum, das an wesentlich greifbarere Anreize gewohnt ist. Nicht selten sind bei Computerspielen nämlich die virtuellen Goldstücke in richtiges Geld umwandelbar : Das marktwirtschaftliche Potential von Computerspielformen ist von Privatunternehmen erkannt und ausgelotet worden, die in diesem Bereich Maßstäbe setzen.33 Anreiz und Belohnung gehören nun zum (digitalen) Alltag, in dem sich das Spielerische und das Nicht-Spielerische oft vermischen, bzw. das letzte unter dem Vorhang des ersten versteckt ist. Es braucht entsprechend eine kluge Form der Einbettung von spielerischen Elementen (wie bei ARTigo die Kombination von schönen Bildern, Wettbewerb, Zeitdruck und virtueller Präsenz einer großen Masse von ›MitspielerInnen‹) und Bestimmung des wissenschaftlich erhofften Ertrags, um einen öffentlichen sowie wissenschaftlichen Erfolg zu erreichen. Dass ARTigo es als bildbasiertes (kunsthistorisches) Spiel leichter hat als textbasierte (philologische) Vorhaben, liegt nicht zuletzt an der anderen Medialität des zu erkundenden digitalen Artefakts. In ARTigo bestimmen die NutzerInnen selbst, welche Begriffe sie mit den angezeigten Gemälden bzw. Artefakten assoziieren – dieses Verfahren zumindest ist nicht auf die Kunstgeschichte beschränkt. Die so gewährte Freiheit in der Entscheidung über die zu verwendende Annotationsbegrifflichkeit, die dem Zuarbeiter freigestellt wird, wird folksonomy genannt: Collaborative or social tagging is ›the process by which many users add metadata in the form of keywords to shared content‹ (Golder and Huberman 2006). The term now most often used to describe this type of user-generated cataloguing is folksonomy, which is defined as ›the result of personal free tagging of information and objects […] for one’s own retrieval. The tagging is done in a social environment (usually shared and open to others). Folksonomy is created from the act of tagging by the person consuming the information‹ (Vander Wal 2007). The English Broadside Ballad Archive (http://emc.english.ucsb.edu/ballad_project) uses a type of ›user-generated metadata‹ (Mathes 2004) to manage and catalogue images. Other applications that manage knowledge using folksonomy include many 14 media sharing sites such as Flickr.34

32 http://pdrprod.bbaw.de/gnd/ [21. 11. 2015]. 33 Dies wird ebenfalls in der Einleitung zur Bibliographie nahegelegt: »Because games are so effective at capturing attention and driving engagement, companies and organization can encourage forms of free immaterial labour from users and find veiled means of driving profits and success rates by applying gamification methods« (http://www.erudit.org/revue/ memoires/2014/v5/n2/1024783ar.html%20 [21. 11. 2015]). 34 Siemens: Toward Modeling the Social Edition, S. 13f.

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Folksonomy-Verfahren erlauben Beiträge zur Annotation,35 sind allerdings nur begrenzt mit standardisierten Auszeichnungsformaten kompatibel und lassen sich kaum auf komplexere Vorgänge wie Transkriptionen erweitern. Komplexere philologische Verfahren wie die Interpretation lassen sich noch schwieriger in Spielform produktiv umsetzen. Genau das wurde im Rahmen des Spiels IVANHOE versucht, das zu Beginn der 2000er Jahre entwickelt wurde.36 Im Rahmen eines Rollenspiel-Settings macht jede/r Spieler/in Vorschläge zur Textinterpretation bzw. -veränderung, die dann von den anderen SpielerInnen evaluiert werden. Ähnlich wie in traditionellen Rollenspielen dauert eine Spielrunde eine begrenzte Zeit (einige Tage) und wird mit einer begrenzten Anzahl an TeilnehmerInnen durchgeführt, die nacheinander unter der Leitung eines Spielführers agieren. Jede Spielrunde basiert auf einem bestimmten literarischen Werk; der Name des Spiels ist darauf zurückzuführen, dass Walter Scotts Roman die Grundlage für die allererste Spielrunde ausmachte.37 Nachdem mit einfachen Kommunikationsmitteln angefangen wurde, hat man die Spielentwicklung nach einer Weile in eine digitale Umgebung umgelagert, die insbesondere Visualisierungen der narratologischen und textuellen Ergebnisse enthielt. Die visuelle Realisierung erwies sich als eine Herausforderung für die Spielentwickler, wie Drucker und Rockwell selbst zugeben: »The design of the interface taught us a great deal about what doesn’t work, and the conceptual difficulty of making Ivanhoe’s intellectual issues clear through visual structures.«38 Anstatt die Komplexität des interpretativen Prozesses im Spielumfeld zu reduzieren, werden bei IVANHOE durch die Spielregeln und durch die Ansprüche an die Visualisierung neue Komplexitätsschichten zur interpretativen Leistung hinzugefügt. Deshalb – sowie aufgrund der Struktur der Spielgruppen – handelt

35 Kollaborative Annotation ist ein Bereich, in dem eine Vielzahl an Tools entwickelt worden ist; vgl. ebd., S. 12: »Collaborative Annotation: A chief scholarly primitive, annotation is crucial to scholarly editorial activities. While older models privilege the annotations of a single editor, social tools such as BioNotate (http://bionotate.sourceforge.net), Google Wave (http://wave. google.com), digress.it; formerly CommentPress), Reframe it (http://reframeit.com), and Diigo (http://www.diigo.com) allow for community knowledge creation.« – Vgl. neuerdings auch PUNDIT (http://thepund.it/ [21.11. 2015]). 36 Vgl. http://www.ivanhoegame.org/ [21. 11. 2015]. Eine Sonderausgabe von Text Technology (12 [2003], H. 2) wurde der Entwicklung des Spiels gewidmet (vgl. http://texttechnology. mcmaster.ca/archives.html. [21. 11. 2015]). Inzwischen wird das Spiel vom Scholars Lab weiterentwickelt (http://ivanhoe.scholarslab.org/ [21. 11. 2015]). 37 Die Komplexität der gesamten Spielregeln lässt sich hier nicht en d8tail wiedergeben. – Vgl. http://www.rc.umd.edu/pedagogies/commons/innovations/IVANHOE/ivanhoekirschen baum.html [21. 11. 2015] und http://web.archive.org/web/20091027231737/ http://www.specu lativecomputing.org/greymatter/ivanhoe/rules.html [21.11. 2015]. 38 http://texttechnology.mcmaster.ca/pdf/vol12_2_01.pdf [21. 11. 2015], S. IX.

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es sich um ein kollaboratives Umfeld, das für den Klassenraum geeigneter ist als für eine breitere, interessierte Öffentlichkeit.39 Der Balanceakt zwischen Einfachheit (des Settings) und Komplexität (der Ergebnisse) steht bei der Entwicklung von kollaborativen, philologisch relevanten Spielen stets im Mittelpunkt. Doch nicht nur spielerische Umgebungen erlauben es, eine breitere Öffentlichkeit an der Erzeugung bzw. Verbreitung von philologischen Erträgen mitwirken zu lassen. Neben Wikipedia können ebenfalls soziale Medien zu diesem Zweck eingesetzt werden.40 Je nach geographischem Raum und je nach Disziplin ist diese Nutzung unterschiedlich ausgeprägt. In der heutigen deutschsprachigen philologischen Praxis bleibt die Verwendung von sozialen Medien zu wissenschaftlichen Zwecken ein Nischenphänomen.41 Ein wichtiger Grund dafür ist sicherlich, dass die Zuordnung von Autorschaft im Ideenaustausch und die Zitierfähigkeit beispielsweise von Tweets, die nicht mehr als 140 Zeichen enthalten dürfen (wohl aber Links, Bilder oder Videos) für wissenschaftlich unsolide gehalten werden. Auch die Instabilität dieser Beiträge spielt hier eine Rolle (Twitter ist eine Privatfirma, die ihre Streuungs- und Archivierungsstrategien immer wieder ändert).42 Dabei werden in Tweets Hilfestellungen zu Quellen, Handschriftentranskriptionen, Übersetzungen etc. angeboten. Dieses Potential bleibt noch weitestgehend unausgelotet. Auch an dieser Stelle hat man es mit einer Art Verweigerung der Anerkennung gegenüber Kommunikationsmitteln oder Arbeitsumgebungen zu tun, die kollaborative Wissenserzeugung vereinfachen, beschleunigen, ja schlicht ermöglichen. Dabei steht im Fall von sozialen Medien nicht zwangsläufig die Einbindung der breiten Öffentlichkeit im Mittelpunkt, sondern primär der Austausch innerhalb der

39 IVANHOE ist deswegen ein einmaliges Beispiel, weil es so angelegt ist, dass die SpielerInnen tatsächlich Interpretationsvorschläge machen können. Die Liste der Videospiele, die auf der Grundlage eines literarischen Werkes konzipiert wurden (aber als reine Konsumprodukte angelegt sind), ist lang. – Vgl. für den englischsprachigen Raum https://en.wikipedia.org/ wiki/Category :Video_games_based_on_novels [21. 11. 2015] (es ist keine entsprechende deutsche Seite vorhanden). 40 Vgl. http://web.uvic.ca/~siemens/pub/2011-SocialEdition.pdf [21. 11. 2015], S. 8: »Articulated initially in 2004, the computational model was built by 2007 or so and, as reported at the conference The Shape of Things to Come (U Virginia, 2010), this work was stalled ca 2008 with the realization – after we brought our computational model to some of the same expert, professional readers in the user groups with which we’d consulted initially in the formulation of our model (itself reported, partly, in Siemens et al. 2009) – that expert readers in our discipline were beginning to incorporate social media tools, seemingly as they emerged, in their standard activities without explicit identification of them as such, seeing them as natural extensions of the way in which they had always carried out their work.« 41 Bei Historikern erfreut sich der Twitter-Leitfaden von Mareike König zunehmender Beliebtheit (http://dhdhi.hypotheses.org/1072 [21. 11. 2015]). 42 Diesen – und eine Reihe anderer einschlägigen Hinweise zum Gegenstand dieses Artikels – verdanke ich Christof Schöch.

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Fachgemeinschaft oder eines Kompetenznetzwerkes – also einer crowd, die sich tatsächlich durch eine gewisse ›Weisheit‹ ausweisen kann.

V.

Fazit

Kollaborative Arbeitsmethoden stellen ein zentrales Prinzip philologischen Arbeitens in Frage: die Autorität.43 Mit Autorität hängen andere Aspekte zusammen, auf denen die philologische Tradition im deutschsprachigen Raum basiert: die Evaluation von Kompetenz, die Definition von wissenschaftlicher Autorschaft, die Berücksichtigung von akademischen Hierarchien, die ab- oder zugewiesene Legitimität bei den unterschiedlichen philologischen Tätigkeiten (vom Kopieren und Lesen über die Textkritik und Kommentierung bis hin zum Interpretieren), die Kriterien der Zitierfähigkeit.44 Digitale Arbeitsmethoden untergraben – weil sie in ihren Strukturen kollaborativ angelegt sind und weil sie das damit zusammenhängende Kooperationspotential explizit ausloten wollen – ein solches, autoritätsbasiertes philologisches Arbeiten. Die hier angeführten Beispiele aus dem nordamerikanischen Raum, wo wichtige Texttheoretiker die Entwicklung von sozialen Editionen und Online-Spielen anregen, zeigen, dass dieser historisch angelegte Gegensatz zwischen der Autorität des Einzelnen und der Mitwirkung einer breiteren Gruppe andernorts bereits überwunden ist. Zielführend kann es jedoch nicht sein, die deutschsprachige gegen die nordamerikanische philologische Tradition auszuspielen. Der Blick nach außen kann allemal dazu dienen, den Bereich des Möglichen aufzuzeigen.45 Denn 43 Vgl. Siemens: Toward Modeling the Social Edition, S. 16f.: »The integration of social tools into the electronic scholarly edition pushes the boundaries of authority further, shifting power from a single editor, who shapes the reading of any given text, to a group of readers comprising a community whose interpretations themselves form a new method of making meaning out of the material. In a social edition, textual interpretation and interrelation are almost wholly created and managed by a community of users participating in collective and collaborative knowledge building using Web 2.0 technologies. Further, in expanding the community of practice – beyond a single editorial entity, to an academic group, and even beyond that group into citizen scholars – we cannot avoid challenging current notions of personal and institutional authority, and the systems in which they are perpetuated; the social edition privileges a new kind of scholarly discourse network that eschews traditional institutionally-reinforced hierarchical structures and relies, instead, upon those that are community-generated.« 44 Vgl. Siemens: Toward Modeling the Social Edition, S. 11f.: »Here, issues of device and interaction platform arise, as do those around commenting and annotation, collaborative reading and learning, referencing and citation systems, peer review and identity, and patterns of use specific to academic use of social media and the scholarly use of social media by those in communities beyond academe, and, above all, collaboration«. 45 Ganz unproblematisch sind die von mir dargestellten philologischen Vorhaben auch nicht, nicht zuletzt mit Blick auf die Förderpolitik für die Geisteswissenschaften in den USA.

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schaut man genau hin, reicht die Rückbesinnung auf die originäre Symphilologie der Zeit um 1800, um sich bewusst zu werden, dass die Ansprüche auf autoritäre Leistung sehr wohl mit kollektiven Strukturen kompatibel sind, ist doch das Zeitalter des romantischen Genies auch das des akzeptierten kooperativen Austauschs, ja gar der Kollaborationen, in denen der einzelne Mitarbeiter unter dem Kollektiv eines zum Markenzeichen gewordenen Autorennamens verschwindet. Und auch den Symphilologen der Zeit um 1800 war Einiges nicht fremd, was womöglich – digital oder nicht – zurückgewonnen werden könnte: die Lust am Spielerischen, die ironische Distanz zu etablierten sozialen Modellen und die Freude am Text. Diese Qualitäten prägen die heutigen, digitalen Textwissenschaften, die sich vielleicht auch deswegen mit Typologien schwertun, weil sie sich selbst noch in einer Phase der Annäherung verorten. Wissenschaftliche digitale Editionen sind heute gleichzeitig darum bemüht, sowohl Qualitätsstandards zu etablieren als auch die medialen Möglichkeiten auszuschöpfen, die ihnen zur Verfügung stehen. Die Frage nach der Anerkennung ihrer kollaborativen Strukturen (auf den unterschiedlichen Ebenen, die hier angesprochen wurden) macht die Spannung zwischen diesen beiden Aspekten greifbar, die ihr zugrunde liegen. Selbst wer bei der Antwort auf diese Frage zögert, kann das Erkenntnispotential, das in diesen Strukturen liegt, ausgerechnet für die Arbeit am Text nicht leugnen.

Hans-Jürgen Lüsebrink

Von der Begriffsgeschichte zur Diskursanalyse. Formen und Potentiale interdisziplinärer Kooperation zwischen Sprach-, Kultur- und Geschichtswissenschaften

I.

Interdisziplinarität – Künstlichkeit und Unumgänglichkeit

Der Begriff ›Interdisziplinarität‹ stellt – seit über 40 Jahren – eines der meist verwendeten und zugleich in starkem Maße valorisierten Konzepte in der internationalen Wissenschaftsdiskussion und -politik dar. Die Definitionen dieses Begriffs sind vielfältig, vor allem bezüglich der Nuancen, die mit ihm verbunden werden, aber sie konvergieren hinsichtlich einer durchgehend positiven Bewertung. Marilyn Armey und Dennis Brown definieren ihn beispielsweise wie folgt: The starting place of this multiple disciplinary effort is to purposely bring together members from various fields to apply their expertise in successfully resolving complex problems. Unlike traditional faculty work, the intent is to have the faculty come together intellectually. The purpose is for faculty to think collectively in generating strategies that utilize the strenghts of their individual expertise in a more genuinely integrated way.1

Ein französisches Autorenkollektiv unter Leitung der Kommunikationswissenschaftler Dominique Wolton und Max Poty definierte im Jahre 2009, in einem programmatischen Werk mit dem Titel Pour une nouvelle recherche, Interdisziplinarität als ›Annäherung und Erlernen des Miteinanders zwischen verschiedenen Disziplinen und Wissensformen‹ (»le rapprochement et l’apprentissage de la cohabitation entre des disciplines et des savoirs diff8rents«).2 Neben dem Begriff ›Interdisziplinarität‹ sind in der Wissenschaftsdiskussion weitere Termini zu finden, die zum Teil synonym verwendet werden, wie vor allem der Begriff ›Transdisziplinarität‹, der im allgemeinen stärker auf die gemeinsame Axiomatik oder (epistemologische) Grundlage verschiedener Wis1 Marilyn J. Amey u. Dennis F. Brown: Breaking out of the Box. Interdisciplinary Collaboration and Faculty Work. Greenwich/CT 2004, S. 2. 2 Max Poty, Dominique Wolton [u. a.]: Pour une nouvelle recherche. Ploge de l’interdisciplinarit8. Manifeste. Nizza [u. a.] 2009, S. 8.

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senschaftsdisziplinen abhebt;3 sodann der Begriff ›Multidisziplinarität‹, der eher die Nebeneinanderstellung – und weniger die systematische Verzahnung – unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen betont;4 und schließlich der Begriff ›Pluridisziplinarität‹, den Jean-Paul Resweber wie folgt von dem Terminus ›Interdisziplinarität‹ abgrenzt, indem er mit letzterem die Zielsetzung einer systematischen Verknüpfung der methodischen und theoretischen Ansätze verschiedener Wissenschaftsdisziplinen verbindet: L’interdisciplinarit8 relaie la pluridisciplinarit8 en exploitant les pr8suppos8s, l’objet, la m8thode et les r8sultats qu’elle lui fournit. Elle va donc plus loin dans l’analyse et la confrontation des conclusions. Elle ne se contente pas d’une simple mise en pr8sence des disciplines, car elle cherche / utiliser cette mise en pr8sence pour tenter d’op8rer une synthHse entre les m8thodes utilis8es, les lois formul8es et les applications propos8es.5

Interdisziplinarität als Begriff und Wissenschaftskonzeption zielt also in erster Linie auf eine systematische und integrative Kooperation zwischen unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen ab, die im Rahmen eines bestimmten Forschungsfeldes (oder Untersuchungsgegenstandes) erfolgt und auf der Grundlage gemeinsamer Fragestellungen beruht. Als reflektierte und systematische Form der Überschreitung disziplinärer Grenzen erscheint ›Interdisziplinarität‹ häufig als postmoderne Antwort auf jene Fachgrenzen, die sich im 19. Jahrhundert mit dem Humboldt’schen Universitätsmodell und der Entstehung des modernen Fächerspektrums herausgebildet hatten. Dieses wurde, zunächst im Kontext des Kolonialismus, dann im Zuge der Globalisierung okzidentaler Wissenschaftsparadigmen und -konzeptionen und im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts weltweit transferiert und kulturraumspezifisch adaptiert. Die Valorisierung von Interdisziplinarität durch Institutionen der Forschungsförderung, und großenteils auch durch die Hochschulen selbst, basiert vor diesem Hintergrund vor allem auf vier Gründen. Der erste Grund liegt zweifelsohne in der Entwicklung der empirischen Gegenstandsbereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften, ebenso wie der Naturwissenschaften, die in immer geringerem Maße den – überwiegend am Anfang des 19. Jahrhunderts gezogenen – Fächergrenzen entsprechen. Obwohl seitdem – vor allem um 1900 und dann seit Ende der 1960er Jahre – zahlreiche 3 Guy Palmade: Interdisciplinarit8 et id8ologies. Paris 1977, S. 22f., der ›transdisciplinarit8‹ als »mise en œuvre d’une axiomatique commune d’un ensemble de disciplines« begreift und ›pluridisciplinarit8‹ als »juxtaposition de disciplines plus ou moins ›voisines‹ dans le domaine de la connaissance.« – Vgl. entsprechend Jean-Paul Resweber : La m8thode interdisciplinaire. Paris 1981 (Collection Crois8es), S. 71, der ›pluridisciplinarit8‹ in gleicher Weise wie folgt versteht: »On peut la d8finir comme 8tant la mise en pr8sence de plusieurs disciplines.« 4 Palmade: Interdisciplinarit8, S. 22f.: »juxtaposition de disciplines diverses, parfois sans rapport entre elles.« 5 Resweber : La m8thode interdisciplinaire, S. 75.

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neue Disziplinen geschaffen wurden, wie etwa die verschiedenen Philologien, die sich mit außereuropäischen Sprachen und Kulturen beschäftigen (wie Sinologie, Islamwissenschaft etc.), Gender Studies, Kulturwissenschaft, Interkulturelle Kommunikation, Kognitionswissenschaft und Informations- und Kommunikationswissenschaften6 – und obwohl sich Inhalte, Fragestellungen, Theorieansätze und Methoden der Fächer seit dem 19. Jahrhundert zum Teil grundlegend verändert haben, sind die Fächermatrix und ihre vor allem in den Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften weiterhin grundlegende nationalkulturelle Fundierung nicht wesentlich verändert worden. Anders als die Fächer selbst scheinen interdisziplinäre Studiengänge und Forschungsprojekte sowie Studienprogramme (study programs im anglo-amerikanischen Sinn) somit weit eher den Praxisanforderungen und -herausforderungen zu entsprechen. Zweitens hat die Entwicklung der area studies (Kulturraumstudien) insbesondere seit den 1980er Jahren dazu geführt, traditionelle Fächergrenzen in Frage zu stellen und aufzubrechen. In den 1920er Jahren in den USA institutionell begründet, u. a. durch die Asienprogramme der Universitäten Yale und Columbia (New York) und das 1923 ins Leben gerufene, von der Rockefeller Foundation geförderte Institute for the Study of the Middle East an der University of Chicago sowie in den 1930er Jahren durch die Lateinamerikainstitute an den Universitäten Michigan und Kalifornien, haben die interdisziplinär (bzw. häufig multidisziplinär) ausgerichteten Kulturraumstudien während des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges einen ersten nachhaltigen Aufschwung erlebt. Die 1980er und 1990er Jahre markieren, gerade in Europa, eine zweite Phase der Entwicklung interdisziplinär ausgerichteter area studies. Diese war mit dem Aufschwung der Europaforschung (vor allem seit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht 1992) und der Herausbildung der postkolonialen Studien verknüpft, die zur Gründung zahlreicher Europazentren sowie interdisziplinärer Studien- und Forschungszentren zu Afrika (u. a. an der Universität Bayreuth), China, Indien und dem Mittleren Osten führte. Indem sie verschiedene Disziplinen um ein kulturraumbezogenes Untersuchungsfeld gruppierten, sind area studies durch eine grundlegende Multidisziplinarität gekennzeichnet, die sich häufig, je nach Entwicklungsdynamik der Institution, zu Formen der Interdisziplinarität hin entwickelt. Drittens hat die rasante Entwicklung interdisziplinärer Zusammenarbeit in den Naturwissenschaften (und generell in den MINT-Fächern) seit den 1950er 6 Vgl. zur paradigmatischen Rolle der Sciences de l’Information et de Communication (SIC) in Frankreich Jo[l Lebeaume u. Abdelkrim Hasni: R8formes curriculaires et interdisciplinarit8 en France et au Qu8bec. In: dies. (Hg.): Interdisciplinarit8 et enseignement scientifique et technologique. Sherbrooke 2009, S. 11–16, hier S. 12.

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Jahren, besonders in Bereichen wie der Physik, der Biologie, der Informatik und der Medizin, durch die neue disziplinäre Interferenzfelder wie Medizininformatik und Nanowissenschaften entstanden sind, für die gesamte Wissenschaftslandschaft ein neues Forschungsparadigma geschaffen, das auch auf die Geisteswissenschaften ausgestrahlt hat. Durch die zunehmende Entwicklung ›transversaler‹ Fragestellungen, Theorieansätze und Methoden stellen interdisziplinäre Kooperationsformen in den MINT-Fächern nicht mehr die Ausnahme, sondern häufig die Regel dar. Viertens schließlich entsprechen Interdisziplinarität und die hiermit verbundene Aneignung spezifischer Wissens-, Erkenntnis-, Lern- und Arbeitskompetenzen in wachsendem Maße den Anforderungen des akademischen Arbeitsmarktes, auch – und vielleicht in noch stärkerem Maße – außerhalb des Hochschulbereichs. Bewegen sich die Anforderungen für eine Karriere im Unterrichtswesen (Schul- und Hochschulbereich) weiterhin in deutlich disziplinären Bahnen und Profilen, so verlangt der außerschulische und außeruniversitäre Arbeitsmarkt zunehmend nach Kompetenzen, die Fächer wie Wirtschaftswissenschaften, Kulturwissenschaften, Fremdsprachenphilologien und Interkulturelle Kommunikation miteinander verbinden und nur trans- und interdisziplinär erworben werden können. Die Autoren des Werkes Interdisciplinarity for the Twenty-First Century unterstreichen in dieser Perspektive die zunehmende Bedeutung von interdisziplinären Kompetenzen auf dem globalisierten Arbeitsmarkt der heutigen Wissensgesellschaften: »Interdisciplinarity has become increasingly important for emergent professions of the twenty-first century yet there is a dearth of systematic studies aimed at implementing it in the school and university curricula.«7 Obwohl Interdisziplinarität aus den genannten Gründen, und trotz einer häufig beobachtbaren ›Resistenz‹ der etablierten Fächer, in den letzten Jahrzehnten auch in den Geisteswissenschaften eine bemerkenswerte Entwicklung erlebt hat, lassen sich verschiedene Ausprägungsformen von Interdisziplinarität unterscheiden. Diese verweisen gleichfalls auf unterschiedliche Formen der Intensität interdisziplinärer Kooperation. Die kooperative Interdisziplinarität setzt erstens zwei oder mehrere Fächer in Beziehung, beispielsweise als Co-Organisatoren von Kolloquien oder gemeinsamen Forschungsprojekten, weil der Gegenstandsbereich und die mit ihm verbundenen Fragestellungen es notwendig oder unumgänglich erscheinen lassen. Klassische Konfigurationen einer kooperativen Interdisziplinarität stel7 Bharath Sriraman u. Viktor Freiman (Hg.): Interdisciplinarity for the Twenty-First Century. Proceedings of the Third International Symposium on Mathematics and its Connections to Arts and Sciences, Moncton 2009. Charlotte/NC 2011 (Montana Mathematics Enthusiast; Monographs in Mathematics Education Bd. 11), Buchrückseite.

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len die Zusammenarbeit zwischen Historikern und Literaturwissenschaftlern sowie die Kooperation zwischen Linguisten und Literaturwissenschaftlern dar. Publikationsorgane wie die Zeitschrift Annales E.S.C. in Frankreich und Linguistik und Literaturwissenschaft sowie Sprache im Technischen Zeitalter in Deutschland haben diese Form der interdisziplinären Zusammenarbeit vor allem seit den 1960er Jahren entscheidend gefördert. Die integrative Interdisziplinarität lässt sich als eine zweite Ausprägungsform von Interdisziplinarität unterscheiden. Sie impliziert die systematische Erweiterung der eigenen Fachkompetenzen über die Grenzen des eigenen Fachs hinaus und die systematische Integration unterschiedlicher Fächer und Fachvertreter, je nach Fragestellung und Gegenstandsbereich der erforschten Problemfelder. Die Erweiterung der Untersuchungsfelder, denen sich der Soziologe Pierre Bourdieu seit den 1990er Jahren verstärkt widmete – wie Medien, gesellschaftliche Diskurspraktiken, fiktionale Literatur – führte zu einer zunehmenden Integration außerhalb der Soziologie liegender Theorieansätze und Methoden, wie Sprechakttheorie und Medientheorie, die Bourdieu selbst in seinem Buch Ce que parler veut dire8 in theoretischer Perspektive reflektiert. Die Entwicklung des Werkes von Michel Foucault – der seiner Ausbildung nach Philosoph war – und seiner Gegenstandsbereiche lässt gleichfalls eine sukzessive integrative Aneignung von Methoden und Theorieansätzen sehr unterschiedlicher Fachdisziplinen erkennen: So wandte sich Foucault in den 1950er Jahren und zu Beginn der 1960er Jahre in seinen Werken Maladie mentale et personnalit8 (1954) und Maladie mentale et psychologie (1962) zunächst der Psychologie und der Psychoanalyse zu, bevor er sich in den 1960er Jahren neben der Literaturwissenschaft (Raymond Roussel, 1963) in seinen Werken Histoire de la folie / l’.ge classique (1961) und Surveiller Punir. Naissance de la prison (1975) vorrangig der Geschichtswissenschaft und ihren neueren Ausprägungsformen, der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, widmete. Sein grundlegendes theoretisches Werk L’arch8ologie du savoir (1969) ist wiederum vom linguistic turn der 1960er Jahre entscheidend geprägt worden, während er in seinem Spätwerk, insbesondere in den letzten Bänden seiner Histoire de la sexualit8 (1976–84), wieder, mit zum Teil völlig neuen Fragestellungen und methodischen Ansätzen, zu seiner eigentlichen Fachdisziplin, der Philosophie – in diesem Fall zur griechischen und römischen Philosophie der Antike – zurückkehrte. Foucaults Werk über den mehrfachen Mörder Pierre RiviHre (1815–1840)9 illustriert in komplexer Weise den Typus der integrativen Interdisziplinarität, da Foucault hier – als Herausgeber dieser aus einem interdisziplinären Seminar hervorgegangenen 8 Pierre Bourdieu: Ce que parler veut dire. L’8conomie des 8changes linguistiques. Paris 1982. 9 Michel Foucault [u. a.]: Moi, Pierre RiviHre, ayant 8gorg8 ma mHre, ma sœur et mon frHre. Un cas de parricide au XIXe siHcle. Paris 1973 (Collection Archives).

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Studie – nicht nur selbst explorativ die eigenen Fachkompetenzen dezidiert überschritt und erweiterte, sondern in das Projekt neben Philosophen auch Historiker und Psychoanalytiker einbezog. Die kumulative Interdisziplinarität (oder ›Pluridisziplinarität‹) stellt wahrscheinlich die am häufigsten praktizierte Form der interdisziplinären Kooperation dar. Sie ist in zahlreichen Kolloquien und Forschungsprojekten zu beobachten, die ihre deklariert interdisziplinäre Ausrichtung mit der grundlegend positiven Bewertung verbinden, die hiermit verknüpft wird. Häufig eher programmatisch als in der Diskussions- und Kooperationspraxis umgesetzt, besteht diese Form der ›Interdisziplinarität‹ im Wesentlichen aus der Nebeneinanderstellung von Methoden und Theorieansätzen zu einem gemeinsamen Forschungsfeld. Sie beschränkt sich häufig auf die Ko-Präsenz unterschiedlicher Disziplinen in Sammelwerken, auf interdisziplinäre Verweise in Fußnoten und Bibliographien sowie auf den Versuch der HerausgeberInnen, in Vor- und Nachworten Parallelen zu etablieren und Verbindungen zwischen häufig sehr heterogen erscheinenden Einzelstudien aus unterschiedlichen Fächern herzustellen.

II.

Geschichtswissenschaft – Linguistik – Literaturwissenschaft: Interdisziplinäre Erfahrungen und Konfigurationen

Interdisziplinarität erfordert, wenn sie im definierten Sinne integrativ oder kooperativ sein soll, eine systematische Verzahnung oder ›Kreuzung‹ (croisement) von Fragestellungen, Theoriemodellen und methodischen Ansätzen unterschiedlicher Fachdisziplinen. Interdisziplinarität kann folglich nicht über ein Untersuchungsfeld – wie etwa ›Kanada‹ (für einen Kulturraum), über Interaktionsmuster wie ›interkulturelle Kommunikation‹ oder über Epochen wie ›Mittelalter‹ und ›le SiHcle des LumiHres‹/›Das Aufklärungszeitalter‹ – hergestellt werden, sondern nur über konkrete, empirische Gegenstände oder Gegenstandsbereiche und die Forschungsfragen, die an sie gerichtet werden. Diese bestimmen, auf je spezifische Weise, die methodischen und theoretischen ›Werkzeugkästen‹ (›bo%te / outils‹ im Sinne einer Metapher Michel Foucaults),10 die gelegentlich disziplinär sein können, häufig jedoch interdisziplinär sein müssen, um mit ihnen einen bestimmten Gegenstand erforschen zu können. »L’interdisciplinarit8«, so der französische Literarhistoriker Jean-Marie 10 Michel Foucault: Des supplices aux cellules. In: ders.: Dits et 8crits. Bd. II. Paris 1994, Nr. 151 [EA 1975], S. 716–720, hier S. 720: »Tous mes livres […] sont, si vous voulez, de petites bo%tes / outils.«

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Goulemot, »ne se fera jamais sur le champ de la recherche, mais sur l’objet et les questions qu’on lui pose.«11 Interdisziplinarität im eigentlichen, nicht kumulativen Sinne des Begriffs setze, so Goulemot, nicht Disziplinen und Untersuchungsfelder in Beziehung miteinander, sondern verzahne (oder ›kreuze‹) Fragestellungen, Methoden und Theorieansätze unterschiedlicher disziplinärer Provenienz in Bezug auf spezifische Untersuchungsobjekte. Drei Konfigurationen, die Formen der interdisziplinären Kooperation zwischen Geschichts-, Literatur- und Sprachwissenschaften veranschaulichen, sollen dies verdeutlichen. R8gine Robin, ursprünglich Historikerin und Spezialistin für die Geschichte der Französischen Revolution, bevor sie seit ihrer Emigration in Kanada im Jahre 1977 auf einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universit8 du Qu8bec / Montr8al berufen wurde und sich völlig anderen Forschungsfeldern zuwandte, hat in mehreren ihrer Veröffentlichungen sowohl die Notwendigkeit als auch die Fruchtbarkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Historikern und Linguisten betont, so etwa in ihrem Buch Histoire et Linguistique (1974): Les historiens ont longtemps entretenu un 8trange rapport au langage. Ce dernier 8tait implicitement conÅu comme un r8ceptacle, un contenant servant / l’expression d’une pens8e d8j/ l/, univoque. C’8tait assigner aux mots, en particulier, une paradoxale limpidit8 cristalline et par l/ mÞme se fonder sur une th8orie impliquant la transparence du sens, d’un sens pr8alable (/ d8crypter). De l/ des approches purement th8matiques des textes, le recours / la citation illustrative, / l’intuition du chercheur et aux jeux des consciences: conscience de l’historien communiant avec celle du scripteur.12

Indem sie zum einen – mit durchaus provokativer Zielsetzung – unterstreicht, dass Sprache von Historikern nie in ihrer eigentlichen Materialität berücksichtigt werde und dass zum anderen Linguisten sich nur für lexikalische und semantische Entwicklungen, nicht aber für die historischen Kontexte der Herausbildung, Zirkulation und Verbreitung sprachlicher Artefakte interessieren würden, arbeitete R8gine Robin in ihren Veröffentlichungen mehrere mögliche Zonen und Objekte interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Geschichtsund Sprachwissenschaft heraus: so etwa die Historische Semantik, die in Frankreich seit den 1960er Jahren vor allem von dem Historiker Alphonse Dupront13 entwickelt wurde und die auf die Untersuchung sozio-politischer

11 Jean-Marie Goulemot: Propositions pour une 8pist8mologie des recherches dix-huiti8mistes. In: Dix-huitiHme siHcle 5 (1973) [Themenheft: ProblHmes actuels de la recherche], S. 67–80, hier S. 68f. 12 R8gine Robin: Les historiens devant le champ linguistique. In: Dix-huitiHme siHcle 5 (1973) [Themenheft: ProblHmes actuels de la recherche], S. 111–118, hier S. 111. 13 Siehe u. a. Alphonse Dupront: S8mantique historique et analyse de contenu. Culture et civilisation. Langage et politique. Brüssel 1982, S. 79–94; ders.: Langage et histoire. Moskau 1970 (18e congrHs International des historiens). – Zu Dupront vgl. Dominique Julia: L’his-

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Schlüsselbegriffe wie ›Ehre‹ (honneur), ›Freiheit‹ (libert8) und ›Philosophie‹ (philosophie) und ihre historisch spezifischen Bedeutungen sowie Zirkulationsund Verwendungsweisen zielte; oder die seit den 1960er Jahren von Linguisten wie Michel PÞcheux, Historikern wie Jacques Guilhoumou14 und dem Philosophen und Wissenshistoriker Michel Foucault entwickelte Diskursanalyse, deren Fokus nicht auf einzelnen Begriffen, sondern auf Wissensformationen, rhetorischen Strategien und ideologisch determinierten Machtpositionen in der Verwendung sprachlicher Äußerungen liegt. Die Analyse parlamentarischer Reden, wie sie Hans Ulrich Gumbrecht in einer wegweisenden Studie vornahm,15 und die Untersuchung der ›Beschwerdehefte‹ (Cahiers de dol8ances) des Jahres 1789, die R8gine Robin selbst in ihrer Habilitationsschrift analysiert, veranschaulichen anhand präziser Untersuchungsobjekte die mit der Diskursanalyse verknüpften interdisziplinären Ansätze. R8gine Robin untersucht die Cahiers de dol8ances des burgundischen Städtchens Semur-en-Auxois nicht als ›Dokumente‹, sondern – im Sinne Foucaults – als ›Monumente‹,16 das heißt als sprachliche Äußerungen, die es zunächst in ihrer sprachlichen und rhetorischen Verfasstheit, ihrer sprachlichen Materialität, ihrer Rhetorik, ihrer Semantik und den mit ihnen verbundenen ideologischen Positionen zu untersuchen gilt.17 Die Kooperation zwischen Historikern und Literaturwissenschaftlern stellt eine zweite Konfiguration interdisziplinärer Zusammenarbeit dar, die sich in gewisser Hinsicht auf längere Traditionslinien und berühmte Vorbilder wie Jules Michelet und Theodor Mommsen berufen kann, dessen historiographisches Referenzwerk Römische Geschichte 1902 den Literaturnobelpreis erhielt. Trotz zahlreicher Absichtserklärungen und gewisser interdisziplinärer Annäherungen erscheint die Kooperation zwischen den beiden Disziplinen und ihren Vertretern weiterhin in singulärer Weise asymmetrisch. Während literarhistorisch ausgerichtete Literaturwissenschaftler in selbstverständlicher Weise historische Kontexte der Produktion, Zirkulation und Rezeption literarischer Texte einbeziehen und sich häufig in akribischer Weise – wie etwa Stephen Greenblatt, der

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torien et le pouvoir des cl8s. Alphonse Dupront. In: Les Cahiers du Centre de Recherches Historiques 7 (1991); online abrufbar unter http://ccrh.revues.org/2838 [07. 04. 2016]. Jacques Guilhaumou: L’histoire des concepts. Le contexte historique en d8bat. In: Annales HSS 56 (2001), H. 3, S. 685–698. Hans Ulrich Gumbrecht: Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der Französischen Revolution. Vorstudien zur Entwicklung einer historischen Textpragmatik. München 1978. Vgl. hierzu Michel Foucault: Arch8ologie du savoir. Paris 1969 (BibliothHque des sciences humaines), S. 181: »Elle [l’arch8ologie du savoir] ne traite pas le discours comme document, comme signe d’autre chose, comme 8l8ment qui devrait Þtre transparent mais dont il faut souvent traverser l’opacit8 importune […]; elle s’adresse au discours dans son volume propre, / titre de monument.« R8gine Robin: La soci8t8 franÅaise en 1789. Semur-en-Auxois. Paris 1970; siehe auch Jacques Guilhaumou, Denise Maldidier u. R8gine Robin: Discours et archive. Exp8rimentations en analyse du discours. Lüttich 1994.

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Begründer des new historicism, in seinen Studien zu William Shakespeare18 – für die Biographie ihrer AutorInnen interessieren und hierbei notwendigerweise die historische Forschung einbeziehen, ist dies in umgekehrter Blickrichtung eher selten der Fall. Potentiell interdisziplinär angelegte Forschungsrichtungen wie die ›Sozialgeschichte der Literatur‹ sind nahezu ausschließlich von Literaturwissenschaftlern konzipiert und bearbeitet worden; interdisziplinäre Kooperationen stellen hier eher Ausnahmen dar. Allerdings haben umgekehrt auch neuere Forschungsrichtungen der Geschichtswissenschaft, wie die quantitativ-serielle Geschichtsschreibung (histoire quantitative et s8rielle), in der Literaturwissenschaft und der Literaturgeschichte nur ein sehr marginales Echo gefunden, trotz der beträchtlichen Ausdehnung literaturwissenschaftlicher Gegenstandsbereiche auf Untersuchungsfelder wie Volks- und Massenliteraturen, Buchillustration, Intermedialität sowie die Beziehungen zwischen Literatur und Presse.19 Historiker wiederum haben sich, von Ausnahmen abgesehen wie Robert Darnton und Sara Maza in den USA, Reinhart Koselleck und Rolf Reichardt in Deutschland, Roger Chartier, Christian Jouaud,20 Jean-Yves Mollier, Daniel Roche und Emmanuel Le Roy Ladurie in Frankreich und Yvan Lamonde in Kanada, eher selten auf einen intensiven interdisziplinären Dialog mit Literaturwissenschaftlern und das Forschungsfeld der ›fiktionalen Literatur‹ eingelassen. Studien wie die Untersuchungen der US-amerikanischen Historikerin Sara Maza zu den causes c8lHbres des französischen Aufklärungszeitalters und zur Rolle der Verteidigungsschriften (m8moires judiciaires) in aufsehenerregenden Skandalprozessen,21 von Emmanuel Le Roy Ladurie zu den autobiographisch geprägten Schriften Nicolas R8tif de la Bretonnes und zum Romanwerk Honor8 de Balzacs22 und von Yvan Lamonde zur autobiographischen Literatur in Qu8bec23 stellen Ausnahmen dar. Sie zeigen neue Perspektiven der interdisziplinären Kooperation zwischen Literatur- und 18 Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley 1988; ders.: The New Historicism. Studies in Cultural Poetics. Berkeley 1985. 19 Vgl. hierzu exemplarisch den Sammelband von Jochen Mecke (Hg.): Medien der Literatur. Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2009. 20 Christian Jouhaud, Dinah Ribard u. Nicolas Schapira: Histoire, litt8rature, t8moignage. Pcrire les malheurs du temps. Paris 2009 (Collection Folio; Histoire Bd. 167). Christian Jouaud ist Leiter der interdisziplinären Forschergruppe Groupe de recherche interdisciplinaire sur l’histoire du litt8raire (Grihl). 21 Sarah Maza: Private Lives and Public Affairs. The Causes C8lHbres of Prerevolutionary France. Berkeley 1983. 22 Emmanuel Le Roy Ladurie: ›Le m8decin de campagne‹. Technologie douche et folklore rural. In: Honor8 de Balzac: Le m8decin de campagne. Hg. v. Patrick Berthier. Paris 1974 (Collection Folio Bd. 636) [Vorwort]. 23 Yvan Lamonde u. Marie-Pierre Turcot: La litt8rature personnelle au Qu8bec (1980–2000). Montr8al 2000.

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Geschichtswissenschaft auf, die – wie im Falle der Studien von Emmanuel Le Roy Ladurie – auch von sehr kontroversen Debatten begleitet wurden.24 Ihnen gemeinsam ist die Zielsetzung, fiktionale und nicht-fiktionale Texte nicht als ›Dokumente‹, sondern als ›Diskurse‹ zu lesen, die sich in ihrer spezifischen Materialität sowie ihrer semantischen Tiefe und Komplexität erst durch eine geschichts-, literatur- und sprachwissenschaftliche Theorieansätze und Analysemethoden verknüpfende Herangehensweise erschließen.

III.

Objekte, Diskurse, ›Ideen‹ – von der Begriffsgeschichte zur Sozialgeschichte der Ideen

Die Kluft zwischen facts und fictions, zwischen sozialen, geographischen, wirtschaftlichen und politischen Realitäten und ihren symbolischen Repräsentationsformen bildete lange ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den empirischen Sozialwissenschaften, den Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft auf der einen sowie den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf der anderen Seite. Vor dem linguistic turn der 1970er und dem cultural turn der 1990er Jahre – und zum Teil parallel zu ihnen – waren es in erster Linie die ›faktenbezogenen‹ empirischen Sozialwissenschaften, die in den Geisteswissenschaften Leitdisziplinen mit starker interdisziplinärer Ausstrahlungskraft darstellten: vor allem die Soziologie, die mit Pierre Bourdieu, Jürgen Habermas, Thomas Luckmann und Peter L. Berger interdisziplinär anschlussfähige Theorie- und Methodenparadigmen wie die Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas), die soziologische Feldtheorie (Bourdieu) und die Wissenssoziologie (Berger/Luckmann) schufen; sodann die Ethnologie und Anthropologie, die sich mit den Werken von Claude L8vi-Strauss in Frankreich und Clifford Geertz sowie James 24 Vgl. hierzu MichHle Duchet u. Emmanuel Le Roy Ladurie: Histoire et litt8rature. Questions de m8thode. In: Dix-huitiHme siHcle 5 (1973), S. 49–58; Emmanuel Le Roy Ladurie: Ethnographie rurale du XVIIIe siHcle. R8tif, / la Bretonne. In: Ethnologie franÅaise, nouvelle s8rie 2 (1972), H. 2/3, S. 215–252. Wieder abgedruckt in: Du social au mental. Une analyse ethnographique. In: Georges Duby u. Andr8 Wallon (Hg.): Histoire de la France rurale. Bd. II: L’ffge classique des paysans (1340–1789). Paris 1975, S. 443–503. Sowie die Kritiken zu Le Roy Ladurie: Georges Benrekassa: Le typique et le fabuleux. Histoire et roman dans ›La Vie de mon pHre‹. In: Revue des Sciences Humaines XLIV (1978), S. 31–56; Nicolas Schapira: Le bonheur est dans l’8lite? T8moignage, litt8rature et politique. Nicolas R8tif de la Bretonne et Emmanuel Le Roy Ladurie. In: FranÅois Menant u. Jean-Pierre Jessenne (Hg.): Les 8lites rurales dans l’Europe m8di8vale et moderne. Actes des XXVIIes Journ8es Internationales d’Histoire de l’Abbaye de Flaran 9–11 septembre 2005. Toulouse 2007, S. 195–209; Pierre Testud: Culture et cr8ation litt8raire. Le cas de R8tif de la Bretonne. In: Dix-huitiHme siHcle 18 (1986), S. 85–97.

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Clifford in den USA zu Leitdisziplinen interdisziplinärer Kooperation avancierten; und schließlich, insbesondere in Frankreich, die Geschichtswissenschaft, die bereits seit Ende der 1920er Jahre mit der Gründung der AnnalesSchule durch Lucien Febvre und Marc Bloch ein neues und in vielfältiger Weise interdisziplinär geöffnetes Wissenschaftsparadigma schuf. Der linguistic turn der 1960er und 1970er Jahre und die Entwicklung der Diskursanalyse, besonders unter dem Einfluss Michel Foucaults, sowie der Begriffsgeschichte haben entscheidend dazu beigetragen, die Trennlinien zwischen facts und fiction in Frage zu stellen, in neuer Weise zu denken und ein Forschungsfeld zu konzipieren, das zwischen den ›Dingen‹ und den ›Wörtern‹ liegt: das heißt auf der Ebene der Begriffe und Diskurse. Die Entstehung der Diskursanalyse, bei der Foucaults Werk Arch8ologie du Savoir (1969) eine zentrale Rolle einnimmt, ist eng mit der Distanznahme zum einen zur etablierten Linguistik – an die sie zugleich methodisch anknüpft – und zum anderen zur tradierten Ideengeschichte verbunden. Foucault nahm in seiner Arch8ologie du Savoir eine systematische Dekonstruktion der Ideengeschichte und ihrer theoretischen und methodischen Implikationen vor, in deren Zentrum die Kategorien der Genese, der Kontinuität, der Ganzheit und des Einflusses stehen. Die Ideengeschichte (histoire des id8es) sei eine […] discipline des interf8rences, la description des cercles concentriques qui entourent les œuvres, les soulignent, les relient entre elles et les insHrent dans tout ce qui n’est pas elles. […]. GenHse, continuit8, totalisation: ce sont l/ les grands thHmes de l’histoire des id8es, et c’est par quoi elle se rattache / une certaine forme, maintenant traditionnelle, d’analyse historique.25

Die Begriffsgeschichte, die im englischen Wissenschaftsraum – mit anderen Akzentuierungen – der history of concepts und in Frankreich, je nach wissenschaftlicher Ausrichtung, der histoire des mots-cl8s bzw. der histoire conceptuelle und der s8mantique historique entspricht, verfolgt die grundlegende Zielsetzung, die Bedeutung und die Verwendungsweisen von Begriffen in allen Bereichen der Sprachverwendung zu untersuchen: in der Philosophie ebenso wie im Alltagsgebrauch, in der Literatur, der Kunstgeschichte, der Literaturkritik in gleicher Weise wie im historiographischen Diskurs. Das Sprachmaterial, das die Begriffsgeschichte untersucht, verweist zum einen auf historische Wirklichkeiten und die mit ihnen verknüpften, je historischen Sinngebungen und Deutungsmuster ; und zum anderen können Begriffe selbst als konstitutiv für die Konstruktion historischer Wirklichkeiten angesehen werden. »Die Begriffsgeschichte«, so Reinhart Koselleck, »ist weder ›materialistisch‹ noch ›idealistisch‹; sie fragt sowohl danach, welche Erfahrungen und Sachverhalte auf ihren Begriff 25 Foucault: Arch8ologie, S. 180f.

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gebracht werden, als auch danach, wie diese Erfahrungen oder Sachverhalte begriffen werden. Die Begriffsgeschichte vermittelt insofern zwischen den Sprach- und den Sachgeschichten.«26 Die bezüglich ihrer Zielsetzungen und Untersuchungsgegenstände genuin interdisziplinär ausgerichtete Begriffsgeschichte ist in erster Linie in zwei Wissenschaftstraditionen verankert: zum einen in der Geschichte der politischen und philosophischen Ideen, deren Ursprünge auf Johann Georg Heinrich Feders Idee eines historischen Wörterbuchs von 1774 zurückgehen; und zum anderen in der Sprachgeschichtsschreibung, insbesondere in der Terminologieforschung und in der historischen Lexikologie, die in den philologischen Disziplinen seit dem 19. Jahrhundert etabliert wurden und durch die Entwicklung vor allem der Wortfeldforschung und der Historischen Semantik seit den 1920er Jahren eine weitere Ausweitung erfahren haben. Die Begriffsgeschichte als solche hat sich seit den 1950er Jahren in Deutschland und parallel hierzu, insbesondere in der Ausprägung als S8mantique historique, in Frankreich herausgebildet. Richard Koebner und Helmut Dan Schmidt etwa haben in ihren Studien zum Begriff ›imperialism‹ die sozio-politischen Implikationen herausgearbeitet, die mit dem Begriff ›empire‹ und dem mit ihm verbundenen Begriffsfeld in unterschiedlichen Gesellschaften und Epochen verknüpft worden sind und somit eine wegweisende begriffshistorische Langzeit-Perspektive (longue dur8e) eröffnet.27 In Frankreich haben, gerade auch im Kontext der 1929 entstandenen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Annales-Schule, Lucien Febvre und Marc Bloch sowie in ihrer Nachfolge Alphonse Dupront, Louis Tr8nard und Robert Mandrou die Untersuchung der kulturellen und mentalen Strukturen vergangener Gesellschaften eng mit der Geschichte sozio-politischer Begriffe verknüpft. Begriffe wie ›Ungläubigkeit‹ (incroyance), dem Lucien Febvre 1947 eine Pionierstudie widmete,28 oder ›f8odalit8‹, der den Ausgangspunkt und zugleich das Gravitationszentrum von Marc Blochs Studie über La Soci8t8 F8odale (1949) bildet, verweisen auf mentale Perzeptionsmuster sozialer Realitäten, die Zugang zu den mentalen Strukturen – und den mit ihnen verbundenen Handlungsweisen – vergangener Gesellschaften geben. Diese werden nicht als ein mentaler und kultureller ›Überbau‹ (superstructure) im marxistischen Sinne gesehen, sondern im Gegenteil als eine die soziale Wirklichkeit selbst in grundlegender Weise strukturierende Gegebenheit. Während die Begriffsgeschichte sich in Frankreich in erster Linie im Zu26 Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M. 2006, S. 99. 27 Vgl. etwa Richard Koebner u. Helmut Dan Schmidt: Imperialism. The Story and Significance of a Political Word. 1840–1960. Cambridge 1964. 28 Lucien Febvre: Le problHme de l’incroyance au XVIe siHcle. La religion de Rabelais. Paris 1942.

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sammenhang mit der Kultur- und Mentalitätsgeschichte entwickelte, bildete sie in Deutschland seit den 1960er Jahren ein relativ autonomes, aber zugleich interdisziplinär, im Schnittbereich von Geschichtswissenschaft, Philosophie und Philologie angesiedeltes Wissenschaftsfeld. Dessen Entwicklung seit den 1970er Jahren war insbesondere geprägt durch große Wörterbuchprojekte, die jeweils eine genuin interdisziplinäre Ausrichtung aufweisen: so insbesondere das monumentale Projekt der Historischen Grundbegriffe, die seit 1971 von den Historikern Reinhart Koselleck, Otto Brunner und Werner Conze herausgegeben wurden; sodann das gleichfalls 1971 ins Leben gerufene Historische Wörterbuch der Philosophie in der Herausgeberschaft von Joachim Ritter ; das seit 1984 von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt lancierte Handbuch politischsozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680–1820, dessen Autorenteam eine enge Kooperation zwischen deutschen, französischen und US-amerikanischen Historikern und Romanisten (sowohl Sprach- als auch Literatur- und Kulturwissenschaftler) spiegelt, die auf dem Gebiet der Erforschung des Ancien R8gime und der Französischen Revolution ausgewiesen sind; und schließlich die Ästhetischen Grundbegriffe, ein zwischen 2000 und 2010 erschienenes siebenbändiges Wörterbuch mit ästhetisch-philosophischem Schwerpunkt, das von den Romanisten Karlheinz Barck und Martin Fontius sowie dem Germanisten Dieter Schlenstedt initiiert und herausgegeben wurde und an dem neben Philologen verschiedener Fachdisziplinen vor allem auch Kunsthistoriker und Philosophen beteiligt waren. Für den Historiker Reinhart Koselleck, dem Vordenker der modernen Begriffsgeschichte im deutschen Sprachraum, stellt Begriffsgeschichte einen unumgänglichen Bestandteil der Sozialgeschichte dar. Erst durch semantische Felder, in deren Zentrum sozio-politische und kulturelle Schlüsselbegriffe stehen, könne Vergangenheit memorisiert und historisches Erleben in Form erinnerter Vergangenheit artikuliert werden. Schlüsselbegriffe wie etwa der Begriff ›Revolution‹, der sich im 18. Jahrhundert – u. a. im Werk Denis Diderots und seinen Beiträgen für die Histoire des deux Indes von Guillaume-Thomas Raynal – von seiner zyklischen Bedeutungsdimension löste,29 stellen häufig »Erwartungsbegriffe« (oder »Erwartungsstiftungsbegriffe«) dar, »die die alte in eine neue Wirklichkeit transformieren helfen. Dabei handelt es sich«, so Koselleck, »immer um die zuvor beschriebenen Kollektivsingulare. […] All diesen und analogen anderen neuen Grundbegriffen ist gemeinsam, daß sie – temporal gesprochen – nicht mehr nur auf Erfahrungen aufruhen, die sie reflektieren. 29 Vgl. hierzu Hans-Jürgen Lüsebrink u. Rolf Reichardt: »R8volution« / la fin du 18e siHcle. Pour une relecture d’un concept-cl8 du SiHcle des LumiHres. In: M.O.T.S. 16 (1988) [Themenheft: Langages de la R8volution FranÅaise, hg. v. Jacques Guilhaumou], S. 35–68; Reinhart Koselleck: Revolution als Begriff und als Metapher. Zur Semantik eines einst emphatischen Worts. In: ders.: Begriffsgeschichten, S. 240–251.

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Vielmehr intendieren sie einen Verfassungswandel in sozialer und in politischer sowie in religiöser Hinsicht.«30 Begriffe wie ›Nation‹, ›Staat‹, ›Heirat‹ oder ›Bürgertum‹, die seit dem Mittelalter über Jahrhunderte hinweg lexikalisch weitgehend unverändert geblieben waren, vollzogen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert einen radikalen Bedeutungswandel, der eng mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandlungsprozessen verknüpft war. Vier Entwicklungstendenzen charakterisieren die gegenwärtige Ausrichtung und Weiterentwicklung der Begriffsgeschichte, in die sich auch die genannten Wörterbuchprojekte einordnen lassen. Erstens ist die Fokussierung auf isolierte Einzelbegriffe in zunehmendem Maße der Erforschung von komplexen Begriffsfeldern gewichen.31 So stand der Begriff ›citoyen‹ (Staatsbürger), einer der grundlegenden Begriffe für die neue Konzeption von ›Volkssouveränität‹ (›souverainet8‹) seit der Aufklärungsepoche und der Französischen Revolution, in einem engen Beziehungsgeflecht mit den Begriffen ›bourgeois‹ und ›sujet‹. Der Diskurs der sog. philosophes über den Absolutismus spiegelte sich wiederum in einem semantischen Feld, das durch die strukturellen Dichotomien (wie ›Volk versus Tyrannei‹, ›Freiheit versus Despotismus‹, ›Staatsbürger versus Untertan‹, ›Aufklärung versus Finsternis‹ bzw. ›lumiHres‹ versus ›t8nHbres‹)32 geprägt war und eine deutliche Tendenz zur Polarisierung aufwies. Ein aktuelleres Beispiel für die Notwendigkeit, politisch-soziale Schlüsselbegriffe nicht isoliert, sondern in Begriffsnetzen zu denken und zu analysieren, stellt der seit Ende der 1990er Jahre in der aktuellen Multikulturalismusdiskussion geradezu zu einem emblematischen Modebegriff avancierte Begriff ›diversity‹ (frz. diversit8, dt. Diversität oder ›kulturelle Vielfalt‹ dar). Ursprünglich, vor allem seit dem 18. Jahrhundert, in der Naturgeschichte zur Bezeichnung der Artenvielfalt verwendet, entwickelte sich der Begriff zunächst im kanadischen Kontext der Jahre 1912 bis 1927 zu einem wichtigen Schlüsselbegriff der politischen Auseinandersetzung, in diesem Fall des Konflikts zwischen der anglophonen Mehrheit und der frankophonen Minderheit in Kanada, und zwar im Anschluss an die – gegen die frankophone Minderheit in Ontario und Manitoba – gerichteten repressiven Sprach- und Bildungsgesetze (des soge30 Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 67f. 31 Vgl. hierzu programmatisch Rolf Reichardt: Einleitung. In: ders. u. Eberhard Schmitt (Hg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. H. 1/2. München 1985, S. 64–148 (Ancien R8gime, Aufklärung und Revolution Bd. 10). 32 Vgl. hierzu Ulrich Ricken: Oppositions et polarit8s d’un champ notionnel. Les philosophes et l’absolutisme 8clair8. In: Annales Historiques de la R8volution FranÅaise LI (1979), S. 547–557; Hans-Jürgen Lüsebrink: Vom »Gelehrten« zum philosophe. Selbstverständnis und Rollenbilder des »Intellektuellen« im französischen Aufklärungsalter. In: Rainer Bayreuther, Meinrad von Engelberg, Sina Rauschenbach u. Isabella von Treskow (Hg.): Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle ›avant la lettre‹. Wiesbaden 2011 (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 125), S. 305–325.

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nannten RHglement 17 aus dem Jahre 1912), durch welche der Status des Französischen als Unterrichtssprache drastisch eingeschränkt wurde. Der Begriff ›diversit8‹ avancierte in dieser vehement geführten Auseinandersetzung, die erst 1927 mit der Aufhebung des RHglement 17 endete, zu einem positiv besetzten Kampf- und Identifikationsbegriff, der jedoch bei näherem Hinsehen in ein völlig anderes Begriffsnetz – und damit Argumentationsnetz – eingebettet war als ein Jahrhundert später der aktuelle Begriff ›diversit8‹. Er stand im kanadischen Diskurskontext der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, wie eine detaillierte Untersuchung der zeitgenössischen Debatten gezeigt hat,33 in enger Verbindung mit den Begriffen ›Nationalität‹, ›Persönlichkeit‹ (personnalit8), ›Individualität‹ (individualit8), ›Originalität‹ (originalit8), ›Differenz‹ (diff8rence), ›Rasse‹ (race) sowie ›identit8 ethnique‹ und hob auf die sprachlichen und kulturellen Rechte der Minderheiten innerhalb des British Empire ab, die u. a. durch die Praxis des indirect rule garantiert würden. Wie in der aktuellen Diskussion auch in den kanadischen Debatten um 1920 bereits ein Gegenbegriff zu ›Homogenität‹ und ›Intoleranz‹ (intol8rance), unterstrich der Begriff ›diversit8‹ im Verwendungskontext der Diskussion um das RHglement 17 vor allem die kulturellen, mentalen und sprachlichen Eigenheiten der Frankokanadier, die es zu schützen und zu erhalten gelte.34 Das Beispiel des Begriffs ›diversity‹ verweist auf eine zweite Entwicklungslinie der Begriffsgeschichte, die, vor allem auch durch den Einfluss der Diskursanalyse, in zunehmendem Maße rezeptionspragmatische Untersuchungsperspektiven integriert hat, d. h. das Problemfeld der Zirkulations- und Verwendungsweisen von Begriffen und Begriffsnetzen. Diese Perspektive hat auch dazu geführt, dass neben den – von der traditionellen Begriffsgeschichte, bis hin zu den Historischen Grundbegriffen Kosellecks – privilegierten Quellen der intellektuellen Eliten in den letzten Jahrzehnten in beträchtlichem Maße für die Analyse der sozialen Präsenz und Wirkung von Begriffen massenhaft verbreitete und seriell auswertbare Quellenkorpora herangezogen worden sind, wie etwa die Presse, öffentliche Debatten und Korrespondenzen. Eine dritte Entwicklungslinie der Begriffsgeschichte betrifft die Berücksichtigung der vielfältigen Beziehungen zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Dokumenten. Vor allem die Forschungen von Rolf Reichardt zur Bildpu33 Vgl. hierzu Hans-Jürgen Lüsebrink: Diversit8s controvers8es. Concepts, imaginaires et repr8sentations au Canada au d8but du 20e siHcle. In: ders., Ursula Lehmkuhl u. Laurent McFalls (Hg.): Spaces of Diffference. Conflict and Cohabitation. Münster u. New York 2016, S. 27–46. 34 William Henry Moore: The Clash! A Study in Nationalities. London u. Toronto 1918; frz. Übersetzung (nachfolgend zitiert): Le Choc (The Clash). Ptude de nationalit8s. Traduit de l’anglais par Ernest Bilodeau. Montr8al u. Toronto 1920, S. 32: »un langage propre, ses coutumes, sa culture, et qui a conscience de leur valeur au point de tenir / les conserver.«

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blizistik der Französischen Revolution haben die herausragende Rolle ikonographischer Quellen für die zeitgenössische Verbreitung von Begriffen wie ›libert8‹ und ›despotisme‹ aufgezeigt. Auch para-verbale Kommunikationsregister (die etwa beim Singen patriotischer Lieder zum Tragen kommen) und nonverbale Kommunikationsweisen wie Gestik und Mimik, die bei Ritualen, in Theaterstücken und bei politischen Festen eine herausragende Rolle spielten, haben in begriffshistorischen Analysen zunehmend Berücksichtigung gefunden.35 Sie haben aufgezeigt, dass zentrale Begriffe etwa der französischen Republik nicht durch schriftliche und gedruckte Texte, sondern über Theaterstücke, durch die Inszenierung von Revolutionsfesten und patriotischen Ritualen (z. B. bei der Rezeption der Bastille-Steine), durch patriotische Lieder, auf Tellern mit revolutionären Slogans und Motiven und über massenhaft verbreitete Bildpublizistik eine nachhaltige politische, soziale und mentale Wirkung erzielten. Viertens schließlich hat sich die Begriffsgeschichte in den beiden letzten Jahrzehnten in zunehmendem Maße transkulturellen und vergleichenden Problemstellungen gegenüber geöffnet. Hierzu zählen Untersuchungsbereiche wie der Transfer des Begriffsfeldes ›nation‹ vom revolutionären Frankreich aus in andere Kulturräume des ausgehenden 18. sowie des 19. Jahrhunderts36 oder die transkulturelle Rezeption von Begriffen wie ›Rasse‹ und ›Nationalismus‹, bei der die extreme Rechte in Deutschland, aber auch in Frankreich (um Charles Maurras) und in Qu8bec seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Schlüsselrolle spielte.37 Der globale Transfer des Begriffsinventars der europäischen Aufklärung, die das Fundament modernen, westlichen Verständnisses von Demokratie und Menschenrechten bildet, und seine Zirkulation und Rezeption in anderen, europäischen und außereuropäischen Kulturräumen seit dem 18. Jahrhundert bilden ein zentrales, aber in seinen weltweiten Vernetzungen und Wirkungen in keiner Weise hinreichend oder gar umfassend untersuchtes Feld der Begriffsgeschichte, das zugleich von hoher Aktualität ist.38 35 Hans-Jürgen Lüsebrink u. Rolf Reichardt: Die Bastille. Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit. Frankfurt a. M. 1990 (engl. Übersetzung: The ›Bastille‹. The History of a Symbol of Despotism and Freedom. Durham u. London 1997). 36 Vgl. hierzu Hans-Jürgen Lüsebrink: Conceptual History and Conceptual Transfer. The Case of »Nation« in Revolutionary France and Germany. In: Ian Hampsher-Monk, Karin Tilmans u. Frank Van Vree (Hg.): History of Concepts. Comparative Perspectives. Amsterdam 1998, S. 115–128. 37 Vgl. hierzu die transkulturell angelegte Studie von Olivier Dard: R8gionalisme et politique. L’exemple de la Jeune Droite de l’entre-deux-guerres au d8but des ann8ees 50. In: Aur8lien Boivin, Hans-Jürgen Lüsebrink u. Jacques Walter (Hg.): R8gionalismes litt8raires et artistiques compar8es Qu8bec/Canada – Europe. Nancy 2015, S. 103–120. 38 Vgl. hierzu u. a. Doris Bachmann-Medick: Die Menschenrechte als Übersetzungsproblem. In: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 331–359; Immanuel Wallerstein: European

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Begriffsgeschichte, als ein zentraler, ›unumgehbarer‹ Bestandteil sowohl der Kultur- und Mentalitätsgeschichte als auch der Untersuchung politischer und sozialer Diskurse und Wissenssysteme, hat ihre Zukunft keineswegs hinter sich, wie Hans Ulrich Gumbrecht zu postulieren scheint.39 Als interdisziplinär aufgestelltes Forschungsparadigma, das sich in den letzten Jahrzehnten durch die Integration neuer Problemfelder stetig weiter zu entwickeln vermochte, repräsentiert sie im Gegenteil eine unumgängliche ›bo%te / outils‹ (im Sinne Michel Foucaults) für die zeitgenössischen Sozial- und Kulturwissenschaften.

Universalism. The Rhetoric of Power. New York 2006; Hans-Jürgen Lüsebrink: Universalisme des LumiHres et r8sistances (inter)culturelles – traductions, transferts, fictionnalisations. In: Mourad Ali-Khodja (Hg.): Des apories de l’universalisme aux promesses de l’universel. Qu8bec 2013, S. 145–160. 39 Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München [u. a.] 2006.

Ulrike Wels

Vom zweifelhaften Charme des Kollektivs. Zur Dysfunktionalität der literarischen Gelehrtenrepubliken bei Diego Saavedra Fajardo, Friedrich Gottlieb Klopstock und Arno Schmidt

I.

Einleitung

Literarischen Gelehrtenrepubliken und ihrem kollektiven Charakter scheint prinzipiell ein ›zweifelhafter Charme‹ innezuwohnen. Obwohl ihre Autoren sich meist selbst als Mitglieder von Wissenschaftsgemeinschaften sehen, von ›Gelehrtenrepubliken‹,1 die auf Vernunft und Gleichheit ihrer Mitglieder basieren, eine streitbare, aber dennoch einträchtige Herrschaft der Gelehrten über nationale Grenzen hinaus praktizieren und sich als unabhängige, sich selbst konstituierende und ihren Diskurs selbst organisierende Gemeinschaft aller Gelehrten verstehen, weisen sie in ihren Texten immer wieder auf Dysfunktionalitäten dieser Republiken hin. Es scheint geradezu so zu sein, dass ›Dysfunktionalität‹ ein konstituierendes Merkmal der Entstehung und Existenz literarischer Spiegelungen von Gelehrtenrepubliken ist, denn im und durch das Moment ihres Scheiterns fordern sie immer wieder zur Auseinandersetzung mit der eigenen – theoretischen und praktischen – schriftstellerischen oder wissenschaftlichen Arbeitswelt ihrer Mitglieder heraus. Die Forschung hat sich in den letzten Jahren häufig Phänomenen der Diskontinuität im älteren Wissenschaftsbetrieb angenommen, wie sie die im Folgenden exemplarisch untersuchten literarischen Texte reflektieren.2 In seiner konzisen Einleitung zum Themenheft Gelehrtenrepublik im Jahrbuch Aufklärung aus dem Jahr 2014 benennt und problematisiert Marian Füssel die wich1 Vgl. zur Gelehrtenrepublik und Gelehrtensprache Dirk Niefanger: Art. ›Gelehrtenliteratur und -sprache‹. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3: Eup–Hör. Tübingen 1996, Sp. 668–678; Peter Huber : Art. ›Gelehrtenrepublik‹. In: ebd., Sp. 678–689; Wolfgang Knispel: Art. ›Gelehrtenrepublik‹. In: Joachim Ritter [u. a.] (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel [u. a.] 1974, Sp. 226–232; Martin Gierl: Art. ›Gelehrtenrepublik‹. In: Friedrich Jaeger [u. a.] (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online. http:// dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a1307000 [01. 07. 2016]. 2 Vgl. zur älteren Forschung Marc Fumaroli: The Republic of Letters. In: Diogenes 143 (1988), S. 129–152.

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tigsten Forschungsergebnisse, die in den letzten Jahren zur Gelehrtenrepublik präsentiert wurden, so z. B. die fragwürdige Unterscheidung »zwischen ›Realität‹ und ›Ideal‹ der Gelehrtenrepublik«,3 Probleme der immer noch unabgeschlossenen Datierung und Periodisierung, der Verfassung und »forma regiminis«, der Bellizität des gelehrten Diskurses, der »Kommunikationspraktiken und Netzwerke«4 und ihrer heuristischen Unbestimmtheit sowie der »Praktiken und Medien der gelehrten Kommunikation«.5 Untersuchungen zur gelehrten Polemik, zu Grenzen und Grenzüberschreitungen und zum klandestinen Wissenschaftsdiskurs6 in der Gelehrtenrepublik sowohl in den literarischen bzw. »gedachten«, als auch in den realen, »praktizierten Kommunikationsgemeinschaft[en]«7 zeigen, dass die Erforschung dieser vormodernen Wissenskulturen noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist. Eine Entzauberung des Begriffes und Konzeptes der Gelehrtenrepublik leitete Herbert Jaumann 1987 ein, indem er darauf hinwies, dass »durch die Trennung und Konfrontation von Moral bzw. Vernunft und Politik, von moralischer Privatheit und öffentlicher Macht, von Innen und Außen eine Dissoziierung [stattfinde], die in den Texten zur Respublica literaria mit Händen zu greifen«8 sei, und die nicht selten auf scharfe Auseinandersetzungen der Mitglieder untereinander hinauslaufe. Hierauf aufbauend plädierte er 2014 für eine Schärfung der Betrachtung des Konzeptes der Gelehrtenrepublik und ihrer unterschiedlichen Ausformungen: Es sollte also hier gegen die Gewohnheit argumentiert werden, die universalistische Selbstschreibung eines Konzeptes wie der Gelehrtenrepublik beim Nennwert zu nehmen, sich damit heute noch zu identifizieren und nach dem spezifischen historischen Ort auch dieses Projekts in der gelehrtengeschichtlichen Vergangenheit nicht mehr zu fragen.9

3 Marian Füssel: Einleitung. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 26 (2014) [Themenheft: Gelehrtenrepublik. Hg. v. Marian Füssel u. Martin Mulsow], S. 5. 4 Ebd., S. 9. 5 Ebd. 6 Vgl. hierzu besonders die Arbeiten von Martin Mulsow, z. B. ders.: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart [u. a.] 2007. 7 Herbert Jaumann: Ratio clausa. Die Trennung von Erkenntnis und Kommunikation in gelehrten Abhandlungen zur Respublica literaria um 1700 und der europäische Kontext. In: Sebastian Neumeister u. Conrad Wiedemann (Hg.): Res Publica Litteraria. Die Institution der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Teil II. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 14), S. 409–429, hier S. 416. 8 Jaumann: Ratio clausa, S. 411. 9 Herbert Jaumann: Respublica litteraria. Partei mit einem Programm der Parteilosigkeit. Gegen das anachronistische Mißverständnis eines mehrdeutigen Konzepts der Frühen Neuzeit. In: Aufklärung 26 (2014) [Themenheft: Gelehrtenrepublik. Hg. v. Marian Füssel u. Martin Mulsow], S. 17–30, hier S. 29.

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Jaumann versteht die Gelehrtenrepubliken unterschiedlichster Couleur damit als »Konzepte[] der Selbstbeschreibung der Kommunikationsverhältnisse«,10 woran Füssel anschließt, wenn er vor dem oben skizzierten Hintergrund seines Forschungsüberblicks die Gelehrtenrepublik als »zunächst einmal nichts anderes als die Selbstbeschreibungssemantik einer relationalen Ordnung der Gelehrsamkeit«11 bezeichnet.12 Jaumanns Annahme, dass es vornehmlich um ›Selbstbeschreibung‹ gehe, hat den Blick der Forschung für Ein- und Ausgrenzungsmechanismen13 innerhalb dieses Systems geschärft und gezeigt, dass das ideale Bild, das sich bei erster Betrachtung der »Gelehrtenrepublik als Werteund Wertschätzungsgemeinschaft«14 bietet, grundsätzlich zu modifizieren ist. Anschließend an diese Gedanken möchte ich für die folgende Analyse dreier Gelehrtenrepubliken und ihrer jeweiligen Dissonanzen ein Modell menschlichen Handelns aus der Handlungstheorie fruchtbar machen, das zunächst etwas formalistisch erscheinen mag, aber für die gleichsam topische Dysfunktionalität der Gelehrtenrepublik jedoch zumindest ansatzweise eine Erklärung liefert: den sogenannten ›praktischen Syllogismus‹. Er geht der Sache nach auf Aristoteles zurück und besteht aus einer Wissens-, Wollens- und, daraus folgend, einer Handlungskomponente. Auf die Matrix einer wissenschaftlichen oder dichterischen Arbeitswelt und die Modelle der Gelehrtenrepubliken bezogen, geht er zunächst von der Prämisse aus, dass eine gute Arbeitswelt von allen zu erstreben sein sollte. Da Gelehrtenrepubliken gute Arbeitswelten sind – oder zu sein scheinen –, sollte man versuchen, sie (praktisch) zu errichten.15 Der Wert literarischer Gelehrtenrepubliken kann somit darin liegen, einer als wünschenswert angesehenen Arbeitswelt nicht als tatsächlicher Bauplan, sondern als gedankliche Grundlage, Projektions- und Kontrastfolie zu dienen. 10 Ebd. 11 Füssel: Einleitung, S. 10f. 12 Vgl. im Verhältnis dazu die gängigen Definitionen der Gelehrtenrepublik in den einschlägigen Lexika, siehe hier Anm. 1. 13 Vgl. z. B. aus unterschiedlichen Perspektiven argumentierend Herbert Jaumann: Das Projekt des Universalismus. Zum Konzept der Respublica literaria in der frühen Neuzeit. In: PeterEckhard Knabe u. Johannes Thiele (Hg.): Über Texte. Festschrift für Karl-Ludwig Selig. Tübingen 1997 (Schnittpunkte: Greifswalder Studien zur Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte Bd. 1), S. 149–163; sowie Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. 14 Marian Füssel: Die symbolischen Grenzen der Gelehrtenrepublik. Gelehrter Habitus und moralische Ökonomie des Wissens im 18. Jahrhundert. In: Martin Mulsow u. Frank Rexroth unter Mitarbeit v. Katharina Ulrike Mersch (Hg.): Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Frankfurt a. M. u. New York 2014 (Campus Historische Studien Bd. 70), S. 413–437, hier S. 418. 15 Hier sei angemerkt, dass die Wissenschaftsutopien der Frühen Neuzeit, angefangen mit Thomas Morus Utopia (1516), (zumindest fiktional) funktionierende Arbeitswelten entwerfen, Texte wie Saavedra Fajardos Gelehrtenrepublik oder Jonathan Swifts Gullivers Travels (1726) dagegen in der satirischen Dekonstruktion ihre Dysfunktionalität zeigen.

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Dieser logisch an sich gut funktionierende Syllogismus zeigt allerdings in der literarischen Spiegelung gelehrtenrepublikanischer Modelle erhebliche Brüche. Die Behauptung, dass Gelehrtenrepubliken gute Arbeitswelten seien, funktioniert bei genauerer Betrachtung nicht; vielmehr scheinen sie es nur zu sein, wie die Analysen zeigen werden. Für die conclusio soll das aber nicht einfach heißen, dass aus dem Scheitern bzw. aus der Kritik der literarischen Gelehrtenrepubliken praktische Schlüsse für die Konstruktion realer Dichter- oder Denker-Arbeitswelten zu ziehen seien, sondern dass für eine Akzeptanz der Dissonanz plädiert werden sollte – auch wenn das Ideal folglich vielleicht im Hinterkopf verbleibt. Damit wird das Moment des Scheiterns nicht als Verlust oder Defizit gesehen, sondern als Spannungsfeld, in dem Grenzen, unterschiedliche Interessen und Kräfteverhältnisse im wissenschaftlichen, sozialen und künstlerischen Raum der Literatur und Philologie immer neu ausgelotet werden. Der entscheidende Punkt bei der Konstruktion literarischer Gelehrtenrepubliken liegt darin, dass ihre Autoren – auch in der satirischen Brechung – zunächst auf eine ›moralische Ökonomie‹16 der Republikaner im Sinne einer über ihre Rahmen- und Forschungsbedingungen einigen Gemeinschaft zu vertrauen scheinen. Ebenso rekurrieren sie offenbar auf die Existenz von ›Denkkollektiven‹, wie Ludwik Fleck17 sie im Rückgriff auf die Annahme einer »Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen«,18 bezeichnet hat. Denn auch wenn die Autoren literarischer Gelehrtenrepubliken ein Nicht-Funktionieren beschreiben, scheinen sie doch davon auszugehen, dass das Modell eigentlich funktionieren müsste, weil es im Interesse aller – und nicht zuletzt auch ihrer selbst – wäre. Bereits Aristoteles hatte die Fragen nach optimalen Lern- und Arbeitsbedingungen anders, vielleicht pragmatischer beantwortet. Er hatte in dem berühmten ersten Satz der Metaphysik19 zwar einerseits festgestellt, dass die 16 Den Begriff der ›moralischen Ökonomien‹ versteht Lorraine Daston wie folgt: »Eine moralische Ökonomie ist ein balanciertes System emotionaler Kräfte, mit Gleichgewichtspunkten und Randbedingungen. Sie ist etwas Kontingentes und Formbares, keiner Notwendigkeit unterworfen; und dennoch unterliegt eine moralische Ökonomie in ihrer Zusammensetzung und Wirkungsweise einer gewissen Logik« (Lorraine Daston: Die moralischen Ökonomien der Wissenschaft. In: dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Aus dem Englischen übers. v. Gerhard Herrgott, Christa Krüger u. Susanne Scharnowski. Frankfurt a. M. 2001, S. 157–185, hier S. 158). Allerdings ist ihr der Vorwurf gemacht worden, dass sie dieses System als zu ideal verstehe und etwa wirtschaftliche Interessensfaktoren bei der Forschung, z. B. in den Naturwissenschaften, außer Acht gelassen habe. Vgl. Füssel: Grenzen, S. 415, der die Kritik an Daston kurz darstellt. 17 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. 10. Aufl., Frankfurt a. M. 2015. 18 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 54. 19 Aristoteles: Metaphysik. 1. Halbbd.: Bücher I (A)–VI (E). In der Übersetzung v. Hermann

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Menschen von Natur aus nach Wissen streben, aber andererseits in der Nikomachischen Ethik20 gesagt, dass sie gewisse Zwecke damit verfolgen, und zwar solche, die ihrem eigenen Fortkommen dienen. Sie sind damit eben nicht nur der Idee des Kollektivs zuträglich, sondern auch privat nützlich. Dieser ›Aristotelische Pragmatismus‹, wie ich ihn nennen möchte, verdeutlicht, dass der Zweck der Forschung nicht nur im Wissenserwerb liegt, sondern auch in den Zielen, die jeder Einzelne für sich damit verfolgt. In diesem Spannungsfeld von ideal gedachtem Kollektiv, seiner stets zweifelhaft bleibenden Umsetzung und der ebenso zweifelhaften Rolle seiner Akteure möchte ich meine folgenden Überlegungen ansiedeln. Denn indem die literarischen Texte zum Spiegel der eigenen, zeitgenössischen Forscher- oder Schriftstellergesellschaft und ihrer dysfunktionalen Wirkungsräume werden, bilden sie die genuinen Existenzbedingungen und -probleme der Autoren in ihrer Zeit ab und sind somit für die Zeitgenossen und die Nachwelt nicht nur von Interesse für die wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern auch für die sozialen Bedingungen gemeinsamen Arbeitens innerhalb der Gelehrtengemeinschaft.

II.

Diego Saavedra Fajardo: República literaria

Die kurz vor 1612 zunächst unter dem Titel Juicio de Artes y Sciencias entstandene Repfflblica literaria, deren Verfasser wahrscheinlich der spanische Botschafter Don Diego de Saavedra Fajardo (1584–1648) ist, wurde erst postum 1655 gedruckt,21 1748 erstmals und 1771 zum zweiten Mal ins Deutsche übersetzt.22 Es ist eine formal an Justus Lipsius Somnium (1581) bzw. Dantes Commedia (16. Jh.) orientierte, wie diese in Form eines Traumes vorgetragene, satirische Allegorie auf die europäische res publica litteraria um 1600. In der deutschen Forschung23 ist der Text bisher nur wenig beachtet worden. Jaumann

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Bonitz neu bearbeitet, mit Einleitung u. Kommentar hg. v. Horst Seidel. Griechisch – deutsch. Hamburg 1978, S. 3. Aristoteles: Nikomachische Ethik (1138 b 35). Siehe die moderne Ausgabe Diego Saavedra Fajardo: Repfflblica literaria. Hg. v. Jos8 Carlos de Torres. Madrid 1999. Ich zitiere im Folgenden direkt im Text mit der Sigle SF GR nach der zweiten deutschen Übersetzung: Die Republik der Gelehrten, oder allegorische und kritische Beschreibung der Künste und Wissenschaften; welche von Dom Diego Saavedra Fajardo, Ritter des Ordens von St. Jago u.s.w. hinterlassen worden, und nach dessen Tode in spanischer Sprache ans Licht getreten. Prag 1771. Vgl. Jaumann: Ratio clausa, S. 414ff.; Christian Romanoski: Tacitus emblematicus. Diego de Saavedra Fajardo und seine »Empresas Politicas«. Berlin 2006 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft Bd. 99), darin zur Gelehrtenrepublik der kurze Abschnitt S. 28; Jan Henrik Witthaus: Sozialisation der Kritik im Spanien

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ordnet ihn innerhalb seiner Typologie der Gelehrtenrepubliken dem »topischsatrische[n]«24 Modell zu, in dem im wesentlichen »Desillusionierung durch Denunziation und burlesken Spott« betrieben werde, indem »die Einrichtungen, die Produkte, vor allem die gelehrten Disziplinen und ihre Vertreter unnachsichtig als leere Betriebsamkeit entlarvt« werden.25 Die Divergenzen in Saavedra Fajardos Gelehrtenrepublik zeigen vor der Folie eines Idealstaates die aktuellen Dysfunktionalitäten dieses ›Denkkollektivs‹. Jaumann hat diese Welt treffend charakterisiert: Im Verlaufe dieser Wanderung werden die Einrichtungen, die Produkte, vor allem die gelehrten Disziplinen und ihre Vertreter unnachsichtig als leere Betriebsamkeit entlarvt, unproduktiv und beherrscht von den Lastern der superbia, der böswilligen Kritiksucht, der üblen Nachrede und all den topischen morbi eruditorum, die aus der Gelehrtensatire wie aus der Lukianischen Tradition bekannt sind […].26

Als Ursache der ganzen Misere der Gelehrtenrepublik waren zu Beginn der Erzählung die Erfindung der Tinte und des Buchdruckes vorgeführt worden, die es den Gelehrten erlaubt hätten, ihre Erkenntnisse in Form von Schriften und Büchern zu verewigen, damit aber auch an einem kleinen, viel zu oft missbrauchten Stück Unsterblichkeit Teil zu haben. Die Möglichkeit, dem eigenen Denken Bestand zu verschaffen, habe aber, wie der Erzähler meint, nur dazu geführt, dass die Gelehrten nun nur noch nach eitlem, leerem Ruhm strebten und sich dabei gegenseitig zerfleischten. Diese Menge unnützer Schriften habe ihn, so der Erzähler, in eine Krise gestürzt, deren Folge eine Traumreise in eine Gelehrtenrepublik gewesen sei, von der er nun berichtet. Auf den Stationen ihrer Wanderung – der Erzähler wird von dem antiken Polyhistor Marcus Varro (116–27 v. Chr.) geführt – werden die beiden Reisenden Beobachter und Zeugen jeder Art von sinn- und fruchtloser Wissenschaftsbemühungen und feindseliger Sticheleien der Einwohner der Gelehrtenrepublik untereinander. Sie seien »melancholisch, mager und abgezehrt« und es sei »wenig gutes Vernehmen unter ihnen, die Nacheifrung und der Neid verzehrten sie.« (SF GR 76) Nur die, die sich »am meisten in den Künsten und Wissenschaften hervorthaten«, würden in den Adelsstand erhoben, der Rest gehöre zum Pöbel und treibe »das Gewerbe, welches die meiste Beziehung auf des aufgeklärten Absolutismus. Von Feijoo bis Jovellanos. Frankfurt a. M. 2012, S. 42–53; sowie Götz Müller : Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989, S. 114f. – In der Forschungsliteratur und Überblicksdarstellungen zur Utopie und zur Gelehrtenrepublik wird der Text allerdings regelmäßig, wenn auch nur kurz, erwähnt. Vgl. z. B. Alexander Kosˇenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003, S. 302–305. 24 Jaumann: Ratio clausa, S. 413. 25 Ebd. 26 Ebd.

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seine Profession in der Litteratur« (SF GR 77) habe. Grammatiker sind Krautund Obstverkäufer, Kritiker Strumpfflicker, Redner Seiltänzer und Marktschreier, Geschichtsschreiber Kuppler, Poeten verkaufen Vogelkäfige, Blumensträuße, Süßigkeiten und Spielzeug, Ärzte sind Fleischer und Totengräber usw. (SF GR 77ff.). Nachahmung gelte hier nicht als Diebstahl, sondern als Verdienst. Die Suche der Mathematiker nach der »Gvadratur des Zirkels« (SF GR 84) sei unnütz, ebenso wie die der weltfremden Philosophen nach der »Natur und dem Wesen der Seele« (SF GR 88). Weder Alchemiker noch Mediziner, weder Juristen noch Geschichtsschreiber werden von der Kritik ausgenommen. Die dargestellte Welt zeigt, indem sie Analogien zu utopischen Texten aufruft, fast dystopischen Charakter. Am Ende des Textes werden die Reisenden Zeugen einer Gerichtsverhandlung, in der die Lehre der Erzählung exemplifiziert wird. Bereits im Laufe der Traumerzählung waren die »Kunstrichter« (SF GR 99) – Kommentatoren und Poetiker – übel kritisiert worden, die als Barbiere erscheinen. Varro erklärt dem Erzähler, was sie in Wirklichkeit seien: [D]ie Leute, die ihr sehet, sind keine Barbierer; es sind Kunstrichter, eine Gattung Wundarzte, die sich hier darauf legen, den Körper der Schriftsteller seine Vollkommenheit zu geben, oder ihre Glieder wieder einzurichten. Einigen sezen sie künstliche Nasen an; andern geben sie falsche Haare, Zähne, Augen, Arme und Füsse: was aber noch schlimmer ist, so nehmen diese kühnen Wundärzte den Vorwand, daß vor Erfindung der Buchdrukerkunst, die Abschreiber unzählige Fehler in die Werke der Alten gebracht, und verstümmeln diese Schriftsteller ganz unbarmherzig, indem sie ihnen Finger und Hände als ihnen nicht zugehörige Glieder abschneiden, nur um andere von ihrer eigenen Arbeit anzufliken; wodurch sie alles entstellen was durch ihre Hände geht. Ihre Vermessenheit gehet so weit, daß sie einen Schriftsteller sogar Ideen aufbürden, die er niemals gehabt hat, und seine Ausdrüke auf Kosten des Verstandes so durcheinanderwerfen, daß das Buch nicht anderst als eingelegte Arbeit aussiehet. (SF GR 99f.)

In der letzten Szene wird nun über einen solchen Kunstrichter, Julius Caesar Scaliger27 (vgl. SF GR 132), zu Gericht gesessen. Die Ankläger sind […] Ovid, Plautus, Terenz, Properz, Tibull, Klaudian, Statius, Silius Italicus, Lukan, Horaz, Persius, Juvenal und Martial […]; fast alle gelähmt und mit verhauenem Gesichte; der eine ohne Augen, der andere ohne Nase, einige mit eingesezten [!] Zähnen und falschen Haaren, andere mit hölzernen Armen und Beinen; mit einem Worte, so entstellt, daß sie sich selbst nicht mehr kannten. (SF GR 133)

27 Vgl. zur Vorgeschichte der Textkritik in der Frühen Neuzeit und auch zur Rolle Scaligers: Klara Vanek: Ars corrigenda in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte der Textkritik. Berlin u. New York 2007 (Historia Hermeneutica; Series Studia Bd. 4).

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Ovid bringt, auch im Namen der anderen Dichter, seine rhetorisch kunstvolle Anklage vor und ergreift nicht nur für die antiken, sondern auch für die »Schriftsteller der Andacht und Religion«, die Scaligers »ruchlose Hände« ebenfalls verstümmelt hätten, Partei (SF GR 137). Scaliger antwortet »mit einem solchen Stolze, und mit einer solchen Verachtung von dem Alterthum so geschäzten Dichter […]« (SF GR 137), dass die Geschmähten zur Selbstjustiz greifen und ihn verprügeln. Als der Erzähler Partei für ihn nehmen will, gerät er in das Handgemenge und erwacht. Abschließend resümiert er : [I]ch sah ein, daß der wahre Weise nicht derjenige ist, der es am weitesten in dem Wissenschaften gebracht hat, sondern vielmehr derjenige, der sich gesunde Begriffe von allen Dingen erwirbt, sich über die ungegründeten und eiteln Meinungen des Pöbels erhebt, und keine wahren Güter als solche erkennt, die in unserer Gewalt und von dem Willen anderer unabhängig sind; derjenige endlich dessen Seele sich immer gleich, den Eindrüken der Liebe und Furcht unzugänglich, wenig Dinge findet die ihres Wunsches würdig wären, und nicht das stark genug seyn könnte sie zu bezwingen oder zu beunruhigen. (SF GR 140)

Die Kritik, die der Erzähler hier formuliert, richtet sich mit Julius Caesar Scaliger (1484–1558) gegen einen der prominentesten Philologen der europäischen res publica litteraria, der sich im fünften und sechsten Band seiner Poetices libri septem (1561),28 dem Criticus und Hypercriticus, die Deutungs- und Kritikhoheit über alle toten und lebenden Autoren angemaßt hatte.29 Noch in Zedlers Universal-Lexicon heißt es zu ihm, er war : […] einer der gelehrtesten und berühmtesten Männer des 16 Jahrhundert […] sonderlich aber ein recht fruchtbarer Criticus […]. Aber in Schriften war er überaus heftig […]. Man hat ihm daher Schuld gegeben, daß er sich zum Dictatore in rep. literaria aufgeworffen: wie man ihm denn auch sehr übel ausgelegt, daß er von sich gesagt: daß, wenn man auch den Xenophon und Masinissa zusammen setzte, und einen Menschen daraus machte, diese herrliche Zusammensetzung doch ihm noch nicht gleich kommen würde.30

Seine Einschätzung als überaus scharfer Kritiker war fast 200 Jahre nach seinem Tod offenbar legendär geworden. Die Frage ist nun, inwiefern Saavedra Fajardo versucht, die Divergenzen, für die 28 Julius Caesar Scaliger : Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch. 6 Bde. Unter Mitwirkung v. Manfred Fuhrmann hg. v. Luc Deitz u. Gregor VogtSpira. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994–2011. 29 Vgl. zur Rolle Scaligers die Einleitung zum 5. Buch der Poetices libri septem: Gregor VogtSpira: Einleitung. In: Scaliger : Poetices libri septem, Bd. IV: Buch 5, S. 22–41. Dort auch weitere Forschungsliteratur. 30 Art. ›Scaliger (Julius Cäsar)‹. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 34: Sao–Schla. Leipzig u. Halle 1742, Sp. 511ff., hier Sp. 511f.

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Scaliger offenbar paradigmatisch steht, für sein Konzept und seine Vorstellung von Wissenschaft fruchtbar zu machen. Vor der satirischen Folie eines Idealstaates werden die aktuellen Dysfunktionalitäten dieses ›Denkkollektives‹ um 1600 im Spannungsfeld der beiden Pole von leerem Ruhm und selbstkritischer Vernunft abgebildet. Imitatio ist dort Selbstzweck und die Dichter, Denker und Forscher dieser Republik spielen ein mechanisches, selbstgenügsames Spiel mit tradierten Versatzstücken, anstatt sich eines zeitgemäßen, vorurteilslosen, konstruktiv-kritischen Denkens und einer – so der Vorwurf an Scaliger – maßvollen, selbstkritischen und nachvollziehbaren Quellenkritik zu befleißigen. Bei aller Satire bleibt das Postulat Saavedra Fajardos auch innerhalb seiner desaströsen Schilderung der zeitgenössischen Wissenschaftslandschaft erhalten: der Vernunft und der Nützlichkeit der Wissenschaften zu folgen, Extremmeinungen zu vermeiden und als oberste Prämisse jede wissenschaftliche Erkenntnis christlich zu fundieren. Der Verfasser ist dabei derjenige, der den Richterstuhl einnimmt. Sein vernünftiges Urteil über alle Wissenschaften, das an vielen Stellen des Textes die Mitte zwischen den Extremen sucht, fragt nach einem Wissen, das der Zweckfreiheit eitlen akademischen Forschens ein Nützlichkeitspostulat entgegensetzt. Es geht Saavedra Fajardo also nicht darum, einen zwar fiktionalen, aber vielleicht funktionalen »spezifisch historischen Ort«31 einer Gelehrtenrepublik, wie Jaumann es formuliert hat, zu entwerfen, sondern auf Verwerfungen und Anpassungs- und Veränderungsbedarf im sich neu konstituierenden Wissenschaftssystem der Frühen Neuzeit hinzuweisen. Auch wenn Saavedra Fajardos eigenes Interesse im Dienste der Gelehrtenrepublik in den Hintergrund zu treten scheint, wäre doch für ein vollständiges Bild nach seiner eigenen Rolle im System zu fragen. Möglicherweise geht es um die Verteidigung seiner humanistischen Grundüberzeugungen, die er im neuen Wissenschaftssystem in Frage gestellt sieht. Bereits Jaumann hatte darauf hingewiesen, dass Saavedra Fajardos Gelehrtenrepublik »in einem gar nicht negativen Sinn als konservativ zu bezeichnen« sei.32 Die Frage des Autors an sich selbst ist also vielleicht, wie er den Hiat zwischen Tradition und Moderne bewältigen kann und dabei auf einem ›vernünftigen‹ Weg bleibt.

31 Jaumann: Respublica litteraria, S. 29. 32 Jaumann: Ratio clausa, S. 414.

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III.

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Friedrich Gottlieb Klopstock – Die deutsche Gelehrtenrepublik

Der Ansatz der Deutschen Gelehrtenrepublik (1774)33 von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) ist nur aus dem zeitgenössischen Kontext heraus erklärbar. Während bei Lessing noch der Bezug auf die europäische res publica litteraria klar gesetzt war,34 will Klopstock der Verspätung des Deutschen mit Hilfe einer nationalisierten und nationalistischen deutschen Gelehrtenrepublik entgegenwirken. Das Zielpublikum seiner in der Realität gescheiterten,35 dann auch in der literarischen Ausführung Fragment gebliebenen Gelehrtenrepublik waren die Literaten der neuen Dichtergeneration, mit denen Klopstock den Gedanken der Abgrenzung vom Ideal des poeta doctus teilte. Viele Gedanken der Gelehrtenrepublik stießen allerdings schon manche Zeitgenossen ab,36 sind aber besonders aus dem Rückblick der politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts mehr als fragwürdig.37 Klopstock entwirft in seinem Gedankenexperiment das Ideal einer deutschen Gelehrtenrepublik im Vergleich mit den übrigen europäischen nationalsprachlichen Gelehrtenrepubliken. Der schöpferischsten müsse dabei der höchste Rang zukommen – und das sei nach Klopstocks Meinung die deutsche. Den »Ausländern«, die etwas dagegen einzuwenden hätten, sei zu antworten: »I n k e i n e r G e l e h r t e n r e p u b l i k i s t s o v i e l e n t d e k t u n d e r f u n d e n w o r d e n , a l s i n d e r d e u t s c h e n; und sie werden still33 Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Bd. I: Text. Hg. v. Rose-Maria Hurlebusch. Berlin u. New York 1975. Bd. II: Text/Apparat. Hg. v. Klaus Hurlebusch. Berlin u. New York 2003 (Friedrich Gottlieb Klopstock. Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe [Hamburger Ausgabe]. Abt. Werke. Bd. VII,1 und Bd. VII, 2). Ich zitiere im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle FGK GR direkt im Text. 34 Z. B. in seinem Drama Der junge Gelehrte von 1748. 35 Im Jahr 1768 hatte Klopstock dem späteren Kaiser Joseph II. die Gründung einer Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen, die der Beförderung der deutschen Kultur dienen sollte. Dieser sog. ›Wiener Plan‹ fand jedoch kein Interesse und wurde nur in der literarischen Form der Deutschen Gelehrtenrepublik umgesetzt. Ein geplanter zweiter Band blieb Fragment. 36 Eine Darstellung der umfangreichen Forschungsliteratur zu Klopstocks Gelehrtenrepublik kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. – Vgl. hierzu u. a. die kurze prägnante Einführung bei Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart u. Weimar 2000, S. 108–121. Dort auch Angaben zu weiterer Forschungsliteratur. 37 Uwe Japp meint treffend, der Aufruf zur Kolonialisierung sei »aus zwei Gründen peinlich. Erstens, weil es schon zu Klopstocks Zeiten bessere Alternativen gab. Zweitens, weil die Geschichte nach Klopstock, wovon Klopstock freilich nichts wissen konnte, diese Sicht der Dinge endgültig diskreditiert hat.« Vgl. Uwe Japp: Zweimal deutsche Gelehrtenrepublik. Klopstock und Arno Schmidt. In: Gerhard Schulz u. Tim Mehigan (Hg.) in Verbindung mit Marion Adams: Literatur und Geschichte 1788–1988. Bern [u. a.] 1990 (Australisch-Neuseeländische Studien zur deutschen Sprache und Literatur Bd. 15), S. 263–284, das Zitat S. 272.

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schweigen, wenn sie nicht unwissend oder Thoren sind, die in Ausflüchten oder Hartnäckigkeit Ruhm suchen.« (FGK GR 9) Folgt man der sprunghaften Argumentation Klopstocks, mit der er die Überlegenheit der deutschen Gelehrtenrepublik nachweisen will, ergibt sich ein Dreiklang von Voraussetzungen auf sprachlicher, planerischer und intellektueller Ebene, die er anhand der Klimax 1. »Sprachkentnis«, 2. »Weg, der zum Erfinden führt« und 3. »Erfinder« sein, erläutert. Er führt hier eine rhetorisch strukturierte Wirkungsästhetik vor, deren poetologischer Wert für die Zeitgenossen sicherlich kaum zu überschätzen ist. Seine Ausführungen zur ersten der genannten Voraussetzungen, der »Sprachkentnis« zeigen, wenn man sie z. B. im Zusammenhang mit den Oden liest, ein Höchstmaß an gelehrter und gefühlsmäßiger Durchdringung sprachlicher Phänomene. Nicht nur »grammatische Richtigkeit der Sprache« (FGK GR 71), sondern ein Bewusstsein für die verschiedensten Bedeutungskonnotationen der Wörter sei wesentlich, nicht nur ein Verständnis für die Buchstaben, sondern für die »unlehrbare Bildung der Töne«, die all denjenigen »ein Geheimnis [bleibe], denen ihr Gefühl nichts darüber sagt.« (FGK GR 72) Die daraus folgenden Behauptungen allerdings, »daß deine Sprache eine reichhaltige, vollblühende, fruchtschwere, tönende, gemesne, freye, bildsame, (doch wer kann von ihr alles sagen, was sie ist?) mänliche, edle, und vortrefliche Sprache ist, der es kaum die griechische, und keine der andern Europäersprachen bieten darf« (FGK GR 89), genauso wie die, »daß es die Deutschen sind, die, nach den Griechen, am meisten erfunden haben« und, »daß man bald sagen könne: Die Deutschen haben mehr, als die Griechen erfunden« (FGK GR 81), werten die anderen europäischen Sprachen sowohl qualitativ als auch quantitativ ab. Dass diese Kriterien unangemessen, absurd und überdies nicht verifizierbar sind, leuchtet ein. Der »Erfinder« müsse dann, so die zweitgenannte Voraussetzung, auf den »Weg, der zum Erfinden führt«, gebracht werden, dann erst könne er tätig werden. Erst hier nun scheint Klopstock in entscheidendem Maße auf die Institution der Gelehrtenrepublik Bezug zu nehmen, denn sie sei es, die den Rahmen zur freien Entfaltung für den Erfinder biete. An dieser Stelle zeigt sich, dass Klopstocks Gelehrtenrepublik, auch wenn er das suggerieren will, keineswegs Kollektivcharakter hat. Bei näherem Hinsehen stellt sich das, was kollektivistisch zu sein scheint, als extrem individualistisch auf die Förderung des einzelnen Genies hinzielend heraus. Alle Mitglieder der Gelehrtenrepublik nämlich, die keine Genies sind, sind diesen in Rang und Bedeutung unterlegen und zu verschiedensten Dienstleistungen verpflichtet. Mit dem Begriff des »Erfinders« bezeichnet Klopstock die dritte und gleichzeitig vornehmste Voraussetzung der Dichtung. Sie drückt sich zunächst in der Ständehierarchie der Gelehrtenrepublik aus, die gleichzeitig eine Abgrenzung gegenüber der aristotelischen, rein mimetischen Poetik zeigt:

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Wer nur Andrer Meinung oder Geschmak hat, oder wer nur nachahmt, ist ein Knecht. Wer selbst denkt, und selten nachahmt, ist ein F r e y e r . Wer als Entdecker oder Erfinder eine gewisse Höhe erreicht hat, ist ein E d l e r . (FGK GR 13)

Nicht das nachahmende, nicht das nur selbst denkende, sondern das entdeckende und erfindende Individuum wir damit in Klopstocks Gelehrtenrepublik am meisten geschätzt. Mit der Darstellung des Erfinders geht im Bereich der Dichtung die des Genies Hand in Hand: Das poetische Genie. Ist die Reizbarkeit der Empfindungskraft etwas grösser, als die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft; und ist die Schärfe des Urtheils, in ungleichem Abstande von beyden, grösser als sie: so sind dieß vielleicht die Verhältnisse, durch welche das poetische Genie entsteht. (FGK GR 83)

Analog zur Ständehierarchie definiert Klopstock die Natur der Dichtung nicht mehr aus ihrer Fähigkeit, etwas (passiv) nachzuahmen, sondern aus der Perspektive ihrer (aktiven) Wirkung, nämlich des Gefühls, das sie hervorruft: Wer erfindet, der sint entweder die Ursachen zu schon vorhandnen Wirkungen aus, oder auch zu solchen Wirkungen, die erst noch entstehn sollen, und die er selbst hervorbringen, oder durch andre will hervorbringen lassen. […] Bey der zweiten Art der Erfindungen ist es offenbar, daß man nicht gut erfunden habe, wenn die abgezweckte Wirkung nicht erfolgt; und gut, wenn sie erfolgt. Man nehme zum Exempel an, daß der Arzt durch seine neue Arzney völlige Genesung, der Dichter durch sein Gedicht starke Rührung, der Mechaniker durch seine Machine Fortreibung einer gewissen Last zu einer gewissen Weite haben hervorbringen wollen; so kann man von dem Werthe ihrer Erfindungen nicht anders, als nach dem Erfolge, urtheilen. (FGK GR 80f.)

Und das Gefühl entsteht durch die zuerst genannte »Sprachkentnis«, die kunstvolle Sprache, deren aber nur der Erfinder bzw. das Genie mächtig ist. Fasst man Klopstocks Gedanken zur Gelehrtenrepublik zusammen, stellt sich heraus, dass er auf mindestens zwei Ebenen der Idee eines republikanischen Gedankens oder Kollektives widerspricht, während seine Überlegungen zum Zusammenhang von Gefühl, Sprachqualität und Kunst auf einer anderen gedanklichen Ebene durchaus ein anschlussfähiges Moment von Sprachkollektiv darstellen. Zunächst negiert der Gedanke der Favorisierung des Deutschen als der besten Nationalsprache, der natürlich nicht neu ist, sondern u. a. schon in den Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts Thema war, die fruchtbaren Möglichkeiten eines kollektiven europäischen Diskurses, wie er z. B. in der Suche nach gemeinsamen Sprachwurzeln oder gemeinsamen kulturellen Wurzeln möglich wäre. Er negiert auch die Möglichkeiten historischer und aktueller

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Sprachinteraktionen und Sprachmischungen. Sprachgeschichte und Sprachinteraktion werden so als Momente der eigenen Identitätsstiftung abgekapselt und verstärken die Fokussierung auf sich selbst. Die Möglichkeit, sich das Fremde organisch und bereichernd im Sinne eines vielstimmigen Gedankenaustausches anzuverwandeln, wird damit abgeschnitten. Die Absurdität von Klopstocks diesbezüglicher Gedankenführung wird heute niemand mehr ernsthaft abstreiten und seine Forderung, dass die deutsche Gelehrtenrepublik die übrigen europäischen Nationen im »edlen, […] ehrenvollen, […] vaterländischen Wettstreit« (FGK GR 233) besiegen müsse, wirkt mindestens engstirnig. Weiterhin negiert Klopstock die Möglichkeit einer Gelehrtenrepublik mit seinem Geniegedanken. Die Republik erscheint letztlich als ein Paradoxon, da der Geniegedanke immer auf die Inthronisierung eines ›Einzelerfinders‹ hinausläuft, der mit einem Kollektivgedanken inkompatibel ist. Das Genie richtet den Blick auf die Differenz, Andersartigkeit, unvergleichliche Besonderheit und Einzigartigkeit der eigenen Schöpfung und nicht auf hybride Formen der Zusammenarbeit – daran sind bekanntlich auch die Jenaer Romantiker gescheitert. Das für das Geniekonzept anschlussfähige Moment von Klopstocks Ausführungen liegt hingegen auf einer anderen gedanklichen Ebene. Der Reiz, der für die Zeitgenossen, vor allem für die Stürmer und Dränger in Klopstocks Ausführungen lag, speiste sich primär aus den oben dargelegten Gedanken zur Sprache und zur Wirkungsästhetik.38 Allerdings kann sich dieses Geniekonzept eben gerade nicht in der Gelehrtenrepublik entwickeln, nicht im institutionellen Rahmen, sondern nur im unhierarchischen Raum der Sprache und Poetik. So ließe sich vielleicht schlussfolgern, dass Klopstock sich zwar mit dem Titel Deutsche Gelehrtenrepublik in die Traditionslinie dieser Texte einreiht, tatsächlich ist es aber keine Gelehrtenrepublik, sondern eine ›Genierepublik‹ im freien Raum der Sprache. Dieser sprachliche Raum der Entfaltung und Vervollkommnung bildet eine metaphorische ›Genierepublik‹, die nur denjenigen zugänglich ist, die ein Verständnis für die »unlehrbare Bildung der Töne« (FGK GR 72) und die anderen von Klopstock so tiefsinnig beschriebenen Fähigkeiten haben. Damit bilden die poetologischen Überlegungen zwar sicherlich nicht »[d]ie Einzige Poetick aller Zeiten und Völcker«39, wie der junge Goethe begeistert an Schönborn schrieb, aber die Briefstelle zeigt doch, wie sehr Klopstock damit den Nerv der jungen Dichtergeneration traf, die sich offenbar in dieser Art von ›Genierepublik‹ beheimatet fühlte. Aus Klopstocks Gedanken zur Einrichtung einer Gelehrtenrepublik, wie er sie im »Wiener Plan« auch tatsächlich 38 Vgl. Kohl: Klopstock, S. 118–119. 39 Johann Wolfgang Goethe: Goethe an Schönborn, 10. Juni 1774. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. von Dieter Borchmeyer [u. a.]. Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. v. Friedmar Apel u. Hendrik Birus. Frankfurt a. M. 1998, S. 377.

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angedacht hatte, spricht der Optimismus, für seine eigenen dichterischen Bestrebungen Raum zu finden. Dass er, obwohl er ihnen ein Programm lieferte, damit letztlich von den Stürmern und Drängern überrannt wurde, die sich unter Zurücklassung Klopstocks diesen Sprachraum eroberten, steht auf einem anderen Blatt.

IV.

Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. Ein Kurzroman aus den Roßbreiten

In Arno Schmidts (1914–1979) Gelehrtenrepublik. Ein Kurzroman aus den Roßbreiten (1957)40 scheint es zunächst, als solle der klassische Geniegedanke ausgehebelt werden,41 was verwunderlich ist, denn dass Arno Schmidt den Geniestatus des sprachmächtigen, solipsistischen Künstlers gern für sich beanspruchte und überdies kein Freund des Kollektivs war, zeigen viele seiner Werke. Diese Interpretation der Geschichte ist vom Ende des Romans her zu lesen: Der Erzähler, der junge Journalist Charles Henry Winer, verlässt per Senk40 Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten. In: ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe 1: Romane Erzählungen Gedichte Juvenilia. Bd. 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Bargfeld 1986, S. 221–349. – Ich zitiere im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle AS GR im laufenden Text. 41 Dass der Roman auch andere Deutungsmöglichkeiten hat, steht völlig außer Frage, kann aber hier nur angedeutet werden. Vgl. Robert Weninger : Arno-Schmidt-Auswahlbibliographie. Wissenschaftliche Sekundärliteratur nach Titeln und Themen. 2., erweiterte Aufl., München 2006. – Die häufigste Lesart scheint die der Abbildung des Kalten Krieges zu sein. Vgl. z. B. Hiltrud Gnüg: Warnutopie und Idylle in den Fünfziger Jahren. Am Beispiel Arno Schmidts. In: dies. (Hg.): Literarische Utopie-Entwürfe. Frankfurt a. M. 1982, S. 277–299; ähnlich noch Carsten Jakobi: Negative Utopie und Geschichtsdichtung im 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik des negativ-utopischen Romans am Beispiel von Arno Schmidts »Gelehrtenrepublik« und Paul Gurks »Tuzub 37«. In: Marijan Bobinac, Wolfgang Düsing u. Dietmar Goltschnigg (Hg.): Tendenzen im Geschichtsdrama und Geschichtsroman des 20. Jahrhunderts. Zagreb 2004 (Zagreber Germanistische Beiträge; Beihefte Bd. 8), S. 59–77. – Neuere Ansätze lesen den Text z. B. (post-)kolonialistisch: Stefan Höppner : Zwischen Utopia und Neuer Welt. Die USA als Imaginationsraum in Arno Schmidts Erzählwerk. Würzburg 2005 (Klassische Moderne Bd. 2). – Monika Albrecht: »Mir war nie wohl in meiner rosa Haut«. Arno Schmidts ›Kurzroman‹ »Die Gelehrtenrepublik« aus postkolonialer Sicht. In: Der Prosaponier als letzter Dichter. Acht Vorträge zu Arno Schmidt. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Bargfeld 2001 (Hefte zur Forschung Bd. 6), S. 53–72. – Utopiekritik behandelt Wolfgang Albrecht: Endzeitbilder, Unheilserwartungen. Zur Anverwandlung und Umdeutung neuzeitlicher Utopien bei Arno Schmidt. In: Arno Schmidt Stiftung (Hg.): Der Prosaponier als letzter Dichter, S. 91–104. – Einen spannenden neuen Ansatz zur Mythologie bei Schmidt liefern Beatrice Vogel und Ralf Simon. Vgl. Beatrice Vogel: Odyssee durch die Unterwelt. Die antikmythologischen Zitate und Schemata in Arno Schmidts Roman »Die Gelehrtenrepublik«. In: Schauerfeld 23 (2010), H. 1/2, S. 17–41. – Ralf Simon: Das Problem des Teiresias. Arno Schmidts bildverrätselte Thanatologie (»Gelehrtenrepublik«). In: Klaus Geus (Hg.): Arno Schmidt und die Antike. Untersuchungen, Annäherungen, Essays. Dresden 2012, S. 187–213.

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rechtstarter – die Geschichte spielt in der Zukunft des Jahres 2008 – die immer schneller rotierende schwimmende Insel der IRAS, der International Republic for Artists and Scientists, die soeben dabei ist, auseinanderzubrechen, weil die Amerikaner auf der rechten Seite in die eine Richtung steuern, die Sowjets auf der linken in die andere. In der letzten Zeile spricht Winer im inneren Monolog: »(Und was’n Einfall das wieder : ›Einmal lebt’ich wie Götter‹ ! ! !)« (AS GR 349). Mit diesem Hölderlin-Zitat aus dem Gedicht An die Parzen hatte der Pilot, der Winer wieder zurück in die ›normale‹ Zivilisation bringen sollte, ihn begrüßt.42 Der Text lautet im vollständigen Original: An die Parzen Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, Daß williger mein Herz, vom süßen Spiele gesättiget, dann mir sterbe. Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; Doch ist mir einst das Heil’ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen, Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel Mich nicht hinab geleitet; Einmal Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.43

Der Pilot hatte diese letzten Zeilen zitiert, weil er annahm, dass Winer auf der Insel der IRAS dieses »Einmal« erlebt hatte, denn was könnte, so seine offensichtliche Vorannahme, für einen Autor und Journalisten inspirierender sein, als ein Besuch der Gelehrtenrepublik. Schmidt leuchtet nun in seiner Gelehrtenrepublik die Bedingungen von Inspiration und Nicht-Inspiration und damit auch die des Geniegedankens entsprechend seiner Poetologie aus. Er bezieht sich u. a. explizit auf Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik (AS GR 270, FN 35), weist aber gleichzeitig dessen Ansatz der Favorisierung des Deutschen als Nationalsprache, den wohl auch er 42 Auf den Bezug zu Hölderlins Geniekonzept hat hingewiesen Jannis Goerlandt: Staging a European Republic of Letters. (Supra-)National Concepts of Literature in Arno Schmidt’s Early Prose. In: Nele Bemong, Mirjam Truwant u. Pieter Vermeulen (Hg.): Re-Thinking Europe. Literature and (Trans)National Identity. Amsterdam u. New York 2008 (Textext; Studies in Comparative Literature Bd. 55), S. 179–194, hier S. 185. 43 Johann Christian Friedrich Hölderlin: An die Parzen. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Bd. 1. Hg. v. Friedrich Beißner. Stuttgart 1946, S. 241.

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für hypertroph hält, zurück: Nach einem Atomkrieg, der einen verstrahlten Korridor in Mitteleuropa hinterlassen hat, ist neben anderen kleineren europäischen Sprachen auch das Deutsche fast völlig vom Erdboden verschwunden.44 Neben einigen wenigen, zum Zeitpunkt des Atomschlages verreisten Deutschen verfügen nur der Erzähler Winer als Nachkomme deutscher Ausgewanderter (Arno Schmidt figuriert als der Urgroßonkel Winers; AS GR 282) und sein Übersetzer Chr. M. Stadion (Anagramm für Arno Schmidt) noch über einen deutschen Wortschatz: »Verfasser : 1.400, Übersetzer : 8.580 (davon 3000 mhd.)« (AS GR 222). Der Roman – bzw. eigentlich nur die Notizen für die Reportage – werden also aus einer lebendigen Sprache, dem »Amerikanischen in eine tote Sprache übersetzt.« (AS GR 223) Die Geschichte ist in zwei große Teile gegliedert, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben scheinen. Der Erzähler Winer ist der erste Zivilist, der seit elf Jahren die Erlaubnis erhält, die IRAS zu besuchen und eine Reportage darüber zu verfassen (AS GR 225). Im ersten Teil durchquert er, nachdem er eine Reihe entwürdigender Untersuchungen und Befragungen durch Militär- und Regierungsmitarbeiter über sich hat ergehen lassen müssen, den sogenannten ›Hominidenstreifen‹, einen ehemals verstrahlten, nun von seltsamen, mutierten Mischwesen bevölkerten, nur scheinbar sich selbst überlassenen Abschnitt im mittleren Westen der USA. Die zweite Etappe der Reise bildet ein 50-stündiger Aufenthalt auf der IRAS, auf der in Kalter-Krieg-Manier Ost und West auf oberflächlich befriedeten, letztlich aber doch tief gespaltenen Inselhälften sitzen und versuchen, den dort lebenden Wissenschaftlern und Künstlern Produktivität abzuringen.45 Hinsichtlich der Konstruktion der beiden Welten zeigt sich, dass jede für eine eigene Art von Inspiration steht, die für die Klärung von Schmidts Gelehrtenbzw. Autor- und Geniekonzept aufschlussreich ist und sich sicherlich auch in anderen seiner Texte nachweisen ließe: Die Inspiration, die der Erzähler Winer im Hominidenstreifen erfährt, ist erotischer und im Ergebnis produktiver Natur, die auf der IRAS hingegen rein technischer, selbstbezüglicher, klassischer, und 44 Eine Art Vorgeschichte zu dieser Situation unmittelbar nach dem Atomschlag erzählt Arno Schmidt in der Geschichte »Schwarze Spiegel«. In: ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe 1: Romane Erzählungen Gedichte Juvenilia. Bd. 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Bargfeld 1987, S. 201–260. 45 Simon: Das Problem des Teiresias, S. 206 u. S. 210, hat darauf hingewiesen, dass der Erzähler Winer wie Odysseus eine Unterweltreise in eine Totenwelt antritt und dass beide Teile aus diesem Grunde klar zusammengehören. Er liest den Text als Thanatologie Schmidts, sieht die Dichotomien aber im Gegensatz zu meinem Ansatz eher innerhalb der jeweiligen Welten: »Die strukturierende Energie des Romans etabliert also eine permanente Dichotomie von A versus B, von gut versus böse, von Ich und Moi, Geist und Körper […]. Diese Matrix der grundlegenden Unterscheidungen wird vom Roman komplett unterlaufen. Es gibt offenkundig kein intaktes Leben, sondern nur einen mythogenen Maskenball des Todes.«

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damit letztlich unproduktiver Art. Anhand von jeweils drei Reiseerlebnissen werden die beiden Welten parallelisiert und bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit für die poetische Inspiration befragt.

a)

Trivialisierung durch Musealisierung: Masken und Denkmäler

Während im Hominidenstreifen u. a. sogenannte Masken bzw. fliegende Köpfe vorkommen, die durch Züchtung verschiedensten Porträts aus Kunst und Geschichte nachgebildet werden, gibt es auf der IRAS Denkmäler historischer Persönlichkeiten – sowohl Dichter als auch Politiker – denen die Köpfe nur aufgeschraubt sind. Beide Formen dienen einer pervertierten Musealisierung. Die fliegenden Köpfe bzw. Masken sind Sexualobjekte für den Oralverkehr, sie tragen z. B. die Gesichter von Nofretete oder der sumerischen Königin Schubad (AS GR 265f.). Ihre einzige Möglichkeit, sich zu äußern besteht in einem kehligen »Öhh : Hö : Hö : Hö !« (AS GR, 268). Den Denkmälern kann man je nach herrschender politischer Lage problemlos die Köpfe durch andere, zeitgemäßere ersetzen. Eine Anpassung an das jeweils politisch gewünschte Geschichtsbild ist damit völlig unproblematisch jederzeit möglich. Schmidt scheint hier eine doppelte Trivialisierung der Geschichte zu hinterfragen. Zum einen die, die historische Objekte und Persönlichkeiten nur als Folien persönlichen – hier erotischen – Geschmacks sieht, auf einen adäquaten historischen Zugang, der die Vergangenheit tatsächlich ›sprechen‹ ließe, aber verzichtet. Zum anderen die, die den Mantel der Geschichte nach dem jeweils herrschenden Wind hängt und sich der Auseinandersetzung mit möglicherweise unpassend und unbequem gewordenen Ikonen entzieht.

b)

Inspiration und Ent-Inspiration: Die Zentauren

Die ebenfalls in beiden Welten vorkommenden Zentauren stehen für den Moment gelingender oder scheiternder Inspiration. Im Hominidenstreifen verkörpert die junge und attraktive, unschuldige und unvoreingenommene, aber auch völlig unwissende Zentaurin Thalja – die Ähnlichkeit ihres Namens mit Thalia, der Muse der Komödie, liegt auf der Hand – diese Rolle. Sie steht für ein ›Zurück zu den Ursprüngen‹, für ein Abstreifen der Zivilisation. Die Inspiration, die sie bietet, ist rein erotischer Natur, und bleibt, wie der Erzähler am Ende konstatiert, »das entscheidende Bild dieser verrückten Tage« (AS GR 349). Diese Zeit mit Thalja ist die, für die das Hölderlin-Zitat »Einmal lebt’ ich wie Götter« steht. Auch auf der IRAS gibt es eine Art Zentauren und an ihnen zeigt sich, wie die Gesellschaft mit inspirierten Dichtern umgeht – sie sorgt für deren Ent-Inspi-

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ration. Zwei hoffnungsvolle, hoch produktive – und zumindest was den Mann angeht, auch hoch politische – Dichter der Westhälfte, Stephen Graham Gregson und die Lyrikerin Jane Cappelman sind seit ihren mehrwöchigen, durch Liebesaffären mit Russen begründeten, Aufenthalten in der Osthälfte völlig verändert. »Er schreibt keine Zeile mehr« (AS GR 319), »sie ist verstummt« (321). Wie sich herausstellt, sind ihre Gehirne von den Russen gegen die eines Hengstes und einer Stute ausgetauscht worden. Die zurückgekehrten Körper mit den Pferdehirnen laufen nun »gleichermaßen ›entgeistert‹ in Poet’s Corner herum« (AS GR 320), während die beiden Dichterhirne in den Pferdeköpfen bei den »Bolshies« (AS GR 346) auf der Koppel stehen. Stephen hat Jane gedeckt, was dabei herauskommen wird, weiß man noch nicht, »vielleicht Zentauren« (AS GR 338). Tatsächlich war es den Amerikanern gar nicht unrecht, dass Gregson, der unbequeme politische Dichter, plötzlich nicht mehr provozierte. Die sowjetische Art der Hirnverpflanzung kommt damit auf fatale Weise den Ruhigstellungsabsichten der westlichen Seite entgegen. Hirnamputation oder »Vertierung«, die Arno Schmidt hier aus der Metapher in einen realen Vorgang übersetzt, wird politisch und gesellschaftlich tragfähig.

c)

Unsterblichkeit: Genieextrakte und Never=nevers

Dass die Institutionalisierung einer Gelehrtenrepublik für das Genie und die Schöpferkraft kontraproduktiv ist, hatte Winer schon kurz nach seiner Ankunft auf der IRAS bemerkt. Die auserwählten Dichter und Künstler, die hier freien Raum zum Schaffen finden sollten, wurden, anstatt zu produzieren, völlig untätig und »verlotterten meist total« (AS GR 297) – zumindest in der Westhälfte. Auf der östlichen Seite wirkt man dem mit Kollektivzwang entgegen. Die Dichter werden in streng organisierten Kleingruppen gehalten, marschieren zusammen in die Bibliothek, und so steuert jeder seinen Teil zum großen Kunstwerk bei: »Kombinat 8 erfüllt sein Romansoll« (AS GR 324). Zu diesem Oberflächenschock gesellt sich aber alsbald der bedeutend tiefer gehende, als Winer feststellt, dass die Russen ihren Genies dadurch Dauer verleihen, dass sie ihre alten Gehirne in junge Körper transplantieren: [W]enn ein bedeutender russischer Dichter oder Wissenschaftler alterte, wurde, so um die 60, sein unschätzbares Gehirn einem jungen Athleten von 20 eingesetzt : »Was meinen Sie ? : er blüht auf ! Dichtet – O, von Liebä !«. (Und wirkte erneut 40, 50 Jahre; erlebte mehr ; sein Wortschatz nahm immer zu …. – (AS GR 332)

Der entsetzte Aufschrei Winers: »Das ist doch unmöglich !« wird mit einem trockenen »Für Sowjetmenschen gibt es kein ›Uunmögglich‹.« abgeschmettert.

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Nach diesen Erkenntnissen über das »Umhirnen« (AS GR 333, 339) im Ostsektor der Insel vollzieht Winer den entscheidenden Erkenntnisschritt: Solange in den Sessel sinken. (Und sofort wieder hochschnellen : man konnte neuerdings also theoretisch auf einem, mit der eigenen früheren Haut überzogenen, Sessel Platz nehmen ! Mit einem, ins eigene Leder gebundenen Buch in der Hand; um die Brust die warm abgefütterte Eigenlederweste : ichnappa, Dunappa. Konnte aus der eigenen Hirnschale Wodka schlürfen : reich’ sie her, Rosamunde ! Kichernd den eigenen Totenschädel betrachten : sich selbst als echtes Skelett pietätvoll im Arbeitszimmer stehen haben. (AS GR 338)

Aus dem memento mori wird das ›Erkenne die Unsterblichkeit‹; die Ikonographie von Totenschädel und Skelett kehrt sich um. Allerdings hat dieser Triumph über den Tod einen widerlichen Beigeschmack. Der entsetzte Erzähler meint zu diesem Zeitpunkt noch: »Da sind wir Westler doch bessere Menschen !« (AS GR 339) muss aber bald feststellen, dass auch seine Landsleute in dieser Richtung arbeiten. Hier nämlich wird in der »Versuchsanstalt für Hibernation«, landläufig auch »Grab« oder »Konservenfabrik« (AS GR 341) genannt, die westliche Art der Verewigung des Genies betrieben: »Wir«; hatten schon früh entdeckt, daß die Lebensfunktionen sich durch Kälte verlangsamen lassen […]. Bei entsprechender Unterkühlung tat das Herz nur alle Minute noch 1 Schlag : die Organabnützung war praktisch aufgehoben ! »Nach vielen und vielfachen« […] »Versuchen in dieser Richtung, waren wir um 1980 soweit, daß wir für eine gesicherte zwanzigjährige Hibernation jede Garantie übernehmen konnten – während welcher Zeit der betreffende Organismus um schätzungsweise 15 Wochen altert.« (AS GR 342)

Allerdings leiden die solcherart Gekühlten beim Aufwachen u. a. an steifen Gelenken und Muskelschwund, haben 20 Jahre Menschheitsgeschichte und die eigene intellektuelle Weiterentwicklung verschlafen. Zudem sind sie eben auch nicht jünger geworden, sondern nur gleich alt geblieben. Während der Versuch der »Westler«, so ein Stück Unsterblichkeit zu konservieren, letztlich sinnlos ist, erscheint der der russischen Wissenschaftler zunächst hoch effektiv. Durch die Möglichkeit, immer wieder Menschenhirne zu verpflanzen, ergibt sich – zumindest der Idee nach – eine Art ›Genieextrakt‹, der durch immer neue Verpflanzungen immer stärker und genialer wird. Dass dieses System dem des Kälteschlafes hinsichtlich der Effektivität weit überlegen ist, leuchtet sofort ein. Auch diese umgehirnten Genieextrakte haben, wie sich im Lektürerückblick zeigt, ihre Parallele im Hominidenstreifen, wo eine weitere Mutation, die »Never=nevers« die anderen Mutanten aussaugte: Also die Never=nevers : das waren Riesenspinnen ! Der weiche, giftig=graue Leib etwa einen halben Yard im Durchmesser. Vorn dran ein Menschenkopf (mit allen möglichen neuen Knopforganen : Punktaugen zum Beispiel, dafür waren die Ohren entfallen); mit

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Saugrüssel. An zwei Vorderfüßen Giftklauen; und so stark war die Doppelladung, daß zwei genügten, um den stärksten Zentauren zu betäuben. Viere töteten ! (AS GR 237)

Obwohl die oberste Militärbehörde Winers Reise genehmigt hatte, war man davon ausgegangen, hatte es sogar geplant, dass er in Unkenntnis dieser Riesenspinnen in ihre Netze laufen – und eben von ihnen ausgesaugt werden würde (AS GR 237). Genauso wie diese Never=nevers, deren Name wohl andeutet, dass man sie besser niemals treffen sollte, saugen die russischen ›for-ever-and-everGenies‹, so möchte man sie in Paronomasie zu den Never=nevers nennen, ihre Nachgeborenen aus, indem sie deren Körper für sich beanspruchen. Der Zugang, der auf der IRAS – und damit auch in der von Schmidt immer wieder kritisierten bundesrepublikanischen Nachkriegszeit – zur Literaturproduktion gewählt wird, erscheint so extrem unfruchtbar. Statt den Autoren Raum zur Entfaltung zu geben, werden die Gehirne mit einem dicken Extrakt aus vermeintlichen Vorgängergenies gefüllt. Raum für eigene Inspiration, so ist Schmidts Vorwurf wohl zu verstehen, bleibt dabei nicht.

d)

»Einmal« – »mehr nicht« […] Einmal Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

Mit diesen Worten endet der Roman, und eröffnet möglicherweise einen Zugang zu Arno Schmidts Vorstellung vom Geniegedanken. Zwischen dem Hölderlin’schen »Einmal« und »mehr […] nicht« spannt sich die erzählte Geschichte seiner Figur Winer auf: Das »Einmal« steht für den Hominidenstreifen, das »mehr […] nicht« für die IRAS. Für Winer ist dieses »Einmal«, wie bereits gesagt, die beglückende Zeit mit der zentaurischen Muse Thalja, die ihn auf seiner Wanderung durch den Hominidenstreifen begleitet hatte. Das »mehr«, dessen es nicht bedarf, ist das, was auf der IRAS mit den gekühlt eingeschläferten, mehr aber noch mit den hirnverpflanzten und extrahierten Genies geschieht. Winer ist von dieser pervertierten Art von Unsterblichkeit abgestoßen. Hölderlins Gedanke, dass nicht die Dauer, sondern die Intensität des »reife[n] Gesange[s]«46 entscheidend sei, wird hier aktualisiert. Nicht die Potenzierung und Extraktion vieler in einem Kopf kann das Ziel sein, sondern der vielleicht einmalige, dafür aber umso intensivere Gedanke, der aus einem inspirierten Kopf kommt. Dass dieser womöglich Arno Schmidt heißen könnte, mag jeder kluge Leser womöglich früher oder später herausfinden. Wie inspiriert er ist, das

46 Hölderlin: An die Parzen.

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zu entdecken überlässt er den noch klügeren Lesern, die sich damit der Lichtgestalt Schmidt etwas näher fühlen dürfen. Statt der toten Traditionen, die die hirnextrahierten Gehirne dominieren, geht es offensichtlich in Schmidts unterschwelliger Poetologie darum, einen Moment freier, womöglich erotisch grundierter Inspiration zu finden, wie sie die Zentaurin Thalja liefert. Dieser Gedanke der erotischen Inspiration, der in vielen Werken Schmidts begegnet, bleibt aber m. E. fragwürdig. Zum einen deshalb, weil in seinen Geschichten immer wieder Erzählerfiguren auftreten, die die gesamte Literaturgeschichte und zum Teil auch die Geschichte der Naturwissenschaften – nicht viel anders als die Umgehirnten in der Gelehrtenrepublik – extrahiert zu haben scheinen, wobei natürlich anzumerken bleibt, dass sie sich immer etwas jenseits des Kanons bewegen, weil sie eben nicht nur Goethe und Schiller, sondern auch Happel und Wieland gelesen haben. Zum anderen aber auch, weil der Moment der Inspiration, den die Erzählerfiguren tatsächlich häufig aus erotischen Begegnungen ziehen, nur für sie selber fruchtbar wird. Die weiblichen Inspirationsquellen – mehr sind sie meist nicht – sind sich häufig genug aus mangelnder eigener Intellektualität nicht einmal der Tatsache bewusst, dass sie inspirierend sind. Einen gedanklichen Austausch kann es demzufolge nicht geben. So bleiben die Erzählerfiguren einsam in ihrem intellektuellen Elfenbeinturm mit ihrem toten Literatur- und Geschichtswissen und haben nur die Chance, sich immer wieder selbst darüber zu vergewissern, dass sie klüger sind als alle anderen – und natürlich besonders als die Frauen. Der Diskursgedanke wird damit bei Arno Schmidt obsolet – und damit auch der eines Denkkollektives. Sprache wird zum Mittel der Abgrenzung, zum Ausschluss anderer oder seiner selbst. Man könnte fragen, ob sie als Ersatzmittel für Sinnverlust eingesetzt und damit letztlich selbst sinnentleert wird, da sie fast nur noch als ein hochintellektueller Abwehrreflex erscheint. Eine produktive Teilhabe an einem lebendigen Denkkollektiv ist für Schmidt nicht vorstellbar, deshalb setzt er auf den klugen Leser – ob dieser dann aber die Erwartungen des Autors erfüllen wird, braucht er nicht mehr zu überprüfen.

V.

Schluss

Die Dysfunktionalität literarischer Gelehrtenrepubliken wurde eingangs als konstituierendes Element ihrer Entstehung und Existenz angenommen: Die grundsätzlich als Ideal gedachten ›Denkkollektive‹ dieser Gelehrtenrepubliken, deren ›moralische Ökonomie‹ die Teilhabe an einem gemeinsamen Wertekanon verspricht, sind und bleiben immer zweifelhaft und dysfunktional. Jedoch ist ihre Dysfunktionalität nicht als Moment des Scheiterns zu verstehen, sondern als immer neuer Versuch der Reorganisation eines Systems, wie es sich die

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Autoren idealiter wünschen. Dass dabei allerdings häufig vor allem die kritische Reflexion der ›anderen‹ im Zentrum der Überlegungen der Autoren steht und ihre eigene Rolle nicht hinterfragt wird, lässt sich mit dem oben beschriebenen aristotelischen Handlungsmodell begründen. So steht Saavedra Fajardo als Kritiker auf dem Richterstuhl des Wissenschaftsdiskurses um 1600 vor uns, Klopstock als Retter der deutschen Sprache und der deutschen Genies und Arno Schmidt als solipsistischer intellektueller Erotomane. Konsequenterweise muss man aber, wenn man das Moment der Dysfunktionalität ernst nimmt, diese auch den Autoren zubilligen, denn es ist ja ihr eigenes Fortkommen, dem ihre Arbeit dienen soll – nicht etwa, bzw. nicht nur dem der hehren Wissenschaftsidee. Erst durch die Reibung, die im Diskurs der Gelehrten mit ihrem ›Denkkollektiv‹ entsteht, werden diese Dysfunktionalitäten sichtbar. Damit regen die Grenzen und Brüche im System die Autoren offenbar immer wieder dazu an, über den ›zweifelhaften Charme des Kollektivs‹ nachzudenken. Wenn noch kritische Selbstreflexion als Grundprinzip gemeinschaftlichen Denkens und Arbeitens, Gleichberechtigung, gegenseitige Akzeptanz und die immer wieder neu auszulotende Spannung zwischen individueller Kreativität und kollektivem Denken im gemeinschaftlichen Diskurs hinzukämen, könnte man dem Ideal vielleicht wieder ein Stück näher kommen – aber das wäre womöglich zu viel ›Charme des Kollektivs‹.

Personenregister

Agoub, Joseph 251 Ahlwardt, Christian Wilhelm 197 Amoena Amalia von Anhalt-Köthen 164 Anna Sophia von Schwarzburg-Rudolstadt 164 Anton, Paul 91 Antonello da Messina 124 Aristophanes 198, 200 Aristoteles 34, 188, 193, 196, 301f. Arnold, Heinz Ludwig 167 Ast, Friedrich 187 Augustinus von Hippo 125, 137f. August II. von Braunschweig-Wolfenbüttel (der Jüngere) 157–159, 161f. August von Sachsen-Weißenfels 155

Bopp, Franz 112 Botticelli, Sandro 125 Bourdieu, Pierre 285, 290 Braune, Wilhelm 226 Breitbach, Joseph 167 Breithaupt, Joachim Justus 91 Breitinger, Johann Jakob 228 Brentano, Clemens 136 Browning, Robert 134 Brunner, Otto 293 Büchmann, Georg 201 Buchner, Augustus 145, 157–160 Burckhardt, Jacob 42 Burdach, Konrad 34, 41f., 77, 235 Bürger, Gottfried August 173

Balzac, Honor8 de 289 Barth8lemy, Jean-Jacques 250 Baumgarten, Alexander Gottlieb 74 Bech, Fedor 211 Belzoni, Giovanni Battista 256 Benecke, Georg Friedrich 11f., 28, 30f., 50, 68, 131, 202–210, 212 Benfey, Theodor 112 Bentham, Jeremy 272f. Berger, Peter Ludwig 290 Bhandarkar, Ramakrishna Gopal 114 f. Bloch, Marc 291f. Bocthor, Elias 251 Boeckh, August 21, 31–34, 37–39, 183, 186f., 193–199 Boehlau, Hermann 231 Bolte, Johannes 221 Bonjour, Jean-Baptiste 251

Caesar 83, 126 Cailliaud, Fr8d8ric 254f., 257 Capart, Jean 107 Carl Günther von Schwarzburg-Rudolstadt 164 Castiglione, Baldassare 149 Catel, Franz Ludwig 227 Champollion, Jean-FranÅois 22, 241f., 244f., 247–253, 258–260 Chiftigi, Youhanna 251 Clark, William 91f., 128 Claudian 305 Conze, Werner 293 Cordero di San Quintino, Giulio 255 Creuzer, Friedrich 21, 123, 129–135, 137f., 186f., 194, 198

322

Personenregister

Dacier, Bon-Joseph 247, 252f. Dante Alighieri 303 Daub, Carl 133, 138 Decembrio, Angelo 124 Demi8ville, Paul 110f. Diderot, Denis 293 Diels, Hermann 35, 41, 43 Dillmann, August 104, 112f. Dilthey, Wilhelm 41 Dionigi, Francesco 138 Dionysius Thrax 82 Dissen, Ludolf 196–199 Drovetti, Bernardino 254–257 Dupront, Alphonse 287, 292 Dürer, Albrecht 124 Ebert, Friedrich Adolf 52, 60 Eliot, George 127 Elisabeth Charlotte von Orl8ans Elster, Ernst 230 Erman, Adolf 247 Estourmel, Joseph d’ 257 Eyck, Jan van 124, 128

221

Febvre, Lucien 291f. Feder, Johann Georg Heinrich 292 Fichte, Johann Gottlieb 136 Fleck, Ludwik 20, 64, 74–76., 79, 86–88, 302 Fleming, Paul 221 Foucault, Michel 285f., 288, 291, 297 Francke, August Herrmann 91 Friedrich II. 227 Friedrich III. (Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl von Preußen) 41 Friedrich Wilhelm III. 256 Friedrich Wilhelm I. 91 Gatterer, Philippine 173 Geertz, Clifford 290 Geiger, Ludwig 230 Geslin, Jean-Charles 105 Gesner, Johann Matthias 93f. Ghirlandaio, Domenico 124, 128 Gleim, Ludwig 221, 227, 229 Goedeke, Karl 156, 217, 223

Goethe, Johann Wolfgang von 54, 66–68, 143, 170–177, 179f., 216, 218, 222, 226f., 230–236, 311, 319 Goetze, Edmund 221 Görres, Joseph 67 Gotter, Friedrich Wilhelm 171, 173 Gottfried von Straßburg 209 Göttling, Karl Wilhelm 232 Götz, Johann Nikolaus 230 Gozzoli, Benozzo 138 Graff, Eberhard Gottlieb 41 Grimm, Friedrich 126 Grimm, Herman 42 Grimm, Jacob 7, 10–12, 19f., 28–31, 41f., 45, 47, 49–62, 66–70, 112, 126f., 131, 184–186, 207f., 210, 212 Grimm, Wilhelm 7, 10, 28–31, 41f., 45, 47, 49–55, 59–62, 66–70, 127, 143, 210–212 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoph von 221 Gruyter, Jan 131 Guazzo, Stefano 149 De Gubernatis, Angelo 114 Gueintz, Christian 21, 156–163 Guignes, Joseph de 250 Günderode, Karoline von 135 Habermas, Jürgen 290 Hammerstein-Equord, Hans Georg von 68 Happel, Eberhard Werner 319 Hardenberg, Friedrich von 136 Harnack, Adolf von 44, 189 Harsdörffer, Georg Philipp 156f. Haupt, Moriz 28f., 41, 208, 211 Hehn, Victor 42 Heine, Heinrich 230 Herder, Johann Gottfried 171–173, 217, 235 Hermann, Gottfried 197 Hertz, Martin 28 Herz, Henriette 136 Heyne, Christian Gottlob 92, 131, 197 Hieronymus 124–126, 128 Hildebrand, Karl 211

323

Personenregister

Hille, Carl Gustav von 150 Hirzel, Salomon 209, 211, 232 Hölderlin, Friedrich 313, 315, 318 Hoffmann, Max 196, 198 Hoffmann, Moritz 126 Holstein, Hugo 230 Homer 81, 84, 93f., 99, 188 Horaz 305 Humboldt, Wilhelm von 18, 32, 112, 185–187, 192, 249, 282

L8vi-Strauss, Claude 290 Lexer, Matthias 21, 201f., 209–213 Lichtenberg, Georg Christoph 77 Livius 93f. Loeper, Gustav von 231–233 Luckmann, Thomas 290 Ludwig I. von Anhalt-Köthen 21, 144, 151f., 154f., 157f., 160–164 Luhmann, Niklas 76, 78 Lukan 305

Jacobs, Friedrich 137 Jacobi, Friedrich Heinrich Juvenal 305

Mandrou, Robert 292 Martial 305 Martini, Jacob 159f. Mereau, Sophie 136 Meyer, Richard Moritz 40, 70, 77f. Michelet, Jules 288 Minor, Jakob 39f., 216, 235 Mommsen, Theodor 34–36, 38, 126, 189–191, 288 Moritz, Karl Philipp 228 Müllenhoff, Karl 41, 209 Müller, Friedrich Max 119 Müller, Wilhelm 21, 202f., 205–210, 212

137

Kafka, Franz 83 Kalcheim, Wilhelm von 157 Karajan, Theodor Georg von 131 Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 172 Kayser, Christian Gottlob 172 Keller, Adelbert von 220f. Kircher, Athanasius 250 Kleist, Heinrich von 225 Klopstock, Friedrich Gottlieb 22, 74, 173, 225, 299, 308–313, 320 Knaus, Ludwig 126 Koebner, Richard 292 Koselleck, Reinhart 289, 291, 293, 295 Koser, Reinhold 41 Kuhn, Thomas 88f. Kürschner, Joseph 218, 222–225, 228 Lachmann, Karl 28, 41, 50, 193, 204, 207f., 217, 221 Lange, Joachim 91 La Roche, Sophie von 173 Lavater, Johann Caspar 171, 173 Leclerc, Charles 105 Leibniz, Gottfried Wilhelm 34, 190 Leisewitz, Johann von 225 Lenz, Jakob Michael Reinhold 21, 167–180, 224 Lepsius, Karl Richard 249 Lessing, Gotthold Ephraim 201, 217, 227, 308

Napoleon I. (Bonaparte) 242, 253 Neidhart von Reuental 77, 208 Nofretete 315 Norden, Eduard 125 Oldenberg, Hermann 113, 116 Opitz, Martin 131, 159f. Oppert, Jules 105, 115 Ovid 93, 305f. Mehmet Ali Pascha 254, 257f. Melissus (Schede), Paul 131 Passalacqua, Giuseppe 257 PÞcheux, Michel 288 Persius 305 Pertz, Heinrich 68 Petrarca, Francesco 125, 138, 193 Pfeiffer, Franz 211 Pindar 196–199 Platon 94f., 98, 184, 189f., 198

324 Plautus 93, 171, 305 Properz 305 Radloff, Wilhelm Friedrich 119 Ramler, Karl Wilhelm 221 Raynal, Guillaume-Thomas 293 Reimer, Karl 51 Renan, Ernest 102, 106, 244 Rifaud, Jean Jacques 257 Ritter, Joachim 293 RiviHre, Pierre 285 Roethe, Gustav 41–43, 77 Rosellini, Ippolito 249 Rosny, L8on de 104–106 Roussel, Raymond 285 Saavedra Fajardo, Diego de 22, 299, 301–304, 306f., 320 Sabbagh, Michel 251 Sachs, Hans 221 Salzmann, Johann Daniel 171, 173 Saumaise, Claude de 131 Saussure, Ferdinand de 117f. Sauer, August 216, 224–226, 228–230, 235f. Savigny, Friedrich Carl von 31, 51, 67f., 123, 129f., 133–135, 137, 186f., 194 Scaliger, Joseph Justus 131 Scaliger, Julius Caesar 305–307 Scheel, Willy 221 Schelling, Friedrich Wilhelm 136 Scherer, Wilhelm 13, 41, 57, 62, 77f., 215f., 224, 227, 229, 231–235 Schiller, Friedrich 170, 174, 217, 223, 231, 319 Schlegel, August Wilhelm 10f., 19, 28, 102, 127, 136, 183–186, 198 Schlegel, Caroline 136 Schlegel, Friedrich 10, 123, 127, 132f., 135f., 183, 243 Schleiermacher, Friedrich 31, 38, 136, 193f. Schmidt, Arno 22, 299, 312–316, 318–320 Schmidt, Erich 41, 57, 216, 221, 231–236 Schmidt, Helmut Dan 292 Schönborn, Gottlob Friedrich Ernst 311

Personenregister

Schottelius, Justus Georg 156f., 159, 161, 163 Schubad 315 Schüddekopf, Carl 230 Schütz, Heinrich 158 Scott, Walter 276 Seuffert, Bernhard 216, 224, 226–230, 233, 235–237 Shakespeare, William 289 Silius Italicus 305 Silvestre de Sacy, Antoine Isaac 242, 244f., 247 Smith, William Robertson 119 Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach 230f., 236 Spemann, Wilhelm 222, 225 Spener, Philipp Jakob 91 Statius 305 Stein, Karl Freiherr vom 66ff. Stieler, Caspar von 156f. Sueton 83 Suphan, Bernhard 217, 235f. Swift, Jonathan 77, 301 Sylburg, Friedrich 130f. Terenz 305 Thiersch, Friedrich 197 Tibull 305 Timon von Phleius 134 Tr8nard, Louis 292 Usener, Hermann 188f., 191 Uz, Johann Peter 221, 228–230 Varnhagen von Ense, Rahel 136 Varro, Marcus 304f. Veit, Dorothea 136 Vergil 93 Völkel, Johann Ludwig 52 Voß, Johann Heinrich 137 Wackernagel, Wilhelm 207, 212 Wahle, Julius 233 Walther, Balthasar 157 Werner, Richard Maria 216, 224 Wickram, Georg 221

325

Personenregister

Wieland, Christoph Martin 42, 223, 237f., 319 Wilamowitz-Möllendorff, Ulrich von 36, 189–191, 196 Wilhelm I. (Württemberg) [Friedrich Wilhelm Carl] 219 Wilhelm II. (Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen) 41 Wilken, Friedrich 130f. Wittgenstein, Ludwig 65 Weinhold, Karl 41

Wolf, Friedrich August 31, 92, 94–97, 132, 185–188 Young, Neil

167

Zangemeister, Karl 131 Zarncke, Friedrich 21, 202, 205–212, 223 Zentner, Georg Friedrich von 137 Zincgref, Julius Wilhelm 131