Subsistenzpolitik im Übergang: Die kommunale Ordnung des Brot- und Fleischmarktes in Frankreich 1846–1914 [1 ed.] 9783666370458, 9783525370452

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Subsistenzpolitik im Übergang: Die kommunale Ordnung des Brot- und Fleischmarktes in Frankreich 1846–1914 [1 ed.]
 9783666370458, 9783525370452

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Marcel Streng

Subsistenzpolitik im Übergang Die kommunale Ordnung des Brot- und Fleischmarktes in Frankreich 1846–1914

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 221

Vandenhoeck & Ruprecht

Marcel Streng

Subsistenzpolitik im Übergang Die kommunale Ordnung des Brot- und Fleischmarktes in Frankreich 1846–1914

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Zoé

Mit 2 Abbildungen und 4 Tabellen Umschlagabbildung: place St. Louis, marché couvert. Autor: Pouliquen, Architecte, 1825 (Archives Municipales de Brest 5FI00218) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-37045-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.

Staatsaufgabe Subsistenz. Semantische Konturen des Politikfelds in der Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Was heißt »subsistance[s]«? Das Konzept im Wörterbuchwissen 25 2. Staatswissenschaftliche Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Mangel und Mangelprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

II. Subsistenzsicherheit als politisches Projekt im Zweiten Kaiserreich: zwischen Staat, Verbrauchern und Zivilgesellschaft, 1847–1871 . . . 55 1. »Überfluss-Speicher« und Kornreserven: eine »Versicherung gegen den Mangel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Arbeiterrestaurants und Suppenküchen . . . . . . . . . . . . . . 66 III. Der ›gefährliche‹ Subsistenzmarkt. Politisierungsprozesse und Entpolitisierungsversuche der Behörden in der Kornteuerung Mitte der 1850er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Politisierungsprozesse: das Teuerungsproblem zwischen Justiz und Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. Entpolitisierungsversuche der Justizbeamten . . . . . . . . . . . 92 2.1 Verbotene Koalitionen: Ansammlungen, Demonstrationen und Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2.2 Spekulation als illegitime Koalition . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.3 Betrug bei der Warenqualität und im Verkauf . . . . . . . . 103 3. Verwaltung im Ausnahmezustand: Teuerungspolitische Praktiken der Innenbehörde im Finistère, 1853–1856 . . . . . . . 109 3.1 Die politische Rationalität des Verwaltens in der Subsistenzkrise, 1853–1856 . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.2 Präventive Praktiken der Menschenführung . . . . . . . . . 125

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IV. Die imperiale Ordnung des Bäckereigewerbes zwischen Verstaatlichung und Liberalisierung, 1853–1868 . . . . . . . . . . . 139 1. Staatsräson, Gewerbeordnung und Brottaxe: die Bäckerei im Dienst der öffentlichen Ordnung, 1846–1858 . . . . . . . . . . 140 1.1 Die Brottaxierung und ihre Expansion im ländlichen Raum: das Beispiel Finistère . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1.2 Ausgleichskassen als Sicherheitsmechanismen . . . . . . . . 150 1.3 Zwischen Moral und Staatsräson: die politische Rationalität von Gewerbeordnung und Taxierung . . . . . . . . . . . . . 161 2. Bäckereipolitik und Kornzollkontroverse, 1858–1862 . . . . . . . 169 2.1 Die Instrumentalisierung der Bäckerei zur Stützung der Kornpreise, 1858–1859 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2.2 Protektionismus, agrarischer Protest und imperiale Politik: die Kontroverse über den Stufenzoll, 1858–1861 . . . . . . . 175 3. Die Reform des Bäckereigewerbes: vom quasi-öffentlichen Dienst zur Wettbewerbsordnung, 1857–1868 . . . . . . . . . . . . 184 3.1 Die Genese des Reformdekrets im Conseil d’État, 1857–1863 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3.2 Die »Ordnung des freien Wettbewerbs«: neue Verhaltensregeln für Bäcker, Beamte und Konsumenten, 1863–1868 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 V.

Staatsaufgaben für die ›Normallage‹: semantische Konturen des Politikfelds »Subsistenz«, 1860–1910 . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Produktfälschung und Produktveränderung . . . . . . . . . . . . 210 2. Ambivalenz des naturwissenschaftlichen Wissens . . . . . . . . 213 3. Produktfälschung und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. Die sozialökonomische Wende: Volksernährung und Volksgesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

VI. Wettbewerb zugunsten des Verbrauchers? Kommunale Versorgungspolitik auf den Fleisch- und Brotmärkten der Dritten Republik, 1869–1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Lebensmittelinspektion, öffentlicher Schlachthof und Chemielabor: Transformationen der Markt- und Gewerbeaufsicht in Brest, 1869–1887 . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1.1 Lebensmittelinspektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6

1.2 Schlachthofbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1.3 Stadtlabor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. ›Moralische Ökonomie der Expertise‹? Die Praxis der Fleischinspektion in Rennes und die Verschiebung der Versorgungskonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2.1 Die Reform der Fleischmarktordnung in Rennes, 1851–1855 273 2.2 Fleischqualität zwischen lokaler Inspektionspraxis und veterinärmedizinischen Wissensordnungen, 1890–1912 . . . 276 2.3 Fleischereiaufsicht im Dienst von Volksgesundheit und ­ Volksernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 VII. Vie chère: Lebensmittelteuerung, Protestgewalt und wohlfahrtsstaatliches Regieren am Vorabend des Ersten Weltkriegs, 1905–1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Die vie chère-Protestbewegung 1911: Medienberichterstattung und Protestgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Die diskursive Konstruktion der Teuerung: Ursachen und Gegenmaßnahmen in der öffentlichen Debatte, 1909–1913 . . . 306 3. Staat und öffentliches Handeln in der Teuerung: die Vie Chère-Krise und ihr langer Schatten, 1910–1914 . . . . . 321 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

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Einleitung

»Die Subsistenzfrage ist im Wandel. Bis jetzt bestand sie vor allem in der Suche nach den Mitteln, mit denen Nahrungskrisen vorgebeugt oder ihre Auswirkungen abgemildert werden konnten. Vielleicht müsste man sie demnächst dem Studium des Ensembles an Verbesserungen angliedern, deren Ziel die schrittweise Hebung des Wohlstandsniveaus der Arbeiter­k lassen ist, die heute Gegenstand so beunruhigender Befürchtungen sind«.1

Mit diesen Worten schloss der ehemalige Ministerialbeamte Louis Fou­bert im Jahr 1874 den Artikel ab, der zum Thema »Subsistenz« (subsistances) in einem von dem Verwaltungswissenschaftler Maurice Block herausgege­benen Lexikon zur Politik in Frankreich erschien. Foubert hatte während des Zweiten Kaiserreichs im Ministerium für Landwirtschaft, Handel und öffentliche Bauten die Abteilung Subsistenz geleitet. Über sein Büro lief in dieser Zeit der Schriftverkehr, den Beamte der Kommunen, Präfekturen und anderer Ministerien, aber auch Bürger mit dem Ministerium über die Subsistenz der Bevölkerung führten. Denn wie Foubert in einem ebenfalls von Maurice Block herausgegebenen verwaltungswis­senschaftlichen Wörterbuch aus dem Jahr 1856 festgehalten hatte, gehörten »die mit der Subsistenz der Bevölkerung verbundenen Fragen seit je her zu den großen Staatsaufgaben«.2 Diese Einschätzung scheint von vornherein erklärungsbedürftig, ist doch der Begriff »Subsistenz« heute im Deutschen bzw. »subsistances« im Französischen kaum noch gebräuchlich und schon aus diesem Grund nicht mehr ohne Weiteres erkennbar, inwiefern die »Subsistenz der Bevölkerung« eine »große Staatsaufgabe« gewesen sein könnte.3 Auch wenn die Entwicklung und der Bedeutungswandel des aus dem frühen 18. Jahrhundert stammenden polizeiwissenschaftlichen Konzepts »Subsistenz« (subsistances) nach dem Anbruch der politischen und sozialen Moderne im 19.  Jahrhundert selbst Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind, scheint eine terminologische Vorklärung unumgänglich. Grob gesprochen wurde in Frankreich unter »subsistances« während des 18. und 19. Jahrhunderts die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln – meist Korn und Brot, später auch Fleisch – verstanden. In dieser Hinsicht wurde »Subsistenz«, also die Versorgungssicherheit der Bevölke1 Foubert, Subsistances (1874), S. 979. 2 Ders., Subsistances (1856), S. 1488. 3 Der Begriff »subsistances« wird in dieser Arbeit mit Subsistenz und Lebensmittelversorgung übersetzt  – dies im Wissen um die unterschiedlichen Bedeutungshorizonte im Französischen und Deutschen. Vgl. Szöllösi-Janze; zum französischen Begriff siehe Guilhaumou.

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rung, in polizeiwissenschaftlichen Texten wie dem Traité de police von N ­ icolas Delamare (1705) als Aufgabe ›richtigen‹ staatlichen Handelns und ›guter Polizey‹ (police des subsistances) definiert.4 Der Begriff »question des subsistances« bzw. »Subsistenzfrage« markiert den Umstand, dass sich am staatlichen Handeln im Bereich der Lebensmittelversorgung besonders zwischen Mitte des 18.  und Mitte des 19.  Jahrhunderts intensive gesellschaftliche und politische, oft mit gewaltsamem Protest verbundene Konflikte entzündeten. Die vorliegende Untersuchung thematisiert vor diesem Hintergrund sowohl den Wandel des Konzepts als auch die mit ihm verknüpften institutionellen Praktiken, kurz: das historische Politikfeld Subsistenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Reflexion eines hohen Ministerialbeamten der 1850er und 1860er Jahre über seinen ehemaligen Arbeitsbereich trug Fouberts Artikel von 1874 selbst zu dem Wandel bei, von dem er sprach. Die »Hebung des Wohlfahrtsniveaus der Arbeiterklassen« ging eindeutig über das hinaus, was in den polizeiwissenschaftlichen Abhandlungen der »Sattelzeit« (Koselleck) unter Subsistenzpolizey verstanden wurde, nämlich die Sorge des Souveräns für den Schutz der Bevöl­ kerung vor absolutem Nahrungsmangel. Mit den Vorläuferinstitutionen des modernen Wohlfahrts- und Sozialstaats, etwa der kommunalen Armenfürsorge durch die kommunalen Bureaux de bienfaisance, hatte Foubert auch in seiner Amtszeit nur in Ausnahmesituationen zu tun gehabt, dann nämlich, wenn die Lebensmittelversorgung durch die lokalen Märkte auf Grund absoluten Mangels oder hoher Preise nicht mehr gewährleistet war. Zum eigentlichen Arbeitsbereich der Subsistenzverwaltung, die organisatorisch dem Handels- und Landwirtschaftsministerium zugeordnet war, gehörte vielmehr die Aufsicht über den Handel, die Märkte und Gewerbe, die Lebensmittel produzierten und vermarkteten, vor allem Kornhandel, Mühlenwirtschaft, Bäckerei und Fleischerei. Welche Entwicklungen hat­ten sich in Fouberts Arbeitsbereich ergeben, die ihn Mitte der 1870er Jahre zu der Überlegung führten, die »Subsistenzfrage« solle mit der »Hebung des Wohlfahrtsniveaus« der Arbeiterschaft verknüpft werden? Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung richtet sich auf den Wandel des Politikfelds Subsistenz zwischen der nach allgemeinem Dafürhalten der historischen Forschung »letzten« Welle von Teuerungsprotesten in den Jahren 1846/47 und dem Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914. Die Untersuchung fokussiert damit einen Zeitraum, in dem vielfältige Prozesse zu einer nachhaltigen Entschärfung des Subsistenzproblems beitrugen. Anders als in Irland und in außereuropäischen Ländern war das Zeitalter des absoluten Nahrungsmangels und der Hungersnöte in Frankreich zwar bereits Mitte des 19.  Jahrhunderts vorüber.5 Doch erst der nachhaltige Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion, die Einführung der Eisenbahn und der rasche Ausbau des Schienennetzes, das Anwachsen der europäischen Getreideimporte aus den USA und die internationale Integration des Getreidemarktes trotz protektionistischer 4 Delamare. 5 Ó Gráda, When; ders., Famine.

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Zollschranken im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führten dazu, dass sich die Getreidepreise in Frankreich zwischen den Regionen schneller ausglichen und langfristig auf einem insgesamt vergleichsweise niedrigen Niveau stabilisierten.6 Diese Entwicklungen, die bereits von zeitgenössischen Beobachtern regis­triert, analysiert und begrüßt wurden, führten sicherlich dazu, dass die Subsistenzfrage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einiges von der gesamtgesellschaftlichen und potentiell staatsgefährdenden Konfliktträchtigkeit verlor, die sie 1789 und sogar 1846/47 noch geprägt hatte. In dem halben Jahrhundert, dass auf die Französische Revolution folgte, hatten periodische Ernteausfälle, plötzliche Preisanstiege, akute Knappheit und andauernder Hunger zu gewaltsamen kollektiven Übergriffen auf Kornhändler und Bäcker Anlass gegeben. Deren Wirkung ließ sich oft nicht lokal oder regional einhegen, sondern verstärkte im Gegenteil latent vorhandene Konflikte in der postrevolutionären Gesellschaft und konnte sich zu Regimekrisen auswachsen.7 Doch mit der Entschärfung der Subsistenzkonflikte nach der Mitte des 19. Jahrhunderts verlor die Subsistenzfrage keineswegs ihre Relevanz. Die hier vertretene These ist vielmehr, dass sich die mit dieser Thematik verknüpften Konflikte lediglich verschoben. Je mehr es gelang, die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln durch den regulären Handel sicherzustellen, desto mehr trat die Sicherheit der Lebensmittel in den Vordergrund. Im Französischen wird dieser Zusammenhang mit einem einzigen Begriff – »sécurité alimentaire« – hergestellt, der je nach Kontext beides bedeuten kann: Versorgungssicherheit und Lebensmittelsicherheit.8 Das Gravitationszentrum der Subsistenzpolitik – davon wird hier ausgegangen – verschob sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Versorgungs- auf die Lebensmittelsicherheit. Auch wenn die Versorgungsproblematik nie ganz verschwand und vor allem in Teuerungsperioden regelmäßig – wenn auch in größeren Abständen als je zuvor – diskutiert wurde, machten Kontroversen über Fälschung, Betrug und Hygiene von Lebensmitteln doch zunehmend den inhaltlichen Kern von Subsistenzpolitik aus. Freilich war die Gesundheitsgefährdung durch verdorbene oder im Herstellungsprozess durch vielerlei Verunreinigungen und Beimischungen gefälschte Lebensmittel im 18. Jahrhundert nicht unbekannt. Inzwischen wissen wir aus der historischen Forschung, dass Knappheits- und Teuerungsphasen in der Regel auch Zeiten waren und noch sind, in denen nach billigeren, innovativen und im besten Fall genießbaren Ersatzstoffen gesucht wird. Wenn diese Beimischungen nicht deklariert wurden und zu Krankheiten oder gar zum Tod führten, lag die Beweislast im 18. und selbst noch im 19. Jahrhundert bei den geschädigten Verbrauchern. Zudem ließen sich Fälschungen oft mit den zur Verfügung ste6 Grafe; Price, Modernization; Persson; Stanziani, Rules; Cipolla u. Borchardt; Labrousse, Prix; Caron. 7 Vgl. Béliveau, Révoltes; ders., Femmes; Bourguinat, Grains. 8 Bruegel u. Stanziani, S. 7.

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henden wissenschaftlichen Mitteln nicht nachweisen. Die Gefahr war den Verbrauchern gerade in Mangelzeiten durchaus bewusst. In Zeiten der Teuerung und des generellen Mangels trug die Vermutung, durch irgendeinen verborgenen Kniff betrogen zu werden, zu ihrer misstrauischen Haltung gegenüber dem Handel bei.9 Die internationale historische Forschung zu Mangelphasen und Teuerungsprotesten in Frankreich und anderen europäischen Gesellschaften hat sich jedoch nicht zuletzt deshalb vor allem an den Preisen orientiert, weil sie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die häufigsten Anlässe für kollektiven, ­gewalthaften Protest boten, die so genannten »food riots«.10 Dabei ist die Forschungsliteratur durch zwei verschiedene und doch komple­mentäre Ansätze geprägt, die sich in der um 1970 einsetzenden und nach Mitte der 1990er Jahre verebbenden historischen Protestforschung zu Teue­rungs- und Marktunruhen zu Konzepten formierten, die auch über die For­schung zur Subsistenzfrage hinaus Verwendung fanden. Zum einen identifizierte Charles Tilly in seiner historischen Soziologie des Kon­f likts und des Protests einige im Verlauf von food riots immer wiederkeh­rende Handlungsformen wie die Taxierung von Korn durch Menschenmen­gen auf Märkten, die Plünderung von Kornspeichern oder das Anhalten von Kornlieferungen auf den Landstraßen. Diese fasste er zu einer historischen Protest­form zusammen und verwendete sie als heuristisches Konzept. Den food riots als »archaische« Hauptform des Sozialprotests im Ancien Regime stellte er die Lohnstreiks als »moderne« Protestform der in den ersten Jahrzehnten des 19.  Jahrhunderts einsetzenden Industrialisierung gegenüber. Die forthin nur noch vereinzelt auftretenden Markt- und Teuerungsunruhen interpretierte Tilly als defensive, rückwärtsgewandte Strategie dörflicher Gemeinschaften, die sich gegen die Öffnung der loka­len Märkte für transregionale oder sogar transnationale Handelsnetze und mithin gegen die Modernisierung gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen bisweilen erbittert zur Wehr setzten.11 Gegen diese modernisierungstheoretisch grundierte Analyse, nach der die food riots als traditio­nelle Protestform mit der Herausbildung moderner Gesellschaften fast zwangsläufig dem Untergang geweiht waren, entwickelte sich zum anderen spätestens im Zuge des cultural turn in den späten 1980er und 1990er Jahren eine neue Lesart. Sie fragte, welche Handlungslogiken, sozialen Praktiken und Dynamiken die foot riots kennzeichneten, in welchen konkreten, un­mittelbaren Kontexten sie sich ereigneten, inwiefern sie für die Protestie­renden selbst Sinn machten, kurz: welche kulturelle Dimension sie aus­zeichnete. Die neue Forschung verknüpfte die Sozialstrukturanalysen von sich modernisierenden Gesellschaften mit kleiner dimensio­nierten Fallstudien, die sich oftmals an alltagsgeschichtlichen Ansätzen orientierten und die food 9 Vgl. u. a. Ferrière; Kaplan, Pacte; ders., Maudit; Bruegel, Difficulté; Atkins, Milk. 10 Gailus, Was; Tilly, L., Food; Streng, Food; Hecht. 11 Vgl. vor allem Tilly, Ch., Hauptformen, S. 153–163, und ders., How, S. 192–255; ders., Supply, S. 380–455.

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riots auf kleinräumigere soziale, ökonomische und politische Kontexte bezogen. Zur zentralen Referenz für diese kultur­geschichtlich erweiterte Sozial- und Protestgeschichte der food riots wurde Edward P. Thompsons Konzept der »moralischen Ökonomie der Menge«.12 Thompson zeigte in seiner Untersuchung über food riots in der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, dass ein Ensemble moralischer Ansich­ten und Urteile darüber existierte, wer Zugriff auf die lokal produzierten Lebensmittel haben sollte, und dass dieses Wertesystem von den Protestie­renden und ihren lokalen Würdenträgern geteilt wurde.13 In Frankreich kennzeichnet die einschlägige Forschung zur Subsistenzfrage im hier interessierenden Zeitraum eine charakteristische Lücke. Auf der einen Seite ist die historische Protestforschung zu food riots über die Jahre 1846/47 nicht hinausgegangen.14 Von Nicolas Bourguinat stammt die bislang umfangreichste Studie zu diesem letzten Protestzyklus des 19.  Jahrhunderts, die den Blick in einzelne Regionen und Fallstudien mit einem gesamtgesellschaftlichen Horizont verknüpft. Bourguinat interpretiert die in einigen Regionen auftretenden Proteste als Manifestationen latent vorhandener Konfliktlagen, die durch überregionale Beobachtung in ihrer Wirkung verstärkt wurden und das Regime der Julimonarchie destabilisierten. Im entstandenen landesweiten Resonanzraum formierte sich ein Diskussionszusammenhang, in dem nicht nur die Spaltung der Gesellschaft in Klassen sichtbar wurde. Die moralischen Vorstellungen von Wirtschaft, mit denen Protestierende ihre Ansprüche auf Preisreduzierungen begründeten oder ihr Gewalthandeln gegen Händler legitimierten, ließen außerdem die sozialistische Regimeopposition an Stärke gewinnen und stützten nach der Revolution 1848 während der Zweiten Republik die Diskussionen über ein Recht auf Arbeit. Anschließend ist lediglich die kurze, aber intensive Teuerungsprotestphase des Herbstes 1911 verschiedentlich unter protestgeschichtlichen Vorzeichen thematisiert worden. Da die Protestierenden jedoch kaum noch auf ein eingeübtes Repertoire des Teuerungsprotests zurückgreifen konnten, besteht nach wie vor Unsicherheit darüber, wie diese Episode einzuordnen ist. Jedenfalls lässt sich zwischen dem Ende der 1840er und dem Beginn der 1910er Jahre in Frankreich keine ausgrei­fende Subsistenzprotestbewegung mehr ausmachen, die als »aussagekräftige Kristallisationspunkte im Beziehungsge­f üge ökonomi­scher Prozesse, sozialer Zusammenhänge und politischer Herrschaft«15 analysiert werden könnte. Auf der anderen Seite hat sich jedoch in den letzten Jahren die Forschungslage zur genau in dieser Periode in den Vordergrund tretenden Problematik der Lebensmittelsicherheit erheblich verbessert. Neuere wirtschaftshistorische For12 Thompson, E. P.; zum Konzept der »moralischen Ökonomie« ist die Literatur inzwischen stark angewachsen: Bohstedt, Moral; Coles; Fassin; Randall u. Charlesworth; Daston; Scott. 13 Vgl. zur Diskussion Tilly, Contentious; Tilly, C., How; ders. Hauptformen; Tilly, L. Entitlements; dies., Food; Bouton, Official; Gailus u. Volkmann; Hecht. 14 Ein kaum überholter Überblick zur historischen Protestforschung auch in Frankreich: Gailus, Was; ders., Contentious. Vgl. auch Streng, Food. 15 Gailus, Food, S. 604.

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schungen zur institutionellen Ordnung von Lebensmittelmärkten16 untersuchen etwa die Standardisierung von Produktqualität unter hygienischen Vorzeichen und ihren Beitrag zur Konstitution, Stabilisierung und Regulierung nationaler Lebensmittelmärkte im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Insbesondere Alessandro Stanziani hat das komplexe Kräftefeld analysiert, das Expertengremien und Gruppen aus der Sozialreform- und Hygienebewegung sowie Produzenten-17 und Handelsverbände bildeten, und in dem Qualitätsnormen für Lebensmittel entstanden, die deren Sicherheit verbürgen sollten – ein Prozess, der die Gesetzgebung ebenso begleitete und beeinflusste wie die administrative Praxis,18 die jedoch noch vergleichsweise wenig untersucht und noch seltener auf die Vorgeschichte der Subsistenzfrage bezogen worden ist.19 Auch konsumgeschichtliche Studien unterstreichen das Gewicht zivilgesellschaftlicher Vereine und Experten aus der Sozialreformbewegung und heben die Rolle neuer Wissensformen wie der Soziologie und insbesondere der Physiologie als »Leitwissenschaft der industriellen Gesellschaft«20 bei der »Lösung der Subsistenzfrage« um 1900 hervor.21 Diese Forschungen zeigen, wie es Akteuren in Gesellschaft und Wissenschaft, Politik und Verwaltung am Ende des 19. Jahrhunderts gelang, sich gegenseitig für die Hygiene und Arbeitskraft des Einzelnen wie der Bevölkerung zu interessieren, Normen, Strategien und Technologien zur Sicherung von Volksernährung und Volksgesundheit zu entwickeln und in einem sich verdichtenden Netz privater und öffentlicher Institutionen zu implementieren.22 In diesem Netz verschoben sich nicht nur die Definitionen von Hunger zu Mangelernährung,23 von Grundnahrungsmitteln und Mindesternährung. Hier entstand auch die Figur der Konsumentin bzw. des Konsumenten als ökonomisches und rechtliches, aber gleichermaßen auch politisches und administratives Subjekt.24 Diese beiden Forschungsbereiche, zwischen denen bisher kaum Überschneidungen bestehen, verknüpft die vorliegende Untersuchung in der Frage, wie sich das Politikum der Subsistenzfrage zwischen dem Abklingen der Teuerungsproteste Mitte der 1850er Jahre und der voraussetzungsreichen Verabschiedung des Lebensmittelreinheitsgesetzes im Jahr 1905 entwickelte. 16 Institutionenökonomische Ansätze sind in der französischen Wirtschaftsgeschichte vor allem mit dem Konzept der »Konventionenökonomie« einflussreich geworden: Salais; EymardDuvernay; Stanziani, Dictionnaire. In Deutschland: Wischermann u. Nieberding. 17 Mit Fokus auf die Pariser Fleischerei: Leteux; zu den Lyonnaiser Bäckern siehe Angleraud. Des Weiteren das Standardwerk von Kaplan, Meilleur; für die Bäckerei des 19. Jhdt. fehlt eine solche Studie: Minard u. Margairaz. 18 Dieses Feld hat in den letzten Jahren Alessandro Stanziani grundlegend erneuert: Stanziani, Histoire; zur Diskussion der Perspektiven: Bruegel u. Stanziani; Bruegel u. Laurioux; Dessaux. Ähnliches leistet für das Deutsche Kaiserreich Hierholzer. 19 Systematisch anregend bisher nur Minard u. Margairaz. 20 Sarasin u. Tanner, S. 12–43, hier S. 30; Tanner; Rabinbach. 21 Lhuissier, Réforme. 22 Topalov; Murard u. Zylberman; mit Fokus auf Ernährung: Ferrières; Swainston. 23 Mit britischem Fokus: Vernon. 24 Chatriot.

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Vor diesem Hintergrund stellt die Untersuchung folgende forschungsleitende Fragen: Wie entwickelte sich das administrative Konzept »subsistances« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Jacques Guilhaumou hat für das 18. Jahrhundert gezeigt, wie sich dieses durch die Aufnahme wissenschaftlichen Wissens ausdifferenzierte und veränderte.25 Inwiefern gilt das auch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts? Wurde das Konzept überhaupt gepflegt (und von wem) oder wurde es vielmehr aufgegeben und durch andere Konzepte ersetzt? Welche Gegenstandsbereiche staatlichen Handelns wurden unter seinem Dach zusammengefasst, welche ausgegliedert? Nach welchen Gesichtspunkten wurden diese Gegenstände, Themen und Maßnahmen geordnet? Welche administrativen Praktiken schlossen an das Konzept an und wie veränderten sie sich sowohl im Rahmen der konzeptuellen Entwicklung als auch unter dem Einfluss des sozioökonomischen Wandels? Welche Rolle spielten Experten für die Definition der subsistenzpolizeilichen Aufgaben und welche Auswirkungen hatte ihre Praxis für die Neuformulierung der Subsistenzfrage im Rahmen der »Verwissenschaftlichung des Sozialen« (L. Raphael)?26 Welche Schwerpunkte bildeten sich in der Praxis der Beamten, welche Praktiken gewannen an Bedeutung, welche wurden zunehmend obsolet? Und wenn das Zusammenspiel von semantisch-diskursiven Horizonten und auf sie bezogenen administrativen Praktiken das Politikfeld Subsistenz konstituierte: welche Kontroversen entfalteten sich in diesem Feld und mit welchen Mitteln wurden sie geführt? Zur Beantwortung dieser Fragen wird mit einem dezidiert politikhistorischen Fokus27 auf öffentliches Handeln (action publique28) gearbeitet, der diskurs- und sozialgeschichtliche Ansätze kombiniert sowie Machtbeziehungen und kommunikative Prozesse in den Mittelpunkt stellt.29 Das Konzept der action publique weist drei Dimensionen auf: Semantiken, Konzepte und Kategorien des Sozialen, mit denen staatliche Institutionen in ihrer Praxis arbeiten, ihr Handlungsfeld beobachten und beschreiben, verdaten, ausmessen und die Objekte ihrer Tätigkeit abgrenzen, sind in diesem Ansatz zentral.30 Zwar lag der Fokus bisher meistens auf den sozialen Konstruktionsprozessen dieser Kategorien sowie auf der Ausweitung oder Ver25 Guilhaumou. 26 Raphael, Verwissenschaftlichung; ähnlich auch Joyce, Social; für eine Historisierung der »Wissensgesellschaft« plädiert u. a. Vogel. Nach wie vor grundlegend für die Wissenschaften, die im Politikfeld Subsistenz Einfluss entfalteten: Sarasin u. Tanner sowie Rabinbach. 27 Als Referenztexte für unterschiedliche Ansätze in Frankreich: Noiriel, Une; Rosanvallon, Faire; Prochasson; Rémond; Rosanvallon, Pour; für eine kritische Diskussion zu Rosanvallon siehe Jainchill u. Moyn. In Deutschland hat die Diskussion später eingesetzt: vgl. Steinmetz u. Haupt, S. 11–33; Haupt, Politikforschung; zur Geschichte der Politikgeschichte in Westdeutschland siehe Frevert; Steinmetz, S. 9–40; Landwehr, Diskurs; Mergel. 28 Vgl. Boussaguet; siehe auch Spenlehauer. 29 Vgl. Sarasin, Wissensgeschichte; Lemke, Mahlzeit; Joyce, Social; Rosanvallon, Faire; Foucault, Kritik. Vgl. Weidner. 30 Vgl. Buton, Etat; Desrosières, Travail.

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engung ihrer Bedeutung im Gebrauch durch die Akteure und weniger auf der diskursiven Praxis, in denen diese Kategorien sich durch Bezugnahmen auf andere Diskurse und Konzepte weiter entwickelten. Allerdings kann diese Perspektive sinnvoll verwendet werden, um auf der einen Seite Prozesse semantischer Politisierung und Depolitisation des Themas Subsistenz zu beobachten und um andererseits zu überprüfen, wie sich das Konzept »Subsistenz« im Verlauf des Untersuchungszeitraums veränderte.31 Die zweite Dimension hat sich im Rahmen der Diskussion über eine verstärkte Rezeption der Gouvernementalitätstheorie Michel Foucaults herausgebildet.32 Auf dieser Ebene wird die Geschichte der Ausarbeitung, Programmierung und Umsetzung öffentlicher Politiken als fortwährender Rationalisierungsprozess von Praktiken zu Techniken betrachtet  – ein Prozess, der die Aufteilung der Politikgeschichte in staatliche Institutionen wie die Verwaltung auf der einen und zivilgesellschaftliche Akteure und Gruppen auf der anderen Seite tendenziell unterläuft.33 In ähnlicher Perspektive haben die Stadthistoriker Renaud Payre und Gilles Pollet die Forschung zur Geschichte der Kommunalpolitik im 19. und 20. Jahrhundert einer Revision unterzogen und für eine Historisie­ rung des Spannungsfelds plädiert, das sich zwischen den Kommunalbehör­den, den Vorgaben der Präfekturen und Ministerien sowie den Interessen und Strategien der lokalen Gesellschaft entfaltete.34 Die institutionellen Akteure sind nicht nur aktiv an den Kontroversen beteiligt; sie evaluieren und reflektieren nicht nur die Lage bezüglich der ursprünglichen Zielstellung, sondern auch ihr eigenes Vorgehen. Auf diese Weise können öffentliche Politiken eine ganz andere Wendung nehmen als ursprünglich vorgesehen, da die Instrumente, mit denen die Verwaltung den politischen Prozess zu steuern versucht, in der Beob­achtung des Publikums und in Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Praktiken unablässig überarbeitet werden.35 Diese genealogische Perspektive erlaubt es, die epistemisch eingebetteten, subsistenzpolitischen Praktiken der Kommunalverwaltung mit den Evaluations- und Reflexionsprozessen zu kontextualisieren, die in der umfangreichen Verwaltungskorrespondenz stattfanden und sie als Geschichte von »Führungsverhältnissen« zu analysieren, in denen unterschiedliche Machttechniken – Füh31 In diesem Sinn etwa hat Vincent Dubois »Kulturpolitik« untersucht: Dubois, S. 167–182. Zu Verbindungen von Diskurs- und PolitikgeschichteKerchner u. Schneider. 32 Vgl insbsondere Foucault, Sécurité, und ders., Naissance. Siehe dazu grundlegend Lemke, Kritik; Burchell. 33 Das ist gerade deshalb von Bedeutung, weil die Kommunalbehörden im zentralistisch organisierten postrevolutionären Frankreich stärker als in anderen Ländern in einen komplexen Rahmen zwischen in Paris ausgegebenen Verwaltungsaufgaben und politischer Vertretung der lokalen Bevölkerung eingespannt waren. Vgl. Wright u. Hayward; Rosanvallon, Modèle, S. 360–369; Le Gall u. Aldrin. 34 Siehe Payre u. Pollet; vgl. auch Faure; Dumons u. Pollet, Espaces, S. 15–32. Für den ländlichen Raum siehe Mayaud, Pouvoirs; ders., Communalisation; Raphael, Recht; ders., Staat. 35 Siehe Lascoumes; ders. u. Le Galès, S. 11–44.

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rung von Menschen und Dingen, Rationalitäten des Regierens, Techniken der Subjektivierung – ineinandergriffen.36 Die Ausarbeitung öffentlicher Politiken, ihre programmatische Formulierung, ihre Umsetzung und Ergebnisse werden drittens als offener, historischer Prozess betrachtet, an dem völlig unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Machtchancen und Interessen, Strategien und Taktiken beteiligt sind. In einer solchen Genealogie öffentlichen Handelns wird Handlungsmacht tendenziell auf ein sehr viel breiteres Spektrum von Agenten übertragen als lediglich auf diejenigen Akteure in politischen Institutionen, die mit der Umsetzung der politischen Maßnahmen betraut sind.37 Diese Perspektive hat sich auch für die neueren dinggeschichtlichen Ansätze als anschlussfähig erwiesen, insofern Handlungsmacht auf ganz banale Gegenstände wie Akten oder etwa, wie im Fall von Umweltpolitiken, auch auf schädliche Stoffe übertragen werden kann. Des Weiteren werden öffentliche Politiken nicht mehr funktionalistisch von ihrem erwarteten Ende her betrachtet und bewertet, sondern als ergebnisoffener, kontroverser Prozess, in dem sich der Gegenstand der policies und darüber auch das eingebundene Publikum selber verändern können.38 Mit diesem Ansatz wird es möglich, die Geschichte der S­ ubsistenzpolitik zwischen 1846 und 1914 als eine Reihe von historischen Konstellationen aus Diskursen und Praktiken zu untersuchen, in denen sich die Machtverhältnisse jeweils verschoben. Die meisten Kompetenzen der Subsistenzverwaltung  – Gewerbe­ ordnung, Marktordnung, amtliche Preisfestlegung, Lebensmittelkontrolle usw. – waren auf kommunaler Ebene konzentriert und verankert.39 Folglich gibt es eine Fülle von Einzelstudien, die lokale Entwicklungen nachzeichnen – selbstverständlich sehr oft in Paris40 –, insgesamt aber selten den Raumbezug proble­ matisieren, der durch die individualisierende Struktur der Verwaltungsgliederung vorgegeben wird.41 Eine Revision dieser Orientierung an den lokalen, departementalen, nationalen und internationalen Territorialitäten der Verwaltungsstruktur hat vor einiger Zeit eingesetzt.42 Mit Gewinn fokussiert die Forschung seither nationale und internationale transmunizipale Netzwerke43 so36 Siehe aus der in letzter Zeit stark gewachsenen Literatur vor allem Bröckling, S. 401–439. 37 Siehe Laborier u. Trom; siehe auch das Themenheft »L’analyse politique de l’action publique: Confrontation des approches, des concepts et des méthode« der Revue française de science politique 55 (2005) H. 1. 38 Siehe Marres. 39 Das ist ein gesamteuropäisches Phänomen: Atkins, Food.; einige Entwicklungen zeichnet nach Bourguinat, Maire. Da es sich hierbei um einen »Nachläufer« zur früheren Protestforschung handelt, ist die Vernachlässigung sämtlicher Wissensbestände, Institutionen und Regelungskompetenzen im Bereich der Lebensmittelsicherheit besonders auffällig. 40 Siehe die Pariser Fallstudien: Stanziani, Construction; ders., Municipal; Paquy; Tanguy. 41 Prägend für diese Sichtweise war ein Sammelband, der sich um die Verschränkung von mikrostoria und Sozialgeschichte bemühte und den Umweg über unterschiedlich weite Raumbezüge nahm: Revel. Zum Stand der Diskussion in Frankreich siehe Lagadec. 42 Siehe Saunier, Ville; ders, Kult. 43 Vgl. die Beiträge in Saunier u. Ewen.

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wie ein bislang vernachlässigtes »Stadt«- bzw. »Kommunalwissen«,44 das in Beratungskorrespondenzen zwischen Stadtverwaltungen ebenso wie in speziellen Publikationen entstand und zirkulierte.45 Durch die Aufnahme wissens- bzw. wissenschaftsgeschichtlicher Aspekte hat sich die französische Verwaltungsgeschichte in den letzten Jahren insgesamt verändert. Im Zuge dieser Rezeption werden die reichhaltigen archivalischen Hinterlassenschaften neu entdeckt und der Forschung neue Dimensionen eröffnet.46 Zu erwähnen sind hier Untersuchungen zur Entstehung, Ausdifferenzierung und Implementierung von Regierungswissenschaften47 ebenso wie eine Wendung zur epistemischen Einbettung der Verwaltungspraxis.48 Die Analysemöglichkeiten, die Verwaltungsakten als Quellenmaterial für eine Geschichte der Staatspraxis bieten, sind gerade mit Blick auf den staatlichen Beitrag zur Subsistenzpolitik noch längst nicht ausgeschöpft. Obwohl die Untersuchung regionale und lokale Bezüge auf zwei bretonische Departements und Großstädte aufweist, handelt es sich ausdrücklich nicht um einen Beitrag zur Lokal- oder Regionalgeschichte. Es geht aber auch nicht in erster Linie um ein »Spiel der Maßstäbe« (J. Revel), d. h. um unterschiedlich weite Fokuseinstellungen oder um die Analyse eines regionalen Falls und seine Einbettung in Entwicklungen und Prozesse, die in ähnlicher Form auch in anderen Regionen verliefen.49 Im Fokus stehen vielmehr die Korrespondenz und die Diskurspraktiken in den ja zentralstaatlich aufgebauten und geführten Behörden sowie die Kommunikation der Beamten mit Bürgerinnen und Bürgern. Die Konzentration auf den Schriftverkehr und die Zirkulation von Wissen und Macht in den verzweigten Kanälen der Gebiets- und Zentralverwaltung hat zur Folge, dass sich die in der Alltagsgeschichtsschreibung oft anzutreffende Einteilung in Mikro-, Meso- und Makroebenen als zu starr erweist.50 Auf der einen Seite zeigen neuere Arbeiten, wie das »Vorrücken des Staates in die Fläche« im 19. Jahrhundert das politische und soziale Gefüge in den Regionen und Ortschaften veränderte, in dem er etwa neue Machtressourcen zur Verfügung stellte.51 Auf der anderen Seite veränderten sich aber auch die Raum­bezüge und dies nicht nur dadurch, dass auch entlegene ländliche Kommunen begannen, sich als Teil  eines Staates und einer Nation zu verstehen. Die staatliche Infrastruktur und die sie tragenden Beamten brachten mit ihren administrati44 Ein diskursiv-praktisches Wissen, das eigenständige politische Rationalitäten urbaner Gouvernementalität entwirft und programmiert, vgl. Joyce, Freedom; vgl. auch Bennett u. Joyce. 45 Siehe Ingold; Payre. 46 Vgl. Vismann; für die Aufnahme ähnlicher Gesichtspunkte in der französischen Diskussion: Buton, Observation; Payre u. Pollet, S. 133–154, sowie Lutterbeck. Vgl. mit Bezug auf Bayern und Preußen jetzt Engelns. 47 Napoli, Naissance; Ihl u. a. 48 Becker u. Clark, S. 1–34; Becker. 49 Revel. 50 Latour, Rechtsfabrik. 51 Tönsmeyer u. Ganzenmüller; Franz.

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ven Praktiken eigene Raumbezüge hervor, die das Staatsgebiet gleichsam von Innen gestalteten.52 Die im äußersten Nordwesten Frankreichs gelegene Bretagne sowie die beiden Departements Finistère und Ille & Vilaine galten in der Forschung bis in die 1970er Jahre als Inbegriff der Rückständigkeit ländlicher Gebiete im 19. Jahrhundert. In der Wirtschaftsstruktur weitestgehend agrarisch geprägt, durch Getreideanbau und Viehzucht mit teilweise »archaischen« Produktionsmitteln, die wenig differenzierte Industrie auf die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte und ihre Vermarktung konzentriert; in Sozialstruktur und Kultur durch eine bäuerliche Sozialität geprägt, eine Gesellschaft, die noch um 1900 zu einem Drittel bretonisch sprach, deren Konservatismus sich einer »mystischen« Religiosität verdankte und die von monarchistischen Adligen und Priestern dominiert wurde – das ist das Bild, das die Forschung lange gezeichnet hat.53 Ausgehend von der Regionalgeschichte hat sich dagegen seit den 1990er Jahren eine weniger stark von Entwicklungsteleologien geprägte Geschichtsschreibung der Bretagne entwickelt, die nach einer spezifisch bretonischen Ausprägung von Modernität fragt.54 Jenseits regionalistischer Befangenheiten ist freilich die Frage interessant, welcher Erkenntnisgewinn dadurch erzielt werden kann, dass die zentralstaatliche und auf Paris fixierte Perspektive zahlreicher Forschungsarbeiten durch den Blick aus der bretonischen Provinz gebrochen wird. Die Untersuchung basiert auf Akten der Stadtbehörden in Brest und Rennes, der Präfektoralverwaltungen der Departements Finistère in Quimper bzw. Ille & Vilaine in Rennes sowie des Nationalarchivs in Paris. Außerdem sind Akten aus dem Archiv der Präfektur des Departements Nord in Lille herangezogen worden. Nicht allen Archiven kommt allerdings das gleiche Gewicht zu. So wurden aus dem Departementalarchiv in Lille lediglich Akten zur Vie chère-Krise der Jahre 1910–1912 ausgewertet, um die Unterschiede der drei Gebietsverwaltungen im Umgang mit der Krise angemessen herausarbeiten zu können. In der Beobachtung und Polizierung der lokalen Subsistenzmärkte, d. h. vor allem des Zusammenhangs von Korn- und Mehlvermarktung sowie Bäckereigewerbeordnung und Brotverkauf, und besonders in den Teuerungsphasen von der Mitte der 1850er bis Ende der 1860er Jahre war das Zusammenwirken von Stadtbehörden in Brest und Rennes mit den jeweiligen Präfekturen und Ministerien stark ausgeprägt, wandelte sich jedoch formal, weshalb die Dokumentation für die Untersuchung dieser Phase zusammengefasst und durch weiteres Material aus der Ministerialbürokratie ergänzt wurde. Ein anderes Materialarrangement wiederum wurde für die Untersuchung der Übergänge und Gewichtsverschiebungen der administrativen Subsistenzpolitik vom Brot auf die Fleischproduktion und -vermarktung benötigt, denn 52 Zum Raumverständnis nach dem »spatial turn« siehe Döring u. Thielemann; Middell; Werber; zur Zirkulation von Macht siehe Latour, Macht. 53 Vgl. etwa Geslin, Meyer; Le Gallo; Désert u. Specklin. 54 Vgl. Martin; Lagree; Minois.

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gerade im letzten Feld zeichnet sich eine in den 1870er Jahren einsetzende und mit dem Kommunalreformgesetz von 1884 stark forcierte Kommunalisierung wichtiger Regelungskompetenzen ab, die vorher den Präfekturen und Ministerien vorbehalten waren. Für diesen Abschnitt der Untersuchung wurde die Dokumentation der Markt- und Gewerbeaufsicht in Brest um die Überlieferung der Fleischinspektion und Fleischmarktpolizei der Stadtverwaltung in Rennes ergänzt. Zusätzlich zu den Verwaltungsakten sind drei verschiedene Materialien ausgewertet worden. Für die semantikgeschichtliche Bestandsaufnahme zum Konzept »Subsistenz« und seinen Metamorphosen sind zunächst 41 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienene Wörterbücher aus verschiedenen Wissensordnungen sowie Enzyklopädien des allgemeinen Sprachgebrauchs analy­ siert worden. Der Vergleich zwischen der begrifflichen Entwicklung des Konzepts im Wörterbuch und in der Verwaltungspraxis liefert wichtige Aufschlüsse über die Wirkmächtigkeit des Konzepts, etwa der Funktionalisierung bestimmter Schlagwörter in der Begründung administrativer Entscheidungen. Der Abstand zwischen der Stadtverwaltung in Brest und den verwaltungswissenschaftlichen Wörterbüchern mag auf den ersten Blick groß gewesen sein, aber es ist fraglich, ob er größer war als der zwischen der Pariser Verwaltung und den Wörterbüchern. In diesem Sinn dient die semantikgeschichtliche Kontextualisierung auch der ›Provinzialisierung‹ der Metropole Paris. Für die Subsistenzpolitik im Zweiten Kaiserreich ist des Weiteren ein Materialkorpus gebildet worden, das sich aus Broschüren und Artikeln in Presseerzeugnissen zusammensetzt und in denen die Subsistenzfrage außerhalb der Verwaltung thematisiert und diskutiert wurde. Auf diese Weise konnte die Reformpolitik des bonapartistischen Regimes auf ein ganzes Spektrum verschiedener Lösungsmöglichkeiten der Subsistenzfrage bezogen und die Rationalität der staatlich durchgesetzten Lösungen mit dem Stand der gesellschaftlichen Diskussion in Beziehung gesetzt werden. Das dritte Materialkorpus ist für die Untersuchung der Vie-chère-Kontroverse in den Jahren 1910 bis 1912 gebildet worden. Es besteht zum einen aus einer Fülle an Artikeln der nationalen Tages-, Wochen- und Monatspresse und zum anderen aus Archivmaterial der Stadtverwaltungen, Präfekturen und Ministerialverwaltungen. Anhand dieser Dokumentation sind die öffentliche Kontroverse über die Ursachen der Fleischteuerung, die Lösungsstrategien für das Problem und schließlich auch die Darstellung der gewalthaften Proteste analysiert worden. Das erste Kapitel der Untersuchung enthält eine semantikgeschichtliche Bestandsaufnahme zum Begriff »subsistances«. Anhand von Wörterbüchern aus unterschiedlichen Wissensbereichen sowie großen Enzyklopädien wird der semantisch-diskursive Horizont des Konzepts in der Mitte des 19. Jahrhunderts rekonstruiert, auf den sich die in den folgenden Abschnitten analysierten subsistenzpolitischen Praktiken bezogen. Die Teuerungskrise der Jahre 1846/47 und die darauf folgende politische Krise bildeten den Hintergrund für eine bis in 20

die 1860er Jahre anhaltende, gesellschaftliche Diskussion über die Subsistenzfrage, die freilich unter den autoritären Sagbarkeitsbedingungen des Zweiten Kaiserreichs stattfand. Im zweiten Abschnitt werden die beiden am häufigsten diskutierten Lösungsprogramme analysiert, die an die Versicherungstechnologie angelehnten Kornreserven sowie die unter paternalistischer Führung von lokalen Honoratioren gegründeten Arbeiterrestaurants und Suppenküchen. Darauf folgt im nächsten Kapitel die Untersuchung der subsistenzpolitischen Praxis der Justiz- und der Innenbehörden in der Kornteuerungsphase Mitte der 1850er Jahre. Anhand der Korrespondenz der Justizbeamten wird analysiert, auf welche Weise die Teuerung in der Bevölkerung semantisch politisiert wurde und wie die Justizbeamten dieses Problem durch ihre Entpolitisierungsversuche und die Kriminalisierung des Protests noch verstärkten. Die Untersuchung der Krisenkommunikation zwischen Gebiets- und Zentralverwaltung im Finistère hebt dagegen auf die politische Rationalität der verschiedenen präventiven Praktiken ab, mit denen die Beamten am Ort versuchten, die mit der Teuerung verknüpfte Konfliktualität zu dämpfen. Die Ordnung des Bäckereigewerbes und des Brotmarktes steht im Mittelpunkt des dritten Abschnitts. Hier wird argumentiert, dass die von der kaiserlichen Regierung propagierte Freihandelsdoktrin die Fortexistenz des in zahlreichen Städten eingeführten Ausnahmeregimes der Bäckerei zunächst keineswegs ausschloss. Vielfach ergaben sich Kompromisse, die noch in den späten 1850er zu seiner Expansion in ländliche Kommunen führten und erst mit den Reformen zu Beginn der 1860er Jahre aufgehoben wurden, welche das Bäckereigewerbe landesweit liberalisierten und dem freien Wettbewerb überantworteten. Die 1860er Jahre markieren in dieser Hinsicht einen Übergang, der im folgenden Abschnitt semantikgeschichtlich untersucht wird. Nach dem Wegfall des Ausnahmeregimes der Bäckerei verschoben sich in den folgenden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg auch die Parameter des Subsistenzkonzepts von einer Konzentration auf den Ausnahmezustand auf die Normallage. In den Vordergrund traten Aufgaben der Betrugs­ prävention und der Produktfälschung in den Lebensmittel produzierenden und vermarktenden Gewerben, die an wissenschaftliche Entwicklungen anknüpften. Die darauf aufbauenden Praktiken, ihre Institutionalisierung und ihr Zusammenschluss zu einem Dispositiv der verwissenschaftlichten Markt- und Gewerbepolizei werden am Beispiel der Stadt Brest untersucht. Die Praxis der Fleischinspektion in der Stadt Rennes zeigt des Weiteren, dass auch die verwissenschaftlichte Marktaufsicht von moralischen Vorbehalten gegen Produzenten und Händler geprägt war, die freilich den Markt nicht mehr gänzlich in Frage stellten wie noch die moralischen Ökonomievorstellungen der Beamten um 1850. Das letzte Kapitel der vorliegenden Untersuchung entfaltet ein Panorama der Teuerungsprotestwelle um 1910. Es zeigt, wie die überregionale Presse die Protestgewalt zunächst politisierte und das Problem auf die Agenda der politischen Institutionen setzte und wie in der landesweiten Debatte über die Ursachen und Lösungen der Teuerungskrise eine allprotektive (sozial- und agrarprotektionistische) Interpretation mehrheitsfähig wurde. 21

Eine so genau an der sprachlichen Verfassung der Verwaltungswirklichkeit arbeitende historische Untersuchung ist auf häufige Zitate angewiesen, um ihre Argumente plausibel zu machen. Die Zitate sind ins Deutsche übertragen worden. Das französische Originalzitat findet sich, falls nötig, in Klammern dahin­ ter gesetzt oder in einer Fußnote. Im Hinblick auf gendergerechte Sprache habe ich mich an folgenden Kompromiss zwischen Geschlechterpolitik, sachlicher Richtigkeit und Lesbarkeit gehalten. Wo weibliche Akteure angetroffen wurden, habe ich die weibliche Form verwendet, die männliche darüber hinaus dort, wo sich dies nicht eindeutig belegen ließ. Die Unsichtbarkeit von Händlerinnen, Konsumentinnen und anderen Akteurinnen ist ein Teil des hier untersuchten Problems. Die Arbeit an diesem Buch hat in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« an der Universität Bielefeld begonnen. HeinzGerhard Haupt danke ich für die Überlassung des Themas und die großzügig eingeräumte Möglichkeit, autonom daran zu arbeiten. Thomas Lindenberger hat die Entstehung der Untersuchung ebenfalls von Anfang an mit kritischer Offenheit, intellektueller Neugier und methodischer Versiertheit begleitet. Beiden sei herzlich dafür gedankt, dass sie die Begutachtung übernommen haben, als die Arbeit im Jahr 2014 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen worden ist. Die Projektarbeit hat von dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen an der Universität Bielefeld enorm profitiert. Danken möchte ich besonders Martina Engelns, die das Vergleichsprojekt zu Teuerungsprotest im Deutschen Kaiserreich bearbeitet hat, sowie Christina Benninghaus, Vera Simon, Marcus Otto, Pascal Eitler, Christian Hoffmann und Antoine Acker. Am Lehrstuhl für Europäische Geschichte und Geschichte des europäischen Kolonialismus am Historischen Institut der Universität zu Köln hat die Untersuchung neue Impulse bekommen und entscheidende Wendungen genommen. Jakob Vogel danke ich sehr herzlich für die vielen Hinweise, seine geduldige Unterstützung und für die Möglichkeit, neben der Mitarbeit im Zentrum für interdisziplinäre Frankreich- und Frankophoniestudien das Manuskript dieses Buches voranbringen zu können. Ergebnisse meiner für die Veröffentlichung überarbeiteten und gekürzten Dissertation durfte ich in verschiedenen Kontexten präsentieren und zur Diskussion stellen. Zu Dank verpflichtet bin ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des SFB-Kolloquiums an der Universität Bielefeld und des Oberseminars zur Geschichte Europas und des europäischen Kolonialismus an der Universität zu Köln. Des Weiteren hatte ich viele Gelegenheiten, Teile des Projekts auf Konferenzen im In- und Ausland vorzustellen. Für kritische Anmerkungen und weiterführende Kommentare danke ich Dorothee Brantz, Heidi Hein-Kircher, Jean-Clément Martin, Maren Möhring, Marian Richling, Roman Rossfeld, Pascal Schillings, Alessandro Stanziani, Willibald Steinmetz sowie Simone Derix, Benno Gammerl und Mitgliedern des Arbeitskreises Geschichte & Theorie. 22

Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtarchive von Brest und Rennes, des Departementalarchivs Finistère in Quimper, Ille & Vilaine in Rennes und Nord in Lille sowie des Centre Historique des Archives Nationales in Paris. Ihre Hinweise und ihr unermüdlicher Einsatz bei der Suche nach Material haben zum Entstehen dieser Arbeit nicht unwesentlich beigetragen. Für Unterstützung bedanke ich mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung der Universität Bielefeld, besonders bei Rita Gaye und Martina Fronk. Den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft« danke ich für die Aufnahme, Daniel Sander vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für seine unendliche Geduld. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten haben Catarina Caetano da Rosa, Tobias Weidner, Felix Heinert und Alexa Geisthövel Teile des Manuskripts gelesen. Für ihre hilfreichen Anmerkungen, Kommentare und Hinweise bin ich außerordentlich dankbar. Bodo Mrozek hat es auf sich genommen, das ganze Manuskript zu lesen und mit »last minute-input« zu versehen. Ihm möchte ich an dieser Stelle ganz besonders herzlich danken. Darüber hinaus waren freundschaftliche Diskussionen, aufmunternde Ablenkung und manchmal auch ganz praktische Hilfe dafür ausschlaggebend, dass dieses Buch irgendwann wirklich fertig war. Für ihre Hilfsbereitschaft und vielfältige Unterstützung in all den Jahren danke ich Uta und Patrice ­Poutrus, Peter-Paul Bänziger, Felix Heinert, Nicole Becker, Joachim Haeberlen, Lars Schmitt, Ernst Ockhardt, Adriana Chauvet, Dominik Rigoll, Sonja Krügener und Stefan Lauterbach, meinen Eltern Sigrid und Alfred, meiner Schwester Stephanie und nicht zuletzt Dorthe Goeden. Bei Petra und Peter von »Plan B« möchte ich mich für Strom, Schreibtisch und Kaffee bedanken und bei Thierry Désiré für seine großzügige Gastfreundschaft. Bushtra Bakioski danke ich für die Einsicht, dass es auch mit Plan C geht. Dass die Arbeit an diesem Buch ein glückliches Ende genommen hat, verdanke ich aber vor allem meiner wunderbaren Tochter Zoé. Ihr ist es gewidmet.

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I. Staatsaufgabe Subsistenz. Semantische Konturen des Politikfelds in der Mitte des 19. Jahrhunderts

Was bedeutete »Subsistenz« in der Mitte des 19. Jahrhunderts? Wie sollte sich der Staat in der »Subsistenzfrage« verhalten? Und was gehörte sachlich zur Staatsaufgabe »Subsistenz«? Diese Fragen werden im Folgenden anhand von Einträgen in Wörterbüchern und Enzyklopädien untersucht, die im Zeitraum zwischen etwa 1840 und 1870 erstmals erschienen oder in überarbeiteter Fassung neu aufgelegt wurden. Im Vordergrund steht dabei eine semantik- und diskursgeschichtlich Bestandsaufnahme. Die erste und einflussreichste polizeiwissenschaftliche Systematisierung des Staatswissens über die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln stammte aus der Feder des königlichen Polizeioffiziers Nicolas Delamare und war zu Beginn des 18.  Jahrhunderts ver­ öffentlicht worden.1 Doch seither hatte sich sowohl der Objektbereich – Lebensmittelproduktion, -handel und -verbrauch – dieses Wissens verändert als auch die politisch-administrative Verfassung Frankreichs. Die Frage ist deshalb, ob dieses polizeiwissenschaftliche Konzept Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt noch relevant war, bzw. – wenn das der Fall war – in welchen Wissensordnungen es fortgeführt und aktualisiert wurde.

1. Was heißt »subsistance[s]«? Das Konzept im Wörterbuchwissen Was hieß »Subsistenz« in Frankreich Mitte des 19.  Jahrhunderts? So umfassend gestellt lässt sich die Frage freilich kaum beantworten. Eine Antwort muss jedoch gefunden werden, sonst lässt sich die gesellschaftliche Relevanz des Konzepts kaum einschätzen. Eine Annäherung ist immerhin möglich, indem Wörterbücher und Enzyklopädien zurate gezogen werden, die in dieser Zeit erschienen oder neu aufgelegt wurden. Als monumentale Institutionen der sozialen Wissensverhältnisse bieten sie gesellschaftlich relevantes Wissen in einer Form (z. B. als einfache alphabetische Liste)  dar, die es für den Gebrauch im Alltag verfügbar macht. Sie sind in sich differenzierte und geordnete, gegliederte und hierarchisierte Selbstbeschreibungen der Gesellschaft oder von sozialen Teilbereichen, deren Wirklichkeit sie als Diskurse gleichzeitig performativ mit hervorbringen. Umgekehrt heißt das aber auch, dass das, was nicht im Weltwissen der Enzyklopädien auftaucht, in den Verdacht gerät, gar nicht (oder 1 Delamare. Siehe auch Dyonet. Zur Einordnung in die Polizeigeschichte, siehe Berlière.

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nicht mehr) wirklich zu existieren bzw. nicht ›in der Welt‹ zu sein, die jeweils beschrieben wird.2 Da hier also je nach lexikographischem Ansatz unterschiedliche Relevanzschwellen denkbar sind, liegt der folgenden semantikgeschichtlichen Bestandaufnahme von vornherein eine größere Auswahl unterschiedlicher Wörterbücher zugrunde.3 Wörterbücher machen Wissen aber nicht nur denjenigen verfügbar, an die es sich vorrangig richtet. Sie können zwar grundsätzlich von allen Lesekundigen benutzt werden, richten sich aber oft an bestimmte, genauer definierte Publika. Während Konversationslexika und Universalenzyklopädien sich von vornherein an die gebildete, bürgerliche Zivilgesellschaft wenden, adressieren andere Wörterbücher entweder eine spezielle Leserschaft wie etwa Handwörterbücher für Polizisten, Verwaltungsbeamte und Gendarmen oder bereiten Spezialwissen auf eine Weise auf, die von Laien nicht ohne weiteres verstanden werden kann wie beispielsweise medizinische Nachschlagewerke. Wieder andere formulieren hingegen gerade den Anspruch, Spezialwissen für ein größeres Laienpublikum aufzubereiten wie etwa Wörterbücher aus dem Bereich der Ökonomie und der Hygiene, des Handels oder der Agronomie. Dabei geht es immer auch darum, den richtigen Gebrauch von Wörtern und Begriffen zu vermitteln.4 Ob der Begriff »subsistance[s]« in diesen unterschiedlichen Wissensordnungen grundsätzlich Relevanz besaß, lässt sich so bereits daran ablesen, ob er in den untersuchten Wörterbüchern als eigener Eintrag auftauchte. Denn nur, wenn positiv ein Eintrag in der alphabetischen Liste des Wörterbuchs existierte, konnte der Begriff überhaupt einen eigenen »Wissensrahmen« aktivieren.5 Es kommt zwar durchaus vor, dass ein Begriff an anderen Stellen des Nachschlagewerks ausgiebig verwendet wird. Er dient dann aber der Erläuterung eines anderen Begriffs und ist außerdem so versteckt, dass er nach dem alphabetischen Ordnungsprinzip nicht gefunden werden kann. Insofern spielt er für die Ordnung des dargebotenen Wissens keine tragende Rolle. Ein zweiter Hinweis auf die Relevanz eines Begriffs ergibt sich aus der »Mikrostruktur«6 des Wörterbucheintrags. Je mehr weitere Begriffe dazu benutzt werden, den Erläuterungstext 2 Klassisch hierzu: Foucault, Ordnung der Dinge. 3 Der Untersuchung liegen Nachschlagewerke als serielle Quelle zugrunde, die eine homogene Basis für diskursanalytische Aussagen bilden. Zum Kriterium der Homogenität des untersuchten Quellenkorpus, siehe Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 101–105. 4 Zu diesen Unterschieden bzw. zur Unterscheidung zwischen »Interdiskurs« und »Spezial­ diskurs«, siehe Link, Normalismus, S. 19. Insgesamt wurden 41 Wörterbücher und Enzyklopädien ausgewertet, die von den 1840er bis zu den 1910er Jahren erstmals herausgegeben, überarbeitet oder neu aufgelegt wurden. Sie lassen sich den Wissensordnungen Allgemeinwissen (12), Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft (14), Wirtschaftswissenschaft und Handel (5), Politik und Sozialwissenschaft (5), Medizin und Hygiene (4) und Agronomie (1) zuordnen. Siehe die Liste im Quellen- und Literaturverzeichnis. 5 Zum begriffsgeschichtlichen Konzept des Wissensrahmens, siehe Busse, Begriffsgeschichte, S. 2, 5 f.; siehe auch ders., Architekturen. 6 Zur semantischen Mikro- oder Binnenstruktur des Wissens, siehe ders, Begriffsgeschichte.

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zu untergliedern, in thematische Abschnitte einzuteilen oder den Oberbegriff zu erläutern, Begriffe, die wiederum an anderer Stelle oder in anderen Wörterbüchern selbst als eigenständige Lemmata geführt werden (auch dann, wenn es sich nur um Leerverweise handelt), desto relevanter ist der Begriff für die Wissensordnung: Der Eintrag hat dann die Funktion eines Knotens im Netz der semantischen Bezüge und Verweisungszusammenhänge. Mit der Analyse der formalen Stellung des Begriffs »subsistances« und des Wortfelds »subsister« in der Hierarchie der jeweiligen Wissensordnungen können zwar erste Hinweise auf seine Relevanz in (Teilbereichen) der französischen Gesellschaft gewonnen werden. Für eine Annäherung an die Frage, was »subsistances« genau hieß, wo entsprechende Einträge existierten, und welchen Wandel das Konzept im Verlauf der Zeit erfuhr, müssen anschließend die Einträge und Querverweise selbst analysiert werden. Dazu werden die Grenzen der Einträge allerdings gleichsam aufgelöst, alle Erläuterungstexte zu vorhandenen Einträgen als ein thematisch einheitlicher Diskurs betrachtet und als solcher untersucht.7 Hier folgt die Analyse nicht nur der semantikgeschichtlich bewährten Suche nach »asymmetrischen Gegenbegriffen«8, sondern auch dem diskurstheoretischen Vorschlag, die historischen Konturen des Gegenstands, hier: des Subsistenzkonzepts, durch die Analyse »minimaler Abweichungen« und »maximaler Kontraste« zu erhellen.9 Von den 41 ausgewerteten Wörterbüchern wies mit 19 etwas weniger als die Hälfte einen Eintrag »subsistances« auf: Acht Konversations-, fünf Verwaltungs-, je zwei Politik- und Medizin- sowie gleichfalls je ein Wirtschafts- und ein Agronomielexikon.10 Einige der in den 1850er Jahren herausgegebenen Wörterbücher führten den Begriff auch noch in späteren Auflagen an. Während das einzige Wirtschaftslexikon, das Dictionnaire de l’économie politique von 1852/53 in der zweiten Auflage 1864 darauf verzichtete, widmete Gaffard dagegen den 1873 erschienenen zweiten Band seines Wörterbuchs der »Gebrauchwissenschaft« vollständig dem Thema »subsistances«. Wenn die positive Existenz eines Wörterbucheintrags ein erster Hinweis auf die Relevanz des Begriffs »subsistances« für die jeweiligen Wissensordnungen ist, dann war er also a priori im enzyklopädischen Weltwissen und im Verwaltungswissen von Bedeutung. Den direktesten (aber auch essentialistischen) Zugang zum semantischen Haushalt des Begriffs gewähren Synonymlexika, die Bedeutungsdimensionen des Begriffs durch paradigmatische Ersetzungen erschlossen. Der »primäre Wis­ 7 Zum historischen Subsistenzdiskurs gibt es wenige Vorarbeiten, die zudem vor allem das 18.  Jahrhundert behandeln, siehe Guilhaumou; Sewell. Für den deutschen Sprachraum Szöllösi-­Janze. Weniger diskursgeschichtlich vorgehend, als Intellektuellengeschichte jedoch anregend, siehe die Arbeiten von Alain Clément, vor allem Clément, Nourrir. 8 Siehe Koselleck, Asymmetrische Gegenbegriffe. 9 Siehe Keller, Diskurse. Zur Methodendiskussion in der Diskursgeschichte bzw. Historischen Diskursanalyse, die sich in den letzten zehn Jahren enorm entwickelt hat vgl. neben den zitierten Titeln ders. u. a., Handbuch. 10 Vgl. u. a. Duras; Dally; Tardieu.

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sensrahmen«11 des Wortes »subsistance[s]« gründete den drei ausgewerteten Synonymwörterbüchern von Guizot, Lafaye und Sardou zufolge auf dem Verb »subsister« (fortdauern), das in enger Beziehung zu »existieren« und »sein« stand. Für das Substantiv (Singular und Plural) identifizierten sie vier Sinnbezüge, die hier grob zusammengefasst werden. Erstens hatte der Begriff einen starken Bezug auf Ernährung, Lebensunterhalt und Fortdauer des Einzelnen und der Allgemeinheit. Auf dieser Ebene war »subsistances« synonym mit Nahrung, Lebensmittel, Versorgung oder Unterhalt. Zweitens hatte der Begriff zunächst noch einen Bezug zur Materialität und existenzielle Dringlichkeit des Essens, der sich im etymologisch verwandten Wort »Substanz« artikulierte. Diese Bedeutungsebene wurde jedoch in der Ausgabe des Sardou von 1874 fallen gelassen. Der dritte Aspekt stellte einen Bezug zur Kommerzialisierung von Nahrungsmitteln her (denrées: Ware, marchandise: Gut), während »subsistances« viertens auch die Bedeutung von (Marsch-)Verpflegung und Vorrat (vivres, provision) annehmen konnte.12 Die acht ausgewerteten Konversationslexika, die neben enzyklopädischen Abschnitten teilweise auch Synonym-Erläuterungen zum Begriff anführten, aktualisierten diese Bedeutungen nicht alle gleichermaßen. Der Hinweis auf Substanz etwa wurde meistens nicht mehr erwähnt.13 Umso aussagekräftiger ist allerdings das Begriffsnetz, das in ihnen für den Begriff »subsistance[s]« aufgespannt wurde. Das vielbändige Grand dictionnaire universel du XIXe siècle von Larousse bildete diese Verweisstruktur beispielhaft ab (s. Abb. 1). Es verwies im Singular auf den Eintrag Nahrungsmittel (aliment) und gab die Synonyme Nahrungsmittel, Nahrung (aliment, nourriture). Im Plural war das Wort synonym mit Lebensmittel, Verpflegung zu gebrauchen, als Referenzartikel war »denrées« angegeben. Den nicht ausgeführten enzyklopädischen Teil kürzte der Eintrag mit »verwalten« (administrer) ab und verwies zur Erläuterung auf Militärbehörde (intendance), Verpflegung weiter.14 Diese Kopplung der administrativen Konnotation der Pluralform des Wortes mit dem militärischen Bereich war den meisten anderen Wörterbüchern ebenfalls geläufig,15 in einigen war sie die sogar einzige angegebene Bedeutung.16 Folgt man den Verweisen des Larousse zu den Einträgen Nahrungsmittel und Lebensmittel, stößt man auf zwei verschiedene Wissensformen. Nahrungsmittel definierte der Larousse als »jede verdauliche und zur Ernährung taugliche 11 Busse, Architekturen. 12 Siehe Lafaye (1858), S. 972–974; ders. (1884), S. 972–974; Sardou, S. 520f; Guizot, 725 f. 13 Vgl. aber Moride. 14 Subsistance, in: Grand dictionnaire universel, Bd. 14, S. 1175. 15 Subsistance, subsistant, subsister, in: Dictionnaire national, Bd. 2, S. 1389; Subsistances, in: Dictionnaire de la langue française, Bd. 4, S. 2059, Subsistance, in: Nouveau dictionnaire universel, Bd. 2, S. 1369. 16 Subsistances militaires, in: Dictionnaire de la conversation, Bd. 16, S. 358–359; Subsistances militaires, in: Répertoire général, Bd. 13, S. 92–95.

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Abb. 1: Verweisstruktur des Begriffs »subsistance(s)« in einem enzyklopädischen Wörterbuch

Substanz« und schloss eine präzisierende Unterscheidung an, der im Rahmen des Bedeutungsgewinns der Lebensmittelsicherheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Zukunft bevorstand: »gesundes, ungesundes Nahrungsmittel«.17 Der enzyklopädische Abschnitt enthielt eine gedrängte physiologische Abhandlung über Ernährung, die Ordnung der Nahrungsmittel, ihren Nährwert (valeur nutritionnelle) und den menschlichen Metabolismus: »In der Physiologie bezeichnet man als Nahrungsmittel jede Substanz, die in den Verdauungsapparat eingeführt wird und die Elemente zur Erneuerung unseres Gewebes liefert sowie zur Erzeugung animalischer Wärme beitragen soll«.18 Der Synonym-Verweis auf »subsistances« erläuterte an dieser Stelle unter Hinzuziehung von Nahrung (nourriture): »Subsistenz drückt eine Idee aus, die nicht unmittelbar ausgeführt wird: für die Subsistenz einer Familie, einer Armee sorgen«.19 Eine zweite Bedeutungsebene des Wortes Nahrungsmittel (im Plural) präzisierte diesen Bezug auf Familie und Hauswirtschaft im Sinn der väterlichen Unterhaltspflicht gegenüber seinen Familienangehörigen (»Alimente«).20 17 Aliment, in: Grand dictionnaire universel, Bd. 1, S. 204 f. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 205. 20 Ebd.

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Der Eintrag Lebensmittel (denrées) dagegen bot ein historisch-ökonomisches Traktat. Der Larousse definierte den Begriff als »jedweder Gegenstand, betrachtet unter dem Aspekt seines Preises, seines Wertes«.21 Auch das Synonym Ware (marchandise)  unterstrich, dass der Begriff Lebensmittel ein ökonomisches Gut bezeichnete. »Der intrinsische Wert der Dinge ergibt sich aus dem Wert der Arbeit, die ihr normaler, exaktester und sicherster Ausdruck ist.«22 Der Begriff »denrées« hatte allerdings im Larousse neben dieser ökonomischen auch eine »legislative« Dimension: »Unter dem Wort Lebensmittel [denrées] versteht die Sprache der Verwaltung Getreide [céréales] und Nahrungsmittel [substances alimentaires].«23 Der Eintrag verwies hier auf weitere, dem Recht und der Verwaltung zugeordnete Gegenstände und Wissensbereiche: »Die Zuständigkeiten der Verwaltung bezüglich Korn und Mehl, des Bäckerei- und des Fleischereigewerbes, die zum Schutz des freien Kornverkehrs zu treffenden Maßnahmen und die Marktordnung [police des marchés], werden unter den Einträgen Getreide [céréales], Weizen [blé], Teuerung [cherté], und Mangel [disette] erläutert.«24 Lediglich ein Bezug auf Lebensmittel in der Bedeutung von »denrées« in der »Verwaltungssprache« wurde an dieser Stelle näher erläutert, nämlich die »Zuständigkeiten der Verwaltung bezüglich Sauberkeit und Ehrlichkeit im Lebensmittelverkauf«. Dieser Abschnitt bot juristisches Regelwissen und stützte sich für den historischen Teil auf den »Traité de police« von Nicolas Delamare, für den aktuellen Teil auf Regelungen aus dem Strafgesetzbuch (code pénal) und der zeitgenössischen Gesetzgebung, hier insbesondere das Gesetz vom 27.  März 1851 über die »Betrugsbekämpfung im Warenverkauf«.25 Im »Interdiskurs« (J. Link) der Konversationslexika war der Begriff »subsistances« also durchaus noch relevant, wenn auch lediglich mit der militärischen Verpflegung und ihrer Organisation fest verknüpft. Charakteristisch ist allerdings die darüber hinausgehende Verweisstruktur, die über »aliment« ernährungsphysiologisches Wissen und Haushaltsökonomie sowie über »denrée« ökonomisches und im engeren Sinn administratives Wissen indirekt mit dem Begriff verknüpfte. Insbesondere die Fülle der mit »denrée« verbundenen Verweise, etwa auf Marktpolizei, Getreide, Weizen, Teuerung und Mangel, deutet darauf hin, dass das ökonomische Konzept des Lebensmittels als Ware den Begriff »subsistances« ablöste – auch wenn dieser Bezug noch nicht völlig gekappt war. So aktualisierte etwa der Eintrag im Wörterbuch von Le Châtre aus dem Jahr 1870 in einem enzyklopädischen Abschnitt unter Verweis auf die Soziale Frage die gesellschaftliche Problematik, die im 18. Jahrhundert mit »subsistances« verbunden gewesen war: »Von allen sozialen Fragen, an die man rüh21 Denrée, in: Grand dictionnaire universel, Bd. 6, S. 445 f. 22 Ebd., S. 446. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd.

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ren kann, ist die Subsistenzfrage die bedeutendste. Subsistenz ist alles, was der Ernährung der Individuen, der Familien und der Völker dient«.26 Dennoch ist die Spannung zwischen de Begriffen »subsistances« und »denrée« auch im Vergleich der 14 Wörterbücher aus den Bereichen Recht/Verwaltung und der fünf Ökonomie/Handels-Lexika deutlich zu sehen. In gewisser Weise handelt es sich um eine komplementäre Verteilung bzw. gegensätz­ liche Beurteilung der Relevanz des Begriffs »subsistances«. Bis auf das 1852/53 von Charles Coquelin und Gilbert Guillaumin herausgegebene Dictionnaire de l’éco­no­mie politique führte keines der untersuchten Wirtschafts- und Handelswörterbücher ein Lemma »subsistances« und auch dieser einzige Eintrag war Leerverweis, der die Einträge zu Getreide, Verbrauch, Mangel, Bevölkerung und Löhne weiterleitete.27 Obwohl der Begriff in der alphabetischen Ordnung des ökonomischen Wissens offensichtlich eine ordnende Funktion hatte, wurde er von den beteiligten Autoren dennoch nicht als ökonomisches Konzept betrachtet, das eigenständiger Erläuterungen bedurfte. Die deshalb eher virtuelle Funktion verweist auf den Umstand, dass der Begriff im parallel entwickelten administrativen Wissen nach wie vor zentrale Relevanz besaß. Das von Maurice Block erstmals 1856 herausgegebene Dictionnaire de l’administration française führte zwar ebenfalls eine ganze Reihe leerer Einträge, doch von diesen wurde in umgekehrter Richtung auf den »subsistances«-Eintrag verwiesen: Teuerung,28 Nahrungsmittel (comestibles),29 Lebensmittel,30 Mangel,31 Fälschungen von Getränken und Lebensmitteln,32 Korn33 und Kornspeicher (greniers d’abondance).34 Wer in Blocks Wörterbuch nach Erläuterungen dieser Begriffe suchte, wurde auf den Subsistenzeintrag verwiesen, wobei zudem einige von ihnen für das dort entwickelte Wissen wichtig genug waren, um die Mikrostruktur des Eintrags zu untergliedern (Korn, Speicher, Lebensmittel, Teuerung, Mangel). Wer dagegen im Subsistenzeintrag nach Ausführungen zur Bäckerei suchte, wurde dort über einen entsprechenden Querverweis auf einen eigenständigen Eintrag geleitet. Innerhalb des Dictionnaire de l’administration française hatte der Begriff also – ganz im Gegensatz zum Dictionnaire de l’économie politique – eine übergeordnete, bündelnde Referenz- und Integrationsfunktion für andere Themen. Die Schnittmenge zwischen beiden Wissensordnungen – Mangel und Getreide – wird weiter unten genauer untersucht. 26 Subsistance, in: Nouveau dictionnaire universel, Bd. 2, S. 1369. 27 Subsistances Voy. Céréales, consommation, disette, population, salaires, in: Dictionnaire de l’économie politique, Bd. 2, S. 670. 28 Cherté, Voy. subsistances, in: Dictionnaire de l’administration (1856), S. 391. 29 Comestibles, Voy. Subsistances, in: Dictionnaire de l’administration (1856), S. 426. 30 Denrées, Voy. Susistances, in: Dictionnaire de l’administration (1856), S. 653. 31 Disette, Voy. Subsistances, in: Dictionnaire de l’administration (1856), S. 682. 32 Falsification de Boissons et de denrées, Voy. Subsistances, in: Dictionnaire de l’administration (1856), S. 837. 33 Grains, Voy. Céréales et Subsistances, in: Dictionnaire de l’administration (1856), S. 933. 34 Greniers d’abondance, Voy. Subsistances, in: Dictionnaire de l’administration (1856), S. 933.

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Abb. 2: Verweisstrukturen des Begriffs »subsistances« im verwaltungswissenschaftlichen und im ökonomischen Wörterbuch im Vergleich

Das heißt allerdings nicht, dass das Wort »Subsistenz« im ökonomischen Wissen überhaupt keine Rolle mehr gespielt hätte. Von den Artikeln im Dictionnaire de l’économie politique ist derjenige zu Bevölkerung diesbezüglich am aussagekräftigsten. Im Rahmen der Erörterung des Malthus’schen Bevölkerungsgesetzes wurde die Frage diskutiert, inwiefern das Wachstum der »Subsistenzmittel« (moyens de subsistance) mit dem der Bevölkerung Schritt hielt. Im Vordergrund standen hier jedoch bevölkerungspolitische Aspekte.35 Die Erläuterungen zum Subsistenzaspekt der »Bevölkerungsfrage« dagegen wurden ausgelagert und bildeten mit den Einträgen zu »Bedürfnisse des Menschen« und »Existenzmittel« einen eigenen, durch Querverweise auch formal eigenständigen, thematischen Zusammenhang. In dem von ihm verfassten Eintrag »Existenzmittel« verzichtete der Ökonom Ambroise Clément ausdrücklich auf den Begriff »subsistances« und erklärte dies mit einem sozioökonomischen Argument. Zum einen seien die Bedürfnisse der Bevölkerung »selbst in Mangelphasen« durch eine spezifische »Elastizität« gekennzeichnet. Dies mache die konkrete Bestimmung einer Grenze unmöglich, ober- oder unterhalb derer die Bevölkerung existieren könne;36 zum anderen – und dazu wurden historische und ethnologische Vergleiche bemüht  – entwickelten Bevölkerungen im Prozess ihrer »Zivilisierung« über die Nahrung hinausgehende Bedürfnisse.37­ 35 Legoyt, S. 382–420. 36 Clément, Am., Besoin des hommes. 37 Ders., Moyens d’existence.

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Clément schlug daher vor, den Begriff »Subsistenzmittel« durch »Existenzmittel« zu ersetzen, denn dieser umfasse »alle Gegenstände unserer Bedürfnisse«.38 Die zentrale Stellung des Begriffs »subsistances« im administrativen Wissen deutet aber darauf hin, dass diese Umsemantisierung im Sinn der Ökonomen sich nicht (sofort) durchsetzte.

2. Staatswissenschaftliche Systematik Verwaltungslexika der Mitte und sogar der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichneten mit dem Begriff »subsistances« positive Staatsaufgaben. Die Einträge in den aufeinanderfolgenden Ausgaben des Dictionnaire de l’administration française von Maurice Block hielten dies sogar für einen Umstand, der den Zeitläuften entrückt blieb: »Die mit der Versorgung der Bevölkerung verbundenen Fragen gehören seit je her zu den großen Regierungsaufgaben«,39 notierte Louis Foubert, dessen Eintrag der Herausgeber Maurice Block in späteren Ausgaben überarbeitete.40 Diese Auffassung hatte deshalb ein besonderes Gewicht, weil Foubert während des gesamten Zweiten Kaiserreichs als Leiter der Subsistenzabteilung (direction des subsistances) im Ministerium für Landwirtschaft, Handel und öffentliche Bauten arbeitete. Über seinen Schreibtisch ging die Korrespondenz in Subsistenzangelegenheiten zwischen dem Ministerium und den Präfekturen und in dieser Funktion wird er uns noch begegnen. Im Bereich der Verwaltungswissenschaft, zumindest soweit sie Maurice Block für sein Dictionnaire mobilisierte, galt er als Spezialist für diese Fragen. Von ihm stammte nicht nur der Subsistenz-Eintrag, sondern – zumindest in der Erstausgabe 1856 – auch eine Reihe weiterer Artikel zum Schlachthof,41 zur Fleischerei,42 zur Bäckerei,43 38 Ebd., S. 257 (Herv. d. Vf.). Siehe auch Garnier, Consommation, Cocquiel. Vermutlich ist es kein Zufall, dass in diesem Zusammenhang auch der Begriff Parasit verhandelt wurde, siehe Renouard. 39 Foubert, Subsistances (1856), S. 1488. 40 Ders. u. Block, S. 1679. 41 Foubert, Abattoir (1856), S. 1–3. Vgl. auch ders., Abattoir (1877) sowie Tardieu, Abattoir; SaintBonnet, Abattage, abattoirs; Rigaud, Abattoir; Puybusque, Abattoirs; Baudement, Abattoir. 42 Foubert, Boucherie, S. 210–214. Vgl. des Weiteren Beaugrand, Boucherie (police médicale); Tardieu, Boucherie; Saint-Bonnet, Boucherie; Rigaud, Boucherie; Puybusque, Bouchers;­ Menant, A. u. Caullet, Boucherie; Miret, Boucherie; Guerlin de Guer, Boucherie; Blaise, Boucherie (commerce de la); außerdem Say, Viande de boucherie; Laumonier, Extraits de viande. Ein eigenständiger Eintrag zu »Metzgerei« (Charcuterie) fehlt bei Foubert, siehe aber Tardieu, Charcuterie; Rigaud, Charcutier-charcuterie; Puybusque, Charcutiers; Laumonier, Charcuterie; Husson, Charcuterie; Bouquet. 43 Foubert, Boulangerie, S. 215–221. Vgl. des Weiteren Tardieu, Boulangerie, Boulangers; SaintBonnet, Boulangerie; Puybusque, Boulangerie; Miret, Boulangerie; L, AC, Boulanger, Boulangerie; Guerlin de Guer, Boulangerie; Gos; Cornet, Boulanger; Beaugrand, Boulangerie.

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zur Handelsbörse,44 zum Kornhandel45 und zu Messen und Märkten.46 Foubert gab hier Auskunft über die Leitlinien seiner eigenen Praxis. Weniger deutlich in der Formulierung, aber ebenfalls um die genaue Defi­ nition der administrativen Perspektive bemüht, hatte Adolphe de Puybusque in seinem Dictionnaire municipal ou Nouveau manuel des maires im Jahr 1841 festgestellt, dass »das wichtigste und unerlässlichste aller sozialen Interessen die Subsistenz« sei und einschränkend präzisiert: »jedenfalls soweit die Verwaltung zum Einschreiten aufgerufen ist, d. h. insofern es sich um Tätigkeiten handelt, die nur die Verwaltung leisten kann«.47 Schließlich verstanden die Verwaltungswörterbücher unter Subsistenz vor allem die Versorgung der Bevölkerung: »Unter diesem Begriff fasst man die Fragen, die mit der Versorgung der Bevölkerung verbunden sind«, merkte Jean-Marie Le Moutier in seinem 1889 er­ schienenen Nouveau dictionnaire-formulaire pratique ou Manuel alphabétique de droit usuel an.48 Alle Verwaltungswörterbücher, sofern sie über diese Erläuterungen hinaus­ gingen, präzisierten die Eingriffsvernunft des Staates in Abhängigkeit von besonderen Situationen. Als geradezu klassisch kann die Dreiteilung gelten, die Louis Foubert mit Blick auf die historische Vorlage bei Nicolas Delamare vornahm: »Die Maßnahmen [bezüglich der Bevölkerungsversorgung] können auf drei Hauptpunkte bezogen und in drei Klassen eingeteilt werden: 1. Vorkehrungen für die normale Lage; 2. Vorkehrungen zur Vorbeugung des Mangels oder zumindest des allzu starken Anstiegs der Kornpreise; 3.  Maßnahmen, die in Teuerungszeiten ergriffen werden und die zeitlich ebenso begrenzt sind wie die Teuerung selbst.«49

Foubert spezifizierte die Maßnahmen im Hinblick auf die »Normallage«, die Prävention und die »im Fall der Versorgungskrise getroffenen Vorkehrungen«. In Frankreich, notierte er im Jahr 1856, seien die Maßnahmen bezüglich der normalen Situation »seit einigen Jahren auf eine kleine Anzahl Gegenstände begrenzt«. Er zählte insgesamt fünf Bereiche auf: 1. Kornimport und Kornexport; 2. Kornverkehr im Inneren; 3. Ordnung des Bäckereigewerbes und des Fleischereigewerbes; 4.  Marktausrichtung und Marktpolizei und 5.  Lebensmittelreinheit und Ehrlichkeit im Verkauf von Nahrungsmitteln.

Hygiène publique; ders., Boulangers. Hygiène professionnelle; sowie Puybusque, Pain; S., P., Panification; Girard, Panification (technologie). 44 Foubert, Bourse de commerce, S. 221–226. Vgl. des Weiteren Raffalovich, Bourse; Puybusque, Bourse de commerce; Paulet; Ott, Bourse de commerce; M., G., Bourse de commerce; Hayem, Bourse de commerce (marchandises); Fleury; De Colonjeon. 45 Foubert, Céréales, S. 313–318. 46 Ders., Foires et marchés, S. 843–845. 47 Puybusque, Subsistances, S. 891. 48 Le Moutier, S. 841. 49 Foubert, Subsistances (1856), S. 1488.

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In seinem Text ging Foubert nur auf die Punkte zwei und fünf ein, während er für die übrigen auf die entsprechenden, ebenfalls von ihm verfassten Einträge verwies. Damit reduzierte sich das Thema Subsistenz in diesem Eintrag des Dictionnaire de l’administration française auf die Bestimmungen zur Kornmarktpolizey, die traditionell im Mittelpunkt der Subsistenzfrage stand, und auf den Bereich der Lebensmittelreinheit. Dem Stichwort ›vorbeugende Maßnahmen‹ ordnete er ausschließlich die Kornbevorratung (Reserven) zu. Die »im Fall der Versorgungskrise getroffenen Vorkehrungen«, so Foubert, bestünden im Wesentlichen in Preisfestsetzungen durch die Verwaltung (Maximum); sie bildeten den letzten Abschnitt seines Textes. Auch der knapp 60seitige Artikel des Juristen und Rechtshistorikers an der École des Chartes, Eugène Lelong, der 1907/1908 in Band 24 bzw. 25 des Répertoire du droit administratif erschien, griff diese Ordnung auf, erweiterte sie aber zugleich um zwei weitere Aspekte: »In der im engeren Sinn administrativen Perspektive stellt sich die Subsistenzfrage, d. h. das Studium der staatlichen Intervention in den Lebensmittelmarkt, besonders in den Korn-, Brot- und Fleischmarkt, unter drei verschiedenen Aspekten dar: 1.°Staatliche Intervention in die allgemeine Ordnung [réglementation générale] des Lebensmittelmarktes, sowohl in normalen Zeiten als auch – und vor allem – in Phasen des Mangels [disette] oder in Voraussicht [prévision] eines zukünftigen Mangels. 2.°Staatliche Intervention zur Gewährleistung der regelmäßigen Versorgung von Armee und Marine in Friedenszeiten; 3.°Staatliche Intervention zur Gewährleistung der Ernährung der Truppen im Feld, der Garnison und der Bevölkerung belagerter Städte im Kriegsfall«.50

Die Aspekte zwei und drei der Subsistenzfrage entsprachen den Termini »subsistances militaires« und »vivres«, die im Konversationslexikon der 1850er und 1860er Jahre den semantischen Raum des Begriffs »subsistances« zunehmend besetzt hatten. Im Dictionnaire de l’administration française und seinen verschiedenen Ausgaben dagegen spielten diese Aspekte in der Behandlung der Staatsaufgabe Subsistenz dagegen keine Rolle, ja sie wurden nicht einmal erwähnt. Vor diesem Hintergrund stellt der Artikel Lelongs um 1900 zunächst eine Bündelung dar, auch wenn er für die Aspekte zwei und drei auf eigenständige Einträge verwies und seine Ausführungen vor allem dem ersten Aspekt widmete. Ein weitergehender diachroner Vergleich zwischen den Mikrostrukturen, d. h. dem formalen inneren Aufbau der Subsistenz-Artikel im Dictionnaire de l’administration française seit 1856 und dem Répertoire du droit administratif im Jahr 1907/1908 weist einige markante Veränderungen auf. Deutlich trat beispielsweise in der Gliederung des Dictionnaire de l’administration française das Gewicht hervor, das Korn und Kornhandel im Subsistenzwissen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch besaßen. Der Artikel gliederte sich in vier Abschnitte: 50 Lelong, Subsistances (I), S. 551 (Herv. d. Vf.).

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1. Kornverkehr, 2. Maßnahmen zur Sicherstellung der Lebensmittelreinheit und Vertragstreue beim Lebensmittelverkauf, 3. Bevorratung, Kornspeicher und Réserve de Paris, sowie 4. Maßnahmen, die in Mangel- oder Teuerungszeiten getroffen werden.51 Diese Einteilung folgte also sachlich der formalen Exposition des Textes, die drei verschiedene Eingriffsmodalitäten  – Normalität, Prävention und Notstand  – identifiziert hatte. Das tat auch der wesentlich umfangreichere Text des Répertoire du droit administratif, der in fünf thematische Abschnitte mit insgesamt 32 Unterkapiteln gegliedert war: 1. Gesetzgebung zum Handel mit Weizen und anderen Getreidesorten, 2. Gewerbeordnung der Bäckerei, 3. Gewerbeordnung der Fleischerei, 4. Betrugsbekämpfung im Lebensmittelhandel, und 5. Polizei der Messen, Markthallen und Marktplätze.52 Unschwer ist an diesem Vergleich zu erkennen, dass sich die Ordnung des verwaltungswissenschaftlichen Subsistenzwissens verändert hatte. Um 1900 stellte das Regelwissen über Eingriffs- und Ordnungsbefugnisse im Kornmarkt nur noch einen Punkt unter mehreren dar. Bezeichnend ist allerdings, dass dies die Bedeutung dieses Unterthemas nicht schmälerte. Das Postulat überzeitlichen Interesses, das Foubert dem Staat in der Subsistenzproblematik insgesamt unterstellte, kehrte bei Lelong in Bezug auf den Kornhandel wieder: »Seit jeher hat sich die Kornfrage und besonders die Weizenfrage der Sorge des Gesetzgebers aufgedrängt«.53 Darüber hinaus zog Lelong drei weitere Themen zur Subsistenzfrage hinzu, die in den Artikeln des Dictionnaire de l’administration française allenfalls gestreift worden waren, etwa in Form von Querverweisen auf entsprechende Artikel: die Gewerbeordnung der Bäckerei bzw. der Fleischerei und die polizeiliche Ordnung von Messen, Markthallen und offenen Marktplätzen. Nun kann zwar dagegen eingewendet werden, dass abseits der Verteilung dieser Themen im Dictionnaire de l’administration française auf verschiedene Einträge die Kohärenz des Themas durch die Autorschaft Fouberts gegeben war, dass es sich letztlich um einen einzigen Text handelte, der auf verschiedene Einträge aufgeteilt wurde. In diesem Fall wäre im Artikel Lelongs das Fehlen der Handelsbörse als Unterthema auffällig. Doch in der zweiten Auflage des Dictionnaire im Jahr 1877 wurden einige der Artikel Fouberts von anderen Autoren neu gefasst, etwa die Artikel zu Bäckerei und Fleischerei. Davon ganz abgesehen fehlten im Subsistenzartikel des Dictionnaire de l’administration française Hin51 Foubert, Subsistances (1856), S. 1488–1493; ders. u. Block, S. 1679–1684. 52 Lelong, Subsistances (I), S. 551–575; ders., Subsistances (II), S. 1–26. 53 Ders., Subsistances (I), S. 552.

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weise auf eine Verknüpfung mit dem Thema Fleischerei, was die Konzentration des in diesem Wörterbuch sedimentierten Subsistenzwissens (Abschnitte eins, zwei und vier des Artikels) auf die Kornfrage noch einmal unterstreicht. Gegenüber dieser Aufteilung auf verschiedene Artikel im Dictionnaire de l’administration française ist im Fall des Répertoire du droit administratif also eine integrierende Funktion des Subsistenzkonzepts zu konstatieren, zumal in diesem verwaltungsrechtlichen Nachschlagewerk eigenständige, wenn auch zum Teil vergleichsweise kurze Artikel zu allen Unterthemen und Gliederungspunkten existierten.54 Jenseits der Differenzen sticht eine Gemeinsamkeit hervor: der Punkt Lebensmittelsicherheit, dessen Nomenklatur sich verschob. Im Dictionnaire de l’administration française (1877) war von »Vorkehrungen zur Sicherung der Sauberkeit und Ehrlichkeit im Verkauf von Nahrungsmitteln«55 die Rede, während das Répertoire du droit administratif (1907/8) das Unterthema unter der bündigen Überschrift »Betrugsbekämpfung im Lebensmittelhandel«56 behandelte. Tatsächlich reagierten beide Artikel zum Zeitpunkt ihres Erscheinens auf kurz zuvor eingetretene Veränderungen der Gesetzeslage. Das Gesetz vom 27. März 1851 hatte insbesondere die Möglichkeiten der Strafverfolgung im Fall von Lebensmittelfälschungen ausgeweitet, dabei aber das Verhältnis der Befugnisse von Innen- und Justizbehörden nicht grundsätzlich verändert. Insofern Betrug ex post factum nachgewiesen werden musste und die Beweislast beim Betrogenen lag, ging es nicht generell um neue präventive Aufgaben für die Verwaltung.57 Foubert sprach in seinem 1856 erstmals erschienenen Subsistenzartikel noch von einigen »Maßnahmen«, die sich vor allem auf Gewichts- und Sauberkeitskontrollen in den Boutiquen bezogen. Ein halbes Jahrhundert später hatte sich die Rechtslage grundlegend geändert. Das Gesetz vom 1. August 1905, auf das Lelong in seinem Subsistenzartikel einging, fasste seit den 1880er Jahren erlassene Regelungen zu einzelnen Nahrungsmittelprodukten zusammen, verschob den Fokus der Strafverfolgung von der nachsorgenden Schadensregulierung auf die vorbeugende Kontrolle der Produzenten und integrierte damit ein in Einzelfällen bereits existierendes präventives Vorgehen der Innenbehörden zu einem neuen Tätigkeitsfeld der Polizei. In diesem Sinn stellte Lelong in der Exposition seines Subsistenzartikels für das Répertoire du droit administratif fest: »Unter den allgemeinen Fragen des Themas Subsistenz ist eine, die in den letzten Jahren auf ganz besondere Weise die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers erregt haben: die Rede ist von der Betrugsbekämpfung im Lebensmittelund Weinhandel«.58 54 Boucher, Boucherie, in: RDA 3 (1885), S. 530–531; Boulanger, Boulangerie, in: RDA 3 (1885), S. 531; sehr umfangreich dagegen: Blanc u. Toubeau, S. 116–156. 55 Foubert, Subsistances (1856), S. 1488–1493; ders. u. Block, S. 1679–1684. 56 Lelong, Subsistances (II), S. 1–26. 57 Siehe Riché. 58 Lelong, Subsistances (I), S. 551.

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Die Darstellung der Vorschriften und des Regelwissens zur Lebensmittelsicherheit im zweiten Abschnitt des Artikels über Subsistenz im Dictionnaire de l’administration française aus dem Jahr 1856 weist im Vergleich zu den übrigen, auf die Kornpolizei konzentrierten Ausführungen eine bezeichnende Eigentümlichkeit auf. Während es sich bei den Ausführungen zur Polizei des »Kornverkehrs« (1), zu den administrativen Maßnahmen zur »Bevorratung, Kornspeicher und Réserve de Paris« (3), sowie zu den »Maßnahmen, die in Mangel- oder Teuerungszeiten getroffen werden« (4) in großen Teilen um rechtshistorische und kommentierende Traktate handelte, sticht der vergleichsweise kurze Abschnitt über die »Maßnahmen zur Sicherstellung der Lebensmittelreinheit und Vertragstreue beim Lebensmittelverkauf« durch seine Sachlichkeit und seinen Gegenwartsbezug hervor. In dem Abschnitt werden die einschlägigen Vorschriften dargestellt, die mit den Gesetzen vom 16.–24. August 1790 und vom 19.–22. Juli 1791 den Kommunalbehörden Rechte bezüglich der Inspektion der Sauberkeit und Vertragstreue im Warenverkauf einräumten, sowie die strafrechtlichen Bestimmungen des § 423 Code pénal, deren Anwendung das Gesetz vom 27. März 1851 für bestimmte Fälle präzisiert hatte.59 Die Tendenz im Verwaltungswissen, den traditionellen Eingriffsbereich »subsistances« mit der Kornpolizey gleichzusetzen, zeigt sich auch in dem von Cochet de Savigny verfassten Dictionnaire de la Gendarmerie aus dem Jahr 1873, das einen deutlicheren Praxisbezug aufwies. Unter dem Stichwort »subsistances« ging es um konkrete Handlungsanweisungen für Gendarmen: »Die Gendarmerie ist insbesondere damit beauftragt, den freien Subsistenzverkehr zu schützen und jene zu ergreifen, die sich ihm mit Gewalt entgegenstellen.«60 Diese und ähnliche Anweisungen bezogen sich nicht direkt auf den Kornhandel, sondern vielmehr auf die Polizierung jener Menschenmengen und Aufläufe, die vor allem in Mangel- und Teuerungszeiten mit dem Überlandverkehr des Kornhandels oder dem Kornverkauf auf städtischen Märkten einhergingen. Die direkt auf den Handel mit Lebensmitteln bezogenen Vorschriften fanden sich im Artikel »Lebensmittel« und wurden mit der Gesundheitsgefahr begründet, die von verdorbenen Lebensmitteln ausging: »Unser Körper ist ziemlich vielen Krankheiten ausgesetzt, so dass man jene vermeiden muss, die von ungesunder Ernährung ausgehen. Niemals darf man den Verkauf von Lebensmitteln gestatten, deren Verfall [altération] bereits begonnen hat; Aussehen, Geruch und vor allem Geschmack vermögen dies immer zu verraten«.61

Jenseits der Strafverfolgung von Betrug ex post wie vom Gesetz 1851 vorgesehen und diesseits der generalisierten Betrugsprävention, die das Gesetz von 1905 institutionalisierte, etablierte sich in der Praxis und im Anwendungswissen der

59 Foubert, Subsistances (1856), S. 1488–1493; ders. u. Block, S. 1679–1684. 60 Cochet de Savigny, Subsistances, S. 517 f. 61 Ders., Comestibles, Aliments, S. 98 f.

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Polizeibehörden in der Zwischenzeit eine präventive Perspektive und ein Eingriffsimperativ, die sich auf kommerzialisierte Lebensmittel bezogen. Hier mit dem Wort »comestibles« bezeichnet, knüpfte diese Perspektive an die Verschiebung auf den Begriff »denrée« – Subsistenz in ihrer Warenform – an, die vor allem in der seit Mitte der 1860er Jahre von Larousse herausgegebenen Enzyklopädie zu beobachten ist.62 Zugleich wird hier deutlich, dass es im Fall der gesundheitspolizeilichen Aufgaben nicht mehr um Eingriffsbefugnisse für den Notfall ging, sondern um eine Tätigkeit, die »niemals« ruhen sollte. Vorläufig lässt sich hier also die Tendenz festhalten, dass sich im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im administrativen Subsistenzkonzept eine grundlegende Differenzierung durchsetzte. Die durch die Geschichte der Kornmarktpolizey geprägten Wissensbestände über Eingriffsmodalitäten im Notfall und zur Prävention von Kornteuerungen verloren ihren Gegenwartsbezug, ohne allerdings in Vergessenheit zu geraten; der Bereich der alltäglichen Ordnungseingriffe bezüglich der Lebensmittelsicherheit dagegen blieb nicht nur aktuell, sondern gewann stetig an Bedeutung und dehnte die ursprünglich auf den Kornmangel bezogene präventive Regierungsweise in andere Bereiche aus. Die folgenden Abschnitte untersuchen diese Konstellation genauer.

3. Mangel und Mangelprävention Rechtliche Dispositionen und administrative Maßnahmen für den Notstand bzw. die Prävention von Knappheit im Feld der Subsistenz bezogen sich in Frankreich seit der Systematisierung des Polizeiwissens durch Nicolas Delamare zu Beginn des 18.  Jahrhunderts besonders auf Korn bzw. Weizen. »Die bezüglich der Subsistenz von der Regierung ergriffenen Maßnahmen betreffen namentlich den Import von Korn und Mehl sowie den Kornverkehr im Inneren«63; »vor allem geht es also um die Korngesetzgebung.«64 Davon zeugten noch nach der Mitte des 19.  Jahrhunderts die mehr oder weniger ausführlichen Abschnitte, die diesem Regelwissen unter dem Lemma »Subsistenz« in verwaltungswissenschaftlichen Nachschlagewerken gewidmet wurden. Allerdings tragen diese Texte auch deutliche Spuren der intensiven Konflikte, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts über die »richtige« Staatspraxis in der »Kornfrage« ausgetragen wurden. Einige Lexika wiesen ausdrücklich auf diese Konflikthaftig­keit hin: »Der Ökonom und der Gesetzgeber haben größtes Interesse an der Kornproduktion und am Kornhandel, denn von beidem hängt zu einem großen Teil die Versorgung der Massen ab«, hieß es gleich zu Beginn des 62 Subsistance, in: Grand dictionnaire universel, Bd. 14, S. 1175. 63 Le Moutier, S. 841. 64 Puybusque, Subsistances, S. 891.

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Eintrags »Korn« im von Auguste Ott herausgegebenen Dictionnaire des sciences­ politiques et sociales im Jahr 1854. »Auch gibt es wenige ökonomische Themen, die zu mehr Diskussionen geführt und den Gesetzgeber öfter zum Einschreiten bewogen haben.«65 Diese Kontroverse setzte sich auch im Untersuchungszeitraum fort. Das in den Nachschlagewerken – ob Konversationslexika, Wörterbücher des Verwaltungswissens oder der politischen Ökonomie und des Handelswissen – enthaltene Kornwissen war im Untersuchungszeitraum durch zwei formale Grundzüge gekennzeichnet. Zum einen überwog eine historisierende Darstellungsweise, die unterschiedlich weit in die Vergangenheit zurückgriff, aber spätestens mit dem Beginn der liberalen Problematisierung der Kornpolizey um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte. Dabei handelte es sich nicht nur um positives Wissen über historische Regelungen und Maßnahmen, die den Handlungsspielraum staatlicher Akteure zugleich öffneten und begrenzten, sondern auch um Wissen über ihre Problematisierung und daraus abgeleitete Verhaltensrichtlinien für Regierende und Beamte. Historische Argumente dienten in diesem Rahmen oft als Belege in ebenso polemischen wie teleologischen Beweisführungen für aus der ökonomischen Theorie abgeleitete Prinzipien. Zum anderen war das Kornwissen mit Themen und Begriffen verknüpft, die unterschiedliche Aspekte verstärkten oder bestimmte Perspektiven aufriefen  – neben Subsistenz im Verwaltungswissen waren dies vor allem Getreide (céréales) und Korn (grains), Mangel/Knappheit, Hungersnot, amtlicher Marktpreis, Maximum, Stufenzoll, Versorgung, Kornspeicher sowie das Begriffspaar Teuerung (cherté) und Verbilligung (bon marché). Im ökonomischen Wörterbuch fehlten die Einträge zu »subsistances«. Ein Teil des Wissens, das im verwaltungswissenschaftlichen Lexikon unter diesem Begriff behandelt wurde, teilten die untersuchten ökonomischen Nachschlagewerken auf eigenständige Einträge auf – wobei die Texte zu Getreide66 bzw. Korn67 und Knappheit68 die Hauptlast trugen. Allerdings lagerte auch das Verwaltungswissen einen Teil des Kornwissens in eigene Einträge aus, folgte dabei aber anderen Gesichtspunkten. So fand sich im Dictionnaire de l’administration française Wissen über Regelungen, die sich auf den Außenhandel mit Korn bezogen, im Eintrag »Getreide«,69 während das auf den Kornhandel im Inneren – die traditionelle Kornpolizey – bezogene Wissen im Eintrag »Subsistenz« behandelt wurde.70 Im »subsistances«-Eintrag des Répertoire du droit adminis65 Ott, Grains, Sp. 950 (Herv. d. Vf.). 66 Molinari, Céréales, S. 301–326; P[ommier], Céréales, S. 565f; Duval, S. 905–909; Laumonier, Céréales, S. 776. 67 Grains, in: Dictionnaire de l’économie politique (Bd.  1), S.  841–842; Pommier, Grains, S. 1381–1406; Vaillant, S. 348–360. 68 Cherbuliez, S. 555–563. 69 Foubert, Céréales, S. 313–318; Émion, S. 370–372. Siehe auch Puybusque, Céréales, S. 147. 70 Foubert, Subsistances (1856), S. 1488–1493; ders. u. Block, S. 1679.

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tratif aus den Jahren 1907/1908 waren beide Dimensionen zusammengefasst.71 Neben Getreide bzw. Korn72 wurden weitere Gegenstände im administrativen und im ökonomischen Wissen mit eigenständigen Einträgen bedacht, so Knapp­ heit,73 Versorgung74 und amtlicher Marktpreis,75 in späteren Ausgaben des Dictionnaire de l’administration française kamen Maximum76 und Stufenzoll77 hinzu. Außer dieser Schnittmenge zwischen beiden Wissensordnungen existierte im ökonomischen Wissen wiederum eine Reihe von Themen, die das Verwaltungswissen nicht in eigenständigen Einträgen behandelte  – insbesondere Kornspeicher,78 Hungersnot79 sowie Teuerung80 und Verbilligung.81 Die Konversationslexika wiederum wiesen zu den meisten dieser Wörter Einträge auf.82 Enzyklopädische Erläuterungen wurden hier bisweilen von namentlich genannten Autoren – meist Nationalökonomen – verfasst.83 Inhaltlich war der Korndiskurs der untersuchten Wörterbücher durch drei thematische Schwerpunkte gekennzeichnet: erstens das Maximum, d. h. gesetzliche Preisdeckelungen durch die Convention im Jahr 1793 und ähnliche Versuche während des Ersten Kaiserreichs im Jahr 1816; zweitens die Erfahrungen, die unter verschiedenen Regimen – zur Zeit der Monarchie Ludwigs XV., der Convention, der Restauration und der Julimonarchie mit Kornspeichersystemen gemacht wurden, sowie schließlich drittens die Zollgesetzgebung, die 71 Lelong, Subsistances (I), S. 551–575. 72 Puybusque, Grains, S. 581–582; Ott, Grains, Sp. 950–953; Grains (hausse et baisse des prix), in: Dictionnaire de police, S. 172–174; Courcelle-Seneuil, Grains, S. 433–434; Saint-Bonnet, Grains, S. 305 f.; M., KM, S. 138–144. 73 Puybusque, Disette, S. 325–326; Cherbuliez, S. 555–563; Ott, Disette, Sp. 152–154. 74 Puybusque, Approvisionnements, S. 51; Clément, Am., Approvisionnements, S. 60–64; Foubert, Approvisionnement (de Paris), S. 108–111; Garnier, Approvisionnement, S. 136–138; Barots, S. 508; Rigaud, Approvisionnement, S. 10; Approvisionnement, in: Repertoire du droit administratif 1 (1882), S. 399. 75 Puybusque, Mercuriales, S. 720; Block, Mercuriales (1856), S. 1119f; Mercuriales, in: Dictionnaire politique (1860), S. 583; Saint-Bonnet, Mercuriales, S. 396; Mercuriales, in: Répertoire général d’administration, S. 467; Block, Mercuriales (1877), S. 1284 f.; Boiteau, S. 292; Mercuriales, in: Dictionnaire du commerce, Bd. 2, S. 768. 76 Garnier, Maximum (lois de), S. 146–152; Courcelle-Seneuil, Maximum, S. 577 f.; Maximum, in: Petit dictionnaire politique et social, S. 470; Marcé, S. 230–237. 77 Echelle mobile, in: Petit dictionnaire politique et social, S. 254. 78 Coquelin; Grenier, in: Dictionnaire universel théorique et pratique, Bd. 1, S. 1424. 79 Guyot, Famine, S. 158 f.; Dufey, S. 273–274. 80 Guyot, Cherté, S. 843. 81 Coq, S. 352–355; Guyot, Bon marché, S. 589 f. 82 Céréales, in: Dictionnaire national, Bd. 1, S. 576; Céréales, in: Dictionnaire de la conversa­ tion, Bd. 5, S. 29–31; Céréales, in: Dictionnaire français illustré, Bd. 1, S. 503–504; Céréales, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 3, S. 757–759; Cherté, in: ebd., Bd. 4, S. 28; Disette, in: ebd., Bd. 6, S. 914; Cherté, in: Dictionnaire français illustré, Bd. 1, S. 563; Disette, in: ebd., Bd. 1, S. 971; Famine, in: ebd., Bd. 1, S. 1218; Grains, in: ebd., Bd. 2, S. 67; Famine, in: Dictionnaire national, Bd. 1, S. 1229/1230. 83 Garnier, Disette, S. 644–646; Vitry u. Savagner, S. 273.

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den Außenhandel mit Getreide betraf und zwischen 1832 und 1860 durch einen Stufenzollmechanismus geregelt wurde. In sachlicher Hinsicht wurden hier auch die komplizierten Ausnahmeregelungen wie Durchfahrtscheine (admission temporaire)  behandelt, die insbesondere in den Grenz- und Hafenregionen galten und für die Alkoholproduktion in Nordfrankreich bzw. die Mühlenindustrie am Unterlauf der Seine bzw. den Zuflüssen zur Rhône von Bedeutung waren. In einigen Fällen gingen besonders Autoren der ökonomischen Wörterbücher bis ins Mittelalter – die »Feudalzeit«84 – zurück und erwähnten die Preispolitik Philipps des Schönen und die Erfahrungen, die 1304 mit dekretierten Festpreisen gemacht worden waren.85 Einige Einträge zu Hungersnot bestanden im Grunde aus chronologischen Listen, die bis in die Völkerwanderungszeit, die Antike oder sogar bis in biblische Zeiten (»Ägyptische Gefangenschaft«) zurückreichten und zunehmend außerfranzösische bzw. auch außereuro­päische Hungersnöte behandelten.86 Je weniger weit die Autoren in die Vergangenheit zurückgingen, desto ausführlicher und detaillierter stellten sie die ereignisgeschichtliche Entwicklung der konkreten politischen und ökonomischen Ursachen und Motivlagen dar, die zur Diskussion, Verabschiedung, Ausweitung und Aufhebung des Maximums durch die Convention 1793 und die spätere Wiederaufnahme durch Beamte des Ersten Kaiserreichs im Jahr 1812 geführt hatten. Auf gleiche Weise wurde der politische Prozess dargestellt, in dem sich in den 1820er Jahren das Gefüge der Stufenzölle herausbildete. Die Stufenzollregelung verband ab 1832 eine komplexe Geographie von statistisch zusammengefassten Preiszonen mit abgestuften und quasi mechanisch in Kraft gesetzten Ein- und Ausfuhrzöllen. Auch die verschiedenen Kornspeichersysteme der Vergangenheit wurden vorgestellt, von dem von der Krone beauftragten Generalunternehmen in Corbeil in den 1770er Jahren, das im Rahmen der Gerüchtekommunikation über den »Hungerpakt« (pacte de famine)  politisiert wurde, über die kurzlebigen Bezirksspeicher zur Zeit der Convention bis zur Einlagerung von Reserven, die während der 1820er Jahre im Ausland auf Kosten der Regierung gekauft und zur Preisregulation eingesetzt worden waren. Die meisten Texte griffen also nicht weit über die politische Epochenschwelle am Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Gemeinsam ist einigen Einträgen allerdings  – und hier insbesondere solchen zum Thema Getreide, Korn, Knappheit und Hungersnot  – der Hinweis auf die Bedeutung des Korns nicht nur für den Fortbestand der Bevölkerung, sondern der menschlichen Zivilisation allgemein. So ließ der anarcholiberale belgische Ökonom und Kornhandelsexperte Gustave de Molinari seinen im Jahr 1852 im Dictionnaire de l’économie politique erschienenen Eintrag »Getreide« – einer der längsten im Materialkor-

84 Duval, S. 906. 85 Ebd.; Marcé, S. 230; Molinari, Céréales, S. 302. 86 Vitry u. Savagner, S. 273; Famine, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 8, S. 80–83.

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pus – mit einigen kurzen Ausführungen zum mythischen Ursprung der Getreidewirtschaft beginnen: »Als Isis in Ägypten, Ceres und Triptolemos in Griechenland die Verfahren des künstlichen Weizenanbaus entdeckt hatten, wurden die bis dahin auf der Suche nach Subsistenz umherwandernden Bevölkerungen sesshaft und mit dem Ackerbau entstand die Zivilisation.«87

Hinweise auf die Rolle von Getreide in der Antike finden sich auch in Ausführungen zur Kornspeichertechnik der Römer (unterirdische Silos) im Artikel »subsistances« des Dictionnaire de l’administration française.88 Knapp ein halbes Jahrhundert später war der Weizen als Nahrungsgrundlage mit dem zivilisatorischen Fortschritt immer noch eng verknüpft, wie der Text des Arztes und Hygienikers Jean Laumonier im 1901 erschienenen Dictionnaire du commerce, de l’industrie et de la banque zeigt: »alle dem Zustand reiner Barbarei entkommenen Völker machen vom Weizen konstant Gebrauch«.89 Die fortschritts- oder evolutionsgeschichtliche Verknüpfung von Korn und Zivilisation war außerdem anschlussfähig für weitergehende Interpretationen, die stärker auf die Kornfrage in der französischen Gegenwartsgesellschaft bezogen waren.­ Aubert de Vitry etwa argumentierte in seinem für das von William Duckett herausgegebene Konversationslexikon im Jahr 1855 verfassten Artikel »Hungersnot« zunächst auf ähnliche Weise wie Molinari. Die »Kriegervölker lebten im Zustand, den wir wild nennen, nur von der Jagd und waren häufig Hungersnöten ausgesetzt«;90 erst mit Sesshaftigkeit und Ackerbau, »dem Besitz von Äckern, auf denen die Ernte gedeiht und den Völkern die Angst vor dem Hunger nimmt«, hätten sie »in friedlicheren Tätigkeiten und in wohlgeordneten Gesellschaften Sicherheitsgarantien« gefunden.91 Aber, so die Pointe, die barbarische Vergangenheit konnte sich noch in der Gegenwart Bahn brechen, nämlich dann, wenn der »schrankenlosen Gier« nicht durch die »richtige Kornhandelsgesetzgebung« Einhalt geboten werde. Dann könne das »Monster wachsen«, die »partiellen Knappheiten […] sich zu Hungersnöten auswachsen« und »diese Menschheitsgeißel […] uns heimsuchen wie zur Zeit des Verfalls der antiken Zivilisation«. Auf die historischen Parallelen zwischen Hungerunruhen und Völkerwanderung anspielend warnte Vitry, es stünde zu befürchten, dass »arme und barbarische Völker in blühende Länder einfallen und, mit dem Schwert in der Hand, ihre Reichtümer verschlingen«.92 Auch der Agronom und Ökonom André Pommier bezog sich auf den zivilisatorischen Fortschritt. Pommier konstatierte, der Kornhandel rühre an die »grundlegenden Bedürfnisse der Völker, 87 Molinari, Céréales, S. 301. 88 Foubert, Subsistances (1856), S. 1490–1492. 89 Laumonier, Céréales, S. 776. 90 Vitry u. Savagner, S. 273. 91 Ebd. 92 Ebd.

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ja an die Existenz der Bevölkerungen« und sei in allen Staaten Anlass für »mehr oder weniger restriktive Gesetze« gewesen. In dem Maße aber, wie sich »die internationalen Beziehungen entwickelt haben und die Zivilisation weiter voranschritt, hat sich die Gesetzgebung [in Kornhandelsfragen, d. Vf.] dem Prinzip der Freiheit angenähert«.93 Desgleichen argumentierte und präzisierte der Ökonom Joseph Garnier, »die Entdeckungen der Wissenschaft, die Fortschritte der Industrie werden die Effekte [der Knappheitskrisen, d. Vf.] weiter abschwächen, Zivilisation und Vernunft werden ihren günstigen Einfluss walten lassen«.94 Dämonisierung der »Gier« und des »Profits« als Gefahr für die Zivilisation auf der einen Seite, Identifikation der Handelsfreiheit und der industriellen Moderne mit dem zivilisatorischen Fortschritt auf der anderen: An diesem widersprüchlichen Zivilisationsbezug kann die Intensität der historischen Kontroversen über die Ordnung des Kornhandels ermessen werden. Einige Beiträger zu den ökonomischen Wörterbüchern bemühten sich um eine strategische Umsemantisierung. Für die hier infrage stehenden Dinge gab es eine Reihe von Bezeichnungen: Getreide (céréales), Korn (grains), Weizen (blé) und Weizenfrucht (froment). Die Konversationslexika und einige ökonomische Wörterbücher stellten den Einträgen Erläuterungen voran, in denen sie die Bedeutungsebenen dieser Begriffe differenzierten und verschiedenen Wissensordnungen zuordneten. Zu »blé« etwa wurde lediglich die Etymologie vermerkt;95 »froment« spielte als Element wissenschaftlicher Nomenklaturen vor allem in der Agronomie und Botanik eine Rolle.96 Die beiden wichtigsten Worte in diesem Zusammenhang waren jedoch Getreide und Korn. Beide wurden in den meisten untersuchten Wörterbüchern mit Einträgen bedacht, in einigen Fällen gab es sogar parallele Einträge. Die Enzyklopädie von Larousse etwa unterschied im Jahr 1867 zwar zwischen landwirtschaftlich-botanischen und rechtlich-legislativen Wissensbezügen des Wortes Getreide; in den Erläuterungen näherten sich beide allerdings an. Das »früher eher vage, etwa im Sinn von Erdfrucht verstandene Wort Getreide hat heute eine genauere Bedeutung erlangt und bezeichnet Pflanzen der Familie der Süßgräser [graminées], deren mehlhaltige Früchte dem Menschen als Nahrung dienen; das sind Weizen [blé ou froment], Gerste, Hafer, Roggen, Mais, Reis, Hirse und einige andere«.97

In seinem »rechtlichen Sinn bezeichnet Getreide Weizen [froment], Dinkel, Mischkorn [méteil], Roggen, Buchweizen, Hafer sowie ihr Mehl«.98 In beiden Wissensfeldern stand Getreide folglich als Oberbegriff für eine fast identische Reihe von Getreidesorten und ihr Mehl. 93 Pommier, Grains, S. 1381–1406. 94 Garnier, Disette, S. 645. 95 Blé, in: Dictionnaire français illustré, Bd. 1, S. 335; Blé, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 2, S. 813. 96 Barral, J. A., Froment, S. 996–1011. 97 Céréales, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 3, S. 757–759. 98 Ebd.

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Wichtiger allerdings ist die Erkenntnis, dass die Unterscheidung Getreide/ Korn herangezogen wurde, um den jeweiligen Gegenstand der Artikel und die gewählte Perspektive schärfer zu konturieren. Das wird deutlich in den beiden von Pommier für das 1859 erschienene Dictionnaire universel théorique et pratique du commerce et de la navigation verfassten Einträgen. »Ein landwirtschaftliches Wörterbuch«, notierte er im Artikel Getreide, »kann den Titel Getreide aufnehmen, weil es von allen Wachstums- und Vegetationsstufen dieser Pflanzen berichten muss; ein Handelswörterbuch dagegen darf sich nur damit beschäftigen, was sich auf den Handel bezieht, und im Hinblick auf Getreide stellt Korn das Handelsgut dar. Daher verweisen wir auf dieses Wort für alle Erläuterungen bezüglich dieses wichtigen nationalen und internationalen Geschäfts«.99

Während im praxisbezogenen ökonomischen Wissen dieses Wörterbuchs das Wort Korn also aus systematischen Gründen beibehalten wurde, schlug das Dictionnaire de l’économie politique einen anderen Weg ein. Auch dieses stärker an die theoretische Diskussion anknüpfende Wörterbuch verfügte über Einträge zu beiden Wörtern, hier jedoch lief der Verweis in die andere Richtung – von Korn zu Getreide. »Korn«, erläuterte der kurze Text eines anonymen Autors, »ist ein Synonym für Getreide. Tatsächlich würde man einige Mühe haben, zwischen beiden Wörtern einen Unterschied festzustellen. Da sich aber der Gebrauch des letzteren sowohl in der Sprache der Gesetze wie in der ökonomischen Sprache durchzusetzen beginnt, haben wir uns für dieses Wort entschieden und verweisen folglich auf das Wort Getreide, wo man alles Diesbezügliche findet«.100

Für diese Umsemantisierung des Kornwissens gab es einen historisch-politischen Grund: »Dennoch hielten wir es für notwendig zu erwähnen, dass dies im letzten Jahrhundert noch nicht der Fall war; dass der Gebrauch des Wortes Getreide zu dieser Zeit eher selten war und sich die zahlreichen Abhandlungen, die in dieser Epoche für oder gegen die Verkehrsfreiheit dieses Handelsgutes sowohl im Landesinneren als auch über die Landesgrenzen hinweg verfasst wurden, sich unablässig auf das bezogen, was man damals als Kornhandel bezeichnete«.101

Mit anderen Worten: Das Dictionnaire de l’économie politique setzte sich mit der Option für das stärker naturwissenschaftliche (agronomisch-botanisch) geprägte Wort Getreide explizit von den intensiven Debatten über die Kornfrage ab, die nach wie vor mit dem politisierten Begriff Korn verknüpft waren. Dass die beiden Begriffe »Korn« und »Getreide« sowohl im Verwaltungswissen als auch im ökonomischen Wissen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ordnende Funktion hatten, ja dass viele Wörterbücher weiterhin beide 99 P[ommier], Céréales, S. 565. 100 Grains, in: Dictionnaire de l’économie politique, Bd. 1, S. 841 f. 101 Ebd.

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Wörter mit Einträgen bedachten, ist ein Hinweis auf die anhaltenden Kontroversen über ihren epistemischen Status. Man kann die semantische Verschiebung von Korn zu Getreide, wie sie die Theoretiker unter den französischen Ökonomen vornahmen, als eine Strategie der Entpolitisierung betrachten, insofern sie den politisierten Begriff »Korn« im Rahmen der Verwissenschaft­ lichungsstrategien ihres Fachs102 ausdrücklich aufgaben. Andererseits zeugt die Fortführung des historischen Begriffs »Korn« in allen Wissensordnungen neben der Aufwertung der Kategorie Getreide und insbesondere das Weiterleben der Kontroversen über die »richtige« Regierung in der »Kornfrage« – nunmehr: der »Getreidefrage«103 – von der auch nach der Mitte des 19. Jahrhunderts anhaltenden Politisierung des Zusammenhangs. Dafür sprechen auch die Ergebnisse einer eingehenden Analyse der Darstellungs- und Argumentationsweise der einzelnen Beiträge. Jenseits der Zuordnung zu den verschiedenen Wissensordnungen sind die Texte durch ein teleologisches Argumentationsmuster gekennzeichnet, ein Fortschrittsnarrativ, das sich bereits im widersprüchlichen Zivilisationsbezug angedeutet hat. Der Fortschritt und sein historisches Ziel, daran wurden kaum Zweifel laut, bestand ganz im Sinn des oben zitierten Agronomen und Ökonomen Pommier im Abbau staatlicher Reglementierung und in der Zunahme kommerzieller Selbstregulierung  – mithin in einem Wachstum der »Freiheit«. In unterschiedlich konsequenter Ausprägung lag dieses Narrativ, das von disziplinierenden Eingriffen wie dem Maximum oder Handelsverboten zu regulierenden Eingriffen wie Stufenzöllen und Reserven führte und in der Befreiung des Handels den Horizont zukünftiger Staatstätigkeit sah, allen hier untersuchten Beiträgen zugrunde. Dennoch ist im Diskurs eine grundlegende Spannung zwischen Verwaltungswissen und ökonomischem Wissen greifbar. Während die Beiträge zu verwaltungswissenschaftlichen Wörterbüchern eher nüchtern Bilanz zogen bzw. sich auf die Darstellung der geltenden Gesetze und Eingriffsbefugnisse beschränkten, ist die Argumentation in ökonomischen Wörterbüchern und in Beiträge von Ökonomen zu anderen Nachschlagewerken durch eine überschießende Polemik gekennzeichnet. Besonders in der Darstellungsweise schlug sich die grundlegende Differenz von Selbstbeschreibungen der Verwaltung im Verwaltungswissen auf der einen Seite und kritischen Fremdbeschreibungen der politischen Ökonomie auf der anderen nieder. Differenzen sind vor diesem Hintergrund vor allem im Hinblick auf die Art und Weise des Gebrauchs historischer Argumente und die vergangenheitskritische Bewertung festzustellen, weniger hinsichtlich der Schlussfolgerungen, die aus den historischen Erfahrungen mit bestimmten Behördenmaßnahmen und Gesetzen zu verschiedenen Zeiten für das jeweils aktuelle Verwaltungshandeln gezogen wurden. Dass die Sachlichkeit der Darstellung des historischen Regelwissens implizit gehaltene Kritik nicht ausschloss, zeigen Beiträge Louis Fouberts zum Dicti102 Vgl. Sage. 103 Lelong, Subsistances (I), S. 570.

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onnaire de l’administration française  – insbesondere der Abschnitt zur Kornreservenbildung im Artikel »subsistances« und der Eintrag zu »Versorgung von Paris«, der sich auf die Versorgungsinstitutionen der Hauptstadt Paris konzentrierte. Ohne das Stichwort »Hungerpakt« zu erwähnen  – was Ökonomen an dieser Stelle mit Hingabe taten104 – ging Foubert auf die Funktionsweise der Reserven Ludwigs XV. in Corbeil und der von der Convention gebildeten Überflussspeicher ein, die nur vorübergehend existiert hatten, aber im Jahr Sechs der Revolution als Mehlvorräte erneut eingerichtet wurden. 1801 kaufte die Regierung mithilfe von Händlern und Bankiers Korn und ließ es einlagern. Dieses Korn bildete den Grundstock einer Reserve in Paris, die mit Unterbrechungen bis 1830 gehalten wurde. Nachdem Foubert kurz den Einsatz der Staatsvorräte in den Knappheitsjahren 1806/7, 1813/14 und 1816/17 gestreift hatte, ging er auf die anschließende Diskussion über die Kornreserven genauer ein. Er stellte fest, dass sich »die Ideen über den Kornspeicher« in der Verwaltung während der 1820er Jahre grundlegend änderten: Die Regierung hatte Korn unter dem Marktkurs abgesetzt, war aber von Händlern mit dem Argument konfrontiert worden, dass dies den Handel in genau dem Moment »lähme«, in dem man ihn besonders »ermutigen« müsse. Bereits die einfache Existenz einer Reserve, so die gegnerische Position, stelle »eine Bedrohung« dar. Man könne die »enormen Summen« zweckmäßiger für »Unterstützungsleistungen« verwenden. Die in den 1820er Jahren noch bestehende Reserve wurde deshalb in der Teuerung 1829 aufgebraucht und danach vom Pariser Stadtrat nicht wieder aufgefüllt.105 Skeptischer gegenüber dem »laissez faire« und zugleich deutlich positiver stellte Auguste Ott die Reserven im Artikel »Knappheit« des von ihm herausgegebenen Dictionnaire des sciences politiques et sociales dar.106 Die Nationalökonomen schrieben die von Foubert zusammengefasste Kritik an der Reservenbildung als staatliche Maßnahme der Mangelprävention auch in den 1850er und 1860er Jahren fort – mit ganz ähnlichen Semantiken und Argumenten. Zwei Gründe brachten sie hauptsächlich vor: Auf der einen Seite hielten sie ihnen entgegen, dass sie den »regulären« Handel »lähmten«,107 »entmutigten«108 oder »verschreckten«109 und dies bereits dann, wenn lediglich entsprechende Absichten oder Pläne öffentlich erwogen wurden.110 Anders gesagt, der Kornhandel geriet im ökonomischen Diskurs über die Reserven zu einem sehr empfindlichen, schreckhaften und scheuen Wesen. Auf der anderen Seite bezweifelten Ökonomen, dass Beamte sich über den auszugleichenden Kornmangel genaues Wissen verschaffen konnten. Staatliche Reservenbildung ziele zwar auf die Kornversorgung in Krisenzeiten, führte der Ökonom Ambroise Clément 104 Molinari, Céréales, S. 301; Duval, S. 907. 105 Foubert, Subsistances (1856), S. 1490–1492. 106 Ott, Disette, Sp. 152–154; siehe ebenso skeptisch auch ders., Grains, Sp. 950–953. 107 Foubert, Subsistances (1856), S. 1492; Courcelle-Seneuil, Maximum, S. 578. 108 Cherbuliez, S. 561, 563. 109 Coquelin, S. 845. 110 Ebd., S. 844 f.

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im Jahr 1852 aus, die Informationen würden »aber niemals den nötigen Grad an Gewissheit erreichen«, weil weder die Bürgermeister noch die Bauern und Kleinpächter genau angeben könnten, wie viel Korn sie in den vorausgehenden Jahren geerntet hätten. Die Orientierung an statistisch berechneten »Mittelwerten« sei ebenfalls nicht zu empfehlen, wenn man berücksichtige, »wie bei der Erstellung dieser offiziellen Statistiken zu Werke gegangen« werde. »Wie sollten also ein Minister oder ein Beamter zu einigermaßen verlässlichen Bewertungen kommen, […] wenn sie sich auf Informationen aus so unsicheren und verdächtigen Quellen stützen?«111 Das Wissen über die Kornreserven als Maßnahme sowohl zur Mangelprävention wie zur Regulierung der Kornpreise war im administrativen und ökonomischen Wissen weit gestreut. Wie gesehen waren entsprechende Ausführungen im Dictionnaire de l’administration française in den Beitrag zu Subsistenz eingefügt. In anderen verwaltungswissenschaftlichen Nachschlagewerken fanden sich Abschnitte in Einträgen zu »Knappheit«112 oder »Korn und Getreide«.113 Im ökonomischen Wörterbuch fanden sie sich verteilt zwischen Einträgen zu »Korn« bzw. »Getreide«,114 »Mangel«115 und »Versorgung«116 – aber auch zum »Horten«.117 Damit erfuhren die dem vergleichsweise weiteren Feld der Versorgungspolitik zugeordneten Kornreserven im ökonomischen Wissen zugleich eine grundsätzlichere Behandlung. In diesem Punkt offenbarten sich zwischen beiden Ordnungen des Verwaltungs- und des Wirtschaftswissens jedoch unterschiedliche Inhalte und gegensätzliche Ansichten. Die Verwaltungswörterbücher beschränkten sich in den Einträgen zu Versorgung größtenteils auf kurze Hinweise, die sich auf die marktpolizeiliche Sorge der Kommunalverwaltung118 für störungsfreie Kommerzialisierung bezogen, etwa auf die Rechtsgrundlagen für den Ausschluss von Zwischenhändlern (revendeurs) oder Aufkäufern (acca­ pareurs).119 Bemerkenswerte Ausnahme ist auch hier wieder der Beitrag von 111 Clément, Am., Approvisionnements, S. 60–64; fast wortgleich und in diesem Sinn plagiativ: Garnier, Approvisionnement, S. 136–138. 112 Ott, Disette, Sp. 152–154. 113 MKM, S. 138–144. 114 Céréales, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 3, S. 757–759. 115 Cherbuliez, S. 561–563. 116 Clément, Am., Approvisionnements, S. 60–64. 117 Ders., Accaparement, S. 5–8. Siehe auch Foubert, Accaparement (1873); ders., Accaparement (1896); Garnier, Accaparement; Puybusque, Accaparement; Raffalovich, Accaparement; Rigaud, Accaparement; Saint-Bonnet, Accaparement. In einen verwandten Sinnbereich, der hier nicht analysiert werden kann, fällt die Auseinandersetzung über Agiotage, Termingeschäft und Spekulation. Vgl. aber die Einträge: Vuhrer; Vidal, Agiotage; Raffalovich, Agio; ders., Agioteur; Ott, Agio, agiotage; Masselin, Agio; Lefèvre; Courcelle-Séneuil, Agio; Masselin, Spéculations de bourse par intermédiaire non agent de change; Raffalovich, Spéculation; Vidal, Marché à terme (1900); ders., Marchés à terme (1901); Roux, L., Marché à terme. Vgl. den Überblick bei Stanziani, Accaparement et spéculation. 118 Puybusque, Approvisionnements, S. 51; Barots, S. 508. 119 Rigaud, Approvisionnement, S. 10.

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Louis Foubert zum Dictionnaire de l’administration française, der sich speziell auf das versorgungsadministrative Institutionengerüst der Hauptstadt Paris bezog. Tatsächlich war dieser Artikel trotz – oder gerade wegen – seiner Zuspitzung auf die Hauptstadt wie eine erweiternde Ergänzung des Eintrags zu »Subsistenz« aufgebaut: Wissen über die Versorgung von Paris war Wissen über die Institutionen und Praktiken kommunaler Subsistenzverwaltung: es umfasste mithin eine Fülle konkreter Gegenstände und institutioneller Praktiken, die von der Bäckereigewerbepolizei über die Vermarktungsregularien für unterschiedliche Lebensmittel und ihre Inspektion bis zum Holzmarkt reichten. Ebenso bedeutsam ist, dass Foubert sich in diesem Artikel gleich zu Beginn deutlich von der ökonomischen Theorie distanzierte. Man könne durchaus »die allgemeine These vertreten«, führte er aus, dass »die freie und spontane Aktivität der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels ausreichen, um die regelmäßige Versorgung einer so enormen Stadt wie Paris zu garantieren und dass sich die Verwaltung darauf beschränken muss, den freien Warenverkehr zu schützen, die Reinheit der Waren und die Verkaufstreue zu überwachen sowie alle Ordnungs- und Polizeimaßnahmen zu treffen, die für eine so beträcht­ liche und schnelle Verkehrsbewegung einer so unterschiedlichen Warenfülle notwendig sind«.120

Diese klassische liberale Sicht der Dinge nahm Foubert jedoch an dieser Stelle nur auf, um ihr eine Reihe von Zweifeln folgen zu lassen: »Verlässt man aber«, fuhr er fort, »die Sphäre der rein spekulativen Wahrheiten, begibt sich hinab auf die Ebene der Tatsachen und betrachtet sie in ihrer historischen Entwicklung, versteht man unmittelbar, dass die Rolle der Verwaltung sich je nach Zeit, allgemeinen Existenzbedingungen der Gesellschaft und gemäß der jeweils vorherrschenden Vorstellungen über öffentliches Wirtschaften wandeln musste.«121

Entsprechend historisch argumentierte Foubert in der folgenden Darstellung der institutionellen Infrastruktur alltäglicher Marktordnungspraxis in Paris und griff – die Polizeitheoretiker Delamare und Des Essarts zitierend – Regelwissen auf, das bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte. Im ökonomischen Wissen hatte Versorgung im Vergleich zum Verwaltungswissen nicht nur einen ganz anderen Stellenwert, sondern auch eine stark eingeschränkte Bedeutung. Der Hauptteil der Argumentation bezog sich auf die Kornreserven, während die Mehrheit der in Fouberts Artikel integrierten Gegenstände im Zusammenhang mit Versorgung gar keine Erwähnung fand. Die Reserven basierten, wie oben gesehen, auf unsicherem Wissen und lähmten den Handel, so der Tenor – Antoine-Elisée Cherbuliez hielt sie in einer prinzipiellen

120 Foubert, Approvisionnement (de Paris), S. 108. 121 Ebd.

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Bewertung darüber hinaus schlicht für »unnütz«122 und »absurd«.123 Reservenbildung sei ein auf die »öffentliche Wirtschaft angewandtes Prinzip der Hauswirtschaft, das zwar für die von Patriarchen geführten Familien der ersten Entwicklungsstufe der Gesellschaft hervorragend geeignet gewesen sein mag, heute jedoch selbst in der Hauswirtschaft nur noch eine sehr eingeschränkte Anwendung finden kann und in der öffentlichen Wirtschaft wirklich absurd ist«.124

Denn die Bevölkerung der Gegenwart habe viele über die Ernährung hinausgehende Bedürfnisse, »die mit zuverlässiger Regelmäßigkeit ohne öffentliche Bevorratung befriedigt werden und dies trotz der Hindernisse fiskalischer Natur, die der Staat im Warenverkehr errichtet«.125 Während also Foubert unter dem Stichwort »Versorgung« vor allem institutionelle Grundlagen der Wettbewerbsregulierung behandelte, verstanden – und kritisierten – die Ökonomen unter dem Begriff »Versorgung« die konkrete Vorhaltung von Gütern des täglichen Gebrauchs durch den Staat. Ökonomen beobachteten und beschrieben den Staat, die Verwaltung und ihre Tätigkeit im Feld des Kornhandels generell mithilfe weniger, immer wiederkehrender Leitvokabeln, Argumentationsmuster und zwei grundlegenden Unterscheidungen. Zum einen stellten sie dem »Regeldenken« (réglementarisme)126 bzw. den »Regelzüchtern« (régnicoles)127 die »Freiheit« bzw. »Handelsfreiheit«128 entgegen, zum anderen der »Unwissenheit« (ignorance),129 den »Vorurteilen« (pré­jugés),130 der »Kopflosigkeit« (affolement),131 den Empirismus (mesures em­ piriques)132 der historischen Staatspraxis die überzeitlich »wahren Prinzipien«,133 die »Naturgesetze«134 und die »gesunden Begriffe«135 der Nationalökonomie. Die Darstellung der historischen Entwicklung war demgegenüber stets nachrangig – die Berufung auf die historische »Erfahrung«136 diente ausschließlich dazu, die theoretische Argumentation zu verifizieren. Ökonomische Autoren erzählten 122 Cherbuliez, S. 563. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Garnier, Maximum (lois de), S. 148. 127 Coq, S. 353. 128 Duval, S. 907. 129 Garnier, Maximum (lois de), S. 148; Clément, Am., Approvisionnements, S. 62. 130 Grains, in: Dictionnaire français illustré, Bd. 2, S. 67; Raffalovich, Accaparement, S. 20; Clément, Am., Besoin des hommes, S. 160; Cherbuliez, S. 558. 131 Duval, S. 906. 132 Ebd., S. 905. 133 Garnier, Maximum (lois de), S. 151. 134 Céréales, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 3, S. 759; Clément, Am., Besoin des hommes, S. 159. 135 Garnier, Boulangerie, S. 196; Duval, S. 905. 136 Ott, Grains, S. 951; Guyot, Famine, S. 158.

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eine Geschichte, deren Helden Adam Smith und Thomas Malthus, Turgot und Cobden hießen. Um 1900 führte Raoul Duval in seinem Beitrag über Getreide zum Dictionnaire des finances die Liberalisierung der Stufenzollgesetzgebung – »vollständige rechtliche Freiheit des Getreidehandels« – im Jahr 1861 gar auf eine »persönliche Initiative« Napoléons III. zurück.137 Im Jahr 1867 beschrieb der anonyme Autor des Artikels »Getreide« im Grand dictionnaire universel du XIXe siècle von Larousse die Aufgabe der Ökonomen ganz ähnlich, als Sachwalter der Freiheit: »Fast überall hat sich die Freiheit durchgesetzt«, hielt er fest, »aber dieser Triumph liegt noch nicht sehr lange zurück. Um nicht hinter ihn zurückzufallen, bedarf es größter Wachsamkeit der Ökonomen«.138 Knapp dreißig Jahre später hielt Raoul Duval ebenfalls fest, dass »die Regierungen bis zu dem Tag, an dem gesunde ökonomische Begriffe [saines notions économiques] in die allgemeine öffentliche Verwaltung einzudringen begannen, sich dazu hinreißen ließen, zur Sicherung der Versorgung eine Vielzahl empiristischer und das heißt verhängnisvoller Maßnahmen zu ergreifen.«139 Im ökonomischen Wissen wurde staatlicher Intervention generell eine schädliche, hinterrücks wirkende Performativität unterstellt. Zwei Aspekte waren ein besonders in den auf verschiedene Einträge verteilten Abschnitten zu Knappheit immer wiederkehrender Topos. Zum einen machten Ökonomen »den Staat« auf der Ebene seiner Praktiken für die Verstärkung, ja, die Herbeiführung und Verursachung von Knappheiten verantwortlich. Eine noch um 1900 gültige, von Antoine-Élisée Cherbuliez 1852 für seinen Beitrag über Knappheit zum Dictionnaire de l’économie politique erstellte Systematik der Knappheitsursachen unterschied zwischen »normalen« (Ernteausfälle), »anormalen« (Kriege, Epide­ mien) und »künstlichen« Krisenursachen und ordnete bis zu vier staatliche Maßnahmen der letzten Kategorie zu – vor allem, weil sie das »freie Spiel der Motive« im Handel unterbanden.140 Daraus leitete Cherbuliez eine Unterscheidung zwischen »echter«, durch natürliche Ursachen, und »künstlicher«, d. h., durch Staatsintervention herbeigeführter Knappheit ab.141 Zugleich gab es weiterhin zwei unterschiedliche Wege, Knappheiten zu definieren. Auf der einen Seite wurde sie zur Hungersnot (absoluter Mangel) ins Verhältnis gesetzt und darüber als minder schwere Form des Mangels definiert.142 Auf der anderen Seite folgte etwa Cherbuliez der englischen und deutschen Semantik, in der die Bezeichnung an den Preis als Knappheitsindikator gebunden war (dearth; Teuerung) und definierte sie durch systematische Erläuterungen des Gesetzes von Angebot und Nachfrage.143 Eine dritte, wenngleich indirekte Definition von 137 Duval, S. 907. 138 Céréales, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 3, S. 759 (Herv. d. Vf.). 139 Duval, S. 905. 140 Cherbuliez, S. 555–563. 141 Ebd., S. 560. 142 Guyot, Famine, S. 158; Famine, in: Dictionnaire national, Bd. 1, S. 1229; Famine, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 8, S. 80. 143 Cherbuliez, S. 555–563.

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Knappheit fand sich folgerichtig in Ausführungen zur Verbilligung (bon marché). In der eher phänomenologisch als ökonomisch geprägten Argumentation des Eintrags von Paul Coq im Dictionnaire universel théorique et pratique du commerce et de la navigation aus dem Jahr 1859 spielte das Verhältnis von Preis und Qualität eine zentrale Rolle. Bemerkenswerterweise waren aufgrund einer pragmatischen Betrachtung von »Kaufkraft« (puissance d’acheter) und ihrer unterschiedlichen Verteilung und Zurechung auf Bevölkerungsgruppen (Landund Stadtarbeiter, kleine Angestellte) die Vorbehalte gegenüber staatlicher Industrieförderung und Steuern wesentlich geringer als etwa bei Cherbuliez. Am Ende führte die Suche nach einem optimalen Verhältnis von Preis und Qualität zu einer Neudefinition des »gerechten Preises«.144 Um 1900 enthielten die ökonomischen Lexika keinen Eintrag mehr zu Knappheit; zu Hungersnot dagegen schon, auch wenn etwa die Ausführungen des Ökonomen und Politikers Yves Guyot im Dictionnaire du commerce et de l’industrie et de la banque diese nun als außereuropäisches Phänomen kennzeichneten und Kritik am Staatsinterventionismus mit Aussagen über zivilisatorische Rückständigkeit verbanden.145 Zum anderen unterstütze »der Staat«, so die Kritik, durch präventive Vorkeh­ rungen wie Reservenbildung und andere Versorgungsmaßnahmen oder direkte Interventionen wie Maxima und Taxierungen den Fortbestand von »Vorurteilen« über den Kornhandel und von »falschen Vorstellungen« über das Vermögen staatlicher Tätigkeit in der Bevölkerung. Die wahrheitspolitische, aufklärerische Mission der Ökonomen bezog sich folglich auf einen sich wechselseitig verstärkenden Zusammenhang von Staatstätigkeit und Volkswillen, von Regierenden und Beamten auf der einen Seite und einem aus Konsumentenpublikum auf der anderen Seite: Hier handelte es sich nicht mehr um ein ökonomisches, sondern bereits um ein genuin politisches Argument. Der Verbreitung der »richtigen Vorstellungen« von ökonomischen Zusammenhängen entsprach nicht nur die rege Publikationstätigkeit der Ökonomen seit den 1840er Jahren, sondern auch die systematische Umsemantisierung und Neuaufteilung von Wissensbeständen, die in diesem Kapitel behandelt wurden. Am Ende des Jahrhunderts nahm die ökonomische Darstellung der Subsistenzpolitik eine allprotektionistische Wendung. Eugène Lelong zufolge hatten alle historischen Maßnahmen zur Knappheitsprävention, Versorgung und Preisdeckelung vor allem den »Schutz des Konsumenten« beabsichtigt, nun gehe es um den »Schutz des Produzenten«. Entsprechend verschob sich der Fokus der liberalen, ökonomischen Kritik auf den Agrarprotektionismus und die Außenhandelsbeschränkungen.146 Das positive Wissen über bestehende, aktuelle und historische Regelungen, ihre sachliche Darstellung oder polemische Diskussion sind eine Seite  – programmatische Aussagen über ihren ›richtigen‹ Gebrauch eine andere. Im Verwaltungswissen waren solche Einlassungen allerdings selten und vor allem in 144 Coq, S. 355. 145 Guyot, Famine, S. 158–159. 146 Lelong, Subsistances (I), S. 552.

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stärker praxisbezogenen Handwörterbüchern zu finden. Implizit stellte oftmals die Kombination der Eintragstitel und der im Text dargestellten Regelungsbefugnisse entsprechende Orientierungen bereit, etwa im Hinblick auf den Eingriffsimperativ zur Sicherung des Korntransports. Ebenso selten waren explizite Wertungen, wie sie im ökonomischen Wörterbuch geläufig waren und im Gegensatz dazu mit prinzipiellen Handlungsanweisungen verbunden wurden. Selten wurde die politische Ökonomie so explizit als »Verhaltensregel«147 (ligne de conduite) bezeichnet wie im zitierten Text von Raoul Duval über Getreide. Im deutlichen Unterschied dazu waren Bezugnahmen auf die Sozialökonomie als Verhaltensregel häufiger, etwa im Artikel »Teuerung« des Grand dictionnaire universel du XIXe siècle. Hier wurde das Problem an der Schnittstelle von »politischer Gesellschaft« (société politique) und »industrieller Ökonomie« (économie industrielle) angesiedelt. Die wahre Mission der Regierungen, so der anonyme Verfasser, liege im Dienst am Interesse der Mehrheit; die Minderheit werde sich selbst helfen können.148 Dennoch kann festgehalten werden, dass sich die Verwaltungswissenschaftler nach Kräften mühten, die innere Begrenzung des Staatshandelns durch die liberale Ökonomie im Rahmen des Verwaltungswissens zur Geltung zu bringen. Bündig formulierte etwa Rigaud 1870 im Artikel »Versorgung« des Répertoire général d’administration municipale et départementale folgende Faustregel: »Die Kommunalbehörden haben die Aufgabe, die Versorgung der Kornmärkte sicherzustellen; allerdings dürfen die zu diesem Zweck getroffenen Vorkehrungen unter keinen Umständen die Handelsfreiheit und den freien Korntransport einschränken«.149

Das verwaltungswissenschaftliche Subsistenzkonzept und sein semantisches Netzwerk waren Mitte des 19.  Jahrhunderts hinsichtlich der Definition der Staatsaufgabe Subsistenz durch zwei Entwicklungen geprägt. Einerseits blieb die klassische polizeywissenschaftliche Systematik von administrativen Maßnahmen für die Normallage, zur Krisenprävention und zur Krisenbewältigung erhalten. Doch insbesondere die Verwendung von Instrumenten und Praktiken der letzten beiden Kategorien stellten die Autoren unter starke Vorbehalte. Das Konzept war allgemein durch grundsätzliche Kontroversen und insbesondere im Wirtschafts- und Handelswissen durch staatsphobe Polemik geprägt. Das führt zu der Frage, in welchem Verhältnis die historische Staatspraxis im Bereich der Subsistenz zu dem semantischen und epistemischen Formwandel der Staatsaufgabe Subsistenz stand, der in diesem Kapitel rekonstruiert worden ist. In methodischer Hinsicht setzt die Genealogie der Subsistenzpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Geschichte des Spannungsverhältnisses zwischen semantischen Kontroversen auf der einen Seite und historischen Praktiken auf der anderen Seite an. Freilich bestand zwischen den Kon147 Duval, S. 905. 148 Cherté, in: Grand dictionnaire universel Larousse, Bd. 4, S. 28. 149 Rigaud, Approvisionnement, S. 10.

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zepten in einigen Wörterbüchern und Berichten von Beamten der städtischen Marktaufsicht meist kein unmittelbarer Zusammenhang. Greifbar wird aber eine diskursive Beziehung, die über die zur Beobachtung und Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwendeten Begrifflichkeiten und Wissensordnungen vermittelt war. Mit der semantikgeschichtlichen Bestandsaufnahme ist deshalb zunächst nur der weitgespannte epistemische Zusammenhang rekonstruiert worden, in den die konkrete Praxis eingebettet war.150 Im Fortgang der Untersuchung interessiert deshalb vor allem, inwiefern sich der analysierte epistemisch-semantische Wandel auch auf der Ebene der Subsistenzverwaltung feststellen lässt.

150 Zur »gesellschaftlichen Produktion und Zirkulation von Wissen« als Gegenstand der Wissensgeschichte, siehe Sarasin, Was ist Wissensgeschichte, S. 164.

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II. Subsistenzsicherheit als politisches Projekt im Zweiten Kaiserreich: zwischen Staat, Verbrauchern und Zivilgesellschaft, 1847–1871

Die über die Teuerungskrise der Jahre 1846/47 hinaus in den 1850er und 1860er Jahren unter dem Stichwort Subsistenzfrage (question des subsistances) geführten gesellschaftlichen Kontroversen über die Sicherstellung der Versorgung vor allem mit Korn und Brot, über die Ursachen von Knappheit und Teuerung sowie die Vorschläge und Projekte zur Lösung der Subsistenzfrage, der »richtigen« Organisation der Versorgungs- und Vermarktungswege sind zwar von vielen Studien über Modernisierungsprozesse einzelner französischer Regionen im 19. Jahrhundert berührt worden.1 Analysen, die diese vielschichtigen Subsistenz-Kontroversen zwischen dem Ende der Julimonarchie und dem Umbruch des Jahres 1870/71 in genuin politikgeschichtlicher Perspektive untersuchen, liegen bisher jedoch noch kaum vor.2 Die Subsistenzfrage erfuhr über die Teuerungskrise der Jahre 1846/47 hinaus breite gesellschaftliche Aufmerksamkeit  – besonders in der vergleichsweise langen Kornhochpreisphase der Jahre 1853 bis 1857 und den kürzeren, aber intensiven Preisanstiegen der Jahre 1860/61 und 1866/67.3 Die im folgenden analy­sierten versorgungspolitischen Projekte, die zwischen 1846 und 1871 publiziert oder in die Verwaltungskommunikation eingespeist wurden, standen deshalb im Kontext eines wesentlich breiteren Subsistenzdiskurses. Ohne den beiden folgenden Kapiteln vorzugreifen, ist hier festzuhalten, dass die Art und Weise, wie Subsistenz während der 1850er und 1860er Jahre gesellschaftlich thematisiert und problematisiert wurde, während der Teuerungskrise 1846/47 und den Debatten der Zweiten Republik entscheidende Impulse erhielt. Unter protest-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten ist es durchaus sinnvoll, die beiden Teuerungen »in der Mitte des Jahrhunderts« (1846/47 und ­1853–57) in einem Zusammenhang zu analysieren.4 Dadurch geraten die

1 Vgl. Armengaud, Les populations; ders., La question; Corbin (besonders Bd. 1); Soulet; Agulhon, La République; Arzalier; Désert, Une société. 2 Vgl. jedoch die Anregungen in Bourguinat, Grains, S. 449–450; außerdem Lhuissier, Réforme sociale. 3 Vgl. die Preistabellen und Graphen in Labrousse u. a. 4 So vor allem die sozialgeschichtliche Forschung der 1970er und 1980er Jahre, siehe besonders einflussreich Tilly, C., How Protest; Price, Poor relief; ders., Techniques; ders., Modernization; und Labrousse. Der allergrößte Teil der Forschung zu Subsistenzfrage und Teuerungsprotest bricht allerdings in den 1850er Jahren ab.

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ebenso tiefgreifenden wie nachhaltigen Auswirkungen in den Blick, die der vielschichtige Wandlungsprozess auf der Ebene der politischen Institutionen in den Jahren 1848 bis 1851 auf die Subsistenzdebatten des Zweiten Kaiserreichs hatte.5 Vor allem die Verhaftung und Deportation zahlreicher sozialistischer und republikanischer Revolutionäre nach dem Juni-Aufstand 1848 und den Aufständen gegen den bonapartistischen Staatsstreich 1851 führte bereits de facto zu einer starken Reduktion des Spektrums an Positionen, die in der Folgezeit gegenüber der Subsistenzfrage, den Ursachen für Teuerung und Preisverfall sowie möglichen Lösungen eingenommen werden konnten und wurden. Das betraf selbstverständlich in noch stärkerem Ausmaß – gewissermaßen de jure – den Raum des Sag- und Machbaren, mithin die Form, in der die Standpunkte vorgebracht wurden.6 Dieser sukzessive Ausschluss revolutionärer Positionen und Praktiken aus der gesellschaftlichen Subsistenzdiskussion in der Restaurationsphase ist aus zwei verschiedenen Gründen bedeutsam für die Entwicklung des Themas. Erstens unterstreicht dieser Umstand, dass die mehr oder weniger detaillierten Projekte zur Lösung der Subsistenzfrage implizit oder ausdrücklich auch Rationalisierungen der »richtigen« Ordnung von Gesellschaft und Staat darstellten.7 Zweitens war das nun verbleibende, besonders gut sichtbare Spektrum geprägt durch autoritäre, patriarchalische und bürgerliche Vorstellungen von gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung: Mehr oder weniger alle analysierten Projekte zielten in letzter Instanz auf eine Reform der Versorgungsstrukturen, um die politische und soziale Ordnung des Zweiten Kaiserreichs langfristig abzusichern.8 Das Material der folgenden Ausführungen besteht aus einer Reihe an Broschüren, Petitionen, in verschiedenen Zeitschriften erschienenen Artikeln, hand­ schriftlichen Projekten und Eingaben, die zwischen 1846 und 1871 verfasst wurden. Sie haben alle gemeinsam, dass sie die Organisation der Produktionsund Handelswege vom Korn über Mehl zum Brot entweder in Teilen oder als Ganzes einer kritischen Revision unterzogen, in den Rahmen einer umfassenden Programmatik stellten oder zumindest mehr oder weniger ausgefeilte Lösungsvorschläge für Teilaspekte des Problems unterbreiteten. Das Korpus dieser Untersuchung wurde ausgehend von einer im Nationalarchiv erhaltenen, materialreichen Akte gebildet, die in der von Louis Foubert geleiteten Subsistenzabteilung zunächst des Innenministeriums, nach 1853 des Ministeriums für Handel, Landwirtschaft und öffentliche Bauten entstand.9 Es handelte sich dabei teilweise um Eingaben, die nach 1852 an eine direkt bei der Kanzlei des Kai5 Vgl. hierzu aufschlussreich, aber im Hinblick auf die Fortführung der Debatten im Zweiten Kaiserreich unergiebig: Bourguinat, Question, S. 177–199. 6 Die aufmerksame Überwachung der Teuerungskommunikation und ihrer Formen während der Jahre 1853 bis 1857 ist Gegenstand von Kapitel III. 7 Vgl. ähnlich Glikman, S. 264–269; Cossart. 8 Vgl. zur »Pflicht der sozialen Hebung«, Glikman, S. 157–203. 9 AN CHAN F 11 2759: greniers de prévoyance et sociétés alimentaires, 1851–1870.

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sers angesiedelte Getreidekommission (commission des céréales) geschickt und der Subsistenzabteilung zur Begutachtung überstellt worden waren.10 Napoléon III. hatte in einer Pressemeldung zur Einsendung ausdrücklich aufgerufen. Auf diese Weise unterstützte das Regime die Kommission über den Kornmarkt, kanalisierte aber gleichzeitig auch die Diskussion. Ergänzt wurde die Reihe dieser Memoranden, Broschüren und Briefe durch weitere bibliographische Recherchen, so dass eine Materialgrundlage entstand, die zumindest die qualitative Bandbreite des bürgerlichen und konservativen subsistenzpolitischen Diskurses zwischen 1846 und 1871 abbildet. In diesem Diskurs zeichnen sich zwei Strategien ab, denen unterschiedliche, der Tendenz nach sogar gegensätzliche Stoßrichtungen immanent waren: Arbeiterrestaurants (sociétés alimentaires) auf der einen Seite und Kornreserven auf der anderen. Die Divergenzen zwischen diesen Ansätzen zur Lösung der Subsistenzfrage artikulierten, so die These, eine für das Zweite Kaiserreich grundlegende Spannung zwischen einer patriarchalisch-obrigkeitlichen und einer liberalen Gouvernementalität. Während die Konsumvereine unter Aufsicht und Leitung von lokalen Honoratioren und Unternehmern stets auch eine Pädagogik implizierten, d. h. Lebensmittelversorgung und moralische Erziehung der Arbeiterschaft miteinander verknüpften, waren die Reservenprojekte der Versicherungstechnologie nachgebildet. Sie versicherten die Bevölkerung als Ganze gegen das Risiko des Nahrungsmangels – und dies völlig unabhängig vom individuellen moralischen Verhalten der Verbraucher.

1. »Überfluss-Speicher« und Kornreserven: eine »Versicherung gegen den Mangel«11 Das Konzept der Kornreserve war nicht neu und, wie im vorhergehenden Kapitel dargestellt, unter Nationalökonomen und Verwaltungsfachleuten seit Mitte des 18.  Jahrhunderts umstritten. Während der Zweiten Republik wurde die Frage der Reservenbildung wurde erneut intensiv diskutiert, etwa auf dem Zentralkongress der Landwirtschaft im Jahr 1851. An diese Debatte knüpften zahlreiche Projekte der folgenden beiden Jahrzehnte an. So spielten Kornreserven nicht nur als Arrangements zur Kornbevorratung eine Rolle, sondern auch im Rahmen umfangreicherer handels- und agrarpolitischer Programme, in denen die Konzentration von Getreide in Magazinen lediglich ein willkommener Nebeneffekt der Schaffung von Kreditgrundlagen für Landwirte war. Hier überschnitt sich die Diskussion über die Reserven mit der Debatte über die Kapital-

10 Das legen jedenfalls die Aktennotizen, Glossen und Korrespondenzen mit den Autoren nahe, die in einigen Fällen geführt wurden, siehe ebd. 11 So der Titel einer frühen Broschüre: AN CHAN F 11 2759: Viot, Assurance.

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ausstattung der landwirtschaftlichen Produktion (crédit agricole).12 Zeitgleich wurden ähnliche Konzepte in Deutschland unter der treffenden Bezeichnung »Silobank« diskutiert13, in Frankreich kursierten mehrere Namen für funktionale Äquivalente, etwa »comptoirs agricoles«14 oder »docks agricoles«15. Die Autoren der Projekte argumentierten auf den ersten Blick vor dem Hintergrund durchaus unterschiedlicher soziopolitischer Kontexte. Darunter waren insbesondere stellvertretende Bürgermeister, die mit der Marktaufsicht betraut waren16, ehemalige Unternehmer17, Armeeoffiziere18 ebenso zu finden wie Notare19, Agronomen20 oder adlige Gutsherren21. Bedeutsam ist auch der Umstand, dass sich alle diese Autoren in eine Debatte einbrachten, die landesweit geführt wurde: in Stadt- und Bezirksversammlungen, regionalen Landwirtschafts­ vereinen22 und Gelehrtengesellschaften23 ebenso wie in Pariser Tageszeitungen24 und den politischen Beratungsinstitutionen. Ihre Projekte bezogen sich auf eine Reform der Distributionsinfrastruktur des nationalen Marktraums. Mit dieser

12 Vgl. Coignet, agences; Dussard; Troy, vgl. dazu die ablehnende Besprechung von Gustave de Molinari, ders., Question des céréales, S. 142 f.; Hervieux. 13 Vgl. Hagen. 14 S. Coignet, Agences; Martin-Doisy; AN CHAN F 11 2759: MACTP, an: Réneaume, Projet de comptoirs communaux. d’assurer les approvisionnement en céréales, 17.8.1870. 15 AN CHAN F 11 2759: Victor Delaplane, Le comptoir agricole, ses docks et ses docks an­nexes sous le patronage de leurs majestés impériales l’Empereur et l’Impératrice, o. D. [Dezember 1855]. 16 AN CHAN F 11 2759: Husson, pharmacien, ancien adjoint au Maire et membre du conseil municipal de Toul, Extension de la réserve de la boulangerie. Réflexions à ce sujet, 24.11.1858; Dérou, ancien notaire, adjoint au Maire, Montrichard (Loir et Cher), an: MACTP, 13.2.1851. 17 AN CHAN F 11 2759: Goupy, La Réserve. société anonyme. 17.6.1860. 18 AN CHAN F 11 2759: A. Gleizes, Etude sur la question des subsistances, Toulouse 1861; zur Person siehe den Nekrolog: Joly, S. 435–449. 19 AN CHAN F 11 2759: Morellet, notaire à Bourg (Ain), Copie d’un mémoire adressée à sa majesté l’Empereur, 20.3.1858. 20 AN CHAN F 11 2759: Léon Dufour, Agronome, Mémoire sur le moyen de prévenir une mauvaise récolte de grains, 9.4.1852; Dufour, Conservation des grains, S.  305–306; AN CHAN F 11 2759: Desforges, propriétaire-agronome, an: MACTP, Réserves alimentaires, 2.12.1858. 21 AN CHAN F 11 2759: Comte de Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance. Des causes aggravantes et de l’aggravation de la disette, Paris 1854; Alexandre-César de Margouet de Villa, Pétition relative à l’établissement de greniers de prévoyance dans toutes les communes de France, o. D. [1859]. 22 Vgl. Procès-verbaux du Comice agricole de l’arrondissement de Douai 1861–1865, Douai 1865, S. 82 (réserve de grains), S. 99 (conservation des grains); Conservation des blés, constitution de la commission, Séance du 5 avril 1859, in: Bulletin de la Société d’agriculture, belles-lettres, sciences et arts de Poitiers N. S. 12 (1859), S. 21–22. 23 Vgl. Briaune, Réserve des grains, S.  241–243; Société d’économie politique; Lunesse, S. 172–210; Montreuil, S. 217–224. 24 Haussmann, Note (I), S. 2.

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Diskussion wurde die Subsistenzfrage endgültig aus ihrem kommunitären, lokalen Rahmen gelöst und auf die Ebene der Nation bezogen.25 Die einzelnen Reservenkonzepte waren unterschiedlich ausführlich gearbeitet; sie reichten von einfachen Skizzen des Grundgedankens26 bis zu ausgefeilten, detaillierten Entwürfen, denen sogar architektonische Pläne beigefügt waren.27 Einige der Autoren nahmen aufeinander Bezug, andere setzten sich mit der liberalen Kritik an den Reserven explizit auseinander. Bei allen Unterschieden im Detail, in den Bezugnahmen und auch in der Zwecksetzung hatten sie jedoch mindestens vier Elemente gemeinsam: (1) eine Verbindung von historischer Getreidepreisstatistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, (2) eine Vorstellung von der besten geographischen Lokalisierung der Reserven, (3) eine Form der Mitwirkung des Staates an der Reservenbildung und -verwaltung und (4) eine Form der Getreidelagertechnik. (1) Mit ihren mehr oder weniger ausgefeilten Analysen der Kornpreisvariabilität bewegten sich die Autoren in den 1850er Jahren am Rande eines Wissensfelds, in dem zunehmend statistische Daten, Stochastik und ökonomische Modell­ bildung zusammengeführt wurden, der Ökonometrie.28 Für die Konzeption des Reservenmechanismus mussten zunächst die beiden Momente bestimmt werden, zu denen Korn gekauft und zu denen es abgegeben werden sollte. Dazu kombinierten die Autoren meist zwei Elemente: die historische Getreidepreisstatistik und die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Für die Bildung langer Zeit­ reihen griffen sie auf die amtliche Statistik zurück, die auf den Merkurialen, den an Markttagen von Stadtbediensteten erhobenen Durchschnittspreisen, beruhte.29 Die möglichst langen Datenreihen wurden sodann nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung normalisiert, d. h. zunächst gemittelt und dann durch die Identifizierung und Eliminierung extremer Abweichungen bereinigt. Auf diese Weise konnten die Autoren die Häufigkeit und Periodizität von Teue-

25 Einen ähnlichen Prozess hat bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts John Bohstedt in England beobachtet, vgl. Bohstedt, S. 261–277. 26 Vgl. AN CHAN F 11 2759: Dérou, ancien notaire, adjoint au Maire, Montrichard (Loir et Cher), an: MACTP, 13.2.1851; Renéaume, an: MACTP, 15.6.1870. 27 Siehe AN CHAN F 11 2759: Victor Delaplane, Le comptoir agricole, ses docks et ses annexes. Les docks agricoles, greniers et marchés permanents, grains et farines, bestiaux, cheveaux, 10.11.1855; ders., Meunerie-Boulangerie. Leur stock d’alimentation publique – échangeable contre warrant avec leurs greniers-silos pour reserves de sécurité administrative et les cheptels cantonnaux. Réflexions sur la création des docks de l’industrie française et leurs comptoirs coloniaux. Pour la protection de la marque de fabrique française et l’extinction des chomages, 30.6.1858. 28 Siehe Le Gall, P., Confessions; ders., Econometrics. 29 Der Agronom Jean-Edmond Briaune, von dem eine der fundiertesten Studien zu den Reserven stammte, korrespondierte über diese Daten mit dem Landwirtschafts- und Handelsministerium, siehe Briaune, Du prix, S. 93. Zu Briaunes Beitrag zur Diskussion über die Subsistenzfrage siehe Clément, Al., La contribution, S. 283–299.

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rungen und Niedrigpreisphasen sowie die durchschnittliche Anzahl an Jahren zwischen zwei Teuerungen berechnen. Dieser Wert lag in der Regel nahe bei sieben Jahren, was einige an die Bibel und das Alte Testament erinnerte.30 Dass also auch die Ägypter diesen Rhythmus bereits gekannt hatten, ließ die Periodizität von sieben Jahren in die Nähe einer übernatürlichen Gewissheit rücken: Mit der Wahrscheinlichkeit, dass nach etwa sieben Jahren die nächste Teuerung bevorstand, konnte also gerechnet werden. Aus diesen Rechenschritten ergab sich eine klassische Aufteilung der Preisamplitude in drei Abschnitte: einen Abschnitt, in dem die Preise unterhalb des durchschnittlichen Tiefpreises lagen; einen zweiten, in dem die Preise über dem durchschnittlichen Hochpreis lagen; und schließlich einen großen dritten Abschnitt, in dem die Preise zwischen diesen beiden Medianen lagen.31 Damit hatten die Autoren schließlich Werte zur Hand, die sie vor verschiedenen Hintergründen diskutierten, etwa auf die letzte Teuerung32 oder den aktuellen Preisverfall33 bezogen, kurz: Werte, mit denen sie Aussagen über die künftige Entwicklung der Kornpreise machen konnten. Vor diesem Hintergrund konnten z. B. auch die Summen, die für die erstmalige Einspeicherung aufgebracht werden mussten, vorteilhaft mit den Ausgaben verglichen werden, die im Fall eines Kornmangels für Lieferungen aus dem Ausland zu Buche schlagen würden.34 Erst bei Erreichen eines der beiden Grenzwerte dieses »Normalismus«35 (J. Link), sei es des Niedrig-, sei es des Hochpreises, sollte der Reservenmechanismus in Aktion treten. Setzte die Darstellung dieses Mechanismus mit dem hypothetischen Fall ein, dass der obere Grenzwert erreicht wurde, dann sollte Korn aus dem Speicher entweder direkt an die Bevölkerung abgegeben, an die Bäcker verkauft oder zu diesem Preis auf die Märkte gebracht werden.36 Einige Autoren rechneten vor, dass nach den Gesetzen der Nationalökonomie dann zwei Reaktionen erfolgen müssten: Zum einen würden die Preise durch das größere Angebot auf den Märkten sinken,37 und zum anderen würden dann auch die Landwirte, da sie sinkende Preise beobachteten, sich beeilen, ihr Korn auf den Markt zu bringen.38 Damit hätte die Reserve ihre Aufgabe, die Marktpreise 30 Briaune, Du prix, S. 121–123; Hugo, Note sur le prix, S. 43–45. 31 Vgl. AN CHAN F 11 2759: Delaplane, Le comptoir agricole, 10.11.1855, S. 6–8. Diese analytischen Schritte wurden auch in Denkschriften vollzogen, die sich nicht mit Reservenbildung beschäftigten, vgl. Modeste, De la cherté, S. 26–39. 32 AN CHAN F 11 2759: Renéaume, ancien inspecteur des messageries impériales, an: MI, 15.6.1870. 33 AN CHAN F 11 2759: Dérou, an: MACTP, 13.2.1851. 34 AN CHAN F 11 2759: Goupy, La Réserve, S. 1; Gleizes, Études sur la question des subsistances, S. 5. 35 Das ist eine für den Proto-Normalismus geradezu klassische Konstellation, vgl. Link, S. 51–59. 36 AN CHAN F 11 2759: Viot, Assurance, 25.4.1851, S. 3–4; Dérou, an: MACTP, 13.2.1851, S. 2. 37 AN CHAN F 11 2759: Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance, S. 10; Delaplane, Le comptoir agricole, S. 46. 38 AN CHAN F 11 2759: Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance, S. 10.

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zu regulieren, bereits erfüllt. Mit den bei dieser Gelegenheit erwirtschafteten Erlösen sollte dann in der nächsten Niedrigpreisperiode die Reserve wieder aufgefüllt werden  – was zusätzlich einen direkten und einen indirekten Vorteil hatte: Zum einen würde das mit dem Verkauf bei Hochpreisen und der Rekonstitution der Reserve bei Niedrigpreisen erwirtschaftete Kapital innerhalb von ein, zwei Teuerungen die ursprüngliche Investition amortisieren;39 der Speichermechanismus versprach, einem Autor zufolge, innerhalb weniger Jahre eine Verdopplung der Gewinne – die Knappheit selbst würde damit zur Quelle öffentlichen Vermögens.40 Zum anderen würden mit dem Kauf bei Niedrigpreisen die Kornpreise auf den Märkten gestützt und damit die unter den niedrigen Preisen leidenden Landwirte gestärkt.41 In den Augen ihrer Befürworter hatten die Reserven gerade deshalb einen ganz entscheidenden politischen Vorteil. Sie boten nämlich die Möglichkeit, die bezüglich der Preise gegensätzlichen Interessen von Landwirten und Verbrauchern, des ländlichen Frankreich und der Stadtbevölkerung miteinander zu vermitteln.42 Dass sie dabei allerdings die Interessen des Handels vernachlässigten, war in ihren Augen kein Nachteil – im Gegenteil: Die Eindämmung der Spekulation und der Agiotage, die Zurückdrängung dieser »Vampire«43 war ebenfalls ein zentrales Argument für die Reserven.44 (2) Mit der Reservenbildung war unmittelbar auch eine mehr oder minder komplexe Raumkonzeption verbunden. Diese hatte zwei wesentliche Aspekte. Erstens wurden Überlegungen bezüglich der Orte angestellt, an denen die Magazinbauten der Reserve am günstigsten zu platzieren wären; zweitens – das war jedoch seltener der Fall, berührte meist den Punkt der Lagerung und wird deshalb weiter unten behandelt – schlossen daran Vorstellungen über die Aufteilung des Speicherinnenraums an. Über die Orte für die vorteilhafteste Ansiedlung der Kornspeicher gingen die Vorschläge auseinander. Wenn ein ganzes Netz solcher Reserven, mithin eine Infrastruktur der Getreidespeicherung und -verteilung aufgebaut werden sollte, dann hing die Zahl der einzurichtenden Speicher und die für die Einrichtung des ganzen Systems aufzubringende Summe entscheidend von der Größe und Zahl der Ortschaften ab. Die ­meisten 39 AN CHAN F 11 2759: Gleizes, Études sur la question des subsistances, S. 32. 40 AN CHAN F 11 2759: Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance, S. 10. 41 AN CHAN F 11 2759: Gleizes, Études sur la question des subsistances, S. 10; Viot, Assurance, S. 4; Husson, Extension de la réserve de la boulangerie, 24.11.1858, S. 1. 42 AN CHAN F 11 2759: Goupy, La Réserve. Société anonyme, S. 5; Gleizes, Études sur la question des subsistances, S. 35; Husson, Extension de la réserve de la boulangerie, S. 1. 43 AN CHAN F 11 2759: Simon Mingasson, Essai sur les questions sociales du paupérisme, des disettes et famines et de la porpiété du travail dit droit au travail, Paris 1856, S. 18. 44 AN CHAN F 11 2759: Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance, S. 29, 50, 82; Mingasson, Essai sur les questions sociales du paupérisme, S. 18, 20; Gleizes, Études sur la question des subsistances, S. 27; Victor Delaplane, an: W***, Esquire, Lettre sur la question des subsistances, S. 15; Bonneau, propriétaire, an: Empereur, 24.8.1868, S. 11.

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Autoren siedelten die Speicher in den Kommunen an.45 In diesen Projekten ging es tendenziell eher darum, die Subsistenz der örtlichen Bevölkerung zu sichern, d. h. das Korn direkt an die Bevölkerung abzugeben, als darum, die Marktpreise zu regulieren. Andere Projekte folgten ebenfalls der administrativen Gebietsstruktur und siedelten ihre Speicher in den Hauptorten der Bezirke an, d. h. an den Sitzen der Unterpräfekturen.46 Damit wurde das Netz zwar deutlich lichter und die Einrichtung insgesamt günstiger, aber die Kornmengen gleichzeitig größer, und sie entfernten sich räumlich auch von den Verbrauchern. Ein einziges Projekt stellte ausdrücklich Bedingungen an die Ansiedlungsorte der Reserven, die sich aus Verkehrsgesichtspunkten ergaben. Victor Delaplanes umfangreicher und kühner Plan zur Einrichtung eines Distributionsnetzes für Industrie- und Landwirtschaftsprodukte sah den Bau von größeren Lagerund Marktkomplexen an Verkehrsknotenpunkten vor, an denen sich im günstigsten Fall Eisenbahnlinien, Kanäle oder schiffbare Flüsse und Fernstraßen kreuzten.47 (3) Die Rolle, welche die einzelnen Projekte dem Staat im Aufbau, in der Finanzierung und in der Verwaltung der Reserven zuschrieben, war unterschiedlich stark ausgeprägt. Alle diejenigen, durchaus heterogenen Pläne und Konzepte etwa, die sich in der ausgewerteten Akte der Subsistenzabteilung des Minis­ teriums für Handel, Landwirtschaft und Öffentliche Bauten fanden, adressierten in irgendeiner Weise den Staat. Manche Verfasser erbaten lediglich die ministerielle Unterstützung, Förderung und Patronage bei der Gründung einer Aktiengesellschaft, die das Netz der Speicher betreiben wollte.48 Etwas stärker sollte der Staat bereits in ähnlichen Plänen von Unternehmern eingebunden werden, die zwar das benötigte Kapital selbst einwerben wollten, aber für den Beginn der Operation eine Staatsbürgschaft, Subvention oder Anschubfinanzierung forderten.49 Noch stärker involvierten Projekte den Staat, wenn sie den Aufbau von Reserven als genuinen Politikentwurf formulierten, d. h. den Aufbau, die Finanzierung und den Unterhalt der Speicher als Staatsaufgabe ausformulierten.50 45 AN CHAN F 11 2759: Gleizes, Etude sur la question des subsistances, S. 29; Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance, S. 10f; Viot, Assurance, S. 2; Mingasson, Essai sur les questions sociales du paupérisme, S. 19; Dérou, an: MCTP, 13.2.1851 S. 2; Renéaume, an: MI, 15.6.1870, S. 2. 46 Morellet, S. 2. 47 AN CHAN F 11 2759: Delaplane, Le comptoir agricole, 10.11.1855, S. 21, 45. 48 Vgl. AN CHAN F 11 2759: Margouet de Villa, Pétition relative à l’établissement de greniers de prévoyance dans toutes les communes de France, o. D. [1859], S. 1. 49 Vgl. AN CHAN F 11 2759: Delaplane, Meunerie-Boulangerie, 30.6.1858, S. 10; Goupy, La Réserve. Société anonyme, S. 5; Desforges, an: MACTP, Réserves alimentaires, 2.12.1858, S. 1. 50 Vgl. AN CHAN F 11 2759: Dérou, an: MACTP, 13.2.1851; Mingasson, Essai sur les questions sociales du paupérisme, S. 4; Husson, Extension de la réserve de la boulangerie, S. 1, Gleizes, Etude sur la question des subsistances, S. 15.

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Außer der Einbeziehung des Staates in die finanzielle Erstausstattung sahen manche Konzepte also auf einer anderen, praktischen Ebene noch sehr viel weitergehende Aufgaben für staatliche Akteure vor. In der Regel planten die Verfasser dieser Projekte für das Alltagsgeschäft in den Speichern am Ort mit kommunalen Beamten oder Angestellten der Stadtverwaltung, sei es, dass den Bürgermeistern wie selbstverständlich die Schlüsselgewalt sowie Aufsicht über die Buchführung und das Speicherpersonal übertragen wurde51 oder die Feldwächter mit der Kontrolle der Zulieferung des Getreides betraut werden sollten.52 Zwei Projekte des untersuchten Samples gingen bei dieser Indienstnahme der administrativen Ressourcen der Kommunen und des Zentralstaates besonders weit. Mingasson und Delaplane konzipierten nichts weniger als den Aufbau einer umfangreichen Bürokratie mit Ämterhierarchie, Verwaltungszweigen und Dependancen, vom Träger bis zum obersten Aufseher.53 Auf diese Weise entstanden utopische Entwürfe eines vollkommen nicht nur in staatlicher Obhut abgewickelten, sondern eines vom Staat selbst betriebenen Kornhandels. Gerade die Autoren solcher Projekte, die entweder die kommunale Beamtenschaft in die Pflicht nahmen oder einen umfassenden Politikentwurf formu­ lierten, appellierten an »die wohlwollende Güte und Aufmerksamkeit seiner Majestät für die Bedürfnisse der Nation«54 und erinnerten Napoléon III. so an seine Herrscherpflichten. In der Teuerung des Jahres 1868 brachte dies ein Grundbesitzer namens Bonneau bündig auf den Punkt: »Ihre Majestät werden gewiss verstanden haben, dass es angesichts der Ideen, die unsere Gegenwart umtreiben, für die Herrscher notwendiger ist denn je, zum Wohl der Völker zu arbeiten: Die Stabilität der Throne und die Verbundenheit des Volkes mit den Dynastien ist fortan nur um diesen Preis zu haben. Und für die Massen gibt es ja keine Frage, die sie so unmittelbar berührt wie die Brotfrage«.55

Aufgrund der Einbindung des Staates wurden die Kornreserven jedoch von den Vertretern nationalökonomischer Prinzipien abgelehnt.

51 Vgl. AN CHAN F 11 2759: Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance, S. 14–16. 52 AN CHAN F 11 2759: Gleizes, Etude sur la question des subsistances, problematisierte allerdings das Verhältnis der Verwaltung zur Versorgung und schlug eine Alternative vor, in der eine Behördenkommission lediglich die regelmäßige Inspektion der Speicher vornehmen sollte. 53 Vgl. AN CHAN F 11 2759: Delaplane, Le comptoir agricole, 10.11.1855, S. 30–35, mit einer detaillierten Liste und einer Art Organigramm; »une branche d’administration spéciale pour les subsistances«: Mingasson, Essai sur les questions sociales du paupérisme, S. 18. 54 AN CHAN F 11 2759: Gleizes, Etude sur la question des subsistances, S. 1. 55 AN CHAN F 11 2759: Bonneau, an: Napoléon III, Question alimentaire. 1. cherté périodique et inévitable du pain, les choses restant dans l’état actuel, 2. ne peut-on y remédier par un procédé ayant la propriété de conserver les grains? 3. Idées à ce sujet, soumises à l’appréciation éclairée de sa majesté, 20.8.1868, S. 2.

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(4) Auch in der Frage der Speichertechnik der Reserven gab es unterschiedliche Lösungsvorschläge – wenn sie überhaupt explizit thematisiert wurde. Das war nicht durchgehend der Fall. Einige eher skizzenhafte Projekte erwähnten zwar Kornspeicherböden und schlugen geeignete Räumlichkeiten vor, doch diese Verfahren waren ersichtlich von den auf jedem Hof vorhandenen, kleineren Lagerstätten für den Eigenbedarf inspiriert. Gerade in diesem Punkt machte sich deshalb ein Unterschied im technologischen Wissen der Autoren besonders bemerkbar.56 Agronomen wie Briaune aus der Touraine oder experimentierende Guts­ besitzer wie der ehemalige Offizier Gleizes aus dem Garonne-Tal diskutierten in ihren Projekten und Abhandlungen kenntnisreich die Vorzüge und Nachteile verschiedener Speichersysteme und Konservierungstechniken. Tatsächlich erfuhr die Silagetechnik in den 1850er und 1860er Jahren einen Innovationsschub. Immer neue Lösungen für die beiden grundlegenden Probleme der Kornspeicherung wurden ausgearbeitet, diskutiert und von Landwirten auf Praxistauglichkeit geprüft: Erstens musste Getreide trocken gelagert werden, sonst begann der Haufen unter einer trockenen Oberflächenschicht umgehend zu gären; zweitens musste Getreide gelüftet werden, um den Befall durch Schimmel und Insekten zu verhindern oder zumindest einzudämmen.57 Die verschiedenen, von Landwirten und Agronomen zeitgenössisch als zufriedenstellend effektiv angesehenen Speichertechniken basierten auf Verfahren, mit denen Getreide zugleich trocken gelagert, gelüftet und regelmäßig umgeschüttet werden konnte. Bei dem Vallery-Zylinderspeicher etwa handelte es sich um einen Umwälzspeicher, eine riesige, liegend um die Längsachse frei sich drehende Tonne, in der das Getreide mehrmals am Tag für einige Zeit bewegt werden musste. Gleichzeitig wurde ein Luftstrahl eingeblasen. Auf diese Weise wurde das Getreide zugleich getrocknet und umgeschüttet, wurden Insekten ausgeblasen und selbst die an den Früchten anhaftenden Eier des Kornkäfers losgerüttelt. Ein zweites völlig anderes Lagerungsverfahren wurde in den 1850er und frühen 1860er Jahren durch die von der Militärverwaltung unterstütze Forschung des Chemikers und Entomologen Louis Doyère – unter anderem in den Brester Marinewerkstätten – analysiert und erneuert: die Silage-Technik. Doyères Zugang zu dieser vergleichsweise alten Technik unterschied sich von den »Kornbegräbnissen« der 1830er Jahre grundlegend. Während etwa ein Gutsbesitzer wie Terneaux im Jahr 1837, inspiriert durch Zufallsfunde von im Boden vergrabenen und in verwertbarem Zustand erhaltene Kornmengen sowie im Wissen um die Silos der römischen Antike und der nordafrikanischen Bauern, publi56 Das Problem der Speichertechnik begleitete die Diskussion bereits im 18.  und frühen 19. Jahrhundert, zur Blütezeit der administrativen »Überflusspeicher«, vgl. bisher offenbar nur Sigaut u. a. 57 Doyère, Conservation; Briaune, Du prix des grains, S. 235–269; AN CHAN F 11 2759: Gleizes, Etude sur la question des subsistances, S. 10–23; Viot, Assurance, S. 5–7.

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kumswirksam Korn vergrub, nur um bei der zwei Jahre späteren, spektaku­ lären Öffnung des Silos einen vollkommen verrotteten Haufen vorzufinden, versuchte Doyère, die auf Forschungsreisen in Spanien, Algerien, Tunesien und Marokko gewonnen Erkenntnisse naturwissenschaftlich zu übersetzen und experimentell nachzubilden.58 Seine Ergebnisse, etwa über die optimale Beschaffenheit des einzulagernden Getreides und die extreme Verlangsamung der biochemischen Prozesse im Inneren des Kornhaufens (Schimmel, Käferpopulation, Gärung) durch vollkommene Abdichtung des Silos gingen in verschiedene Silagetechniken der frühen 1860er Jahre ein, die in den Reserveprojekten eine zentrale Rolle spielten, etwa das patentierte Betonhochsilo von Coignet59 oder das mit Lötblech ausgekleidete Erdsilo von Huart.60 Kornpreisstatistik, Wahrscheinlichkeitsrechnung, räumliche Anordnung, Verwaltung und Lagertechnik kombinierten die Autoren in ihren Projekten zu Sicherheitsdispositiven, mit deren Hilfe die unkontrollierbaren Gefahren, die von Knappheit (seltener: von Überschüssen und ihren negativen Folgen für die Landwirte) ausgingen, in kalkulierbare, beherrschbare und sogar kapitalisierbare Risiken umgewandelt werden konnten.61 Marolles bildete eine Analogie zwischen Knappheit und Feuersbrunst, Reserve und Brandversicherung: Die Ausgaben für die Reserve seien »eine Versicherungsprämie, die Frankreich für die Wohlfahrt und die Ruhe seiner Einwohner zahle, die dem Übel der Knappheit stärker ausgesetzt sind als ein Haus dem Feuer. Ein Haus kann Jahrhunderte überstehen ohne niederzubrennen, während die Knappheit zu einem gegebenen Zeitpunkt unausweichlich ist«.62

Am augenscheinlichsten ist die Anleihe bei der Versicherungsbegrifflichkeit im Projekt von Viot, der vorschlug, Vereine mit der Bezeichnung »Gegenseitige Versicherung gegen die Knappheit« zu gründen, »deren Ziel es wäre, die verhängnisvollen Folgen einer möglichen Knappheit zu bekämpfen, zu verringern und gar zu zerstören«.63 Für die meisten Autoren ging die Gefahr, gegen welche die Reserven versichern sollten, über den Nahrungsmangel hinaus. »Knappheiten und Hungersnöte«, schrieb etwa Mingasson, »sind die Hauptursachen der Revolutionen«.64 Marolles stellte deshalb fest: »Früher bestand der Zweck der Reserven einzig darin, bei Knappheit das Brot der Bevölkerung zu sichern. 58 Doyère, Conservation. 59 Coignet, Silos. 60 AN CHAN F 11 2759: Huart ainé, an: Empereur, 13.12.1861. 61 Vgl. hierzu Ewald, Insurance, S. 201–205. 62 AN CHAN F 11 2759: Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance, S. 10. 63 AN CHAN F 11 2759: Viot, Assurance, S. 2. 64 Mingasson hatte 1847 als Anwalt an den Prozessen gegen die Aufständischen von Buzançais teilgenommen, siehe Cours d’assises de l’Indre: Troubles de Buzançais. Pillage. Assassinat. Tentative d’assassinat. Vingt-six accusés, in: Journal des débats politiques et littéraires v. 1.3.1847, S. 3. Vgl. Bionnier, und Bouton, Imagining Reality.

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Heute sind sie dazu bestimmt, die allgemeine Wohlfahrt zu erhalten und die Gesellschaft als Ganze zu beschützen«.65 Außer den Denkschriften und Eingaben zu Reservenprojekten sind auch einige Stellungnahmen, Gutachten und Antwortschreiben der Ministerialbeamten enthalten, die sich allesamt ablehnend äußerten. Über Delaplane und seine bis zu 40 handschriftlich eng beschriebenen Seiten umfassenden Denkschriften hieß es sogar, in seinen »ökonomischen Lehren wird die Abwegigkeit des Standpunktes nur von der Obskurität der Schlussfolgerungen übertroffen«.66

2. Arbeiterrestaurants und Suppenküchen Am anderen Ende des Spektrums der teuerungs- und versorgungspolitischen Debatte am Übergang von der Zweiten Republik zum Zweiten Kaiserreich entfaltete sich eine ganz anders gelagerte Strategie. Hier schrieben sich die Projekte zur Lösung der Subsistenzfrage in die breite Debatte über die »Soziale Frage« ein und knüpften an ein bereits entstandenes Arsenal der Sozialtechniken zur ›Hebung der Arbeiterklasse‹ an. Sie entstanden in einem zum größten Teil konservativen, sozialkatholischen Milieu, das sich von der liberalen Nationalökonomie durch die Betonung der karitativen Hinwendung zu den »elenden Klassen« abhob,67 mit ihnen aber etwa in der Ablehnung der Kornreserven weitgehend übereinstimmte.68 Die zentrale Plattform für die Diskussion und den Austausch auch über die versorgungspolitischen Optionen dieses Milieus war die Société d’économie charitable, die eine Zeitschrift herausgab, die Annales de la charité. Die Protagonisten der karitativen Ökonomie rückten wesentlich näher an die durch die Teuerung verursachten Versorgungsprobleme von Mittellosen und Familien von arbeitslosen Arbeitern Ende der 1840er Jahre heran. Die Vorschläge zur Lösung der Subsistenzfrage zeichneten sich gegenüber anderen Strategien wie den Reserven durch einen gewissen Pragmatismus aus – es ging um »praktische Gegenmittel«,69 eine Orientierung an den Problemen vor Ort. Zugleich kam in den verschiedenen, in den 1850er Jahren beworbenen und vielfach nachgeahmten Modelleinrichtungen wie den Arbeiterrestaurants (société alimentaire) und den nur vorübergehend in akuten Teuerungsphasen eingerichteten und betriebenen Suppenküchen (fourneaux économiques) ein autoritärer, patriarchalischer Führungsanspruch gegenüber den Armen zum Tragen, der in den Kornspeicherprojekten 65 AN CHAN F 11 2759: Marolles, De la nécessité croissante des greniers d’abondance, S. 39. 66 AN CHAN F 11 2759: MACTP, dir. de l’agriculture, an: MACTP, dir. du commerce intérieur, Projet de société internationale de Docks-Magazins généraux et manutentions, 3.6.1864, S. 2. 67 Siehe Procacci sowie Gueslin, L’invention. Vgl. zum Prozess der Ausdifferenzierung bzw. der »Erfindung« der Sozialökonomie als »Kunst« der ökonomischen Empirie durch die Nationalökonomen auch Sage, S. 61–88. 68 Vgl. Broglie und Montreuil. 69 Grün, S. 25.

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in den Hintergrund trat, wenn er in deren Rahmen nicht sogar gänzlich unbedeutend blieb. Getragen und organisiert wurden diese Einrichtungen von karitativen katholischen Laien-Gesellschaften, wie etwa der Société Saint Vincent de Paul.70 In der Analyse der Konzeption der Konsumvereine und Suppenküchen und der sie umlaufenden Diskurse wird relativ schnell deutlich, dass es sich um Einrichtungen handelte, deren Zwecksetzung, äußere Darstellung und innere Ordnung bei aller Differenz im Detail bestimmte Vorstellungen von politischer und gesellschaftlicher Ordnung rationalisierten, mithin ein konservatives sozialpolitisches Programm entfalteten und verdichteten.71 So ordnete etwa Alphonse Grün die Konsumvereine und Suppenküchen in eine Reihe »praktischer Gegenmittel« ein, die der Moralisierung des Arbeiters, d. h. seiner Erziehung zu eigenverantwortlicher, vorausschauender Lebensführung dienen sollten. »Sparsamkeit und Voraussicht sind zwei Tugenden, die dem Arbeiter unbedingt zu vermitteln sind und ohne die seine Moralität und Wohlfahrt auf ewig unmöglich bleiben!«72 Dass die Möglichkeiten einer Erziehung zur Sparsamkeit gerade während der Teuerung begrenzt sein mussten, leuchtete auch Grün ein: »Sparen! Das ist leicht gesagt; wie soll jemand sparen können, der nicht einmal für seine täglichen Grundbedürfnisse aufkommen kann? Ist es nicht lächerlich, jemanden zum Einzahlen in die Sparkasse aufzufordern, der sein tägliches Brot nicht bezahlen kann?«73

Hier schloss sich eine grundlegende Unterscheidung an, die das Publikum dieser Einrichtungen betraf: Sie richteten sich gerade nicht an die Mittellosen, die von Teuerungen besonders betroffen waren. Diese konnte man nur »beklagen und ihr Leid lindern helfen«.74 Der Zweck der Konsumvereine und Suppenküchen erschloss sich vielmehr aus der Strategie, die Existenzbedingungen der arbeitenden Bevölkerung so zu verändern, dass ihre Möglichkeiten für sparsames und vorausschauendes Handeln vermehrt würden.75 Den Versorgungseinrichtungen war in diesem Rahmen die Aufgabe zugedacht, den Anteil für Lebensmittel am Haushaltsbudget der Arbeiterfamilien zu senken: »Damit der Arbeiter von seinem Lohn etwas zur Seite legen kann, muss er sich zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse Essen, Kleidung und Wohnung zu günstigen Preisen besorgen können.«76 Der gemeinsame Einkauf durch eine große Anzahl Personen, so Grün, sei ein »mächtiges Mittel der Sparsamkeit«77 und unbedingt zu 70 Vgl. hierzu Brejon de Lavergnée, sowie zum sozialkatholischen Armutsbegriff im 19. Jahrhundert allgemein Schneider u. Bircher. 71 Vgl. Lhuissier, Le restaurant sociétaire, S. 75–99. 72 Grün, S. 25. 73 Ebd., S. 26. 74 Ebd. Vgl. zum Umgang mit Mittellosigkeit und Armut in Frankreich und Westeuropa: Gueslin, Gens pauvres. Siehe Marec, Pauvreté als umfassende Studie über das Netz städtischer sozialer Hilfs- und Unterstützungsleistungen am Beispiel Rouen im 19. Jahrhundert. 75 Grün, S. 27. 76 Ebd., S. 35. 77 Ebd., S. 39.

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empfehlen. Anschließend stellte er eine Reihe von Konsumvereinen, Suppenküchen und ähnlichen Einrichtungen vor, die entweder von Industriellen in ihren Unternehmen für werksangehörige Arbeiter gegründet oder von unabhängigen Zweckvereinen betrieben wurden. Das präsentierte Spektrum reichte von der Einrichtung einer »Küche und von Öfen zur gemeinsamen Nutzung« in einem Seidenspinnereibetrieb in Ganges (Hérault) über unternehmerische Brotkassen im Elsass,78 den in den 1850er Jahren als Modelleinrichtung beworbenen Konsumverein in Grenoble79 bis zu der 1845 in Lille gegründeten Konsumgenossenschaft »Humanité«.80 Von allen diesen »Arrangements« versprach sich Grün nicht nur Effekte für die Senkung der Lebenshaltungskosten der Arbeiter, sondern auch für ihre Bildung, Erziehung und »Moralität«: Sie »unterwarfen den Arbeiter Regeln und Ordnungsgewohnheiten, die einen heilsamen Einfluss auf sein ganzes Verhalten haben«; sie »regten den Geist« des Arbeiters an, Mittel und Wege zur Verbesserung seiner Lebensbedingungen zu suchen, »um nicht die oft außergewöhnlich hohen Profite des Kleinhandels bezahlen zu müssen; unter den Arbeitern entstehe eine für die »Sitten förderliche Brüderlichkeit«; die Beteiligung an diesen Einrichtungen mache die »Arbeiter mit dem Verwaltungsbetrieb vertraut« und verschaffe ihnen »praktische Kenntnisse, die sie auf andere Unternehmungen übertragen« könnten; und schließlich verleihe die Beteiligung der »Existenz des Arbeiters mehr Stabilität«.81 Zahlreiche solcher Versorgungsvereine wurden im Jahr 1852 von der Verwaltung des Kaiserreichs jedoch aufgelöst. Sie hatten sich während der Teuerung und der Revolutionsphase zu Plattformen der politischen Kommunikation und Kontroverse entwickelt. Die Verwaltung achtete ab 1852 genau darauf, dass Neugründungen nur unter der Mitwirkung und Aufsicht lokaler Honoratioren stattfanden.82 Die beiden im Folgenden genauer analysierten Beispiele eines von Honoratioren initiierten Konsumvereins in Bourg, der Hauptstadt des Departements Ain im Osten Frankreichs (1), sowie des Suppenküchen-Modells von Pierre Klein (2), das in den Teuerungsphasen des Zweiten Kaiserreichs bis ins Jahr 1870/71 unter Mithilfe und Obhut der Société Saint Vincent de Paul weite Verbreitung fand83 und vom kaiserlichen Paar unterstützt wurde,84 zeigen, wie der äußere 78 Ebd., S. 40. 79 Ebd., S. 43. Vgl. Lhuissier, Le restaurant sociétaire. 80 Grün, S. 39–44. 81 Ebd., S. 40. 82 Vgl. etwa den Vorgang bzgl. des Konsumvereins im südostfranzösischen La Palud (BassesAlpes), 1848–1852 in AN CHAN F 11 2759. 83 So etwa in Brest in der Teuerung 1867/68, siehe AM Brest 1D2: Délibération du Conseil municipal/Session de Février 1868/Séance ordinaire du 10 février 1868, und in Rennes, siehe AMR 2Q4: Maire de Lille, an: Maire de Rennes, 23.12.1871. Vgl. auch das Beispiel in Nancy: Fourneaux économiques de la Société de Saint-Vincent-de-Paul à Nancy, in: Annales de la charité 9 (1853), S. 748. 84 Siehe Piétri, Préfet de police de paris, circulaire à MM. Les Commissaires de police de la ville de Paris et des communes du département de la Seine, 20.12.1855, in: Klein, S. 2.

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und innere Aufbau sowie die Funktionsweise dieser Einrichtungen eine bestimmte Vision der wohlgeordneten Gesellschaft, ein bestimmtes autoritäres Führungsverhältnis, eine bestimmte Art und Weise der assemblage (B. Latour) des Sozialen in eine konkrete, materielle Form brachte. (1) Das Arbeiterrestaurant von Bourg wurde 1855 nach einer Spendensammlung als Verein gegründet. Sein Zweck sei es, »seine Mitglieder und nur sie mit gesünderen, gehaltvolleren und billigeren Nahrungsmitteln zu versorgen, zum Verzehr entweder vor Ort oder zuhause, als sie sie anderswo bekommen können, selbst in ihren Familien«.85 Dabei ließen sich die Initiatoren, einige Honoratioren der Stadt, vom Vorbild des seit 1850 in Grenoble existierenden Konsumvereins inspirieren, der es der Publikationstätigkeit seines Vorsitzenden und Gründers Frédéric Taulier86 verdankte, dass sein Restaurant als Modell weit über die Stadt hinaus in Frankreich bekannt wurde.87 Man kann im Hinblick auf den Verein in Bourg zwei verschiedene Assoziationsweisen, zwei Techniken der Gesellschaftsbildung erkennen, die ineinander griffen und sich gegenseitig stabilisierten. Der Initiator des Vereins, Mitglied des Generalrats des Departements Ain, Armand Pihoret, stellte ihn als »gemeinsames soziales Sicherungswerk« vor, das darauf abzielte, einen möglichst großen Teil der arbeitenden Bevölkerung von Bourg einzubinden.88 Der Gründungsakt übersetzte allerdings eine bestimmte soziale Hierarchie der Stadtbevölkerung in die innere Ordnung des Konsumvereins. Mitglied konnte satzungsgemäß jeder werden, der sich mit einem bestimmten, monatlichen Geldbetrag beteiligte. Im Gründungsakt stellte ein Betrag von zehn Francs jedoch zugleich eine soziale Grenze dar: Wer bis zu zehn Francs einzahlte, wurde als »Mitgründer« bezeichnet, wer mehr als zehn Francs zahlte, als »Wohltäter«. Auf diese Weise war sichergestellt, dass das Verdienst der lokalen Honoratioren in der Masse der Vereinsmitglieder sichtbar blieb.89 Die räumliche Anordnung des Restaurants selbst zog aber noch einen weiteren Trennstrich. Neben den Essensausgaben für Mitglieder, die sich durch eine Mitgliedskarte ausweisen mussten, existierte ein weiterer Schalter für NichtMitglieder – wobei, wie Armand Pihoret an den Präfekten schrieb, an »die Mittellosen« gedacht worden war: »Unser Ziel war, die Mittelosen an den Wohltaten der Institution teilhaben zu lassen. […] Dieser Schalter wurde nun nicht ›Schalter der Mittelosen‹ genannt. Das Motiv dieser Bezeichnung dürfte leicht zu verstehen sein«.90 Im Gründungsakt des Vereins ist also eine dreifache ge­ sellschaftliche Hierarchisierung der Nutznießer auszumachen  – »wohltätige« 85 AN CHAN F 11 2759: Séance du 1er Février 1855 [association alimentaire], 1.2.1855. 86 Vgl. Taulier, besonders Kap. 3: Association alimentaire, S. 243–281. 87 Vgl. Rivière, A. 88 AN CHAN F 11 2759: Armand Pihoret, conseiller de préfecture, an: Coëtlogon, Préfet de l’Ain, 17.7.1855. 89 AN CHAN F 11 2759: Séance du 1er Février 1855 [association alimentaire], 1.2.1855. 90 AN CHAN F 11 2759: Armand Pihoret, conseiller de préfecture, an: Coëtlogon, Préfet de l’ain, 17.7.1855.

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Honoratioren, »mitgründende« Arbeiter, »mittellose« Nicht-Mitglieder. Die soziale Ordnung der Stadt wurde auf diese Weise in die Ordnung der Versorgungseinrichtung übersetzt. Pihoret stellte allerdings in einem Bericht über den Betrieb des Restaurants bald fest, dass der »Schalter der Nichtmitglieder« kaum genutzt werde. Sogar die mittellosen Konsumenten brächten die Summe von einem Franc auf, um sich Monatskarten zu besorgen, die sie in der Nutzung der Einrichtung (am »Schalter der Mitglieder«) mit den übrigen Nutzern gleichstellten: »So ist die Einrichtung zwar ein Verein, aber gleichzeitig erfüllt sie Aufgaben einer Wohlfahrtseinrichtung, die Mittellose unterstützt, sie also in ihren eigenen Augen erhebt und ihr Selbstwertgefühl nicht verletzt.«91 Die zweite Assoziationsweise war das Zahlungsmittel des Restaurants, die »jetons« genannten Essensmarken. Diese Jetons funktionierten gleichsam als materiales Konstruktionsmittel des Sozialen. Ihre Zirkulation stiftete den Zusammenhalt, sie verbanden die vor Ort Konsumierenden als Nutznießer miteinander, und über die Mitglieder banden sie sowohl Familien als auch Mittellose. Jetons wurden von der Verwaltung der Einrichtung nur gegen Vorlage der Mitgliedsausweise verkauft. Nichtmitglieder waren zwar vom Erwerb der Jetons, nicht jedoch von ihrem Besitz und Gebrauch ausgeschlossen. Dies »erlaubt karitativ tätigen Mitgliedern, eine unbegrenzte Zahl an Jetons zu kaufen und sie an bedürftige Familien zu verteilen, anstatt ihnen Geld auszuhändigen«.92 Mit dem Jeton in der Hand betrat man das Vereinsrestaurant, wählte auf der Karte im Zugangsbereich das Menu, stellte sich am entsprechenden Ausgabeschalter an und warf den Jetons in dafür vorgesehene Fächer eines Kastens, den der Aufsicht führende Angestellte des Vereins dort bereithielt.93 Mit dem Einwurf traf man seine Wahl unter den angebotenen Menüs und ermöglichte der Geschäftsführung zugleich im Nachhinein die Auswertung der jeweiligen Verzehrmenge. Die Ausgabe von Jetons sollte, analog zum gerade zitierten Fall der Ausgabe an Mittelose, verhindern, dass die Männer ins Wirtshaus gingen. Die Jetons waren also auch materielle Agenten der Erziehungsabsicht, an der sich die Gründer der Einrichtung orientierten. Sauberkeit der Räume und Gegenstände sowie Ruhe und Ordnung waren oberstes Gebot. »Der Titel Vereinsmitglied überträgt nicht nur ein Privileg, er beinhaltet auch Pflichten, deren erste und wichtigste es ist, sich im Restaurant anständig zu verhalten, die Ordnung nicht zu stören und keinen Streit und keine Zwistigkeiten hereinzutragen, die oft genug in den Kneipen stattfinden«.94

Im Restaurant wurden dennoch zwei Säle eingerichtet, einer für die männlichen Konsumenten, ein weiterer für die Familien. In der Vorstellung der Honoratioren war schon die jährliche Zahlung eines Mitgliedsbeitrags eine Hürde, die, 91 Ebd. 92 AN CHAN F 11 2759: Séance du 1er Février 1855. 93 AN CHAN F 11 2759: Armand Pihoret, conseiller de préfecture, an: Coëtlogon, Préfet de l’Ain, 17.7.1855. 94 AN CHAN F 11 2759: Séance du 1er Février 1855.

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wenn sie vom Arbeiter genommen wurde, mehrere »heilsame« Wirkungen haben würde. Erstens stellten sie sich vor, dass die Bindung des Arbeiters an die Einrichtung einen geradezu affektiven Charakter bekäme: »Der Arbeiter, der eine Karte kauft, wird den Verein fast als sein eigenes Werk betrachten. Er wird hier eintreten wie in sein eigenes Heim«;95 zweitens führe sie der Allgemeinheit der Arbeiter eindrücklich die Notwendigkeit des sparsamen, vorausschauenden Verhaltens vor Augen. »Zweifellos ist der von jedem Vereinsmitglied geforderte Jahresbeitrag recht gering. Aber er reicht aus, um denjenigen Personen, die eine Mitgliedschaft anstreben, zu zeigen, dass nur diejenigen das auch wirklich schaffen, die es verstehen, Geld zur Seite zu legen«.96

Aber noch ein weiterer Umstand sollte der Einrichtung einen »hochmoralischen Charakter« verleihen: »Die Frau wird von mehr als einer Sorge befreit und deshalb ihren Kindern und ihrem Haushalt mehr Zeit widmen; das ist die Emanzipation der Frau, die nicht der Leichtlebigkeit zugutekommt, sondern der Arbeit. Der Mann wird seine Familie umso mehr lieben, als sie nun von bestimmten, materiellen Notwendigkeiten befreit ist, die oft ­genug die moralische Erbauung verhindern«.97

(2) Die Einrichtung von temporären Suppenküchen war deutlicher an unmittelbar teuerungspolitischen Zwecken ausgerichtet als die auf Dauer angelegten Konsumvereine und Arbeiterrestaurants. Pierre Klein, der in einem Pariser Wohlfahrtsbüro mitarbeitete, systematisierte in einer 1856 erschienenen und über die Verwaltungshierarchie verteilten Broschüre die Erfahrungen, die in den Teuerungsjahren 1854/55 in Paris mit einem von ihm selbst angeregten und von der Polizeipräfektur koordinierten Massenversuch mit 68 über das Pariser Stadtgebiet verteilten Suppenküchen gemacht worden waren.98 Auch die Suppenküchen richteten sich an die Arbeiterbevölkerung. Die Mahlzeiten waren prinzipiell nicht kostenfrei, sondern wurden zu einem Einheitspreis von fünf Centimes abgegeben. Klein stellte allerdings auch Überlegungen dazu an, wie man Mittelose in den Genuss der Mahlzeiten bringen konnte. Der Verkauf von Bons zu einem etwas höheren Preis an wohltätige Personen, die diese dann nach Bedarf verteilen konnten, sollte außerdem das Budget der sich selbst finanzierenden Suppenküchen stützen.99 Die Kundschaft bestimmte auch die Ansiedlung – zu eröffnen waren Suppenküchen Klein zufolge am besten in der Nähe von größeren Betrieben und in Arbeitervierteln. Um den regelmäßigen Verkehr zu gewährleisten, sollten die Küchen unbedingt in Erdgeschossräumen eingerichtet werden. Pierre Klein hielt 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Klein. 99 Ebd., S. 19.

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eine Mindestgröße von sechs Quadratmetern für die Küche und zwölf Quadratmetern für den Verzehrraum sowie einen Keller als Lagerraum für notwendig. Zwischen Küche und Verzehrraum sollten mindestens zwei Durchreichen für die Essensausgabe existieren. Bei der Inneneinrichtung und Ausstattung der Räume empfahl Klein des Weiteren eine »gewisse Sorgfalt«: »Der Instinkt und die Sauberkeitsbedürfnisse entwickeln sich heute in allen Klassen; die bescheidensten Arbeiterrestaurants tragen diesen Bedürfnissen Rechnung und so muss man ihnen folgen, ja sie sogar übertreffen, wenn man die Bevölkerung in die Suppenküchen locken will«.100

Die Töpfe und Pfannen, aus denen die Portionen geschöpft wurden, sollten so aufgestellt werden, dass das Publikum sehen konnte, was es bekam, denn es gebe »ein gewisses Interesse daran, dass der Kontrolle des Publikums kein Detail der Austeilung entgehen kann«.101 Die räumliche Anordnung war darauf angelegt, ein großes Publikum innerhalb kurzer Zeit zu versorgen und durchzuschleusen, etwa in den Arbeitspausen der umliegenden Betriebe. Die Suppenküche verfügte deshalb nicht über­ Tische, an denen sich das Publikum niederlassen konnte, sondern lediglich über Bänke: Die Kunden hielten während des Essens ihre Töpfe und Teller in der Hand. Des Weiteren empfahl Klein aus »Gründen der Moralität«, die Öffnungszeiten dem Publikumsverkehr des Viertels anzupassen, sich nach den Arbeitsund Pausenzeiten der Betriebe zu richten und dafür Sorge zu tragen, dass sich Frauen mit Kindern zu anderen Zeiten versorgen konnten als die männlichen Arbeiter.102 Der Betrieb der Suppenküchen sollte Ordensschwestern übertragen werden, deren »Tugendhaftigkeit« eine Garantie dafür sei, dass der Betrieb ruhig und zuverlässig durchgeführt werde. Besondere Aufmerksamkeit widmete Klein der Diskussion des Menus der Suppenküchen, für das ein optimales Verhältnis zwischen den Preisen der verwendeten Lebensmittel, ihren Eigenschaften und den Ernährungsgewohnheiten der voraussichtlichen Kundschaft gefunden werden musste.103 »Notwendi­ gerweise müssen die zu verwendenden Lebensmittel in Fülle vorhanden, günstig und im allgemeinen Konsum weit verbreitet sein; ihre Zubereitung in warme Mahlzeiten muss überdies mit so wenig Aufwand wie möglich zu bewerkstelli­ gen sein«.104 Seine Beispielmenus hatten deshalb, wie Klein einschränkte, keine Allgemeingültigkeit. Vielmehr sollte das Menu an jedem Ort, an dem eine Suppenküche eingerichtet wurde, an Marktgegebenheiten und Konsumgewohnheiten angepasst werden. Eine wichtige moralisierende Einschränkung für die Zusammenstellung des Menus gab es dennoch. 100 Ebd., S. 9. 101 Ebd., S. 24. 102 Ebd., S. 20. 103 Ebd., S. 9–20. 104 Ebd., S. 10.

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»Wenn man den Arbeiter nicht an unvorsichtiges Verhalten gewöhnen will, muss die Unterstützungsleistung so zusammengestellt werden, dass er von sich aus bereit ist, darauf zu verzichten, sobald er sie nicht mehr unbedingt braucht. Dieses Ziel erreicht man unweigerlich, wenn man ihm in den Suppenküchen günstige Nahrung anbietet, die zwar gesund und gehaltvoll ist, jeglicher Verfeinerung jedoch entbehrt«.105

In Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Teuerung oder allen Phasen, in denen der Arbeiter »zur Sparsamkeit gezwungen« sei, so Klein, gebe er sich mit Essen zufrieden, »das zwar seinen Hunger befriedigt, nicht jedoch seinen Appetit anregt«. Sobald er es sich wieder leisten könne, kehre er zu einer »vielleicht weniger gesunden«, aber dafür seinen Geschmack befriedigenden Nahrung zurück.106 Darin finde die Einrichtung der Suppenküche »ihr eigenes Korrektiv«.107 Mit der strategischen Wahl eines zwar nahrhaften, aber nicht unbedingt wohlschmeckenden Angebots sollte sich die Suppenküche sobald wie möglich wieder überflüssig machen. Sicherlich war die Diskussion über Lösungswege der Subsistenzproblematik breiter als hier dargestellt. Allerdings sind mit den beiden meistdiskutierten Ansätzen, der Kornreserve und dem Arbeiterrestaurant, die Gravitationszentren dieser Debatten erfasst, die vom Ende der 1840er Jahre bis zum Ende der 1850er Jahre geführt wurden und den Rahmen der Kontroverse bis zum Ende der 1860er Jahre bestimmten. Das Programm der Reserven war bereits im 18. Jahrhundert entstanden und fand unter Nationalökonomen und Verwaltungsfachleuten kaum noch Unterstützung. Es fokussierte die Organisation der Güterdistribution und die Regulierung der Preise. In den meisten – nicht in allen – Projekten wurde die Existenz des Privateigentums und die Freiheit des Marktes nicht angetastet, aber gegenüber dem Kornhandel ein Mechanismus in Stellung gebracht, der die Versorgung sowohl durch die Regulierung der Warenmenge als auch durch die Dämpfung der Preisamplitude stabilisieren sollte. Diese Strategie kann im Anschluss an Jürgen Link als eine Strategie der Normalisierung bezeichnet werden: Sie kalkulierte mit realen, an Markttagen erzielten Preisen, sie legte diese nicht fest wie etwa die behördliche Brottaxierung. Deshalb war sie zwar im Prinzip konform mit dem von den Nationalökonomen beschworenen Gesetz von Angebot und Nachfrage. Dennoch galten die Reserven selbst bei ihren Verfechtern wie Gleizes als »radikale Lösung«.108 Das andere Programm war in den Grundzügen ein post-revolutionäres Programm. Es entstand in den 1830er Jahren im Rahmen der von christlichen Sozialökonomen entworfenen, konkreten Lösungen der Sozialen Frage und nicht

105 Ebd. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 AN CHAN F 11 2759: Gleizes, Etude sur la question des subsistances, S. 8.

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mehr der Subsistenzfrage des Ancien Regime. In den Konzepten des Konsumvereins und der Suppenküchen ging es um pastorale Führungstechniken, um die Ansprache an das Gewissen des männlichen Arbeiters, an sein Gefühl der Verantwortung für sich selbst, für die Familie und die Gesellschaft, um die Bildung letztlich nicht nur eines tugendhaften Gesellschaftsmitglieds, sondern auch eines tugendhaften Konsumenten, der dem Alkohol entsagte, sparsam und vorausschauend handelte und sich gesund ernährte. Dass er in den Restaurants der Vereine und den Suppenküchen für sein Essen bezahlen musste, war nicht nur folgerichtig, sondern sogar eminent wichtig, denn so sollte er zu Sparsamkeit und Selbstsorge erzogen werden. Es war ein Programm, das die 1848 sichtbar gewordene Spaltung der Gesellschaft in eine Klasse der Besitzenden und eine Arbeiterklasse aufheben sollte – freilich mit den Mitteln des moralischen Vorbilds und der autoritären Führung.

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III. Der ›gefährliche‹ Subsistenzmarkt. Politisierungsprozesse und Entpolitisierungsversuche der Behörden in der Kornteuerung Mitte der 1850er Jahre

Im Spätsommer des Jahres 1853 registrierten die Behörden in Frankreich nach einer Phase der Baisse erneut einen deutlichen Anstieg der Kornpreise. In der Regel gingen die Preise zur Erntezeit zurück, weil mit dem neuen Korn auch Lagerbestände aus den Vorjahren auf die Märkte gebracht wurden, dort für ein Überangebot sorgten und die Preise entsprechend verfallen ließen. Die im Jahr 1853 einsetzende Teuerung hielt jedoch mit leichten saisonbedingten Abschwüngen in den Jahren 1854, 1855 und 1856 an und ging erst im Jahr 1857 signifikant zurück.1 Die Verwaltung versetzte dieser Anstieg im Spätsommer 1853 in erhöhte Alarmbereitschaft. Waren Preissprünge im Kornmarkt für Regierungen grundsätzlich ein Grund zur Sorge, kamen in der Konstellation Mitte der 1850er Jahre einige besondere Faktoren hinzu, die diese Teuerung – je länger sie andauerte, desto stärker – nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für Politik, Regierung und Verwaltung zu einem existenziellen Problem werden ließen. Im Jahr 1853 befand sich das Zweite Kaiserreich gerade erst in der Konsolidierungsphase. Nach der gewaltsamen Niederschlagung der Februarrevolution 1848, der Auflösung der Zweiten Republik mit dem Staatsstreich durch den Prince-Président Louis-Napoléon am 2.  Dezember 1851, nach dem Feldzug gegen Aufständische im Landesinneren im Verlauf des Jahres 1852 und der Krönung Louis-Napoléon Bonapartes zum Kaiser Napoléon III. Anfang Dezember 1852,2 nach den Massendeportationen von Revolutionären und Aufständischen in die Bagnos von Algerien und Südamerika kam die Korn­teuerung im Spätsommer 1853 für das neue Regime alles andere als gelegen. Zudem war die Erinnerung an die vorausgehende Kornteuerung der Jahre 1846/47 noch überaus präsent. In vielen betroffenen Kommunen waren die hohen Korn- und Brotpreise mit Protesten der Bevölkerung und sogar Aufständen einhergegangen. Die in lokalen Medien und Versammlungen geführten Diskussionen über die dringende Subsistenzfrage hatten einen landesweiten »Resonanzboden«3 gefunden, zu einer Legitimationskrise der Julimonarchie verdichtet und schließlich der Pariser Februarrevolution von 1848 Vorschub geleistet. 1 Labrousse u. a. 2 Houte, S. 223–240; Merriman. 3 Bourguinat, Grains, S. 445.

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Vor diesem Hintergrund stellte die Teuerung für die Repräsentanten des neuen imperialen Regimes eine Bedrohung dar. In diesem Abschnitt wird genauer untersucht, wie die Justiz- und die Innenbehörden auf das Problem reagierten. Sozial- und wirtschaftsgeschichtlich sind in der Forschung Parallelen und Kontinuitäten der behördlichen Reaktion auf frühere Subsistenzkrisen herausgearbeitet worden. Insbesondere die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umstände der Kornteuerungen von 1846/47 und 1853–1856 sind aufgrund großer Ähnlichkeiten in der repressiven und wirtschaftspolitischen Reaktion der Behörden zu einer »Krise der Jahrhundertmitte« zusammengefasst worden.4 In politikgeschichtlicher Perspektive stehen im Folgenden jedoch die kommunikativen Prozesse zwischen Behörden und Bevölkerung im Zentrum des Interesses. Die Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Kommunikation über die Bevölkerung so unmittelbar betreffende Themen wie die Subsistenzfrage änderten sich mit dem Zweiten Kaiserreich nämlich grundlegend, so die These. Das imperiale Regime behielt nicht nur das während der Zweiten Republik eingeführte allgemeine Männerwahlrecht bei. Napoléon III. ließ sich darüber hinaus mit dem Instrument des Plebiszits im Jahr 1851 direkt vom Volk legitimieren.5 Welche Auswirkungen hatte die tiefgehende »Politisierung«, die mit der Einführung des Wahlrechts, den sukzessive stattfindenden Wahlen und Abstimmungen Ende der 1840er und zu Beginn der 1850er Jahre auch in entlegenen Provinzen stattgefunden hatte,6 auf die Behandlung des Teuerungsproblems in den Behörden des Zweiten Kaiserreichs? Und mit Blick auf die bisher vorwiegend behandelten repressiven Aspekte: welche produktiven Effekte hatte die diskursive Praxis der Behörden für die Ordnung des Sozialen? Diese Frage wird im Folgenden auf zwei Ebenen untersucht. Im ersten Abschnitt steht die obere Justizverwaltung im Mittelpunkt. Grundlage sind drei voluminöse Akten, die im Justizministerium über die Teuerung zwischen 1853 und 1857 entstanden und in denen die umfangreiche Korrespondenz zwischen Justizbeamten vor Ort, Staats- und Oberstaatsanwaltschaften, den Ministerialbüros der Gnaden- und der Kriminaldirektion, sowie des Justizministeriums mit anderen Ministerien abgelegt wurde.7 Säuberlich nach Gebietsressorts der 4 Vgl. Labrousse; Price, Poor relief. 5 Vgl. den differenzierten Überblick bei Bluche. 6 Die Literatur ist weitläufig, vgl. für einen vergleichsweise frühen Überblick: Hincker; außerdem Pécout; Agulhon, 1848, S. 73–75. Für eine Betrachtung in der longue durée Mayaud, Les dynamiques, S. 280–301; für das Finistère Le Gall, L., L’électeur. 7 AN CHAN BB 30 432, 433 und 434. Auch die Bearbeitung in den Büros des Ministers ist teilweise dokumentiert. Die Justizverwaltung war im Hinblick auf ihre Gebietsressorts anders gegliedert als die Innenverwaltung. Während jedes Departement über eine Präfektur und einen Staatsanwalt (procureur impérial) verfügte, gab es in der Justizverwaltung zwischen dem Departement und der Ministerialverwaltung in Paris eine Zwischenebene – die Oberstaatsanwaltschaften (procureur général), denen jeweils mehrere Staatsanwaltschaften zugeordnet waren. Auf der untersten Ebene teilten sich die Justizverwaltung und die Innenverwaltung jedoch Beamte – die Polizeikommissare (commissaires de police), die von den Staatsanwaltschaften als Hilfskräfte bei der Strafverfolgung requiriert werden konnten. Auf der Ebene

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Oberstaatsanwaltschaften geordnet und nach Staatsanwaltschaften untergliedert, ergeben diese Akten und die in ihnen enthaltenen Schriftstücke einen seriellen, in seinen Produktionsbedingungen homogenen Diskurs, auf dessen Grundlage die diskursive Praxis der Justizverwaltung und die Ordnung des von ihr produzierten Wissens über die Teuerung rekonstruiert werden kann.8 Im zweiten Abschnitt wird jenseits dieses landesweiten Panoramas am Beispiel der Gebietsverwaltung des westbretonischen Departements Finistère untersucht, wie die Innenbehörde am Ort auf das Teuerungsproblem reagierte. Der im äußersten Nordwesten Frankreichs gelegene, überwiegend ländlich geprägte Landstrich an der Atlantikküste war von der Kornteuerung besonders betroffen, da zur Nachfrage aus der örtlichen Bevölkerung die der englischen Handelshäuser und der Brester Marinegarnison hinzukam. Die Archive des Departements und der Stadt Brest bieten hierzu außerordentlich reichhaltiges Material. Mit der Kombination dieser beiden Ebenen und Perspektiven wird der Versuch unternommen, die behördliche Praxis in der Versorgungskrise in ihrer Vielgestaltigkeit auszuleuchten und vor allem auf ihre für die Formierung des Sozialen produktiven Aspekte hin zu befragen. Die Frage ist deshalb nicht so sehr, welche Praktiken unterdrückt, sondern welche ermöglicht wurden und zur Konstruktion eines ›tugendhaften Subsistenzmarktes‹9 beitrugen.

1. Politisierungsprozesse: das Teuerungsproblem zwischen Justiz und Bevölkerung In ihren regelmäßigen Lageberichten an den Justizminister mobilisierten die Oberstaatsanwälte auf der Grundlage von Meldungen aus den einzelnen Staatsanwaltschaften Wissen über aktuelle Kornpreise, über die Kornernte, Einschät­ zungen der bei den Bauern und Händlern vorhandenen Vorräte, über die Versorgungssituation der Märkte, die Beschäftigungssituation bzw. Arbeitslosigkeit der Arbeiter, über die Lage der politischen Strömungen und Parteien und verknüpften sie mit Einschätzungen über die Stimmung in der Bevölkerung zu Aussagen über die zukünftige Verbesserung oder Verschlechterung der Geder Staatsanwaltschaften waren zudem Ermittlungsrichter (juge d’instruction) platziert; die Bezirke verfügten des Weiteren über Friedensrichter (justice de paix). Aufgrund dieser Positionierung zwischen der Ebene der Departements und der Zentralverwaltung hatten die Oberstaatsanwälte ein größeres Ressort im Blick als die Präfektoralverwaltungen: Nicht nur einzelne Departements, sondern zwischen drei und fünf Departements – mithin ganze Regionen. Zur Geschichte der Justiz in Frankreich, insbesondere im 19. Jhdt., vgl. Farcy; zur Organisation der Justizverwaltung: Durand-Barthez; zur Rechtsprechung: Rouet; für eine Fallstudie zur Justizverwaltung in der Provinz im hier betreffenden Zeitraum siehe Bernaudeau. 8 Auf diese Berichte stützt sich ein Großteil der bisherigen Forschung zu den Subsistenzprotesten der 1850er Jahre, siehe vor allem Price, Techniques; ders., Poor relief; Miller. 9 Vgl. Thompson, V. E., S. 86–130.

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samtsituation.10 Eine Häufung der Berichte über Vorkommnisse, die mit der Teuerung in Verbindung gebracht wurden, ist aus den nord-, nordwest- und vor allem westfranzösischen Gebietsressorts festzustellen. Die umfangreichsten Dossiers bildete die Korrespondenz des Ministeriums mit den Oberstaatsanwaltschaften in Rennes (mit den Staatsanwaltschaften der Departements Côtes du Nord, Finistère, Loire inférieure, Morbihan, Ille et Vilaine), Poitiers (Charente inférieure, Vendée, Vienne, Deux-Sèvres), Angers (Maine et Loire, Mayenne, Sarthe), Limoges (Haute Vienne), Bordeaux (Charente, Dordogne, Gironde) und Rouen (Eure, Orne).11 Andere, vor allem südfranzösische Departements fehlten in der Berichterstattung dagegen völlig. Aus dieser geographischen Verteilung und lokalen Verdichtung der Berichte den Schluss zu ziehen, dass die Versorgungskrise in diesen Regionen besonders zugespitzt verlief, wäre jedoch voreilig. Der Umfang der Korrespondenz ist zunächst vor allem ein Hinweis darauf, welche Bedeutung die Oberstaatsanwälte selbst der Subsistenzfrage in Bezug auf die politische Lage beimaßen. Die durch entsprechende Instruktionen des Ministers von Januar 1854 gesteigerte Aufmerksamkeit der unteren Justizbehörden senkte nämlich die Relevanzschwelle für solche Vorkommnisse.12 Auch wenn es mit Protesten, Festnahmen, Strafverfolgung, Ermittlungen und Gerichtsprozessen konkrete Anlässe dafür gab, einen Bericht an die nächst höhere Behörde zu senden, lösten sich die ursprünglich den Anlass bietenden Ereignisse in einer Vielzahl von Bezügen, 10 So schickte der für die Ille-de-France zuständige Staatsanwalt, Meynard de France, im Frühjahr 1854 eine selbst für die ausführlichen Lageberichte außergewöhnlich umfangreiche Studie, in der die Situation in jedem einzelnen Kreis (canton) eingehend untersucht wurde. Dabei hatte er sich freilich auf Vorarbeiten seiner Staatsanwälte gestützt, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, 4.3.1854. Der Minister dankte für die »zahlreichen genauen Informationen dieser mit soviel Methode angefertigten bemerkenswerten Arbeit und überstellte eine Kopie an das Innenministerium«, siehe ebd.: MJ, an: PG de Paris, Rapports sur la situation des classes ouvrières à l’occasion de la cherté des subsistances, 22.3.1854. Der vergleichsweise wortkarge Dank des Direktors der Sicherheitsabteilung im Innenministerium ist ebenfalls dokumentiert, siehe ebd.: directeur de la sûreté genérale, an: MJ, renvoi de documents relatifs à la situation des classes ouvrières, 7.4.1854. Vgl. auch ebd.: PG de Poitiers, an: MJ, subsistance – situation morale et politique du ressort – rapport, 12.4.1854; PG de Douai, an: MJ, [Lagebericht], 31.1.1854; PG de Rouen, an: MJ, 13.9.1854; AN CHAN BB 30 433: PG d’Agen, an: MJ, politique. question des subsistances, 14.8.1855. 11 Außerdem: Metz, Amiens, Dijon, Orléans, Toulouse, Caen, Bourges, Besançon, Douai (Pas de Calais, Nord), Paris, Aix en Provence, siehe AN CHAN BB 30 432, 433 und 434. 12 Einzelne Rechtsaffären sollten einer Instruktion von Januar 1853 zufolge in den Berichten zur politischen Lage nur dann dargestellt werden, wenn sie zur Erläuterung der Lage beitrugen. Ansonsten waren sie in Sonderberichten zu melden, siehe AN CHAN BB 30 367 816 A: Abatucci, an: procureurs généraux, Rapports politiques semestriels – circulaire, 31.1.1853. Im Januar 1854 gliederte der Minister aus dieser kontinuierlichen Korrespondenz die Meldung von Vorkommnnissen aus, die mit der Subsistenzfrage in Verbindung gebracht wurden, siehe AN CHAN BB 30 432: MJ, an: PG de Rennes, Troubles à Quimper à l’occasion des subsistances, 25.1.1854; MJ, an: PG de Douai, demande de renseignements sur les faits relatifs à la cherté des subsitances, 25.2.1854; MJ, an: PG d’Amiens, Crise des subsistances, 26.1.1854.

78

Details und Kontextinformationen nahezu auf. So macht die Schilderung von mitunter gewalthaften Protesten in den Jahren 1853 bis 1857 nur einen Bruchteil der von den Berichten und der Korrespondenz insgesamt gebildeten Textmasse aus. Die Analyse der Umstände und Ursachen, der Tendenzen und Stimmungen stand für die Justizbeamten im Vordergrund. Auf sie stützten sie ihre Einschätzungen und prognostischen Aussagen über die wahrscheinliche Entwicklung, an die wiederum spezielle Maßnahmen und Praktiken der Vorbeugung oder Repression anknüpfen konnten. Die Vorkommnisse, über die sie berichteten, sind auch deshalb kaum von der politischen Semantik und den Rechtsbegriffen zu trennen, mit denen sie bezeichnet wurden. Die folgende, nicht vollständige Liste enthält zwar die wichtigsten Begriffe und Wörter, gibt aber weder Auskunft über ihre tatsächliche Häufigkeit noch über das Geschehen, das sie in den Berichten konkret bezeichneten: ­»Koalitionen«,13 »Aufruhr«,14 »Unruhe«,15 »Diebstahl« bzw. »bewaffneter Raub«,16 »Demonstration«,17 »Plünderung« bzw. »Aufruf zur Plünderung«,18 »aufrührerische Plakate«,19 »aufrührerische Reden«,20 »Aufruf zum Hass der Bürger untereinander«,21 »Brandstiftung«,22 »falsche Nachrichten«,23 »Betrug« bzw. »betrügerische Manöver«,24 »Fälschung«25 und »Täuschung«.26 13 Vgl. AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crises des subsistances/coalitions d’ouvriers/menaces de mort, 24.1.1854; PG de Poitiers, an: MJ, coalition des boulangers de Poitiers, 21.9.1854; ebd.: Gendarmerie impériale, 10e légion, compagnie de la Charente, arr. de Cognac, n° 259: coalition des boulangers de la Ville de Cognac, 17.8.1854. 14 Vgl. AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, [émeute à Josselin], 4.2.1854; ebd.: PG de Poitiers, an: MJ, cherté des grains, émeute de femmes en Vendée, Rohan, 21.9.1853. 15 Vgl. AN CHAN BB 30 432: PG de Rouen, an: MJ, [troubles qui ont éclaté ce lundi 11 sept. à Bolbec, et le mercredi 13 sept. à Lillebonne à l’occasion du prix du blé], 18.9.1854. 16 Vgl. AN CHAN BB 30 432: MJ, an: PG de Limoges, vols avec violence – instructions au s­ ujet d’un lieutenant de gendarmerie, 29.11.1853. 17 Vgl. AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, 27.1.1854. 18 Vgl. AN CHAN BB 30 432: Avocat général de Bordeaux, an: MJ, 3.2.1854. 19 Vgl. AN CHAN BB 30 433: PG de Poitiers, an: MJ, Placard séditieux [à Beaulieu-Sous-­ Napoléon], 4.11.1855; PG de Poitiers, an: MJ, placards séditieux, 16.2.1856; PG d’Agen, an: MJ, 4.5.1857. 20 AN CHAN BB 30 433: PG d’Orléans, an: MJ, [cris séditieux beim Aushang der Brottaxe in Cellettes (Loir et Cher)], 5.11.1855. 21 Vgl. AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 13.12.1853. 22 Vgl. AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, 20.1.1854; PG de Bordeaux, an: MJ, 2.8.1854; AN CHAN BB 30 433: PG d’Amiens, an: MJ, 17.1.1855. 23 Vgl. AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, [Urteil], 24.7.1854. Die Vorgänge und Verfahren zu »falschen Nachrichten«, also Gerüchten, wurden in einer separaten Akte abgelegt, siehe AN CHAN BB 30 434: Jugements et arrêts sur les poursuites relatives à la cherté des subsistances 1853–1854. 24 Vgl. AN CHAN BB 30 433: MJ, an: PG d’Amiens, 11.10.1855; Martinet, PI de Marseille an: PG d’Aix, 17.2.1855; AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 7.11.1853. 25 Vgl. AN CHAN BB 30 433: PG de Caen, an: MJ, subsistances, 2.6.1856; PG de Rennes, an: MJ, 13.10.1855. 26 AN CHAN BB 30 432: PG d’Amiens, an: MJ, 28.1.1854; PG de Rennes, an: MJ, 9.2.1854.

79

Der anschwellende Informationsfluss aus den Ressorts stellte die Büros des Ministeriums jedoch vor ein ganz praktisches Problem. Sie reagierten darauf mit bewährten Techniken der Informationsverarbeitung.27 Im Prozess der Auswertung von hunderten Berichten entstanden in der Kriminalabteilung zunächst zwei verschiedene Register, in die, nach Ressorts und Departements geordnet, Exzerpte eingetragen wurden.28 Erfasst wurden dabei nur Nachrichten über Vorfälle zwischen September 1853 und Februar 1854, weil man danach die Krise für beendet hielt.29 Anschließend erstellte ein Mitarbeiter auf der Grundlage des ersten Registers Ende März 1854 eine »tabellarische Übersicht« (tableau comparatif ), die auf ein einziges großformatiges Blatt passte. Dafür wurden die aus den Berichten exzerpierten Vorkommnisse des Registers codiert, d. h. »schwerwiegende Vorfälle« (faits graves) von anderen, unbestimmt bleibenden Ereignissen unterschieden, für jedes Ressort, Departement und jeden Monat separat gezählt, mit roter Tinte hervorgehoben und pro Monat bzw. pro Departement summiert. Kleine Querstriche am rechten Rand markierten die vier Departements, in denen in der Summe die meisten Vorfälle stattgefunden hatten. Diese tabellarische Übersicht qualifizierte und quantifizierte Vorkommnisse in den Ressorts und machte Häufigkeiten ihres Auftretens nach Ort und Zeit vergleichbar. Justizminister Abatucci konnte so mit einem schnellen Blick überschauen, welche Gegenden und Orte in der Teuerung von Protest besonders betroffen waren – und welche nicht. Tatsächlich war die Tabelle als Grundlage für Kabinettsberatungen des Ministers vorgesehen.30 In technischer Hinsicht stand das Papier mit der Tabelle nicht nur für die Distanz, die zwischen den Vorfällen in kleinen Provinzorten und den Schreibtischen der Ministerialbürokratie lag. Die Realität der Proteste war denkbar weit entfernt von diesen Orten der Zentralverwaltung. Zugleich erhielten die Vorfälle aufgrund der Übersetzungsprozesse, die zwischen den realen Vorfällen und den Daten lagen, eine eigentümliche, materiale Wirklichkeit, wurden sie für die Beamten in Paris doch erst durch die Selektion, Verdichtung und Transformation in Tabelleneinträge konkret. Man könnte deshalb sagen, dass die Vorfälle in diesem Prozess der Diskursivierung (staatsanwaltschaftliche Berichte) und 27 Vgl. Vismann, S. 205–216; Becker u. Clark; allgemein zur Statistik und ihren Werkzeugen: Desrosières u. Kott; Desrosières, L’argument statistique (Bd. 1). 28 Das eine Register trug die Aufschrift »troubles« (Unruhen), das andere den Titel »Urteile« (jugements), siehe AN CHAN BB 30 432: o.A., Jugements et arrêts rendus dans les pour­ suites relatuves à la cherté des subsistancs en 1853–1854. 29 »Nota: Auszüge des tableaus wurden für den Minister am Ende der Monate Dezember 1853, Januar, Februar und März 1854 gemacht. Nach April nicht mehr, da die Subsistenzkrise beendet war«, siehe AN CHAN BB 30 432: o.A., Trouble à l’occasion de la cherté des subsistances en 1853–1854 [unpag.], S. 2. 30 »Der Herr Justizminister begibt sich nächsten Samstagvormittag nach Fontainebleau. Die Tabelle zur Subsistenz, welche die Monate September, Oktober und November umfasst, muss ihm – fehlerfrei – bis Freitagabend übergeben werden« AN CHAN BB 30 432: Le Marché, an: Guyot, chef du 1er bureau de la division criminelle, o. D. [Dezember 1854].

80

Epistemisierung (Tabellierung) ihre Wirklichkeit nicht verloren, sondern sich diese Wirklichkeit selbst wandelte.31 Für die Informationsverarbeitung gab es eine konkrete Instruktion, eine Skizze der Rubriken, die bestimmte, dass neben den oberstaatsanwaltlichen Ressorts, den Departements, den Perioden (Monate) ein besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt werden sollte (observations), ob 1846/47 ähnliche Vorfälle stattgefunden hatten: »In dieser Spalte die Erwähnung von Vorfällen in 46– 47 nicht vergessen«.32 Der Bearbeiter der Exzerpte trug solche Bezüge mit roter Tinte in das Register zu »Unruhen« ein.33 Die Vorfälle der Teuerung 1853/1854 wurden also explizit auf die Teuerungsphase am Ende der Julimonarchie bezogen – ein erster Hinweis darauf, dass dieser Vorgeschichte auf höchster ministerieller Ebene erhebliche Bedeutung beigemessen wurde. Wie in der Berichtskommunikation insgesamt fehlten in der Tabelle einige Ressorts und Departements. Sie führte nur solche auf, für die überhaupt entsprechende Nachrichten vorlagen. Vor diesem Hintergrund wies die Tabelle mithilfe des Codes »schwerwiegend« und einer quantifizierenden Ziffer bestimmte Regionen als Brennpunkte des Subsistenzprotests aus. Die Bewertungskriterien, nach denen Vorfälle als »schwerwiegend« (oder nicht) sortiert wurden, blieben dagegen implizit. Annäherungsweise kann versucht werden, sie anhand eines Vergleichs zwischen den Datenreihen, den Registereinträgen und den Berichten zu rekonstruieren. So verzeichnete die Tabelle für die fünf Departements des Gerichtsbezirks Rennes 23 Vorfälle, von denen 14 als »schwerwiegend« markiert waren. Allein für das Departement Finistère waren es fünf Vorfälle, die alle als »schwerwiegend« galten: »Zusammenrottung und aufrührerische Rufe unter den Fenstern der Kornhändler« in Quimperlé (3. September 1853); »in Concarneau wollten sich einige Individuen der Beladung [eines Schiffes, d. Vf.] mit Korn widersetzen« (10. August 1853); »Behinderung des Kornverkehrs durch Gruppen, die zum Großteil aus Frauen und Kindern bestanden, Versuch der Kornplünderung« in Quimperlé (16. Januar 1854); »Demonstration einer Ansammlung von Arbeitern auf dem Markt von Landerneau gegen die Müller und ihre Agenten« (28. Januar 1854); »Täuschung über die Menge und Qualität des verkauften Brotes durch den Bäcker Abolivier« in Brest (11. Januar 1854).34 Bis auf den Mehlbetrug handelte es sich also um Vorfälle, an denen öffentlich handelnde Menschenmengen beteiligt waren. Manifeste Protestgewalt ist dabei nur bei zwei Vorfällen greifbar. Weder Mengenbildung in der Öffentlichkeit noch manifeste Protestgewalt scheinen in diesem Fall als alleinige Merkmale für die 31 Anders gesagt: die Referenz zwischen Protest und behördlicher Kommunikation stellte die Invariante in diesem Übersetzungsprozess dar, vgl. Latour, Referenz, S.  75–95, vgl. auch Desrosières, How Real. 32 AN CHAN BB 30 432, o.A., [handschriftliche Skizze der Tabellenform]. 33 Siehe z. B. AN CHAN BB 30 432: o.A., Trouble à l’occasion de la cherté des subsistances en 1853–1854 [unpag.], S. 45. 34 Ebd., S. 54.

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Tab. 1: Tableau comparatif, indiquant par mois le nombre et la gravité des faits porté jusqu’à ce jour, s.d. Nota: les faits les plus graves sont indiqué à l’encre rouge (AN CHAN BB 30 432) Cours

Départements Sept. 1853

Angers

Maines et Loire

Oct. 1853

1

Déc. 1853

Janv. 1854

Févr. 1854

1

Oise Besançon

Doubs Charente

Bourges

2 1 1

Bas-Rhin

Dijon

Haute Marne

2

1

1

2 5

1

1

2

1

3

4

3

7

1

8

9

1

1

2

1

3

2

1

1 1 1

1

1

1 1

Nord

1

Isère

1

1

4

1

2 1

5

1

Corrèze

1

Creuse

1

1 1 1 2

Haute Vienne Metz

Ardennes

1

Moselle

1

Mont­ pellier

Aude

Nancy

Meurthe

2

Meuse

2

82

2

1

1

1

Pas de Calais Limoges

1

1

Saône et Loire

Grenoble

1

1

Orne

Douai

1

1

Nièvre

Colmar

1

1

1

1

2 1

1

Indre Manche

1

1

Cher

Caen

1

1

Dordogne Gironde

3

1

Aisne

2

1

2

3

1

3

1 2

2 1

1

1

Total ­ général par Département

2

1

Sarthe

Bordeaux

Totaux

1

2

Mayenne Amiens

Nov. 1853

5

1

1

4

4

1

1

1

1

1

2

1

1

1

3

2

7

1

1

1

4 3

7

12

1

1

1

1

1

1 2

2

3

3

Cours

Départements Sept. 1853

Nîmes

Ardèche

Paris

Indre et Loire

1

Total ­ général par Département 2 (sic)

3

3

1

1

4

4

4

4

4

4

2

2

6

6

4

4

Aube

2

Marne

4

2 2

1 1 1

1 3

Côtes du Nord Finistère

1

1

Charente ­ Inférieure

1

3

1 2

1

2

1

2

Deux-Sèvres

1

2

3

1 6

2

6

4

10

1

3

7

6

13

2 1

1

4

6

10

2 3

2 1

1

Ille et Vilaine

2

Loire ­ Inférieure

1

2

8

1

1

3

5

2

2 1

Morbihan

2

1

1

4

Puy de Dôme

1

Eure

5 4

3

3

6

2

8

1

1

2

1

1 1

1

1

1

2

3

3

6

8

2

2

3

2

2 11 26 9 21 11 24 11 13 28 21 7 6 30

35

24

49

1 1

1

1

Tarn et ­ Garonne

3

2

1

Haute ­ Garonne

37

2

1

1

Ariège

Tarn

8

1

1

Seine ­ Inférieure Toulouse

Totaux

Loiret

Vienne

Rouen

Févr. 1854

Loir et Cher

Vendée

Riom

Janv. 1854

1

Seine et Oise

Rennes

Déc. 1853

3

Seine et Marne Poitiers

Nov. 1853

1

Gard Orléans

Oct. 1853

13

77 111 188

188

83

Markierung als »schwerwiegend« ausgereicht zu haben. Etwas deutlicher tritt dieses Kriterium allerdings in der Prüfung der insgesamt 41 Vorfälle (davon 16 »schwerwiegend«) hervor, welche die Tabelle für die vier zum Ressort der Oberstaatsanwaltschaft Poitiers gehörenden Departements verzeichnete.35 In mindestens 15 Registereinträgen waren Vorfälle verzeichnet, in denen es um Formen manifester Gewalt ging. An zehn Vorkommnissen wurde die Beteiligung von »Bettlerbanden« unterstellt (nächtliche Erpressung von Lebensmitteln, Brandstiftung), in sechs weiteren war es zu Übergriffen auf Kornhändler oder Kornlieferungen gekommen. Diesen beiden Gruppen standen zwölf Fälle von »aufrührerischen Reden« oder Plakaten gegenüber, zwei von »Arbeiterkoalition« und in fünf Fällen wurde das Verhalten von Bäckern inkriminiert. Es spricht also viel dafür, dass die Feststellung manifester Gewalt zur Codierung eines Vorfalls als »schwerwiegend« führte, auch wenn dieses Kriterium nicht in allen Fällen stichhaltig ist. Es gewann offenbar an Trennschärfe, je mehr Vorfälle insgesamt gemeldet wurden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, auf welche Weise die Subsistenzfrage in den Berichten der Beamten mit politischer Bedeutung aufgeladen wurde, mit welchen Kategorien die Justizverwaltung mit ihr in Verbindung gebrachte Ereignisse inkriminierte und strafrechtlich verfolgte. Die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts zur Zeit der Zweiten Republik und die seit Ende der 1840er Jahre in rascher Folge stattfindenden Wahlen und Abstimmungen sowie die hohe Wahlbeteiligung in Gegenden, in denen die Wähler teilweise beschwerliche Reisen auf sich nahmen, um ihre Stimme abzugeben,36 sind zurecht als Politisierungsprozess interpretiert worden. Erstmals durften sich Bevölkerungsgruppen an politischen Wahlen beteiligen, die zuvor von den restriktiven Kriterien des Zensus ausgeschlossen worden waren. Freilich hatte diese als Demokratisierungsprozess verstandene Politisierung nicht nur im vollständigen Ausschluss der Frauen ihre Grenze, sondern auch in der faktischen Schwächung der revolutionären und republikanischen Opposition durch die Massendeportationen der Jahre 1849 bis 1852 und die enge Überwachung und Verfolgung der verbliebenen Regimegegner.37 Betrachtet man jedoch die behördliche und gesellschaftliche Kommunikation über die Subsistenzkrise Mitte der 1850er Jahre, wird umgehend deutlich, dass Politisierung und Entpolitisierung auch abseits der parlamentarischen Institutionen und Verfahren ablief. Die Subsistenzkrise konnte zum Politikum werden, gerade weil über sie in Semantiken des Politischen kommuniziert wurde. Zwei Ausgangspunkte sind hier zu unterscheiden: auf der einen Seite die Politisierung durch 35 Ebd., S. 45–52. 36 Im westbretonischen Finistère etwa unternahmen manche Einwohner entlegener Orte trotz Sturm, Überschwemmungen und unpassierbarer Wege die Reise zum Wahllokal, vgl. Le Gall, L., République. 37 Vgl. Price, Anatomy, S. 255–405; Merriman.

84

gesellschaftliche Akteure, die in extenso durch Zitate sogenannter »aufrührerischer Reden« oder »aufrührerischer Plakate« von den Beamten reproduziert wurden, und auf der anderen Seite durch die Beamten selbst. Vordergründig hielten viele Beamte fest, dass es in ihren Ressorts keine Verbindung zwischen Subsistenzfrage und Politik gab, ja, sie entkoppelten ausdrücklich die örtliche Aufregung über die Kornpreise von »politischen Leidenschaften«, »Umtrieben der Parteien« bzw. »Manövern der Parteien« und hielten fest, dass die Bevölkerung nicht der Regierung die Schuld an der Krise gab: »Im Übrigen habe ich die Gewissheit erlangt, dass die politischen Leidenschaften nichts mit der Agitation zu tun haben«.38 Ex negativo ergibt sich aus ähnlichen Feststellungen der Staatsanwälte eine Liste der Kriterien, die als Anzeichen für Politisierung der Subsistenzfrage in der Bevölkerung aufgefasst wurden. Im Zweifelsfall, so legt eine Überlegung des Oberstaatsanwalts von Bordeaux, Duval, im September 1853 nahe, sollten schlafende Hunde auch nicht geweckt werden. Er hatte es abgelehnt, den Staatsanwalt der Gironde bei Ermittlungen vor Ort zu begleiten, »aus Furcht, dass meine Anwesenheit vor Ort den Feinden der Regierung einen Vorwand liefert, die Bedeutung der Vorfälle hochzuspielen«.39 Damit sind zugleich die Elemente genannt, die den Raum des Politischen in den Berichten über die Subsistenzfrage konstituierten. Denn während »man damit rechnen konnte, dass politische Leidenschaft diese ersten Symptome auszubeuten versucht« und sich »die Parteien gegenseitig die Schuld«40 zuwiesen, stellten die Beamten auch Aktivitäten wie Majestätsbeleidigung fest, die »keinerlei Bezug zur Brotteuerung«41 hatten. Die von den Beamten beobachtete Politisierung ging also über das engere Thema Subsistenz hinaus. Innerhalb dieses Rahmens analysierten und diskutierten die Staatsanwälte vor allem, welche »Umtriebe« hinter der Unruhe steckten, wie »die Parteien« sich in der Teuerung verhielten und ob die Bevölkerung der Regierung die Verantwortung für die Krise zuschrieb. Zunächst einmal wurden unspezifisch regierungsfeindliche »Umtriebe« und »Manöver« identifiziert. Mal »beuten die Feinde der Regierung […] die Situation 38 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, cherté des grains, poursuites, 9.9.1853; PG de Bordeaux, an: MJ, [évènements au marché aux grains de la commune de Piéguet, arr. de Nontron], 16.2.1854; PG de Rennes, an: MJ, état de l’arrondissement de Ploermel, sous le rapport de la cherté des subsistances, 9.2.1854. Hier hatte der Bearbeiter den letzten Satz rot unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen verstehen; PG de Poitiers, an: MJ, cherté des grains, violences commises à St. Maurice des Noues (Vendée), 3.9.1853; PG de Limoges, an: MJ, 1.2.1854; PG de Rennes, an: MJ, placard provoquant à la désobéissance aux lois, 9.11.1854; Premier avocat général de Rennes, an: MJ, 13.9.1853; PG de Paris, an: MJ, [2 placards séditieux à Provins], 4.10.1853; PG de Limoges, an: MJ, 8.3.1854; AN CHAN BB 30 433: PG de Rouen, an: MJ, Question des subsistances/situation générale du ressort, 2.10.1855; PG d’Orléans, an: MJ, [émeute de Tours], 16.6.1856. 39 AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, 5.9.1853. 40 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 1.9.1853. 41 AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, [placards séditieux à Reims], 21.9.1853.

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auf ihre Weise aus«,42 mal vermuteten die Beamten »Manöver einiger politischer Agitatoren, um die Massen aufzuwiegeln«43 oder »das Volk fehl zu leiten [égarer] und der Regierung zu entfremden [détacher]«.44 Dabei ging die eigentliche Gefahr nicht so sehr von den Legitimisten45 aus, als vielmehr von den »demagogischen«46 bzw. »anarchistischen Umtrieben«. »In den Departements Nord und Pas de Calais könnten die anarchistischen Umtriebe, wenn ihnen nicht vorgebeugt wird oder sie nicht ernsthaft unterdrückt werden, unter dem Einfluss des Elends zu ernsthaften Schwierigkeiten führen«,47 warnte etwa der Justizminister im November 1853 seinen Kollegen im Innenministerium. In diesem Sinn notierte auch der Bearbeiter im Justizministerium am Rand eines Berichts über einen Arbeiterstreik in Arvert (Ressort Poitiers) im Januar 1854: »anarchistische Umtriebe«.48 Dabei konnte die politische Bedeutung auch jenseits der Oppositionsparteien in der jüngeren politischen Geschichte gesehen werden, wie eine Aussage des Oberstaatsanwalts von Limoges unterstreicht: »Solche Vorkommnisse […] scheinen mir eher das Ergebnis des großen Elends und der schlechten Leidenschaften zu sein, welche die Revolution von 1848 gefördert und das ruhmreiche Einschreiten des Kaisers unterdrückt hat. Die Männer, die sich heute noch durch kriminelle Projekte hervortun, waren bereits vor dem 2. Dezember [1851, Datum des bonapartistischen Staatsstreichs, d. Vf.] gefährlich und bedrohlich.«49

Dieses Muster der Gefahrenzuschreibung lag nicht nur der Überwachungs-, Ermittlungs- und Strafverfolgungsarbeit der Justiz zugrunde, sondern auch der Benachrichtigung über »aufrührerische Plakate« bzw. »Rufe« und Gerüchte in der Bevölkerung. Die allermeisten der von den Staatsanwälten inkriminierten Aussagen bezogen sich auf die Regierung und insbesondere auf den Kaiser, aber in der Form der Bezugnahme gingen sie weit auseinander. Am häufigsten waren einfache, eindeutig dem republikanischen bzw. revolutionären Diskurs zuzuordnende Parolen wie »Nieder mit dem Kaiser… Es lebe die rote Re42 AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, 5.9.1853. 43 AN CHAN BB 30 433: PG de Rouen, an: MJ, Question des subsistances/situation générale du ressort, 2.10.1855. 44 AN CHAN BB 30 432: PG de Limoges, an: MJ, 28.10.1853. Vgl. PG de Bordeaux, an: MJ, 5.9.1853; PG de Bordeaux, an: MJ, 23.1.1854. 45 »[Solche] Vorkommnisse […] nehmen im Ressort und besonders im Bezirk Libourne stark zu, so dass man dahinter einige Parteimanöver vermuten kann und Herr Battar gehört bekanntermaßen zur legitimistischen Strömung«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Limoges, an: MJ, 28.10.1853. 46 »Die demagogischen Umtriebe, für welche die Kornteuerung und die aktuelle Subsistenzkrise der Grund oder der Vorwand sind, mussten meinerseits eine ganz besondere Überwachung auslösen«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, [Lagebericht], 23.1.1854. 47 AN CHAN BB 30 432: MJ, an: MI, cherté des subsistances/menée anarchique, 5.11.1853. 48 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crise des subsitances, association de malfaiteurs, affaire Moussac-sur-Vienne, 8.2.1854. 49 AN CHAN BB 30 432: PG de Limoges, an: MJ, 18.2.1854.

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publik!«.50 In vielen Fällen wurde die imperiale Regierung auch direkt für die Teuerung verantwortlich gemacht. »Am 24.  Oktober rief Gilquin, Bäcker in Metz sur Seine, […] auf offener Straße und in Gegenwart von Zeugen, dass der Kaiser ein Räuber sei, ein Schurke, dass er die Guillotine verdiene, dass er die Ursache für die Brotteuerung sei«.51 Dabei sprach aus mancher Aussage die klassische moralökonomische Erwartung, dass der Kaiser für die Ernährung der Bevölkerung die Verantwortung trage: »Und Du, Napoléon, wenn Du nicht die Kraft hast, Dein Volk zu ernähren, nimm Deinen Sack und geh zum Teufel, lass uns zu unserer guten Republik zurückkehren, welche die einfachen Leute ernährte, ohne die Reichen zu ruinieren«.52 Solche Aussagen und Parolen hielten die unmittelbare Geschichte der politischen Auseinandersetzungen, d. h. die Februarrevolution, die Zweite Republik, den bonapartistischen Staatsstreich und die Reichsgründung gegenwärtig. Zugleich artikulierten sie implizit das Bewusstsein, dass Louis-Napoléon Bonaparte in der Zweiten Republik als Präsident von einer Mehrheit der männlichen Wählerschaft gewählt und nach seinem Staatsstreich in einem Plebiszit als Kaiser bestätigt worden war. Einige derjenigen, die Plakate schrieben und in den Berichten zitiert wurden, waren mit ihrer Geduld offensichtlich am Ende. »Wir brauchen nicht länger zu warten, denn Dich, Louis-Napoléon, mit Deinen schönen Versprechen, müsste man hängen, anstatt Dich auf dem Thron zu lassen«.53 Auch oppositionelle Stim50 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, [o.T.], 2.2.1854. Vgl. »Wenn in Paris die Arbeiter Brot wollten, schlügen sie zu, sie machten eine Revolution und man müsse es ihnen gleich tun«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, 9.12.1853; »Arbeitend leben, kämpfend sterben: das ist die universelle Republik. Arbeit oder Brot. Tod den Tyrannen. Es lebe die Republik!«, siehe AN CHAN BB 30 433: PG d’Agen, an: MJ, 4.5.1857; »Ein Stück weiter stand geschrieben: Es lebe die Republik!«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, [placard séditieux à Essonne], 8.12.1853; »Ihr ermordet uns, indem Ihr uns verhungern lasst. Es Lebe die Republik«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Limoges, an: MJ, 20.1.1854. 51 AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, 9.12.1853. In Rouen wurde ein Mann wegen der Behauptung verurteilt, »der Klerus und die Regierung seien die Ursache der Lebensmittelteuerung«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Rouen, an: MJ, [Urteil], 7.8.1854. Deshalb hatte der Kaiser für manche und manchen den Tod verdient: »…einige wagten gar zu behaupten, dass der Kaiser erschossen gehöre, weil seine Regierung die Einschiffung des Korns erlaube«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, [o.T.], 6.12.1853. Vgl. »Eine schuldige Hand hatte mit Kohle in Großbuchstaben auf eine Mauer geschrieben: ›Napoléon stiehlt den Weizen‹«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, fausse nouvelle d’un attentat envers la personne de la majesté l’Empereur, 16.12.1853. 52 AN CHAN BB 30 433: PG de Poitiers, an: MJ, Placard, 4.11.1855. Vgl. »Der Kaiser sei ein Lump, es sei seine Schuld, dass der Weizen teuer ist, es sei richtig ihn zu stürzen, er sei nicht wie Ledru-Rollin, der ein guter Mann war und das Wohl des Volkes wollte«, siehe AN CHAN BB 30 433: PG d’Amiens, an: MJ, 12.9.1855. 53 AN CHAN BB 30 433: PG de Paris, an: MJ, trois placards incendiaires à Montereau, arr. de Fontainebleau, N° 5449, 10.12.1855. Vgl. »Ein Herr Jean Couderc, Zwischenhändler, hat folgenden Ruf auf einem öffentlichen Platz von Périgueux ausgestoßen: ›tolle Regierung, die wir da eingesetzt haben, um uns alle Hungers sterben zu lassen‹.«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, 26.11.1853.

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men nahmen offen Bezug auf die enttäuschten Erwartungen der Bevölkerung allgemein und der Anhänger Napoléons III. im Besonderen: »Ihr habt den Kaiser gewollt und wenn ihr jetzt für Weizen 36 Francs den Hektoliter bezahlt, ist das noch nicht genug, ich wollte, er würde Euch 50 Francs kosten. Die Republik wolltet ihr ja nicht, die hätte ihn Euch fast geschenkt«.54 Es gab in den Berichten der Oberstaatsanwälte jedoch auch eine ganze Reihe an zitierten Plakaten und inkriminierten Rufen, in denen sich revolutionäre Parolen mit Kaisertreue mischten. Kaisertreue Stimmen machten in der Regel andere Akteure für die Teuerung verantwortlich. »Aufruf an das Volk«, war ein in Rennes gefundenes Plakat überschrieben. »Sieh, was uns bleibt: der Hunger. Machen wir mit den Aufkäufern was unsere Väter getan haben: Es gibt noch Laternen. Hängen wir die Schurken. Platz da! Löschen wir die Verräter aus. Wo man uns verrät, wird Napoléon verraten.«55 In manchen kaisertreuen Aussagen artikulierte sich darüber hinaus ausdrücklich ein Verständnis der mit dem Männerwahlrecht erworbenen politischen Macht und zivilgesellschaftlichen Inklusion, die in der Teuerung der ökonomischen Macht der adligen, legitimistischen Opposition und dem Klerus ausgesetzt war: »Vor allem, Arbeiter, lasst uns nicht die Regierung angreifen, es ist nicht ihre Schuld. Napoléon wird verraten, er soll zerstört werden. Unterstützen wir ihn daher, um ihnen zu zeigen, dass wir es nicht bedauern, ihn gewählt zu haben. Lasst uns eher Rache an denjenigen nehmen, die alles Korn aufkaufen«.56

Es spricht also tatsächlich einiges für die in einem Bericht zur politischen Lage des Oberstaatsanwalts von Poitiers im April 1854 geäußerte Einschätzung, dass »Freund und Feind anerkennen müssen, dass der Kaiser die Sympathie der Massen erobert hat«.57 Die Beamten registrierten in den Jahren 1853 bis 1855 zwar, dass die Kornteuerung in der Bevölkerung und von den Parteien mit der des 54 AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, [cris séditieux à Saint-Symphorien], 5.10.1854. 55 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, 22.11.1853. Vgl. »Allons enfants de la Patrie! Das Brot ist schon wieder teurer geworden! Wir müssen uns rächen, aber es lebe der Kaiser! Das Brot zu 30 sous!«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG d’Amiens, an: MJ, 21.2.1854 (Herv. d. Vf.); »Ich warne Sie, dass es in Limoges ein Komplott gibt, […] das Ziel der Jesuiten ist es, das Volk auszuhungern, sie schärfen allen legitimistischen Familien ein, ihr Korn für sich zu behalten und zu keinem Preis zu verkaufen, um die Regierung Napoléon III. zu stürzen«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Limoges, an: MJ, 4.9.1853; »›Es lebe der Kaiser! Nieder mit der Kornbörse!‹«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG d’Amiens, an: MJ, 22.9.1854. 56 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, placard provoquant à la désobéissance aux lois, 9.11.1854. Vgl. »Heute würden einige Adlige den Kaiser stürzen, sie sind böse auf die Arbeiter, weil wir es waren, die ihn gewählt haben.« AN CHAN BB 30 432: PG de Douai, an: MJ, 7.10.1853; »Die Bosheit der Menschen, der Klerus und die Aristokraten, die Frankreichs Untergang sind, lassen uns jetzt dafür zahlen, dass wir für unseren Kaiser gestimmt haben.« AN CHAN BB 30 433: PG de Rouen, an: MJ, placard in Rouvray-Catillon, canton de Forgesles-Eaux, 7.10.1856. 57 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, subsistance – situation morale et politique du ressort – rapport, 12.4.1854.

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Teuerungsjahres 184758 bzw. die Preise des Zweiten Kaiserreichs mit denen der Zweiten Republik verglichen wurden.59 Die meisten Oberstaatsanwälte zogen aber ähnliche Schlüsse wie Meynard de France, der im März 1854 versicherte, dass »die starke und kraftvolle Regierung des Kaisers in einer Gesellschaft solide verankert ist, die ihre Pflicht so gut versteht und auch entschlossen ist, sie zu erfüllen«.60 Die Berichtspraxis der Justizverwaltung in der Teuerungsphase Mitte der 1850er Jahre, so kann an dieser Stelle festgehalten werden, unterlag einer widersprüchlichen Dynamik von Politisierung und Entpolitisierung der Subsistenzfrage. Diese Dynamik konstituierte einen Raum des Politischen, einen Raum unterschiedlicher Bezugnahmen auf die Politik der kaiserlichen Regierung, die für die Beamten entsprechend unterschiedliche Praktiken plausibel machten. Ein Beispiel für das Ausmaß, das die politisierte Strafverfolgung während der Teuerungskrise Mitte der 1850er Jahre annehmen konnte, ist die »Aufdeckung« eines »Komplotts« im Sommer 1856, das mit der republikanischen Geheimgesellschaft »Marianne« in Verbindung gebracht wurde.61 Jenseits solcher Affären, in denen die Politisierung von den Beamten wie von inkriminierten Akteuren ausging, konnte der Politik-Verdacht der Staatsanwaltschaft auch in Situationen Maßnahmen nahelegen, in denen es noch gar keine Anhaltspunkte für manifeste »politische Umtriebe« gab. So erreichte etwa der Bürgermeister der Kommune Palais auf Belle-Île-en-Mer im November 1853, dass die auf Anordnung des Innenministers auf der Insel lebenden, ehemaligen politischen Gefangenen aus Revolutionstagen im Sinn einer präventiven Maßnahme auf das bretonische Festland nach Vannes62 umgesiedelt und dort unter Hausarrest gestellt wurden. »Die nahezu vollständig ländliche Bevölkerung von Belle-Île« habe sich »ein reines und sanftes Gemüt bewahrt« und es stehe deshalb zu »befürchten, dass die Reden der begnadigten Gefängnisinsassen, mit denen sie heute in fortwährendem Kontakt steht«, unter den gegebenen Bedingungen höchstärgerliche Folgen haben könnten.63 58 AN CHAN BB 30 433: PG de Rouen, an: MJ, Question des subsistances/situation générale du ressort, 2.10.1855. Diesen Vergleich zog auch das Ministerium im Herbst 1853 und warnte den Innenminister: AN CHAN BB 30 432: MJ, an: MI, Menées des partis, communication, 24.10.1853. 59 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 1.9.1853; AN CHAN BB 30 433: PG de Rouen, an: MJ, Question des subsistances/situation générale du ressort, 2.10.1855. 60 AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, 4.3.1854. Vgl. AN CHAN BB 30 433: PG de Rouen, an: MJ, Question des subsistances/situation générale du ressort, 2.10.1855. 61 Siehe zu dieser Affäre die Akte AN CHAN BB 30 417 P1411 mit reichhaltigem Material. Vgl. zur republikanischen Opposition, die nach dem Staatsstreich, der Reichsgründung und dem kurzen Bürgerkrieg 1851/52 in den Untergrund ging und während der 1850er Jahre vor allem in westfranzösischen Gebieten vermutet wurde: Petit; Port, S. 410; vgl. hierzu auch Price, Anatomy. 62 AN CHAN BB 30 432: MI, an: MJ, La ville de Vannes est désignée comme lieu de résidence aux condamnés politiques libérés, placés en surveillance, en attendant qu’il ait été statué sur leur déclaration de résidence, 30.11.1853. 63 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, 20.11.1853.

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Oftmals reichte der bloße Verdacht, es könnte sich bei bestimmten, auf den ersten Blick unverdächtigen Vorfällen um sorgsam gehegte, verborgene Umsturzpläne handeln. Der Oberstaatsanwalt von Poitiers, Damay, vermutete im Februar 1854 hinter »schweren Unruhen« in Moussac-sur-Vienne (Vienne) eine »Verschwörung«.64 Einige Arbeiter aus Moussac waren vom Markt in der Kommune Isle-Jourdain zurückgekehrt, hatten »eine gewisse Anzahl Freunde«65 um sich geschart und verlauten lassen, dass in St. Paixent, einem Vorort von Moussac, genug Leute wohnten, die sich ihnen anschlössen, wenn sie »Weizen bei den Gutsherren holen«66 gingen. Seit einigen Tagen habe sich im Ort das »Gerücht verbreitet, dass der Kaiser die Plünderung für die letzten Januartage erlaubt«67 habe. Die »aufrührerische Bande« habe aber letztlich nur aus den Arbeitern der Kleinstadt bestanden, weil die Bewohner des M ­ oussac nächstgelegenen Dorfes ihnen die Gefolgschaft verweigerten. So wurde aus dem »Komplott von Moussac«68 ein »versuchtes Komplott«,69 ein »krimineller Versuch«, der vor allem auf die »Anstachelung« eines Mannes zurückgeführt wurde, der »seit langem« für seine »subversive Einstellung und aufrührerische Reden«70 bekannt sei. Ähnlich changierte die Bezeichnung eines »schwerwiegenden Vorfalls«, eines Arbeiterstreiks in Arvert (Charente inférieure), zwischen »Koalition«, »geplanter Versammlung«, »Vereinigung« und »Verschwörung« bzw. die der Inkriminierten zwischen »Koalierten« und »Verschwörern«.71 Ebenfalls als »eine Art Verschwörung« bezeichnete der Oberstaatsanwalt von Rennes den Umstand, dass sich in Guingamp (Côtes du Nord) Anfang Januar 1854 eine Gruppe von zwanzig bis dreißig Personen zum »gemeinsamen Betteln« verabredet hatte.72 Im Fortgang der Ermittlungen und während der Prozesse erwies sich für die Akteure der Justizverwaltung vor Ort allerdings in etlichen Fällen die Unhaltbarkeit dieser Anschuldigungen. Die Arbeiter von Arvert etwa wurden der Bildung einer »Verschwörung« angeklagt, »aber die Ermittlung hat den Vorgängen viel von ihrer ursprünglichen Schwere genommen, ihre wahre Bedeutung festgestellt und die Anklage auf die Bildung einer Koalition mit dem Ziel reduziert, höhere Löhne zu erreichen«.73 Auch im Fall der Bettlerbande von Guingamp ließ sich die Anschuldigung des Hochverrats nicht halten: Nichts gemahne an »eine Ver64 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crise des subsistances, association de malfaiteurs, affaire Moussac-sur-Vienne, 8.2.1854. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crises des subsistances/coalitions d’ouvriers/ menaces de mort, 24.1.1854. 72 AN CHAN BB 30 432: premier avocat général de Rennes, an: MJ, mendicité, 8.1.1854. 73 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, coalition d’ouvrier à Maremmes, résultat, 11.3.1854. Während der Oberstaatsanwalt der Argumentation des Gerichts folgte, das den

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einigung von Verbrechern im Sinn des Strafgesetzbuchs (§ 256 ff. Code pénal)«. In Wirklichkeit habe es sich »um versuchte gemeinschaftliche Bettelei« gehandelt, die »nicht strafbar« sei.74 Der Verdacht, dass politische Umtriebe hinter den Vorfällen steckten, hing nicht zuletzt davon ab, wen die Beamten vor Ort als führende Akteure identifizierten und wie sie das Verhalten der beteiligten Personen bewerteten. Bildung galt stets als Gefahr. Das Amtsgericht von Lesplanac (Gironde) etwa bestrafte im Januar 1854 »Gordon […] härter […] als Roumillac, weil er als intelligenter, aktiver und folglich als gefährlicher angesehen wurde«.75 Systematisch verknüpften die Beamten mit der Einschätzung, ob aufgefundene »aufrührerische Plakate« einen des Schreibens kundigen oder unkundigen Autor verrieten, Schlussfolgerungen über die Gefahr, die von ihnen ausging, so etwa in Troyes: »Die Drohungen sind präzise. Die Hand, die sie geschrieben hat, ist geübt und verrät eine gebildete Intelligenz. Einige hieroglyphe Zeichen und Unterschriften am Ende des Plakats scheinen auf die Organisation eines Bundes hinzudeuten, mit einer Parole und Treffpunkten«.76 Umgekehrt ging von fehlender Bildung weniger Gefahr aus, so in Angoulême: »Der Staatsanwalt […] lässt mich wissen, dass diese [Plakate, d. Vf.], die der Schrift nach von Unkundigen oder Analphabeten zu stammen scheinen, […] in der Ortschaft folgenlos blieben.«77 Unweigerlich gerieten im Zuge der Ermittlungen immer wieder auch lokale Würdenträger in die Kritik. Im Fall der »Verschwörung« von Moussac etwa berichtete der Oberstaatsanwalt von Poitiers über einen Mann, »der ein bisschen lesen und schreiben kann. Er ist erster Beigeordneter, aber diese Eigenschaft hindert ihn nicht daran, ein unberechenbarer Feind des Bürgermeisters und der Behörde zu sein«.78 In mindestens einem Fall wandte sich ein WeizenAngeklagten die lange Untersuchungshaft und die »schwierige Lage« zugute hielt, »in der die Arbeiterklasse sich aufgrund der Subsistenzteuerung befindet«, forderte der Justizminister exemplarische Härte: nachdem die Staatsanwaltschaft in Berufung gegangen war, verdoppelte das Gericht das Strafmaß, siehe CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 8.4.1854. 74 AN CHAN BB 30 432: premier avocat général de Rennes, an: MJ, mendicité, 8.1.1854. 75 AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, 27.1.1854. 76 AN CHAN BB 30 432: avocat général délégué de Paris, an: MJ, 26.9.1854. Vgl. in Reims: »Die Schrift war fein und schien einer geübten Hand zu entstammen. Die Plakate sind fast immer in den Arbeitervierteln angeschlagen.« AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, 1.10.1853. 77 AN CHAN BB 30 432: PG de Bordeaux, an: MJ, 18.3.1854. Vgl. In Belly (Nièvre) wurde ein Weber-Ehepaar zu vergleichsweise geringen Strafen verurteilt, weil »die geringe Intelligenz der Angeklagten und die fehlenden bösartigen Absichten […] das Gericht zu Nachsicht bewogen«, siehe AN CHAN BB 30 432: avocat général délégué de Paris, an: MJ, 4.10.1853. Von einem in Ancenis (Loire inférieure) aufgehängten Plakat ging ebenfalls keine Gefahr aus: »Dieses Schriftstück ist voller Rechtschreibfehler und entstammt der Feder eines Analphabeten. Diese Drohung ist meines Erachtens nicht ernst zu nehmen, weil die Einwohnerschaft von Ancenis von Ordnungsgefühlen geleitet wird«, siehe AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, 31.12.1853. 78 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crise des subsitances, association de malfaiteurs, affaire Moussac-sur-Vienne, 8.2.1854.

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händler namens Macquin fils direkt an den Justizminister,79 um sich gegen den Friedensrichter von Montereau-fault-Yonne zu wehren, ein Vorgang, den die Justizverwaltung systematisch verschleppte.80 Regelmäßig beschwerten sich Staatsanwälte und ihre Vorgesetzten beim Justizminister über die »Schwäche«81 und die »Nachgiebigkeit«82 von Bürgermeistern und Stadträten, aber auch von Angehörigen der Militärverwaltung. Ihr Verhalten wurde genau beobachtet und daraufhin bewertet, ob es der Aufrechterhaltung der Ordnung diente, ob es der Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe Vorschub leistete – oder, im Gegenteil, der Wahrung des öffentlichen Friedens zuwiderlief. So zog etwa der Bürgermeister von Sainte Verge (Deux Sèvres) eine Solidaritätssondersteuer, mit der die Bürger zur Finanzierung von Unterstützungsmaßnahmen zugunsten der Armen belegt worden waren, nach Protesten wieder zurück – ein »Akt der Schwäche«, wie der Justizminister tadelnd an den Innenminister schrieb.83 In den Beschreibungen und Bewertungen des amtlichen Handelns ist ex negativo der Entwurf einer Beamtenethik zu erkennen: »Festigkeit«,84 »energisches Auftreten«85 und »Intelligenz«86 waren Tugenden, die den idealen Beamten und sein Verhalten in der Subsistenzkrise auszeichneten.

2. Entpolitisierungsversuche der Justizbeamten Dass die tabellarische Übersicht über Vorkommnisse als Handreichung für Justizminister Abatucci in Vorbereitung einer Kabinettsitzung erstellt wurde, legt einen Schluss nahe: Die Subsistenzkrise stand auf der politischen Agenda der Regierung sehr weit oben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Justizverwaltung ein in der Bevölkerung intensiv diskutiertes Thema überhaupt 79 AN CHAN BB 30 432: Macquin fils, marchand de grains, an: MJ, 28.9.1853. 80 Die Oberstaatsanwaltschaft von Paris/Ile de France verzögerte die Angelegenheit, siehe AN CHAN BB 30 432: Procureur Génèral de Paris, an: MJ, 1.10.1853; der Justizminister forderte die Oberstaatsanwaltschaft schließlich zur Stellungnahme auf, siehe ebd.: MJ, [Note], 20.10.1853; ebd.: MJ, an: PG de Paris, abus de pouvoir reproché au juge de paix de Montereau-faux-Yonne, 21.10.1853; Meynard de France teilte daraufhin mit, dass dem Friedensrichter nichts vorzuwerfen sei, siehe ebd.: PG de Paris, an: MJ, 22.10.1853. 81 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 28.10.1853. 82 AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, 28.9.1853. 83 AN CHAN BB 30 432: MJ, an: MI, démonstration populaire à St. Verge (2 Sèvres) au sujet d’un impôt pour la charité municipale, 27.12.1853. 84 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 14.1.1854; PG de Poitiers, an: MJ, cherté des grains, émeute de femmes en Vendée, Rohan, 21.9.1853; PG de Poitiers, an: MJ, compte rendu d’un procès de presse, fausses nouvelles, résultat, 20.1.1854. 85 AN CHAN BB 30 432: Premier avocat général de Rennes, an: MJ, 30.8.1853; PG de Poitiers, an: MJ, 14.1.1854; PG de Paris, an: MJ, 4.3.1854. 86 AN CHAN BB 30 432: PI de Laon, an: PG d’Amiens, 25.6.1854; PG de Poitiers, an: MJ, compte rendu d’un procès de presse, fausses nouvelles, résultat, 20.1.1854.

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nachhaltig entpolitisieren konnte, das sie intern selbst fortwährend in politischer Semantik adressierte. Eine Antwort auf diese Frage bestand in der Überwachung und Kriminalisierung der Kommunikation selbst, d. h. in der Zensur »falscher Nachrichten« (fausses nouvelles). Mitte Juli 1853 machte der Innenminister in einem Schreiben seinen Kollegen im Justizministerium auf einen beunruhigenden Anstieg der Gerüchtekommunikation aufmerksam. »Seit einiger Zeit verbreiten sich abscheuliche, falsche Nachrichten, um die öffentliche Meinung bezüglich der Regierung in die Irre zu führen. Fast alle Präfekten stellen eine Verstärkung der Bemühungen in dieser Hinsicht fest.«87 Weil es schwierig sei, die Urheber dieser Gerüchte zu finden, regte er an, dass zur Abschreckung die Urteile in solchen Fällen von der regierungsoffiziellen Zeitung Moniteur universel veröffentlicht werden sollten. Abatucci stimmte zu88 und instruierte die Oberstaatsanwaltschaften Anfang August, nicht nur alle mit einem Urteil abgeschlossenen Verfahren zu melden, sondern generell der Verfolgung von Gerüchten und »aufrührerischen Reden« größere Aufmerksamkeit zu widmen, die »die Regierung zu diskreditieren und die Bevölkerung zu beunruhigen trachten«.89 Ähnlich wie im Fall der Bündelung jener Vorfälle, die mit der Subsistenzfrage in Verbindung standen, bildete sich im Justizministerium in den folgenden Monaten90 eine eigenständige Dokumentation91 über »falsche Nachrichten«, »aufrührerische Reden« und Plakate. Sie vermittelt in der Gesamtschau einen Eindruck von den ›Grenzen des Sagbaren‹ in der Subsistenzfrage Mitte der 1850er Jahre, die von der Justizverwaltung gezogen wurden. Der Begriff »falsche Nachricht« selbst verweist dabei auf die der Zensur zugrundeliegende wahrheitspolitische Strategie, ›falsche‹ von ›richtigen‹ oder ›wahren‹ Nachrichten zu unterscheiden und erstere aus der öffentlichen Kommunikation auszuschließen, während die Regierung gleichzeitig die Verfügung über wahre Nachrichten zu monopolisieren versuchte.92 Es gab drei verschiedene Falltypen, in denen die Justiz mithilfe des Begriffs der »falschen Nachricht« die Subsistenz- und Teuerungskommunikation und ihre Akteure kriminalisierte. Strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden ers87 AN CHAN BB 30 407 959: MI, an: MJ, on propose de faire publier par le Moniteur toutes les condamnations prononcées contre les auteurs ou colporteurs de fausses nouvelles, 14.7.1853. 88 AN CHAN BB 30 407 959: MJ, an: MI, 19.7.1853. 89 AN CHAN BB 30 407 959: MJ, an: Procureurs généraux, circulaire, 4.8.1853. 90 Auf die Rückseite der Akte, in der die entsprechenden Meldungen aus den Ressorts gesammelt wurden, hatte ein Bearbeiter notiert, Auszüge der Tabelle seien dem Minister Ende der Monate Januar, Februar, März und April vorgelegt worden. Danach sei die Krise vorüber gewesen, siehe AN CHAN BB 30 434: Jugements et arrêts sur les poursuites relatives à la cherté des subsistances 1853–1854. 91 AN CHAN BB 30 434: Jugements et arrêts sur les poursuites relatives à la cherté des subsistances 1853–1854. 92 Zur Zensur siehe Krakovitch; Kopp.

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tens Personen, die anderen die Schuld an der Teuerung gaben, sowie Mordaufrufe. Oftmals wurden dabei verschiedene Strafrechtstatbestände wie »Aufruf zum gegenseitigen Hass der Bürger untereinander«,93 »Anstiftung zu einer Straftat«,94 »Verherrlichung von Verbrechen«95 oder »Beamtenbeleidigung«96 miteinander kombiniert. Mithilfe des Begriffs verfolgten Justizbeamte zweitens die Preiskommunikation auf Märkten und in Handelszeitungen. So erging ein Urteil gegen den Herausgeber und Besitzer der Zeitung Le Lorientais wegen der »Veröffentlichung einer falschen Nachricht bezüglich des Weizenpreises, die der Natur nach geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu gefährden«.97 In diesem Sinn konnte die Inkriminierung falscher Nachrichten nicht nur der Verfolgung von vermeintlichem oder wirklichem Preisauftrieb dienen, sondern auch den Verdacht auf »betrügerische Manöver« erhärten. Das war etwa der Fall der drei Pariser Zeitungen L’Echo des Halles, La Mercuriale und L’Express, die angeblich alle »übertriebene Anzeigen zum Stand der Merkuriale des Weizenmarkts von Montereau« veröffentlicht hatten: »Diese Veröffentlichung ist ein schwerwiegender Vorfall«, teilte Justizminister Abatucci dem zuständigen Oberstaatsanwalt Meynard de France mit, »vor allem, wenn er […] der Unterstützung der privaten Spekulation dient. Deshalb ist es wichtig, die Geschäftsführer der drei Zeitungen für die Verbreitung falscher Nachrichten zu verfolgen.« Außerdem solle der Beamte prüfen, »ob hier nicht betrügerische Manöver vorliegen, deren Ziel im Auftrieb des Weizenpreises besteht«.98 Drittens schließlich belegt die Inkriminierung »falscher Nachrichten« ganz allgemein die Befürchtungen, welche die Beamten gegenüber der mobilisierenden Kraft von Gerüchten hegten.99 So hatten sich Ende August 1853 »zwei- bis dreihundert Frauen« auf dem Rathausplatz in Rennes versammelt. Sie »hatten das Gerücht gehört, dass das 3kg-Brot 50 Centimes kosten solle«.100 Der Bürgermeister löste die Versammlung auf und ließ am folgenden Tag plakatieren, dass sich die Bevölkerung vor »Rädelsführern falscher Nachrichten [sic!] in Acht nehmen solle, die hart bestraft würden«.101 93 AN CHAN BB 30 432: Substitut du PG de Poitiers, an: MJ, 29.9.1853; PG de Poitiers, an: MJ, délit, à propos des subsistances, condamnation, 3.12.1853. 94 AN CHAN BB 30 432: Substitut du PG de Poitiers, an: MJ, 29.9.1853; PG de Poitiers, an: MJ, provocation à commettre des délits.- à propos des subsistances, 26.11.1853. 95 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 13.12.1853. 96 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, délit, à propos des subsistances, condamnation, 3.12.1853. 97 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, 15.11.1853. In diesem Fall forderte der Oberstaatsanwalt sogar eine Verschärfung. 98 AN CHAN BB 30 432: MJ, an: PG de Paris, fausses nouvelles sur la cherté des grains, 30.9.1853. 99 Vgl. zur Gerüchtekommunikation während des Zweiten Kaiserreichs allgemein: Ploux. Im bretonischen Departement Ille et Vilaine im Besonderen Guerrin. 100 AN CHAN BB 30 432: Premier avocat général de Rennes, an: MJ, [rassemblement à Rennes], 30.8.1853. 101 Ebd.

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Jenseits der politischen Strafverfolgung der Opposition arbeitete die Justizverwaltung vor allem mit folgenden strafrechtlichen Kategorien, die in der Praxis auch miteinander kombiniert wurden: »Veröffentlichung falscher Nachrichten«, Koalitionsverbot und »Betrug« bzw. »Täuschung« über die Qualität der Ware. Dabei ist im Verlauf der Teuerung zwischen Herbst 1853 und Frühjahr 1857 in der Behördenkommunikation der Justiz eine bezeichnende Schwerpunktverlagerung zu beobachten. Standen zu Beginn der Krise im Herbst und Winter 1853/54 »falsche Nachrichten«, »Zusammenrottungen«, »Demonstration« und lokaler »Aufruhr« von Arbeitern und ganzen Kommunen sowie Bäckerkoalitionen im Fokus, weitete sich die Aufmerksamkeit der Beamten in den darauffolgenden Jahren auf »betrügerische Manöver« von Kornhändlern, Müllern und Bäckern aus. 2.1 Verbotene Koalitionen: Ansammlungen, Demonstrationen und Vereinigungen Zwar stellten die Justizbeamten generell alle kollektiven Aktionen der lokalen Bevölkerung unter den Verdacht regierungsfeindlicher Umtriebe.102 Dennoch ergibt sich im Hinblick auf die Bewertung von »Versammlungen« oder »Demonstrationen« in der Öffentlichkeit ein nuanciertes Bild. Ein Vorgang in La Rochelle im Januar 1854 macht das deutlich. Etwa »100 Fassbinder-Arbeiter« suchten zunächst den Präfekten und dann den Bürgermeister auf, nachdem eine Baustelle im Hafen geschlossen worden war, weil die Kredite ausgelaufen waren. Der Präfekt machte ihnen »Vorhaltungen über die Unvorsichtigkeit, sich auf diese Weise zu versammeln und Druck auf die Behörde auszuüben und forderte sie auf, auseinander zu gehen und einzeln Unterstützung von der Stadtverwaltung zu fordern.«103 Die Bestürzung der Staatsanwaltschaft über diese Demonstration der Arbeiter hielt sich jedoch in Grenzen, denn »ihre Haltung war stets respektvoll«.104 Auf Strafverfolgung wurde verzichtet und den Arbeitern lediglich beschieden, dass sie »mit Wohlwollen rechnen« konnten, wenn sie ihre Forderungen einzeln vortrugen; sie wurden lediglich gewarnt, dass »man keine Zusammenrottung, keine kollektive Forderung tolerieren und jede Demonstration energisch unterdrücken werde, die geeignet sei, die Bevölkerung zu verunsichern«.105 102 So geriet etwa auch eine Mutualitätskasse in Sables d’Olonne in den Verdacht, eine Geheimgesellschaft zu sein. Die Ermittlungen wurden eingestellt, nachdem sich herausstellte, dass es sich um einen offiziell anerkannten Verein handelte, siehe AN CHAN BB 30 417 P1372: premier avocat de Poitiers, an: MJ, n° 1668, 14.8.1856. 103 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, Rassemblement d’ouvriers à la Rochelle/crises des subsistances, 26.1.1854. 104 Ebd. 105 Ebd.

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Mit dem Rechtsbegriff des Koalitionsverbots wurden hauptsächlich Arbeiterund Bäckerstreiks inkriminiert. Im bereits erwähnten Fall der Arbeiter von Arvert changierte die Bezeichnung zwischen »Verschwörung« und »Koalition«.106 Als in Saintes (Charente inférieure) Steinhauer eine Petition an den Unterpräfekten richteten, um höhere Löhne zu fordern und zur Unterstützung ihrer Forderung einen Streik begannen, hielt der Oberstaatsanwalt ein »Koalitionsdelikt für erwiesen«.107 Die Bäcker von Poitiers begingen mit ihrer Weigerung, Brot zu backen, in den Augen des Oberstaatsanwalts ein »Koalitionsdelikt, um die Stadtverwaltung zur Erhöhung der Brottaxe zu zwingen«.108 Die Petition von vier Bäckern der Ile de Noirmoutiers (Loire inférieure) wurde als »unlauteres Vorgehen«, als »Manöver zur Steigerung der Taxe« qualifiziert.109 In Redon (Ille & Vilaine) begingen die Bäcker den »Versuch einer Koalition«, als sie sich weigerten, die 200 von der staatlichen Straßen- und Brückenverwaltung beschäftigten Arbeiter mit Brot zu beliefern.110 Und schließlich wurden auch die Bäcker von Cognac (Charente) der »Koalition« bezichtigt, weil sie nicht genug Brot buken, um die 1200 in der Stadt weilenden Arbeiter zu versorgen.111 Die Rechtslage zur Anwendung der §§ 419/420 Code Pénal, die Koalitionsbildung unter Strafe stellten,112 war allerdings keine sichere Basis, wie der Oberstaatsanwalt von Poitiers Damay im Fall der Ermittlungen gegen die Bäcker 106 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crises des subsistances/coalitions d’ouvriers/ menaces de mort, 24.1.1854. 107 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, coalition d’ouvriers à Saintes, 4.2.1854. 108 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, coalition des boulangers de Poitiers, 21.9.1854. 109 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crise des subsistances, coalition de boulangers, 9.2.1854. 110 AN CHAN BB 30 432: Premier avocat général de Rennes, an: MJ, 2.10.1853. 111 AN CHAN BB 30 432: Gendarmerie impériale, 10e légion, compagnie de la Charente, arr. de Cognac, n° 259: coalition des boulangers de la Ville de Cognac, 17.8.1854; Gendarmerie impériale, 10e légion, compagnie de la Charente, arr. de Cognac, coalition des boulangers de la ville de Cognac, pour faire suite à mon rapport n° 259, 18.8.1854. 112 Die Artikel des Code Pénal im Wortlaut: § 419: »Wer durch falsches oder verleumderisches Gerde in der Öffentlichkeit, durch überbieten des Preises, der von den Verkäufern selbst gefordert wird, durch Versammlung oder Vereinigung der Hauptbesitzer eines selben Gutes oder Lebensmittels, versucht, diese zurückzuhalten, oder sie nur zu einem bestimmten Preis abzugeben, oder versucht, mit irgendwelchen betrügerischen Mitteln Hausse oder Baisse des Preises von Lebensmitteln, Waren, Wertpapieren oder Staatsanleihen unter oder über dem Preis zu verkaufen, den der natürliche und freie Wettbewerb des Handels bestimmt hätten, wird zu einer Haftstrafe von wenigstens einem Monat und höchstens einem Jahr sowie einer Geldstrafe zwischen 5 und 10.000 Francs verurteilt. Die Schuldigen können des Weiteren durch Gerichtsbeschluss oder das Urteil für wenigstens 2 und höchstens 5 Jahre unter die Aufsicht der Staatspolizei gestellt werden.« § 420 präzisierte das Strafmaß für Fälle, in denen es um ganz bestimmte Güter und Lebensmittel ging: » Die Strafe soll zwischen wenigstens 2 Monaten und höchstens 2 Jahren Haft sowie zwischen 1000 und 20.000 Francs betragen, wenn diese Taten sich auf Korn, Gries, Weizen- und anderes Mehl, Brot, Wein oder jedes andere Getränk beziehen. Die polizeiliche Aufsicht soll zwischen mindestens 5 und höchstens 10 Jahren betragen.« Code Pénal, S. 104 f.

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der Stadt feststellte. In diesem Fall stand aus zwei Gründen zu befürchten, dass die Bäcker straffrei ausgingen: Zum einen hielt der Bürgermeister das Anliegen der Bäcker für nicht ganz unberechtigt, zum anderen handelte es sich lediglich »um den Versuch einer Koalition« und »§ 419 ist nach der Rechtsprechung der Cour de Cassation in einem solchen Fall nicht anwendbar«. Damay äußerte darüber hinaus Zweifel, die sich grundsätzlich auf die Anwendbarkeit des Koalitionsparagrafen auf Bäckerstreiks bezogen. Man könne sich nämlich fragen, überlegte er in einem Schreiben an den Justizminister, ob §§ 419/420 auf diesen speziellen Fall überhaupt anwendbar seien. Der Wortlaut des Gesetzes spreche von Strafbarkeit nur dann, wenn eine Koalition einerseits zu anderen Preisen als solchen geführt habe, »die der natürliche und freie Wettbewerb bestimmt hätte«, und wenn sie andererseits »gegen die Handelsfreiheit und die Konsumentenrechte gerichtet« gewesen sei.113 Beides sei jedoch im Hinblick auf den fraglichen Fall höchst zweifelhaft. Denn weder sei der Wettbewerb auf dem Brotmarkt frei, noch habe sich die Koalition gegen die Konsumenten gerichtet: Adressat sei vielmehr die Stadtverwaltung gewesen, die wiederum »mit einiger Unabhängigkeit in der Lage war, zu prüfen, ob diese Forderungen angemessen und gerechtfertigt sind, auf welche Weise auch immer sie ihr vorgetragen wurden.«114 Das Justizministerium teilte die Bedenken. Es gebe allerdings eine städtische Gewerbeordnung für die Bäckerei, auf die sich die Strafverfolgung »vorzugsweise« stützen solle. Damay sollte sich zu diesem Zweck mit der Stadtverwaltung abstimmen, »ohne die Feststellung des problematischen Koalitionsdelikts abzuwarten«.115 In einem Schreiben an den Innenminister kündigte Abatucci gleichzeitig an, diese Vorgehensweise in ähnlichen Fällen zum Standard zu machen. Es komme »auf eine prompte Repression an, welche die alarmierte Bevölkerung beruhigt«, doch die »Suche nach Beweisen« für ein Koalitionsdelikt gemäß §§ 419 Code Pénal dauere einfach zu lange.116 Um die Bäcker, die bei hohen Kornpreisen selbst unter Druck gerieten, wenn die offiziell in der Taxe festgelegten Brotpreise der Teuerung nicht Rechnung trugen, sofort belangen zu können, wechselte die Justiz also die Rechtsgrundlage. 2.2 Spekulation als illegitime Koalition Die Staatsanwälte versuchten, den Koalitionsparagrafen des Strafgesetzbuchs auch zur Kriminalisierung eines weiteren Sachverhalts einzusetzen, der Kornspekulation. Es sei »bedauerlich, feststellen zu müssen, dass die Spekulation die 113 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, coalition des boulangers de Poitiers, 21.9.1854. 114 Ebd. 115 AN CHAN BB 30 432: MJ, an: PG de Poitiers, hausse des prix des grains, 30.9.1854. 116 AN CHAN BB 30 432: MJ, an: MI, hausses des prix des grains, 29.9.1854.

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Situation missbraucht und die öffentliche Notlage ausnutzt, anstatt die Krise mildern zu helfen«,117 meinte etwa der Oberstaatsanwalt von Angers Métivier. »Koalition in Marseille mit dem Ziel des Preisauftriebs« war etwa eine Akte betitelt, die das Justizministerium im Frühjahr 1855 nach entsprechenden Berichten des Oberstaatsanwalts von Aix en Provence anlegte.118 In der Art und Weise, wie Beamte vor allem der unteren Ressorts über solche »schuldigen Manöver«119 und »Betrügereien«120 auf lokalen Kornmärkten berichteten, kamen zwar starke moralische Vorbehalte zum Ausdruck. Oft ging es um Bäcker, die auf den Regulationsmärkten der Umgebung auftraten, um »Versorgungskäufe vorzutäuschen […] mit dem Ziel, eine künstliche Preissteigerung herbeizuführen«,121 denn höhere Merkurialen auf den Regulationsmärkten wirkten sich für die Bäcker günstig auf die Brottaxe aus. Auch über die Bäcker von Chatellerault (Vienne) hieß es, dass »alles in ihrem Verhalten […] auf Betrug und Unlauterkeit hinweist, aber keiner von ihnen bisher auf frischer Tat ertappt« werden konnte.122 Ebenso häufig klagten die Beamten aber auch, dass solche »Umtriebe« schwierig zu beweisen seien und schlugen den Einsatz von Spitzeln vor.123 So ließ der Staatsanwalt von Chateaubriant etwa die Kornhändler überwachen, die eventuell »falsche Nachrichten« verbreiteten, d. h. ihren Angeboten an Landwirte zu hohe Preise zugrunde legten. Begründet wurde das im Sinn der präventiven Kommunikationskontrolle damit, dass dies »in der ländlichen Gegend Unruhe verursache und später zu Aufruhr führen« könne.124 Wie stark die moralischen Vorbehalte der Justizbeamten waren, wird am erwähnten Fall der staatsanwaltlichen Ermittlung in Marseille im Jahr 1855 deutlich. Dort waren Termingeschäfte aufgrund der Rolle, welche die Hafenstadt im internationalen Kornhandel spielte, bereits lange geläufig. Nach »schwierigen und mühevollen Ermittlungen«, die in der genauen Prüfung der Unterlagen verschiedener Händler bestanden habe, teilte der örtliche Staatsanwalt dem Oberstaatsanwalt von Aix-en-Provence mit, dass es sich um eine verbreitete Gepflogenheit handele. »Um die Natur dieses Betrugs einschätzen zu können«, so der Beamte, müsse man den »Mechanismus dieser Operationen kennen oder zumindest den der wichtigsten: Ich spreche vom echten Terminge­ 117 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crise des subsistances, menées des speculateurs, 17.1.1854. 118 AN CHAN BB 30 433: Cour d’Aix – Coalition, à Marseille, pour faire hausser le prix du blé. 119 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, [o.T.], 10.8.1854; AN CHAN BB 30 433: PG d’Aix, an: MJ, subsistances, 1.2.1855. 120 AN CHAN BB 30 432: PG de Rouen, an: gds, affaires criminelles, manœuvre pratiquée pour augmenter les prix de la mercuriale du blé, 4.7.1853. 121 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, [o.T.], 7.11.1853. 122 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, crise des subsistances, menées des speculateurs, 17.1.1854. 123 AN CHAN BB 30 432: MJ, an: MI, fraude pour opérer la hausse sur la taxe du pain, 12.11.1853. 124 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, [o.T.], 31.8.1853.

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schäft«.125 Für ihn stehe seit langem außer Zweifel, teilte anschließend der Oberstaatsanwalt von Aix en Provence dem Justizminister mit, »dass in Marseille Börsenmanöver mit dem Ziel praktiziert werden, fiktive Haussen oder Baissen auf Lebensmittel herbeizuführen. Um dieses kriminelle Ziel zu erreichen, wurden mithilfe der Courtiers fiktive Käufe getätigt«.126 »Skrupellose Händler«,127 »gierige Spekulanten«128 schreckten vor nichts zurück, um sich »ungerechtfertigte Gewinne« zu verschaffen.129 Lokale Kornbörsen und ihre Gepflogenheiten thematisierte auch ein Bericht zur Lage auf den Subsistenzmärkten des Oberstaatsanwalts von Amiens im Oktober 1855. Nachdem er auf die »von Tag zu Tag steigende Unzufriedenheit der Bevölkerung« und die »Umtriebe der anarchistischen Aufwiegler« hingewiesen hatte, kam er auf die Kornbörsen (Agences) der Gegend zu sprechen, »die sich zum Ziel gesetzt haben, die Getreidekurse zu regulieren. Es steht fest, dass gierige Spekulanten sich dieser Einrichtungen bedienen, um eine Hausse herbeizuführen, die Preise hoch zu halten und die Wirksamkeit des freien Wettbewerbs außer Kraft zu setzen. Leute, die sich als Bauern bezeichnen, dies aber nur dem Namen nach sind, reisen von Markt zu Markt, von einem Ende des Departements zum anderen und fixieren mit diesem abscheulichen Handel die Kornpreise«.130

Er forderte deshalb, »die Agences aufzulösen, die für den echten Handel keinerlei Nutzen haben«.131 Aus einer ebenso ausführlichen wie systematischen Notiz des Staatsanwalts von Laon über das »System der Agences«, die dem Justizminister auf Anforderung zur Information zugestellt wurde, geht hervor, dass es in der Gegend acht dieser Einrichtungen gab (in Soissons, Vie sur Aisne, Vervins, Guise, Laferlé, Marle, Montesmet und Pontavent).132 Während sich die Ursprünge der Einrichtung von Soissons »in grauer Vorzeit verlieren« und diejenige von Vervins auf 1532 datierten, waren alle anderen zwischen 1849 und 1853 entstanden. Diesem Bericht zufolge erleichterten die Agences nicht nur die Geschäfte zwischen Bauern der Gegend und überregional tätigen Kornhändlern, sondern auch den lokalen Behörden die Erstellung der Merkuriale für die Brottaxe. Die Geschäfte wurden vermittels von der jeweiligen Stadtverwaltung ernannten Faktoren geschlossen, die über die Abschlüsse und die verkauften Kornmengen Buch führten. Den Hauptvorteil der Agences sah der Staatsanwalt von Laon darin, dass sie

125 AN CHAN BB 30 433: PI de Marseille, an: PG d’Aix, 17.2.1855. 126 AN CHAN BB 30 433: PG d’Aix, an: MJ, subsistances, 1.2.1855. 127 AN CHAN BB 30 433: PI de Marseille, an: PG d’Aix, 17.2.1855. 128 AN CHAN BB 30 433: PG d’Aix, an: MJ, subsistances, 1.2.1855. 129 Ebd. 130 AN CHAN BB 30 433: PG d’Amiens, an: MJ, [o.T.], 7.10.1855. 131 Ebd. 132 Vgl. zum folgenden : AN CHAN BB 30 433: PI de Laon, note sur les agences, 9.11.1855.

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»den Handel nicht nur erleichtern, sondern die Menge der Geschäftsabschlüsse steigern, so dass die Versorgung in Wirklichkeit regelmäßiger vonstattengeht. Diese Vor­ gehensweise führt dazu, dass Kursschwankungen und unvorhergesehenen, übertriebenen Kurssteigerungen sicherer vorgebeugt wird«.133

Der größte Teil des Berichts bestand allerdings in einer Problematisierung der Nachteile der Agences. Erstens sei »in diesen ausschließlich von Produzenten und Händlern gebildeten Versammlungen das Interesse der Konsumenten unvermeidlicherweise nicht vertreten«; zweitens fördere »die Leichtigkeit, mit der Geschäftsabschlüsse in den Agences möglich sind, den Geist der Spekulation und der Agiotage«, was den Kornhandel zu »einem wahrhaften Börsenspiel verkommen« lasse; diese Entwicklung werde drittens dadurch gefördert, dass die Geschäfte in den Agences nicht wie auf den Märkten vor Publikum stattfänden, wo der Handel »offen und in gewisser Weise besser greifbar« sei; und viertens schließlich – hier bemühte der Bericht eine strafrechtliche Kategorie – förderten die Agences die Bildung von »Koalitionen, die den lauteren Wettbewerb und das freie Spiel des Wettbewerbs durch den gemeinsamen Willen [der Koalierten, d. Vf.] ersetzen und dem Käufer oft übertriebene Preise und anormale Kurse auferlegen«.134 Wen könne es da verwundern, so der Staatsanwalt in einer Einschätzung zum Bild der Agences in der öffentlichen Meinung, dass es »Ortschaften gibt, in denen das Volk murrt, in denen man von Aufkäufern, von Termingeschäften, von Agiotage, von Spekulation spricht und wo in Momenten des Mangels alle Arten von Gerüchten auftauchen.«135 Für den Staatsanwalt ging es allerdings ersichtlich nicht darum, die Agences aufzulösen – im Gegenteil. Die Ursachen der meisten Gerüchte lägen nicht in ihrer Existenz an sich, sondern in ihrer »materiellen Organisation« begründet. Außer im Fall der beiden ältesten Einrichtungen in Soissons und Vie sur Aisne verfügten die Agences nämlich nicht über »eigenständige und ausschließlich zu diesem Zweck errichtete Gebäude«. Die Zusammenkünfte fänden vielmehr in »gewöhnlichen Wohnhäusern« und vor allem in den nahe gelegenen Cafés statt. Selbst in Soissons und Vie sur Aisne suchten die Händler nach Abschluss der Geschäfte die Cafés auf, um dort zu feiern. Das beraube den Kornhandel zumindest dem Anschein nach des »ernsthaften Charakters, den er haben sollte«. Die Händler und Bauern boten dann »dem Volk, das leidet und sich ängstigt, ein ärgerliches Spektakel, das es verbittert und seine Einstellung vergiftet. Dann kann es in den Versammlungen jener Männer, welche die Hauptnahrung der armen Klassen in ihren Händen halten, nur noch ihre Feinde und die Urheber [artisans] ihres Leids sehen«.136

133 AN CHAN BB 30 433: PI de Laon, note sur les agences, 9.11.1855. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd.

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Das Volk sehe »im tumultuösen Treiben der Agences eine Art Beleidigung des öffentlichen Elends«.137 Um Abhilfe zu schaffen, schlug der Beamte vor, die Versammlungen »so weit wie möglich von den Cafés und Herbergen zu isolieren«. Die örtlichen Aufsichtsbehörden sollten Maßnahmen ergreifen, um die Agences zu reglementieren, sie sollten den »Kornhandel verstärkt moralisieren, der ­Agiotage keine Ansatzpunkte lassen und den Geist der Spekulation in engen Grenzen halten«.138 Auch wenn Justizminister Abatucci zu der Überzeugung gelangte, dass die »Agences nicht aufgelöst, sondern reglementiert werden müssen«,139 ordnete er doch ihre »sorgfältige Überwachung« an, da die Möglichkeit »strafbarer Handlungen, die unter die Anwendung von § 419 Code Pénal fallen« keineswegs ausgeschlossen sei.140 Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, die Generallinie der »Regierungspolitik in der Subsistenzkrise« darzulegen: Sie stütze sich »hauptsächlich auf die möglichst vollkommene Handelsfreiheit. Regierungshandeln ist für solche Fälle reserviert, in denen betrügerische oder strafbare Manöver dazu genutzt werden, diese Freiheit einzuschränken oder zu lähmen«.141 Wie die Berichtslage der Justizverwaltung zur Teuerungskrise Mitte der 1850er Jahre insgesamt zeigt, war die Grenze zwischen zulässiger Spekulation und strafbarem Betrug keineswegs einfach zu ziehen. Im Gegenteil: Die moralischen Vorbehalte, die Beamte der Justiz auf allen Ebenen der Hierarchie gegenüber der Spekulation äußerten und die sich mit Befürchtungen über mobilisierende Wirkung spekulativen Verhaltens auf die leidende Bevölkerung verknüpften, führten in den Jahren 1855 und 1856 zunehmend zur Verwischung dieser Grenze und zur Entstehung einer Grauzone.142 Wie ein Schriftwechsel zwischen Innenminister und Justizminister im Jahr 1856 zeigt, war der rechtliche Status der Spekulation und insbesondere der Leerverkäufe nicht nur in der Beamtenschaft der Justizverwaltung, sondern selbst in der Regierung unklar. Gestützt auf entsprechende Berichte des Präfekten des Departements Maine-etLoire meldete der Innenminister im Mai 1856 an den Justizminister, dass 137 Ebd. 138 Ebd. Isolierung und Reglementierung – diese Lösung erinnert an jene, die in den 1860er Jahren für die Pariser Börse gefunden wurde, vgl. Thompson, V. E., S. 86–130. 139 AN CHAN BB 30 433: MJ, Note sur les agences: On ne doit pas supprimer les agences mais il faut les règlementer. 140 AN CHAN BB 30 433: MJ, an: PG d’Amiens, [o.T.], 11.10.1855. 141 Ebd. 142 Beispiele dafür gibt es zahlreich. Vgl. nur die Affären in St. Lô, Lieux, Fontenay, Magny und Vire, die in Caen anhängig waren, AN CHAN BB 30 433: Cour de Caen.- Selbst führende Nationalökonomen hielten in den 1850er Jahren noch an einer Unterscheidung zwischen Spekulation und Agiotage fest: »Die Handelsspekulation ist für die Gesellschaft nützlich und günstig, die Agiotage schadet ihr; außerdem ist sie immer gegen die Moral. […] Die Spekulation ist eine reguläre Operation; die Agiotage ist eine Wette, bei der die Spieler den Hintergedanken hegen, notfalls auch zu tricksen.« Say, H., Agiotage, S. 27; siehe auch ders., Bourse de commerce; ders., Spéculation.

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»die Agiotage in den Kornhandel vordringt und Korn und Mehl auf den Märkten bereits Gegenstand von Spekulationen sind, die sie wie die Staatsanleihen der Hausse und der Baisse aussetzt. So werden Geschäfte mit einem festgesetzten Liefertermin zum Tageskurs abgeschlossen, mit dem Zusatz: lieferbar oder nicht. Auf diese Weise kann ein Individuum, das nicht notwendig ein Händler sein muss, eine bestimmte Zahl Mehl- oder Kornsäcke kaufen oder verkaufen und erhält oder zahlt zum festgesetzten Liefertermin den Differenzbetrag zwischen dem Tageskurs des Geschäfts­ abschlusses und dem Tageskurs zum Zeitpunkt der fiktiven Lieferung«.143

Da er Anhaltspunkte für ähnliche Praktiken in anderen Departements hatte, regte er die Prüfung der Frage an, »ob solche Operationen, deren Ergebnis zwangsläufig eine künstliche Wertsteigerung von Waren ist, die für die öffentliche Versorgung [alimentation publique] unerlässlich sind, nicht in jeder Hinsicht betrügerische Manöver darstellen, die strafrechtlich verfolgt werden müssten«.144

Die Prüfung im Justizministerium unterstrich jedoch die Unterscheidung von Moral und Strafrecht. Er glaube nicht, notierte der Sachbearbeiter in seinem Gutachten, »dass die angezeigten Tatsachen, so sehr sie auch moralisch zu verurteilen sind, auf dem aktuellen Stand der Gesetzgebung strafrechtlich verfolgt werden können, da es keine strafrechtliche Bestimmung gibt, die auf sie angewandt werden könnte«.145 Solche Operationen stellten weder ein Koalitionsdelikt noch Warenbetrug noch einen anderen Rechtsverstoß dar. Sie seien vielmehr wie Wetten auf Staatsanleihen zu behandeln und stellten §§ 421/422 Code Pénal unter Strafe.146 Diese Paragrafen fänden auf Agiotage im Kornhandel jedoch keine Anwendung, weil der Gesetzgeber dies bereits im Verlauf der Redaktion des Code Pénal von 1810 explizit ausgeschlossen habe, obwohl die ursprüngliche Vorschlagsfassung dies noch vorgesehen hatte. Das sei freilich »bedauerlich«, denn »in einer Epoche wie der unseren, in der die Spekulation in all ihren Formen zum Schaden der öffentlichen Moral in alle Ränge der Gesellschaft Einzug hält, wäre es nützlich, mithilfe solcher Bestimmungen dem Lauf solcher schuldigen Umtriebe Einhalt gebieten zu können«.147 Vermutlich käme der Moment, in dem man die »absolute Notwendigkeit« sehe, mit einem »Spezialgesetz« diesen »Missbrauch« abzustellen. Dieses Gesetz läge 143 AN CHAN BB 18 1553 7006 A2: MI, an: MJ, Au sujet de l’agiotage dans le commerce des céréales, 15.5.1856. 144 Ebd. 145 Ebd.: o.A., note – au sujet de l’agiotage dans le commerce des céréales, 1.6.1856. 146 Die Paragrafen im Wortlaut: § 421: »Wer auf Hausse oder Baisse der Kurse von Staatsanleihen wettet, wird zu den in § 419 aufgeführten Strafen verurteilt.« § 422: »Als eine solche Wette soll jede Absprache gelten, Staatsanleihen zu verkaufen oder bei Fälligkeit zu übergeben, deren Besitz durch den Verkäufer zum Zeitpunkt der Absprache oder der fälligen Übergabe nicht bewiesen werden kann.« Code Pénal, S. 105. 147 AN CHAN BB 18 1553 7006 A2: o.A., note – au sujet de l’agiotage dans le commerce des céréales, 1.6.1856.

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ja bereits fertig formuliert vor; man müsse nur zur ursprünglichen Vorschlagsfassung des Strafgesetzbuchs zurückkehren. Einstweilen könne dem Innenminister jedoch nur geraten werden, solche »Maßnahmen zu ergreifen, die ihm geeignet scheinen, die [von der Agiotage, d. Vf.] ausgehenden Gefahren zu bannen«.148 In diesem Sinn antwortete der Justizminister wenig später seinem Kollegen im Innenressort, regte aber zugleich an, beim Kaiser im Sinn einer Novellierung des Strafrechts zu intervenieren.149 2.3 Betrug bei der Warenqualität und im Verkauf Die Beamten stellten fest, dass »die Preise, die das Korn dieses Jahr erreicht hat, Anlass für zahlreiche Betrügereien geben.«150 Bei der Strafverfolgung von Mehlfälschungen und Täuschungen über das Brotgewicht verfügten die Beamten über eine sichere Rechtsgrundlage: »Diese Tatsachen fallen unter die Anwendung des Gesetzes vom 27. März 1851«.151 Im Hinblick auf die inkriminierten Formen des Produktbetrugs gab es jedoch deutliche Unterschiede. Zur strafrechtlichen Routine gehörte die Ermittlung und Verurteilung von Gewichts­ täuschungen durch Bäcker beim Brotverkauf. Bezugnehmend auf die erwähnte Bäckerkoalition von Poitiers schrieb Damay: »Diese Ermittlungen haben außergewöhnliche und vorübergehende Gründe. Sie führen nicht zur Vernachlässigung derjenigen, die den Konsumenten täglich gegen Nachlässigkeit oder Betrug schützen«.152

In Poitiers waren 14 Bäcker wegen Gewichtsbetrug verurteilt worden. Von solchen Fällen machten die Beamten relativ wenig Aufhebens und meldeten in der Regel kaum mehr als die Zahl der wegen »Täuschung über das Brotgewicht« ver148 Ebd. 149 AN CHAN BB 18 1553 7006 A2: MJ, an: MI, au sujet de l’agiotage dans le commerce des céréales, 6.6.1856. 150 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, subsistance – situation morale et politique du ressort – rapport, 12.4.1854. 151 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, [o.T.], 9.2.1854. Allerdings war das Gesetz in der Teuerung 1853–1856 noch relativ neu und in der Praxis offenbar nicht überall bekannt. So wandte der Staatsanwalt von Le Blanc (Indre) in einem Fall, in dem Bäcker »Korn verkauft hatten, das nicht das Gewicht hatte, das es der Form nach haben sollte«, § 419 CP an. Der Freispruch erregte den Unwillen des Unterpräfekten und gab Anlass zu einer Prüfung im Justizministerium: »Nun finden die Bestimmungen dieses Paragrafen im Fall der Bäckerei nur dann Anwendung, wenn Bäcker Brot unterhalb des von der Taxe festgelegten Gewichts verkauft haben«. Man müsse im vorliegenden Fall vielmehr § 1, Abs. 3 des Gesetzes vom 27.3.1851 anwenden, das den bestrafe, der »über die Menge der verkauften oder gelieferten Ware täuscht oder zu täuschen versucht«, siehe AN CHAN BB 30 433: o.A., note, 19.6.1856; vgl. auch ebd.: MI, an: MJ, 13.6.1856; MJ, an: PG de Bourgs, 19.6.1856. 152 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, cherté des grains, poursuites, 9.9.1853.

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folgten153 oder verurteilten154 Bäcker. Eine Ausnahme von der Regel stellte der für einiges Aufsehen sorgende155 Prozess gegen die Bäcker von Tourcoing (Nord) im Januar 1856 dar, die sowohl wegen gemeinschaftlichen Preisauftriebs (Koalition nach § 419 Code Pénal) als auch wegen Mengenbetrugs verurteilt wurden. Sie hatten eine uneindeutige Definition der taxierten Brotsorten dazu genutzt, andere Mehlsorten zu verbacken und das Brot zu einem höheren Preis zu verkaufen, als die Kundschaft »aufgrund der örtlichen Bräuche« annehmen konnte.156 Zu umfangreicheren Berichten und Korrespondenzen zwischen Oberstaatsanwaltschaften und Justizministerium führten dagegen Ermittlungen und Strafverfahren, in deren Mittelpunkt verdorbenes Korn oder gestrecktes Mehl stand. Aufgrund des Preisunterschieds zwischen Getreide- und Gemüsemehl hätten »die Bäcker großes Interesse, beides zu mischen«, stellte Damay im April 1854 fest.157 Dokumentiert sind zwei größere Affären, die auf unterschiedliche Weise Aufschluss über die Logik der Strafverfolgung geben.158 Da war zum einen die Verurteilung eines Bäckers im Frühjahr 1854 in Brest, der zur Herstellung seines Brotes Mehl »vierter Qualität« verwendet hatte. Die Staatsanwaltschaft in Brest ermittelte auch die Müller, die das Mehl geliefert hatten, und wollte sie ebenfalls vor Gericht stellen  – nicht allerdings, ohne sich entsprechende Rückendeckung geben zu lassen: »[Der Staatsanwalt] fragt, ob er auch den Müller gerichtlich belangen soll. Ich habe nicht gezögert, das zu bejahen. Lelan stellt Lebensmittel für den Verkauf her; er fälscht sie, denn sie enthalten keines der Elemente, die sie ausmachen; und er verkauft sie im Wissen, dass sie gefälscht sind. […] Das Ausmaß, das diese Affäre zu nehmen scheint, hat [den Staatsanwalt, d. Vf.] etwas beunruhigt, denn alle Müller wären so zu verfolgen wie Lelan«.159

Er löste diese Frage, indem er sich auf die Expertengutachten berief. Ihnen zufolge waren lediglich Lelan und ein Lagerist verantwortlich; man müsse die Wirkung abwarten, welche die Veröffentlichung des Urteils auf »diese Spekulanten« habe.160 153 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, 26.9.1853. 154 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, [o.T.], 9.2.1854. 155 Über das Verfahren berichtete der Moniteur universel sowie die Gazette des tribunaux, siehe AN CHAN BB 30 433: PG de Douai, an: MJ, Coalition de Tourcoing [boulangers], 18.1.1856. 156 AN CHAN BB 30 433: Cour Impériale de Douai, chambre des appels de police correc­ tionnelle, présidence de M. Bigand, president, audiences des 8 et 15 Janvier 1856/affaire des boulangers de Tourcoing/Coalition/Tromperie sur la nature de la chose vendue/Provocation à la désobéissance aux lois, 15.1.1856. 157 AN CHAN BB 30 432: PG de Poitiers, an: MJ, subsistance – situation morale et politique du ressort – rapport, 12.4.1854. 158 Siehe außerdem: AN CHAN BB 433: PG de Rennes, an: MJ, 18.12.1855; PG de Caen, an: MJ, subsistances, 2.6.1856; PG de Rennes, an: MJ, 13.10.1855. 159 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: MJ, [o.T.], 9.2.1854. 160 Ebd.

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Zum anderen war da die Affäre des »ägyptischen Weizens« im Jahr 1856, die mehrere Besonderheiten aufwies. Erstens wurde sie an verschiedenen Orten in Frankreich verhandelt – in Pont-l’Évêque (Calvados), Abbeville (Somme) und Charleville (Ardennes); die Berichte vollzogen aber jeweils die Herkunft der Kornladungen nach und rekonstruierten auf diese Weise ein überregionales Handelsnetz, das sich zwischen Marseille, Le Havre, Paris und Westfrankreich entspann. Zweitens spielte gelehrte Expertise nicht nur bei der Entscheidungsfindung vor Gericht eine entscheidende Rolle, sondern auch in der rechtspolitischen Behandlung der Affäre durch das Justizministerium. Dies geschah  – drittens – nicht zuletzt deswegen, weil der inkriminierte »ägyptische Weizen« von den Handelshäusern Darblay und Rothschild importiert und geliefert worden war. Darblay betrieb den Mühlen- und Speicherkomplex Grand Moulin in Corbeil an der Seine bei Paris; gleichzeitig gehörte Darblay aîné dem Aufsichtsrat der Banque de France an;161 das Bankhaus Rothschild investierte ebenfalls im Korngeschäft.162 Das Gericht von Pont-l’Évêque sprach im März 1856 den Kornhändler Pinel aus Le Havre in erster Instanz von dem Verdacht frei, wissentlich eine mit dem Schiff aus Marseille gelieferte, verdorbene Ladung »ägyptischen Weizens« an einen örtlichen Händler verkauft zu haben. In dieser Affäre stand die Täuschungsabsicht des Händlers, die Qualität des Korns und die Expertise des vom Zoll in Le Havre mit der Begutachtung beauftragen Apothekers infrage. Beim Mahlen in Pont-l’Évêque hatte das Korn »ein gelbliches, pulverähnliches und stinkendes Mehl ergeben, das sich für die Verbackung als vollständig ungeeignet« erwies. Der Händler hatte versuchsweise auch einige Säcke zur örtlichen Agence geschickt, wo sein »ekelerregender Geruch und sein pulvriger Anblick« den Verdacht des Kommissars erregten. Eine Expertenprüfung stellte auch hier fest, dass der Weizen »zum großen Teil verdorben, von Insekten befallen und vollkommen ungeeignet für den Verzehr« war. Das vom Ermittlungsrichter angeordnete Gutachten bestätigte alle vorherigen. Pinel wurde jedoch freigesprochen, weil das Gericht ihm zugutehielt, dass er sich auf das positive Gutachten des Zolls von Le Havre verlassen hatte. Der Oberstaatsanwalt ging daraufhin in Berufung, weil er Pinel unterstellte, selbst über »Spezialkenntnisse zu verfügen, die ihn notfalls als Experten ausweisen« und er die schlechte Qualität des Weizens folglich habe erkennen müssen. Er wollte damit »ein Exempel statuieren, um die Bevölkerung meines Ressorts gegen die merkantilen Interessen von Le Havre zu schützen und der Invasion von Lebensmitteln vorbeugen, deren Verzehr für die öffentliche Gesundheit verhängnisvoll wäre«.163

Pinel wurde schließlich doch zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. In einer Mitteilung an Landwirtschafts- und Handelsminister Rouher wies Justizminis161 Vgl. Plessis, Les régents. 162 Ebd. 163 AN CHAN BB 30 433: PG de Caen, an: MJ, 11.3.1856.

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ter Abatucci auf die »seltsame Leichtfertigkeit« hin, mit der der Experte in Le Havre den verdorbenen Weizen zum Verzehr freigegeben hatte.164 Rouher kündigte in seinem Antwortschreiben an, dass in Abstimmung mit dem Finanzministerium bereits Maßnahmen getroffen würden, um das »aktuelle System zur Prüfung der Lebensmittel« zu ändern.165 Das Problem des »ägyptischen Weizens« und seiner Qualität beschäftigte die Justizverwaltung zwischen Spätsommer 1856 und Frühjahr 1857. Anfang August 1856 hatten in Abbeville und in Charleville fast gleichzeitig Prozesse begonnen, in denen es um beschlagnahmte Mengen »ägyptischen Weizens« ging, die ursprünglich von Darblay verkauft worden waren und über weitere Händler ihren Weg auf die lokalen Märkte bzw. in die Backstuben gefunden hatten. In beiden Fällen nahm Landwirtschafts- und Handelsminister Rouher Einfluss auf die Verfahren, indem er über den Justizminister ein positives Gutachten über den fraglichen Weizen einer in seinem Ministerium eingerichteten Expertenkommission an die jeweiligen Richter überstellen ließ.166 Der Justizminister erhielt darüber hinaus eine Denkschrift von Darblay selbst,167 die ebenfalls direkt an die Staatsanwälte geleitet wurde.168 Dieser Vorgang ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen versuchte Innenminister Rouher im Verein mit der Justizverwaltung, die Gültigkeit von Gutachten aufzuheben, die von den Gerichten vor Ort bestellte Experten ausgearbeitet hatten.169 Der geflissentlich übergangene Oberstaatsanwalt von Metz erkannte, worauf es ankam: »Ich hatte durch eine Ihrer Depeschen erfahren, dass in Paris bereits Experten mit der Prüfung des Weizens beauftragt worden waren, die Gegenstand einer Ermittlung in Amiens sind. Da es in Charleville keine Experten gibt, die fähig genug wären, die während der dortigen Ermittlung aufgeworfenen Fragen zu klären, hielt ich es für nützlich, diese Fragen ebenfalls den Pariser Experten zu unterbreiten. Dies schien mir den doppelten Vorteil zu haben, sowohl den Angeklagten bessere Garantien zu bieten als auch die Forschungen zu unterstützen, die der Landwirtschaftsminister bezüglich des ägyptischen Weizens durchführen lässt«.170

Die Gutachten der Expertenkommission des Landwirtschaftsministeriums wie der vom Gerichtshof in Paris bestellten Experten kam übereinstimmend zu dem Schluss, dass der ägyptische Weizen zwar nicht gesundheitsschädlich, aber von 164 AN CHAN BB 30 433: MJ, an: MI, vente de blé avarié et corrompu, 13.3.1856. 165 AN CHAN BB 30 433: MI, an: MJ, Vente de blés avariés/condamnation, 12.4.1856. 166 AN CHAN BB 30 433: PG d’Amiens, an: PI d’Abbeville, [o.T.], 4.8.1856; MACTP, an: MJ, condamnation pour vente de blés et farine corrompus. Renseignements sur les blés d’Egypte, 19.8.1856; MJ, an: PI de Charleville, saisie de blé d’égypte, 19.8.1856; MJ, an: PI de Charleville, siaisie de blé d’Ègypte, 21.8.1856. 167 AN CHAN BB 30 433: o.A., Note. 168 AN CHAN BB 30 433: MJ, an: PI de Charleville, siaisie de blé d’Égypte, 21.8.1856. 169 AN CHAN BB 30 433: MJ, an: MACTP, condamnation pour vente de blés et farine corrompus, 19.8.1856. 170 AN CHAN BB 30 433: PG de Metz, an: MJ, 8.9.1856.

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sehr schlechter Qualität sei. Man könne »die Qualität des ägyptischen Weizens mithilfe von Reinigungs- und Waschverfahren zwar verbessern«, er behalte jedoch »einen unangenehmen Geruch und Geschmack […], was selbst nach dem Mahlen und Backen zu bemerken« sei.171 Die Experten des Pariser Gerichts  – Maurice Chevallier, Professor an der École de Pharmacie, und der Chemiker Jean-Louis Lassaigne – bescheinigten die miserable Qualität (»eine Mischung verschiedener Weizensorten«; »enthält wenig Gluten«; »das Mehl ist von niederer Qualität [3. und 4. Qualität]«), hielten aber ebenfalls fest, dass der Weizen »weder verdorben noch havariert« sei.172 Einfluss auf die Qualifizierung des Weizens vor Gericht nahm die Verwaltung zum anderen, weil die Familie Darblay mit dem bonapartistischen Regime eng verbunden war. Das barg, je länger die Teuerung anhielt, ein desto größeres Risiko. Die Oberstaatsanwaltschaft von Paris meldete im September 1855, dass »mehrere große Müllereien (und besonders das Haus Darblay) in aller Öffentlichkeit Korn durch ihre Agenten noch vor Ende der Ernte aufkaufen« – mit »ärgerlichen« Folgen, denn »sie lassen Pläne reifen, deren Verwirklichung für die öffentliche Ordnung eine ernsthafte Gefahr wäre«.173 Im September 1854 fand man in Essonnes, Anfang Oktober 1855 in Corbeil »aufrührerische Plakate«, die das Haus Darblay direkt anklagten und im zweiten Fall eine unmittelbare Beziehung mit dem Regime herstellten. »Vereinen wir uns, Brüder und Arbeiter, um aufzuhängen: Darblay fils, Darblay père und Morel. Sie verdienen es gehängt zu werden«.174 Und im Oktober 1855 in Corbeil: »Darblay und Louis-Napoléon haben zusammen durch Kornagiotage seit drei Jahren 500 Millionen verdient«.175 Den Gutachten der Pariser Experten wuchs deshalb eine zentrale Bedeutung zu: »Wenn sie den Wert des ägyptischen Weizens als Nahrungsmittel definitiv bestätigen, werden der Regierung die Mittel gegeben, die gefährlichen Gerüchte zu zerstreuen, welche die Leichtgläubigkeit der Massen mit so großer Leichtigkeit in die Welt setzt«.176

Der Fall des von Darblay aus Ägypten importierten und seit Juni 1856 durch Fluss- und Küstenschifffahrt in ganz Frankreich verteilten Weizens177 musste deshalb geregelt werden, bevor aus den lokalen Affären eine »Affäre Darblay« werden konnte. Wesentlich sei, schrieb der Oberstaatsanwalt von Amiens an den Staatsanwalt von Abbeville, dass alle Zweifel ausgeräumt würden, »denn es wäre 171 AN CHAN BB 30 433: MACTP, an: MJ, condamnation pour vente de blés et farine corrompus. Renseignements sur les blés d’Egypte, 19.8.1856. 172 AN CHAN BB 30 433: PI de Charleville, an: MJ, 17.9.1856. 173 AN CHAN BB 30 433: PG de Paris, an: MJ, 7.9.1855. 174 AN CHAN BB 30 432: PG de Paris, an: MJ, 23.9.1854. 175 AN CHAN BB 30 433: PG de Paris, an: MJ, 13.8.1855. Davon ging Gefahr aus, denn die Schrift »enthielt nicht einen einzigen Rechtschreibfehler«. 176 AN CHAN BB 30 433: MJ, an: PI de Charleville, saisie de blé d’Égypte, 21.8.1856. 177 Der Oberstaatsanwalt von Amiens holte Erkundigungen bei seinen Kollegen in Orléans, Bourges und Nantes ein, siehe AN CHAN BB 30 433: PG d’Amiens, an: MJ, 10.9.1856.

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gefährlich, den im Volk bereits weitgehend als Gewissheit betrachteten Verdacht öffentlich zu bestätigen, dass man ihm aus havariertem Mehl gemachtes Brot zu essen gibt«.178 Darblay selbst stellte schließlich Vergleichsproben seines Weizens bereit, um Vorwürfe auszuräumen.179 Und so deutete für Justizminister Abatucci am Ende nichts mehr darauf hin, »dass sich der Betrugsverdacht gegen Darblay […] erhärtet, über den [er] ja im Übrigen durch seine ehrenhafte Vergangenheit und großen Verdienste um das Land in der aktuellen Subsistenzkrise weitgehend erhaben [ist].«180 Die vielfältigen Aktivitäten der Justizverwaltung in der Teuerungskrise Mit­ te der 1850er Jahre zielten auf eine weitgehende Entpolitisierung der Subsistenzfrage. Von vornherein rechneten die Beamten, vom Justizminister bis zum Staatsanwalt, seit den ersten Kurssprüngen im Spätsommer 1853 mit einer Instrumentalisierung der Teuerung durch Regimegegner. Inwieweit dies tatsächlich der Fall war, ist allein auf Grundlage der hier ausgewerteten Justizakten nicht ersichtlich. Die Hinweise darauf, dass die hohen Kornpreise in der Bevölkerung mit politischer Bedeutung versehen wurden, sind jedoch zahlreich. Oft reichte offenbar die Verwendung einschlägiger Semantiken wie »rote Republik« oder Bezugnahmen auf lokale Honoratioren und Napoléon III., auf Plakaten, in Straßengesprächen oder Gerüchten, um den Justizapparat in Bewegung zu setzen. Die dann einsetzende Strafverfolgung diente zwar dem Versuch, die Subsistenzfrage zu entpolitisieren, zugleich hatte das repressive Auftreten der Justiz jedoch wiederum selbst Politisierungseffekte. Nichts verdeutlicht den manichäischen Anspruch der Regierung, die gesellschaftliche Kommunikation über die Teuerung zu disziplinieren, besser als die Identifikation, Ermittlung und Zensur »falscher Nachrichten«. Mithilfe dieses Rechtsinstruments konstituierte die Verwaltung ein ›Wahrheitsregime‹: Wer sich mit Aussagen über die Teuerung im von der Regierung sanktionierten Wahren befand, hatte nichts zu befürchten – er galt als guter braver Bürger; wer dagegen abweichende Äußerungen tätigte oder öffentlich widersprach, geriet schnell in den Verdacht, die braven Bürger aufwiegeln zu wollen, und rückte unweigerlich in die Nähe der »Ordnungsfeinde«. Ähnlich verhielt es sich mit der Verfolgung von Koalitionen nach §§ 419/420 Code Pénal. Der Doppelparagraf wurde als juristisches Erkenntnismittel auf ein breites Spektrum von kollektiven Verhaltensweisen angewendet, von spontanen Ansammlungen über verabredete Versammlungen und Vereinigungen bis zu Spekulationsgeschäften. Unterdrückt wurden alle Assoziationen, die ohne Initiative oder Führung durch lokale regimetreue Honoratioren entstanden waren. Bezeichnenderweise fand diese repressive Strategie ihre Grenze in der Kornspekulation, die traditionell aus dem strafrechtlichen Rahmen von §§ 419/420 Code Pénal herausfiel und sich in den 1850er Jahren stark ausbreitete. Dass die Justizbeamten in178 AN CHAN BB 30 433: PG d’Amiens, an: PI d’Abbeville, [o.T.], 4.8.1856. 179 AN CHAN BB 30 433: MJ, an: PI de Charleville, saisie de blé d’Égypte, 21.8.1856. 180 AN CHAN BB 30 433: MJ, an: PG d’Amiens, [o.T.], 6.8.1856.

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formelle Mittel und Wege fanden, ihre massiven moralischen Vorbehalte gegenüber dem Termingeschäft gesellschaftlich wirksam werden zu lassen, steht außer Frage. Solche Zurückhaltung mussten die Justizbeamten gegenüber dem in Teuerungsphasen weit verbreiteten Phänomen des Warenbetrugs nicht walten lassen. In diesen Fällen gab es seit 1851 eine neue gesetzliche Grundlage, von der die Justiz regen Gebrauch zu machen begann, um Bäcker zu verfolgen, die beim Wiegen betrogen, oder Müller zu verurteilen, die ihr Mehl gestreckt hatten. In diesem Sinn war die Teuerungsphase der 1850er Jahre auch eine Bewährungsprobe für dieses Gesetz. Sichtbar wird hier bereits eine zukunftweisende Politik der Begutachtung. Um eine regimetreue Familie gegen Gerüchte schützen zu können, wurden wissenschaftliche Autoritäten in Paris bemüht und ihre Gutachten breit publiziert.

3. Verwaltung im Ausnahmezustand: Teuerungspolitische Praktiken der Innenbehörde im Finistère, 1853–1856 Die Innenverwaltung hatte in der Kornteuerung Mitte der 1850er Jahre das gesamte Feld der Subsistenz als ordnungspolitische und polizeiliche Staatsaufgabe vor sich. Während die Justiz sich hauptsächlich auf Rechtspolitik, Strafverfolgung und die Durchsetzung von Normen und Verboten konzentrierte, stand für die Innenbehörden die praktische Ordnung des Korn-, Mehl- und Brotmarktes im Vordergrund – im ganzen Land wie im kleinsten Dorf.181 Auf ministerieller Ebene waren hauptsächlich die Ressorts des Inneren sowie das der Landwirtschaft, des Handels und der Öffentlichen Bauten als Oberbehörden involviert. Ihre Instruktionen ergingen an die einzelnen Präfekturen, die als Schaltstellen zwischen Zentral- und Gebietsverwaltung mit den Unterpräfekten, Staatsanwälten, Bürgermeistern, Polizeikommissaren, Gendarmeriekommandanten sowie mit Beratungsgremien wie Handels- und Landwirtschaftskammern korrespondierten. Während der Teuerung schwoll in dieser staatlichen Infra­ struktur – ähnlich wie in der Justizbehörde – das Weisungs-, Berichts- und Dokumentationsaufkommen stark an und konstituierte einen diskursiven Raum, 181 Im ganzen Land wie im kleinsten Dorf: In diesem Abschnitt steht wie im vorigen die Kommunikation innerhalb der Verwaltung im Mittelpunkt, nicht der lokalgeschichtliche Fall und seine Einbettung. Es geht demnach nicht um ein »Spiel der Maßsstäbe« (J. Revel), d. h. unterschiedlich weite oder enge Fokuseinstellungen (Mikro, Meso oder Makro), sondern um die Zirkulation von Macht in den Kommunikationskanälen der Verwaltung. Das Finistère ist in gewisser Hinsicht willkürlich gewählt – jedes andere Departement, in dem die archivalische Überlieferung es zulässt, die Kette der Weisungen und Berichte so genau rekonstruieren, hätte den Zweck auch erfüllt. Freilich schreiben sich die besonderen Gegebenheiten der Lokalität jedoch in die Kommunikation ein. Vgl. zum Raumverständnis­ Döring u. Thielemann; Middell; Werber; zur Zirkulation von Macht Latour, Macht.

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indem die Teuerung als sozioökonomische und politische Krise für die Verwaltung selbst Gestalt annahm. Wie kommunizierten die Beamten miteinander über die Teuerung, wie beschrieben und analysierten sie die Krise, ihre Ursachen, den Mangel, die Stimmung in der Bevölkerung, das soziale Gefüge des Korn-, Mehl- und Brotmarktes, welche Gefahrenszenarien entwarfen sie, welches Wissen entwickelten sie und welche Praktiken wählten sie zur Bekämpfung der Krisenphänomene? Die mit Abstand größte Stadt des Finistère182 war mit 62.792 Einwohnern im Jahr 1846 und 79.847 im Jahr 1866 der Marinehafen Brest. Die regionale wie überregionale Bedeutung der lange Zeit vor Rennes und Nantes bevölkerungsreichsten Stadt der Bretagne ergab sich daraus, dass hier eine der beiden Hauptgarnisonen der französischen Marine stationiert war und Brest die für die Atlantikküste zuständige »Seepräfektur« (préfecture maritime) beherbergte (Toulon beherbergte die Seepräfektur des Mittelmeerraums). Das Nebeneinander militärischer und ziviler Strukturen prägte die Stadt in mehr als einer Hinsicht. Die Marine okkupierte beide Ufer des tiefen Einschnitts der Penfeldmündung mit ihren Kais, Docks und Arsenalen. Der zivile Handel konnte den Fluss nicht nutzen und musste für die Anlandung größerer Gütermengen auf vor der Stadt gelegene Molen ausweichen. Über einen zivilen Hafen verfügte die Stadt erst am Ende des Zweiten Kaiserreichs.183 Der Anteil des Militärs an der Stadtbevölkerung schwankte im 19. Jahrhundert zwischen zehn (in Friedenzeiten) und dreißig Prozent (unmittelbar vor, während und kurz nach Kriegen). Aber auch ein großer Teil der zivilen Arbeiterschaft, des Handels und der Industrie hing von den Arsenalen und der Marinerüstung ab. Über ihre Verpflegungskäufe hatte die Seepräfektur erheblichen Einfluss auf die gesamte landwirtschaftliche Produktion und den Korn- und Mehlhandel im südlichen Teil  des Departements.184 Der Handel des Bezirks Brest wie des Departements war – vor allem im Norden – über die Kanalküste und den dort gelegenen Hafen Morlaix an den internationalen Kornhandel mit 182 Das im äußersten Nordwesten Frankreichs gelegene Finistère galt in der modernisierungstheoretisch geprägten Forschung der 1970er Jahre als Inbegriff der Rückständigkeit einiger ländlicher Regionen im 19.  Jahrhundert. In der Wirtschaftsstruktur weitestgehend agrarisch geprägt, durch Getreideanbau und Viehzucht mit teilweise »archaischen« Produktionsmitteln, die wenig differenzierte Industrie auf die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte und ihre Vermarktung konzentriert; in Sozialstruktur und Kultur durch eine bäuerliche Sozialität geprägt, eine Gesellschaft, die noch um 1900 zu 30 Prozent bretonisch sprach, deren Konservatismus sich einer »mystischen« Religiosität verdankte und die von monarchistischen Adligen und Priestern dominiert wurde – das ist in etwa das Bild, das die Forschung lange gezeichnet hat, vgl. etwa Geslin, Meyer; Le Gallo; Désert u. Specklin. Ausgehend von der Regionalgeschichte hat sich dagegen seit den 1990er Jahren eine weniger stark von Entwicklungsteleologien geprägte Geschichtsschreibung des Finistère und der Bretagne entwickelt, die nach einer spezfisch bretonischen Modernität fragt, vgl. Martin; Lagree; Minois. 183 Cloître-Quéré, Place. 184 Ebd.

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England angeschlossen. Bevor im Jahr 1865 die Bahnstrecke Brest – Rennes eröffnet wurde, die Brest mit Paris verband, wurde ein großer Teil des Handels durch Küstenschifffahrt (cabotage) abgewickelt.185 Als Verwaltungsgebiet gliederte sich das Finistère in die fünf Bezirke Brest, Châteaulin, Morlaix und Quimperlé; den Bezirk Quimper verwaltete der Generalsekretär der dort ansässigen Präfektur. Während auf den unteren Rängen der Beamtenschaft, unter den Unterpräfekten und Polizeibeamten, hohe Fluktuation herrschte, blieben zwei Beamte vergleichsweise lange im Amt: Charles-Louis-Victor Baron de Richard (1803–1888) war während des Zweiten Kaiserreichs landesweit der Präfekt mit der längsten Amtszeit in einem Departement.186 Vor seinem Eintritt in die Verwaltung war Richard in Rouen als Journalist tätig und übernahm nach der Februarrevolution in den Jahren 1848/49 nacheinander die Unterpräfekturen von Châteaulin und Morlaix, bevor er im Jahr 1851 zum Präfekten ernannt wurde und den bonapartistischen Staatsstreich Anfang Dezember desselben Jahres im Departement absicherte.187 Auf eine ähnliche lange Amtszeit kam während des Zweiten Kaiserreichs nur Hyazinthe Bizet (1800–1866), von 1850 bis 1865 Bürgermeister von Brest. Zum Bankkaufmann ausgebildet, trat Bizet 1848 in Brest erfolglos auf einer gemäßigt-republikanischen Liste bei den Wahlen zur Nationalversammlung an. Die Kandidaten dieser Liste, schätzte ein Polizeibericht im Vorfeld der Wahl, fänden sich anschließend »allesamt in den Rängen der Jakobiner« wieder.188 Dass Bizet 1848 als Bürgermeister gewählt wurde, hatte auch damit zu tun, dass sein Vorgänger Lettré in der Teuerungskrise 1846/47 die vermögende Brester Bürgerschaft gegen sich aufgebracht hatte. Bizet folgte als Bürgermeister auf Lettré und hielt sich bis ins Jahr 1865. Sein Nachfolger, der Holzhändler Jean de Kerros, blieb seinerseits bis 1872 im Amt.189 Auf der Ebene der Unterpräfekturen und der leitenden Polizeikommissare bietet sich dagegen ein Bild beständiger Diskontinuität. Zwischen 1851 und 1872 versahen in Brest nicht weniger als acht Beamte das Amt des Unterpräfekten.190 Ähnlich unbeständig war die Lage bei der Brester Polizei, die über fünf Kommissariate mit jeweils sechs Polizisten (sergents) verfügte. Nur der aus Avignon nach Brest versetzte Zentralkommissar Genty blieb in den 1850er Jahren für längere Zeit in der Stadt.191 Die Gendarmerie war im Departement mit vier Brigaden vertreten, im Bezirk Brest allerdings erst ab 1853 mit einem eigenen Posten.192 185 Le Bouedec, Réseau; ders., Pluriactivité. 186 Le Clère u. Wright, Les préfets, S. 95. 187 Le Gall, L., Décembre. 188 Cloître-Quéré, Aspects, S. 731 ff. 189 Dies., Brest, S. 131 f. 190 Lamoussière u .Laharie, S. 840–845; zur ähnlichen Situation während der Julimonarie, vgl. Lagadec u. Le Bihan, Les sous-préfets. 191 Vgl. die Personalakten der Polizisten in ADF 4M53. 192 Vgl. Carluer.

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Die lange Verweildauer im Amt kann bereits als ein Anzeichen dafür gewertet werden, wie stark Bizet und Richard in das soziale Netz der Oberschicht vor Ort integriert waren. Einige Assoziationen, Honoratioren und Industrielle sind hervorzuheben.193 Im stark ländlich geprägten Sozialraum des Finistère spielten die Beratungsinstitutionen der agrarischen Gesellschaft, die Comités d’agriculture und Comices agricoles, eine zentrale Rolle, sei es in der Vermittlung ordnungspolitischer Maßnahmen oder bei der Erstellung der Agrarstatistik.194 Einige lokale Honoratioren wie der aus bretonischem Adel stammende Grundbesitzer Théophile de Pompéry, ein Vertreter des sozialkatholischen Fourierismus im Finistère, beschäftigten sich auf ihren Gütern mit agronomischen Experimenten. De Pompéry etwa vermittelte unter anderem »moderne« Produktionsmethoden in bretonischer Sprache.195 Zu den wichtigsten Größen im sozialen Netzwerk zwischen Bürgertum und Verwaltung stiegen während des Zweiten Kaiserreichs jedoch einige Geschäftsleute auf, im Norden des Departements die Gutsbesitzer und Getreidegroßhändler der Gegend um Morlaix, im Süden des Departements, besonders in der im Bezirk Brest gelegenen Kommune Landerneau, eine Gruppe von Industriellen, welche die Dampfmaschine in die Mühlenwirtschaft einführten. Zwar verlief der Industrialisierungs- und Kapitalisierungsprozess der Müller im Finistère im nationalen Vergleich wahrscheinlich auf einem niedrigen Ausgangsniveau.196 Mittelfristig hatte die Kopplung von Dampfkraft und Mahlwerken im ökonomischen Gefüge des Bezirks Brest jedoch erhebliche Auswirkungen. Zudem war es der Kontext dieser Transformation, in dem Industrielle wie der als »Visionär und Projektmacher« gezeichnete Aristide Vincent (1894–1887)197 auch und gerade in der Auseinandersetzung mit den Beamten offensiv für die »Freihandelsdoktrin« eintraten und im Verlauf der Teuerung Mitte der 1850er Jahre mit neuen Produktionsmethoden die Hegemonie auf den lokalen Kornund Mehlmärkten übernahmen. Der zeitliche Rahmen für die Krisenkommunikation in der Verwaltung wird durch zwei ministerielle Instruktionen markiert. Knapp sechs Wochen nach der Krönung Louis-Napoléons zum Kaiser instruierte Landwirtschafts- und Handelsminister Lefebvre-Duruflé am 16. Januar 1852 die Präfekten. Die »allgemeine Wiederbelebung des Geschäftslebens« sei ein »Symptom der neuen Situation« und verdiene deshalb besondere Aufmerksamkeit. Nachdem es in den vorherigen Jahren fast keine »großen Kornhandelsoperationen« mehr gegeben habe und der Kornpreis stark verfallen sei, müsse man mit der »Rückkehr der Sicherheit und des Vertrauens« annehmen, dass es auf den Hauptmärkten häufiger zu Fluktuationen kommen werde. »Für die Verwaltung ist dies Anlass, alle 193 Siehe zum Folgenden Cloître-Quéré, Notables. 194 Vgl. hierzu Mayaud, Pratiques. 195 Pompéry; zu de Pompéry siehe Martin, S. 45–60. 196 Bergeron, Forme. 197 Manah; vgl. auch Cloître-Quéré, Brest, S. 130 f.

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Bewegungen des Kornmarktes mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen.« Die Präfekten sollten deshalb unter anderem alles melden, was »die Subsistenzfrage betrifft und geeignet scheint, die Regierung über die allgemeine Bewegung des Kornhandels und den Stand der Vorräte aufzuklären«.198 Die Hausse, die der Minister in dieser Instruktion implizit vorausgesagt hatte, trat im Verlauf des Jahres ein und wuchs sich im Sommer 1853 sogar zu einer Teuerungskrise aus, die mehrere Jahre anhielt. Ihr Ende markierte in der Verwaltungskommunikation ein vertrauliches Rundschreiben des nun amtierenden Landwirtschafts- und Handelsministers Rouher. Am 9. Oktober 1857 informierte er die Präfekturen darüber, dass die Kornpreise erheblich verfallen seien und die Regierung nun erwäge, die prohibitiv wirkenden und kompliziert zu handhabenden Stufenzölle auf Getreide aufzuheben, damit der Überschuss ins Ausland verkauft werden könnte.199 Dieses Vorhaben folgte dem freihändlerischen Leitprinzip, dem die Regierung auch in der Teuerungsphase treu blieb. Die Aufhebung der Zölle war jedoch sowohl in der Bevölkerung als auch in der Beamtenschaft selbst umstritten. Die vertrauliche Abfrage der Position der Präfekten diente insgeheim dazu, die Durchsetzbarkeit der Reform in der Niedrigpreisperiode zu prüfen.200 Sie markiert zugleich den Einstieg in ausführliche, länger andauernde Beratungen im Conseil d’État, die nach 1860 zu grundlegenden Veränderungen im Kornaußenhandel und im Bäckereigewerbe führten. 3.1 Die politische Rationalität des Verwaltens in der Subsistenzkrise, 1853–1856 Betrachtet man die zahlreichen Instruktionen und Berichte, Statistiken und Protokolle, die auf allen Ebenen der Verwaltung zwischen Sommer 1853 und Herbst 1856 zur Teuerung in Paris und in den Verwaltungssitzen des Finistère entstanden, in ihrer Gesamtheit, dann zeigen sich bei den von den Beamten für angemessen gehaltenen Vorgehensweisen sowohl subtile Abweichungen als auch offene Spannungen. Der Hauptfokus der administrativen Aufmerksamkeit verschob sich in den drei Jahren der Teuerung deutlich. Das Grundproblem, mit dem sich die Präfekturen seit Beginn der Teuerung konfrontiert sahen, war Mitte der 1850er Jahre freilich alles andere als neu. Wenn der Weizenkurs stark anstieg, die Preise für andere Getreidesorten ebenfalls anzogen und das Grund198 ADF 6M959: Lefebvre-Duruflé, MAC, an: prefet du Finistère, Céréales – Circulaire n° 2, 16.1.1852. 199 ADF 6M947: MACTP, an: Préfet du Finistère, Au sujet de la levée de la prohibition de sortie des denrées alimentaires/Circulaire confidentielle, 9.10.1857. 200 Wie die Entwürfe für das Antwortschreiben nahe legen, lehnte der Präfekt des Finistère die Aufhebung strikt ab und hatte Mühe, seine Abneigung nicht allzu deutlich zur Kenntnis zu bringen, siehe ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: MACTP, Prohibition de sortie des denrées alimentaires, 15.10.1857.

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nahrungsmittel Brot für einen immer größeren Teil  der Bevölkerung kaum noch erschwinglich war, wenn die Armen unruhig wurden und um ihre Existenz zu fürchten begannen, dann wuchs auch die Gefahr, dass sich spontane Protestversammlungen bildeten, dass Korntransporte aufgehalten wurden oder dass es an Markttagen zu öffentlicher Erregung und Aufruhr kam. Diese mussten dann mit Gewalt niedergeschlagen werden, um die Ordnung wieder herstellen zu können.201 Die Französische Revolution war das beste Beispiel dafür, dass Teuerung und Mangel sich zu einer Gefahr für die soziale, ökonomische und politische Ordnung auswachsen konnten. Im Spätsommer 1853 lag die letzte Kornteuerung erst sieben Jahre zurück, und auch auf sie war nach einer Welle von Marktunruhen in der Provinz eine Revolution in Paris gefolgt.202 Dieser kausale Zusammenhang wurde in den Jahren 1853 bis 1856 nicht nur in Regierung und Beamtenschaft, sondern auch in der ländlichen Bevölkerung so entlegener Gegenden wie des Finistère gesehen.203 Als Bedrohungs­szenario war er allgegenwärtig. Wie zuletzt in den Teuerungsjahren 1846/47 sollte der Präfekt Mitte der 1850er Jahre drei politische Imperative miteinander in Einklang bringen. Erstens war er in dem ihm anvertrauten Departement für die Durchsetzung der wirtschaftspolitischen Generallinie der Regierung verantwortlich, d. h. für die »Aufrechterhaltung der Handelsfreiheit«, die Sicherheit der Kornhändler, ihrer Magazine, Transportladungen und Geschäftsaktivitäten. Nie sollte der Beamte aus dem Blick verlieren, dass damit den Interessen sowohl der Landwirtschaft und als auch der Verbraucher am besten gedient sei und deshalb »mit größter Sorgfalt und, falls nötig, größter Festigkeit darüber wachen, dass die regulären Operationen des Handels in keinster Weise gestört« wurden.204 Diese allgemeine »Verhaltensrichtlinie« verkündete eine vertrauliche Instruktion des amtierenden Landwirtschafts- und Handelsministers Rouher am 27. Juli 1853. Fast beiläufig erinnerte der Minister den obersten Beamten des Departements an seine Pflicht, »mit allen Mitteln falsche Nachrichten zu bekämpfen und betrügerische Machenschaften« im Kornhandel zu unterdrücken.205 Mehr Raum nahm in der Instruktion die Anweisung ein, sämtliche Maßnahmen und Rundschreiben an untergebene Beamte mit dem Ministerium abzustimmen, eine Anordnung, die nicht nur die in der Krise verstärkte Führung des Präfekten durch den Minister implizierte, sondern auch ein tiefes Misstrauen der Pariser Zentralregierung gegenüber dem Verhalten der unteren Beamten in Zeiten der Kornteuerung ausdrückte. 201 Siehe Bourguinat, Grains; Price, Techniques. 202 Siehe Bourguinat, Question, S. 177–199. 203 Vgl. ADF 6M947: membre de la chambre consultative de l’agriculture, an: Préfet du Finistère, 12.1.1854; ebd.: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, Subsistances/menées anarchiques, 8.11.1853. 204 ADN M433 53: MAC, an: Préfets, confidentielle, 21.7.1853. 205 Ebd.

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Zweitens sollte der Präfekt dafür sorgen, dass die Stimmung der Bevölkerung des Departements nicht gegen das imperiale Regime kippte. Vor der Instrumentalisierung der Teuerung durch Regimegegner zu warnen und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen anzuordnen, fiel in das Ressort des Innenministers. Minister Persigny wies die Präfekturen am 2. Juli 1853 vertraulich darauf hin, es könne sein, dass »der Anstieg der Kornpreise auf einigen Märkten den Feinden der Ordnung Gelegenheit oder Vorwand bietet, alarmierende Gerüchte zu verbreiten oder eine Klasse von Bürgern dem Hass der anderen Klassen auszusetzen«.206 Zwar deutete weder etwas darauf hin, dass es solche Manöver bereits gab, noch dass sie einem »abgesprochenen Plan« folgten. Wenn jedoch »Böswillige angezeigt werden, die verleumderische oder alarmierende Gerüchte verbreiten«, sollte der Präfekt nicht zögern, »mit aller vom Gesetz gebotenen Härte dagegen vorzugehen«.207 Den Präfekten wurde erhöhte Wachsamkeit und zugleich höchste Zurückhaltung auferlegt, denn die Bevölkerung sollte auf keinen Fall erfahren oder auch nur den Eindruck gewinnen, dass »die Subsistenzfrage die Behörde im Hinblick auf Sicherheit und Ordnung« beschäftigte. Deswegen hatte sich der Präfekt auch gegenüber seinen Untergebenen bedeckt zu halten: »In einer so delikaten Angelegenheit können voreiliger Aktivismus und indiskreter Übereifer eines Bürgermeisters oder untergeordneten Beamten schwerwiegende Nachteile haben.«208 Die Präfekturen wurden deshalb angewiesen, von ihren Untergebenen lediglich Lageberichte anzufordern und auf die Lokalpresse einzuwirken, damit sie »alle mit der Kornteuerung zusammenhängenden Fragen mit der größten Zurückhaltung« behandelten.209 Drittens sollte die Präfektur darauf hinwirken, dass die ärmsten, den Folgen der Teuerung am stärksten ausgesetzten Teile der Bevölkerung ausreichend versorgt waren. In normalen Phasen oblag die Armenfürsorge den kommunalen Bureaux de bienfaisance, über deren Arbeit der Präfekt die Aufsicht hatte.210 Der in Teuerungsphasen rapide anwachsende bedürftige Bevölkerungsteil konnte von den chronisch finanzschwachen Kommunen, die zum Teil  noch Hilfskredite aus der letzten Teuerung 1846/47 bedienten, aus öffentlichen Mitteln kaum angemessen unterstützt werden, ohne neue Schulden aufzunehmen. Jeweils gegen Ende der Jahre 1853 und 1855 informierte der Innenminister über von der Regierung für öffentlich finanzierte Baumaßnahmen bereitgestellte Kredite und instruierte die Präfektur über das Antragsverfahren. Hier ging es strategisch um Arbeitsbeschaffung zur Armutsbekämpfung.211 Etwa zur glei206 ADF 6M947: MI, an: Préfet du Finistère, Circulaire – confidentielle, 2.7.1853. 207 Ebd. 208 Ebd. 209 Ebd. 210 Vgl. Haudebourg, S. 145–188. 211 ADF 6M947: MI, an: Préfet du Finistère, Instructions relatives à la répartition de crédits extraordninaires destinés à encourager l’exécution de travaux d’utilité communale/Circulaire n° 68, 28.11.1853; ebd.: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Crise alimentaire, 1.10.1855.

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chen Zeit verschickte Landwirtschafts- und Handelsminister Rouher ein vertrauliches Schreiben, in dem er verschiedene Möglichkeiten aufzählte, die Folgen der Teuerung für die Bedürftigen zu dämpfen. In den meisten Kommunen subventionierte die Verwaltung den Brotkauf mit Differenzbons, in anderen werde Korn an Bedürftige verteilt, in wieder anderen hätten sich Wohltätigkeitsvereine gegründet, welche die Stadtverwaltung mit Spendengeldern oder Lebensmitteln unterstützten. Je nach Ortschaft, so Rouher, könne dieses oder jenes Mittel recht sein. Wichtig sei jedoch, dass in allen Kommunen etwas unter­nommen werde, um auch jene Bedürftigen zu unterstützen, die an den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierung nicht teilhaben könnten.212 Diese Instruktionen, die verwendeten Schlüsselbegriffe und strategischen Schwerpunktsetzungen umreißen die Konstellation, in der sich die Kommunikation in der Beamtenschaft über die Teuerung im Departement entfaltete. Durchsetzung des Freihandels, Überwachung oppositioneller Umtriebe und Versorgung der Notleidenden bestimmten in den folgenden Jahren deren Arbeit. Dabei war die freihändlerische Generallinie der Regierung in der Beamtenschaft des Departements einem Anpassungsprozess ausgesetzt. Regierung und Zentralverwaltung vertraten diese Linie freilich offensiv. Am 22. November 1853 wies Rouher die Präfekturen an, einen Artikel der regierungsoffiziellen Zeitung Moniteur universel in den Lokalzeitungen des Departements nach­ drucken zu lassen;213 am 13.  Januar 1854 wiederholte der Präfekt dieses Vorgehen aus eigenem Antrieb mit einem weiteren Artikel des Moniteur.214 Beide Texte erläuterten ausführlich die liberale Handelspolitik der kaiserlichen Regierung, die auf vernünftigen Prinzipien beruhe und deshalb zugleich die einzig richtige Möglichkeit sei, wie der Staat in der Teuerung agieren könne. Der Anfang des Jahres 1854 veröffentlichte Artikel argumentierte jedoch defensiv. Er ging auf Vorwürfe ein, die Regierung sei von der unzureichenden Ernte des Jahres 1853 überrascht worden und habe sich und »die Öffentlichkeit […] fälschlich in Sicherheit gewogen«. Das Gegenteil wäre der Fall. Dank der Aufmerksamkeit der Regierung seien Bevölkerung und Handel zur rechten Zeit »gewarnt« worden und die Lebensmittelpreise umgehend in Relation zum wirklichen Stand der Dinge getreten, d. h. gestiegen. Daraus folgte, dass »sich niemand in falscher Sicherheit gewogen und der Handel seine fruchtbare Aktivität rechtzeitig entfaltet habe«. »Die Kenntnis der Wahrheit«, so der Artikel weiter, »habe zwar s­ icher den Nachteil, den Verbrauchern einige vorübergehende Opfer abzuverlangen«. Aber andererseits habe sie auch den 212 ADF 6M947: MACTP, an: Préfet du Finistère, Question des Subsistances/Mesures à prendre à l’occasion de la cherté du pain – confidentielle, 24.11.1853. 213 ADF 6M947: MACTP, an: Préfet du Finistère, confidentielle, 19.11.1853; die Instruktion des Präfekten an die Unterpräfekten ebd.: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Subsistances/Liberté des transactions/article du Moniteur – confidentielle, 22.11.1853. 214 ADF  6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets und président du comice agricole de Quimper, Subsistances/article du Moniteur du 11 janvier 1854, 13.1.1854.

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»immensen Vorteil, dass jeder rechtzeitig seinen Verbrauch auf das nötigste einschränken könne. […] Es ist sicher ärgerlich, dass das Korn teuer ist. Noch viel ärgerlicher wäre aber der absolute Mangel an Korn. Die Regierung kann nicht nach Gutdünken Überfluss herbeiführen; was sie aber kann, was sie sogar muss, ist dem Land die Wahrheit sagen und alle Maßnahmen ergreifen, welche die Vorsicht gebietet, um der schwierigen Situation zu begegnen«.215

Die Instruktionen der Minister und des Präfekten gingen von vornherein nicht davon aus, dass die unteren Beamten des Departements sich dieser »vernünftigen« und »wahren« Sicht der Dinge ohne Weiteres anschließen würden – im Gegenteil. Wie zitiert warnte etwa Innenminister Persigny den Präfekten schon im Sommer 1853 explizit davor, seine Untergebenen in die Befürchtungen bezüglich der möglichen oppositionellen Instrumentalisierung der Krise einzuweihen. Landwirtschafts- und Handelsminister Rouher verband seinen Hinweis auf den Moniteur-Artikel Mitte November 1853 mit der Aufforderung, »die Instinkt­neigungen einiger lokaler Amtsträger und die Vorurteile der Bevölkerung«216 entschieden zu bekämpfen. Präfekt Richard hatte zunächst offenbar weniger Bedenken. Er leitete Persignys Instruktion von Anfang Juli 1853 fast wortgleich an die Unterpräfekten weiter,217 und erst seine ausführliche Dienstanweisung zur richtigen Verhaltensweise in der einsetzenden Teuerung Anfang September 1853 bestimmte: »Sie widersetzen sich insbesondere allen außergesetzlichen Maßnahmen, die Bürgermeister versucht sein könnten zu ergreifen, um den Kornverkauf in ihrer Kommune bestimmten restriktiven Bedingungen zu unterwerfen«.218 Die Aufforderung Ende November 1853 zum Nachdruck des Moniteur-Artikels verband Richard mit einem Hinweis darauf, dass darin die »Pflichten aller Verwaltungsbeamten dargelegt« seien, »auf welchem Rang der Hierarchie« sie sich auch befänden. Er forderte sie auf, diese Pflichten zu »verinnerlichen«, damit »sie alle vom gleichen Geist beseelt« handeln könnten.219 Gleich mit Beginn der Teuerung setzte in der Korrespondenz zwischen dem Präfekten, den Unterpräfekten, einigen Bürgermeistern, Polizeikommissaren, Gendarmen und Vorsitzenden verschiedener Beratungsgremien jedoch eine mitunter offene Kontroverse über das ›richtige‹ Verständnis von Handelsfreiheit ein. Keiner der Beamten verurteilte zwar das Prinzip an sich, etwa indem er sich auf gänzlich andere Politikentwürfe bezog oder offen gegen die Linie der Regierung stellte. Allerdings kann auch keine Rede davon sein, dass die Beamten »alle vom gleichen Geist beseelt« waren. Im September 1853 konstatierte der 215 Lemonnier, S. 1. 216 ADF 6M947: MACTP, an: Préfet du Finistère, confidentielle, 19.11.1853. 217 ADF  6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Subsistances  – très-confidentielle, 7.7.1853. 218 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: MI, MAC, Subsistances/Cherté des grains, 6.9.1853. 219 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Subsistances/Liberté des transactions/ article du Moniteur – confidentielle, 22.11.1853.

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Unterpräfekt von Quimperlé in einem Bericht an den Präfekten, dass in seinem Ressort etwas vor sich gehe, »das die Grenzen der Handelsfreiheit überschreitet«.220 Zwar sei »niemand mehr davon überzeugt, dass der Kornhandel frei sein« müsse. »Allerdings […] gibt es in Handelsdingen keine absolute Wahrheit und selbst wenn die Handelsfreiheit in den aktuellen wie allen anderen Umständen respektiert werden muss«, so fragte der leitende Bezirksbeamte seinen Dienstherrn, »denken Sie nicht, dass es gut wäre, die Machenschaften zu bremsen, deren offensichtliches Ziel nicht nur das Kaufen, sondern das Hochtreiben des Preises durch über der Nachfrage liegende Angebote ist?«221 Der Beamte stellte den Freihandel nicht grundsätzlich in Frage, sondern nur den ab­soluten Wahrheitsanspruch des nationalökonomischen Prinzips. Es sei zwar eine »Willkürmaßnahme«, den Kornkauf in ländlichen Gebieten generell zu untersagen. Auf ein Verbot des Kornkaufs durch »Unbekannte« treffe das aber nicht zu. Dies würde nämlich dem »ernsthaften und rechtschaffenen Handel keineswegs schaden« und außerdem der Bevölkerung zeigen, dass die »Regierung jederzeit ihre Interessen im Auge« habe.222 Der Vorsitzende der Landwirtschaftskammer von Brest und Direktor eines landwirtschaftlichen Musterbetriebs Théophile de Pompéry fasste im Januar 1854 in einem Bericht über die Versorgungslage im Bezirk Brest die Vorbehalte der Beamtenschaft bündig zusammen: »Dem Prinzip der Handelsfreiheit gebührt zwar viel Respekt. Aber diese Freiheit muss Grenzen haben und reglementiert sein oder sie degeneriert in Chaos und Anarchie«.223 Von bedingungsloser Handelsfreiheit wie in den Jahren 1846 und 1847224 war in der Teuerung Mitte der 1850er Jahre schon bald auch in den präfektoralen Dienstanweisungen keine Rede mehr. Mit seinen Instruktionen vom 23. September 1853 und 23. Januar 1854 zu »betrügerischen Machenschaften«225 und vom 29. Oktober 1853 zu »politischen Umtrieben«226 nahm Richard zwei 220 ADF 6M947: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, Subsistances, 19.9.1853. 221 ADF 6M947: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, Subsistances, 13.10.1853. 222 ADF 6M947: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, Subsistances, 19.9.1853. 223 ADF 6M947: Pompéry, membre de la chambre consultative de l’agriculture, an: Préfet du Finistère, 15.1.1854. Pompéry scheute sich nicht, diese Ansicht in einem Beitrag für die Brester Tageszeitung L’Océan vom 30. Januar 1854 öffentlich zu vertreten, siehe L’Océan Nr. 1587 v. 30.1.1854, S. 2. Der Unterpräfekt von Quimperlé hätte den Text gerne in der Zeitung seines Bezirks nachdrucken lassen, ebd.: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, Subsistances/article de l’Océan, 6.2.1854. Das kam für den Präfekten allerdings überhaupt nicht in Frage. Der Artikel, so begründete er seine Ablehnung, drohe »uralte Vorurteile über Hamsterei und Monopol wieder zum Leben zu erwecken, die früher für die öffentliche Ordnung und Sicherheit so verhängnisvoll gewesen« seien, ADF  6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances/Article de l’Océan, 4.2.1854. 224 ADF 6M946: Cunin-Gridaine, MAC, an: Boullé, Préfet du Finistère, Circulaire n° 16: De la liberté du commerce des grains et de la circulation des subsistances, 22.11.1845. 225 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances, 23.9.1853. 226 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets und commandants de la gendarmerie, menees politiques/Subsistances, 29.10.1853.

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Anordnungen der ministeriellen Dienstanweisungen vom Beginn der Krise auf. Die Aufteilung auf zwei verschiedene Agenden hatte jedoch eine verstärkende Wirkung. Auf der einen Seite sahen nur wenige Beamte in ihren Ressorts Anzeichen dafür, dass politische Gegner des Regimes die Krise instrumentalisierten. Die Unterpräfekten von Châteaulin und Morlaix hatten diesbezüglich keine Hinweise,227 und der Bezirksbeamte von Brest meldete, es gebe »nur wenige der Regierung feindlich gesinnte Männer« und die hüllten sich »in tiefstes Schweigen«.228 Der Unterpräfekt von Quimperlé erwähnte beiläufig, in seinem Bezirk hätten einige Bauern die Befürchtung geäußert, dass die »Teuerung der Auftakt zu einer neuen Revolution« sein könnte, maß dem aber keine Bedeutung zu.229 Andererseits manifestierte sich die Politisierung der Teuerung nicht so sehr in der Überwachung der Regimeopposition, als vielmehr in der Beobachtung des Kornhandels. Vorschub leistete diesem Politisierungsprozess paradoxerweise die Unterscheidung zwischen »regulären Handelsoperationen« und »betrügerischen Machenschaften«,230 die bereits die Instruktion des Landwirtschafts- und Handelsministers am 27. Juli 1853 enthalten hatte. Richard schärfte seinen Untergebenen diese Differenzierung Ende Januar 1854 erneut ein: »Auch wenn Sie auf der einen Seite mit der größten Sorgfalt darüber wachen sollen, dass das Prinzip [des Freihandels, d. Vf.] nicht angetastet wird […], das die Interessen des Verbrauchers und die des Händlers gleichermaßen wahrt, so obliegt ihnen andererseits die nicht weniger dringliche Pflicht […], mit der größten Festigkeit falsche Nachrichten, öffentlich verbreitete Lügen und alarmierende Gerüchte zu bekämpfen sowie alle Machenschaften mit der strengsten Repression zu verfolgen, deren Ziel im Preisauftrieb besteht«.231

Diese »Machenschaften« qualifizierte der Präfekt als »schweren Missbrauch […], der mit der Handelsfreiheit nichts zu tun« habe.232 Die so markierte Grenze sollte zwar den »regulären Handel« schützen, wurde aber seit der Jahreswende 1853/1854 bis zum Ende der Teuerung im Herbst 1856 227 ADF  6M947: Sous-Préfet de Châteaulin, an: Préfet du Finistère, Subsistances/menées politiques, 31.10.1853; ADF 6M947: Sous-Préfet de Morlaix, an: Préfet du Finistère, Menées politiques/subsistances, 31.10.1853. 228 ADF 6M947: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, Menées politiques/Subsistances, 2.11.1853. 229 ADF 6M947: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, Subsistances/menées anarchiques, 8.11.1853. 230 »Auch wenn Sie […], wenn nötig, mit der größten Entschlossenheit darüber wachen, dass die regulären Operationen des Kornhandels nicht beeinträchtigt werden, gehört es ebenfalls zu ihrer Pflicht, Betrugsmanöver mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterdrücken«, siehe ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets de Brest, Subsistances, 23.9.1853. 231 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Subsistances/commerce des grains/manoeuvres frauduleuses, 23.1.1854. 232 Ebd.

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zu einem Hauptanknüpfungspunkt für die grundlegende Problematisierung des Kornhandels allgemein und der spekulativen Termingeschäfte im Besonderen durch die Beamten.233 So teilte etwa der Gendarmeriekapitän des Bezirks Quimper Ende Oktober 1853 mit, er habe die Überwachung aller Personen angeordnet, »die Unruhe in der Bevölkerung verbreiten wollen, sei es mit Lügengeschichten, sei es mit abgesprochenen Manövern, die den Kornpreis treiben«.234 Der Unterpräfekt von Quimperlé meldete ebenfalls im Oktober 1853 die Inhaftierung eines Händlers, der »à terme« gekauft und sich gerühmt habe, er »mache 3 Frs. am Tag mit der Hausse«.235 Derselbe Beamte unterstellte Anfang November, dass man bei Personen, die versuchten, eine Hausse herbeizuführen, »vielleicht ein politisches Motiv finden« könne.236 Das landwirtschaftlich geprägte Finistère war traditionell ein Kornproduktions- und Exportgebiet und entsprechend hoch die saisonale Nachfrage durch Vertreter nicht nur landesweit, sondern auch international agierender Handelshäuser. Was die Beamten unter »betrügerischen Machenschaften« und »falschen Nachrichten« verstanden und als Gefahr für die öffentliche Sicherheit politisierten, war oft lediglich die Verhandlung über Preise oder die Kommunikation über Geschäftsabschlüsse und Termingeschäfte in der Öffentlichkeit. In Brest etwa nahm Polizeikommissar Chapeau Ende Oktober 1853 den Bäcker Bachellery auf dem Markt fest, weil es einer »Störung der Geschäftsfreiheit« gleichkomme, in einem »so schwierigen Moment« wie dem gegenwärtigen versucht zu haben, »auf einem öffentlichen Markt den Preis für ein Nahrungsmittel in die Höhe zu treiben; solche Machenschaften stehen unter Strafe«.237 Was war geschehen? Dem Bericht Chapeaus zufolge hatte eine Frau Lelon einen Hektoliter Weizen für 23,50 Francs an eine Frau Tézéquel verkauft. Die beiden unterhielten sich noch über das Geschäft, als der Bäcker hinzutrat. Er fand den Preis nicht zu hoch und bot der Käuferin an, ihr das Korn für 24 Francs abzukaufen. Auf dieses »überteuerte Gebot« hin, so Chapeau, »hoben die Markthändler ihren Preis auf 24,50 bis 26 Francs den Hektoliter an und das verursachte eine Menschenansammlung«.238 Eine »Störung der Geschäftsabschlüsse«, d. h. des öffentlichen Marktes durch eine aufgebrachte Menge, hatte noch gar nicht stattgefunden. Der Polizist inkriminierte

233 Vgl. nur die Berichte über einen Vorgang in Pont-L’Abbé im September 1855: ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Maire de Pont-L’Abbé, Subsistances/Police des marchés/commerce des grains  – confidentielle, 18.9.1855; ebd.: Maire de Pont-L’Abbé, an: Préfet du Finistère, Police des marchés/commerce des grains/hausse du cours/manoeuvre d’un acheteur, 25.10.1855. 234 ADF 6M947: capitaine commandant la gendarmerie de l’arrondissement de Quimper, an: Préfet du Finistère, 30.10.1853. 235 ADF 6M947: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, Subsistances, 19.10.1853. 236 ADF 6M947: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, Subsistances/menées anarchiques, 8.11.1853. 237 ADF 6M947: Chapeau, Commissaire de Police, procès-verbal, 31.10.1853. 238 Ebd.

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allein die Preisverhandlung des Bäckers und sein Verhalten, das auf die angespannte Lage keine Rücksicht nahm.239 Erst in den beiden folgenden Jahren, im Herbst 1854 und im Herbst 1855, berichteten Beamte vereinzelt über kollektiven Aufruhr. Im September 1854 benachrichtigte der Polizeihauptkommissar von Brest seine Vorgesetzten über »Ansammlungen« vor Bäckereien, die er dem Umstand zuschrieb, dass die beiden Bäcker kein Brot mehr verkauft hatten. Im ersten Fall habe ein »unzufriedener Kunde« die Ansammlung von »800 bis 1000 Personen« verursacht, die den Bäcker bedroht habe. Der herbeigeeilte Polizeibeamte sei mit »Steinhagel« und Rufen wie »Nieder mit der Polizei!« empfangen worden. Erst ein Wach­ posten der Marine hatte die Menge zerstreuen können.240 Im zweiten Fall verlief sich die Menge nach dem Auftreten des Polizeibeamten des Stadtbezirks, der anschließend einige zwischen Angehörigen des Bäckers und Personen aus der Menge ausgetauschte »Handgreiflichkeiten« und »Beleidigungen« zur Anzeige brachte.241 Der bei dem ersten Aufruhr mit Steinwürfen empfangene Polizeibeamte handelte sich einen »strengen Tadel« ein, weil er »Festigkeit und Kaltblütigkeit«242 vermissen ließ und zudem keinen Bericht verfasst hatte. »Eine beträchtliche Ansammlung findet statt, Drohungen werden ausgestoßen, man schreit: ›Nieder mit dem Kommissar!‹, es werden Steine auf die Schutzmänner geworfen«, schrieb der Unterpräfekt an den Präfekten, »und er nimmt nicht nur niemanden fest, erkennt niemanden wieder, sondern berichtet auch keiner vorgesetzten Stelle, nicht einmal dem Hauptkommissar davon.«243 Die Brester Staatsanwaltschaft befürchtete deshalb Freisprüche und sah von der Strafverfolgung ab. Der Bericht des zuständigen Oberstaatsanwaltes in Rennes reduzierte die Zahl der Teilnehmer des Protests erheblich – auf »300 Personen« – und teilte dem Justizminister auch das Fehlverhalten des Kommissars nicht mit.244 Ein Jahr später, im September 1855, spitzte sich die Lage im nördlichen Bezirk Morlaix zu. Der Präfekt berichtete an den Landwirtschafts- und Handelsminister, dass am frühen Morgen des 17. September zwei Kornkarren vor der Stadt abgefangen worden seien. »Die Fahrer sind von Frauen beschimpft und so239 Vgl. auch ADF 6M952: Commissaire de Police, an: Sous-Préfet de Brest, 1.11.1853; ADF 6M947: Capitaine-lieutenant de gendarmerie de l’arrondissement de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, 1.11.1853. Ähnliche Fälle in Douarnenez, siehe ebd.: Commissaire de Police, Note du Commissaire de Police de Douarnenez, o. D. [September 1854]. 240 ADF 6M952: Commissaire central de Police de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, 19.9.1854. 241 ADF 6M952: Commissaire de Police, 27.9.1854. 242 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances/Troubles à Brest, 25.9.1854. 243 ADF 6M952: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, 21.9.1854. 244 AN CHAN BB 30 432: PG de Rennes, an: Garde des sceaux, 22.9.1854; ebd.: PG de Rennes, an: Garde des sceaux, 28.10.1854; ob das Ereignis überhaupt rechtliche Folgen hatte, ist nicht bekannt. Ein Tadel ist in der Personalakte des Kommissars Bournisier nicht enthalten, siehe ADF 4M53: Bournisier, Commissaire de Police.

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gar, wie man berichtet, mit Steinen beworfen worden.«245 Am Mittag desselben Tages »überquerten drei Kornkarren den Rathausplatz von Morlaix. Da wurden sie plötzlich von einer Gruppe Arbeiter aufgehalten und ein Kampf entbrannte. Ehrbare Bürger haben dann den Karrenführern geholfen, sich frei zu machen und ihren Weg fortzusetzen«.246 Den Berichten zufolge waren die Karren auf dem Weg zum Hafen, wo der Weizen auf Schiffe verladen und nach England exportiert werden sollte. Das gewaltsame Aufhalten von Kornkarren mit Exportlieferungen war eine der traditionellen, für Teuerungsphasen typischen kollektiven Praktiken, auf die der Strafrechtsbegriff »Störung des Kornhandelsverkehrs« abzielte. Schon im November 1854 hatten sich »alle Arbeiter von Morlaix« mit einem anonymen Brief an Präfekt Richard gewandt, der während der letzten Teuerung 1846/47 noch in Morlaix als Unterpräfekt amtiert hatte. Die Arbeiter der örtlichen Tabakmanufaktur beschwerten sich: »Der Bürgermeister hat kein Mitleid mit dem Arbeiter und wir werden es ihm heimzahlen. Es ist seine Schuld, dass das Elend so groß ist, er bereichert sich auf unsere Kosten.«247 Bemerkenswert ist an der Berichterstattung über diese Ereignisse sowie an der Nachbereitung durch die Beamten am Ort, dass sie die Ursachen nicht bei »Ordnungsfeinden« oder »politischen Umtrieben« in der Arbeiterklasse suchten. Nach dem ersten »Aufruhr« in Brest im September 1854 fand Polizeihauptkommissar Genty folgende Ursache: »Die Bevölkerung ist unzufrieden, beunruhigt und beginnt sich zu erregen. Der Mangel an Brot bei den Bäckern ist im Augenblick nur durch den Einfluss der Müllerei zu erklären. Das kann zu schweren Unruhen führen«.248 Bürgermeister Bizet argumentierte ähnlich: »Sie kennen wie ich die Situation, in der sich unsere Bäcker befinden. Sie sind dazu gezwungen, sich bei den Großmüllern mit Mehl zu versorgen. Die lassen sie einen im Verhältnis zum Kornpreis proportional sehr viel höheren Preis zahlen, weshalb die Bäcker im Augenblick täglich beträchtliche Verluste hinnehmen müssen. Folglich bemühen sie sich, so wenig Brot wie möglich zu backen. Wenn dieser Zustand anhält und die Brotproduktion dem Bedarf der Bevölkerung nicht mehr gerecht wird, dann ist zu befürchten, dass es sehr viel schlimmeren Aufruhr geben wird«.249

Wer in den Augen nicht nur dieser Beamten, sondern der gesamten Hierarchie die eigentlichen »Ordnungsfeinde« waren, wird am Fall eines Handelsagenten aus Nantes deutlich. Nachdem die Gendarmerie am 10. November 1853 vor einem im Departement reisenden »Herrn Cléry, Agent des französisch-englischen Handelshauses Wilson & Langlois« wegen »Verbreitens falscher Nachrichten« gewarnt hatte,250 begann eine regelrechte Verfolgungsjagd, an der 245 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: MACTP, Troubles à Morlaix, 21.9.1855. 246 Ebd. 247 ADF 6M947: Tous les ouvriers de Morlaix, an: Préfet du Finistère, 22.11.1854. 248 ADF 6M952: Commissaire central de Police de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, 19.9.1854. 249 ADF 6M952: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n° 1980, 21.9.1854. 250 ADF 6M947: Commandant de la gendarmerie, Propagation de fausses nouvelles, 10.11.1853.

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sich der Präfekt, drei Unterpräfekten, die Gendarmerie, einige Bürgermeister und der Brester Staatsanwalt beteiligten. Auch die Präfekturen der Nachbardepartements Morbihan und Loire Inférieure wurden eingeschaltet. Der Vorwurf lautete, »einen plötzlichen enormen Preisanstieg verursacht und in den Kornhandel des Departements große Unruhe gebracht«251 zu haben. Als Cléry schließlich in Vannes (Morbihan) festgenommen und verhört wurde, sprach für den dortigen Ermittlungsrichter so wenig gegen ihn, dass er keinen Haft­befehl erließ. Der Staatsanwalt von Brest Bonamy stellte dagegen nach Lektüre des Vernehmungsprotokolls »manifeste Widersprüche fest, die von höchster Ungerechtigkeit und Böswilligkeit bei diesem Mann zeugen«. Die inkriminierten Aussagen seien »zu unwahrscheinlich, um von ihm bewiesen zu werden. Also stellen sie eine falsche Nachricht dar«.252 Einen Monat später scheint er sich seiner Sache allerdings nicht mehr so sicher gewesen zu sein. Zwar ging er weiterhin davon aus, Cléry habe die Teuerung im südlichen Finistère verursacht. »Aber ich kann nicht erkennen, welches Interesse er daran gehabt haben könnte, wenn er nicht ein politisches Ziel gehabt hat.«253 Für den Präfekten lag jedoch ein eher kaufmännisches Motiv Clérys näher: »[Er] hat […] große Mengen Korn zu einem beträchtlichen Preis gehandelt. Er fürchtete deshalb, von seinen Auftraggebern […] desavouiert zu werden. Er war an der Preistreiberei interessiert, damit diese seine Verträge bestätigen.«254 Das war jedoch ebenso wenig der Fall. Cléry wurde in allen Instanzen freigesprochen255 – ebenso übrigens der Bäcker Bachellery.256 Ob es sich bei diesem mit so großem Aufwand verfolgten Verhalten um ein Termingeschäft gehandelt hat, ist aus dem überlieferten Material nicht ersichtlich. Aus dem Abschluss eines einfachen Termingeschäfts »à la hausse« konnte der Agent nur Profit schlagen, wenn er gleichzeitig auf noch höhere Preise zum Zeitpunkt der Fälligkeit spekulierte. In dem Fall hätte er dann die Lieferung annehmen, zum höheren Preis verkaufen und den Differenzbetrag als Gewinn einstreichen können. Dieses Vorgehen beschrieb der Präfekt am 29. September 1855 in einem Schreiben an die Bürgermeister von St. Renan, Lesneven, Lannilis, Landerneau und Landivisiau – Kleinstädte in der Brester Umgebung, deren Kornmärkte die Brotpreise in Brest regulierten.

251 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: procureurs impériaux du département, Subsistanes/ Commerce des grains, 15.11.1853. 252 ADF 6M947: Procureur Impérial, an: Préfet du Finistère, 27.11.1853. 253 ADF 6M947: Procureur Impérial, an: Préfet du Finistère, 25.12.1853. 254 ADF  6M947: Préfet du Finistère, an: Procureur impérial, objets divers, confidentielle, 28.12.1853. 255 ADF 6M947: Procureur Impérial, an: Préfet du Finistère, M. Cléry/n° 297, 18.1.1854; ebd.: Préfet du Finistère, an: Procureur impérial, Subsistances/Affaire Cléry, 20.1.1854; ebd.: Procureur Impérial, an: Préfet du Finistère, 15.3.1854. 256 ADF  6M947: Procureur Impérial, an: Préfet du Finistère, n° 3876/Police des marchés, 24.11.1853.

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»Sie [die Spekulanten, d. Vf.] kaufen oder lassen auf dem Land beträchtliche Mengen Weizen kaufen, sagen wir: zum Preis von 30 Francs/Hektoliter. Dieser Weizen, den sie sich anschließend gar nicht liefern lassen, wird alsdann, auf ihre Anweisung hin, […] auf die Märkte gebracht und dort […] erneut verkauft, diesmal zum Preis von 32 Francs. So steigen der offizielle Kurs und der Brotpreis.«257

Diese auch Agiotage genannte Börsentechnik war am 28. September 1855 ausdrücklicher Gegenstand einer Instruktion des Innenministers. Sie zeigt, wie sehr sich das Bild des Spekulanten als Ordnungsfeind seit dem Spätsommer 1853 auf allen Ebenen der Verwaltung verfestigt hatte. Der Text knüpfte an die aus den ministeriellen und präfektoralen Instruktionen der Vorjahre geläufige Unterscheidung zwischen regulären Geschäftsgebaren und betrügerischen Machenschaften an, identifizierte letztere aber nun eindeutig mit dem Terminhandel. »Die Regierung ist entschlossen, jedes Manöver energisch zu unterdrücken, das im Ergebnis der schuldigen Agiotage Vorschub leistet.«258 Dieser Handel werde von Personen betrieben, so der Innenminister, die über Land reisen und dabei »beunruhigende Gerüchte über den Stand der Ernte und die politische Situation des Landes« verbreiteten. Diese »Sendboten« seien die »gefährlichsten Instrumente dieser Machenschaften«; sie seien meist gar keine patentierten Händler, sondern im Auftrag Dritter unterwegs. »Sie begeben sich von Hof zu Hof, kaufen und verkaufen Korn mithilfe von Warenproben und geben sich alle Mühe, eine künstliche Hausse herbeizuführen«.259 Als problematisch galt die Agiotage in der Teuerung für die Regierung aus drei Gründen. Erstens war es genuiner Teil  der Aushandlung von Termingeschäften, über die Faktoren zu diskutieren, welche die künftige Preisentwicklung beeinflussen würden. Dazu gehörte außer den zu erwartenden Ernteerträgen auch die politische Situation – im Herbst 1855 befand sich Frankreich im Krimkrieg. Zweitens reisten die Vertreter der Handelshäuser über Land, sprachen mit den Bauern und Händlern und hinterließen Eindrücke, aus denen sich folgenreiche Gerüchte entwickeln konnten.260 Drittens schließlich 257 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Maires de St. Renan, de Lesneven, de Lannilis, de Landerneau, de Landivisau, Subsistances/Police des marchés, 29.9.1855; vgl. auch die ergänzenden Erläuterungen des Bürgermeisters von St. Renan, ADF  6M947: Mevel, Maire de St. Renan, an: Préfet du Finistère, 2.10.1855 und Mevel, Maire de St. Renan, an: Préfet du Finistère, 7.10.1855. 258 ADF 6M947: MI, an: Préfet du Finistère, confidentielle, 28.9.1855; die Weiterleitung an die Unterpräfekten und die Gendarmerie ebd., Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets und an chef d’escadron commandant la gendarmerie départementale, Subsistances/commerce des grains – confidentielle, 3.10.1855. 259 ADF 6M947: MI, an: Préfet du Finistère, confidentielle, 28.9.1855. 260 So gab sich etwa die Gendarmerie in Lesneven (Bez. Brest) große Mühe, dem Courtier Berthelot nachzuweisen, er habe einem Bauern erzählt, dass er ein kaiserliches Dekret bei sich trage, das die Ausfuhr von Korn verbiete, sowie 300 Francs, um den Bauern daran zu hindern, sein Korn auf den Markt zu bringen. Berthelot räumte zumindest ein, dass er mit dem Bauern gezecht hatte, siehe ADF 6M947: capitaine de gendarmerie, an: Préfet du

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trugen sie mit Terminabschlüssen über dem aktuellen Kurs zum Anstieg der Kornpreise am Ort und damit auch zur prekären Lage der lokalen Bevölkerung bei. Alle drei Aspekte summierten sich im Diskurs der Beamten zu einer unberechenbaren Gefahr für die öffentliche Ordnung. In diesem Spannungsfeld konstituierte sich während der Krise die politische Rationalität des Verwaltens. Handelsfreiheit als nationalökonomisches Leitprinzip der imperialen Subsistenzpolitik wurde in der Teuerungskrise nicht absolut gesetzt, sondern durch die Aufnahme pragmatischer, an der Aufrechterhaltung der Sicherheit vor Ort orientierter Gesichtspunkte ergänzt und gleichsam von Innen begrenzt. Es waren im Finistère nicht so sehr oppositionelle »Ordnungsfeinde«, welche die Teuerung gegen das imperiale Regime zu wenden versuchten, sondern die Verwaltung, die sie gegen den spekulativen Kornhandel instrumentalisierte. 3.2 Präventive Praktiken der Menschenführung Die Verwaltung des Finistère durchsteuerte die Teuerungskrise Mitte der 1850er Jahre mithilfe einer Reihe von Praktiken, die sich zwar je nach Zielgruppe und Gegenstand erheblich unterschieden, letztlich aber alle dem präventiven Zweck dienten, Aufruhr in der Bevölkerung bereits im Keim zu ersticken und damit die Gefahr für das imperiale Regime abzuwenden. Die Aktivität der Behörden entfaltete sich in zwei Hauptrichtungen: die Versorgung der Bedürftigen und die Moralisierung des Handels. Unterstützungsmaßnahmen für die Armen waren kostspielig, und je länger die Krise anhielt, desto mehr Finanzmittel wurden nötig. Die Regierung stellte im Herbst 1853 eine Million und im Herbst 1855 sogar zehn Millionen Francs für die Förderung von öffentlichen Bauvorhaben bereit.261 Die Kommunen konnten Gelder beantragen, wenn sie Pläne etwa für den Bau oder die Reparatur von Straßen, Schulen, Schlachthöfen oder anderer öffentlicher Einrichtungen vorlegten, mit Armutsstatistiken die besondere Dringlichkeit nachwiesen und vor allem Mittel aus dem eigenen Haushalt mobilisierten. Letztlich handelte es sich bei den von der Regierung bereitgestellten Mitteln jedoch nur um »Förderprämien«.262 Um die Jahreswende 1853/1854 eröffneten im Finistère 151 KomFinistère, 28.10.1853; ebd.: gendarmes à la résidence de Daoulas, Procès-verbal constatant des renseignements sur des propos portant atteinte à la circulation des grains, tenu par le n.é Berthelot, Jean-Pierre, courtier de grains, à Lesneven, 28.10.1853. Vgl. zur Gerüchtekommunikation auch: Ploux; Guerrin. 261 ADF 6M947: MI, an: Préfet du Finistère, Instructions relatives à la répartition de crédits extraordninaires destinés à encourager l’exécution de travaux d’utilité communale/Circulaire n° 68, 28.11.1853; ebd.: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Crise alimentaire, 1.10.1855. 262 ADF 6M947: MI, an: Préfet du Finistère, Instructions relatives à la répartition de crédits­ extraordninaires destinés à encourager l’exécution de travaux d’utilité communale/Circulaire n° 68, 28.11.1853.

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munen so genannte Ateliers de charité. Die Investitionssumme belief sich auf insgesamt rund 136.000 Francs, davon 36.000 an staatlichen Subventionen.263 Auf diese Weise konnten jedoch nur die saisonbedingt arbeitslosen, arbeitsfähigen Teile der Bevölkerung unterstützt werden und dies meist nur für wenige Wochen. Damit waren die im Finistère vergleichsweise zahlreichen, auf die öffentliche und private Fürsorge angewiesenen Mittellosen und Bettler jedoch nicht erreicht.264 In dem Wissen, dass die finanziellen Ressourcen der Kommunen umfangreiche Unterstützungsmaßnahmen nicht erlaubten, sollten die Präfekten »all ihren Einfluss« nutzen, um die »Fürsorge der Einzelpersonen ergiebiger und regelmäßiger« zu gestalten. Der Minister für Landwirtschaft und Handel wies darauf hin, »welch bedeutende Mittel man aus den kleinsten Spenden durch die Kraft der Vereinigung gewinnen« könne.265 Die Bildung von Assoziationen wohlhabender, spendenwilliger Bürger war jedoch eine äußerst ambivalente Praxis. Auch in der vorangegangenen Krise 1846/47 hatten sich in vielen größeren Kommunen nicht nur des Finistère, sondern ganz Frankreichs solche Vereine gebildet und mit Spendengeldern etwa Kornimporte aus Übersee organisiert. Die Mobilisierung der Bürgerschaft hatte jedoch mittelfristig für die Julimonarchie fatale Folgen, wie das Beispiel Brest veranschaulicht. Auf der Grundlage der Zensuswahllisten hatte Bürgermeister Lettré dort im Frühjahr 1847 die wohlhabenden Bürger zur Bildung eines Vereins aufgefordert.266 In dieser Association brestoise verlor der Bürgermeister jedoch bald an Einfluss, da die zehn reichsten Brester Kaufleute die Führung übernahmen, indem sie die für den Kauf von Getreide in den USA nötige Summe vorstreckten. Als das Schiff mit der Ladung schließlich eintraf, war der Kornpreis in Brest bereits soweit gesunken, dass der Verein den Weizen nur mit Mühe und unter großen Verlusten verkaufen konnte. Da der Bürgermeister sich weigerte, die Verluste aus dem kommunalen Haushalt zu begleichen, für weitere Unterstützungsleistungen jedoch im Stadtrat eine Steuererhöhung durchsetzen wollte, die vor allem den vermögenden Teil der Stadtgesellschaft traf, verlor die Julimonarchie in Brest erheblich an politischem Rückhalt.267 Die Bildung von Vereinen barg also durchaus Risiken. Der Präfekt des Finistère Richard schien diese Erfahrungen jedoch auszublenden, als er Anfang 1853 sowohl den Innenminister als auch den Landwirtschafts- und Handelsminister 263 ADF 6M947: Relevé des ressources affectées aux travaux des ateliers de charité, par 151 communes du Département. 32.000 Fr. brachten die Kommunen aus ihren Haushalten auf, 45.000 Francs mit Krediten und Sondersteuern und 23.000 Francs durch private Spenden. 264 Vgl. zu Bettlern und Mittellosen in der Bretagne: Haudebourg, S. 61–102; sowie Thuillier. 265 ADF 6M947: MACTP, an: Préfet du Finistère, Question des Subsistances/Mesures à prendre à l’occasion de la cherté du pain – confidentielle, 24.11.1853. 266 Siehe AMB 6F3.2: Procès-verbal de la séance tenue par les citoyens inscrits sur la liste générale du jury, et convoqués par Monsieur le Maire, en assemblée extraordinaire à l’hôtel de la Bourse ce jour dix mars 1847, 10.3.1847. 267 Siehe hierzu Sparfel; wie diese Vereine Kritik an der Julimonarchie verstärkten wird analysiert in Bourguinat, Question, S. 177–199.

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fragte, wie er sich verhalten solle, »falls es einigen Personen in den Sinn kommt, zu tun, was 1846/47 getan worden« war: »In dieser Zeit bildeten sich in den größten Städten des Departements Assoziationen. Kaufleute, Grundbesitzer und Beamte taten sich zusammen, um Weizen aus dem Ausland kommen zu lassen, der zum Gestehungspreis an Bäcker und Privatleute abgegeben wurde. Unabhängig von dem guten Einfluss, den diese Importe, zu denen die Kornhändler selbst beitrugen, auf den Brotpreis hatten, erzeugten sie auch eine exzellente moralische Wirkung. Sie bewiesen nämlich den oft so ungerechten Massen, dass die wohlhabenden Personen nicht vor Opfern zurückschreckten, um ihnen zu Hilfe zu kommen.«268

Die Antwort aus dem Landwirtschafts- und Handelsministerium fiel skeptisch aus. Grundsätzlich spräche nichts gegen die Bildung »philantropischer Vereine«, wenn ihr Zweck nicht rechtswidrig sei. Wenn sie Kornimporte planen sollten, müsste der Präfekt die Mitglieder allerdings darauf hinweisen, dass die »Wirksamkeit des Mittels […] vielleicht nicht dem Opfer entspricht, das sie sich auferlegen«, dass sie vielmehr von vornherein mit Verlusten rechnen müssten. Richard sollte deshalb sorgfältig darauf achten, dass die Verwaltung sich aus solchen Unternehmen heraushielt, um nicht für Verluste verantwortlich gemacht werden zu können.269 In Morlaix entschloss sich die Bürgerschaft trotzdem, mit Spendengeldern Korn zu importieren, um, wie der Präfekt dem Landwirtschafts- und Handelsminister mitteilte, dem »Brauch der Bevölkerung« entgegenzukommen, die ihr Brot selbst buk.270 Andere wie der Bürgermeister von Quimper, Porquier, lehnten es ab, einen Verein für den Kornkauf zu initiieren. Das habe im Jahr 1847 funktioniert, weil die Versorgungskrise lokal bzw. regional begrenzt gewesen und es deshalb »leichtgefallen sei, sich bei den Nachbarn zu versorgen«. Im Jahr 1854 sei die Krise jedoch universell, und ein Verein werde nur Verlust machen. Das Geschäft solle den Kaufleuten überlassen bleiben.271 Zurückhaltung sollte der Präfekt sich bei der Mobilisierung der Spendenbereitschaft freilich nicht auferlegen. Vielmehr hätten er und die Bürgermeister, wie der Minister mitteilte, »in den schwierigen Umständen eine großartige 268 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: MI, MAC, Subsistances/Cherté des grains, 6.9.1853. 269 ADF 6M947: Directeur général de l’agriculture et du commerce, conseiller d’Etat, an: Préfet du Finistère, Question des subsistances/association pour achats de grains, 13.10.1853; die wortgleiche Weiterleitung an die Unterpräfekten, siehe ebd.: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Subsistanes/Association pour achats de grains/confidentielle, 18.10.1853. 270 ADF  6M947: Préfet du Finistère, an: MACTP, Mesures prises à l’occasion de la cherté du prix du pain, 11.11.1853; siehe auch ebd.: Sous-Préfet de Morlaix, an: Préfet du Finistère, Subsistances/Secours aux indigents, 3.11.1853; ebd.: Préfet du Finistère, an: SousPréfet de Morlaix, Subsistances/secours aux indigents, 5.11.1853; ebd.: Sous-Préfet de Morlaix, an: Préfet du Finistère, Association pour le soulagement des classes indigentes, 9.11.1853. 271 ADF 6M947: Maire de Quimper, an: Préfet du Finistère, Subsistances, 25.2.1854.

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und schöne Aufgabe zu erfüllen: diejenige nämlich, vor Ort der lebendige Ausdruck der väterlichen Fürsorge des Kaisers zu sein«.272 Im traditionell von christlicher Volksfrömmigkeit geprägten und aufgrund der guten Geschäfte, welche die Bauern in der Teuerung machten, auch wohlhabenden Finistère, konnte der Präfekt auf große Spendenbereitschaft setzen, wie er verschiedentlich anmerkte.273 Ein Bericht des Bürgermeisters von Plougasnou (Bez. Morlaix) zeigt, dass die Beamten in ländlich geprägten Kleinstädten und Dörfern während der Krise alltägliche Fürsorgepraktiken stärker organisierten. Der Bürgermeister hatte an einem Sonntag Anfang Oktober 1853 »wie üblich« nach Ende der Messe die Kirchgänger zusammentrommeln und ankündigen lassen, dass eine Kommission von vier Honoratioren einen Plan ausgearbeitet habe, wie die mittellosen Familien des Ortes in der Krise versorgt werden könnten. Darauf teilten etwa »70 bis 80« Personen die Verpflegung der Armen unter sich auf.274 Wichtig war jedoch, darauf wies der Präfekt mehrmals hin, dass die Fürsorge­ bereitschaft nicht erzwungen wurde. »Die Spende muss freiwillig sein, das ist ihr Wesen.«275 In den größeren Städten des Departements ging die Verwaltung meist einen anderen Weg. Dort subventionierte sie, wie vom Landwirtschafts- und Handelsminister empfohlen,276 die Brotpreise. Im Brester Stadtrat wurde Bürgermeister Hyazinthe Bizet Anfang November 1853 von einem Mitglied – seinem Amtsvorgänger Lettré – gefragt, »ob die Verwaltung sich angesichts des beunruhigenden Anstiegs der Korn- und Brotpreise um Maßnahmen gekümmert habe, die Subsistenz der arbeitenden und mittellosen Klassen zu sichern«, und schlug vor, den Stadtrat die Bereitstellung entsprechender Mittel beschließen zu lassen. Bizet versicherte, »dass die angezeigte Situation Gegenstand seiner unablässigen Aufmerksamkeit« sei. Obschon er nicht davon ausging, »dass die Gefahr unmittelbar« gegeben war, »der Brotpreis für die Arbeiterklasse zwar zu hoch, aber noch nicht auf einem Stand« war, der von einer Notlage sprechen lasse, nahm er die Anregung seines Amtsvorgängers auf. Der Stadtrat fasste einen Beschluss zur Kreditaufnahme, um im Fall der »Verschlechterung der Situation« sofort handeln zu können.277 Diese Anleihe unterlag jedoch der Genehmigungspflicht 272 ADF 6M947: MACTP, an: Préfet du Finistère, Question des Subsistances/Mesures à prendre à l’occasion de la cherté du pain – confidentielle, 24.11.1853. 273 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Maires du départements, mesures à prendre pour venir en aide aux indigents et pour garantir la sécurité publique, 20.12.1853. 274 ADF 6M947: Maire de Plougasnou, an: Préfet du Finistère, 4.11.1853. 275 ADF  6M947: Préfet du Finistère, an: Maire de Plougasnou, Cherté des subsistances/­ Secours aux indigents, 12.11.1853. Vgl. auch ADF  6M947: Préfet du Finistère, an: Maire de Telgruc-sur-Mer, Cherté des subsistances/Secours aux indigents, 13.12.1853. Im Herbst 1855 unterstützte der Bischof von Quimper die Bemühungen der Verwaltung mit einem Rundbrief an die Pfarrer der Diözese, siehe ebd.: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Crise alimentaire, 1.10.1855. 276 ADF 6M947: MACTP, an: Préfet du Finistère, Question des Subsistances/Mesures à prendre à l’occasion de la cherté du pain – confidentielle, 24.11.1853. 277 AMB 1D2: Délibération du Conseil municipal de Brest, 2.11.1853.

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durch den Conseil d’État in Paris und da der Notfall schneller eintrat, als die gesetzliche Kreditgenehmigung vorlag,278 subventionierte die Stadtverwaltung von Brest bis Februar 1854 den Brotpreis aus dem »von allen möglichen Kosten belasteten Budget« mit etwa 1.000 Francs pro Tag.279 Bizet sah schließlich keine andere Möglichkeit, als die Bäcker aufzufordern, in Vorleistung zu treten, mit dem Argument, dass sich ihre »ärgerliche Situation« noch verschlechtern würde, wenn die Stadtverwaltung die Brotbons zurückziehen müsste, da dann die »schlechten Kredite« zunehmen würden.280 Die geplante Anleihe musste im März 1854 um ein Viertel erhöht werden, um die Subvention nicht von einem Tag auf den anderen aussetzen zu müssen, sondern schrittweise bis Ende Mai reduzieren zu können.281 Neben diesen von paternalistischen Praktiken geprägten Maßnahmen der Armenfürsorge richteten die Beamten des Departements ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Gewerbe, von denen die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln abhing: Kornhändler, Müller und Bäcker. Wie oben bereits erwähnt, wurden der Bäcker Bachellery und der Handelsagent Cléry zwar mit teilweise großem Aufwand von Polizei und Gendarmerie verfolgt, vor Gericht jedoch freigesprochen. Ähnliche Vorgänge häuften sich im Herbst 1853 in Brest – zum wachsenden Ärger der Polizisten, des Staatsanwalts und des Unterpräfekten. Letzterer äußerte am 22.  Oktober sein Unverständnis darüber, dass das »Gericht die Verwaltung in ihren Bemühungen nicht unterstützt, den Brester Handel zu moralisieren, der das bitter nötig« habe.282 Hauptkommissar Genty sekundierte, dass die Freisprüche »ärgerlichen Eindruck auf das Publikum«283 gemacht hätten. Am 12. November beschwerte er sich schließlich in einem ausführlichen Schreiben beim Präfekten über die Situation. Er zählte auf, dass von acht Anzeigen, die seine Beamten zwischen dem 19. September und dem 8. November 1853 gegen Kornhändler und Bäcker erstellt hätten, nur eine einzige zu einer Verurteilung geführt habe. »Die mir unterstellten Beamten fragen mich, wie sie zukünftig verfahren sollen.«284 Präfekt Richard ordnete an, dass der Unterpräfekt und die Polizei weitermachen sollten wie bisher. »Die Verwaltung wird ihre Pflicht getan haben, komme dann was wolle.«285 »Tu, was du tun 278 AMB 2D37: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n°1447: Mesures prises par suite de la cherté des grains, 19.11.1853; AMB 1D2: Délibération du Conseil municipal de Brest, Séance extraordinaire, 19.12.1853. 279 AMB 2D37: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n°1614: Demande de réalisation de l’emprunt, 25.1.1854; ebd., Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n°1730: Rachat du prix du pain, 4.4.1854. 280 AMB 2D37: Maire de Brest, an: Préfet du Finistère, n° 1667, 21.2.1854. 281 AMB  2D37: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n°1730: Rachat du prix du pain, 4.4.1854. 282 ADF 6M947: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, 22.10.1853. 283 ADF 6M947: Commissaire de Police, an: Sous-Préfet de Brest, 22.10.1853. 284 ADF 6M947: Commissaire de Police, an: Sous-Préfet de Brest, 12.11.1853. 285 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances/manœuvres frauduleuses/affaire Bachellery, 15.11.1853.

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musst, werde was wolle«,286 echote wenig später Staatsanwalt Bonamy, als Cléry in Brest in erster Instanz freigesprochen worden war. Nachdem Ende November 1853 das Gericht »die Polizeikommissare erneut ins Unrecht gesetzt« hatte,287 bekräftigte der Präfekt das vom Gesetz ganz offensichtlich nicht gedeckte Vorgehen der Polizeibeamten: »In den heiklen Umständen, in denen wir uns befinden, möchte ich, dass die Verwaltung und ihre Beamten trotz allem weiter ihre Pflicht tun.«288 Die Verantwortung für die Folgen der Freisprüche falle dann alleine der Justiz zu. Es kam in diesem Sinn dem Staatsanwalt zu, gescheiterten Strafverfahren wie dem gegen Cléry etwas Positives abzugewinnen: »Wenn die Freisprüche hier auch einen schlechten Eindruck hinterlassen, macht die Strafverfolgung selbst wenigstens einen guten. Die Bevölkerung erfährt auf diese Weise immer mehr, dass sie geschützt und unterstützt wird und die Regierung nur ein Ziel hat, nämlich die Hebung der Arbeiterklasse.«289

Da die Verwaltung in ihrem präventiven Vorgehen gegen Gewerbe- und Handel­ treibende von der Justiz nicht gedeckt wurde, versuchten Beamte mit anderen Mitteln, ›moralisierenden‹ Einfluss zu nehmen. In Brest ersann Bürgermeister Bizet im Anschluss an die Unruhen vor den Bäckereien Ende September 1854 das Projekt einer »Brester Stadtmühle«, das die Bäcker von den Industriemühlen des Bezirks unabhängiger machen sollte.290 Der Plan scheiterte jedoch an der Zurückhaltung der Präfektur und am Widerstand der Industriemüller. Unmittelbar vor der Stadtratssitzung, auf der das Projekt beschlossen werden sollte, teilte der Unterpräfekt dem Bürgermeister und dem Präfekten seine Zweifel mit. Das »eigentlich gute Projekt«, schrieb er an Bizet, »hat in den aktuellen Schwierigkeiten keine Wirkung und wenn es sofort ausgeführt wird, könnte es wie eine Kriegswaffe [sic!] gegen die Mühlenindustrie aussehen, sie dem öffentlichen Hass aussetzen und schließlich schlimme Folgen haben«.291 Bizet argumentierte, dass die Obrigkeit ein Projekt unterstützen müsse, das »den Ansichten des Staatschefs so gut entspricht, der sich aktiv um die Verbesserung des Schicksals der bedürftigen Klassen« kümmere.292 Eine Kommune, erwiderte der Unterpräfekt, dürfe sich aufgrund der »so lautstark von der Regierung verkündeten und unterstützten Ideen vollkommener Handelsfreiheit nicht in die Industrie einmischen«.293 Der Präfekt machte dem Projekt Auflagen. Der 286 ADF 6M947: Procureur Impérial de Brest, an: Préfet du Finistère, n° 3876/Police des marchés, 24.11.1853. 287 ADF 6M947: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, Subsistances/contraventions des Srs. Gourlaouen, Saget., 28.11.1853. 288 ADF 6M947: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances/Manoeuvres frauduleuses – confidentielle, 7.12.1853. 289 ADF 6M947: Procureur Impérial, an: Préfet du Finistère, 25.12.1853. 290 Vgl. hierzu Streng, Gewalt, S. 223 f. 291 ADF 6M966: Sous-Préfet de Brest, an: Maire de Brest, 28.9.1854. 292 Ebd. 293 ADF 6M966: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, confidentielle, 29.9.1854.

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Beitrag der Stadtverwaltung sollte sich auf die Konzession des Geländes beschränken und der Name geändert werden; weder die Aufsicht über die Redaktion der Statuten noch über die Wahl des Geschäftsführers oder die Produktionsabläufe wurde gestattet.294 Die Angelegenheit hatte noch einen weiteren Aspekt. »Der Bürgermeister sucht die Verantwortung für die aktuellen Schwierigkeiten vielleicht etwas zu ausschließlich bei den Mühlenindustriellen«, meinte der Unterpräfekt. Einer »Klasse von Individuen Konkurrenz zu machen, die wir von Amts wegen nicht verurteilen dürfen, bevor es die Gerichte getan haben«, komme jedoch nicht in Frage.295 Tatsächlich verwahrten sich die Industriemüller des Bezirks mit einer Petition gegen das »ungewöhnliche Verhalten« und die »unfasslichen Projekte« Bizets. »Seit der Subsistenzteuerung hat der Bürgermeister von Brest unablässig die Industriemüller, welche die Stadt versorgen, für die hohen Kornpreise verantwortlich gemacht […] und ist auch nicht davor zurückgeschreckt, nicht nur dem Ansehen dieser zahlreichen Industriellenklasse schwersten Schaden zuzufügen, […] sondern auch alle Feindseligkeit des Volkes auf sie zu lenken, mit den desaströsen Folgen, die sich unweigerlich einstellen werden.«296

Dabei sei es doch die »wichtigste Pflicht des Beamten, nicht nur die Entstehung öffentlicher Aufregung […] mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, auch mit Härte, zu bekämpfen«. Gegen »lauteren und freien Wettbewerb« hätten sie nichts einzuwenden gehabt, ihn sogar begrüßt, seien sie doch davon überzeugt, dass er zur Widerlegung der »in allen geheimen Zusammenkünften der Stadt über uns verbreiteten hässlichen Lügen und unwürdigen Verleumdungen« beigetragen hätte. Ein »vom Gesetz verbotenes Monopol« lehnten sie jedoch entschieden ab. Denn was würde in Frankreich aus der »Freiheit von Industrie und Handel«, wenn es Bizet gelänge, die Müller am Kornkauf auf den Regulationsmärkten zu hindern oder wenn dieses »restriktive und isolierende System« gar von Amtskollegen imitiert würde? Die Müller verwiesen auf eine Veröffentlichung des Handelsministers, in der dieser auf die »Maximen Turgots zur vollständigen Freiheit des Handels« hinwies. Es sei eine »schmerzliche Wahrheit«, zitierten sie den Minister, dass es in Teuerungszeiten sehr oft zu »Amtsmissbrauch, willkürlichen, illegalen und antikommerziellen Maßnahmen« von Stadtverwaltungen komme, »in deren Ergebnis sich die Lage stets verschlimmert«. Darauf beriefen sich nun die Müller, um ihre Kritik am Stadtmühlenprojekt des Bürgermeisters zu untermauern. Denn wenn es in die Tat umgesetzt würde, schloss die Petition, dann »würde es den 18 größten Industriemühlen des Finistère auf das schwerste schaden und die 425 kleinen Wassermühlen des Bezirks ruinieren«.297 294 ADF 6M966: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, 13.10.1854. 295 ADF 6M966: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, confidentielle, 29.9.1854. 296 ADF 6M966: Huyot frères, Prevet, Nicolas, Bazin, Vincent et Pelle Desforges, Lam, minotiers, an: Préfet du Finistère, 9.11.1854. 297 Ebd.

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Gegen diese Argumentation ließ sich nicht viel einwenden, räumte der Unterpräfekt ein. Auch wenn diese Industriellen vielleicht das »Freihandelsprinzip missbrauchen«, hätten sie ein Recht auf den »Schutz der Behörde«. Zudem hätten »die Unterzeichner […] die von der Regierung oftmals laut verkündeten Prinzipien auf ihrer Seite«, das müsse er anerkennen.298 In seiner Antwort auf die Petition der Müller nahm der Präfekt Bizet zwar in Schutz, machte aber auch deutlich, dass das Projekt »vollkommen ohne Mitwirkung« der Verwaltung realisiert werde.299 Der Minister für Landwirtschaft und Handel war von dem Vorhaben nicht auf dem Dienstweg informiert worden, sondern hatte davon aus der Zeitung erfahren.300 So erkundigte er sich im Januar 1855 beim Präfekten, der die Angelegenheit herunterspielte. »Niemals«, so der Präfekt, sei die Rede von einer »städtischen Mühle« gewesen. Außerdem sei das »nie ernsthaft in Erwägung gezogene« Projekt nicht realisiert worden. Im Übrigen habe es sich um eine »Drohgebärde der Bäcker gegen die Müller des Bezirks« gehandelt, »deren Dominanz sie nur schwer ertragen«.301 Zum Zeitpunkt seiner Nachfrage gab der Handelsminister in den Departements jedoch auch eine Untersuchung zu den Mahlkosten in Auftrag.302 Der Präfekt des Finistère holte dazu Informationen bei den Vorsitzenden der Bauernvereine und Landwirtschaftskammern der Bezirke ein. Im Ergebnis hielt er fest, dass es »für den Bedarf der Bevölkerung viel zu viele kleine Mühlen gibt (man zählt im Departement mehr als 2000). Sie haben hier einen verdient abscheulichen Ruf. Ihnen wird nachgesagt, auf unwürdige Weise die Unglücklichen zu betrügen, die auf sie angewiesen sind. Es wäre also zu wünschen, dass diese Tätigkeit reglementiert würde.«303

Die kleinen Müller zu reglementieren, war eine Empfehlung des Vorsitzenden des Landwirtschaftsvereins von Quimper. Allerdings dachte dieser nicht an direkte Eingriffe in das Gewerbe. Vielmehr müsse man die »Entstehung von Industriemühlen fördern, die eines Tages die kleinen Fabriken zu Fall bringen werden. Denn auch wenn diese Industriemühlen ebenfalls einige Nachteile 298 ADF  6M966: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, Minoterie Brestoise/réclamation, 14.11.1854. 299 ADF 6M966: Préfet du Finistère, an: Vincent, minotier à Landerneau, minoterie Brestoise/ réclamation des minotiers de Brest, 18.11.1854. 300 ADF 6M966: Ministère de l’agriculture, du commerce et des travaux publics, an: Préfet du Finistère, Projet d’établissement d’une minoterie municipale/demande de renseignements, 18.1.1855. 301 ADF  6M966: Préfet du Finistère, an: MACTP, Projet d’établissement d’une minoterie à Brest, 29.1.1855. 302 ADF 6M966: MACTP, an: Préfet du Finistère, Frais de mouture/Demande de renseigne­ ments, 20.1.1855. 303 ADF  6M966: Préfet du Finistère, an: ministre de l’agriculture, du commerce et des travauax publics, Frais de mouture/renseignements, 12.3.1855.

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haben, wird es für die Verwaltung immer einfacher sein, sie überwachen zu lassen und zu Mäßigung anzuhalten, während die Polizei es nie schaffen wird, die Missbräuche zu unterbinden, die in den kleinen, über die gesamte Fläche des Landes verteilten Mühlen stattfinden«.304

Der Vizepräsident der Landwirtschaftskammer von Quimper wies in seiner Stellungnahme deshalb auf die Popularitätsgewinne hin, welche die Regierung durch die Beschäftigung mit dieser Frage erzielen könne: »Keine Frage ist der Überlegungen der Regierung würdiger. Hier kann unseren Landbevölkerungen immens viel Gutes getan werden, mit deren Wohl sich der Kaiser vor allem beschäftigt. Hier kann noch gute Popularität gewonnen werden«.305 Die Forderung nach einer administrativen Regulierung des Müllereigewerbes war verbreitet. In seinem bereits zitierten Gutachten zur Versorgungslage im Canton du Faou (Bez. Brest) vom Januar 1854 schrieb Théophile de Pompéry, dass man beobachten könne, »wie unter dem Vorwand der Handelsfreiheit das neue Monopol der Industriemühlen entsteht. […] Seit die Zahl der großen Industriemühlen zugenommen hat, haben sich die Bedingungen des Kornhandels vollkommen verändert. Die Industriemüller haben sich sozusagen des Handels bemächtigt. […] Es ist offensichtlich, dass die Umtriebe der Industriemüller den Mangel noch verschlimmern und seine Ursachen noch zuspitzen […]. Die außergewöhnliche Menge an Weizen, welche die Industriemühlen jetzt in wenigen Monaten abschöpfen, wird noch den ärgerlichen Nachteil haben, uns jeder Reserve zu benehmen und durch die Tatsache dieser Entziehung eine neue Gefahr schaffen. Unter diesen Bedingungen scheint mir die wiederholte, wenn nicht jährliche Häufung ähnlicher Krisen unvermeidlich. Es gibt, glaube ich, nur ein Mittel, die Käufe wieder mehr auf die Grenzen des täglichen Bedarfs zu beschränken: das ist die Mehltaxe«.306

Die Effekte dieser in der Teuerung Mitte der 1850er Jahre sowohl unter den Honoratioren als auch unter den Beamten des südlichen Finistère verbreiteten Ansicht, dass die Besitzer der 18 großen Mühlenbetriebe dringend »moralisiert« oder ihr Geschäft reguliert werden sollte, sind ex negativo in einer weiteren Petition dieser Gruppe zu lesen. Anfang des Jahres 1856 fürchteten die Industriemüller um »Würde, Ansehen und sogar persönliche Sicherheit«. Allerdings beriefen sie sich nun nicht mehr offensiv auf die wirtschaftspolitischen Richtlinien der Regierung. Vielmehr unterwarfen sich die zwischen Herbst 1853 und Ende 1855 unablässig der Spekulation bezichtigten Industriemüller der Moralisierungsstrategie der Verwaltung. »Wir müssen […] nach Mitteln suchen«, schrieb 304 ADF  6M966: Comice agricole de Quimper, an: Préfet du Finistère, Droit de mouture  – Rapport, 29.1.1855. 305 ADF 6M966: Vice-président de la chambre d’agriculture de Quimper, an: Préfet du Finistère, Subsistances/frais de mouture, 2.2.1855. 306 ADF 6M947: Pompéry, membre de la chambre consultative de l’agriculture, an: Préfet du Finistère, 15.1.1854.

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Aristide Vincent am 6. Januar 1856 an den Präfekten, »[unsere] unerträglich gewordene Position zu verändern. Wir wenden uns vertrauensvoll mit der Bitte an Sie, uns dabei zu unterstützen, das unwahre und verleumderische Gerede zu zerstören, das man in allen Rängen der Gesellschaft über uns verbreitet hat«.307 Um zu »beweisen«, dass sie ihre Geschäfte mit »Rechtschaffenheit« und »Lauterkeit« führten, schlugen sie die Anstellung eines Inspektors vor, der zugleich ihre Kornkäufe auf den Märkten, die Qualität des Mehls in ihren Magazinen und die Erstellung des Kornkurses kontrollieren sollte.308 Der Vorschlag nahm nicht nur ein Anliegen des Brester Bürgermeisters auf,309 sondern ging mit der Möglichkeit, die Vorräte und die Qualität des Mehls in den Speichern der Industriemühlen zu kontrollieren, weit darüber hinaus. Die Öffnung und Überprüfung der Vorratsmagazine von Kornhändlern war in früheren Teuerungen oft von der Bevölkerung erzwungen und durch die Präsenz lokaler Beamter legitimiert worden.310 Die Kornspeicher und ihr Inhalt waren nach wie vor Gegenstände des administrativen Willens zum Wissen,311 zugleich nahm ihnen hier das Prinzip des Freihandels und der Unantastbarkeit des Eigentums jede Kontrollmöglichkeit.312 Zweifellos handelte es sich bei diesem Vorschlag also um ein weitreichendes Zugeständnis. Aber der Präfekt lehnte ab: »Ich schätze das ehrenwerte Empfinden, das diese Forderung diktiert hat. Ich für meine Person sehe darin einen Beweis für die Lauterkeit, mit der die Herren Industriemüller ihre Geschäfte machen und zu machen beabsichtigen. Aber ein solcher Vorsatz, dessen Bedeutung niemandem entgehen wird, scheint mir ausreichend. […] 307 ADF 6M959: Vincent, an: Préfet du Finistère, Requête des minotiers de l’Arrondissement de Brest, 6.1.1856. 308 Ebd. 309 AMB 1D2: Délibération du Conseil municipal de Brest, séance extraordinaire, 30.3.1854; AMB 2D37: Maire de Brest, an: Préfet du Finistère, N°1698: Ètablissement des mercuriales, 20.3.1854; ebd.: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, N°1757: Mercuriale, 11.8.1854. 310 Vgl. Bouton, Les mouvements, S. 71–100; Béliveau. 311 Vgl. die teilweise umfangreichen Antworten auf ein Rundschreiben des Präfekten Anfang Januar 1854 mit Fragen nach der Situation des Kornmarktes und der noch vorhandenen Vorräte. Viele Vorsitzende der Landwirtschaftskammern und Bauernvereine waren zugleich Bürgermeister ihrer Kommunen, siehe ADF  6M959: Maire de Saint-Pol-de-Léon, membre de la chambre consultative de l’agriculture, an: Préfet du Finistère, Subsistances/ Récolte de 1853/Demande de renseignements, 12.1.1854; membre de la chambre consultative de l’agriculture, an: Préfet du Finistère, 12.1.1854; Maire de Locquénolé, membre de la chambre consultative de l’agriculture, an: Préfet du Finistère, subsistances, 13.1.1854; Maire de Moëlan, membre de la chambre consultative de l’agriculture, an: Préfet du Finistère, Subsistances/Récolte de 1853/Demande de renseignements, 13.1.1854. 312 Im Dezember 1845 hatte der Präfekt in einer Instruktion an den Unterpräfekten von Brest genau diesen Punkt herausgestrichen: »Ich weiss, das der Kornpreis auf den Märkten nicht allein den realen Kurs wiedergibt; ich weiss, dass man diesen Kurs nur erhält, wenn man die Transaktionen berücksichtigt, die zwischen Händlern und Besitzern stattfinden. Aber die wenig vermögenden Klassen versorgen sich nicht in deren Magazinen, sondern kaufen auf den Märkten«, siehe ADF 6M946: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances/observations, 9.12.1845.

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Ich kann die Herren Industriemüller nur auffordern, in ihrem Handel viel Vorsicht und Zurückhaltung walten zu lassen und sich sorgfältig aller Vorhaben zu enthalten, die als Provokation verstanden werden, die Bevölkerung aufregen und die öffentliche Ruhe und Ordnung stören können«.313

Die daraufhin von den Petitionären an ihn herangetragene Bitte, ihren Schriftwechsel in der Zeitung zu veröffentlichen, lehnte er ebenso ab wie die amtliche Zustellung »zur Kenntnisnahme« an den Unterpräfekten, den Bürgermeister von Brest, den Staatsanwalt und den Gerichtspräsidenten.314 Alle diese Amtsträger beteiligten sich seit Ende 1853 an der ›Moralisierung‹ des spekulativen Kornhandels in Brest und im südlichen Finistère. Wie der Präfekt im Vorjahr geschrieben hatte, hatten die Müller einen »verdient abscheulichen Ruf« in der Bevölkerung, den er nun als Druckmittel gegen sie einsetzte. Der Vorgang ist deshalb für die informelle Moralisierungsstrategie der Verwaltung gegenüber dem Kornhandel in der Teuerung insgesamt erhellend. Denn wie die Ablehnung des von den Müllern vorgeschlagenen Inspektors zeigt, ging es der Verwaltung nicht um mehr administrative Überwachung der Kaufleute, sondern um deren den Umständen entsprechende, tugendhafte Selbstführung. Sie sollten bei ihren Geschäften nicht nur ihren eigennützigen Profitinteressen folgen, sondern Rücksicht nehmen – sowohl auf die unmittelbaren Versorgungsinteressen der Bevölkerung als auch auf die öffentliche Wahrnehmung ihrer Geschäfte.315 Es gelang der Verwaltung des Finistère in der vergleichsweise langen Teuerungsphase zwischen Ende 1853 und Anfang 1857, offenen Aufruhr in der Bevölkerung abzuwenden. Die kurzen Momente öffentlicher Erregung im September 1853 vor Brester Bäckereien und die Versuche im September 1855, in Morlaix die Einschiffung von Weizen zu verhindern, waren die einzigen Vorkommnisse, welche die Präfektur in ihrer Korrespondenz als ernsthafte Bedrohung kennzeichnete. In der Teuerung 1846/47 war es dagegen in Brest316 sowie in dem südlich von Quimper gelegenen Hafenstädtchen Pont-L’Abbé317 (Bez. Quimper) und dem landwirtschaftlichen Zentrum des nördlichen Finistère St. Pol de Léon318 (Bez. Morlaix) nicht nur zu Menschenansammlungen, sondern auch zu Übergriffen auf Korn- bzw. Kartoffelhändler, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Gendarmen und zur militärischen Besetzung mehrerer Orte gekom313 ADF 6M959: Préfet du Finistère, an: Vincent, minotier, Subsistances/minoterie, 1.2.1856. 314 A DF 6M959: Vincent, an: Préfet du Finistère, 12.2.1856. 315 Vgl. zu dieser Form des indirekten Zwangs auch Glikman, S. 230–237. 316 AMB  6F3.1: Commissaire de police du 2eme arrondissement, Rapport sur le marché au blé du lundi dix-neuf avril 1847, 20.4.1847. 317 ADF 6M946: Préfet du Finistère, an: MI, Désordres à l’occasion de la cherté des subsistances, 23.1.1847. 318 ADF  6M946: Général commandant le département, an: Préfet du Finistère, n° 3091, 18.1.1847; ebd.: Maire de St. Pol de Léon, an: Sous-Préfet de Morlaix, 15.1.1847; capitaine commandant la gendarmerie du Finistère, an: Préfet du Finistère, Rapport sur les troubles de St. Pol de Léon, 18.1.1847.

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men. Mitte der 1850er Jahre hatte sich die teuerungspolitische Konstellation in der Verwaltung selbst in zweifacher Hinsicht erheblich verändert: Erstens machte die behördeninterne Kommunikation einen entscheidenden Unterschied. Während die Beamtenschaft eine rege Korrespondenz mit der Präfektur pflegte und darüber auch Kontroversen über die ›richtige‹ Bedeutung des Freihandelsprinzips ausgetragen wurden, ist für die Jahre 1846/47 fast ausschließlich Weisungskommunikation überliefert. Die bedingungslose Aufrechterhaltung der Handelsfreiheit, von der sich die Regierung der nationalökonomischen Theorie gemäß die Versorgung der Märkte versprach, wurde in der Korrespondenz nicht in Frage gestellt. Zweifel vor allem der Beamten auf den unteren Rängen kamen jedenfalls kaum offen zur Sprache. Im Ergebnis mochte die Subsistenzfrage in einigen Orten eskalieren, weil die Bürgermeister ihre zutiefst moralischen Vorbehalte gegen den Kornhandel eher mit der Gemeinschaft teilten, der sie vorstanden, als mit der Hierarchie.319 In der Teuerung Mitte der 1850er Jahre änderte sich das. Kaum ein Bürgermeister, Polizist oder Gendarm – von den Unterpräfekten oder dem Präfekten ganz zu schweigen – bezog sich zur Legitimation seines offiziellen Handelns nicht auf das Freihandelsprinzip. Das ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil der Tendenz nach antikommerzielle Werthorizonte in der Beurteilung des Kornhandels in der Beamtenschaft immer noch weit verbreitet waren. Nur vereinzelt begründeten Bürgermeister kleinerer Orte Verordnungen offen damit, dem ungebremsten Profitstreben der Kornhändler einen Riegel vorschieben zu müssen. Solche Verordnungen wurden vom Präfekten freilich umgehend kassiert. Der von ihm moderierte, behördeninterne Kommunikationsprozess führte jedenfalls dazu, dass sich der Freihandel als Referenz für Behördenhandeln in der gesamten Beamtenschaft durchsetzte. Zweitens gelang es den Oberbehörden, die Macht der moralischen Vorbehalte der Beamten auf den unteren Rängen aufzunehmen, zu kanalisieren und gegen bestimmte Praktiken des Kornhandels zu wenden. Die ministeriellen und präfektoralen Instruktionen zur Verfolgung »falscher Nachrichten«, »betrügerischer Machenschaften« und 1855 expressis verbis auch der an sich legalen Agiotage identifizierten den Terminhandel als tendenziell ordnungsfeindliches Verhalten. Ob die hohen Beamten die Vorbehalte gegen das ungebremste Profitstreben selbst teilten oder als »Vorurteile« und damit eher als Teil des Problems betrachteten, kann dahingestellt bleiben. Wie die Situation in der Stadt und dem südlichen Bezirk Brest zeigt, wurde das präventive Vorgehen gegen Bäcker und Kornhändler von der Rechtsprechung zwar nicht gedeckt. Aber das war scheinbar auch nicht entscheidend. Es kam vielmehr darauf an, dass die lokale Öffentlichkeit erfuhr, was die Behörde von jenen Bürgern hielt, welche die Teue319 Darauf lässt u. a. ein Brief des Senators des Finistère, Baron de Lacrosse, an den Bürgermeister von Brest schließen: »Es steht nämlich alles zum Besten in ganz Frankreich, das ist der Refrain der Herren Minister und sie haben Seine Majestät leider dazu gebracht, diese Illusionen zu teilen.« Siehe AMB  6F3.1: Lacrosse, Sénateur, an: Maire de Brest, 29.1.1847.

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rung nutzten – ja, sogar verursachten – um Profit zu machen. Die Vertreter des Kaisers und seiner Regierung vor Ort spekulierten auf »Popularitätsgewinne«. Die Petition der Mühlenindustriellen von Anfang 1856 legt nahe, dass diese Rechnung aufging. Wenn offene Eingriffe in den Markt sich definitiv verboten, der Ostrazismus der lokalen Amts- und Würdenträger von Brest gegenüber denjenigen, die sie für die Teuerung verantwortlich machten, könnte nicht weniger wirkungsvoll gewesen sein. Sowohl die Justiz- als auch die Innenbehörden politisierten die Teuerung Mitte der 1850er Jahre als Bedrohung für die neue soziale und politische Ordnung des Zweiten Kaiserreichs. Besonderes Augenmerk legten beide Verwaltungen auf die Überwachung und Disziplin der öffentlichen Kommunikation. Die Zensur »falscher Nachrichten« konstituierte ex negativo ein »Reich der Vernunft«,320 einen Raum des Sagbaren, den die offizielle wirtschaftspolitische Linie der Regierung positiv besetzte. Verfolgt wurden von der Justiz insbesondere Aussagen, die Kaiser Napoléon III. oder andere Protagonisten des Regimes für die Teuerung verantwortlich machten sowie alle losen oder festen Koalitionen, deren ursprüngliche Dynamik nicht von Honoratioren kontrolliert wurde. Die Innen­behörde kriminalisierte mit dem Rechtsmittel der »falschen Nachrichten« darüber hinaus die Preiskommunikation auf den Kornmärkten und besonders im Terminhandel, der – zumindest im Finistère – selbst in die Nähe der Regimegegnerschaft rückte. Gleichzeitig mobilisierte sie das Soziale mit der Initiative zur Bildung von Assoziationen wohlhabender Bürger und Honoratioren, um Unterstützungsleistungen für die von der Teuerung besonders betroffenen Mittellosen zu organisieren. Die vorsorgende Verfolgung von Spekulanten durch Polizei und Gendarmerie trugen Gerichten und Justizverwaltung zwar nicht mit, weil der Terminhandel rechtlich nicht zu beanstanden war, wie ein Beamter des Justizministeriums feststellte. Die Innenbehörde setzte sich darüber jedoch hinweg, ein Umstand, der sich in das Bild der »autoritären«, »diktatorischen« ersten Phase des Zweiten Kaiserreichs fügt, das die Forschung lange gezeichnet hat.321 Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, nur auf die repressiven Aspekte der Teuerungspolitik abzuheben. Die Ordnung des Freihandels erfolgte in der Teuerung nicht über eine Ausweitung der Kontroll- und Eingriffsbefugnisse gegenüber den am Lebensmittelmarkt beteiligten Gewerbe- und Handeltreibenden. Im Gegenteil: Die Justiz- und Innenbehörden disziplinierten gleichsam die »moral economy« der Beamtenschaft auf den unteren Rängen, sie kanalisierten deren antikommerzielle, moralisch begründeten Vorbehalte gegenüber dem Profitstreben und setzten sie als Machtressource für die performative Konstitution eines »tugendhaften«322 Subsistenzmarktes ein. 320 Vgl. Glikman, S. 37–42. 321 Vgl. Plessis, Fête; Price, Anatomy; Hazareesingh; Payne. Kritisch dagegen Mayaud, Empire, S. 105–116. 322 Vgl. Thompson, V. E., S. 131–169.

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IV. Die imperiale Ordnung des Bäckereigewerbes zwischen Verstaatlichung und Liberalisierung, 1853–1868

Am 22. Juni 1863, eine Woche nach den Wahlen zur dritten Legislaturperiode der Abgeordnetenkammer des Zweiten Kaiserreichs (Corps Législatif ),1 erließ die Regierung Napoléons III. ein Dekret »über die Freiheit des Bäckereigewerbes«. Ab dem 1. September 1863 verloren auf einen Schlag sämtliche von den wechselnden Regierungen seit Anfang des Jahrhunderts erlassenen Verordnungen ihre Gültigkeit, die in 165 französischen Städten das Bäckereigewerbe von der seit 1790 geltenden liberalen Wirtschaftsordnung ausgenommen hatten. »Art. 1. Sämtliche Bestimmungen der Dekrete, Verordnungen oder Generalreglements, deren Ziel es ist, die Zahl der Bäcker zu begrenzen, sie den Syndikaten zu unterstellen, Genehmigungsformalitäten vor Eröffnung oder Schließung ihrer Geschäfte aufzu­ erlegen, ihnen Mehl- oder Kornvorräte, Sicherheitsdepots oder Geldkautionen aufzuerlegen, die Fabrikation, den Transport oder den Verkauf von Brot zu reglementieren, werden aufgehoben. Ausgenommen sind Bestimmungen bezüglich der gesundheitlichen Unbedenklichkeit und Ehrlichkeit im Verkauf.«2

Dieses Dekret stellte in der Bäckereipolitik eine Wende dar. Es war Ergebnis sechsjähriger Beratungen über die Gewerbeordnung der Pariser Bäckerei im Conseil d’État, die im Jahr 1857 begonnen hatten. In den Amtsstuben der Präfekturen und Bürgermeister in der Provinz hatte sich diese Reform jedoch nicht angekündigt. Im Gegenteil: Einige Städte wie Lyon, Le Mans oder Brest hatten noch Ende der 1850er Jahre bei der Regierung Gewerbeordnungen erwirkt, die das Dekret vom 22. Juni 1863 nun wieder aufhob. Die Verwaltungen anderer Städte wie etwa Rennes hatten sich in bereits länger andauernden Aushandlungsprozessen für solche Ausnahmeregelungen befunden. Die liberale Gewerbereform stellte deshalb nach Auffassung von Beobachtern nicht nur eine Wende, sondern einen regelrechten Bruch mit der obrigkeitsstaatlichen Tradition dar. »Man täusche sich nicht«, kommentierte etwa der Agronom André Sanson in der Pariser Tageszeitung La Presse. »Tatsächlich ist dieses Dekret […] noch die klarste und radikalste Maßnahme, die je im liberalen Sinn ergriffen worden ist.«3

1 Vgl. Plessis, Fête, S. 207–210; Milza, S 559–565. 2 Journal du droit administratif 11 (1863), S. 310. 3 La Presse v. 1.7.1863, S. 1.

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In der Perspektive der Reformer war das Dekret jedoch erst der Anfang, weil die Taxierungsrechte der Kommunalverwaltungen bestehen blieben. Um sie ebenfalls aufzuheben, reichte ein kaiserliches Dekret nicht aus. Das Recht, Obergrenzen für Brotpreise – eine Brottaxe – festzulegen, war in einem Revolutionsgesetz vom 2. März 1791 gewährt worden und konnte nur durch eine Gesetzesänderung aufgehoben werden. Das Reformdekret ließ außerdem mit Bestimmungen über die gesundheitliche Unbedenklichkeit und die Ehrlichkeit im Verkauf einen Regelungsbereich der alten Gewerbeordnungen bestehen, an dem sich umgehend neuer Streit über die Aufgaben des Staates im Bäckereigewerbe entfachen sollte. Folglich verschob die Reform den Schwerpunkt der Kontroversen über die Rolle des Staates in der Gewerbe- und Marktordnung eher als dass sie diese zum Verstummen brachte. Regierung und Ministerien, Präfekturen und Stadtverwaltungen versuchten insbesondere in der Teuerung Mitte der 1850er Jahre mit einer ganzen Reihe an Strategien, die Brotversorgung der Bevölkerung zu sichern und dauerhaft zu stabilisieren. Im Folgenden werden die komplexen Prozesse untersucht, die zum Reformerlass vom 22. August 1863 führten, und die Probleme analysiert, die bei seiner Umsetzung bis zum Ende der 1860er Jahre auftraten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich Bäckereigewerbeordnung und Brottaxierung als Elemente einer umfassenderen Subsistenzpolitik sowohl in der Provinz als auch in Paris entwickelten. Welche Lösungen entstanden auf lokaler bzw. departementaler Ebene während und nach der Teuerungskrise Mitte der 1850er Jahre für das Problem der Brotversorgung und wie verhielten sie sich zum in Paris vorangetriebenen Reformprozess? Und welche Probleme entstanden bei der Umsetzung der von der Regierung verordneten Liberalisierung des Bäckereigewerbes am Ort?

1. Staatsräson, Gewerbeordnung und Brottaxe: die Bäckerei im Dienst der öffentlichen Ordnung, 1846–1858 Das »Allarde-Dekret« über die Arbeits- und Berufsfreiheit vom 2./17. März und die Aufhebung der Zünfte mit dem Le Chapelier-Gesetz vom 14./17. Juni 1791 schufen die Basis der liberalen Wirtschaftsordnung im nachrevolutionären Frankreich. Zugleich boten einzelne Vorschriften, die in den Gesetzen über die Gebietsverwaltung vom 14./22. Dezember 1789, über die Justizorganisation vom 16./24. August 1790 und die Kommunalpolizei vom 19./22. Juli 1791 enthalten waren, Anknüpfungspunkte für Ausnahmeregelungen, auf die sich Regierung und Verwaltung in den folgenden Jahrzehnten insbesondere im Fall der Bäckerei immer wieder beriefen.4 Der Staat übernahm so sukzessive regulie4 Abschnitt XI, Artikel 3 des Gesetzes vom 16./24.8.1790 definierte die Überwachung der Ehrlichkeit im Verkauf von Lebensmitteln und ihrer gesundheitlichen Unbedenklichkeit (§ 4),

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rende Funktionen, die zuvor von den intermediären Institutionen der Gewerbe ausgefüllt worden waren.5 Während das Bäckereigewerbe seitdem in den meisten kleinen Kommunen durch lokale Polizeiordnungen geregelt wurde, legten bis in die 1850er Jahre in 165 größeren Städten vorwiegend aus den ersten drei Jahrzehnten des 19.  Jahrhunderts stammende kaiserliche Dekrete und königliche Verordnungen die Bäckereigewerbeordnung fest. Zudem machten die meisten Kommunen von ihrem Recht Gebrauch, Obergrenzen für Brotpreise amtlich festzulegen. Auf dieser heterogenen Rechtsgrundlage entwickelte sich aufgrund der tiefen Verflechtung von Behördenpraxis, Bäckereigewerbe und Brotmarkt ein Ausnahmeregime, das zu der ansonsten als Basis der Wirtschaftsordnung geltenden Gewerbe- und Handelsfreiheit in so deutlichem Widerspruch stand, dass deren Verfechter dagegen immer wieder grundsätzliche Kritik vorbrachten.6 Die Regierung, das Ministerium für Handel und Landwirtschaft und die Präfekturen des Zweiten Kaiserreichs unterstützten und forcierten in der Teuerung Mitte der 1850er Jahre aus Gründen der Staatsräson die Konzeption und Implementierung von kommunalen Gewerbeordnungen und Taxierungsverordnungen durch die Rathäuser. Diese Politik befestigte zwar tendenziell das Ausnahmeregime der Bäckerei, machte es jedoch zugleich zum Ausgangspunkt für innovative Strategien. 1.1 Die Brottaxierung und ihre Expansion im ländlichen Raum: das Beispiel Finistère Aufmerksame und kritische Beobachter der Brottaxierung wie der freihändlerische Schriftsteller und Ökonom Victor Modeste aus Meaux erkannten in der Teuerung Mitte der 1850er Jahre eine neue Tendenz. In einer Abhandlung über die Brottaxe für das Journal des économistes im Jahr 1856 notierte er: »Bisher verzichtete nur eine kleine Zahl von Städten auf die Taxe, während man die taxierenden ländlichen Kommunen an einer Hand abzählen konnte. Seit einigen Jahren ändert sich das. Die Brottaxe ist überallhin vorgedrungen. Von der Bezirkshauptsowie die Prävention und Bewältigung von Notfällen und Plagen (§ 5) als kommunale Aufgaben. Das Gesetz vom 14./22.12.1789 bestimmte in Artikel 50 außerdem als Aufgabe der Kommunen, die Bevölkerung in den »Genuss der Vorteile einer guten Polizei« kommen zu lassen. Artikel 30 des Gesetzes vom 19./22. Juli 1791 räumte den Kommunen das Recht ein, die Preise für Brot und Fleisch mit einem amtlichen Tarif (Taxe) zu deckeln. Vgl. hierzu Foubert, Boulangerie, S. 216 f. 5 Vgl. hierzu Bourguinat, Grains, S. 13 f.; Rosanvallon, L’État, S. 111–113. 6 Die Literatur zur Brottaxe ist für das 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr reichhaltig. Für die Phase nach der Jahrhundertmitte dagegen wird die Literaturgrundlage überraschend dünn. Für das 18. Jahrhundert, aber mit methodologisch darüber hinausweisender Bedeutung: Kaplan, Bread; Miller; mit Argumenten zur Taxe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Bourguinat, Le Maire, S. 89–104; Minard u. Margairaz, S. 53–99; Lhuissier, Réforme sociale; Kaplan, Le pain maudit.

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stadt aus geben die Unterpräfekten sie an die Bürgermeister der Kreisstädte weiter, die sie dann auf alle Kommunen in ihrem Einflussgebiet übertragen. All das vollzieht sich mit fast militärischer Präzision.«7

Im Departement Finistère ist die von Modeste beklagte Ausweitung sehr gut nachzuvollziehen. Die Verwaltungshierarchie begleitete zwischen dem Ende der Julimonarchie 1846/47 und im Verlauf des Zweiten Kaiserreichs bis zu Beginn der 1860er Jahre die Expansion der Brottaxierung in die Fläche. Immer mehr Kommunen bedienten sich dieses urbanen Verwaltungsinstruments und verdichteten das Netz der taxierenden Kommunen. Im Jahr 1870 taxierten in den fünf Bezirken des Departements Finistère die Verwaltungen von insgesamt 35 Kommunen sehr unterschiedlicher Größe das dort produzierte Brot. Tab. 2: Anzahl der taxierenden Kommunen pro Bezirk (Finistère, 1842–1863) Bezirk Bez. Brest Bez. Chateaulin

Anzahl der taxierenden Kommunen 8 9

Bez. Quimper

12

Bez. Morlaix

3

Bez. Quimperlé Summe

3 35

Quelle: ADF 6M952

Betrachtet man den Zeitpunkt, zu dem die einzelnen Kommunen erstmals die Taxe einsetzten, ergeben sich Häufungen während der Kornteuerungsphasen Ende der 1840er und Mitte der 1850er Jahre. Oftmals hatten Kommunen, die um 1850 erstmals taxierten, das komplexe und langwierige Abstimmungsverfahren mit den übergeordneten Behörden bereits Mitte oder Anfang der 1840er Jahre angestrengt.8 Jede Taxierungsverordnung wurde vom Bürgermeister entworfen und über den Dienstweg an das Handels- und Landwirtschaftsministerium geleitet. Dieses Verfahren konnte sich über längere Zeit hinziehen, wenn in der Zentralverwaltung Einsprüche und Änderungswünsche formuliert wurden. In der kritischen Phase während der 7 Modeste, De la taxe, S. 39 (Fußnote 1). Von Modeste stammte auch eine 1846 erschienene, vielbeachtete und während des Zweiten Kaiserreichs neu aufgelegte Abhandlung über den Zusammenhang von Teuerung, antikommerziellen »Vorurteilen« und Protestgewalt, siehe Modeste, De la cherté. Die zweite und dritte Auflage wurden 1854 und 1862 wurden mit Unterstützung der Landwirtschftsgesellschaft und des Bauernvereins des Bezirks Meaux herausgegeben. 8 In Pont-L’Abbé dauerte es z. B. von 1842 bis 1847; in Carhaix von 1846 bis 1848; in Audierne von 1848 bis 1849.

142

Tab. 3: Anzahl der erstmals taxierenden Kommunen pro Jahr (Finistère, 1847–1861) Zahl der taxierenden Kommunen 1847

6

1848

1

1849

1

1850

1

1851 1852 1853

5

1854

2

1855

3

1856

2

1857

1

1858

2

1859 1860 1861

1

Quelle: ADF 6M952. Die Tabelle verzeichnet nur jene Kommunen, in denen erstmals taxiert wurde oder grundlegende Reformen vorgenommen wurden.

Subsistenzkrise 1846–1847 und nach der Revolution 1848 blieben zudem viele Korrespondenzen zunächst unbearbeitet liegen. Das Tempo dieses Prozesses beschleunigte sich erst mit dem Dezentralisierungsdekret von 1852, das den Präfekturen die Entscheidung über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Gewerbeund Taxierungsverordnungen bzw. einzelner Bestimmungen übertrug.9 Der Ausbreitungsschub der Taxierung in den 1850er Jahren fällt folglich fast gänzlich in die Verantwortung des Präfekten Richard während des Zweiten Kaiserreichs. Die Größe der taxierenden Kommunen nahm im Zeitverlauf deutlich ab. Die größten Städte des Departements Brest, Morlaix und Quimper verfügten mit Verordnungen (ordonnances) aus den 1810er und 1820er Jahren über vergleichsweise alte Rechtsgrundlagen für die Taxierung.10 Die Gültigkeit dieser alten Rechte war allerdings umstritten, und oft waren sie auch in Vergessenheit gera9 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Morlaix, subsistances, arrêté sur la vente et la taxe du pain à Morlaix, 21.3.1853. 10 In Lambézellec existierte eine außer Gebrauch geratene Verordnung aus dem Jahr 1817, siehe ADF  6M952: Maire de Lambézellec, Extrait du registre des arrêtés de la mairie de Lambézellec pour l’année 1817 folio 92/Règlement sur l’exercice de la profession de Boulanger dans la commune de Lambézellec, 15.11.1817; in Douarnenez hatte man von 1829 bis 1837 eine Taxierungsordnung, siehe ebd.: Maire de Douarnenez, an: Préfet du Finistére,

143

ten.11 Um belastbare Rechtsgrundlagen für die Taxierung zu gewinnen, traten in den 1840er und 1850er Jahren auch die größeren Stadtkommunen in Normgebungsverhandlungen mit der Präfektur ein. Die geographische Ausweitung der Taxe erfolgte über zahlreiche kleinere, ländliche Kommunen, die im direkten Einzugsgebiet oder in der Nachbarschaft dieser Großstädte lagen. Tab. 4: Taxierende Kommunen im Finistère nach Bezirken (1846–1870) Bez. Brest

Bez. Quimper

Bez. Quimperlé

Bez. Morlaix

Bez. Chateaulin

Brest Gouesnou Guipavas ­ Lambézellec Landerneau Lesneven Plougastel St. Pierre de Quilbignon

Audierne Combrit Concanreau Douarnenez Ile de Sein Ile Tudy Plozévet Pont l’Abbé Pont-Croix, Poullan Rosporden

Moëlan ­ Quimperlé Riu

Morlaix Roscoff St. Pol de Léon

Camaret Carhaix Chateaulin Chateauneuf Crozon Huelgoat Le Faou Pleyben Poullaouen

9

11

3

3

9

Die dichte Verwaltungskorrespondenz zwischen Bürgermeistern, Unterpräfekten und dem Präfekten lässt ein immer engmaschigeres Netz von Referenzierungen innerhalb und jenseits der einzelnen Verwaltungsbezirke erkennen. In den meisten Fällen reichten diese Bezüge nicht über die Bezirke hinaus. Die im Einzugsbereich von Brest liegenden kleineren Kommunen Gouesnou,12 Guipavas,13 28.7.1846; in Landerneau existierte eine Ordnung aus dem Jahr 1829, siehe ebd.: Maire de Douarnenez, arrêté, 1.7.1829. In Morlaix, dem Zentrum des Kornhandels mit England im Produktionsgebiet Léon an der Kanalküste, existierte darüber hinaus eine Verordnung des bretonischen Parlaments aus dem Jahr 1766, siehe ebd.: Extrait d’un rapport présenté au conseil municipal de Morlaix, dans la séance du 28 février 1849, sur la fabrication, la taxe et la vente du pain en cette ville, 28.2.1849. 11 Der Präfekt fand im Jahr 1847 im Finistère keine andere aktuelle Taxierungsregelung als die von Brest. Im Juli dieses Jahres antwortete er seinem Amtskollegen im Departement Moselle auf dessen Frage nach der Brottaxierung in den Großstädten des Finistère: »Dieses Dokument […] ist das einzige, das ich Ihnen schicken kann, da die Ordnung, die diese Materie im Hauptort meines Departements regelt [Quimper, d. Vf.], auf das Jahr 1818 zurückgeht und im Augenblick Gegenstand einer Generalrevision ist«, siehe ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Préfet de la Moselle, Subsistances/Boulangrie – renseignement, 27.7.1847. 12 ADF 6M952: Caill, Maire de Goueznou, an: Département du Finistère/Arrondissement de Brest/Mairie de Goueznou/Police/Arrêté concernant la vente du pain dans la commune de Goueznou, 14.7.1856. 13 ADF  6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Boulangérie/Projet d’arrêté de M. le Maire de Guipavas, 16.11.1861.

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Lambézellec,14 Landerneau15 und St. Pierre de Quilbignon16 bezogen sich direkt auf die Taxe von Brest – sowohl hinsichtlich der konkreten formalen Fassung der einzelnen Verordnungsbestimmungen als auch im Hinblick auf die inhaltliche Festlegung der Brotsorten und der entsprechenden Preise. Die Taxierungsordnungen der Bezirksstädte erhielten dadurch Modellcharakter.17 Solche Referenzierungsprozesse sind noch deutlicher im Fall von Quimper, das für im gesamten südlichen Finistère gelegene Kommunen wie Audierne,18 Combrit,19 Concarneau,20 Douarnenez21 und Pont-L’Abbé22 zur Referenz wurde. Auf PontL’Abbé, einen südlich von Quimper gelegenen kleinen Ausfuhrhafen, bezogen sich in der Umgebung liegende Dörfer wie Ile-Tudy.23 Die Taxe der im Bezirk von Châteaulin gelegenen Kleinstadt Carhaix dagegen sollte sich nach dem Willen des Bürgermeisters auf die von Morlaix beziehen, das zwar näherlag, aber zum Nachbarbezirk gehörte. Das führte zu einem langwierigen und umständlichen Abstimmungsverfahren zwischen den Bürgermeistern beider Kommunen, den Unterpräfekten der beiden Bezirke, dem Präfekten und dem zuständigen Ministerium.24 Im Ergebnis war zu Beginn der 1860er Jahre ein Netz aus insgesamt 35 taxierenden Kommunen entstanden, das den interkommunalen Markt- und Versorgungsbeziehungen und Kornpreisbewegungen im Departement nachgebildet war, in diesem Sinn vereinheitlichende Wirkung auf die regionale Brotmarktordnung hatte und regulierend auf die Preisbildung im gesamten Departement wirkte. Als globale Regelungsvision mit einem totalisierenden, die einzelne Kommune überschreitenden Gebietsbezug wurde die Taxierung in den 1840er und 1850er Jahren in der Verwaltung ebenfalls diskutiert.25 Sie beruhte auf der fort14 ADF 6M952: Maire de Lambézellec, [Arreté], 17.10.1853. 15 ADF 6M952: MAC, an: Préfet du Finistère, Landerneau/arrêté sur la taxe et la vente du pain, 6.8.1849. 16 ADF 6M952: Mairie de Saint Pierre Quilbignon, Extrait du Registre des arrêtés du Maire, 18.4.1861. 17 Pont-L’Abbé wurde zum Modell von Carhaix, ADF 6M952: Préfet du Finistére, an: SousPréfet de Chateaulin, police municipale, taxe du pain à Carhaix, 1.2.1847. 18 ADF 6M952: Maire d’Audierne, an: Préfet du Finistère, taxe du pain, 8.7.1848. 19 ADF 6M952: Préfet du Finistére an: Maire de Combrit, subsistances, vente du pain à Combrit, 5.7.1855; ebd.: Maire de Combrit, an: Préfet du Finistére, 25.7.1855. 20 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Maire de Douarnenez, Maire de Concarneau, Subsistances/taxe du pain, 15.9.1853. 21 ADF 6M952: Maire de Pont-L’Abbé, an: Préfet du Finistère, nouveau règlement de police, n° 264, 20.9.1857. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Darüber berichtet der Bürgermeister selbst, siehe ADF 6M952: Le Navennec, Maire de Carhaix, an: Citoyen Sous-Préfet, 13.12.1848. 25 Und zwar aus naheliegenden Gründen dort, wo die Bezirksgrenzen bereits bei der Ausarbeitung der Taxierungsverordnung ein Problem waren wie im Fall der Städte Carhaix und Morlaix. Ein Schriftwechsel zwischen der Präfektur und den Unterpräfekten von Morlaix und Châteaulin verdeutlicht, was dabei auf dem Spiel stand. Am 18. Dezember 1848 gab der

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laufenden statistischen Zusammenschau und Auswertung der einzelnen, kommunalen Taxierungsberichte in der Präfektur und zielte auf eine Verringerung der Brotpreisamplitude zwischen den Bezirken und Ortschaften des Departements. So forderte der Präfekt etwa im erwähnten Fall der beiden Orte Morlaix und Carhaix im Dezember 1848, die Taxen aufeinander abzustimmen und so die Brotpreise in beiden Kommunen über die Bezirksgrenze hinweg aneinanderzukoppeln. Dieser Abstimmungsprozess sollte mit der Taxierung in Morlaix begonnen werden, weil die Brotpreise in Carhaix, wie der Bürgermeister berichtete, von den Kornpreisen auf dem Markt von Morlaix reguliert wurden.26 Die Reaktionen der beiden Unterpräfekten gingen jedoch auseinander. Während der oberste Bezirksbeamte von Châteaulin die Maßnahme für »exzellent, ja oft unverzichtbar« hielt und dafür plädierte, sie »überall [einzuführen], wo es möglich ist«,27 blieb der Unterpräfekt von Morlaix, der spätere Präfekt des Finistère Richard, gegenüber der umfassenden Regelungsvision zurückhaltend. Die neue Regelung könne die Unterschiede zwischen den verschiedenen Städten des Departements nicht aufheben, solange ihre Ursachen fortbestünden, insbesondere die »abweichenden Weizenpreise und -qualitäten sowie die Vorgehensweisen bei der Erstellung der Taxe«.28 Zugleich führte Richard den Gedanken des Präfekten weiter. »Um Ihr Ziel zu erreichen«, schrieb er an seinen Vorgesetzten, »müsste es eine Einheitstaxe für das gesamte Departement geben, die auf dem durchschnittlichen Gewicht und mittleren Preis aller Märkte des Finistère basiert; man müsste außerdem einheitliche Typen für alle Brotqualitäten einführen und das scheint mir unmöglich oder zumindest so schwierig zu sein, dass daran auf längere Zeit nicht zu denken ist.«29

Auch in einigen Kommunen des Finistère legten Beamte in den 1850er Jahren nahe, dass eine zentrale Maßnahme die Brotpreise überlokal vereinheitlichen könne, so etwa der Friedensrichter von Douarnenez.30 Eine Taxierungsordnung, die sich auf das Gebiet des gesamten Departements beziehen und von Präfekt in einem Schreiben zu bedenken, dass es »oft enorme Brotpreisunterschiede zwischen den verschiedenen Punkten des Departements« gebe, besonders zwischen den Nachbarstädten Morlaix (Bez. Morlaix) und Carhaix (Bez. Châteaulin). Um den »Nachteilen entgegenzuwirken, die aus dieser Situation erwachsen können, sei es nützlich, das Bäckereigewerbe, die Brottaxe und den Brotverkauf in Morlaix durch eine eigene Ordnung zu reglementieren«. ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Morlaix, ville de Morlaix, arrêté sur la taxe du pain, 18.12.1848. 26 ADF  6M952: Sous-Préfet de Châteaulin, an: Préfet du Finistére, Carhaix, taxe du pain, 12.2.1847. 27 ADF 6M952: Sous-Préfet de Châteaulin, an: Préfet du Finistére, subsistanes, Carhaix, taxe du pain, 9.12.1848. 28 ADF 6M952: Sous-Préfet de Morlaix, an: Préfet du Finistère, Subsistances, Ville de Morlaix, 4.1.1849. 29 Ebd. 30 Der Beamte, im September 1854 vom Präfekten mit einem Bericht über die Versorgungslage in seiner Kommune beauftragt, diskutierte die Entwicklung der Weizenpreise nach der Ernte

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der Präfektur überwacht würde, war gesetzlich jedoch nicht vorgesehen.31 Das strategische Ziel, die Brotpreise in den einzelnen Ressorts einander anzugleichen, konnte folglich nur über die Einführung der Taxe in möglichst vielen Kommunen erreicht werden. Im Bezirk von Quimperlé zum Beispiel arbeiteten 1854 Polizeibeamte, Unterpräfekt und Präfekt an der strategischen Ausweitung des Taxierungsregimes zusammen, indem sie die Bürgermeister zur Taxierung aufforderten. Dieser Vorgang zeigt exemplarisch, auf welche Weise die Taxe in den ländlichen Raum expandierte. Nachdem Anfang Juni 1854 die Bäcker von Quimperlé an einigen Tagen zu wenig Brot gebacken, damit gegen die Auflagen der Taxierungsordnung verstoßen hatten und bestraft worden waren, problematisierten der Unterpräfekt und der Polizeikommissar des Bezirks in Schreiben an die Präfektur übereinstimmend das Fehlen der Taxe in der ländlichen Umgebung. Der Kommissar hatte bei seinen Nachforschungen das Unterangebot der Bäcker auf den »Konsumentenandrang« an Markttagen zurückgeführt. Dieser, so der Kommissar, »rührt daher, dass der Brotverkauf in den Kommunen und Hauptorten der Kreise und Bezirke von keiner Taxierungsverordnung geregelt ist, so dass die Bäcker ihr Brot in diesen Ortschaften viel teurer verkaufen als hier. Die Landbewohner rechnen sich den enormen Unterschied aus, kommen in die Stadt, um sich mit dem für ihren Verbrauch nötigen Brot einzudecken und leeren so auf einen Schlag unsere Bäckereien, die dieser außerordentlichen Nachfrage nicht gewachsen sind. Die Stadtbewohner murren und beschweren sich immer wieder, wenn sie am Ende des Markttages und an Sonntagen kein Brot mehr auftreiben können«.32

Die Lösung dieses Problems bestand für den Polizisten in der Ausweitung der Taxe auf die ländlichen Kommunen in der unmittelbaren Umgebung der Bezirkshauptstadt Quimper. Es wäre »im Sinn des Allgemeininteresses dringend erforderlich«, fuhr er in seinem Bericht fort, »dass die Kommunen und Kreisstädte die gleiche Taxe einführen wie die Bezirksstädte. Dann würden sich die Landleute in ihrer Nähe versorgen und nicht mehr in die Stadt drängen«.33 Der Unterpräfekt von Quimperlé stimmte dieser Analyse zu und teilte dem Präfeksowie die der Brottaxe in verschiedenen Städten des südlichen Finistère und gab zu bedenken: »Wenn man diesen Preis mit jenen in Quimper vergleicht, die zugleich die von Douarnenez sind, ist man gezwungen zuzugeben, dass die Sache überrascht und dass einige Willkür in der Art und Weise herrschen muss, wie die Taxe erstellt wird, wenn sie zwischen so nahegelegenen Orten wie Quimper, Châteaulin, Douarnenez und Pont-Croix dermaßen stark variieren«, ADF 6M952: Béléguie, juge de paix de Douarnenez, an: Préfet du Finistère, 15.9.1854. 31 Das gestand der Präfekt in einem Schriftwechsel mit dem Unterpräfekten von Brest im Jahr 1854 ein, siehe ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances/Boulangerie, 20.9.1854. 32 ADF  6M952: Commissaire de Police cantonal de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, 10.6.1854; so auch der Unterpräfekt ADF 6M952: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistére, subsistances, 7.6.1854. 33 ADF  6M952: Commissaire de Police cantonal de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, 10.6.1854.

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ten mit, dass die Bürgermeister der Kommunen im Bezirk aufgefordert würden, »sofort die Taxe als geeignete Maßnahme einzuführen«.34 Präfekt Richard war derselben Meinung. Die Einführung der Taxe in den »ländlichen Kommunen« könne, »zumal in den aktuellen Umständen«, nur von Vorteil sein. Da sie sich eigentlich auf die Weizenpreise des jeweils örtlichen Kornmarktes beziehen müsse, die ländlichen Kommunen jedoch nicht über einen eigenen Kornmarkt verfügten, sei es »statthaft, den Brotpreis nach der Taxe von Quimperlé oder jeder anderen Ortschaft zu regeln«.35 Dieser Expansionsmechanismus wirkte auch in anderen Fällen. Als sich zwei Jahre später, im Herbst 1856, die Bäcker von Crozon, eines auf der Halbinsel gleichen Namens gelegenen Markt- und Hafenfleckens, in einer Petition über ihre Kollegen aus dem Nachbarort Camaret sowie über die »Aufkäufer« der Weizenhändler aus dem günstig am Zugang zur Halbinsel gelegenen Le Faou und der Bezirkshauptstadt Châteaulin beschwerten,36 schloss der Friedensrichter von Crozon seinen Lagebericht mit dem Vorschlag, »entweder eine Einheitstaxe für den ganzen Kreis einzurichten oder zumindest für Camaret, einen sehr wichtigen Ort«.37 Die Angelegenheit wurde in diesem Fall mit der Einführung der Taxe in Camaret geklärt.38 Das geographische Netz der Brottaxe wurde so um eine Masche weiter gestrickt – auch dies ein Beispiel dafür, wie die Taxierung in der einen Kommune die Taxierung in der Nachbarkommune nach sich zog. Aus welchen Gründen die Taxe in der Teuerung der 1850er Jahre von der Präfektoralverwaltung des Finistère als ordnungspolizeiliches Instrument geschätzt wurde und warum sie an ihr festhielt, ist in einem weiteren Vorgang zu erkennen. Zwischen 1854 und 1856 trug sich die Stadtverwaltung von Landerneau – ein Zentrum der Mühlenwirtschaft im Bezirk Brest – mit Überlegungen zur Aufhebung der Taxe. Der Unterpräfekt bemerkte dazu im September 1854 in einem Bericht an den Präfekten, er glaube nicht, »dass man den Bürgermeister […] in seinem Anliegen unterstützen sollte. Die beiden ersten Brotsorten nicht zu taxieren hieße, den größten Teil der Bevölkerung schamlosen Spekulanten auszuliefern, denen alle Mittel recht sind, um übertriebenen Profit zu machen. Nur die Regierung kann diesem Treiben Einhalt gebieten«.39

Als der Bürgermeister die Taxierungsverordnung im März 1856 tatsächlich aufhob, konnte der Beamte sich »immer noch nicht erklären, welchen Vorteil die Aufhebung der Taxe haben soll. Denn das bedeutet ja, das Belieben der Bäcker 34 Ebd. 35 ADF 6M952: Préfet du Finistére, an: Sous-Préfet de Quimperlé, subsistances, Boulangerie, taxe du pain, 13.6.1854. Die Akten der Präfektur belegen allerdings nicht, dass sich der Expansionsmechanismus in diesem Fall tatsächlich in Verordnungen umsetzte. 36 ADF 6M952: Boulangers de Crozon, an: Préfet du Finistére, 19.5.1856. 37 ADF 6M952: Alexandre, juge de paix de Crozon, an: Préfet du Finistère, 5.6.1856. 38 ADF 6M952: Sous-Préfet de Châteaulin, an: Préfet du Finistére, subsistances, taxe du pain, arrêté du Maire de Camaret, 6.6.1856; Maire de Camaret, arrêté, 9.6.1856. 39 ADF 6M952: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, 16.9.1854.

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an die Stelle einer Ordnung zu setzen, die dem Verkäufer und dem Käufer Garantien bietet«.40 In einem weiteren Bericht begründete er seine Zweifel mit einem Argument, in dem sich das von liberalen Nationalökonomen wie Garnier oder Modeste perhorreszierte Maximum und der freie Wettbewerb nicht ausschlossen: »Die Taxe ist lediglich ein Maximum, das im Interesse des Konsumenten fixiert wird. Wenn die Bäcker ihr Brot auch nicht teurer verkaufen dürfen, hindert sie doch überhaupt nichts daran, es günstiger abzugeben. Ich kann mir nicht erklären, was den Wettbewerb bereits jetzt daran hindert zu bewirken, was er dem Bürgermeister von Landerneau zufolge nach Aufhebung der Taxe bewirken soll«.41

Auch Präfekt Richard vermutete, dass die Aufhebung »mitnichten die Ergebnisse zeitigt, die [der Bürgermeister, d. Vf.] sich ausrechnet«.42 Allerdings stimmte er »versuchsweise« der Aussetzung der Taxe zu. Falls Probleme aufträten, könne man die Taxierungsverordnung wieder in Kraft setzen.43 Der Vorgang unterstreicht die Bedeutung moralischer, antikommerzieller Argumente, mit denen die Verwaltung die Notwendigkeit der Taxierung in den 1850er Jahren begründete. Die Brotversorgung der Bevölkerung durfte nicht dem »Belieben« von »schamlosen Spekulanten« überlassen bleiben. Die Taxe bot  – zwar nicht nur, aber doch vor allem  – den Bäckereikunden »Garantien«, sie versicherte das »Interesse des Konsumenten« an der Brotversorgung gegen das Streben nach »übertriebenem Profit« der Gewerbetreibenden. Eine Stellungnahme des Präfekten aus dem Jahr 1860 zeichnete ein räumliches Panorama der Taxierung im Finistère. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Ausbreitung in die ländlichen Kommunen ihren Höhepunkt erreicht. Der Präfekt sei hier ausführlicher zitiert, um zu verdeutlichen, dass der Expansionsprozess der Taxe letztlich nur in der Ländlichkeit seines Ressorts eine Grenze fand: »Außer den wichtigsten Bevölkerungszentren, also den Bezirkshauptstädten und einigen Kreisstädten gibt es im Finistère keine Ortschaft, in der die Bäckerei wirklich von Bedeutung ist. Das rührt daher, dass die Bewohner unserer ländlichen Gebiete und selbst viele in den Städten lebende Arbeiter den Brauch beibehalten haben, ihr Brot selbst zu backen. Überdies muss man bedenken, dass sie sich im Allgemeinen von Roggen- und Gerstenbrot ernähren. In den Bezirkshauptstädten und jenen Kreisstädten, in denen die Bäckerei ein wenig Bedeutung hat, ist die Taxe bereits seit langem eingerichtet. Ich nenne außer den Bezirkshauptstädten [Brest, Châteaulin, Morlaix, Quimper, Quimperlé, d. Vf.] die Kommunen Pont-L’Abbé, Douarnenez, Pont-Croix, 40 ADF 6M952: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, Département du Finistère/Sous-Préfecture de Brest/1ere Division/Secrétariat général/Subsistances/Taxe du pain/Landerneau, 14.3.1856. 41 ADF 6M952: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, Département du Finistère/SousPréfecture de Brest/1ere Division/Secrétariat général/Subsistances, 27.3.1856. 42 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances/Taxe du pain à Landerneau, 31.3.1856. 43 Ebd.

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Audierne, Poullan, Rosporden im Bezirk von Quimper; Landerneau, Lambézellec, Gouesnou im Bezirk von Brest; Landivisiau, St. Pol de Léon, Roscoff im Bezirk von Morlaix; Pleyben, Chateauneuf, Camaret, Crozon, Le Faou, Carhaix im Bezirk Châteaulin; und schließlich Pont-Aven und Riu im Bezirk Quimperlé.«44

Die eingangs zitierte Beobachtung von Victor Modeste aus dem Jahr 1856, dass sich die Taxe ausgehend von den urbanen Kommunen in die Fläche ausbreitete, wird am Fall des Departements Finistère in ihrer Dynamik und Mechanik gut nachvollziehbar. Da die Brotpreise in taxierenden Kommunen mitunter günstiger waren als in der Umgebung, stieg die Nachfrage aus dem Umland. Da die Taxierung auf einem fein austarierten Gleichgewicht zwischen Kornkursen und Produktionskosten, täglich zu produzierenden Mindestmengen und Zuteilung von Produktionsquoten an die einzelnen Bäcker beruhte, geriet das Gefüge der Brottaxe sofort unter Druck, wenn sich die Nachfrage plötzlich erhöhte. Um die Preisunterschiede auszugleichen, ergab sich für die Beamtenschaft sodann die Notwendigkeit, die Taxe auf die Kommunen des Umlands zu übertragen. Im Prozess ihrer Ausweitung sind also durchaus Aspekte des »Vorrückens des Staates in die Fläche« zu sehen.45

1.2 Ausgleichskassen als Sicherheitsmechanismen Die Brottaxe wurde in der Teuerung auch Basis einer innovativen Lösungsstrategie. Mit zwei Dekreten vom 27. Dezember 1853 und 16. Januar 1854 richtete die Regierung auf dem Pariser Brotmarkt eine von Eugène-Georges Haussmann, dem Präfekten des Departements Seine federführend konzipierte und beaufsichtigte sowie von der Stadt Paris mit Finanzbürgschaften ausgestattete Bank ein, die Caisse de service de la boulangerie.46 Diese Einrichtung erinnerte mit ihrer Kombination von versorgungspolitischen Zweckbestimmungen und finanztechnischen Instrumenten an zeitgenössisch diskutierte Projekte zur Kapitalisierung von Getreide in Kornspeichern,47 »Silobanken«48 oder »Docks-­ entre­pôts«49 durch Pfandscheine (warrants).50 Die Caisse de service de la boulan44 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Préfet de la Moselle, Subsistances/Boulangerie – renseignement, 27.7.1847. 45 Siehe Ganzenmüller u. Tönsmeyer; vgl. auch Franz. 46 Vgl. zum Folgenden bisher nur Horii, Crise, sowie ders., Caisse. 47 Siehe oben Kapitel II.1. 48 Siehe Hagen; vgl. auch Hervieux. 49 Vgl. AN CHAN F 11 2759: Delaplane, Comptoir; Gosset. 50 In den Aufsichtsrat wurden einige hochrangige Pariser Finanzbeamte und Handelsvertreter entsendet, die u. a. die Kreditwürdigkeit der Bäcker prüfen sollten, siehe Organisation de la caisse de service de la boulangerie, in: Moniteur universel. Journal officiel de l’Empire français v. 8.1.1854, S. 1 f. Für liberale Kritiker war das immerhin ein »Sicherheitspfand«, siehe Pommier, Taxe, S. 362.

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gerie sollte einen Puffer zwischen dem Rohstoffmarkt für Korn und Mehl, dem Pariser Bäckereigewerbe und den Verbrauchern bilden und für die Brotversorgung der Hauptstadt wie ein Sicherheitsmechanismus wirken.51 Auf der einen Seite übernahm die Institution den Korn- und Mehlkauf für die Pariser Bäcker, von denen zu diesem Zweck jeder einzelne bei der neuen Kasse einen Kredit erhielt, dessen Höhe sich hauptsächlich am Umfang seiner individuellen, im städtischen Magazin eingelagerten Vorräte bemaß. Mit dieser Maßnahme wurden die Bäcker, deren Zahl auf 600 begrenzt wurde, um ihre Geschäfte rentabler zu machen, aus der direkten Kreditabhängigkeit der Müller gelöst. Um den Mechanismus wirksam einsetzen zu können, verbot der kaiserliche Gründungserlass denjenigen Bäckern, die ihre Käufe über die Kasse abwickelten, eigenständige Mehl- und Getreidekäufe.52 Auf der anderen Seite garantierte die Kasse der Pariser Bevölkerung stabile Brotpreise, indem sie diese von den Fluktuationen des Korn- und Mehlmarktes abkoppelte. Die Basis dieses Mechanismus war die Brottaxe. Stiegen die Korn- und Mehlpreise wie im Herbst 1853 und im Verlauf des Jahres 1854 über den Tarif hinaus, der dem Taxierungskalkül zugrunde lag, machten die Bäcker Verluste, die durch Zahlungen der Kasse ausgeglichen werden sollten. Fielen die Rohstoffpreise jedoch unter das Niveau der in der Taxe vorgesehenen Tarife, sollten die Bäcker die Differenz an die Kasse zurückzahlen. Dieser Mechanismus hatte eine Reihe an Vorteilen. Erstens musste die Taxe selbst nur wenig und in größeren Zeitabständen den Rohstoffpreisen angepasst werden – was den Pariser Brotkonsumenten mehr Sicherheit gab und der Verwaltung häufige und komplizierte Verhandlungen mit den Bäckern ersparte.53 Da der Mechanismus zweitens den Pariser Brotmarkt insgesamt gegen Teuerungen abschirmte, konnte die Pariser Stadtverwaltung in der Krise, wie der Ökonom André Pommier es formulierte, auf die Differenzierung zwischen »unterschiedlichen Kategorien von Verbrauchern«54 verzichten, die mit der überdies sehr kostspieligen Ausgabe von Brotbons noch 1846/47 einhergegangen war. Das gesellschaftliche Gefüge des Brotkonsums geriet in Teuerungen durch die Abkopplung einer wachsenden Zahl von Verbrauchern auch des Kleinbürgertums vom Brotmarkt und ihre Zusammenfassung mit den Konsumenten aus der Arbeiterklasse und den Mittellosen zu einer Kategorie der Empfänger städtischer Unterstützungsleistungen regelmäßig unter Druck. Indirekt wirkte die Caisse de service de la boulangerie also auch auf die gesellschaftliche Differenzierung der Hauptstadt stabilisierend. 51 Préfecture du Département de la Seine, Caisse de service de la Boulangerie, Notice sur le commerce de la boulangerie, Paris 1857, S. 9. 52 Siehe Caisse de service de la boulangerie, Notice sur le commerce de la boulangerie, Paris 1857, S. 9; Napoléon III., N° 1092.- Décret impérial qui institue une Caisse de service pour la Boulangerie de Paris du 27 Décembre 1853, in: Bulletin des Lois de l’Empire Français 3 (1853) 131, S. 152. 53 Horii, Crise, S. 374–401. 54 Pommier, Taxe, S. 360.

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Zeitgenössische statistische Auswertungen der Kasse zeigen, dass sie zwischen Ende 1853 und Ende 1856 bis auf wenige Monate in den Jahren 1855 und 1856 die Pariser Brottaxe mit 5–12 Centimes/Kg im Jahr 1853, 4–16 Centimes/Kg im Jahr 1854, 1–10 Centimes/Kg im Jahr 1855 und 1–7 Centimes/Kg im Jahr 1856 stützte. Die Auslagen der Kasse beliefen sich in diesen Jahren auf respektive rund 8,5 Mio., 24,9 Mio., 15,7 Mio. und 4,4 Mio. Francs. Insgesamt summierten sich die Ausgaben der Caisse de service de la boulangerie während der Teuerung Mitte der 1850er Jahre auf 53,5 Mio. Francs. Auf der Einnahmenseite standen im Zeitraum zwischen 1855 und 1863 62 Mio. Francs, wobei die von den Bäckern zurückgeforderten Differenzbeträge lediglich zwischen 1 und 4,3 Centimes/Kg lagen.55 Die Caisse de service de la boulangerie erhielt im Januar 1854 per Dekret die Genehmigung, eine Anleihe aufzunehmen56 und gab zur Deckung des Kredits zwischen 1854 und 1863 Warenpfandscheine im Wert von insgesamt 547,5 Mio. Francs aus,57 die auch an der Börse gehandelt wurden. Die Präfektur des Departements Seine nahm zudem 1857 eine zweite Anleihe auf, um die während der Teuerung zunächst entstandene Deckungslücke der Kasse auszugleichen.58 Napoléon III. persönlich empfahl am 2.  März 1854 in seiner Rede zur Eröffnung der Sitzungsperiode von Senat und Abgeordnetenkammer den Großstädten in der Provinz die Kasse als Mittel, den Folgen der »extremen Schwankungen« der Kornpreise vorzubeugen.59 Die meisten Kommunen hatten dafür freilich nicht die Mittel. Der Bürgermeister von Brest war zwar der Ansicht, der Mechanismus sei »exzellent« und könne »von allen Städten angewandt« werden.60 Auch holte er Informationen bei seinem Kollegen in Nantes ein,61 musste aber von der Einrichtung einer Kasse absehen, weil die Stadt gerade erst eine Anleihe aufgenommen hatte, um die Brotpreise zu subventionieren.62 Die bretonischen Großstädte Nantes und Rennes entwickelten dagegen in enger Auseinandersetzung mit dem Pariser Modell eigene Kassenprojekte. Der Bürgermeister von Nantes etwa skizzierte in einem Schreiben an den Bürgermeister von Brest das in seiner Stadt ausgearbeitete Projekt einer Caisse de ré55 Vgl. Caisse de service de la boulangerie, Notice sur le commerce de la boulangerie, Paris 1857. auch Pelletier, S. 785. 56 Napoléon III., N° 1094.- Décret impérial qui autorise la Caisse de service de la Boulangerie de Paris à contracter un Emprunt du 18 janvier 1854, in: Bulletin des Lois de l’Empire Français 3 (1854) 131, S. 157–158. 57 Pelletier, S. 785. 58 Vgl. hierzu Gallais-Hamonno, S. 281–284, sowie Massa-Gille, S. 229–247. 59 Discours de l’Empereur à l’ouverture de la session législative, in: La politique impériale, S. 190 f. 60 AMB 2D37: Maire de Brest, an: Préfet du Finistère, n°1698: Établissement des mercuriales, 20.3.1854. 61 AMB  2D37: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n°1614: Demande de réalisation de l’emprunt, 25.1.1854; ebd., Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n°1730: Rachat du prix du pain, 4.4.1854. 62 AMB 4F4.2: Fernand Favre, Maire de Nantes, an: Maire de Brest, 26.6.1854.

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serve de la boulangerie,63 das darauf abzielte, den »Brotpreis immer in vernünftigen Grenzen«64 zu halten.65 Das Projekt beruhte zumindest teilweise auf dem gleichen Prinzip wie die Pariser Kasse: »Bildung einer Reserve, indem der Brotpreis in Jahren des Überflusses, wenn er nicht höher liegt als 31 Centimes/Kg, um 1 Centimes erhöht wird. Zwischen 31 und 38 Cen­ ti­mes/Kg wird der Konsument das Brot zum Preis der Taxe bezahlen. Oberhalb eines Preises von 38 Centimes/Kg wird dem Bäcker die Differenz von der Kasse ausgezahlt.«66

Zugrunde lag diesem dreistufigen Mechanismus die Auswertung der 41 Jahre zurückreichenden Statistik der Brotpreise in Nantes. Eine Modellrechnung ergab, dass die Reservekasse in diesem Zeitraum ein Guthaben von fast 3 Mio. Francs erwirtschaftet hätte.67 In Rennes beschäftigte sich die Stadtverwaltung zwischen 1854 und 1860 mit einem ähnlichen Vorhaben. Dort entwickelte sich aus den frühen Entwürfen ein umfassendes Projekt zur Reform des Bäckereigewerbes, dessen Genehmigungsverfahren im Mai 1860 jedoch von Handels- und Landwirtschaftsminister ­Rouher mit dem Hinweis auf die Beratungen über die Bäckereireform im Conseil d’État abgebrochen wurden.68 Die in Rennes diskutierten Reformvorschläge, Stellungnahmen und Gutachten zeigen indes zweierlei: Erstens war die Voraussetzung für die Einrichtung einer solchen Kasse an eine Verstärkung des Ausnahmeregimes der Bäckerei geknüpft; und zweitens traten neben die pragmatische, auf die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in Teuerungszeiten beschränkte Staatsräson, wie sie Haussmann in Paris vertrat, auch moralische und religiös motivierte Argumente für die Reform. Gleich mehrere im Jahr 1854 teilweise auch als Broschüren69 erschienene oder in Lokalzeitungen gedruckte Texte beschäftigten sich mit der Frage, wie in 63 Dagault jeune. 64 Ebd. Vgl. auch AMB 4F4.2: Cornillier, adjoint au Maire de Nantes, chargé des subsistances, an: Maire de Brest, Boulangerie/Caisse de Réserve et Magasin de dépot, 4.11.1854. 65 In Nantes waren zwei Alternativen verworfen worden. Für eine Einrichtung wie die Pariser Kasse fehlten auch hier die Finanzmittel. Und ein städtischer Kornspeicher kam nicht in Frage, weil er »die Spekulation stört und aus genau diesem Grund eine sichere Ursache für Mangel« sein würde. AMB 4F4.2: Fernand Favre, Maire de Nantes, an: Maire de Brest, 26.6.1854. 66 Ebd. 67 AMB 4F4.2: Ville de Nantes, Tableau qui sert de base au projet de la Caisse de Réserve pour la Boulangerie, la consommation journalière étant de 50.000kg. 68 AMR 5F24: Rouher, MACTP, an: Préfet d’I&V, envoi de la copie d’une lettre du ministre, 3.5.1860. Zu den Reformprojekten siehe die Akte AMR 5F24: Projet de réorganisation de la boulangerie de Rennes et création d’une caisse de Prévoyance, 1854–1860. 69 AMR 5F24: Ange de Léon, an: Maire de Rennes et messieurs les membres du conseil municipal, note sur la caisse de prévoyance des subsistances à Rennes, o. O., o. D. [1854]; ebd.: Henri de Carfort, avocat, adjoint au Maire, Rapport de la commission chargée par le conseil municipal de la ville de Rennes, d’examiner le projet de formation d’une caisse de prévoyance de la boulangerie, [o. D.] 1854; ebd.: H. De Carfort, adjoint au Maire de Rennes,­

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Rennes eine ähnliche Kasse eingerichtet werden könnte wie in Paris. Bereits die abweichenden Titel der einzelnen Pläne und Stellungnahmen zeigen die Bandbreite der Zwecke an, die von der Bürgerschaft von Rennes mit der Einrichtung verbunden wurden. Es handelte sich mithin um politische Programme mit ihrer je eigenen politischen Rationalität. Der am stärksten am Vorbild der Pariser Kasse und im Übrigen auch unter Beratung durch den Präfekten des Departements Seine Haussmann70 und den Geschäftsführer der Pariser Kasse71 von Henri de Carfort, dem für die Lebensmittelversorgung der Stadt zuständigen Beigeordneten, ausgearbeitete offizielle Vorschlag der Stadtverwaltung trug den Titel »Vorsorgekasse der Bäckerei von Rennes«. Eine Kasse, die wie die Pariser Institution »gewissermaßen den gesamten Kornhandel zentral« abwickle, die Käufe der Bäcker tätige und ihnen auf ihre Einlagerungen Kredit gewähre, könne es in Rennes nicht geben, solange es zu viele Bäcker gebe und der Mehlhandel ausschließlich in den Händen der Mühlenindustrie sei, führte de Carfort in seinem ersten Bericht aus, der die Beratungen einer Stadtratskommission im Januar 1854 zusammenfasste. Die in Rennes geplante Kasse habe daher mit dieser nur die »Wohltaten« gemein, die sie für die Bevölkerung in Zeiten des Mangels bereithalte. Zu diesem Zweck passe der Titel »Vorsorgekasse der Bäckerei« besser.72 Ausführlich formulierte de Carfort den städtischen Vorschlag in einem Bericht an den Stadtrat vom 25.  Februar 1854. De Carfort identifizierte zwei grundlegende Unterschiede zur Pariser Situation, aus der sich zugleich die Hauptprobleme beim Aufbau einer ähnlichen Kasse in Rennes ergaben. Erstens musste das Kapital für die Kasse aufgebracht werden. Die Pariser Bäcker, führte de Carfort aus, seien zusätzlich zu den privaten Reserven zu Mehlvorräten im Wert von mehreren Millionen Francs verpflichtet, die in städtischen Magazinen eingelagert seien. Diese Vorräte bildeten das Kapital, das den Kredit absichert, ohne den die Kasse nicht funktionieren könne. In Rennes dagegen gebe es keine Magazine. Die Bäcker seien lediglich zu einer individuellen Mehlbevorratung gezwungen, welche die Versorgung der Stadtbevölkerung für 20 Tage sichere. Das reiche allerdings als Kredit für den Aufbau der Kasse nicht aus.73 De­ Carforts Lösungsvorschlag für dieses Problem basierte auf der Annahme, dass Formation d’une caisse de Prévoyance de la Boulangerie à Rennes, 25.2.1854; ebd.: Auguste Le Tarouilly, Caisse de Prévoyance contre la cherté du pain, Rennes 1854; ebd.: Meslé, Notes sur le projet d’une caisse de valeurs pour atténuer la crise de la surenchère des grains, dans les mauvaises années, o. D. [1854]; vgl. auch Léon, S. 1 f. 70 AMR 5F24: Préfet de la Seine, an: Préfet d’I&V, Lettre du péfet de la Seine au sujet de la boulangerie en 1854, o. D. [Mai 1854]. 71 AMR 5F24: Caisse de service de la boulangerie, observation sur le projet de m le Maire de Rennes, o. D. [Mai 1854]. 72 AMR 5F24: H de Carfort, avocat, adjoint au Maire, Rapport de la commission chargée par le conseil municipal de la ville de Rennes, d’examiner le projet de formation d’une caisse de prévoyance de la boulangerie, [o. D.] 1854. 73 Ebd., S. 2 f.

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Magazine in Rennes unnötig seien, weil der Handel Versorgungsdefizite umgehend ausgleichen könne. Es sei daher besser, keinen Waren-, sondern einen Geldvorrat anzulegen, der durch Zinsen sogar wachsen könne, während Mehl leicht verderbe. Den Kredit der Kasse durch Geld, nicht durch Ware zu garantieren, sei der einzige Weg, in Rennes die Grundlage für eine solche Kasse zu schaffen. Dieses Geld hatten die Bäcker in Form von Kautionszahlungen selbst aufbringen. Mit der Gesamtsumme sollte die Kasse nicht nur die Rückerstattung der Ausgleichszahlungen durch die Bäcker bei fallenden Preisen absichern. De Carfort sah in der Kasse tatsächlich eher eine Art Handelsbank, die Bäckern Investitionskredite geben konnte, oder eine Sparkasse für Bäcker.74 Der Vorschlag, dieses Geldinstitut durch Kautionszahlungen der Bäcker aufzubauen, führte aber zu einem zweiten Problem. In Paris befände sich die Bäckerei aufgrund der Begrenzung ihrer Anzahl nämlich in einer »engeren und unmittelbareren Abhängigkeit von der Verwaltung«75 als in Rennes. Allerdings, so de Carfort, würde »die Regierung wohl bald genötigt sein, die Zahl der Bäcker auch in den Provinzstädten zu verringern«, weil die Begrenzung der Bäckereien die »wesentliche Voraussetzung«76 für die Errichtung der Kassen sei. »Jeder werde verstehen«, dass die Freiheitsrechte des Handels gegenüber den besonderen Anforderungen an dieses Gewerbe ausnahmsweise zurücktreten müssten, das sich der »Versorgung eines der grundlegendsten Bedürfnisse des Lebens«77 widme. Die Bäcker seien gleichsam wie »eine Klasse von Beamten«78 zu behandeln, deren Aufgabe in der Sicherstellung »günstiger Lebensmittel« bestehe. Sie hätten deshalb aber auch das Recht, von den Behörden Garantien zu verlangen. Die Stadt käme ihnen entgegen, indem sie frei werdende Bäckereien schließe. Die Darstellung des Programms der Kasse beschränkte sich anschließend auf den Kompensationsmechanismus, der wie in Paris und Nantes durch die Bildung von Mittelwerten historischer Brotpreisreihen (in Rennes seit 1824) und der Normalisierung der Preisamplituden gewonnen wurde.79 Die den Rohstoffmarkt regulierenden Funktionen, die das Pariser Vorbild durch die zwangsweise Abwicklung der Mehlkäufe der Bäcker über die Kasse ja ebenfalls hatte, mussten in Rennes entfallen. Für die Erstellung der amtlichen Mehlkurse sollte sie also keine Rolle spielen.80 Polizeiliche Aufgaben im eigentlichen Sinn implizierte der Kompensationsmechanismus der Kasse nur noch zwei. Auf der einen Seite sollte dafür Sorge getragen werden, dass die von der Kasse garantierten niedrigen Brotpreise innerhalb der Stadt nicht dazu führten, dass Kunden von außerhalb Brot kaufen konnten oder Bäcker der Stadt Brot auf auswärtige Märkte brachten, wenn es dort teurer war. Das Problem sollte durch die Erhe74 Ebd., S. 3 f. 75 Ebd., S. 3. 76 Ebd., S. 4 f. 77 Ebd., S. 5. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 6 f. 80 Ebd., S. 9.

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bung einer Abgabe im Zollbüro an der Stadtgrenze bei der Ausfuhr gelöst werden. Gleiches sollte bei umgekehrtem Preisgefälle gelten.81 Auf der anderen Seite musste alle 15 Tage von Polizeibeamten umständlich geprüft werden, wie viel Mehl die Bäcker verarbeitet hatten, wie viel Mehl noch im Lager verblieb oder wie viel Brot sie gebacken hatten. De Carfort hielt jedoch die Kaution der Bäcker für eine ausreichende Garantie dafür, dass diese die Kasse nicht um die fälligen Rückzahlungen nach der Teuerung betrogen.82 Alles in allem seien eine Vorsorgekasse für die Bäckerei und der Kompensationsmechanismus das einzige System, so de Carfort, das »alle Bedingungen der Gerechtigkeit und Ökonomie«83 erfülle. Im Grunde würden alle profitieren: Die Bäckerei gewinne mehr Unabhängigkeit und neuen Kredit; die Stadtfinanzen würden von einem »schweren Joch« befreit; die gesamte Bevölkerung wäre »ihrer Existenz versichert«; Ruhe und Ordnung, ja, die »Sicherheit des Staates selbst«, würden dauerhaft garantiert.84 Eine auf den ersten Blick leichte semantische Verschiebung trug der im April 1854 als Broschüre veröffentlichte und in der Zeitung Journal de Rennes abgedruckte Alternativvorschlag des mit der Kirche eng verbundenen Royalisten Ange de Léon im Titel, der ein Jahr später zum Bürgermeister ernannt wurde: »Vorsorgekasse für die Subsistenz von Rennes«.85 Dieses Projekt nahm nicht unmittelbar auf das Pariser Vorbild und seine regulierenden Funktionen Bezug, sondern auf christliche Gerechtigkeits- und Barmherzigkeitsvorstellungen. Die Erhebung eines bescheidenen Betrags in den Jahren des Überflusses, so Ange de Léon, sei eigentlich ein »Sparbeitrag, eine Versicherung gegen den Mangel, die Garantie, dass man für Brot nie einen übertriebenen Preis zahlen« müsse. »Sollten die fruchtbaren Jahre nicht den unfruchtbaren Jahren zur Hilfe kommen wie der Reiche dem Armen?«86 Weiter legte er nahe, dass den »Völkern der Antike« und ihrem Verständnis von politischer Ökonomie mehr Vertrauen geschenkt werden müsse, denn schließlich sei es Joseph gelungen, Ägypten mithilfe von Kornspeichern vor der Hungersnot zu bewahren. Das biblische Vorbild aufnehmend und in seine Gegenwart übertragend schloss er mit einer Analogie: »[Die Alten] legten Überflussspeicher an, wir häufen Überflussschätze an. Das Prinzip ist das gleiche, nur der Modus hat sich geändert«.87 Hinter dem semantischen Unterschied im Titel verbarg sich das Konzept einer Kasse, die sich nicht nur von de Carforts Projekt, sondern auch von dem der »Pariser Bank«88, wie de Léon schrieb, grundlegend unterschied. »Das Brot, 81 Ebd., S. 7. 82 Ebd., S. 8. 83 Ebd., S. 5. 84 Ebd., S. 10. 85 AMR 5F24: Ange de Léon, an: Maire de Rennes et messieurs les membres du conseil municipal, Note sur la caisse de prévoyance des subsistances à Rennes, Rennes 1854. 86 Léon, S. 1. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 3.

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das Sie taxieren wollen«, führte er den zentralen Gedanken an den Bürgermeister und die Ratsmitglieder gewandt aus, »kommt […] in Form von Mehl in die Stadt; nichts wäre also einfacher als am Stadtzoll [octroi] eine Abgabe auf dieses Lebensmittel zu erheben, deren Sie bedürfen«,89 um das Kapital für die Kasse zu gewinnen. Für de Léon lagen die Vorteile auf der Hand. Erstens bräuchte es keine »radikale Reform der Bäckereiordnung«, keine Reduzierung und Begrenzung der Zahl der Bäckereien, wie sie von de Carforts Projekt vorgesehen wurde. Das Gewerbe sei bereits in Veränderung begriffen. Die Perfektionierung der Produktionsmethoden durch Knetmaschinen sowie die Konzentration von Müllerei und Bäckerei zu großen Brotfabriken sei außerdem in vollem Gange und würde früher oder später auch in Rennes zu erheblichen Preissenkungen führen. Aus diesem Verzicht auf die Neuordnung des Bäckereigewerbes ergab sich außerdem, dass die Bäcker nicht mit hohen Kautionszahlungen belegt werden konnten, um das Kapital der Kasse zu gewinnen. Der zweite Vorteil, dieses Kapital über eine Mehlabgabe zu erwirtschaften, bestand darin, dass auf den Aufbau einer neuen Bürokratie verzichtet werden konnte. Mit dem städtischen Zollbüro, das sich außerdem auf die genaue Prüfung der ein- und ausgehenden Waren verstand, existierte diese bereits. Um den Korn- und Mehlhandel nicht zu beeinträchtigen, sollten die Händler an den Zollbüros für ihre Waren Freischeine erhalten. Legten sie diese zusammen mit der dort eingetragenen Warenmenge derselben Qualität beim Ausgang aus der Stadt vor, würde ihnen die beim Eintritt in die Stadt erhobene Abgabe zurückerstattet werden. Überwacht werden sollte die abgabenpflichtige Mehlmenge stattdessen in den drei Industriemühlen im Stadtgebiet. Zudem sollte die Abgabe ein für alle Mal festgelegt werden, um zu vermeiden, dass sie zu Spekulationsgeschäften Anlass gab.90 Aus den kontinuierlich fließenden Einnahmen sollte während der Jahre des Überflusses der Betrag zusammengespart werden, mit dem im Fall einer Teuerung die Brotpreise subventioniert werden konnten.91 Eine mittlere Position zwischen dem Projekt Henri de Carforts und dem Vorschlag Ange de Léons bezog in einer ausführlichen Stellungnahme Anfang April 1854 der Präsident der Handelskammer von Rennes, Auguste Le Tarouilly. Den ersten Teil seiner Ausführungen nahm eine kritische Diskussion der wirtschaftspolitischen Grundprinzipien von de Carforts Projekt ein. Er führte fünf Einwände an. Erstens würden der Wettbewerb zwischen den Bäckern und die Nachfrage der Kundschaft über die Stadtgrenze hinweg den Kompensationsmechanismus gefährden und die Kasse mittelfristig destabilisieren.92 Zweitens sei die Reduzierung und Festlegung der Bäckerzahl ein eklatanter Verstoß gegen die liberale Wirtschaftsordnung. Sie mache die Bäcker zwar wohlhabender, aber 89 Ebd., S. 2. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 3. 92 AMR 5F24: Auguste Le Tarouilly, Caisse de Prévoyance contre la cherté du pain, Rennes 1854, S. 6.

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auch weniger innovationsfreudig. Weder könne es unter dem geplanten Projekt zu Rationalisierungen der Produktion noch zu Perfektionierungen der Produkte kommen.93 Drittens gab Le Tarouilly zu bedenken, dass die Reduzierung der Bäckereien ein Prozess sei, der Jahre dauern könne. Das habe jedoch Auswirkungen auf die Höhe der Kautionssumme wie der Mehlvorräte.94 Viertens schließlich hob der Präsident der Handelskammer darauf ab, dass die Taxe der Handelsfreiheit zuwiderlief. »Und Sie wissen ja, wenn es eine Idee gibt, die sich der Staatschef in den Kopf gesetzt hat, dann ist es die Handelsfreiheit und das geht gar bis zum Freihandel. Sie wissen nur zu gut, dass er das, was er will, konsequent bis zum Ende will«.95 Mit der Aufhebung der Taxierungsrechte müsse man also rechnen. Des Weiteren mache die Taxe Brot nicht günstiger, sondern teurer. Billigeres Brot erhalte man nur mit freiem Wettbewerb, der die Zahl der Bäckereien ebenfalls reduzieren werde.96 Schließlich müsse überlegt werden, ob die Pariser Caisse de service de la boulangerie nicht eine Institution sei, die zwar an die besonderen Bedürfnisse der Pariser Situation, nicht aber an die Situation von Rennes angepasst sei.97 Das vor diesem Hintergrund von Le Tarouilly entworfene Projekt nahm zentrale Elemente der beiden anderen Vorschläge auf. Wie im Vorschlag Ange de Léons sollten die Finanzmittel der Kasse durch eine invariable Zollabgabe auf Mehl – die Rede war offen von einer zweckgebundenen »Steuer« – gewonnen werden, weil eine Reduzierung der Zahl der Bäckereien durch die Behörde für den Präsidenten der Handelskammer nicht in Frage kam.98 Le Tarouilly setzte diese Mehlsteuer mit den Differenzbeträgen gleich, welche die Kasse bei Niedrigpreisen von den Verbrauchern verlangen sollte. »Eine Steuer für eine Steuer, was macht das schon für einen Unterschied? Warum sollte die Regierung die eine genehmigen, die andere aber nicht?«99 Eine solche Steuer würde stetige Einkünfte garantieren, welche die Umwandlung der Ausgleichskasse in eine Kreditanstalt erleichtern würde.100 Daneben enthielt das Projekt aber auch einige Elemente aus dem Konzept de Carforts und der Pariser Kasse. So hielt Le Tarouilly am Dienstleistungscharakter fest, den die Kasse für die Bäcker haben sollte. Sie würde ein von der Stadt zu mietendes Magazin verwalten, in welche die Bäcker ihre Mehlvorräte einlagerten, und ihnen darauf Kredit gewähren. 93 Ebd., S. 7 f. 94 Ebd., S. 8. 95 Ebd., S. 8/9. 96 Ebd., S. 8–10. 97 Ebd., S. 11. 98 Ebd., S. 12. Eine Besonderheit dieses Projekts war das vertiefte Verständnis für das Problem der Warenbesteuerung. Die Art des Mehls, die Mehlsorten, Reinheitsgrade oder ihre Bestimmung für ganz unterschiedliche Industrien führten Le Tarouilly zu der Annahme, dass man »Typen« brauche, d. h. Muster, mit deren Eigenschaften die ein- und ausgeführten Waren verglichen werden konnten, um sie richtig zu besteuern, siehe ebd., S. 20 f. 99 Ebd., S. 12. 100 Ebd., S. 17.

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Des Weiteren kam der Kasse in diesem Projekt die Funktion zu, die amtlichen Rohstoffkurse zu erheben und mit diesen Daten die Brottaxe zu erstellen. Auch Le Tarouilly konnte die Taxe nicht aufgeben, weil an sie das System der Kompensation geknüpft war. Allerdings sollte sie selbst nur noch dann eingerichtet werden, wenn die Rohstoffpreise den Mechanismus zugunsten der Verbraucher auslösten, also am Beginn und während einer Teuerungsphase, und die Kasse den Bäckern Differenzbeträge erstattete.101 Diese drei unterschiedlichen Vorschläge strukturierten die Diskussion in der Bürgerschaft von Rennes.102 Interessanterweise konnte sich das vom Beigeordneten Henri de Carfort entworfene, an der Bäckerei als öffentlichem Dienst orientierte Projekt in den Kommissionsberatungen nicht durchsetzen. Das am 17. Mai 1854 vom Stadtrat verabschiedete Verordnungsprojekt orientierte sich an den beiden liberalen Vorschlägen Ange de Léons und Auguste Le Tarouillys. Es sah die Einrichtung einer vom städtischen Zoll zu erhebenden, festen Abgabe auf Mehleinfuhren vor (Art. 2, 3, 5 und 10), die einer »Vorsorgekasse für die Subsistenz von Rennes« (Art. 1) zugeführt wurden, aus der ausschließlich der Kompensationsmechanismus finanziert werden sollte (Art. 6, 7 und 11). Von einer Kreditanstalt war keine Rede mehr, ebenso wenig von einer Reform des Bäckereigewerbes (Art. 14).103 Die Bürger von Rennes hatten die Rechnung allerdings ohne die Regierung gemacht. Wenige Monate, nachdem das vom Stadtrat verabschiedete Verordnungsprojekt an den Minister für Handel und Landwirtschaft zur Prüfung und Genehmigung überstellt worden war, sandte Präfekt Féart am 7. Juli 1854 an den Bürgermeister ein Schreiben des Ministers, das in eine ganz andere Richtung wies. Der Conseil d’État, teilte der Minister mit, befasse sich mit den Grundlagen der Bäckereigewerbeordnung, genauer: erstens mit der Reduzierung der Bäckereien gemäß der Bevölkerungszahl; zweitens mit der Höhe des Pflichtvorrats an Mehl, der für die Versorgung der Bevölkerung während dreier Monate benötigt werde; und drittens mit den Sanktionen, welche die Pflichterfüllung der Bäcker garantieren sollten. Der Minister forderte über den Präfekten den Bürgermeister auf, zu diesen Punkten Informationen und Einschätzungen abzugeben. Dies sei notwendig, so Féart weiter, weil er die Bäckerei »ohne eine tragfähige Organisation und gewisse Garantien nicht mit einer Institution ausstatten« könne, »die der Kaiser und seine Regierung zurecht als für 101 Ebd., S. 16 f. 102 Es gab einen vierten Vorschlag, das Projekt Meslé, das jedoch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Es hob vor allem darauf ab, dass Kornvorräte in Speichern letztlich doch der Mobilisierung von Finanzmitteln vorgezogen werden sollten, siehe AMR 5F24: Meslé, Notes sur le projet d’une caisse de valeurs pour atténuer la crise de la surenchère des grains, dans les mauvaises années, 14.3.1854. 103 AMR  5F24: Extrait du registre des délibérations du conseil municipal de la commune de Rennes, séances des 3 et 6 juin 1854. Caisse de Prévoyance pour les subsistances. Vgl. ebd.: H.  de Carfort, Caisse de Prévoyance des subsistances  – Projet de la Commission, 17.5.1854.

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das ganze Land von größter Wichtigkeit betrachten: ich spreche von der Caisse de service de la boulangerie in Paris«.104 Nachdem der Bürgermeister die verlangten Informationen überstellt hatte, erhielt er Anfang August 1854 vom Präfekten die Nachricht, dass der Minister für Handel und Landwirtschaft das am 6. Juni im Stadtrat verabschiedete Verordnungsprojekt an die Stadtverwaltung zurücküberwies. »In der Sichtweise des Ministers ist die Frage der Einrichtung dieser Kasse eng mit der einer Neuordnung des Bäckereigewerbes verknüpft«, so Féart, weshalb »beide Fragen von der Stadtverwaltung von Grund auf neu be­ raten werden« sollten.105 Obwohl die Stadtverwaltung von Rennes wie die vieler anderer Städte den Nutzen eines Bankmechanismus für die Stabilisierung der lokalen Brotpreise bereits erfasst hatte, bevor Napoléon III. öffentlich die Übernahme dieser Institution in der Provinz empfahl, wurden ihr in der konkreten Ausgestaltung dieser Maßnahme enge Grenzen gesetzt. Zwar lag das ursprünglich von Henri de Carfort, dem für Subsistenz zuständigen Beigeordneten des Bürgermeisters, ausgearbeitete Projekt gänzlich auf der Linie der Regierung – was nicht zuletzt an der engen Orientierung an der Pariser Kasse und der ausführlichen Beratung durch ihren »Schöpfer«, den einflussreichen Präfekten des Departements Seine, Georges-Eugène Haussmann, gelegen haben mag.106 Die beiden anderen Vorschläge hatten dagegen ausdrücklich auf eine Neuordnung des Bäckereigewerbes im Sinn der engeren Bindung an die Obrigkeit verzichtet und sich mit dem vom Stadtrat verabschiedeten Verordnungsprojekt auch durchsetzen können. Von der Annahme, dass der Kaiser »sich die Handelsfreiheit in den Kopf gesetzt« habe und diese Idee »mit aller Konsequenz verfolge«, wie Le Tarouilly es formuliert hatte, konnte nach der formellen Anweisung des Ministers und des Präfekten, die Reform auf den ausnahmerechtlichen Grundlagen neu zu verhandeln, jedenfalls keine Rede mehr sein. Weitere Beratungen über diese Reform sind in Rennes in den unmittelbar folgenden Jahren nicht überliefert.107 Sie wurden erst im Jahr 1858 wieder aufgenommen.

104 AMR 5F24: Préfet d’I&V, an: Maire de Rennes, Organisation de la boulangerie, création de caisses de service, 7.7.1854. 105 AMR 5F24: Préfet d’I&V, an: Maire de Rennes, boulangerie, 7.8.1854. 106 »Man beginnt mit der Begrenzung der Bäckereien«, siehe AMR 5F24: Préfet de la Seine, an: Préfet d’I&V, Lettre du péfet de la Seine au sujet de la boulangerie en 1854, o. D. [Mai 1854]. 107 Der Bürgermeister von Rennes machte von dem Kompensationsmechanismus im Verlauf des Jahres 1855 allerdings trotzdem Gebrauch. In seinen Augen handelte es sich um eine bloße Rationalisierung des Systems der von der Stadt finanzierten Brotbons. Der Präfekt ordnete jedoch an, diese Maßnahme umgehend auszusetzen, siehe AMR 5F23: Préfet d’I&V, an: Maire de Rennes, taxe du pain, 10.9.1855. Auch der Bürgermeister von Brest nutzte diesen Mechanismus in der Teuerung des Jahres 1854.

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1.3 Zwischen Moral und Staatsräson: die politische Rationalität von Gewerbeordnung und Taxierung In den Jahren zwischen 1854 und 1860, d. h. während und unmittelbar nach der Teuerungsphase, setzte die Regierung in der Bäckereifrage auf das bewährte Ausnahmeregime, das, wie die stets kritischen liberalen Nationalökonomen hervorhoben, durch die neue Institution der Ausgleichskassen gleichsam zementiert zu werden drohte. André Pommier machte der Pariser Kasse, der restriktiven Gewerbeordnung und der Brottaxe in einem ebenso langen wie polemischen, im März 1854 im Journal des économistes erschienen Kommentar den Prozess. Entferne man sich nicht vollkommen von den »Prinzipien der Wirtschaftswissenschaft«, fragte er dort rhetorisch, wenn man ein »System« daraus mache, dass »der Staat die Freiheit durch mehr oder weniger komplizierte Kombinationen ersetze« und so das »Streben des menschlichen Geistes nach gemeinsamer Aktivität und Solidarität« aufgehalten werde, die doch letztendlich »das Leben der Nationen ausmachen«?108 Tatsächlich hatte, das legt die Entwicklung in der Gebietsverwaltung des ländlichen Raums wie in der Pariser Regierung nahe, die politische Rationalität des staatlichen Umgangs mit der Bäckerei und der Brottaxe im Zweiten Kaiserreich zwei unterschiedliche Quellen. Im Departement Finistère zeigte sich dies an der zwischen den Bürgermeistern, dem Präfekten und im Fall Brest auch mit dem Minister für Handel und Landwirtschaft abgestimmten Redaktion der Gewerbeordnungen und Taxierungsverordnungen. In den 35 überlieferten Verordnungstexten aus den 1850er Jahren wurden die meisten im Genehmigungsverfahren dann nicht beanstandet, wenn sie sich formal und inhaltlich an einem bereits von der Verwaltung durchgearbeiteten und gebilligten Modell orientierten. Das war oft in den kleineren Kommunen im Einzugsgebiet größerer Marktstädte der Fall, die sich auf die dortige Taxierungsordnung bezogen. Zur Vorbereitung für den inhaltlichen Teil der Taxe waren am Ort mehr oder weniger umfangreiche Verhandlungen mit den Bäckern, Ertragsexperimente und Berechnungen notwendig, deren Durchführung in kleinen Kommunen kaum möglich schien.109 Den erfolgreich abgeschlossenen Normsetzungsverfahren der größeren Kommunen Brest, Morlaix und Quimper wuchs deshalb eine Vorbildfunktion110 zu, die in ihrer Bedeutung über diese Kommunen hinausreichte. Am Ende der zwischen Bürgermeister, Unterpräfekt, 108 Pommier, Taxe, S. 367. Mit diesem polemischen Text handelte sich das Blatt im Übrigen auf Vorschlag des Direktors der politischen Polizei eine »Warnung« des Innenministers ein – mit der Begründung, er »versuche, zum Wohl privater Interessen eine Institution zu diskreditieren, die im öffentlichen Interesse eingerichtet« worden sei, siehe Avertissement donné au Journal des économistes, in: Journal des économistes N. S. 1 (1854) 4, S. 4. 109 »Die Experimente sind in Châteaulin nicht möglich«, siehe ADF 6M952: Sous-Préfet de Châteaulin, an: Préfet du Finistére, subsistances, Carhaix, taxe du pain, 28.4.1849. 110 Pont-L’Abbé war Vorbild für Carhaix, ADF 6M952: Préfet du Finistére, an: Sous-Préfet de Châteaulin, police municipale, taxe du pain à Carhaix, 1.2.1847.

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Präfekt und Ministerium abgestimmten Redaktionsprozesse standen in Form und Inhalt einander stark angeglichene und vereinheitlichte Verordnungstexte in allen 35 betroffenen Kommunen. Im Stadium der ersten Entwurfsfassungen wiesen sie allerdings oft noch große und charakteristische Unterschiede auf. Die ursprüngliche Heterogenität betraf zum einen die den Verordnungen vorangestellten Begründungen (considérants) und zum anderen die in den einzelnen Paragraphen formulierten konkreten Regelungsgegenstände. Die meisten Begründungen wurden im Verlauf des Prüfverfahrens gestrichen. Gerade für diesen Teil gab es formale Vorgaben, die sich auf die Nennung der einschlägigen Gesetzes- und Urteilstexte beschränkten und nur wenig Raum für weitere Argumente ließen. Allerdings geben die ursprünglich in die Projekte hineingeschriebenen, mitunter ausführlichen Begründungen und Argumentationszusammenhänge Aufschluss darüber, welche Bedeutung die Bürgermeister mit der Verordnung verbanden und welche Wirkung sie sich davon erwarteten. In diesem Sinn arbeitete jedes einzelne Projekt mit seinen Begründungen im Verhältnis zu den einzelnen Bestimmungen eine »Kausalkonstellation« aus, die der Verordnungstext dann »in der Form einer strikten Kopplung bestimmter Ursachen mit bestimmten Wirkungen […] technisch fixiert[e]«.111 Die zur Formulierung der Zwecke verwendeten Begriffe stammten aus der moralischen Semantik. Das »Allgemeininteresse« gebiete die Einführung der Taxe;112 die »gegensätzlichen Interessen« von Bäckern und Konsumenten müssten »ausgeglichen« werden113 bzw. ihre »reziproken Interessen« seien zu wahren;114 die Taxe sei im »Interesse aller Bürgerklassen« usw.115 Die Bewertungen und Abwägungen der Interessen am Brotmarkt waren durchaus unterschiedlich. Die »Klagen der Bevölkerung« konnten »berechtigt«116 sein, ebenso auf der anderen Seite die »Forderungen der Bäcker nur gerecht«.117 Die Taxe sollte »ausgleichend« wirken,118 bzw. die »Befriedigung schändlicher Interessen« mit ihrer Hilfe unterbunden werden.119 Im gleichen Register politisch-moralischer Semantik wurden, dies war etwa für die Einrichtung und Berechnung der Tarife 111 Luhmann, Politik, S. 24 (Herv. i. O.). 112 ADF 6M952: Cosmao-Dumenez, Maire de Pont-L’Abbé, Police municipale, taxe du pain et de la viande, commerce de la boulangerie et de la boucherie, Règlement de police, n° 249, arrêté, 24.9.1842. 113 ADF 6M952: Maire de Douarnenez, an: Préfet du Finistère, 25.9.1846. 114 ADF 6M952: Audrun de la Baissière, Maire de Roscoff, Arrêté, 8.7.1854. 115 ADF 6M952: Maire de Carhaix, arrêté concernant la taxe du pain, 26.3.1847. 116 ADF 6M952: Cosmao-Dumenez, Maire de Pont-L’Abbé, Police municipale, taxe du pain et de la viande, commerce de la boulangerie et de la boucherie, Règlement de police, n° 249, arrêté, 24.9.1842. 117 ADF 6M952: Maire de Pont-l’Abbé, arrêté, taxe du pain, addition d’un centime à cette taxe, 10.9.1861. 118 Ebd. 119 ADF 6M952: Maire de Moëlan, Règlement concernant la police des boulangers, la fabrication et la vente du pain, 25.7.1862.

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der Taxe wichtig, auch die den Bäckern zugemessenen Gewinnmargen als »legitim« bezeichnet.120 Einerseits schrieben die Bürgermeister der Brottaxe eine vermittelnde Funktion zu. »Wie kann man sonst die gegensätzlichen Interessen der Bäcker und Konsumenten soweit möglich ausgleichen?«, fragte etwa der Bürgermeister von Douarnenez, und fügte hinzu: »Ich kann mir kein anderes Mittel vorstellen als die Taxe«.121 Auch der Bürgermeister von St. Pol de Léon betrachtete die Taxe als »regulierende Maßnahme zwischen Verkäufer und Käufer«.122 Andererseits ergriffen Bürgermeister deutlich Partei für die Verbraucher. Gerade in diesen Fällen banden sie sich als Amtsträger selbst in die lokale Interessenkonstellation ein, indem sie auf ihre Amtspflichten Bezug nahmen. »Die Pflichten des Bürgermeisters bestehen hauptsächlich darin, sicherzustellen, dass das von den Bäckern verkaufte Brot das richtige Gewicht hat«;123 »Die Gesetze erlegen der Stadtverwaltung die Pflicht auf, über die Vertragstreue beim Verkauf der Ware und die gesundheitliche Unbedenklichkeit der in Verkauf gebrachten Waren zu wachen«.124 Letztere Formulierung war ebenso wie die folgende, noch deutlicher Stellung beziehende Position an die Standardformulierung angelehnt: »Eine der vordringlichsten Pflichten der Stadtverwaltung besteht in der umfassenden Überwachung im Sinn der Prävention von Betrug oder Böswilligkeit in der Herstellung und im Verkauf von Brot«.125 Eine weitere Variation des Pflichtverständnisses hob nicht auf die intrinsische Sicherheit der Lebensmittel, sondern auf die Versorgungssicherheit ab: »Eine der Pflichten der Stadtverwaltung besteht darin, Maßnahmen zu treffen, die mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die örtliche Versorgung erleichtern«;126 und der Bürgermeister von Quimperlé formulierte, »eine der wesentlichen Pflichten der Stadtverwaltung ist die Überwachung der Einhaltung der Gewerbeordnung der Bäcker«.127 Wenn die Formulierung der Bürgermeister allerdings zu eindeutig Partei gegen die Bäcker ergriff, mahnte der Präfekt, wie im Fall der Taxierungsverordnung des Bürgermeisters von Douarnenez, man müsse zwar »Missbrauch unterbinden, wenn es ihn gibt«. Die Verwaltung dürfe jedoch 120 ADF 6M952: Mairie de Landerneau, an: Extrait du registre des arrêté de l’administration municipale de la ville de Landerneau, 20.3.1856; Maire de Pont-l’abbé, arrêté, taxe du pain, addition d’un centime à cette taxe, 10.9.1861. 121 ADF 6M952: Maire de Douarnenez, an: Préfet du Finistére, 25.9.1846. 122 ADF 6M952: Maire de St. Pol de Léon, arrêté de Police, 1.7.1847. 123 ADF 6M952: Maire de Douarnenez, arrêté, 17.8.1846. 124 ADF  6M952: Cosmao-Dumenez, Maire de Pont-L’Abbé, Police municipale, Règlement pour la taxe du pain et pour le commerce de la boulangerie et de la boucherie, n° 277, arrêté, 17.11.1843. 125 ADF 6M952: Maire de Moëlan, Règlement concernant la police des boulangers, la fabrication et la vente du pain, 25.7.1862. 126 ADF  6M952: Maire de Poullan, Règlement concernant la Boulangerie et les marchés, 16.8.1855. 127 ADF 6M952: Maire de Quimperlé, arrêté, [16.10.1847], 18.11.1848.

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»in ihren Handlungen nicht eine ganze Klasse von Gewerbetreibenden unter Verdacht stellen. Die Präambel des Entwurfs ist deshalb zu streichen […] Hinzugefügt werden kann: ›Es ist Recht und Pflicht der Stadtverwaltung, über die Vertragstreue beim Verkauf und die gesundheitliche Unbedenklichkeit der in Verkauf gebrachten Lebensmittel zu wachen‹«.128

Die Orientierung an Modellen führte in den 1850er Jahren dazu, dass die Verordnungsentwürfe zunehmend nur noch die Standardformulierungen aufwiesen. Die technische Verknüpfung von in den Begründungen dargelegten Ursachen mit Wirkungen, die mit der Verordnung erzielt werden sollten, prägte sich durchaus unterschiedlich aus. Vier dieser Kausalitätskonstellationen konnten ausgemacht werden: Da war erstens eine Verordnungsbegründung, die Willkür der Bäcker, Brot als Grundnahrungsmittel, Unruhe in der Bevölkerung und öffentliche Sicherheit miteinander verknüpfte, wie in einem Projekt des Bürgermeisters von Carhaix: »Weil Brot ein Grundnahrungsmittel ist und die öffentliche Sicherheit voraussetzt, dass sein Preis nicht von den Herstellern festgelegt wird, die andernfalls unter bestimmten Umständen Unordnung und Unruhe in die arme Klasse tragen können, wird verordnet […]«.129

Diese Zwecksetzung der Taxe zielte weniger auf eine Ausbalancierung von Interessen als auf die präventive Sicherung von Ruhe und Ordnung für den Fall einer Teuerung. Hier ging es um die Staatsräson. Zweitens gab es eine Kausalkette, die Armut in der Bevölkerung, Brot als Grundnahrungsmittel und Geschäftsmoral der Bäcker miteinander verknüpfte. Der Bürgermeister von Douarnenez argumentierte, dass drei Fünftel der Be­ völkerung »mittellos« seien. Wie eine Inspektion des Polizeikommissars außerdem ergeben habe, weise bei den 14 Bäckern der Kommune Brot mit gleichem Preis nie das gleiche Gewicht auf. Das sei schlecht für die Verbraucher, aber es gebe in Douarnenez keine Gewerbeordnung und daher keine Sanktionsmittel gegenüber den Bäckern. Er hielt es auch gar nicht für notwendig, das Bäckereigewerbe zu reglementieren. Da es jedoch seine Pflicht als Bürgermeisters sei, Missbrauch im Brotverkauf zu unterbinden, richte er eine Taxe ein.130 Die Informationsasymmetrie, die zwischen den Bäckern und ihren Kunden über das Preis-Gewichts-Verhältnis der angebotenen Brote bestand, war einer der wichtigsten Gründe für die Einführung der Taxe, da diese Gewicht und Preis in feste Relationen brachte. Auch der Bürgermeister von Poullaouen wollte im November 1853 eine Taxe einrichten, »weil es zur Besänftigung der Klagen in der aktuellen Kornteuerung wichtig ist, eine Ordnung aufzustellen, die ge128 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: MAC, Arrêté de police sur la taxe et la vente du pain, Douarnenez, 21.8.1846. 129 ADF 6M952: Maire de Carhaix, arrêté concernant la taxe du pain, 26.1.1847. 130 ADF 6M952: Maire de Douarnenez, arrêté, 17.8.1846.

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eignet ist, die Konsumenten über das Realgewicht der Brote aufzuklären, die sie kaufen […]«.131 Eine dritte Begründung der Taxe zielte auf die Sicherstellung der Marktversorgung und, wie bereits im oben genannten Fall von Crozon, auf die Unterbindung von »Aufkauf« ab und sollte die Zentralisierung des Verkaufs an wenigen Orten (den Markthallen) erzwingen. Das war insbesondere in kleinen Nachbarorten von größeren Städten der Fall. So argumentierte der Bürgermeister der in der Umgebung von Douarnenez gelegenen Ortschaft Poullan im August 1855. Er wollte die Taxe, »um im Interesse der Konsumenten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Beschickung des örtlichen Marktes mit günstigen Lebensmitteln zu fördern […]«.132 Viertens schließlich war mit dem Einsatz der Taxierungsverordnung eine Wirkungsabsicht verbunden, die auf die Reinheit der Lebensmittel abzielte. Dies hatte der Bürgermeister der kleinen Kommune Moëlan im Blick, als er im Juli 1862 seinen Verordnungstext formulierte. Die Taxe sei notwendig, um zu verhindern, dass »unter dem Vorwand, ein schöneres Brot zu backen, lediglich verabscheuenswürdige Interessen befriedigt und in den Teig gefährliche Substanzen« gemischt würden, die »schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der Bürger haben können«.133 Die Begründungszusammenhänge belegen allerdings nicht nur die Heterogenität der Ziele, welche die Bürgermeister mit der Taxierung verbanden, sondern auch ihre unterschiedliche Gewichtung und Bewertung von Interessen. Die Redaktionsarbeit, die mit der Überstellung der Entwürfe an die übergeordneten Behörden begann, bezog sich aber auch auf die Fassung der einzelnen Artikel und Regelungsgegenstände. Zwischen den Bürgermeistern und der Präfektur bzw. dem Ministerium waren einige Bestimmungen der Gewerbeordnungsprojekte besonders umstritten. In Moëlan sollte es den Bäckern 1862 verboten sein, Kornhandel zu betreiben.134 Das Projekt des Bürgermeisters von St. Pol de Léon verlangte 1853 von den Bäckern, eine eventuelle Geschäftsaufgabe 15 Tage vorher anzumelden.135 In Brest verpflichtete das Gewerbeordnungsprojekt aus dem Jahr 1856 jeden, der eine Bäckerei eröffnen wollte, im Rathaus eine Genehmigung einzuholen, sowie die Geschäftsaufgabe ein halbes Jahr vorher anzuzeigen.136 In allen diesen Fällen verwarf Präfekt Richard die entsprechenden Artikel und Bestimmungen, weil sie die »Handelsfreiheit ein131 ADF 6M952: Maire de Poullaouen, arrêté, 16.11.1853. 132 ADF  6M952: Maire de Poullan, Règlement concernant la Boulangerie et les marchés, 16.8.1855. 133 ADF 6M952: Maire de Moëlan, Règlement concernant la police des boulangers, la fabrication et la vente du pain, 25.7.1862. 134 Ebd. 135 ADF 6M952: Extrait du registre des délibérations du Conseil Municipal de St. Pol de Léon, session du 12.10.1853. 136 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Commerce de la Boulangerie/ Règlement du Maire de Brest/Observations, 28.10.1856.

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schränkten«.137 Die Meldeauflagen wertete er als »offenen Verstoß gegen die individuelle Freiheit«.138 Oft fanden sich Bürgermeister und Unterpräfekten mit den Streichungen und Umformulierungen nicht sofort ab.139 Mitte der 1850er Jahre nahm die Diskussion über die Gewerbeordnung der Bäckerei, die Brottaxe und einzelne Bestimmungen der Verordnungstexte zwischen den beteiligten Beamten im Finistère eine entschieden grundsätzlichere Wendung. Das ist besonderes in Brest greifbar. Im Jahr 1856 entdeckte der Unterpräfekt,140 dass es in Brest keine eigenständige Gewerbeordnung für die Bäckerei gab, sondern nur einige Bestimmungen in der altgedienten lokalen Polizeiverordnung. In den folgenden Monaten entspann sich zwischen dem Brester Rathaus, der Unterpräfektur, der Präfektur und dem Landwirtschafts- und Handelsministerium ein Schriftwechsel über das »richtige« Verständnis von Gewerbeordnung und Taxierung. Dabei teilten der Präfekt und der Unterpräfekt die Einschätzung, die Gewerbeordnung sei eine Art Waffe gegenüber der Bäckerei. »Die Verwaltung ist vollkommen machtlos«, stellte der oberste Beamte des Bezirks Brest in seiner Ein137 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: MAC, arrêté de police sur la taxe et la vente du pain, Douarnenez, 21.8.1846; ebd.: Cunis-Gridain, MAC, an: Préfet du Finistère, Ville de Brest/ Arrêté pour la taxe du pain, 17.5.1847; ebd.: Sous-Préfet de Quimperlé, an: Préfet du Finistère, police municipale, Moëlan, Commerce de la boulangerie, 24.4.1853; ebd.: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Commerce de la Boulangerie/Règlement du Maire de Brest/Observations, 28.10.1856. 138 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Morlaix, Susbsistances, boulangerie, taxe et vente du pain à St. Pol de Léon, 24.10.1853. 139 Insbesondere der Bürgermeister von Pont-L’Abbé, Cosmao-Dumenez, verteidigte sein Verordnungsprojekt ausdauernd und begründete gegenüber den Redaktionsinstruktionen des Ministers, warum er an bestimmten Regelungsgegenständen und Artikelfassungen festhielt. Der ursprüngliche Entwurf von 1842 sah eine Taxe für Brot und Fleisch sowie eine Gewerbeordnung für Bäckerei und Fleischerei vor, siehe ADF 6M952: Cosamo-Dumenez, Maire de Pont-L’Abbé, Police municipale, taxe du pain et de la viande, commerce de la boulangerie et de la boucherie, Règlement de police, n° 249, arrêté, 24.9.1842. Im Verlauf des langjährigen Abstimmungsprozesses wurden die beiden Bereiche materiell getrennt, siehe ebd.: Préfet du Finistère, an: Maire de Pont-L’Abbé, Céréales et approvisionnements, Règlement de police pour l’exercice de la boulangererie et de boucherie à Pont-l’Abbé, 4.5.1844; ebd.: Cosmao-Dumenez, Maire de Pont-L’Abbé, Police municipale, commerce de la boucherie, règlement, n° 287, arrêté, 3.6.1844; ebd.: Cosmao-Dumenez, Maire de Pont-L’Abbé, Police municipale, taxe du pain et commerce de la boulangerie, règlement, n° 286, arrêté, 3.6.1844. Cosmao-Dumenez hielt jedoch gegen das Argument des Präfekten, dass Fleisch nirgends mehr taxiert werde, weil das »unmöglich« sei, an der Fleischtaxierung fest, siehe ebd.: Préfet du Finistère, an: Maire de Pont-L’Abbé, Police municiaple, taxe du pain et de la viande, arrêté du Maire de Pont-l’Abbé, 1.10.1842. 140 Den Hintergrund für die andauernde Kontroverse bildete der Umstand, dass die Bäcker im Spätsommer 1854 und dann erneut im Herbst 1856 an einigen Tagen nicht genug bzw. gar kein Brot gebacken hatten, siehe ADF  6M952: Cumell, Commissaire de Police, [Bericht], 27.9.1854; ebd., Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, Département du Finistère/Sous-Préfecture de Brest, 9.10.1856.

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schätzung der »anormalen«, »unregelmäßigen« Situation fest, »wenn es keine Gewerbeordnung für die Bäckerei gibt, dieses Gewerbe vollkommen frei ist, keinerlei Pflichten hat und die Bäcker die Arbeit einstellen können, ohne dafür belangt werden zu können«.141 Falls die Versorgungsschwierigkeiten anhielten und die Bäcker die allgemeine Unzufriedenheit instrumentalisierten, könnte es zu »Zusammenstößen« kommen. Die Gewerbeordnung, die der Bürgermeister von Brest nun ausarbeite, »wappne« die Verwaltung für diesen Fall.142 Den Präfekten Richard versetzte der Umstand, dass es in der bevölkerungsreichsten Stadt seines Departements keine Bäckereigewerbeordnung gab, ebenfalls »in Erstaunen«. Auch er hielt es für »wesentlich, dass die Verwaltung vor allem in Teuerungszeiten gut gerüstet« sei. Bürgermeister Bizet wurde angewiesen, diese »ärgerliche Lücke« schnellstens zu schließen.143 Das schließlich vorgelegte Gewerbeordnungsprojekt hielt jedoch der Prüfung durch Präfekt Richard nicht stand. Am 28. Oktober 1856 teilte er dem Unterpräfekten mit, dass die »Hauptbestimmungen die Grenzen der Amtsbefugnisse« des Bürgermeisters überschritten.144 Bizets Projekt sah vor, Bäckern bei Verstößen gegen die Gewerbeordnung ein vorübergehendes oder unbegrenztes Berufsverbot zu erteilen. Der Präfekt erhob Einspruch: »Das geht nicht. Das hieße nämlich, einen Straftatbestand mit einer festen Sanktion zu verknüpfen. Das ist jedoch der Gesetzgebung vorbehalten«.145 Diese Bestimmung stimmte jedoch mit der Linie der Regierung völlig überein, war sie doch neben der Begrenzung der Bäckerzahl und der Mehlbevorratung eines von drei Elementen, auf denen das Ausnahmeregime der Bäckerei beruhte, wie Handels- und Landwirtschaftsminister Eugène Rouher am 1. Juli 1857 betonte.146 Der Unterpräfekt setzte sich deshalb für das Verordnungsprojekt des Bürgermeisters ein. Zum einen wies er am 31. Oktober 1856 darauf hin, dass das Projekt zum Großteil Bestimmungen übernahm, die »in den meisten Gewerbeordnungen derjenigen Ortschaften enthalten sind, in denen die Bäckerei organisiert« sei.147 Allerdings 141 Ebd. 142 Ebd. 143 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Subsistances/Commerce de la Boulangerie/Ville de Brest, 11.10.1856. 144 Neben den bereits zitierten Bestimmungen, die sich auf die Niederlassungsbewilligung und Abmeldepflicht bezogen, und die gegen die »Handelsfreiheit« bzw. die »persönliche Freiheit« verstießen, kritisierte Richard insbesondere Bestimmungen zu Vorratsreserven. Diese lägen nicht im Ermessen der Stadtbehörde. Ihre Angemessenheit und ihren Nutzen einzuschätzen, obliege ausschließlich der Regierung. Siehe ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, Commerce de la Boulangerie/Règlement du Maire de Brest/ Observations, 28.10.1856. 145 Ebd. 146 AMB 4F4.2: Rouher, MACTP, an: Préfet du Finistère, Boulangerie de Brest/projet d’organisation, 1.7.1857. Vgl. auch AMR 5F24: Préfet d’I&V, an: Maire de Rennes, boulangerie, 7.8.1854. 147 ADF 6M952: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, Commerce de la Boulangérie, 31.10.1856. Vgl. auch Foubert, Boulangerie, S. 217 f.

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räumte er ein, dass die bei der Redaktion des Verordnungstextes konsultierten Vorlagen von königlichen Erlassen in den 1820er Jahren homologisiert worden und folglich schon recht alt waren. Wenn eine »höchstinstanzliche Billigung« notwendig wäre, schlug der Beamte vor, dann könne man doch für das Brester Projekt ein kaiserliches Dekret anstreben. Zum anderen ging der Unterpräfekt auf das vom Präfekten gegen das Projekt vorgebrachte »Prinzip der Handelsfreiheit« ein. Er wisse sehr gut, wandte er ein, dass »die Handelsfreiheit respektiert« werden müsse. »Aber dieses Prinzip kann nicht auf so unbedingte Weise verstanden und angewendet werden, dass die öffentliche Nahrungsversorgung den Launen oder der Böswilligkeit einiger Individuen ausgesetzt ist.«148 In ähnlicher Form ließen sich Mitte der 1850er Jahre viele Beamte der Gebietsverwaltungen zu der Grundsatzfrage ein, wie das Freihandelsprinzip genau zu verstehen sei – das gerade in der Bäckerei nicht uneingeschränkt galt. Der Unterpräfekt von Brest berief sich entsprechend auf Argumente, die auf die Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung im Krisenfall abhoben. Wenn es nicht möglich sei, die Bäcker einer »Gewerbeordnung zu unterwerfen«, sie »zu Garantien zu zwingen« und ihnen »als Gegenleistung für gewisse Privilegien« Bedingungen aufzuerlegen, dann bliebe die Behörde »vollkommen unbewaffnet«, hob er hervor. Sie könne dann für die unweigerlich zu erwartenden Konsequenzen nicht verantwortlich gemacht werden, »wenn die Bäcker sich z. B. weigern, wie sie es ja bereits getan haben, Brot zu backen oder nur eine unbedeutende Menge Brot herstellen.«149 Die Möglichkeit, diesem Dilemma zu entgehen, sei die Inkraftsetzung der Gewebeordnung. Trotz seiner Bedenken überstellte der Präfekt das Projekt im November 1856 schließlich an Rouher.150 Die verwaltungsinterne Kommunikation über den Sinn der Taxierung und der Gewerbeordnung im Finistère sowie die »Amtsbefugnisse« der Bürgermeister bietet folglich ein widersprüchliches Bild. Einerseits betrieb die Präfektur im Verein mit den Unterpräfekten und den Bürgermeistern in den 1850er Jahren die Ausbreitung der Taxe in die ländliche Umgebung der Städte. Bei der Redaktion der Verordnungstexte achtete sie nachdrücklich auf ihre formale Legalität. Die moralischen Begründungen der Bürgermeister wurden in diesem Prozess gleichsam in die Staatsräson übersetzt. Andererseits hielt Präfekt Richard gegenüber den teilweise sehr weitreichenden Regelungsabsichten der Bürgermeister die Freiheitsrechte der Wirtschaftsverfassung hoch, befand sich damit jedoch im Fall der Bäckerei nicht unbedingt im Einklang mit den Leitlinien der Regierungspolitik. Ausbau der Gewerbe- und Taxierungsordnung einerseits und verstärkte Implementierung eines liberalen Wirtschaftsdenkens in den Stadtverwaltungen andererseits schlossen sich offensichtlich keineswegs aus. Es 148 ADF 6M952: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, Commerce de la Boulangérie, 31.10.1856. 149 Ebd. 150 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: MACTP, Commerce de la Boulangerie/Projet de rè­ glementation du Maire de Brest, 12.11.1856.

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spricht deshalb viel dafür, beide Prozesse als zwei Seiten einer einzigen Medaille zu betrachten – als eine spezifisch gouvernementale Entwicklung. Selbst ein genuin ordnungspolizeiliches Dispositiv wie das der Taxierung konnte auf liberale Weise implementiert und geführt werden.151

2. Bäckereipolitik und Kornzollkontroverse, 1858–1862 In den Jahren 1857 und 1858 gingen die Kornpreise aufgrund überdurchschnittlicher Ernten stark zurück. Die vierjährige Teuerung war vorüber, doch mit dem nun einsetzenden Preisverfall verschob sich das Gravitationszentrum der Regierungsarbeit in der Subsistenzfrage von den Interessen der Bäcker und Verbraucher auf die der Landwirtschaft und des Handels. Zur Dämpfung der Teuerung war der 1832 eingeführte, komplizierte Mechanismus des Stufenzolls (échelle mobile) im Kornaußenhandel im August 1853 ausgesetzt und diese Aussetzung von Jahr zu Jahr verlängert worden.152 Insbesondere die letzte Fristverlängerung im September 1858, die den einsetzenden Preisverfall verstärkte, führte in der französischen Bauernschaft und im Handel zu wachsender Unzufriedenheit. Um die Preise zu stützen, dekretierte die Regierung im November 1858 zunächst die Aufstockung der Mehl- bzw. Kornpflichtvorräte der Bäcker in den Städten, in denen das Bäckereigewerbe dem Ausnahmeregime unterworfen war. Die Unsicherheit über den Stufenzoll entfachte jedoch eine heftige landesweite Kontroverse, die mit Hilfe eines Anhörungsverfahrens im Conseil d’État in Paris kanalisiert wurde und an deren Ende im Januar 1862 die gesetzliche Aufhebung des Stufenzolls stand. 2.1 Die Instrumentalisierung der Bäckerei zur Stützung der Kornpreise, 1858–1859 Am 16. November 1858 erließ Napoléon III. ein Dekret, das den Bäckern in jenen 165 Städten und Gemeinden, in denen das Gewerbe Ausnahmeregelungen unterworfen war, vorschrieb, Korn- oder Mehlvorräte einzulagern, die für eine dreimonatige Versorgung der Bevölkerung ausreichen sollten (Art. 1). Binnen eines Monats hatten die Präfekturen in Abstimmung mit den Bürgermeistern zu entscheiden, ob es sich um Mehl- oder Kornvorräte handeln sollte und Fristen festzusetzen (Art. 2).153 151 Hier ist Margairaz und Minard zuzustimmen, die entgegen der Interpretation der Taxierung als Instrument moralischer Ökonomie auf einen spezifischen Liberalismus abheben, siehe Minard u. Margairaz, S. 87. 152 Rivière, S., S. 157–160. 153 ADIV 6M779: Napoléon III, Décret, 16.11.1858.

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In einem außerordentlich langen Rundbrief an die Präfekten erläuterte Handels- und Landwirtschaftsminister Rouher den Sinn des Dekrets. Die Bildung von Kornreserven in Zeiten des Überflusses, um die Effekte der Teuerung in Zeiten des Mangels abzumildern, so Rouher am 17. November 1858, sei die »Anwendung einer der einfachsten Regeln der Vorsorge. Ihre Nützlichkeit für die Ordnung der Volksernährung bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung«.154 An diese Feststellung schloss sich gleichwohl eine bis auf das Jahr 1557 zurückgehende historische Argumentation an, die sämtliche Versuche der öffentlichen Hand, Kornspeicher in Eigenregie aufzubauen und zu unterhalten, als gescheitert darstellte und stattdessen ganz auf den Nutzen der 1811 von Napoléon eingeführten, von den Bäckern unterhaltenen, kommerziellen Pflichtreserven abhob.155 Das Dekret vom 16. November 1858, so Rouher weiter, sei eine Reaktion auf die überwundene vierjährige Teuerung sowie auf die nun einsetzende Phase des Kornpreisverfalls. Die Einlagerung von kommerziellen Vorräten durch die Bäcker sei die beste Möglichkeit, sowohl den »gegenwärtigen Interessen der Landwirtschaft« als auch den Interessen von Bäckern und Verbrauchern in der Zukunft zu dienen. Und am ehesten sei dieses Ziel dadurch zu erreichen, dass die Vorräte in allen 165 betroffenen Orten einander angeglichen würden.156 Doch damit nicht genug: Zum einen sollten die Präfekten untersuchen, ob solche Vorräte in weiteren Gemeinden ihres Departements sinnvoll wären, zum anderen überlegen, ob »gutwillige Kapitalisten«157 nicht am Aufbau der Reserven beteiligt werden könnten, falls die Bäcker die Mittel alleine nicht aufbrächten. Schließlich böten die Reserven selbst Sicherheiten für Kredite.158 Diese Maßnahme, deren erklärtes Ziel die Abschöpfung des Kornüberan­ gebots auf dem französischen Binnenmarkt war, verknüpfte zwei unterschiedliche Strategien miteinander. Auf der einen Seite nahm sie die in der Teuerung Mitte der 1850er Jahre weit verbreiteten Überlegungen zum Aufbau von Reserven, Vorräten und Überflussspeichern auf, mit deren Hilfe Teuerungen gedämpft und Mangelsituationen ausgeglichen werden sollten. Die Bewertung staatlicher Reserven als störende Eingriffe in die Handels- und Verkehrsfreiheit lag auf der Linie der Argumentation, mit der die Abteilung Subsistenz des Handels- und Landwirtschaftsministerium seit 1852 eingesandte Projekte ablehnte.159 Auf der anderen Seite instrumentalisierte das Dekret die Bäckereien zumindest jener 165 Städte, in denen sie restriktiven, sanktionsbewehrten Gewerbeordnungen unterworfen war, die den Bäckern insbesondere Pflichtvorräte an Korn oder Mehl vorschrieben. Die historisch begründete Unterscheidung, 154 ADIV 6M779: Rouher, MACTP, circulaire, 17.11.1858, S. 265. 155 Ebd., S. 265 f. 156 Ebd., S. 266. 157 Ebd., S. 268. 158 Ebd., S. 268 f. 159 Vgl. die Akte AN 11 2759: Greniers de Prévoyance (Projets). Sociétés alimentaires 1850–1870. Vgl. auch oben, Kapitel II.

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die Rouher zwischen Kornspeichern der öffentlichen Hand und »kommerziellen« Vorräten in der Hand der Bäcker traf, war ein impliziter Hinweis auf das imperiale Verständnis der »begrenzten« Handelsfreiheit. Das zeigt sich insbesondere dort, wo das Dekret in noch nicht abgeschlossene Gewerbereformprozesse vor Ort eingriff, wie in den beiden bretonischen Großstädten Brest und Rennes. Anfang des Jahres 1858 hatte Ange de Léon, der nun als Bürgermeister von Rennes amtierte, das im Jahr 1854 nicht weiter verfolgte Projekt einer »Vorsorgekasse für die Subsistenz« wieder aufgenommen und auf die Tagesordnung des Stadtrats gesetzt. Der Vorschlag war allerdings, wie von Rouher gefordert, mit einer Neuordnung des Bäckereigewerbes – insbesondere der Verringerung der Anzahl der Bäckereien – verknüpft.160 Doch auch dieses Projekt scheiterte an den Einsprüchen gleich mehrerer Ministerien. Im Juli 1858 leitete der Präfekt ein Schreiben des Handels- und Landwirtschaftsministers an die Stadtverwaltung weiter, die zwei Stellungnahmen des Innenministers und des Finanzministers enthielt. Beide Minister argumentierten, dass die vorgesehene Mehlabgabe rechtlich von einem städtischen Zoll bzw. einer städtischen Steuer nicht zu unterscheiden sei. Auch Zollabgaben und lokale Steuern würden, so der Innenminister, bisweilen besonderen Zwecken gewidmet, zumal die geplante Bäckereikasse »in Wirklichkeit nichts anderes als eine Filiale der Stadtkasse«161 sei. Da das Projekt nicht auf der Brottaxierung, sondern auf einer Zollabgabe gründe, dürfe sich die Stadtverwaltung nicht auf die Gründungsdekrete der Pariser Kasse stützen, sondern müsse sich den Zoll genehmigen lassen. Die lokale Besteuerung von Lebensmitteln, insbesondere von Mehl, kam für den Finanzminister jedoch grundsätzlich nicht in Frage.162 Die Stadtverwaltung beriet nun einige Monate über die weder vom Präfekten noch von den Ministerien unterstützte Möglichkeit, die Kasse durch die Erhebung eines Zolls zu finanzieren.163 Die Lösung des Problems ergab sich schließlich jedoch mit dem Bevorratungsdekret vom 16.  November 1858, das die Bäcker der Stadt zu einer Aufstockung ihrer Mehlreserven zwang.164 In der Folge verzichtete die Stadtverwaltung auf die Bezollung des Mehls und plante stattdessen die Finanzierung der Kasse durch Einnahmen aus der Vermietung des für die Einlagerung der Mehlvorräte eingerichteten öffentlichen Maga160 AMR 5F24: Ange de Léon, Maire de Rennes, Projet d’organisation de la boulangerie de Rennes, présenté au conseil municipal, dans la séance extraordinaire du 18.1.1858. 161 AMR 5F24: MACTP, an: Préfet d’I&V, 28.7.1858. 162 Ebd. 163 Ange de Léon holte ein Gutachten des städtischen Zolldirektors ein, der das Projekt der Stadt mit der Pariser Kasse verglich und sich für das Modell der Stadt aussprach, siehe AMR 5F24: Hémery, chef de l’octroi, an: Maire de Rennes, Rapport, 13.10.1858. Präfekt­ Féart dagegen befürwortete das Pariser Modell, siehe AMR 5F24: Préfet d’I&V, an: Maire de Rennes, 20.9.1858. 164 AMR 5F22: Préfet d’I&V, Extension des réserves de la Boulangerie, Ville de Rennes, arrêté, 22.2.1859 [Plakat].

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zins.165 Der Minister für Handel und Landwirtschaft lehnte im April 1859 jedoch auch diesen Vorschlag ab und legte stattdessen nahe, das über den Brotverkauf finanzierte Kompensationssystem der Pariser Kasse zu übernehmen.166 Inzwischen war das Kompensationssystem der Pariser Kasse jedoch aufgrund von Betrugsvorwürfen gegen die Bäcker in die Kritik geraten. Als die Rohstoffpreise 1857 fielen, die Brottaxe entsprechend gesenkt wurde und die Bäcker nun Differenzbeträge an die Kasse abführen sollten, ging die Brotproduktion in Paris im Verlauf des Jahres 1858 stark zurück, wodurch sich in den Ausgleichszahlungen ein Defizit ergab. Diese Entwicklung war einer der Gründe, weshalb der Conseil d’État in Beratungen über die Gewerbereform eintrat.167 In Rennes führte sie dazu, dass die Zweifel an dem System der Pariser Kasse wuchsen. Wenn er das »Organisationssystem« der Pariser Kasse für »allein zulässig« halte, schrieb Bürgermeister Ange de Léon am 23. August 1859 an Handels- und Landwirtschaftsminister Rouher, dann solle er seine Anwendbarkeit auf die Stadt Rennes offiziell erklären – nicht allerdings, ohne einige Maßnahmen zu treffen, die dem Betrug durch die Bäcker vorbeugen würden.168 Dazu kam es jedoch nicht mehr, weil sich die Wende in der Bäckereipolitik der Regierung bereits abzeichnete. Im Mai 1860 unterbrach Rouher den Verhandlungsprozess über die Vorsorgekasse und die Gewerbeordnung der Bäckerei von Rennes mit dem Hinweis auf die Untersuchung im Conseil d’État, der »nicht durch Sondermaßnahmen vorzugegriffen werden«169 sollte. In Brest intervenierte das Bevorratungsdekret vom 16. November 1858 ebenfalls in einen Reformprozess. Die im Herbst 1856 begonnen Verhandlungen über die Bäckereigewerbereform zwischen der Stadtverwaltung, der Präfektur, dem Handels- und Landwirtschaftsministerium und dem Conseil d’État endeten am 25. Juli 1859 mit der Veröffentlichung der Gewerbeordnung. Tatsächlich war Brest eine der letzten Städte in Frankreich, in denen das Bäckereigewerbe nach den Maßgaben des Ausnahmeregimes mit einem auf den 16. April 1859 datierten Dekret des Kaisers geordnet wurde. Der erste Entwurf170 des Bürgermeisters Bizet war zwar erst auf Veranlassung der Präfektur entstanden, je165 AMR 5F22: Saint-Ours, an: Préfet, 29.12.1858; AMR 5F22: o.A., Note, o. O. [Rennes]. Die Einrichtung des Magazins war auch deshalb notwendig geworden, weil die Bäcker von der örtlichen Filiale der Banque de France nur unter dieser Bedingung Kredite erhielten, um die Mehlvorräte aufzustocken, siehe AMR  5F24: Directeur de la succursale de Rennes, Banque de France, an: Maire de Rennes, 2.12.1858 und ebd.: ders., an: Maire de Rennes, 4.1.1859. 166 AMR 5F24: MACTP, an: Préfet d’I&V, caisse de service, taxe sur les farines, 6.4.1859. 167 Le Play, Boulangerie (II), S. 191–193; Vgl. AMR 5F24: secrétaire de la caisse de service de la boulangerie de paris, an: Maire de Rennes, 2.3.1859. 168 AMR  5F24: Maire de Rennes, an: MACTP, boulangerie de Rennes, caisse de service, 23.8.1859. 169 AMR 5F24: Rouher, MACTP, an: Préfet d’I&V, envoi de la copie d’une lettre du ministre, 3.5.1860. 170 ADF  6M952: Bizet Jeune, Extrait du registre des actes administratives de la Mairie de Brest, arrêté.

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doch von dieser nicht in Kraft gesetzt worden, weil dem Präfekten zufolge einige zentrale Bestimmungen wie etwa die Begrenzung der Bäckereien oder die Verhängung von Sanktionen den Rahmen der rechtlichen Kompetenzen des Bürgermeisters überschritten.171 Unterstützung erhielt Bizet jedoch Ende des Jahres von den Brester Bäckern. In einer ausführlichen Petition legten sie dar, dass sich die Bäckerei in »großer Not« und einer »bedauernswerten Lage« befinde, weil das Brot zwar taxiert, die Zahl der Bäcker jedoch nicht begrenzt sei. Die Taxe sei unter »Gesichtspunkten der öffentlichen Ordnung« zwar gerechtfertigt, doch werde sie zu einer »höchst ungerechten und repressiven Maßnahme«, zu einem »Angriff auf das Privateigentum«, wenn die »Subsistenz der Bäcker und ihrer Familien« nicht anderweitig sichergestellt werde. Sollte die Taxe beibehalten werden, forderten sie zum Ausgleich die Reduzierung und Beschränkung der Bäckereien.172 Der Minister nahm in einer ersten Reaktion auf das Verordnungsprojekt im Juli 1857 die Einwände des Präfekten zwar auf, stützte sich aber auf die Forderung der Bäcker, um dem Ansinnen der Stadtverwaltung stattzugeben, die Gewerbeordnung gemäß der restriktiven Ausnahmeregelungen zu gestalten. Um den Genehmigungsprozess zu vereinfachen (und zu beschleunigen), legte er einen Modellentwurf bei, der sich an den Gewerbeordnungen von Paris aus dem Jahr 1854 und Lyon aus dem Jahr 1857 orientierte.173 Diese Vorlage und die später von Napoléon III. erlassene Ordnung enthielten in leicht veränderter Form sämtliche Bestimmungen des ursprünglich vom Bürgermeister vorgelegten Projekts, die der Präfekt als Verstöße gegen die Berufs- und Gewerbefreiheit sowie Übertretung der Amtsbefugnisse abgelehnt hatte, darunter die Reduzierung und Begrenzung der Zahl der Bäckereien, Pflichtvorräte, Pflicht zur fristgemäßen Meldung der Geschäftsaufgabe, Pflicht zur Einhaltung der Mindestproduktion und Verwaltungssanktionen bei Verstößen, zeitweiliges oder lebenslanges Berufsverbot.174 In der Korrespondenz mit dem Ministerium ging es anschließend nur noch um den Umfang der Mehlvorräte. Den Vorgaben des Modellentwurfs zufolge sollte dieser ausreichen, um die Stadtbevölkerung drei Monate lang mit Brot versorgen zu können. Der Minister lehnte die von Bizet vorgeschlagene Reduzierung auf zwei Wochen am 16. Juni 1858 ab. Die Gründe dafür nahmen das vier Monate später erlassene Bevorratungsdekret vorweg. Diese Auflage mache die 171 ADF 6M952: Préfet du Finistère, an: MACTP, Commerce de la Boulangerie/Projet de rè­ glementation du Maire de Brest, 12.11.1856. 172 AMB 4F4.2: Vallez, Cozic, Le Dantec, [Lemanns] Bachellery, an: Maire de Brest, la boulangerie de Brest, 20.12.1856. 173 AMB  4F4.2: Rouher, MACTP, an: Préfet du Finistère, Boulangerie de Brest/projet d’organisation, 1.7.1857; ADF 6M952: Rouher, MACTP, an: Préfet du Finistère, Ministère de l’agriculture, du commerce et des Travaux publics, Direction de l’agriculture, Bureau des Subsistances, Boulangerie de Brest/Projet de d’organisation, 1.7.1857. 174 AMB 4F4.2: Ville de Brest, Boulangerie, conditions exigées pour l’exercice de la profession de Boulangerie, 25.7.1859, S. 8–10.

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Regierung »in allen etwas größeren Bevölkerungszentren«, um eine »ernsthafte Garantie gegen Subsistenzmangel im Land« zu haben. Der Vorrat müsse daher »unabhängig von den lokalen Umständen […] überall etwa gleich groß« sein.175 Entsprechend ließ er im Januar 1859 auch Bizets Einwand nicht gelten, das Bevorratungsdekret vom 16.  November 1858 fände in Brest keine Anwendung, weil es keine Gewerbeordnung gebe.176 Der Minister verwies stattdessen auf die Vorschriften des im Genehmigungsverfahren stehenden Verordnungsentwurfs, der am 16. April 1859 mit einem kaiserlichen Dekret rechtsgültig wurde.177 Die angeordnete Aufstockung der Pflichtvorräte  – es handelte sich um 1.370 Tonnen Mehl178 – war aufwendig und teuer, was die Einwände des Bürgermeisters erklären mochte. Doch wie Handels- und Landwirtschaftsminister Rouher vorausgesehen hatte, erhielt Bizet nach der Veröffentlichung des Bevorratungsdekrets eine Reihe von Beteiligungsangeboten »gutwilliger Kapitalisten«. Die Art der vorgeschlagenen Geschäftsmodelle erinnerte nicht zufällig stark an das Modell der Pariser Caisse de service de la boulangerie. Ein Bankhaus bot an, in Brest eine »Generalkasse der Bäckereireserve« zu gründen, ein Magazin zu eröffnen, der Bäckerei das Geld für den Mehlkauf vorzustrecken und auf die Mehlreserve Pfandanleihen auszugeben.179 Eine andere Bank schlug vor, eine »Zentrale Kreditanstalt für die Bäckerei des Departements« aufzubauen und den Bäckern Kredite für den Mehlkauf zu gewähren.180 Das Brester Handelshaus de Kerjégu frères unterbreitete den Plan, im Hafen einen »Kommunalmühle« genannten Mühlenkomplex mit einem Magazin zu errichten, der den gesamten Pflichtvorrat der Bäckerei aufnehmen und den Bäckern Kredite gewähren sollte.181 Die Brester Bäcker konnten die Mehlvorräte jedoch selbst finanzieren, und Bizet ließ im Keller der Markthalle ein Depot einrichten, um den Teil aufzunehmen, den die Bäcker nicht in ihren Geschäften vorhalten konnten.182 Die Vorgänge um die Aushandlung einer neuen Bäckereigewerbeordnung und um die Aufstockung der Mehlvorräte in Brest in den Jahren 1856 bis 1859 weisen über die lokale Situation hinaus. Sie ist emblematisch für die offizielle Bäckereipolitik der kaiserlichen Regierung in den 1850er Jahren. Erstens war 175 AMB 4F4.2: Rouher, MACTP, an: Préfet du Finistère, Boulangerie de Brest/Projet de réorganisation, 16.6.1858. 176 AMB 4F4.2: Rouher, MACTP, an: Préfet du Finistère, 31.1.1859. 177 AMB 4F4.2: Napoléon III, Décret règlementant la boulangerie de Brest, 16.4.1859. 178 AMB 4F4.2: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n° 2871, 16.2.1859. 179 AMB 4F4.2: André et Cie, caisse générale de réserve de la Boulangerie de Province, an: Maire de Brest, 30.1.1859; ebd.: André et Cie, caisse générale de réserve de la Boulangerie de Province, Règlement sur les entrepôts proposé aux municipalités, 1859. Vgl. auch AMB 4F4.5: Nozaric, directeur général du Comptoir Central des Cultivateurs, an: Maire de Brest, 22.11.1858. 180 AMB 4F4.2: Victor Martin, an: Maire de Brest, 28.2.1859; ebd.: ders., Projet d’une caisse centrale de crédit pour la boulangerie départementale, 28.2.1859. 181 AMB 4F4.2: Kerjégu frères, négociants, an: Maire de Brest, 19.2.1859. 182 AMB 4F4.2: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, n° 2871, 16.2.1859.

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die Gewerbeordnung eine der letzten Sonderregelungen, die vom Kaiser vor dem Liberalisierungsdekret von 1863 erlassen wurden. Zweitens war sie den wenige Jahre zuvor dekretierten Gewerbeordnungen von Paris und Lyon nachgebildet, die der Minister für Handel- und Landwirtschaft dem Bürgermeister von Brest als Vorlage zugesandt hatte  – ein Vorgehen, das nicht nur den Bewilligungsprozess vereinfachte, sondern auch die Vereinheitlichung der rechtlichen Grundlagen unterstützte. Und drittens manifestiert sich in der Anordnung zur Aufstockung der Mehlvorräte der Sinn des Ausnahmeregimes. Da sie wie eine halb-öffentliche Institution verfasst war, konnte die Bäckerei auch zur Stützung der fallenden Kornpreise instrumentalisiert werden. Gerade in der­ Bereitschaft von Kreditinstituten und Geschäftsleuten, die Mehlvorräte zu kapitalisieren, manifestierte sich das für die Wirtschaftspolitik des Zweiten Kaiserreichs auch in anderen Bereichen typische Nebeneinander obrigkeitsstaatlicher Rahmenbedingungen und liberaler Geschäftspraktiken. 2.2 Protektionismus, agrarischer Protest und imperiale Politik: die Kontroverse über den Stufenzoll, 1858–1861 Seit 1832 regulierte in Frankreich ein Stufenzollsystem den Getreidehandel mit dem Ausland.183 Weit verbreitete Kritik an der Wirkungslosigkeit dieses Mechanismus in der Teuerung 1846/47 hatte dazu geführt, dass die Regierung des Zweiten Kaiserreichs im August 1853 mit Beginn der neuen Teuerung per Dekret ein Ausfuhrverbot erließ und den Einfuhrzoll vorübergehend aufhob. Diese Maßnahmen wurden in den folgenden Jahren jeweils um ein Jahr verlängert, auch als die Preise nach den überdurchschnittlichen Ernten 1857 und 1858 in Frankreich fielen. Im Herbst 1858 begann sich deswegen in landwirtschaftlichen Produktionsgebieten, so auch im Finistère, Unmut breit zu machen. Nachdem sich einer der Abgeordneten dieses Departements im Corps Législatif, der Grundbesitzer Guillaume Boudin Comte de Tromelin, dafür eingesetzt hatte, das Ausfuhrverbot aufzuheben und dies vorher öffentlich bekanntzugeben,184 erfragte Handels- und Landwirtschaftsminister Rouher im Dezember 1858 beim Präfekten ein Stimmungsbild.185 Die Präfektoralverwaltung hob in ihren Lageberichten auf die »hinsichtlich der Subsistenz konträren Interessen« der Land- und der Stadtbevölkerung ab. »Ziemlich sicher kann man 183 Das Prinzip war relativ einfach: stiegen die Preise im Inland und zeigten Mangel an, sanken die Einfuhrzölle; zeigten sinkende Preise im Inland dagegen Ernteüberschüsse an, wurden die Einfuhrzölle entsprechend angehoben. Der Mechanismus beruhte jedoch auf einer fortlaufenden Erhebung der amtlichen Kornkurse auf lokalen Regulationsmärkten in vier wirtschaftsgeogaphischen Großsektoren, die in mehrere Gebietsklassen unterteilt waren, vgl. Bourguinat, Libre-commerce, S. 125–152. 184 ADF 6M955: Tromelin, Note sur le décret du 30 septembre 1858 qui proroge pour une année la libre importation des grains, o. D. [Okt. 1858]. Zu Tromelin siehe Robert, Bd. 5, S. 419. 185 ADF 6M955: MACTP, an: Préfet du Finistère, échelle mobile, Exportation, 3.12.1858.

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die einen nicht zufrieden stellen, ohne die anderen zu verärgern. Während die Arbeiter die Importfreiheit begrüßt haben, hat sie die Bauern unzufrieden gemacht.«186 Mit der Ausfuhrfreiheit sei es umgekehrt. »Am Ende hat man mit ihr nur die Gefahr verlagert, aber was wird man dabei gewonnen haben?«187 Die »öffentliche Meinung« fordere vor allem eine stabile und endgültige Regelung des Kornhandels, vermeldete seinerseits der Unterpräfekt von Morlaix. Unter den Händlern, Bauern und Grundbesitzern seines Bezirks werde »sehr lebhaft kritisiert«, dass die Regierung »zum Schaden der Landbevölkerung« offenbar »vor allem die Arbeiter in den Städten in den vollen Genuss günstiger Lebensmittel kommen lassen« wolle, während die Landbevölkerung aufgrund ihrer »Isolation und Resignation keine Furcht einflöße«.188 Unter »politischen Gesichtspunkten« sei eine Erklärung der »wirklichen Absichten der Regierung« deshalb zu begrüßen. Über die Lage im Bezirk Brest berichtete der dortige Unterpräfekt Ähnliches. Die Gesellschaft der ländlichen Teile des Bezirks habe zu großes Vertrauen in die kaiserliche Regierung, um »laut gegen die Maßnahmen zu murren«, allerdings werde die Auffassung vertreten, dass »die Landwirte und Bauern die solidesten und sichersten Freunde des Kaiserreichs seien. Käme es zu einem mörderischen Interessenskonflikt, wären sie es, die zu beschützen wären, wenn man nicht alle Interessen miteinander versöhnen könne. Schließlich hätten ja die Arbeiter die Revolutionen gemacht, die in vielen Orten noch frech wären, obwohl sie mit Wohltaten überhäuft werden«.189

Die Unzufriedenheit der ländlichen Gesellschaft mit der liberalen Kornzollpoli­ tik der Regierung war freilich nicht auf das Finistère begrenzt, sondern zog im Herbst 1858 und Frühjahr 1859 weite Kreise. Bauernvereine, Landwirtschaftskammern und -gesellschaften in ganz Frankreich, auf lokaler wie nationaler Ebene, berieten über die Frage, fassten Beschlüsse, schrieben Memoranden und setzten Petitionen auf.190 Landwirtschaftliche und agronomische Zeitschriften boten der Diskussion ein Forum und verstärkten sie mit eigenen Kommenta186 ADF 6M955: Préfet du Finistère, an: MACTP, o.T., o. D. [Dezember 1858]. 187 Ebd. 188 ADF 6M955: Sous-Préfet de Morlaix, an: Préfet du Finistère, échelle mobile – confidentielle, 18.12.1858. 189 ADF 6M955: Sous-Préfet de Brest, an: Préfet du Finistère, échelle mobile, 18.12.1858. 190 Vgl. Anselme Payen, Société impériale et centrale d’agriculture. Législation des céréales. Procès-verbaux des délibérations de la Société impériale et centrale d’agriculture, Sé­a nces des 9, 16, 23 et 30 mars; 6, 13 et 27 avril 1859, Paris 1859; Séance du 16 octobre 1858, in: Bulletin de la société d’agriculture de l’arrondissement de Boulogne-sur-mer 3/4 (1858), S. 30–33; eine Auswertung der Ausgaben des Jahres 1859 des Journal d’agriculture pratique hat allein 24 Beschlussfassungen von Bauernvereinen und landwirtschaftlichen Gesellschaften ergeben, darunter die Bauernvereine von Laval, Le Puys, Brives, Epoisses, Saint-Amand, Pierre, Limoux-sur-Aude, Bergerac, Meaux, Laon, Putanges (Orne), Lavaur und Avallon sowie der Departements Haute-Marne und Doubs; die Landwirtschaftlichen Gesellschaften von Orléans, Lille, Montbrison, Bar-le-Duc, Mirande (Gers), Poitiers, Dôle

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ren.191 Die sich rasch zu einer öffentlichen Kontroverse über die Zollgesetzge­ bung und den Freihandel auswachsende Infragestellung der Regierungspolitik wurde vor allem von den Honoratioren und vermögenden Bürgern einer ländlich geprägten Gesellschaft getragen, auf die sich das Regime des Zweiten Kaiserreichs stützte.192 Eine neue Qualität erhielt der Protest mit einer anonymen Petition, die der Bauernverein im südöstlich von Paris gelegenen Provins (Seine et Marne) Ende des Jahres 1858 verfasste und an Bauernvereine in ganz Frankreich verteilte. Der anonyme Verfasser rechnete zunächst den Verlust vor, den der Bauer mit dem Preisverfall erlitt und argumentierte vor diesem Hintergrund für die Beibehaltung des Stufenzolls. Dieser werde von »einigen Leuten leidenschaftlich infrage gestellt«, die »jede Neuerung für einen Fortschritt und jede Änderung für eine Verbesserung« hielten: den Ökonomen.193 Wer den Stufenzoll jedoch deshalb angreife, weil er »protegierend« wirke, habe nicht verstanden, dass er nicht dafür erfunden wurde, sondern dazu, die Preise auf einem »für Alle günstigen mittleren Niveau« zu stabilisieren. Es gehe also nicht um den »Schutz der Landwirtschaft«, sondern um die »Sicherheit der gesamten Bevölkerung«.194 Setze sich der Freihandel durch, werde das unweigerlich  – »so denkt jedenfalls der Landwirt« – die Reduktion der Weizenanbaufläche zur Folge haben.195 »Ein lohnender Profit ist immer eine notwenige Garantie für die Sicherheit der Ernährung«.196 Der anonyme Autor sprach sich zwar für Veränderungen des Stufenzollmechanismus aus, lehnte aber eine Gesetzesänderung und »Experimente« grundsätzlich ab und machte das Regieren mit Dekreten für die Verunsicherung der Landwirte verantwortlich.197 Mit dem fixen Zolltarif der älteren Gesetzgebung habe der Bauer wenigstens immer gewusst, woran er war. Darauf sei auch der »Aufschwung der letzten 40 Jahre« zurückzuführen.198 Mit einem positiven Urteil über das Dekret zur Aufstockung der Pflichtvorräte der Bäckerei vom November 1858 fand die Petition zum Schluss doch noch lobende Worte für die Regierung. Allerdings sei es im Sinn der Maßnahme besser, diese Vorräte aus der nationalen Produktion zu schöpfen als aus dem Import.199 (Jura) und Rochfort sowie der Departements Allier, Dordogne, Hérault und Seine-Inférieure; der Landwirtschaftskammern von Lille und Arras, sowie der Société impériale et centrale d’agriculture und die der Section d’agriculture de la société académique von Nantes, siehe Journal d’agriculture pratique 1 (1859), Ausgaben Januar bis November; vgl. auch die Sammlung einiger Stellungnahmen in Tramecourt, Législation des céréales. 191 Vgl. nur Préveraud; Massoulard; Alby; Freytay, Martres und Doyère, Échelle mobile. 192 Vgl. hierzu Plessis, Fête, S. 76 f.; Price, Anatomy, S. 54–93. 193 Comice agricole de Provins, De l’échelle mobile. Mémoire adressée à M. le président, Paris 1858, S. 6 f. 194 Ebd., S. 12. 195 Ebd., S. 5. 196 Ebd., S. 6. 197 Ebd., S. 9. 198 Ebd., S. 5. 199 Ebd., S. 14.

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Regierung und Behörden konnten diese Petition aus zwei Gründen nicht ignorieren. Erstens drohte sie, den Protest gegen die Regierung in die Fläche zu tragen, und zweitens war eines der Mitglieder des Bauernvereins von Provins niemand geringeres als Auguste-Rodolphe Darblay, genannt Darblay aîné, einer der einflussreichsten Geschäftsmänner des Zweiten Kaiserreichs, vermögender Kornhändler und Grundbesitzer, ehemaliger Abgeordneter der Julimonarchie und langjähriges Mitglied des Aufsichtsrats der Banque de France.200 Regierung und Behörden ergriffen deshalb umgehend Maßnahmen, um den Protest zu kanalisieren und zu entpolitisieren. Einerseits wurde zunächst versucht, die Petition bei den Bauernvereinen abzufangen und zu verhindern, dass dort über sie beraten wurde. In der internen Korrespondenz wuchs die Petition aus Provins zu einer ernsthaften Bedrohung heran. Nachdem der Unterpräfekt von Châteaulin Anfang Februar 1859 den Eingang eines Exemplars beim örtlichen Bauernverein gemeldet hatte,201 erklärte der Präfekt in einem Rundbrief an seine Untergebenen, dieses Schriftstück ziele darauf ab, im Land »Unfrieden zu stiften«. Die Regierung solle »unter Druck gesetzt« werden. Die Bauernvereine könnten jedoch »nicht hoffen, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, wenn sie sich in lärmende Opposition begeben und Unruhe stiften«.202 Den Innenminister warnte er, der Brief des Bauernvereins von Provins und seines Präsidenten sei »extrem ge­ fährlich« und werde »unweigerlich«203 zu einem »Oppositionsmanöver gegen die kaiserliche Regierung«.204 Auch in einem weiteren Schreiben des Präfekten an den obersten Beamten des Bezirks Châteaulin war von einer »echten Provokation zu einer wirklich gefährlichen Unruhe«205 die Rede. Erst als bereits feststand, dass im Finistère kein weiteres Exemplar der Petition aufgetaucht war, warnte der Handels- und Landwirtschaftsminister seinerseits vor dem »zutiefst bedauerlichen« Rundschreiben aus Provins, das »an alle [sic!] Präsidenten von Landwirtschaftsgesellschaften und Bauernvereinen verschickt« worden sei. Diesem »Aufruf zu einer Koalition« solle keinerlei Folge geleistet werden.206 Am 1. März folgten ausführlichere Instruktionen des Ministers zu dieser »ärgerlichen Tat«, die »in gewisser Hinsicht sogar als illegal betrachtet« werden könne.207 200 Plessis, La Banque, S. 101, 105 f., 120–122, 125; ders., Les Régents, passim. 201 ADF 6M955: Sous-Préfet de Châteaulin, an: Préfet du Finistère, confidentielle, 19.2.1859. 202 ADF 6M955: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, législation des céréales, 19.2.1859. 203 ADF 6M955: Préfet du Finistère, an: MACTP, législation des céréales, 23.2.1859. 204 Während der Freihandel unter den aufgeklärten Grundbesitzern neue »Partisanen« gewönne, verließen sich die Bauern »auf die Klugheit des Kaisers«, siehe ADF 6M955: Préfet du Finistère, an: MI, céréales, 19.2.1859. 205 ADF  6M955: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Châteaulin, législation des céréales, 25.2.1859. 206 ADF 6M955: MACTP, an: Préfets, Dépêche télégraphique, 27.2.1859. 207 ADF 6M955: Rouher, MACTP, an: Préfet du Finistère, Question de la législation des céréales – confidentielle, 11.3.1859.

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Auf der anderen Seite versuchte die Regierung, den in der Petition aus Provins zutage getretenen Protest der konservativen Grundbesitzer, Bauern und Kornhändler mit einem Anhörungsverfahren im Conseil d’État zu kanalisieren. Am 4. Februar 1859 veröffentliche Handels- und Landwirtschaftsministers Rouher einen ausführlichen Bericht zur Stufenzollfrage, der dem Conseil d’État die Frage zur Beratung vorlegte, ob die Stufenzollgesetzgebung beibehalten, ob sie aufgehoben oder ob sie durch einen festen Zolltarif ersetzt werden sollte. Auf 67 Seiten bot Rouher einen historischen Abriss der Zollgesetzgebung, zog internationale Vergleiche und fasste die verschiedenen Positionen zum Stufenzoll, zu seiner Aufhebung und zu seiner Ersetzung durch einen unveränderlichen Tarif zusammen. Ziel der Beratungen sollte eine stabile, gesetzliche Lösung sein.208 Die Berichterstattung wurde dem Staatsrat Eugène-Joseph Cornudet de Chaumettes übertragen. Die Untersuchung begann mit einer umgehend anberaumten Anhörung am 26. Februar, die am 26. März 1859 endete. Insgesamt hörte die Kommission in diesem Zeitraum in 25 Sitzungen 95 Personen aus ganz Frankreich an – ein nicht unerhebliches Pensum für einen so kurzen Zeitraum und ein Hinweis auf die politische Dringlichkeit des Verfahrens.209 Dass die Personen, die zur Anhörung nach Paris geladen wurden, von den Präfekturen in der Provinz sorgfältig ausgewählt worden waren, war ein offenes Geheimnis. Als am 12. März 1859 auch der Senat über Petitionen von Bauern­ vereinen beriet, erregte sich der bonapartistische Senator Félix-Bellator de Beaumont über dieses Vorgehen.210 Wenn es um ein Problem des Handels gehe, wende sich der Minister an die Handelskammern, um kompetenten Rat zu erhalten. In der Frage des Stufenzolls habe die Regierung aber offenbar darauf verzichtet, sich an die Beratungsgremien der Landwirtschaft zu wenden. »Der Beweis dafür ist, dass es die Mitglieder dieser Kammern sind, die uns Petitionen schicken«. Man kündige also eine Anhörung von »Zeugen« an, so de Beaumont weiter, »sagt aber nicht, wer sie ernannt hat. Sind sie Delegierte der landwirtschaftlichen Beratungsgremien oder der Bauernvereine? Nein, es sind die Präfekten, die diese Experten auswählen. Ich glaube nicht, dass die Präfekten so genau wissen, welche Personen in dieser Frage mit Gewinn gehört werden können. Man schickt sich also an, die gesetzliche Grundlage der Landwirtschaft umzustoßen und wendet sich an die erstbesten Dahergelaufenen! Wie kann das denn sein?«211 208 Rouher, MACTP, Rapport à S. M. L’Empereur sur des questions relatives à la révision de la législation sur les céréales, 4.2.1859, n° 1003, Conseil d’État, Paris 1859. 209 Die beiden Bände, in denen die Vorträge dokumentiert und veröffentlicht wurden, umfassten 737 bzw. 704 Seiten, siehe Conseil d’État, Céréales. Der kürzere dritte Band enthielt den Bericht Rouhers, den Abschlussbericht Cornudets und statistisches Material. 210 Zu de Beaumont siehe Robert, Bd. 1, S. 222. 211 »Wenn man eine seriöse Untersuchung durchführen möchte«, so de Beaumont weiter, »muss man sich an diejenigen wenden, die Interesse an der Verteidigung der Landwirtschaft haben. Die zur Anhörung geladenen Freihändler werden mit ihrer berühmten Formel antworten: ›Laissez-faire, laissez-passer‹.« Sénat, Procès-verbal, n° 7/1859, Séance du samedi 12 mars 1859, Paris 1859, 12.3.1859, S. 34 f.

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Tatsächlich ging es in dem Beratungsverfahren vor allem darum, eine breitere Legitimitätsgrundlage für die Zollpolitik der Regierung zu erzeugen.212 So kündigte etwa der Präfekt des Finistère den Beginn der Anhörung in einem Rundschreiben an die Unterpräfekten des Departements mit den Worten an, die Regierung habe »in der wichtigen Frage keine Entscheidung treffen wollen, ohne das Land befragt« zu haben. Die Untersuchung zeuge »vom Wunsch der Regierung, nichts zu tun, was nicht den wirklichen Interessen des Landes entspricht«.213 Das Ministerium für Handel und Landwirtschaft hatte sich freilich bemüht, die Frage bereits bei der Auswahl der anzuhörenden Personen zu entpolitisieren. Am 23. Februar 1859 hatte der Minister den Präfekten des Finistère aufgefordert, »zwei honorable und aufgeklärte Personen des Departements« auszuwählen, »die in der Frage keine eigennützigen Interessen verfolgen und in der Lage sind, sie vom Standpunkt des Allgemeininteresses aus zu betrachten«.214 Diese Instruktion schloss eigentlich aus, dass Honoratioren der ländlichen Gesellschaft ein Mandat bekämen, deren Partikularinteressen in der Anhörung offensiv zu verteidigen. Der Präfekt musste jedoch eingestehen, dass es im ganzen Departement niemanden gab, der in der Frage keine eigenen Interessen hatte. Seine Wahl fiel auf Louis de Kerjégu, den Direktor des Ausbildungsgutshofs von Trévarez und Mitglied des Generalrats der Landwirtschaft des Departements, sowie auf Charles Homon, den Präsidenten des Gerichts und der Handelskammer von Morlaix. Ersterer repräsentierte die Landwirtschaft im Süden, letzterer den Handel im Norden des Departements. Beide seien »kluge, gemäßigte und kompetente Männer«, merkte Richard an.215 Sie waren jedoch in der zur Beratung anstehenden Frage alles andere als unvoreingenommen. Homon hatte federführend an der Ausarbeitung einer Denkschrift der Landwirtschaftsgesellschaft des Bezirks Morlaix mitgearbeitet, in der die Wiedereinsetzung des Stufenzolls gefordert wurde. Wie der Unterpräfekt betonte, hatte dieser Vorgang mit der Petition des Bauernvereins von Provins jedoch nichts zu tun.216 Vielmehr habe Homon gerade den Anschein vermeiden wollen, er übe »Kritik an einer Maßnahme« der Regierung und deshalb den unmittelbaren Anlass, das Dekret vom 30. September 1858, nicht einmal erwähnt. Die Denkschrift sei »ein ernsthaftes, gewissenhaftes und sehr förm-

212 Zur performativ-legitimatorischen Wirkung von politischen Verfahren vgl. Luhmann, Legitimation. 213 ADF 6M955: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfets, Législation des céréales/enquête, 26.2.1859; siehe den Fragebogen der Enquête ebd.: MACTP, Enquête relative à la révision de la législation des céréales, 1859. 214 ADF 6M955: MACTP, an: Préfet du Finistère, Enquête au sujet de la révision de la législation des céréales, 23.2.1859. 215 ADF 6M955: Préfet du Finistère, an: MACTP, Enquête au sujet de la révision de la législation des céréales, 25.2.1859. 216 ADF  6M955: Sous-Préfet de Morlaix, an: Préfet du Finistère, dépêche télégraphique, 24.2.1859.

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liches Werk«. Seine Autoren hätten sicher weder daran gedacht noch danach gestrebt, die »Regierung unter Druck zu setzen«.217 Dennoch forderte der Präfekt Homon auf, die bereits gedruckte Denkschrift aus dem Verkehr zu ziehen. Das lehnte dieser freilich ab mit der Begründung, das mache »bei all der herrschenden Aufregung einen schlechten Eindruck«. Die Regierung könne ihm auch nicht das mindeste vorwerfen.218 Seine Publikation gebe auf keine Weise »den Feinden der Regierung Nahrung«, und es gehe ihm auch nicht darum, »Propaganda zu machen«.219 Er werde, so Homon in einem weiteren Telegramm hinsichtlich seiner Delegierung zur Anhörung, übrigens auch »keine Mission« akzeptieren, die »nicht in Einklang steht mit meiner Überzeugung und der meiner Mitbürger«. So habe er immer gehandelt; er sehe die Sache eben anders als der Präfekt.220 Ein Schreiben des Präsidenten der Landwirtschaftsgesellschaft von Morlaix an den Präfekten versuchte eine andere Verteidigungslinie. Die Regierung wollte »die Wahrheit ja offenbar wissen«, warum sonst würde sie eine Untersuchung durchführen? Warum sollten Landwirtschaftsgesellschaften und Bauernvereine sonst aufgefordert werden, ihre Ansicht dazu dazulegen, was den Interessen der Landwirtschaft am dienlichsten sei?221 Louis de Kerjégu dagegen vertrat offensiv freihändlerische Positionen. Er kritisierte die Denkschrift Homons und der Landwirtschaftsgesellschaft von Morlaix als »ärgerlich und kleinkariert« und schlug dem Präfekten vor, die Landwirte der Bezirke Morlaix und Brest auf die freihändlerische Linie einzuschwören. Man würde die »falschen Vorstellungen, die Geist und Gemeinsinn verwirren«, schon bloßstellen können.222 Dazu solle es entweder ihm, de Kerjégu, gestattet werden, Delegierte der Bauernvereine des Bezirks Brest (Ploudalmézeau, St. Renan, Plabennec, Lesneven und Landerneau) zusammenzurufen, Vertreter der Morleser Gesellschaft hinzu zu bitten und die Frage des ­Stufenzolls erneut beraten zu lassen. Oder aber der Präfekt selbst berufe in Quimper eine Versammlung von je zwei bis vier Delegierten der Bauernvereine ein, darunter mindestens je zwei Grundbesitzer. »Binnen eines Tages«, so de Kerjégu, »sollten wir es dann schaffen, denke ich, uns alle vollkommen einig zu werden. Wenn die Idee der Protektion besser verstanden wird, werden sich auch die Befürchtungen zerstreuen, dass die aktuelle Regierung darangeht, die angeblich protektionistische Gesetzgebung ihrer Vorgänger zu zerstören.«223

217 ADF  6M955: Sous-Préfet de Châteaulin, an: Préfet du Finistère, subsistances/législation sur les céréales, 25.2.1859. 218 ADF 6M955: Homon, an: Préfet du Finistère, dépêche télégraphique, 25.2.1859. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 ADF 6M955: Guernisac, président de la société d’agriculture de Morlaix, an: Préfet du Finistère, 28.2.1859. 222 ADF 6M955: Kerjégu, an: Préfet du Finistère, 3.3.1859. 223 Ebd.

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Obwohl gleich am ersten Tag der Anhörung im Conseil d’État mit Darblay, dem Agronomen und Herausgeber des Journal d’agriculture pratique, Léonce de la Lavergne (Haute Garonne) und dem Abgeordneten Jacquot Rouhier d’Andelarre (Haute Saône)  drei der wichtigsten Protagonisten der landesweiten Kontroverse über den Stufenzoll gehört wurden,224 gelang es auch mit diesem hoch­offiziellen Verfahren nicht, den Protest in der ländlichen Gesellschaft vollständig zu entmachten. Im Gegenteil: Darblay aîné gründete Anfang März in Paris ein Komitee (»Comité Darblay«), das sich parallel zu den Beratungen des Conseil d’État der Propaganda für die Beibehaltung des Stufenzolls widmete.225 Am 17.  März 1859 wies der Handels- und Landwirtschaftsminister in einem Rundschreiben an die Präfekten auf die Existenz dieses Komitees hin, das »Petitionsvorlagen« in eine Reihe von Departements geschickt habe. Die Adressaten sollten so viele Unterschriften sammeln wie möglich. Diese »von Haus zu Haus gereichten Petitionen« könnten jedoch nicht als »wirklich freie Meinungsäußerung« betrachtet werden. Unterschriften seien »ganz offensichtlich nur das Ergebnis äußeren Drucks«, viele unterschreiben zudem, ohne den Inhalt zu kennen.226 Dass die Petition von Haus zu Haus zirkulierte, war für die Regierung offenbar ein weit geringeres Problem als eine Versammlung, die darüber beriet. Das legen die unterschiedlichen Instruktionen des Ministeriums nahe. »Versammlungen neigen dazu, dem Studium einer Frage die falsche Richtung zu geben, die doch mit der größten Reife untersucht werden muss«, teilte Handels- und Landwirtschaftsminister Rouher mit. Die Beratung über anonyme ­Petitionen dränge den landwirtschaftlichen Gesellschaften eine »vorgefasste Meinung« auf, die »wahrscheinlich ohne ausreichende Abwägung akzeptiert« werde und so »rein künstlichen Charakter« erhielte.227 Selbstverständlich dürften die Bauernvereine über die Stufenzollfrage beraten, aber ihre Beschlüsse müssten »spontan« sein und dürften nicht zwischen verschiedenen landwirtschaftlichen Gesellschaften abgestimmt sein. Dann handele es sich vielmehr um »eine Art Koalition«. Wenn sich Bauernvereine versammeln und ohne äußeren Druck beraten wollten, sollte der Präfekt darüber den Minister in Kenntnis setzen, der dann »alle Dokumente überstellen könnte, die geeignet sind, die Gesellschaft über den tatsächlichen Stand der Frage aufzuklären«.228 Bei diesen »Dokumenten« handelte es sich um den Bericht Rouhers selbst, der die Untersuchung des Conseil d’État eingeleitet hatte.229 224 Siehe Séance du 26 février 1859, in: Conseil d’État, Céréales, Bd. 1, S. 1–14 (Jacquot d’Ande­ larre), S. 14–34 (Léonce de Lavergne), S. 34–52 (Darblay). Alle drei hatten im Vorfeld der Untersuchung öffentlich für oder gegen den Stufenzoll Stellung bezogen, siehe Andelarre; Léonce de Lavergne, Commerce; ders., Comparaison. 225 Darblay aîné. 226 ADF 6M955: Rouher, MACTP, an: Préfet du Finistère, législation des céréales, 17.3.1859. 227 ADF 6M955: MACTP, an: Préfet du Finistère, Circulaire – confidentielle, 1.3.1859. 228 Ebd. 229 ADF 6M955: Rouher, MACTP, an: Préfet du Finistère, Question de la législation des céréales – confidentielle, 11.3.1859.

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Nach der Beratung der landwirtschaftlichen Gesellschaft von Morlaix Anfang Februar 1859230 sollte im Finistère nur noch eine Beratung des Bauernvereins von Quimper stattfinden. Der Präfekt forderte deshalb die ministeriellen Dokumente an, aber die Mehrheit der Mitglieder dieses Vereins stand ohnehin der »Sichtweise wohlwollend gegenüber, die der Regierung zugeschrieben wird«.231 Die Versammlung wurde zwar tatsächlich von de Kerjégu geleitet und sprach sich wie erwartet für die Abschaffung des Stufenzolls aus.232 Der Unterpräfekt hatte de Kerjégu jedoch untersagt, Delegierte anderer Bauernvereine einzuladen. Das hätte bedeutet, die »große Untersuchung, die von der Regierung gerade unternommen wird, durch eine lokale Untersuchung zu ersetzen. Das hätte gerade jene Nachteile, die man vermeiden möchte«.233 Auf dem Spiel stand in der Kontroverse jedoch nicht nur der Stufenzoll, für den sich in der Anhörung des Conseil d’État die Mehrheit der Bauernvertreter aussprach, sondern die vermeintliche Hegemonie der Freihändler in der Regierung allgemein und der Subsistenzpolitik im Besonderen. Der zitierte konservative Senator de Beaumont erklärte in der erwähnten Senatsdiskussion, »wenn man eine seriöse Untersuchung durchführen« wolle, dann müsse man sich »an diejenigen wenden, die Interesse an der Verteidigung der Landwirtschaft haben. Die zur Anhörung geladenen Freihändler werden mit ihrer berühmten Formel antworten: ›Laissez-faire, laissez-passer‹.«234 Darblay aîné bezeichnete die Freihändler in seiner Stellungnahme vor der Kommission des Conseil d’État als »Utopisten«. »Ohne dem Handel abzuschwören, dem ich verdanke was ich habe und bin«, führte er aus, »werde ich mich seinen unentwegten Klagen nicht anschließen. Sein Feld ist viel leichter zu bestellen, viel produktiver und weniger mühsam zu bearbeiten als das des Landwirts.«235 Darblay sprach sich wie viele andere für die Beibehaltung und Reform des Stufenzolls aus, weil sie einen optimalen Interessenausgleich zwischen Handel, Landwirtschaft und Verbrauchern versprach. »Wir Konservative sind auch Ökonomen«, gab er zu bedenken, »wir sind keine Fortschrittsfeinde, keine Radikalen«.236 Die Abneigung gegenüber den »englischen Verhältnissen« saß unter den Konservativen jedoch tief. »Man möchte uns wohl mit aller Macht zu Engländern machen«, kommentierte ein anderer Beobachter im Journal d’agriculture pratique. »Als wolle man aus einer 230 ADF 6M955: Préfet du Finistère, an: MACTP, législation des céréales, 4.3.1859; ebd.: Préfet du Finistère, an: MACTP, législation des céréales/Envoi d’une délibération de la société d’agriculture de Morlaix, 2.3.1859. 231 ADF 6M955: Préfet du Finistère, an: MACTP, législation des céréales, 5.3.1859. 232 ADF 6M955: Comice agricole de Quimper, délibération, [10.3.]1859; vgl. auch noch ebd.: Eléonet, président du comice agricole, an: Préfet du Finistère, 29.3.1859. 233 ADF  6M955: Préfet du Finistère, an: MACTP, législation des céréales, de Kerjégu, 5.3.1859. 234 Sénat, Procès-verbal, n° 7/1859, Séance du samedi 12 mars 1859, Paris 1859, 12.3.1859, S. 34 f. 235 Déposition Darblay, in: Conseil d’État, Céréales, Bd. 1, S. 38. 236 Ebd., S. 43.

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starken, kräftigen und im Wesentlichen landwirtschaftlich geprägten Nation ein Volk von Proletariern machen, das in Fabriken verkümmert«.237 Die Beratungen über die Reform der Zollgesetzgebung wurden im April 1861 mit einem Votum des Conseil d’État für die Aufhebung des Stufenzolls und die Einführung eines fixen Zolltarifs abgeschlossen, und der Vorschlag fand im Corps Législatif am 1. Juni 1862 auch eine Mehrheit. Befürworter der Reform konnten darauf verweisen, dass eine durch hohe Ernteausfälle in den Jahren 1860/61 mitverursachte Teuerung aufgrund der weiterhin geltenden Aussetzung des Stufenzolls nicht das Preisniveau erreicht hatte, das in den Teuerungen zuvor möglich gewesen wäre.238 Allerdings hatte Napoléon III. die Frage des Freihandels anderweitig bereits entschieden. Die Öffentlichkeit erfuhr am 15.  Januar 1860 von einem Freihandelsabkommen mit England, das Michel Chevalier, einer der engsten Berater Napoléons III., im Geheimen ausgehandelt hatte.239 Dieses als »zollpolitischer Staatsstreich«240 bezeichnete Abkommen unterstrich die freihändlerischen Ambitionen der Regierung. Es machte freilich auch die beschlossene Änderung des Kornzollgesetzes zumindest im Englandhandel obsolet und leistete dem latenten Widererstarken der Regimeopposition Vorschub.

3. Die Reform des Bäckereigewerbes: vom quasi-öffentlichen Dienst zur Wettbewerbsordnung, 1857–1868 Der sechsjährige Verhandlungsprozess, der im Juni 1863 zur Liberalisierung des Bäckereigewerbes in ganz Frankreich führte, begann mit einer Frage zur Organisation der Pariser Bäckerei, die Handels- und Landwirtschaftsminister­ Rouher dem Conseil d’État Anfang 1857 zur Beratung vorlegte. Zu diesem Zeitpunkt deutete wenig darauf hin, dass die Regierung das über Jahrzehnte hinweg ausgebaute Ausnahmeregime des Bäckereigewerbes aufgeben und den Brotmarkt den allgemein gültigen Rahmenbedingungen der Wirtschaftsverfassung und des Gemeinrechts unterwerfen würde. Vor dem Hintergrund gegensätzlicher Positionen in der Verwaltung selbst entwickelte der Beratungsprozess im Conseil d’État zwischen 1858 und 1863 eine Eigendynamik, die schließlich zu einem Kompromiss führte. Die gegen die Berufs- und Gewerbefreiheit verstoßenden Gewerbeordnungen wurden aufgehoben – die Taxierungsrechte der Kommunen jedoch nicht.241 Das Reformdekret vom 22. Juni 1863 stellte vor dem Hintergrund der bis in die erste Phase der Beratungen fortgesetzten Bäckereipolitik von Regierung und 237 Bodard, S. 52 f. 238 Vgl. Barral, J. A., Blé, S. 20–49; Borie, Pain, S. 7–9. 239 S. Price, Anatomy, S. 234 f. 240 Plessis, Fête, S. 197. 241 S. Devos, S. 352 f.

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Verwaltung einen regelrechten Bruch dar. Bis in die erste Phase der Beratungen im Conseil d’État wurden noch Gewerbeordnungen erlassen und Maßnahmen getroffen, die das Ausnahmeregime des Bäckereigewerbes stützten und in der Provinz verbreiteten. Die Implementierung der »Freiheitsordnung« in den Kommunen führte unweigerlich zu Problemen, da sich alle Beteiligten auf neue Regeln und Rollen einstellen mussten. Doch auf welche Weise konnte sich die freihändlerische Position in der Bäckereifrage überhaupt durchsetzen? Und wie gestalteten sich die Übergänge nach der Aufhebung des Ausnahmeregimes der Bäckerei? 3.1 Die Genese des Reformdekrets im Conseil d’État, 1857–1863 Im Unterschied zu der im Herbst 1858 eskalierenden und von der Regierung mit einer rasch organisierten, umfangreichen Anhörung im Conseil d’État unter Kontrolle gebrachten Kontroverse über den Stufenzoll erregte die Diskussion über die Bäckereigewerbereform lange Zeit kaum öffentliche Aufsehen. Die Beratungen begannen mit einer Reihe von Fragen zur Organisation der Pariser Bäckerei, die Rouher am 18. Februar 1857 dem Conseil d’État zur Beratung und Beschlussfassung vorlegte.242 Die Berichterstattung in der Angelegenheit wurde dem Staatsrat Frédéric Le Play übertragen. Mit seinen Untersuchungen und Berichten prägte der katholische Sozialökonom, Bergbauingenieur und Metallurg, der in den 1830er und 1840er Jahren mit empirischen Milieustudien über Arbeiterfamilien in euro­ päischen Bergbauregionen bekannt geworden war und im Jahr 1855 das Generalkommissariat der Pariser Weltausstellung geleitet hatte, das Beratungsverfahren entscheidend.243 Le Play verfasste in den Jahren 1858, 1860 und 1862 drei umfangreiche Berichte, führte eigene Untersuchungen in London und Brüssel durch und bearbeitete die Ergebnisse der umfangreichen Anhörung, die der Conseil d’État im Jahr 1859 veranstaltete. Wie Le Play in seinem ersten Bericht im Januar 1858 ausführte, war der Hintergrund der Anrufung des Conseil d’État eine Kontroverse zwischen dem Pariser Polizeipräfekten Pierre Marie Pietri,244 der für Ruhe und Ordnung zuständig war, und dem Präfekten des Departements Seine, Haussmann, dem die polizeiliche Aufsicht über die Bäckerei und die Caisse de service de la boulangerie oblag. Im Winter 1855 hatte Haussmann auf Veranlassung Rouhers eine Kommission des Pariser Stadtrates prüfen lassen, ob nicht ein »Haushaltsbrot« mit Mehl hergestellt werden könnte, das zwar weniger stark von Schrotanteilen gereinigt wäre, dafür aber in einem besseren Ausbeutungsverhältnis zum Rohstoff Getreide stünde. Sinn der Operation war es, eine günstigere Brotsorte zu finden, auf welche die Taxe angewendet werden konnte, während alle anderen 242 Le Play, Boulangerie (I), S. 3. 243 Zu Frédéric Le Play siehe Nouvel; Savoye. 244 Vgl. Pietri, Pierre Marie, in: Robert, Bd. 4, S. 628 f.

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Brotsorten von ihr ausgenommen sein sollten. Denn der Ausgleichsmechanismus der Caisse de service de la boulangerie führte dazu, dass die Brotpreise in Paris höher waren als in der Umgebung – und diesem Missstand galt es abzuhelfen. Der Stadtrat stellte fest, dass die unter dieser Maßgabe hergestellte Sorte »im Hinblick auf Geschmack und Geruch« geeignet sei und beschloss die Einführung des »Regelbrotes«. Im April 1856 nahmen die Bäcker die Produktion auf. Im August des gleichen Jahres kam allerdings eine von Minister Rouher mit der Qualitätsprüfung beauftragte Kommission unter der Leitung des Lebensmittelchemikers Anselme Payen zu dem Ergebnis, dass das Brot »besonders hinsichtlich der Farbe, des Geschmacks, des Geruchs und der Saugfähigkeit« schlechter sei als das zuvor produzierte und taxierte Brot. Sie führte dies darauf zurück, dass die Bäcker für seine Herstellung keine spezielle Mehlsorte, sondern eine Mischung hochreinen Mehls mit »größtenteils minderwertigen Mehlsorten« verwendeten, die von den Konsumenten jedoch verschmäht würde. Während die Mehrheit der Kommission deshalb mit keinem nennenswerten ökonomischen Vorteil für die Verbraucher rechnete und das »Regelbrot« für gescheitert hielt, ging eine Minderheit davon aus, dass lediglich die Verwendung der richtigen Mehlsorte sichergestellt werden müsste und empfahl die Einführung von Brotfabriken, die Mahl- und Backverfahren in einem Betrieb zusammenfassten (Meunerie-Boulangerie). Gestützt auf das Minderheitenvotum der Expertenkommission und mit Unterstützung des Kaisers ließ Haussmann seit März 1856 in der Brotfabrik des Pariser Hospizes, der Usine Scipion, »Regelbrot« backen und verkaufen. Im Dezember des Jahres votierte der Generalrat des Departements Seine für die Einführung mehrerer solcher Fabriken in Paris.245 Rouhers Fragen präjudizierten vor diesem Hintergrund ein bestimmtes Ergebnis der Beratungen. Ein Untersuchungsbericht leitender Beamter seines Ministeriums, des Leiters der Handelsdirektion, Monny de Mornay, und des Direktors der Subsistenzabteilung, Foubert, über die neue, industrielle Betriebsform der Mahl- und Brotfabriken kam zu dem Schluss, dass solche Einrichtungen die Brotherstellung aufgrund des größeren Produktionsvolumens wesentlich rationeller, günstiger und regelmäßiger gestalten konnten als die vielen kleinen Bäckereien.246 Die erste von Rouhers Fragen, ob die Brottaxe in ­Paris auf Korn statt auf Mehl indiziert werden sollte, stellte eine der beiden regulierenden Funktionen der im Winter 1853/1854 eingerichteten Caisse de service de la boulangerie infrage. Aufgabe der Kasse war nicht nur die Kompensation der Brotpreisvariationen, sondern auch die Zentralisierung der Mehlvorräte und Mehlkäufe der Bäcker, auf deren Basis der Mehlkurs und damit die Grundlage der Brottaxe gewonnen wurden. Die Taxe wieder auf den Kornkurs zu stützen, 245 Vgl. Le Play, Boulangerie (I), S. 8–11. Chemiker und Professor an der École des arts et métiers in Paris popularisierte Payen bereits ein Jahr zuvor in der Publikumszeitschrift Revue des deux Mondes lebensmittelchemisches Wissen über Getreide und Brot, siehe Payen, Alimentation. 246 Foubert u. de Monny de Mornay.

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würde jedoch notwendig werden, wenn die Brotfabriken für sinnvoll gehalten würden (dritte Frage), die aufgrund ihrer Produktionsweise eine bestimmte Brotsorte, nämlich das »Regelbrot«, in Massenproduktion herstellen würden (zweite Frage). Die vierte Frage, ob die Zahl der Bäcker der gestiegenen Bevölkerungszahl angepasst werden sollte, problematisierte die mit der Einrichtung von Brotfabriken notwendig werdende Revision der Quoten, die jeder Bäckerei eine bestimmte Anzahl zu versorgender Konsumenten zumaß. Der um eine Stellungnahme gebetene Polizeipräfekt lehnte am 14. Dezember 1857 alle sowohl vom Minister als auch vom Präfekten des Departements befürworteten Änderungen ab. Le Play zufolge hielt Pietri es stattdessen für geboten, »die aktuelle Organisation ohne jede Modifikation beizubehalten […]; jeder Innovationsversuch bliebe unfruchtbar und kompromittiere ohne Vorteil für das Publikum die Verantwortung der Regierung«.247 Le Play trug dem Konflikt zwischen den unterschiedlichen Verwaltungen in seinem ersten Bericht im Januar 1858 Rechnung, indem er nach einer Analyse des Pariser Brotmarktes und einem historischen Vergleich der Gewerbeordnungen in Frankreich und England feststellte, dass die Fragen des Ministers ein viel grundsätzlicheres Problem aufwarfen. Die Einrichtung von großen Mahlund Backfabriken würde die vielen Mühlenbetriebe des Departements in den Ruin treiben und zugleich »ein bis jetzt freies Gewerbe in ein reglementiertes Gewerbe« verwandeln. Deshalb stellte sich die Frage: »Soll man diesen Schritt gehen und auch die Müllerei des Pariser Beckens dem Regime der Taxe unterwerfen?«248 Um zu einer Antwort zu gelangen, wog Le Play wirtschaftliche gegen politische und soziale Argumente ab. Einerseits hielt er die Organisation des Bäckereigewerbes in kleinen Handwerksbetrieben für die bestmögliche, da historisch gewachsene Form und hielt außerdem die größere Wirtschaftlichkeit der Brotfabriken keineswegs für erwiesen. Da andererseits die »Uneinigkeit der Verwaltungen« fortbestehe, könne eine »offizielle Änderung der aktuellen Organisation der Pariser Bäckerei« nicht befürwortet werden. Weder sollte »der Mehlkurs als Grundlage der Taxe durch den Weizenpreis« noch »die aktuell existierenden kleinen Handwerksbetriebe durch große Mahl- und Backfabriken ersetzt« werden. Sein Kompromissvorschlag lautete gleichwohl, unter den Bedingungen des status quo versuchsweise einen Unternehmer auf eigenes Risiko eine Brotfabrik betreiben zu lassen.249 Der Bericht bot bei seiner Vorstellung im Conseil d’État am 22. Juni 1858 in Gegenwart der beiden Präfekten und des Ministers »Gelegenheit zu Kritik an der Gesamtorganisation« der Pariser Bäckerei.250 An dem Streit um die Einführung der Brotfabriken kristallisierte sich eine Diskussion über Grundsatzfragen heraus. Für die einen war die Organisation der Bäckerei in Kleinbetrieben das 247 Vgl. Le Play, Boulangerie (I), S. 14. 248 Ebd., S. 24 f. 249 Ebd., S. 60. 250 Conseil d’État, Boulangerie, S. II.

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natürliche Ergebnis spontaner Prozesse und die Pariser Tradition unterschied sich diesbezüglich nicht von der anderer europäischer Länder. »Schädlich« und »unnütz« seien nur die komplizierten Regelungen, eine Situation, die mit der Einführung von Brotfabriken weiter gesteigert werde, die im Übrigen der Konkurrenz der kleinen Betriebe nirgendwo hätten standhalten können. Die Regierung solle sich deshalb selbst der versuchsweisen Einführung von solchen Industriebetrieben enthalten. Die Gegenseite führte gegen die »mittelalterliche« Ordnung der Pariser Bäckerei die industrielle Moderne ins Feld und bestand darauf, dass man diesem Gewerbezweig die »Wohltaten« der Maschinen und industriellen Produktionsweisen nicht vorenthalten sollte. Da die Bäckereikasse erhebliche Probleme habe, die in der Teuerung an die Bäcker geleisteten Ausgleichszahlungen in der Niedrigpreisphase wieder einzuziehen, habe die Regierung ein »politisches Interesse« an der Einführung »ökonomischer Backverfahren«, welche die Preise senken würden.251 Der Conseil d’État beschloss daraufhin, die Frage genauer untersuchen zu lassen. Der zu diesem Zweck berufenen Kommission gehörte neben Le Play auch Michel Chevalier an, ein von saint-simonistischen Konzepten stark geprägter liberaler Ökonom und einer der einflussreichsten Berater Napoléons III.252 Sie entschied, dass »die gesamte Organisation der Pariser Bäckerei, ja sogar das zu taxierende Lebensmittel selbst in Frage« stehe und die Untersuchung »kein Detail des Weizen-, Mehl- und Brotmarktes auslassen«253 dürfe. Im Sommer 1859 fand deshalb eine Anhörung mit insgesamt 91 Teilnehmern zu einem Fragenkatalog statt, der wesentlich umfassender war als derjenige, mit dem die Beratungen begonnen hatten. Die Frage nach den Brotfabriken war nun nur noch eine von insgesamt zwölf, die sich auf den Kornhandel, die Müllerei des Pariser Beckens und die Pariser Bäckerei bezogen. Unter den von Haussmann und Rouher geladenen Angehörten befanden sich zahlreiche Geschäftsleute aus dem weiteren und engeren Einzugsgebiet des Pariser Brotmarktes, aus Marseille ebenso wie aus Rouen; des Weiteren hochrangige Beamte und Verwaltungsfachleute der Stadt, des Departements Seine und des Handels- und Landwirtschaftsministeriums, Mitglieder des Pariser Stadtrats, Grundbesitzer und Landwirte der Île de France, Müller, Ingenieure sowie mehrere Vertreter der Bäckereisyndikate von Paris und einiger Vorstädte. Neben verlässlichen Honoratioren des Zweiten Kaiserreichs254 befragte die Kommission auch eine Reihe von Agronomen, Sozialökonomen und Lebensmittelchemiker.255 Die Hinzuziehung einiger ehemaliger Müller und Bäcker verstärkt den Eindruck, dass es der Untersuchungsleitung vor allem um eine pragmatische Per251 Le Play, Boulangerie (II), S. 9–12. 252 Chevalier, Michel, in: Robert, Bd. 2, S. 90 f. 253 Le Play, Boulangerie (II), S. 12. 254 Wie etwa die Bankiers, Weizenhändler und Betreiber der Mühlen- und Speicherkomplexe in Corbeil, Aymé-Stanislas Darblay (jeune) und Auguste-Rodolphe Darblay (aîné). 255 Unter diesen befanden sich die Agronomen der École impériale d’agriculture in Grignon, Jean-Edmond Briaune und François Bella, der Herausgeber der Zeitschrift Écho agricole

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spektive auf das Problem und um die Mobilisierung praktischen Wissens ging. Das Gewicht, das auf Erfahrung gelegt wurde, macht die Abwesenheit freihändlerischer Nationalökonomen umso auffälliger. Ganz offensichtlich wurde die Bäckereifrage als sozialökonomisches Problem konstituiert, als Frage der Praxis, nicht als Problem der ökonomischen Theorie.256 Und doch war es mit André Pommier, dem Herausgeber des Écho agricole, der auch für das Flaggschiff der freihändlerischen Kritik Journal des économistes schrieb und sich als scharfzüngiger Polemiker einen Namen gemacht hatte, ein Nationalökonom, der der Kommission zu einem ersten Durchbruch verhalf, wie Le Play in seinem zweiten Bericht im Jahr 1860 feststellte.257 Im Zentrum des Interesses stand die Frage, welche Auswirkungen die zahlreichen restriktiven Bestimmungen des Ausnahmeregimes auf den Brotpreis in Paris hatten. Der Vergleich mit den Preisen auf dem »freien« Brotmarkt von London führte die beiden Ökonomen Pommier und Jules Burat, Professor für Industrieverwaltung am Conservatoire Impérial des Arts et Métiers, jedoch zu gegensätzlichen Ergebnissen. Burat rechnete mit Angaben aus der T ­ imes MarkLane vor, dass Brot in London 50 % teurer sei als in Paris.258 Pommier rechnete auf der Grundlage derselben Daten, differenzierte jedoch zwischen zwei Brotsorten und kam zu dem Ergebnis, dass sich die Brotpreise kaum unterschieden.259 Da dieser »wesentliche« Punkt nicht aufgeklärt werden konnte, entsandte Landwirtschafts- und Handelsminister Rouher Le Play im November 1859 zusammen mit einem Mitarbeiter seines Ministeriums, Jules Robert de Massy,260 nach London und Brüssel, um die dortigen Brotmärkte selbst zu untersuchen. Die Vergleichsfälle waren mit Bedacht gewählt. Während der Londoner Brotmarkt wie der Kornmarkt als Vorbild für eine funktionierende freihändlerische Versorgung galten, wurden die Backtraditionen und Brotsorten in beiden Städten für sehr unterschiedlich gehalten. Brüssel dagegen galt als Stadt mit einer ähnlichen Brotkultur wie Paris und hatte zudem im Jahr 1854 das Ausnahmeregime aufgegeben. Um aussagekräftige und vor allem nachvollziehbare Ergebnisse zum Verhältnis der Brotpreise zwischen diesen drei Märkten zu erhalten, ermittelte Le Play in »einer gewissen Anzahl« Bäckereien vor Ort, die ihm die »durchschnittliche Produktion der Stadt« zu repräsentieren schienen, durch »direkte Beobachtung« die gebräuchlichsten Brottypen, die für ihre Produktion verwendeten Getreide- und Mehlsorten und mittelte die Preise pro KiAndré Pommier, die Sozialökonomen Jules Burat und Paul Gosset sowie die Lebensmittelchemiker Jean-Baptiste Boussingault, Hippolythe Mège-Mouriès, Louis Michel Doyère und Anselme Payen, siehe Conseil d’État, Boulangerie, S. II–VII. 256 Vgl. hierzu Sage, S. 79 ff. 257 Le Play, Boulangerie (II), S. 14 f.; ders., Boulangerie (III), siehe S. 13 f. 258 Conseil d’État, Boulangerie, S. 177. 259 Ebd., S. 223 f. 260 Robert de Massys erstellte einen eigenständigen, zweibändigen Bericht, der die Lebensmittelmärkte und ihre Ordnungen in London und Paris verglich, siehe Robert de Massy.

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logramm.261 Nachdem er diese anschließend um Abweichungen der Getreidepreise bereinigt hatte, erwies sich, dass Brot in London um knapp drei Centimes und in Brüssel sogar dreieinhalb Centimes günstiger war als in Paris.262 Gestützt auf mikrosoziologische und vergleichende Untersuchungen der Bäckerei in London, Brüssel und Paris rekonstruierte Le Play Schritt für Schritt die Auswirkungen des restriktiven Ausnahmeregimes auf die handwerklichen und ökonomischen Praktiken der Bäcker sowie auf die Brotpreise, die Broteigenschaften und den Brotkonsum in Paris. Dieses Vorgehen führte ihn zu der entscheidenden Schlussfolgerung, dass »der Eingriff der Behörde in dieses Gewerbe […] schädlich und ohnmächtig«263 sei. Der Vergleich bestätige für Le Play »die Richtigkeit der Prinzipien, über die in Frankreich nun seit 1763 diskutiert wird, während sich inzwischen alle anderen Völker an sie halten, von denen wir uns jeden Tag weiter entfernen.«264 Es sei deshalb notwendig, notierte er, »den Standpunkt zu ändern, den wir bis zu diesem Tag eingenommen haben«.265 Le Play plädierte dagegen, die bestehende Organisation mit der Einführung von Brotfabriken weiter zu verkomplizieren. Stattdessen sollte diese »schrittweise vereinfacht und in das Gemeinrecht zurückgeführt«266 sowie die Bäckereikasse liquidiert und die Pflichtvorräte aufgelöst werden. War bis dahin nur von der Pariser Bäckerei die Rede gewesen, ging Le Play mit dem letzten Satz seines Berichts entscheidend darüber hinaus. »Außerdem ist es geboten, das Ausnahmeregime in den anderen Städten des Kaiserreichs auf Verlangen der Stadtverwaltungen ganz oder in Teilen aufzuheben«.267 Damit hob er nicht nur den Vorschlag einer ebenso radikalen wie umfassenden Gewerbereform auf die Tagesordnung, sondern verschob die Debatte im Conseil d’État ein weiteres Mal. Seine methodische und sorgfältig dokumentierte, auf Überprüfbarkeit achtende Rekonstruktion brachte eine Fülle an Material und sachlichen Informationen in eine »unentwirrbare« Diskussion, die meist mit politischen und wirtschaftheoretischen Prinzipien geführt wurde. Daran mussten sich in den Jahren 1860 bis 1862 erhobene Einwände des Pariser Stadtrats, des Pariser Bäckereisyndikats und des Präfekten des Departements Seine, Haussmann, messen lassen. Dass Kritik an Le Plays Schlussfolgerungen vor allem von diesen Körperschaften und Beamten geübt wurde, zeigt eine Verschiebung der Konfliktlinien an. Pietri, der als Pariser Polizeipräfekt Ende 1857 noch jede Änderung am status quo abgelehnt hatte, war nach dem gescheiterten Attentat Orsinis auf Napoléon III. vom 14. Januar 1858 zurückgetreten und durch Édouard Boittelle ersetzt worden.268 Dieser hatte sich eindeutig auf die Seite der Refor261 Le Play, Boulangerie (II), S. 242. 262 Ebd., S. 17–22. 263 Ebd., S. 111. 264 Ebd., S. 110. 265 Ebd. 266 Ebd., S. 111. 267 Ebd., S. 112. 268 Boittelle, Édouard, in: Robert, Bd. 1, S. 370.

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mer gestellt und in der Anhörung des Conseil d’État am 1. Juli 1859 erklärt, er sähe »nicht mehr Nachteile in der Gewerbefreiheit der Bäckerei als in der Freiheit jedes anderen Gewerbes, vorausgesetzt, es werden einige unerlässliche Vorkehrungen bezüglich des Gewichts, der Fälschung und der Lauterkeit der Geschäfte getroffen«.269 Als der Conseil d’État im Sommer des Jahres 1862 den Beschluss fasste, dem Kaiser die Verkündung der Gewerbefreiheit am 1. Januar 1863 per Dekret vorzuschlagen, spitzte sich der Widerstand zu. Die Pariser Bäcker verfassten eine Petition an Napoléon III. und Ende Oktober 1862 trug Präfekt Baron de Haussmann den Streit mit einem Zeitungsartikel in die Öffentlichkeit.270 Ging dem Präfekten, der mit seinem umfangreichen Memorandum für die Interessen der Bäcker und des Stadtrats eintrat, das Ergebnis des von ihm ursprünglich mitgetragenen Reformprozesses zu weit?271 Die Wortwahl spricht dafür. Die »dogmatischen Partisanen der absoluten Freiheit von Gewerbe und Handel« im Conseil d’État hätten die Angelegenheit der Pariser Bäckerei »sehr von oben herab« behandelt und seien vom »Strom der absoluten Gewerbefreiheit mitgerissen« worden. Dabei hätten sie zwei Dinge übersehen. Zum einen stellten sie die Existenz der Korporation der Bäcker als »Anomalie« in einer auf den Prinzipien der Gewerbe- und Handelsfreiheit beruhenden Gesellschaft infrage, ohne den »politischen Gesichtspunkten« Rechnung zu tragen, die zu ihrer Entstehung beigetragen hätten. Haussmann hob hier darauf ab, dass die »Bevölkerung die Freiheit der Bäckerei nicht gerade herbeisehnt und sich vor diesem neuen Experiment wahrscheinlich erschrecken wird«. Die vom Conseil d’État vorgeschlagene, »sofortige und radikale Aufhebung272 der restriktiven Gewerbeordnung sei »am Vorabend eines großen Wahlkampfes« mindestens nicht opportun, wenn nicht sogar »gefährlich«, würden doch die »Parteien« nur darauf warten, die zu erwartende »Unruhe« auszunutzen.273 Zum anderen hätte der Conseil d’État übersehen, so Haussmann, dass weder die Bäcker noch der Stadtrat die »absolute« Gewerbefreiheit forderten. Haussmanns ausführliche Argumentation machte sich die Position des Pariser Stadtrats zu eigen, dass die Aufhebung des Ausnahmeregimes keineswegs unmit269 Conseil d’État, Boulangerie, S. 515. 270 Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um die Vorlage, die von Präfekt Hauss­ mann, dem Vorsitzenden des Pariser Stadtrats, Dumas, und dem ehemaligen Generalsekretär des Departements Seine im Conseil d’État in Abweichung von den üblichen Verfahrensregeln zur Diskussion gestellt und verteidigt wurde, siehe Le Play, Boulangerie (III), S. 8. 271 Für »extrem seltsam« hielt der Agronom Jean-Augustin Barral den Text in einem Kommentar für die Tageszeitung L’Opinion nationale vom 1.11.1862. Man könne Haussmann gewiss nicht vorwerfen, es mangele seinen »Überzeugungen an Inbrunst« oder es fehle ihm »bei der Verfolgung seiner Projekte die nötige Ausdauer«. Abgedruckt in: Barral, J. A., Blé, S. 80. Dort auch weitere Hinweise auf die sich anschließende öffentliche Diskussion im November 1862. 272 Haussmann, Note (I), S. 2. 273 Ders., Note (suite), S. 1.

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telbar erfolgen konnte, sondern einer gewissen Übergangszeit bedurfte. Diese Position sei durch einen »im Wesentlichen praktischen Grund motiviert: […] um die Pariser Bäcker dem freien Wettbewerb auszuliefern, ist es vor allem unerlässlich, sie in die Lage zu versetzen, ihn auszuhalten«.274 Dazu war Haussmann zufolge eine Maßnahme notwendig, die der Conseil d’État rundweg ablehnte. Die Zahl der Pariser Bäcker sollte erneut reduziert werden, um die verbleibenden Betriebe zu stärken und ihnen zu erlauben, sich lang auf den »Kampf gegen die freie Konkurrenz« vorzubereiten. Zu dieser zehnjährigen Vorbereitung sollte eine Art »Initiation in die Wirkung der Konkurrenz« gehören, indem schrittweise »Hürden abgebaut werden, die [Wettbewerb, d. Vf.] unter den Bäckern mehr oder weniger unmöglich machen«. In einer zweiten Reformphase könnte dann die Bevölkerung an die »Ideen der Ökonomen« herangeführt werden und lernen, dass Brot eine Ware sei wie jede andere. Erst in dieser letzten Phase sollten nach Ansicht Haussmanns und des Stadtrats die Mehlbevorratung, die Brottaxe und das Kompensationssystem der Bäckereikasse abgeschafft werden.275 Le Play nahm in der von Napoléon III. persönlich geleiteten Sitzung des Conseil d’État am 24. Oktober 1862 zu den Beschwerden der Bäcker, des Stadtrats und Haussmanns Stellung. In diesem abschließenden Bericht stand nunmehr die Frage der Staatsräson und des richtigen Regierens in der Bäckereifrage im Mittelpunkt. Le Play entwickelte sein Argument ausgehend von dem Befund, dass die Notwendigkeit des Ausnahmeregimes von Regierenden und Staatsbediensteten meistens auf zweifache Weise begründet werde. Erstens spreche sein mehrere Jahrhunderte dauernder Bestand an sich für seine Brauchbarkeit und Anpassungsfähigkeit, zweitens sichere es dem Pariser Konsumenten günstiges Brot.276 Diese »vermeintliche Wahrheit«, so Le Play, sei zu Beginn der Beratungen im Staatsrat »von allen [sic!] Verwaltungen für bewiesen gehalten, die in die Subsistenzfrage eingreifen«.277 Solange diese beiden Gründe für die Beibehaltung des Ausnahmeregimes für richtig gehalten wurden, hätte es jedem Staatsmann an »Regierungsinstinkt« fehlen müssen, der die vermeintlichen Vorteile dieses Regimes für die Einheitlichkeit der Wirtschaftsverfassung aufgegeben hätte.278 Nun sei der Conseil d’État im Verlauf seiner »beharrlichen Arbeit« in sechsjährigen Beratungen zu dem Schluss gekommen, dass die bisherige Staatsräson jeder »Grundlage entbehre und auf einer falschen Betrachtung der Tatsachen« beruhe.279 Dieses Ergebnis führte Le Play sowohl auf die »regelmäßigeren Gewohnheiten der Regierung« als auch auf die Art des Verfahrens selbst zurück. 274 Ders., Note (I), S. 2. 275 Ebd. 276 Le Play, Boulangerie (III), S. 6. 277 Ebd., S. 13. 278 Ebd., S. 6. 279 Ebd., S. 6 f.

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Denn immerhin sei der Conseil d’État in der Angelegenheit »überhaupt um Rat gefragt« worden – anders als im Jahr 1801, als die Regierung des Ersten Konsuls Napoléon Bonaparte das Ausnahmeregime der Bäckerei hinter verschlossenen Türen und »gegen die Auffassung der kompetenten Behörden« beschlossen habe. Mit dieser versteckten Kritik an der autoritären Regierungsweise Na­ poléon III. verknüpfte Le Play ein zweites Argument. Das Ergebnis sei vor allem aufgrund eines »öffentlichen« und »kontradiktorischen« Verfahrens zustande gekommen. »Wir haben uns mithilfe einer öffentlichen Untersuchung Aufklärung verschafft, d. h. mithilfe jenes Verfahrens, das man als Fundament der britischen Verfassung betrachten kann und das den Institutionen in England soviel Solidität verleiht«.280 Die »Hauptregel« der Untersuchungen sei gewesen, »nichts zu vernachlässigen, was der Wahrheitsfindung dient«.281 In der Demonstration der Ergebnisse, die Le Play anschließend vornahm, wird noch einmal deutlich, dass seine sozialökonomische Arbeitsweise in die Kontroverse zwischen Vertretern der obrigkeitlichen Staatsräson auf der einen und der reinen nationalökonomischen Theorie auf der anderen Seite eine völlig neue Perspektive einführte. Le Play konstruierte gewissenhaft wirtschaftliche Daten, wies soziale Zusammenhänge auf und analysierte Praktiken des Gewerbes. Auf diese Weise konnte er anschaulich vor Augen führen, dass und wie die zahlreichen Missstände im Bäckereigewerbe und im Brotmarkt von Paris mit den restriktiven Strukturen des Sonderregimes und seiner Geschichte zusammenhingen. Charakteristisch für diese Vorgehensweise ist der Vergleich der in Brüssel, London und Paris jeweils gebräuchlichsten Brotsorten. Das »Haushaltsbrot« der ersten beiden Städte sei ein »hygienischeres, nahrhafteres und vollständigeres Lebensmittel« als ihr Pariser Pendant, das Le Play »Gebrauchsbrot« nannte, um seine Besonderheit herauszustellen. Die Eigenschaften dieses Brotes orientierten sich, so Le Play, weniger an den Nahrungsbedürfnissen der Kunden als am Profitstreben der Bäcker, die aufgrund der Brottarife der Taxe mehr Interesse daran hatten, höher taxiertes Weißbrot mit gebleichtem Mehl herzustellen als ein günstigeres »Haushaltsbrot«.282 In seiner Rede zur feierlichen Einweihung des unter Haussmanns Aufsicht angelegten Boulevard du Prince Eugène am 7. Dezember 1862 erklärte Napoléon III. beiläufig, dass »die letzte Diskussion im Conseil d’État ein paar nützliche Reformen in die Bäckerei eingeführt« habe. Im Übrigen sei er entschlossen, »das System der Kompensation mit einigen Änderungen beizubehalten und, je nach Ortschaft, eine offizielle oder eine offiziöse Taxe« einzurichten.283 280 Ebd., S. 7. 281 Ebd., S. 8. 282 Ebd., S. 18–21. 283 Napoléon III., Discours prononcé à l’inauguration du boulevard du Prince Eugène, Paris, 7.12.1862, in: La politique impériale, S. 375. Der Unterschied zwischen offizieller und offiziöser Taxe bestand darin, dass die zweite nicht mehr verpflichtend sein, sondern als verwaltungsinternes Erkenntnismittel dienen sollte, mit dem die Stadtverwaltungen die Preisgestaltung der Bäcker bewerten konnten. Siehe Rouher, S. 308 f.

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An der Beibehaltung der Brottaxe führte zunächst kein Weg vorbei, weil zu ihrer Aufhebung eine Gesetzesänderung notwendig war. Die Regierung wartete außerdem mit der Verabschiedung des Dekrets bis nach den Wahlen zum Corps Législatif am 31. Mai 1863, bei denen sie Sitze an die republikanische und royalistische Opposition abgeben musste. Am 22. Juni 1863 trat das Dekret schließlich in Kraft, dass die Gewerbeordnung in Paris und 163 französischen Städten zum 1. September 1863 aufhob.284 3.2 Die »Ordnung des freien Wettbewerbs«: neue Verhaltensregeln für Bäcker, Beamte und Konsumenten, 1863–1868 Die am 1. September 1863 offiziell in Kraft tretende Reform hob alle Bestimmungen der kaiserlichen Dekrete und königlichen Verordnungen auf, die das Bäckereigewerbe in Paris und 163 weiteren Städten einem Ausnahmeregime unterworfen hatten.285 In einem ausführlichen Bericht begründete der aus dem Amt scheidende Handels- und Landwirtschaftsminister Rouher am 3. Juli 1863 die Leitlinien der neuen Bäckereigewerbepolitik. Schritt für Schritt zählte Rouher zunächst die »Nachteile« der vier wichtigsten Ausnahmeregelungen zur Pflichtbevorratung, zur Begrenzung der Zahl der Bäckereien, zur Bäckereikasse und zur Brottaxe auf. Ließen sich jedoch diese vier Grundpfeiler des Ausnahmeregimes nicht halten, breche es insgesamt zusammen. Das sei umso bedenklicher, so Rouher, weil dieses »System« die Bevölkerung dazu gebracht habe zu glauben, »dass die Regierung und die lokalen Verwaltungen auf die Versorgung und die Brotpreise direkt Einfluss nehmen« können. Deshalb sei das Ausnahmeregime mitnichten eine Garantie für die öffentliche Sicherheit, sondern vielmehr eine »Quelle von Aufruhr und Unruhe«, die »auf der Regierung und den lokalen Behörden eine fürchterliche Verantwortung lasten« lasse. Aus diesen Gründen sei es vorzuziehen, dass sich die Aktivitäten der Kommunalverwaltung grundsätzlich »auf das strikt Notwendige« beschränken, d. h. »auf die Überwachung der Loyalität im Verkauf und der gesundheitlichen Unbedenklichkeit der in Verkauf gebrachten Lebensmittel, die ihnen durch das Kommunalgesetz anvertraut sind«.286 284 Nachdem der 1.  Januar 1863 als Stichtag aufgegeben werden musste, ließ sich auch der 1. April 1863 nicht halten. Ein entsprechendes Dekret hatte Le Play jedenfalls vorbereitet, siehe Le Play, Projet. 285 »Art. 1.  Sämtliche Bestimmungen der Dekrete, Verordnungen oder Generalreglements, deren Ziel es ist, die Zahl der Bäcker zu begrenzen, sie den Syndikaten zu unterstellen, Genehmigungsformalitäten vor Eröffnung oder Schließung ihrer Geschäfte aufzuerlegen, ihnen Mehl- oder Kornvorräte, Sicherheitsdepots oder Geldkautionen abzuverlangen, die Fabrikation, den Transport oder den Verkauf von Brot zu reglementieren, werden aufgehoben. Ausgenommen sind Bestimmungen bezüglich der gesundheitlichen Unbedenklichkeit und Ehrlichkeit im Verkauf«, siehe Journal du droit administratif 9 (1863), S. 310. 286 Rouher, Rapport, S. 306.

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Freilich war mit der Aufgabe weitreichender Eingriffsbefugnisse durch die Kommunalverwaltungen eine neue Betrachtungsweise der Bäckerei verbunden. Das »Regime der Freiheit«, das fortan im Bäckereigewerbe und auf dem Brotmarkt gelten sollte, gründete auf dem »freien Spiel der Konkurrenz«, dem »drängenden Reiz der Einzelinteressen« bzw. auf dem »Kampf aller Interessen«, der sowohl die Variationen der Produkte als auch ihre Qualität steigern sollte. Es sollte nun völlig in der Verantwortung der Bäcker liegen, wie sie ihre Geschäfte führten, auch wenn Rouher zufolge nicht zu erwarten sei, dass der Wettbewerb in Paris »unmittelbar die Ergebnisse zeitigt, die von ihm erwartet werden«. Die Bäcker hätten unter dem Ausnahmeregime althergebrachte »Gewohnheiten und Neigungen« vergessen, die sie nun erst wieder lernen müssten. Das galt in ähnlicher Weise auch für die Verbraucher, auf die der Minister in seinem Bericht nur am Rand einging. Wenn sich im Bäckereigewerbe erst einmal Konkurrenz etabliert habe, würde das Publikum »sich recht schnell daran gewöhnen, in der Variation der Preise nur eine Folge kommerzieller Tatsachen zu sehen«, die mit natürlichen Umständen und Gesetzmäßigkeiten zusammenhingen – und nicht mit der Untätigkeit der Regierung.287 Das bezog sich besonders auf die Brottaxe. Der Minister kündigte zwar an, dass ein Änderungsgesetz umgehend im Corps législatif zur Diskussion gestellt werde. Bis es soweit war, verordnete er den Bürgermeistern auf dem Verwaltungsweg ein »Experiment«. Sie sollten auf die offizielle Preisfestsetzung, die dem »Geist des Gesetzes« nach grundsätzlich »vorläufig« und der Bewältigung »außerordentlicher Situationen« vorbehalten sein sollte, eine gewisse Zeit lang verzichten. Gleichwohl könnten die Verwaltungen weiterhin »zu Vergleichszwecken« die Tarife der Taxe berechnen. Diese »offiziöse« Taxe sollte es der Verwaltung erlauben, die Wirkung der Gewerbereform und des »freien Wettbewerbs« auf die Bäcker, die Brotversorgung und die Preise vor Ort einzuschätzen. Das Handels- und Landwirtschaftsministerium kündigte zugleich die Einsetzung einer Kommission an, an die in regelmäßigen Abständen berichtet werden sollte, um den Fortgang des »Experiments« laufend prüfen zu können.288 Knapp neun Wochen ließ die Regierung den Kommunalverwaltungen Zeit, die Umsetzung der Reform vor Ort vorzubereiten. Wie am Fall der beiden bretonischen Departements Finistère und Ille & Vilaine deutlich wird, gingen die Präfekten – und wohl auch die Regierung – davon aus, dass sich zumindest das Dekret selbst erklärte. Die Präfekten beider Departements forderten die Bürgermeister lediglich in einer kurzen Instruktion auf, dem Reformdekret Folge zu leisten.289 Als Bizet, der Bürgermeister von Brest, Mitte August beim Präfekten um Anweisungen bat, ließ dieser ihm über den Unterpräfekten ausrichten, 287 Ebd. 288 Ebd. 289 ADIV 6M734: Recueil des actes administratives du département d’Ille et Vilaine, n° 11, 1863, ebd.: Préfet d’I&V, an: Maires du dèpartement, 3.7.1863; AMB 4F4.2: Sous-Préfet de Brest, an: Maire de Brest, 7.7.1863.

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er habe ihm »keine spezielle Instruktion zu geben […]. Die Anwendung dieses Dekrets scheint mir nicht so schwierig zu sein«.290 Die Reform erschöpfte sich jedoch nicht einfach in der Streichung jener Gewerbeordnungen, die auf kaiserlichen oder königlichen Erlassen beruhten, wie in Brest. Armand Béhic, der Eugène Rouher im Juli 1863 im Amt des Handelsund Landwirtschaftsministers abgelöst hatte, präzisierte in zwei Instruktionen am 3. und am 22. August 1863, in welchen Bereichen auch in jenen Ortschaften besonderer Handlungsbedarf bestand, in denen kommunale Polizeiordnungen das Gewerbe regelten. Vergleichsweise kurz fiel die Anweisung aus, sämtliche Bestimmungen zu streichen, die bis dahin den Marktzugang »auswärtiger« Bäcker behindert oder de facto unterbunden hatten.291 Diese seien ein »wesentliches Element der neuen Ordnung«, da sie »zum Wettbewerb wirksam beitragen«.292 Dass die Regierung bei der Entstehung von Wettbewerb auf dem Brotmarkt unmittelbar nach Inkrafttreten der Reform vor allem an die Konkurrenz dachte, die sich Bäcker benachbarter Kommunen nun untereinander machen können sollten, wurde auch in der ausführlichen Instruktion zur vorläufigen Aussetzung der Brottaxe bzw. der Umstellung auf eine offiziöse Taxe deutlich. Béhic betonte, es handle sich um ein »Übergangsregime« zwischen der alten Ausnahmeregelung und der neuen »freiheitlichen Ordnung«, das noch vorläufigen, experimentellen Charakter habe. Der Zeitpunkt für das Experiment sei günstig, die Ernte sehr gut ausgefallen, weshalb nicht zu befürchten sei, dass die Bäcker sich untereinander auf höhere Preise verständigten, bevor sich der »Wettbewerb überhaupt organisieren« könnte. Das Wissen darüber, dass die Behörden weiterhin – wenn auch ausschließlich für Zwecke der Marktbeobachtung – eine (offiziöse) Taxe erstellten, die sie bei Bedarf wieder zum amtlichen Tarif machen könnten, reiche im Übrigen aus, das Publikum zu beruhigen. Die Bäcker würden so »genügend unter Druck gesetzt«, um zu verhindern, dass sie aus einer Freiheit »exzessive Vorteile« zu ziehen versuchten, die vielleicht zu Beginn aufgrund der unvollständig organisierten Konkurrenz noch kein notwendiges Gegengewicht habe. Die von Rouher Anfang Juli 1863 noch in Aussicht gestellte regelmäßige Publikation der offiziösen Taxe nahm Béhic jedoch zurück, mit dem Argument, dass sie sich dann in der Wirkung kaum von der offiziellen Taxe unterscheide. Sie würde auf die Bäcker »moralischen Zwang« ausüben und es stünde »zu fürchten, dass unter diesen unwägbaren Bedingungen kein 290 AMB 4F4.2: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Brest, 14.8.1863. 291 Das war in der Tat bis zum Reformdekret ein erhebliches Problem. So trugen etwa zwischen September 1857 und Januar 1860 die Bürgermeister von Brest und Lambézellec, der im Nordosten unmittelbar an das Brester Stadtgebiet angrenzenden suburbanen Kommune, eine Kontroverse aus, der sich am transkommunalen Brothandel entzündete, aber die Verwaltungshierarchie bis zum Handels- und Landwirtschaftsminister einbezog. Im Zentrum der Kontroverse stand die Regulierung des Wettbewerbs auf dem Brotmarkt unter den Bedingungen der Taxierung, siehe die Korrespondenz in ADF 6M952. 292 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Béhic, MACTP, an: Préfets, Boulangerie, exécution du décret du 22 juin: boulangers forains, 3.8.1863.

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Wettbewerb« entstehe, ja er sogar »im Keim erstickt« werde. Die Präfekten wurden angewiesen, ihre »Appelle« zur Mitwirkung an diesem Experiment – und nur darum konnte es gehen – der konkreten Situation vor Ort anzupassen, zumal, wie Béhic durchblicken ließ, damit gerechnet werden musste, dass Bürgermeister und Kommunalverwaltungen durchaus grundsätzlich anderer Auffassung sein konnten.293 Unter Aufsicht der Präfekturen hoben die Bürgermeister spätestens im August 1863 restriktive Verordnungen auf und erließen neue. In den Departements Finistère und Ille & Vilaine strichen bis auf wenige alle Kommunalverwaltungen auch die bestehenden Taxierungsverordnungen.294 An die Stelle der aufgehobenen Gewerbe- und Taxierungsverordnungen trat, wie in Brest und Rennes, nur noch ein einziger Text. Gemessen am Aufwand, den etwa die Kommunalverwaltungen des Finistère in den 1840er und 1850er Jahren bei der Erstellung und Aushandlung der Verordnungstexte mit den Oberbehörden auf sich genommen hatten, verlief der Umstellungsprozess hier vergleichsweise rasch. Die neuen Verordnungen enthielten in der Regel nur noch drei Bestimmungen, die erstens die Konkurrenz durch Bäcker von außerhalb der Stadt zuließen, zweitens die Erstellung der offiziösen Taxe ankündigten295 sowie drittens vorschrieben, dass Brot, dessen Preis nach Gewicht angegeben war, beim Verkauf zu wiegen war.296 Wie sich die Position der Behörden gegenüber dem Bäckereigewerbe und dem Brotmarkt mit Inkrafttreten der Reform und der flankierenden Maßnahmen am 1. September 1863 veränderte, zeigt sich an der nun einsetzenden, regelmäßigen Berichterstattung. In den folgenden Monaten und im Verlauf der Jahre 1864 und 1865 schickten die Präfekten in dreimonatigem Rhythmus Berichte an das Ministerium. Diese Berichte enthielten überwiegend einerseits Informationen über die realen Preise in den Bäckereien im Vergleich zur offiziösen Taxe und andererseits Beobachtungen und Einschätzungen zum Wettbewerbsverhalten der auswärtigen Bäcker.297 Fast durchgängig meldeten die 293 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Béhic, MACTP, an: Préfets, Boulangerie: taxe du pain, 22.8.1863. 294 Redon und Vitré im Departement Ille & Vilaine, siehe Chronique locale, in: Journal de Vitré v. 9.2.1864, S. 3, sowie Morlaix im Finistère, siehe ADF 6M917: Préfet du Finistère, an: Sous-Préfet de Morlaix, Boulangerie/Question de la taxe, 14.1.1864. 295 Einige Verordnungen sahen die regelmäßige Veröffentlichung vor, wie von Rouher in seinem Bericht vom 3.7.1863 angekündigt. Béhic ließ diese Bestimmung wieder streichen, vgl. AMR 5F23: Maire de Rennes, Boulangerie, arrêté, 20.8.1863 und dazu ADIV 6M734: Béhic, MACTP, an: Préfet d’I&V, boulangerie, 11.9.1863. ADIV 6M734: MACTP, an: Préfet d’I&V, mise en pratique de la liberté de la boulangerie, 5.10.1863. 296 Vgl. ADF 6M917: Maire de Brest, Extrait des actes administratifs de la mairie de Brest – Boulangerie, 20.8.1863. 297 Für das Departement Ille & Vilaine: ADIV  6M734: Préfet d’I&V, an: MACTP, 2.2.1864, ebd.: Préfet d’I&V, an: MACTP, 4.1.1864; ebd: Préfet d’I&V, an: MACTP, 2.3.1864, ebd.: Préfet d’I&V, an: MACTP, 4.5.1864, ebd.: Préfet d’I&V, an: MACTP, situation du commerce

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Bürgermeister in der ersten Phase Preise über dem offiziösen Kurs. Auch Konkurrenz durch auswärtige Bäcker war selten, zumal auf dem Land.298 Als Handels- und Landwirtschaftsminister Béhic Anfang Juli 1864 eine erste, auf der Grundlage von Ergebnissen der Beobachtungskommission299 erarbeitete Bilanz der Gewerbereform vorstellte, konzentrierten sich seine Ausführungen vor allem auf die »Frage der Taxe«,300 d. h. ihre übergangsweise erprobte Aussetzung. Davon abgesehen, dass der Bruch mit der vorherigen Ordnung »logischerweise« erst mit einer Gesetzesänderung wirklich abgeschlossen sei, boten »Gewohnheiten und Vorurteile«301 bei allen Beteiligten genügend »ernsthafte Gründe«, bei der Reform dieses »Bereichs unserer Wirtschaftsordnung mit Zurückhaltung vorzugehen«.302 Solange das Recht der Kommunen zur Taxierung bestehen bleibe, könne weder die Bäckerei als freies Gewerbe betrachtet werden, noch würde sich die »irrige Auffassung« in der Bevölkerung auflösen, dass die Brotpreise vom Willen der Behörde abhingen.303 Schritt für Schritt entwickelte Béhic aus einer Kritik der alten Ordnung und der Analyse bereits erzielter Reformergebnisse eine Vision der angestrebten Wettbewerbsordnung auf dem französischen Brotmarkt, die wesentlich stärker von nationalökonomischen Argumentationsweisen geprägt war, als noch Rouhers Leitlinien ein Jahr zuvor.304 In der Analyse des Wettbewerbs war ein libede la Boulangerie, 18.10.1864; ebd.: Préfet d’I&V, an: MACTP, situation du commerce de la Boulangerie, 20.12.1864; für das Departement Finistère: ADF 6M917: Préfet du Finistère, an: MACTP, Boulangerie/taxe du pain/Rapport, 14.11.1863; ebd.: Préfet du Finistère, an: MACTP, Boulangerie/Taxe du pain/Rapport, 26.12.1863; für Brest, siehe AMB 4F4.2: Commissaire central, an: Maire de Brest, 7.9.1863; ebd.: Commissaire central, an: Maire de Brest, 12.6.1865. 298 In Rennes allerdings gründeten Geschäftsleute im Verlauf des Jahres 1864 eine Brotfabrik, siehe hierzu Le Brun, Liberté (I) und dies., Liberté (II). 299 Der per Dekret am 22.8.1863 berufenen Kommission gehörten Politiker und Verwaltungsfachleute an, die bereits an der Ausarbeitung der Gewerbereform mitgewirkt hatten: die Staatsräte Cornudet, Duvergier und Le Play; Dumas, Senator, ehemaliger Handels- und Landwirtschaftsminister sowie Vorsitzender des Pariser Stadtrats; Merruau, Staatsrat und Mitglied des Pariser Stadtrats; Monny de Mornay, Direktor der Landwirtschaftsabteilung des Ministeriums; Simons, Kabinettsleiter des Ministers und Foubert, Leiter des Subsistenzbürs des Ministeriums, der zugleich als Sekretär der Kommission fungierte, siehe Béhic, Rapport, S. 11, FN. Akten dieser Kommission sind im Bestand des Handels- und Landwirtschaftsministeriums, Abt. Subsistenz (AN CHAN F 11), nicht auffindbar. 300 Béhic, Rapport, S. 12. 301 Ebd., S. 9. 302 Ebd., S. 6. 303 Ebd., S. 7 f. 304 Das trifft auch bereits auf seine ausführliche Instruktion vom 10. November 1863 zu, die einige Bürgermeister »zur Ordnung rufen« sollte. Dabei ging es nicht nur um die Taxierung, sondern auch um Bestimmungen bezüglich der Produktion, der Produktgestaltung, des Verkaufs und des Wettbewerbs, siehe AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Béhic, MACTP, an: Préfets, Boulangerie/exécution du décret du 22 juin 1863/taxe du pain, 10.11.1863.

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rales Konzept erkennbar, dass den Brotmarkt jenseits der auf den Staat fixierten Perspektive als soziales Feld mit eigenen Gesetzlichkeiten konstituierte. So sollte etwa die Taxe keine »Zwangsschlichtung zwischen Verkäufer und Käufer«305 mehr sein, sondern ein »rein präventives«306 Kontrollinstrument, dass dazu dienen sollte, »die Bevölkerung mit der Praxis der Freiheit vertraut zu machen«.307 Bemerkenswert ist jedoch vor allem, dass sich diese Analyse nicht mehr nur auf den »Wettbewerbsgeist«308 des Bäckers, auf seine ökonomische Rolle als Konkurrent anderer Bäcker sowie als Produzent und Verkäufer konzentrierte, sondern auch für den Käufer, Kunden und Konsumenten eine aktive Rolle vorsah. »Die Freiheit des Verkäufers«, argumentierte Béhic, »ruft nach der Unabhängigkeit des Käufers«. In den meisten Verwaltungs- und Regierungstexten über den Brotmarkt der 1850er Jahre war der Konsument nur in der Mehrzahl aufgetaucht, als Träger von »Vorurteilen« oder »Befürchtungen«. Das war auch hier der Fall, den Unterschied machte jedoch die Betonung der ökonomischen Funktion, die dem Konsumenten als Figur eine eigene Subjektivität beimaß. Er sollte sich daran »gewöhnen, seine Interessen zu verteidigen, wenn er sein Brot kauft«,309 wenn er den einen Bäcker zu teuer fand, würde es »ausreichen, den Bäcker zu wechseln, um bessere Bedingungen zu erhalten«.310 Der freien Initiative waren hier allerdings Grenzen gesetzt, die es zu überwinden galt: »Die Arbeiterklasse hat sich angewöhnt, ihr Brot auf Kredit zu kaufen. Das verhindert, dass sie Ansätze der Konkurrenz unterstützen können, wenn sie sich zeigen«. Allerdings habe er keinen Zweifel, so Béhic, dass sie »energische Anstrengungen unternehmen werden, um sich von einer ihren Interessen so abträglichen Unterwerfung zu befreien«.311 Der Minister hielt fest, dass das Übergangsexperiment mit der offiziösen Taxe der Auffassung der Kommission zufolge »zufriedenstellende« Ergebnisse gezeitigt hatte und empfahl seine Verlängerung.312 305 Béhic, Rapport, S. 10. 306 Ebd., S. 17. 307 Ebd., S. 9 f. 308 Ebd., S. 27. 309 Ebd., S. 10. 310 Ebd., S. 20. 311 Ebd., S. 26 f. 312 Ende des Jahres 1864 zeichnete eine Auswertung von Berichten der Präfekturen und Oberstaatsanwaltschaften im Justizministerium zur Reform ein weniger optimistisches Bild. Auf dem Land sei Wettbewerb wegen der geringen Geschäftsdichte oft gar nicht möglich. In den Städten orientierten sich die Bäcker an der vormals offiziellen Taxe und schienen ihre Preise abzusprechen. In vielen Großstädten (Troyes, Rouen, Paris, Limoges, Angers, Aix, Bordeaux, Dijon, Metz, Orléans, Toulouse, Poitiers) hatte die Reform diesen Berichten zufolge bis in den Herbst 1864 hinein »keine« oder »kaum greifbare« Folgen gehabt – bzw. »nicht die, die man sich im Interesse der Konsumenten erhofft hat«. Mancherorts stiegen die Preise sogar (Riom, Douai, Orléans, Caen) – »von der Reform profitieren also vor allem die Bäcker, die schon vorher gut bedient waren«. Bei den Zitaten handelt es sich um Exzerpte aus Berichten, die bei der Auswertung der Akten im Justizministerium entstanden, siehe AN CHAN BB 30 366 3: Exécution du décret sur la liberté de la boulangerie, 22.6.1863 (1863–1864).

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Mit der Aufhebung des Ausnahmeregimes und der Brottaxe wurden Bäckereigewerbe und Brotmarkt dem Gemeinrecht unterworfen und der liberalen Wirtschaftsordnung angeglichen. Wie sich nach Inkrafttreten der Reform rasch zeigte, war jedoch nicht in jeder Hinsicht eindeutig klar, was die Anwendung ­gemeinrechtlicher Regeln auf den Brotmarkt bedeutete. Am 11. Mai 1864 brachte Handels- und Landwirtschaftsminister Béhic seinem Kollegen im Justizministerium in einem ausführlichen Schreiben einige gegen Bäcker ergangene Gerichtsurteile zur Kenntnis, die »zwischen unseren Behörden eine Meinungsverschiedenheit darüber erkennen lassen, wie die neue Ordnung anzuwenden ist«.313 In allen drei Prozessen ging es um Bäcker, denen vorgeworfen worden war, Kunden beim Brotgewicht betrogen zu haben – ein auch unter der alten Ordnung und besonders in Teuerungsperioden häufiger Vorwurf.314 Béhic vertrat in seinem Schreiben den Standpunkt, dass alle Bestimmungen, die den Bäckern konkret vorschrieben, welche Form und welches Gewicht zu einem bestimmten Preis verkaufte Brote haben mussten, aufgehoben waren. Es sei nun ausschließlich an den Bäckern und ihren Kunden, sich im Rahmen eines »positiven und frei ausgehandelten Kaufvertrags« über diese Details315 einig zu werden. Die Gerichte hatten jedoch entschieden, dass es sich um einen nach dem Gesetz vom 27. März 1851 strafbaren Betrug handelte, als die Bäcker Brot mit einem Fehlgewicht verkauft hatten, das aufgrund seiner Form und seines Aussehens »dem Brauch nach« ein bestimmtes Gewicht erwarten ließ.316 »Mit der Gewerbefreiheit der Bäckerei«, so Béhic, »scheint mir eine solche Begründung nicht zu vereinbaren und deshalb unzulässig« zu sein.317 Unter der neuen Ordnung sei die »Kundschaft aufgerufen, die Bedingungen des Verkaufs und der Ware frei« auszuhandeln. Sie müsse »daran gewöhnt werden, sich um ihre Interessen selbst zu kümmern und die Verteidigung ihrer Interessen nicht mehr ausschließlich der Behörde zu überlassen«.318 Er überstellte dem Justizministerium in der Anlage seine Instruktionen aus dem Sommer und Herbst 1863 zur Durchführung der Reform. 313 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Béhic, MACTP, an: Baroche, MJ, Boulangerie – exécution du décret du 22 juin 1863 – décisions judiciaires, 11.5.1864. 314 Siehe entsprechende Fälle im Finistére, Herbst 1853, in: ADF 6M947. 315 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Béhic, MACTP, an: Baroche, MJ, Boulangerie – exécution du décret du 22 juin 1863 – décisions judiciaires, 11.5.1864. 316 Die beanstandeten Urteile, die sich das Justizministerium aus den jeweiligen Ressorts zuschicken ließ, siehe in AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Extrait des minutes de la cour de cassation [affaire Beaudet], 12.3.1864; Extrait des minutes du greffe de la cour impériale de Poitiers, 26.12.1863; Extrait des minutes du greffe de la cour impériale de Poitiers, 14.1.1864; PI de Rambouillet, an: MJ, n° 134873, 20.5.1864; Tribunal correctionnel de Rambouillet, Ministère public contre Charbonnier – extrait du jugement du 24 décembre 1863, 24.12.1863. 317 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Béhic, MACTP, an: MJ, Boulangerie – exécution du décret du 22 juin 1863 – décisions judiciaires, 11.5.1864. 318 Ebd.

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Eine Prüfung der beanstandeten Urteile im Justizministerium kam allerdings zu einem ganz anderen Schluss. In den Mittelpunkt der Kontroverse rückte die Frage, was eine vertragliche Übereinkunft genau definierte. Der Handelsminister, so eine Analyse der beanstandeten Urteile, unterscheide zwischen einem »auf einen seit unvordenklicher Zeit bestehenden Brauch« gestützten und einem »echten«, »positiven Kaufgeschäft«.319 Dabei verwechselte er jedoch, so eine weitere Aktennotiz, »die Theorie mit der Praxis«. Für den Umstand, dass Brote mit bestimmtem Gewicht eine bestimmte Form hatten, gab es dieser Notiz zufolge viele alltagspraktische Gründe, die zur Verfestigung der Tradition geführt hatten. Die Argumentation hob auf die bezüglich der genauen Eigenschaften der Ware zwischen dem Bäcker und dem Kunden bestehende Informationsasymmetrie ab, die dann bestand, wenn ersterer ein Brot verkaufte, das zwar die traditionelle Form hatte, aber nicht das ihr entsprechende Gewicht. Der ­Bäcker betrog den Kunden dann »wissentlich«, wenn er ihn über die abweichenden Eigenschaften der Ware (hier das Gewicht) nicht aufklärte. In diesem gemeinrechtlichen Sinn, so der Bearbeiter, hätten »die Gerichte [entschieden], dass die Bäcker eben nicht so frei sind, die Käufer zu betrügen, dass sie das Gewicht bekannt geben müssen, das sowohl die Form als auch der verlangte Preis erwarten lassen. Nichts ist gerechter. Die Bäcker müssen deutlich sagen, zu welchen Bedingungen sie verkaufen wollen und die Gewerbefreiheit wird auch durch die Forderung nicht eingeschränkt, dass eine ausdrückliche vertragliche Übereinkunft erzielt werden muss, wenn mit einer stillschweigend und allgemein akzeptierten vertraglichen Übereinkunft gebrochen werden soll«.320

Die Juristen in den urteilenden Gerichten und im Justizministerium fassten den Rechtsbegriff »vertragliche Übereinkunft« also weiter als der Handels- und Landwirtschaftsminister und bezogen auch implizite Übereinkünfte mit ein, die sich durch alltägliche Abläufe und Gewohnheiten im Laufe der Zeit zur Bräuchen und Traditionen verfestigt hatten. Der Bearbeiter im Justizministerium hob hervor, dass die Brotform als Indikator des Gewichts selbst eine Rationalisierung der Verkaufssituation war. Da Brot als Grundnahrungsmittel in der Regel »frühmorgens und von allen« gekauft werde, sei es aufgrund des großen Andrangs meist unmöglich gewesen, für jeden Kunden einzeln Brot abzuwiegen.321 In seinem Antwortschreiben an den Handels- und Landwirtschaftsminister verwies der Justizminister zudem darauf, dass es sich meistens um »die Frauen und Kinder armer Konsumenten handele, denen […] überdies ihre Situation als Schuldner in Gegenwart ihres Gläubigers nicht erlaubt, ihre Rechte unerbittlich zu diskutieren«.322 Die Kunden hatten also nicht nur Pflichten, 319 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: o.A., note, o. D. [Juni 1864]. 320 Ebd. 321 Ebd. 322 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: MJ, an: MACTP, 16.6.1864. Vgl. auch den weniger konzi­ lianten und nicht abgeschickten Entwurf: ebd.: MJ, an: MACTP, Boulangerie – non adopté, o. D. [Juni 1864].

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sondern auch Rechte – etwa dasjenige, darüber informiert zu werden, wenn der Bäcker Elemente der bisher stillschweigenden Übereinkunft änderte, wohlwissend, dass er es mit Kunden zu tun hatte, die von seinem Wohlwollen abhängig waren. Solange die alten Bräuche noch nicht »zerstört« und durch neue ersetzt seien, so der Justizminister in einer Randglosse, müsse der Bäcker ansagen, zu welchen Bedingungen er verkaufe.323 Diese rechtliche Position war mit dem von Handels- und Landwirtschaftsminister Béhic verfolgten Reformanliegen nur schwer zu vereinbaren. Denn jenseits des Dekrets zur Liberalisierung des Bäckereigewerbes zielte das politische Projekt ja gerade auf eine Reform der ökonomischen Beziehungen zwischen Bäckern und Kunden sowie auf eine Reform der jeweiligen Selbstverhältnisse – des Bäckers wie des Kunden. Die Reform zielte gerade auf die »Zerstörung« der überkommenen Bräuche und »Vorurteile«, die sich während der Existenz des Ausnahmeregimes gebildet hatten. Der von den Gerichten und dem Justizministerium in die Debatte eingeführte Aspekt des Konsumentenschutzes gegenüber Bäckern, die ihre Machtposition ausnutzten, setzte diesem politischen Anliegen jedoch Grenzen, die sich aus der Anwendung des Gemeinrechts ergaben.324 Handelsminister Béhic trug diesen juristischen Einwänden gegen seine Reformpolitik ein Jahr später Rechnung. Um vorab zu der »in dieser wichtigen Angelegenheit so unbedingt wünschenswerten Einheit der Prinzipien« zu gelangen,325 bat er das Justizministerium mit einem Schreiben vom 20. Dezember 1865 um Beratung bei der Erstellung einer weiteren Instruktion bezüglich der »Loyalität im Verkauf«. Im Justizministerium wurden daraufhin die im Jahr 1864 beanstandeten Urteile erneut geprüft. Mit dem gleichen Ergebnis: »Die Rechtsprechung hat sich darauf beschränkt, die exakte Erfüllung auch stillschweigender Übereinkünfte einzufordern«.326 Da Urteile der Cour de ­Cassation Gesetzeskraft hätten, sei an ihnen nicht zu rütteln. Jegliche Kritik müsse aber auch deshalb zurückgewiesen werden, weil Gerichte »das Prinzip der Handelsfreiheit keineswegs verkennen, es vielmehr sehr klug anwenden, indem sie die stillschweigende Übereinkunft der Vertragspartner für gültig erklären und ihre Erfüllung fordern.«327 Des Weiteren wies der Justizminister seinen Kollegen im Handelsministerium am 8. Januar 1866 darauf hin, dass die Bäckerei nach der Gewerbereform rechtlich wie der übrige Lebensmitteleinzelhandel zu behandeln sei. Die an das Gesetz vom 27. März 1851 anknüpfende Recht­ sprechung der Cour de Cassation hatte jedoch eindeutig die Aufklärungspflicht der Gewerbetreibenden gegenüber ihren Kunden unterstrichen. »Es ist an jenen, die Waren ausstellen, sie zum Verkauf anbieten und ihre Preise festlegen, die In323 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: o.A., Note, 17.5.1864. 324 Vgl. Halpérin. 325 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Béhic, MACTP, an: MJ, Boulangerie/fidélité dans le débit et poids du pain, 20.12.1865. 326 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: o.A., note, 26.12.1865. 327 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: MJ, an: MACTP, [Entwurf], 28.12.1865.

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itiative zur Aufklärung der Kundschaft zu ergreifen sowie Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, damit das Gesetz von 1851 nicht auf sie angewandt wird«.328 Auf den Bäcker bezogen bedeute dies, dass dieser »mit in seinem Laden für Alle sichtbaren Aushängen und Tafeln sowie mit unentwegtem Ansprechen und Hinweisen der Kundschaft beweisen muss, dass er den Käufer gerade nicht in dem Irrtum lassen will, ein von ihm seit langem hergestelltes Brot mit bestimmter Form habe noch immer das Gewicht, das es früher stets hatte«.329

Béhic nahm diese Argumente auf. Der veränderte Entwurf seiner Instruktion sah im Februar 1866 vor, dass die Kommunalbehörden ihrerseits durch einen öffentlichen Daueraushang die »Verbraucher in ihren Beziehungen zu den Bäckern anzuleiten« hatten: »Um Schwierigkeiten zu vermeiden, die sich zwischen Verbrauchern und Bäckern bezüglich des Brotgewichts […] ergeben könnten, wird das Publikum darüber in Kenntnis gesetzt: dass Form und Maß eines Brotes nicht auf sein Gewicht schließen lassen; dass der Bäcker zwar nicht gehalten ist, seinen Broten ein festes Gewicht zu geben, dass er sich aber, wenn er den Verbrauchern Brot zu einem bestimmten und vorher bekannten Gewicht verkauft, ohne dass es dieses Gewicht tatsächlich hat, einer Straftat im Sinn des Gesetzes vom 27. März 1851 schuldig macht; dass sich der Käufer, der sich sein Brot nach Gewicht liefern lassen möchte, dies­ bezüglich mit dem Bäcker einigen muss und dass, wenn der Verkauf wie zwischen Verkäufer und Käufer vereinbart nach Gewicht stattfindet, letzterer das Recht hat, zu fordern, dass tatsächlich gewogen wird. In diesem Fall muss der Bäcker entweder ein Brot liefern, dass genau das verlangte Gewicht hat, das Fehlgewicht ergänzen oder den Preis proportional zum Fehlgewicht verringern.«330

Der Justizminister gab sein Einverständnis, warnte allerdings auch, eine solche amtliche Verlautbarung entlasse die Regierung nicht aus der Verantwortung für den Brotmarkt. Das zeigte sich bereits zwei Jahre später, als die Korn- und Brotpreise wieder stiegen. In Brest warnte Ende August ein pensionierter Offizier den Bürgermeister, dass es wohl besser sei, die offizielle Taxe wieder einzuführen.331 Und nur zwei Tage zuvor hatte den Bürgermeister ein anonymer Brief erreicht, der diese Warnung nur allzu berechtigt erscheinen ließ. »Ein Angestellter«, schrieb dem Beamten stellvertretend für die Arbeiter des Brester Marinearsenals: »Mehrere Stadtverwaltungen haben die Brottaxe wieder eingeführt. Das gegenseitige Einverständnis unserer Bäcker, den Brotpreis jenseits jedes vernünftigen Verhältnisses zu den Korn- und Mehlpreisen zu halten, regt mich dazu an, die Aufmerksamkeit unseres ersten Amtsträgers zu suchen. Die Arbeiterklasse murrt über die Spielräume, 328 AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: MJ, an: MACTP, 8.1.1866. 329 Ebd. 330 Ebd. 331 AMB 4F4.2: Kirinu, officier retraité, an: Kerros, Maire de Brest, 27.8.1868.

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die unseren Bäckern, die sie seit langem ausbeuten, gelassen werden und schreiben Ihnen die Verantwortung dafür zu, klagen Sie – wahrscheinlich zu Unrecht – an, weil Sie selbst Geschäftsmann sind. Die Mehrheit schreckt davor zurück, Ihnen ihre Beschwerden vorzutragen, weil sie im Staatsdienst steht.«332

Tatsächlich blieb die Gewerbereform der Bäckerei, die das Zweite Kaiserreich mit so viel Aufwand betrieben hatte, letztlich unabgeschlossen. Das Recht der Kommunalverwaltungen auf die amtliche Taxierung des Brotes blieb nicht nur während der 1860er Jahre, sondern auch unter dem Nachfolgeregime, während der Dritten Republik unangetastet. Viele Städte machten von diesem Recht auch weiterhin Gebrauch.333 Zudem wurden in der finalen Regimekrise nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871, der Belagerung von Paris und den Tagen der Pariser Commune in vielen Bereichen erneut administrative Mechanismen der Mangelbekämpfung wirksam, die traditionell der Staatsaufgabe Subsistenz zugerechnet wurden. Lebensmittel wurden rationiert und Brot- bzw. Fleischpreise festgesetzt. In dieser letzten Subsistenzkrise des Zweiten Kaiserreichs wurde die Rolle der neuen naturwissenschaftlich-medizinisch ausgebildeten Lebensmittelexperten sichtbar, die Ratschläge für die individuelle Ernährung erteilten.334 Subsistenzpolitisch stellten die 1850er und 1860er Jahre in mehrfacher Hinsicht eine Übergangsphase dar. Erstmals gelang es einem postrevolutionären Regime in Frankreich, vergleichsweise ausgedehnte Teuerungsphasen zu überstehen, ohne in großem Umfang militärisch gegen Hungerprotestler vorgehen zu müssen. In offener Abgrenzung zur Julimonarchie setzten Regierung und Behörden des Zweiten Kaiserreichs vor allem auf frühzeitige Krisenprävention. Deutlichste Manifestation dieses Umdenkens ist die Einrichtung der Caisse de service de la boulangerie, die den Kompensationsmechanismus früherer Teuerungsphasen mithilfe finanztechnischer Mittel rationalisierte. Auch wenn bis 1863 mit Limoges nur eine einzige weitere Kommune eine solche Ausgleichskasse aufbaute,335 bezeugen die vielen Projektentwürfe in anderen Provinz­ städten das präventive Regierungsprogramm ebenso wie die Aufstockung und Vereinheitlichung der Pflichtvorräte der Bäcker oder die Konzepte zum flächendeckenden Aufbau von Kornspeichersystemen. 332 AMB 4F4.2: un employé, an: Kerros, Maire de Brest, 25.8.1868. 333 Zum Stand im Jahr 1887, als in Rennes erneut über die Brottaxe diskutiert wurde, siehe AMR 5F23: Bourgonnier, Étude comparative sur la réglementation de la boulangerie, la taxe et le prix du pain à Rennes et dans les principales villes de France. Octobre et Novembre 1887. 334 Die Brottaxe wurde in Paris am 21.9.1870 wieder eingeführt, siehe Clamageran; Onimus; Riche; Sée; auch ein früher Vertreter der Kältetechnik machte von sich reden: Tellier; für einen zeitgenössischen Überblick, siehe Audiganne; Duroselle. Vgl. zum Ende des Zweiten Kaiserreichs Dalotel u. a.; zur Pariser Commune siehe Haupt u. Hausen. 335 Siehe Rouher, Rapport, S. 298.

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Die um 1860 obrigkeitsstaatlich verordnete Liberalisierung des Kornaußenhandels, des Bäckereigewerbes und des Brotmarktes stieß auf zahlreiche Widerstände sowohl in der Regierung und den Behörden selbst wie in den agrarisch geprägten Bevölkerungsteilen, auf die sich das Regime stützte. In vieler Hinsicht erinnern die gegen die Reformen vorgebrachten Argumente an moral­ ökonomische Vorbehalte gegen das eigennützige Profitstreben, dem die Befürworter jedoch gerade die Lösung der Subsistenzfrage anzuvertrauen gedachten. Diese Vorbehalte manifestierten sich in der moralischen Verurteilung von Kornspekulanten während der Teuerungsphase der 1850er Jahre ebenso wie in den amtlichen Begründungen für restriktive Gewerbeordnungen und Taxierungsverordnungen. Auf dieser Ebene ist ein Prozess der Rationalisierung moralökonomischer Einwände zu Elementen der auf Prävention ausgerichteten imperialen Staatsräson zu erkennen. Wenn der Staat in der Teuerung die Handelsfreiheit sicherte, so die implizite Übereinkunft, dann sollten die Händler sich in ihrem Profitstreben freiwillig Zurückhaltung auferlegen. In dieser Perspektive stellte die Liberalisierung des Bäckereigewerbes und die Aussetzung der kommunalen Brottaxierung nur insofern einen Bruch dar, als sie von den Bäckern Wettbewerbskompetenzen verlangte und von den Kunden die selbstbewusste Vertretung ihrer Interessen. Das ›asketische‹ Staatsverständnis, das den Reformern vorschwebte, war in den 1850er Jahren allerdings bereits eingeübt worden.

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V. Staatsaufgaben für die ›Normallage‹: semantische Konturen des Politikfelds »Subsistenz«, 1860–1910

Rechtliche Vorkehrungen und administrative Maßnahmen, die sich weder auf Zeiten des akuten Kornmangels noch auf die Prävention von Kornteuerungen bezogen, sondern der »Sicherstellung der Lebensmittelreinheit und Vertragstreue beim Lebensmittelverkauf«1 dienten bzw. die »Betrugsbekämpfung im Lebensmittelhandel«2 regelten, traten in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts immer stärker in den Vordergrund des Subsistenzthemas. In der Systematik des verwaltungswissenschaftlichen Konzepts zielten sie nicht auf bereits eingetretene oder zu vermeidende Ausnahmezustände, sondern auf die »Normallage«  – mithin auf den Alltag der Lebensmittelproduktion, -vermarktung und -versorgung. Die semantische Variation zwischen »Sicherstellung der Lebensmittelreinheit und der Vertragstreue« im Dictionnaire de l’administration française seit 1856 einerseits und der deutlich proaktiveren Formel »Betrugsbekämpfung im Lebensmittelhandel« im Repertoire du droit administratif im Jahr 1910 andererseits kündigt an, dass auch in diesem Bereich des Regierungswissens in der Subsistenzfrage erhebliche konzeptionelle Verschiebungen stattfanden. Im Folgenden wird deshalb der Frage nachgegangen, auf welche Weise sich der (strafrechtliche)  Begriff »Betrug« bzw. »Betrugsbekämpfung« im Begriffsfeld Subsistenz durchsetzte und welche Konsequenzen sich daraus für die Rationalität des Regierens in der Subsistenzproblematik ergaben. Im Hinblick auf die formale Ausprägung und diskursive Vernetzung der einschlägigen Wissenspartikel in den untersuchten Nachschlagewerken ist hervorzuheben, dass jenseits der Ausdifferenzierung der einzelnen Wissensordnungen und ihrer aufeinanderfolgenden lexikalischen Fassungen die Formierung eines stabilen Zusammenhangs zwischen »Fälschung« (falsification3; sophistication4), »Veränderung« (altération5) und »Betrug« (tromperie6; fraude7) zu beobachten 1 Foubert, Subsistances (1856), S. 1488. 2 Lelong, Subsistances (I), S. 551. 3 Falsifications de boissons et de denrées, faux poids et fausses mesures, in: Dictionnaire de police, S. 147–150; Mangin, S. 1192–1194; Desclozeaux, Falsifications, S. 150–153; Laumonier, Falsifications, S. 153–158. 4 P[érier], Sophistication, S. 1140 f. 5 Laumonier, Falsifications, S. 153–158. 6 G[onse], S. 1242. 7 Blanc u. Toubeau, S. 116–156.

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ist. Dieses konzeptionelle Feld stellte die Leitsemantiken und die konzeptionellen Rahmungen zur Verfügung, auf die sich die Diskussion und Reflexion der rechtlichen Vorkehrungen und staatlichen Eingriffsmodalitäten im ›Normalfall‹ bezogen.8 Die verwaltungswissenschaftlichen Lexika ordneten diesen Zusammenhang zwar dem Lemma Subsistenz zu, führten aber meist auch eigenständige Einträge. Sie gliederten das Unterthema also aus und schrieben ihm damit zunehmend eine Bedeutung zu, die in der Ordnung des verwaltungswissenschaftlichen Wissens auf einer Ebene mit dem Subsistenzthema selbst stand. In der Ordnung des – theoretischen wie praktischen – ökonomischen Wissens fehlte die Kopplung mit dem (gar nicht vorhandenen) Subsistenzthema; stattdessen ist gerade in diesem Bereich zu beobachten, dass ausgehend vom Fälschungs- und Betrugsthema ein ständig erweitertes Netz aus Verknüpfungen mit anderen Gegenständen entstand  – zu einzelnen Lebensmitteln, Dingen, Stoffen, Produktions- und Prüfverfahren ebenso wie etwa zum »Wettbewerb«, genauer: zum »unlauteren Wettbewerb«.9 Einträge zum Zusammenhang »Fälschung« und »Betrug« finden sich im Materialsample lediglich in verwaltungswissenschaftlichen und ökonomischen Nachschlagewerken sowie in Lexika des allgemeinen Sprachgebrauchs. Die Titel der Einträge waren nicht eindeutig, im Gegenteil. Zwei Tendenzen sind erkennbar: auf der einen Seite gab es im verwaltungswissenschaftlichen Wörterbuch eine eng an die Semantik der Gesetzgebung angelehnte Bezeichnung: Das Dictionnaire de police von Pionin enthielt 1855 einen Eintrag »Fälschungen von Getränken und Lebensmitteln, falsche Gewichte und Maße«,10 der Wort für Wort den Titel des Gesetzes vom 27. März 1851 aufnahm; das von Block herausgegebene Dictionnaire de l’administration française führte seit der Erstauflage 1856 einen Leerverweis »Getränke- und Lebensmittelfälschung: siehe Subsistenz«.11 Die in der Regel kurzen Artikel sprechen dafür, dass Fälschung in den 1850er Jahren nicht per se Gegenstand des Verwaltungswissens war, sondern lediglich rechtliche Aspekte der Lebensmittel- und Getränkefälschung sowie der Fälschung von Gewichten und Maßen. Das 1873 erschienene Répertoire général d’administration municipale et départementale enthielt dagegen bereits zwei Einträge zum selben Gegenstand: im Lemma »Täuschung über die verkaufte Ware«12 tauchte das Wort »Täuschung« explizit auf – hier in Anspielung an die ›Sicherstellung der Vertragstreue‹, während sich der Eintrag mit der Bezeich8 Vgl. Das »Dictionnaire des altérations et falsifications des substances alimentaires, médicamenteuses et commerciales avec l’indication des moyens de les reconnaître« von Auguste Chevalier wurde zwischen 1850/52 und 1893/97 insgesamt sieben Mal überarbeitet, erweitert und neu aufgelegt, siehe Chevalier. 9 Huard, Concurrence, S. 981–984. 10 Falsifications de boissons et de denrées, faux poids et fausses mesures, in: Dictionnaire de police. 11 Dictionnaire de l’administration française (1856), Bd. 1, S. 837; Dictionnaire de l’administration française (1877), Bd. 1, S. 962. 12 G[onse], S. 1242.

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nung »sophistications«13 ganz allgemein auf eine mehr oder weniger »kunstvolle Veränderung« von Produkten bezog. Auf der anderen Seite existierten in den untersuchten Nachschlagewerken des praktischen Handelswissens meist ausführlichere Einträge mit allgemeineren Titeln. Das Dictionnaire universel théorique et pratique du commerce führte 1859 einen Eintrag »Fälschungen«;14 das Dictionnaire du commerce et de l’industrie et de la banque von 1901 ebenfalls;15 dieses Wörterbuch enthielt zudem einen Eintrag »Fälschung und Veränderung von Nahrungsmitteln«.16 Schließlich führte das Répertoire du droit administratif im Jahr 1910 einen langen Eintrag zu »Geschäftsbetrug, Verkauf gefälschter Stoffe«.17 Dieser Titel verknüpfte »Geschäftsbetrug« nicht mehr nur mit der Fälschung von Lebensmitteln und Getränken, Gewichten und Maßen, sondern allgemeiner mit der Fälschung von »Substanzen«. Interessanterweise spielten »Fälschung« und »Betrug« in der ökonomischen Theorie gar keine eigenständige Rolle. Weder das ab 1852/53 in mehreren Auflagen erscheinende Dictionnaire de l’économie politique noch das 1900 herausgegebene Nouveau dictionnaire de l’économie politique wiesen entsprechende Artikel auf.18 Auf der formalen Ebene der Titel und der Wissensordnungen zeichnet sich also ab: Auf der einen Seite handelte es sich um einen sukzessive erweiterten, vor allem strafrechtlich relevanten Sachverhalt, auf der anderen Seite um ein vor allem in der kommerziellen Praxis auftretendes Problem. Diese Spannung zwischen rechtlichen Vorschriften und ihrer Geschichte sowie der historischen Entwicklung der Handelspraktiken prägte den Fälschungsdiskurs der untersuchten Wörterbücher. Die um die Jahrhundertwende in Länge, Ausführlichkeit und Komplexität zunehmenden Artikel zeugen davon, dass sich dieser Bereich des Subsistenzwissens in seiner Form und seinen Inhalten ständig im Fluss befand und enorm an Bedeutung gewann. In den meisten Fällen stellten die Autoren ihren Ausführungen eine Definition voran, problematisierten den Gegenstand und gingen nach einer kurzen Darstellung der allgemeinen Gesetzeslage und ihrer historischen Entwicklung auf aktuelle Regelungen für bestimmte Fälschungsdelikte bzw. Produktfälschungen ein. Dabei zeichnete sich ab den 1870er Jahren eine Aufteilung des Gegenstands ab – in von Juristen oder Ökonomen behandelte rechtliche Aspekte des Betrugs einerseits welche von Juristen oder Ökonomen behandelt wurden, sowie in naturwissenschaftliche Aspekte der Fälschung andererseits, die von Chemikern oder Physiologen dargestellt wurden. In diesem heterogenen Wörterbuchdiskurs über den Zusammenhang von Produktfälschung und Betrug der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind drei charakteristische Tendenzen auszumachen: Erstens eine Differenzierung zwi13 P[érier], Sophistication, S. 1140 f. 14 Mangin, S. 1192–1194. 15 Desclozeaux, Falsifications, S. 150–153. 16 Laumonier, Falsifications, S. 153–158. 17 Blanc u. Toubeau, S. 116–156. 18 Vgl. Dictionnaire de l’économie politique, Bd. 1; Nouveau dictionnaire d’économie politique, Bd. 1.

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schen Fälschung, Betrug und Produktveränderung, die vor allem im Handelswissen vorangetrieben wurde. Zweitens die Problematisierung der Rolle insbesondere chemischen Wissens sowohl in der Veränderung von Produkten und Stoffen als auch in der Ermittlung solcher Veränderungen. Und drittens eine allgemein geteilte Klage über die unzureichende Rechtsgrundlage für die Verfolgung von »unlauterem Wettbewerb« und die Bestrafung von Produktfälschung als Betrug.

1. Produktfälschung und Produktveränderung Die Definition der Fälschung erfolgte in den untersuchten Lexika nicht einheitlich. Verwaltungswissenschaftliche Nachschlagewerke der 1850er bis 1870er Jahre beschränkten sich darauf, die speziellen strafrechtlich relevanten Veränderungen von Lebensmitteln, Getränken sowie der für den Verkauf relevanten Gewichte und Maße als Delikte auszuweisen. Die Einträge im Dictionnaire de police aus dem Jahr 1855 oder im Répertoire général d’administration municipale et départementale von 1873 waren von Juristen verfasst. In letzterem Wörterbuch orientierte sich die Aufteilung des Gegenstands auf zwei Artikel – »sophistication« und »Täuschung über die verkaufte Ware« – an der geläufigen Auffassung der sozioökonomischen Arbeitsteilung. Während sich die Ausführungen zu »sophistication« auf Veränderungen im Produktions- und Zubereitungsprozess bezogen, behandelte der Text zu »Täuschung über die verkaufte Ware« lediglich Fälschungen, die während des Handels und der Vermarktung auftraten. Diesbezüglich wurde zwischen »Mengentäuschung« (tromperie sur la quantité) und »Qualitätstäuschung« (tromperie sur la nature) unterschieden – womit im ersten Fall die genannten Abweichungen der Einwaage und Abmessung, im zweiten Fall das Anbieten und der Verkauf verdorbener, gefälschter oder schädlicher Ware gemeint war, aber auch Marken-, Herkunfts- und sogar Geldfälschung.19 Der Eintrag »Fälschung« von Arthur Mangin im Dictionnaire universel théorique et pratique du commerce et de la navigation von 1859 sowie spätere Artikel in handelswissenschaftlichen Wörterbüchern gingen in ihrer Behandlung des Themas über rechtliche Aspekte hinaus. Mangin unterschied nach ihrem Gegenstand systematisch drei Gruppen von Fälschungen: Geldfälschung, Markenfälschung und Lebensmittelfälschung, um sich in seinem Text ausschließlich der letzten Gruppe zu widmen. Hier entwickelte er wiederum vier Aspekte oder vielmehr Perspektiven, aus denen das Thema behandelt werden könne: Erstens die geschichtliche Entwicklung, zweitens die Gesetzgebung, drittens Moral, Handelsgebräuche und die »gewöhnlichen« Beziehungen zwischen Verkäufer und Käufer und viertens die Wissenschaft. Für den letzten Aspekt verwies Mangin auf eigenständige Einträge zu einzelnen Produkten und Stoffen, 19 G[onse], S. 1242.

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wo die jeweiligen Fälschungsarten behandelt wurden sowie »die einfachsten und gebräuchlichsten Mittel zu ihrer Entdeckung«. Außerdem wies er an dieser Stelle auch auf Einträge zu den einzelnen Apparaturen hin, »die zur Prüfung von Reinheit und Qualität der am meisten gebrauchten Produkte benutzt werden«. Der Einbau entsprechender Abschnitte über die Fälschungsarten und Fälschungsnachweise in die Einträge zu konkreten Produkten wie Brot, Wein, Butter, Milch u. a. zeigt, dass Fälschung als Normabweichung verstanden wurde. Die Liste der abweichenden Eigenschaften implizierte die Festlegung derjenigen Eigenschaften, die beispielsweise Butter haben musste, um als Butter gelten zu können.20 Im Folgenden widmete sich Mangin deshalb im Eintrag über Fälschung der geschichtlichen Entwicklung, der Gesetzgebung und den moralischen Aspekten der Handelssitten und Vertragsbeziehungen.21 Die beiden Einträge des im Jahr 1901 erschienenen Dictionnaire du commerce et de l’industrie et de la banque teilten den Gegenstand in seine rechtlichen und wissenschaftlichen Aspekte auf. Der Artikel »Fälschungen« zur rechtlichen Dimension der Problematik, welcher von dem für die Fachzeitschrift Moniteur viticole als Redakteur tätigen Pariser Juristen Jean Desclozeaux verfasst worden war, näherte sich dem Phänomen nicht über die Fälschung, sondern über den Betrug: Fälschung sei nur eine von mehreren, jedoch die hauptsächliche Form des Betrugs im Handel mit Produkten. »Die Existenz einer fremden Substanz in einem Nahrungsmittel, die seine Eigenschaften verringert oder abschwächt, stellt einen Umstand dar, der vom Gesetz belangt wird, wenn der Richter in der hergestellten Beimischung eine betrügerische Absicht erkennt.«22 Zur Unterstützung dieser Definition führte Desclozeaux die Rechtsprechung an, die den Fälschungsbegriff präzisiert hatte. Eine Fälschung sei nicht nur die Beimischung von fremden Stoffen, sondern auch der Entzug von Substanzen aus Lebensmitteln, die diese im Reinzustand enthalten sollten; auch die Veränderung des Aussehens (physiognomie) eines Produktes zur Verschleierung seiner schlechteren Qualität sei strafbar; Fälschung könne selbst dann vorliegen, wenn die verwendeten Stoffe nicht schädlich seien, wie bei der Streckung von Wein mit Wasser. Diese Wein-Wassermischung sei nicht im positiven Sinn schädigend, sondern im negativen Sinn, insofern dem Wein ein Teil  seiner »Stärkungswirkung« entzogen werde, den er laut Preis und Bezeichnung haben sollte. Desclozeaux identifizierte folglich zwei Elemente, die für die strafrechtlich relevante Bestimmung einer betrügerischen Fälschung vorliegen mussten: erstens die Veränderung des Produkts und zweitens die betrügerische Absicht des Verkäufers. Ohne letztere liege keine justiziable Fälschung vor. Desclozeaux zufolge pönalisierte das Gesetz also nicht Veränderungen als solche. Vielmehr müsse der Richter die Absichten, die Gutgläubigkeit und eventuell vorhandene Entlastungsgründe des Verkäufers prüfen. Strafbar waren die 20 So auch Tardieu, Falsifications, S. 264. 21 Mangin, S. 1192–1194. 22 Desclozeaux, Falsifications, S. 150–153.

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genannten »Manipulationen« ihm zufolge dann nicht, wenn sie deutlich kommuniziert wurden, aus produktionstechnischen Gründen unumgänglich oder lokalen Bräuchen geschuldet waren. Außerdem musste der Verkäufer, um sich strafbar zu machen, von der Fälschung Kenntnis haben. Aufgrund dieser, an die Gesetzeslage und die Rechtsprechung anschließenden Überlegungen präzi­sierte Desclozeaux seine ursprüngliche Definition: »Eine Fälschung liegt bei einer kalkulierten und verborgenen Manipulation vor, in deren Ergebnis der intrinsische Wert der Ware verringert wird und so dem Käufer ein Schaden entsteht«.23 Der Zweck dieser Argumentation, die nicht per se die Produktvariation, sondern die betrügerische Absicht problematisierte, erschloss sich im zweiten Abschnitt des Artikels noch deutlicher: die Rehabilitierung von Veränderungen bzw. von innovativen Produktvariationen. Desclozeaux unterschied zwischen erlaubten und verbotenen Änderungen und merkte an, wie »schwierig« es sei und wie viel »Umsicht« es bei der Strafverfolgung von Fälschungen bedürfe. Fehleinschätzungen könnten dabei sowohl im Hinblick auf die Fälschung selbst wie im Hinblick auf die betrügerische Intention unterlaufen: Trotz des wissenschaftlichen Fortschritts könnten »erlaubte und sogar nützliche Änderungen mit verbotenen verwechselt« werden; ebenso leicht könne man auf betrügerische Absicht zurückführen, was dem »natürlichen Verfallsprozess« der Ware geschuldet sei.24 Der Parallelartikel »Fälschungen und Veränderungen von Nahrungsmitteln«, welchen der auf Ernährung spezialisierten und durch entsprechende Publikationen ausgewiesene Physiologe Jean Laumonier verfasst hatte, widmete sich der wissenschaftlichen Dimension der Lebensmittelfälschung. Anders als in früheren Wörterbucheinträgen wurde für die konkrete Fälschung also nicht auf Einträge zu einzelnen Produkten verwiesen, sondern eine Liste mit den wichtigsten Waren und ihren speziellen Fälschungsweisen zusammengefasst. Für diese Bündelung gab es einen Grund: »Ich beschäftige mich hier nur mit den wesentlichen Merkmalen der wichtigsten Veränderungen und Fälschungen, so dass der Konsument sie selber erkennen kann«.25 Die zusammenfassende Darstellung sollte der Aufklärung des Verbrauchers dienen. Es sei ja, so Laumonier weiter, »völlig überflüssig, auf die hygienische Bedeutung von strikt gesunden, natürlichen Lebensmitteln und auf die schwerwiegenden Nachteile hinzuweisen, die für die öffentliche Gesundheit aus den unzähligen Panschereien [adultérations] erwachsen können, die unsere Lebensmittel leider heute erfahren«.26

Es folgte eine Liste und Darstellung der geläufigsten Fälschungsarten von zwanzig einzelnen Lebensmitteln, die erneut unterstreicht, dass die zu sichernde »Reinheit« von Lebensmitteln nicht nur das Ergebnis der Festlegung von posi23 Ebd. Im Hinblick auf Innovation war die Unterscheidung zwischen strafbarer Fälschung und Produktvariation fundamental, vgl. Stanziani, Histoire und Dessaux. 24 Ebd. 25 Laumonier, Falsifications, S. 153–158. 26 Ebd.

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tiven Eigenschaften war, sondern ebenso des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchernden Fälschungsdiskurses.27 Der umfangreiche Text der beiden Chemiker Charles Blanc und Maxime Toubeau sparte sich – wie alle hier untersuchten verwaltungswissenschaftlichen Texte – eine Definition des Phänomens. Sein Aufbau folgte einem auf das Gesetz von 1905 bezogenen Vorher-Nachher-Schema. Nach einer Darstellung der historischen Entwicklung der Gesetzeslage bzw. der Rechtsprechung zum Phänomen bis zur Verabschiedung dieses Gesetzes folgte die ausführliche und detaillierte Diskussion und Kommentierung der einzelnen Paragraphen, der Ausführungsbestimmungen sowie der seit den späten 1880er Jahren verabschiedeten Sondergesetzgebung für einzelne Produkte. Der Text wies eine zweite Besonderheit auf: die Ausführungen befanden sich unter dem Lemma »Verkauf«. Dieses Wissen bezog sich auf die Angebotsseite des Marktes.

2. Ambivalenz des naturwissenschaftlichen Wissens Den meisten hier untersuchten Texten war der Hinweis auf die Ambivalenz naturwissenschaftlichen, insbesondere chemischen Wissens gemeinsam. »Man kann nicht leugnen«, notierte Arthur Mangin im Jahr 1859, »dass sich der Brauch, Waren künstlich zu verändern bzw. Ausschussware als Ware guter Qualität zu verkaufen, heute in beunruhigendem Maß allgemein verbreitet hat. Und was noch schlimmer ist: Er hat ein hohes Maß an Perfektion erreicht; gefälscht wird nicht mehr so grob wie früher, sondern auf gelehrte – was sage ich: auf wissenschaftliche Weise. Diese Kunst kennt keine Grenzen mehr«.28

Der Eintrag im Dictionnaire de police von 1855 zitierte gleich im ersten Satz den Chemiker Anselme Payen, von dem eine seit ihrer Erstausgabe 1854 immer wieder erweiterte, neu aufgelegte und bis in die 1880er Jahre einflussreiche Abhandlung über Lebensmittelfälschung stammte,29 als Referenz für die Behauptung, dass sich Fälschungen nicht mehr nur auf Flüssigkeiten erstreckten, sondern in »fast alle Nahrungsmittel eingeschlichen« hätten.30 In ihrer Diskussion der Entstehungskontexte des Gesetzes von 1905 argumentierten auch Blanc und Toubeau im Jahr 1910, dass die Fortschritte der Agrarchemie nicht nur die Arbeit des Produzenten erleichtert und zu Gunsten des Konsumenten die Lebensmittelpreise gesenkt hätten. 27 Zum Zusammenhang von wissenschaftlicher Fälschung und Aufklärung des Konsumenten auch Mangin, S. 1193. Zum Fälschungsdiskurs vgl. Stanziani, Histoire; Hierholzer. 28 Ebd. (Herv. d. Vf.). 29 Payen. 30 Falsifications de boissons et de denrées, faux poids et fausses mesures, in: Dictionnaire de police, S. 147.

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»Sie haben vor allem den Betrügern genutzt, die diese Fortschritte der Agrarchemie auf kunstvolle Weise ausbeuten, um ihre Betrügereien noch weniger greifbar und die Fälschungen noch schädlicher für die öffentliche Gesundheit zu machen.«31

Die Feststellung, dass sich die Produktfälschung zunehmend verwissenschaftlichte, führte in einigen Fällen zu ambivalenten Reflexionen über die Rolle der Chemie, der Publizität chemischen Wissens und der Experten mit chemischen Fachkenntnissen. So stellte etwa Mangin die Frage: »Ist die Chemie unmoralisch und schädlich, weil unehrliche Leute sie dazu benutzen, den Konsumenten zu betrügen?« Nein, lautete seine Antwort, denn Wissenschaft sei in sich selbst weder gut noch schlecht, vielmehr komme es auf ihren jeweiligen Gebrauch an. Wenn sich »Spitzbuben« dieses Wissen erfolgreich zunutze machten, dann seien die Konsumenten selbst schuld. Sie sollten es sich im eigenen Interesse zur Pflicht machen, sich ihrerseits zu informieren.32 Man konnte chemisches Wissen also auf gegensätzliche Weise einsetzen: Zur besonders kunstfertigen, da mit herkömmlichen Mitteln kaum zu entdeckenden Fälschung einerseits und zur gelehrten Aufklärung des Konsumenten und zur Ermittlung der wissenschaftlichen Fälschungen andererseits. Diese »gute« Expertise wurde für die rechtliche Bewertung wie für die polizeiliche Ermittlung im Deliktfall unabdingbar. Bereits im Jahr 1855 legte das Dictionnaire de police als »Verhaltensregel« nahe, es sei »offenkundig, dass der Beamte, der die Fälschung eines Getränks, eines Nahrungsmittels oder Medikaments feststellen soll, nicht ohne einen sachkundigen Mann oder einen Chemiker vorgehen kann, den er in solchen Fällen hinzuziehen muss.«33 Ohne chemisches Wissen, ohne Kenntnis sowohl der chemischen Zusammensetzung der Produkte und Lebensmittel wie der geeigneten Prüfverfahren und Apparaturen, so auch Desclozeaux, sei es den Staatsdienern kaum möglich, »erlaubte« von »verbotenen« Änderungen zu unterscheiden.34 Mangin zählte 1859 eine ganze Reihe von Apparaten auf, die zur chemischen Prüfung des Gehalts an einzelnen Stoffen eingesetzt wurden,35 deren Zweck und Verwendungsweise im Dictionnaire universel théorique et pratique du commerce mit eigenen Einträgen bedacht wurden. Von Desclozeaux stammte des Weiteren der Eintrag »Verkostung« im 1901 erschienenen Dictionnaire du commerce et de l’industrie et de la banque. Dieses organoleptische, d. h. auf Sinneseindrücke gestützte und deshalb von ihm selbst als »unwissenschaftlich« kritisierte Verfahren zur Lebensmittelprüfung konnte auch von Beamten eingesetzt werden, die nicht über chemische Fachkenntnisse verfügten und wurde entsprechend von Lebensmittelinspektoren vor Ort verwendet.36 31 Blanc u. Toubeau, S. 118. 32 Mangin, S. 1193. 33 Falsifications de boissons et de denrées, faux poids et fausses mesures, in: Dictionnaire de police, S. 148. 34 Desclozeaux, Falsifications, S. 150–153. 35 »Alcalimètre, alcoomètre, chloromètre, colorimètre, saccharimètre«, siehe Mangin, S. 1193. 36 Desclozeaux, Dégustation, S. 1166–1169.

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Einige Einträge zu Fälschung und Betrug verwiesen nach 1880 schließlich auch auf die »Stadtlabore«, von Stadtverwaltungen betriebene Chemielabore, die seit Ende der 1870er Jahre in französischen Großstädten entstanden und im Zuge der »Fälschungsbekämpfung«37 auf städtischer Ebene eine zunehmend wichtigere Funktion einnahmen. Die Einträge im Ergänzungsband des Dic­ tionnaire de l’administration française von 1885 sowie im Dictionnaire du commerce et de l’industrie von 1901 hoben den Vorbildcharakter des ersten dieser Labore hervor, das im Jahr 1878 in Paris eingerichtet wurde. Das Pariser Labor und nach seinem Beispiel die ersten gleichartigen Einrichtungen in Lille, Reims, Bordeaux, Brest, Saint-Étienne, Rennes u. a., hatten Desclozeaux zufolge im Wesentlichen drei Funktionen: Einerseits analysierten sie Proben, die Händler abgaben; für diese Prüfungen stellte die jeweilige Stadtverwaltung einen sich nach dem Aufwand der Verfahren bemessenden Tarif auf. Andererseits nahmen diese Labore die Prüfung der verdächtigen Proben vor, welche die Lebensmittelinspektoren bei ihrer täglichen Arbeit einsammelten. Drittens schließlich gab es die Kategorie kostenloser Analysen, die hauptsächlich für Nahrungsmittel­ proben vorgenommen wurden, die Konsumenten abgaben.38 Chemisches Wissen, das zeigen diese Texte, war am Ende des 19.  Jahrhunderts aus der gesamten Fälschungsproblematik nicht mehr wegzudenken. Die Einführung des Rechts auf Gegengutachten der Verteidigung vor Gericht und die Einführung eines komplexen Begutachtungsverfahrens durch das Gesetz von 1905 (§ 12) bewerteten die Kommentatoren Blanc und Toubeau als »eine der wichtigsten Reformen«.39

3. Produktfälschung und Strafrecht Die meisten Texte teilten eine Einschätzung zum historischen Verhältnis von Fälschung und Recht. Nicht nur wurden die Fälscher immer geschickter und verwissenschaftlichten ihre Praktiken  – Fälschungen nahmen generell stetig zu. In einigen Fällen griffen die Autoren bis in die Antike zurück, um die Zunahme der Fälscherei zu verdeutlichen. »Die Kunst, Waren zu fälschen bevor sie in den Handel gebracht werden, ist mit Sicherheit so alt wie der Handel selbst«, schrieb Mangin. Er vermutete die Anfänge bei den Karthagern und Römern. Im Mittelalter, den »barbarischen Jahrhunderten« sei die Kunst des Fälschens wahrscheinlich »vernachlässigt, wenn nicht gar ganz vergessen worden, wie alle Künste«. Erst mit der Entwicklung von Industrie und Handel am Ausgang des 14.  Jahrhunderts habe erneut ein »Anstieg« stattgefunden.40 Diese Einschät37 Laboratoires municipaux, in: Dictionnaire de l’administration française, Bd. 3, S. 263. 38 Desclozeaux, Laboratoire, S. 568–570. 39 Blanc u. Toubeau, S. 123. 40 Mangin, S. 1193.

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zung forderte eine Problematisierung der strafrechtlichen Beurteilung des Fälschens heraus. Der Jurist R. Gonse betrachtete in seinem Artikel »Täuschung über die verkaufte Ware« im Répertoire d’administration municipale et départementale die Sanktionen und griff dabei ebenfalls bis in die Antike zurück: »Schon in Rom streng bestraft, war der Warenbetrug in Frankreich mit noch härteren Strafen belegt«.41 Seit Philipp dem Schönen, d. h. im späten 14. Jahrhundert habe sich das Problem der Fälschungen jedoch trotz der »drakonischen Strafen« verschärft. Gonse zog daraus den folgenden Schluss: »Indem man zu schwere Strafen gegen Betrug im Warenverkauf verhängt hat, machte man die Repression unwirksam; ein zu hohes Strafmaß macht das Strafrecht unanwendbar«.42 Die Nationalversammlung habe »dieses Problem verstanden« und mit einem Gesetz vom 14. Juli 1791 »mildere und folglich besser durchzusetzende Strafen« eingeführt.43 Die Ansicht, dass mildere Strafen besser geeignet seien, um Fälschungen zu unterbinden, teilten andere Autoren nicht, im Gegenteil. Im Jahr 1859 hielt Mangin fest, dass die Strafgesetze noch zu »gutwillig« mit den »Herren Fälschern« umgingen.44 Mangin diente der Verweis auf die drakonischen Strafen des Ancien Regime eher als Ausweis besserer Zustände. Zur Zeit Ludwigs XIV. habe man noch nicht zwischen Geld- und Warenfälschung unterschieden und bisweilen die Todesstrafe verhängt; zur Zeit der Zünfte hätten die Fälscher »aufatmen« können, denn ermittelt und verurteilt worden seien Fälscher »von ihresgleichen«, Strafen seien »en famille« verhängt worden und entsprechend mild gewesen. Erst mit der Revolution habe sich die Lage geändert – die Rolle der Revolution schätzte Mangin folglich ganz anders ein als Gonse: Das Gesetz vom 14. Juli 1791 habe den Verkauf verdorbener Ware verboten (§§ 20 und 24) und insbesondere den Verkauf gepanschter Getränke und Währungsfälschungen unter Strafe gestellt (§§ 38 und 39). Die Convention wiederum habe jährliche Kontrollen der Lebensmittel- und Kurzwarenhändler eingeführt. Des Weiteren habe § 605 des Code des peines et délits Strafen für Anbieter verdorbener und schädlicher Ware aufgestellt und ein Dekret von 1809 den Spezialfall der Essigpanscherei unter Strafe gestellt. All diese Einzelbestimmungen seien 1810 bei Einführung des Code pénal (§§ 318, 423 und 475) systematisiert worden und bis zum Gesetz vom 27. März 1851 in Kraft geblieben. Dennoch hielt Mangin diese Gesetzgebung für unzureichend, die Strafen und vor allem die Strafwirkung für so gering, dass sie für Fälscher »kalkulierbar« gewesen seien.45 Charles Blanc und Maxime Toubeau stellten 1910 ebenfalls fest, dass die Gesetzgebung den Fälschungsversuch bis 1851 gar nicht und den Tatbestand Fälschung selbst nur mit schwachen Strafen belegt habe. Die Einsicht in die »unge41 G[onse], S. 1242. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Mangin, S. 1193. 45 Ebd., S. 1194.

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nügende Sanktionierung« habe »offensichtlich« zum Gesetz von 1851 geführt, das zwar neben der Tat nun in speziellen Fällen auch den Versuch verurteilte, ansonsten aber kaum Neuerungen gebracht habe. Dieser kritische Hinweis reichte den Autoren, um nach einer vergleichenden Darstellung der beiden Gesetze von 1851 und 1905 zu schließen, dass das Strafrecht durch das Gesetz von 1905 »deutlich gestärkt« worden sei.46 Sie fassten die »Innovationen« des Gesetzes in fünf Punkten zusammen: (1) Schon der Versuch der Fälschung wurde nun systematisch strafbar. Diese Disposition, die seit 1851 nur für Mengenbetrug galt, galt nun auch für Qualitätsbetrug. (2) Die Strafe der Veröffentlichung des Namens des Fälschers (affichage)  wurde neu geregelt. (3) Die Strafen wurden härter, die Strafverschärfung sollte explizit abschreckend wirken. (4) Die Übertragung legislatorischer Kompetenzen auf die Exekutive erachteten sie als die wichtigste Neuerung, denn nun könne die Regierung spezielle und auf einzelne neue Betrugsarten zugeschnittene Verwaltungs- und Ausführungsvorschriften erlassen, ohne dabei jedes Mal die »schwerfällige legislative Maschine«47 bemühen zu müssen; damit, so zitierten sie den Berichterstatter der Vorlage in der Nationalversammlung zustimmend, erhalte »die ganze praktische Seite« der Problematik die nötigen Impulse. (5) Die neue Institution des Gegengutachtens stärke die Verteidigung, sie enthielte aber auch »für den lauteren Handel wertvolle Garantien gegen Strafverfolgungsfehler«.48 Des Weiteren ist hinzufügen, dass sich die Strafbarkeit nun nicht mehr hauptsächlich auf Lebensmittel und Medikamente bezog, sondern auf »alle landwirtschaftlichen oder natürlichen Produkte« (§ 3).49 In der Betrachtung des Verhältnisses von Recht und Fälschung zeichnet sich folglich eine entscheidende Entwicklung ab. A contrario wird sie an der Einschätzung des Staatsrats-Juristen Gonse deutlich, der das Strafrecht noch 1873 allein deshalb für ausreichend hielt, weil es auch umgesetzt werden konnte. Diese ausschließlich auf das pragmatische Verhältnis von Rechtstext und Rechtsanwendung beschränkte Ansicht teilten die anderen Autoren nicht, im Gegenteil. Für sie stand vor allem die abschreckende, präventive Wirkung des Strafrechts im Vordergrund. Im Jahr 1859 formulierte Mangin in Auseinandersetzung mit der damals geltenden Rechtsgrundlage, dem Gesetz von 1851, diese Argumentation als rhetorische Frage in aller Deutlichkeit: »Erreicht dieses Gesetz sein Ziel, das zweifellos darin besteht, nicht nur hier und da ein paar Delinquenten zu erwischen, sondern all diejenigen abzuschrecken, die in Versuchung geraten könnten? Kann es die öffentliche Moral und Hygiene sowie das Vermögen der Bürger erhalten und dem ehrlichen Handel, der Industrie und den Verbrauchern aller Klassen die Sicherheit geben, die ihnen geschuldet ist?«50 46 Blanc u. Toubeau, S. 117 f. 47 Ebd., S. 118–120. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 121. 50 Mangin, S. 1194.

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Die Umstände sprächen nicht dafür, so Mangin. Die aktuelle Rechtslage könne Betrug nur in relativ geringem Umfang »vorbeugen«, sie schrecke lediglich diejenigen Fälscher ab, die nicht genügend Profit machten, um die Folgen tragen zu können (vor allem Geldstrafen), und die ohnehin einer wirksamen Überwachung durch die Behörden ausgesetzt seien. Gegenüber den »Spekulanten«, jenen Fälschern, die mit großen Warenmengen operierten und »jeden Tag beträchtliche Gewinne« machten, seien die Strafen »lächerlich« und kämen wie zuvor einer »kleinen Abgabe auf ihre Einnahmen« gleich.51 Mit ähnlichen Worten analysierten Charles Blanc und Maxime Toubeau die Umstände, die zum Gesetz von 1905 geführt hatten. Mit diesem Gesetz, das auf eine 1895 im Senat eingebrachte Regierungsvorlage zurückging, die ihrerseits entsprechende Vorlagen aus dem Jahr 1885 aufnahm, habe die Regierung einen »Missbrauch« abstellen wollen. Sie habe damit »lauter werdende Klagen« über den Schaden aufgegriffen, der dem Handel und den Konsumenten durch »immer mehr und immer ausgefeiltere« Fälschungsmethoden zugefügt werde. Für den Anstieg der betrügerischen Fälscherei führten Blanc und Toubeau zwei Gründe an. Erstens sei er durch »exzessive Profitgier« hervorgerufen und sowohl durch den »immer härteren Wettbewerb« und den daraus folgenden Preisverfall als auch durch die »Leichtgläubigkeit des Publikums« begünstigt worden. Dies habe den »ehrlichen Handel« im Inneren und die Handelsbeziehungen mit dem Ausland kompromittiert und so nicht nur Handel und Konsum, sondern auch die »allgemeinen Interessen des Landes« geschädigt. Zweitens hätten die »Fortschritte der Agrarchemie« nicht nur die Arbeit der Produzenten erleichtert und die Lebensmittelpreise zugunsten des Konsumenten gesenkt, sondern auch – »vor allem« – den Betrügern genutzt, die sich diese Fortschritte der Agrarchemie »geschickt« zu eigen gemacht hätten, »um ihren Betrug noch ungreifbarer und die Fälschungen noch schädlicher für die öffentliche Gesundheit zu machen«.52 Das Fälschungsstrafrecht wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts also an zwei Maßstäben gemessen: an der Enge oder Weite der rechtlichen Definition von Fälschung einerseits und an der abschreckenden, präventiven Wirkung der entsprechenden Strafen andererseits. Wie gesehen spielten dabei zwei Argumente eine tragende Rolle. Auf der einen Seite der Schaden, den unentdeckte Fälschungen anrichteten  – unentdeckt und ungreifbar mussten Fälschungen zwangsläufig bleiben, wenn sie mit Methoden hergestellt wurden, die nur den Fälschern oder einem kleineren Kreis von Chemikern bekannt waren. Die Autoren nutzen hier eine moralische Unterscheidung zwischen »ehrlichem« und »unlauterem« Handel, bezeichneten Letzteren als »Spekulation« und unterstellten ihm »exzessive Profitgier«. Die Ethik der Hersteller und Kaufleute wurde folgerichtig zu einem zentralen Problem der Diskussion. Davon zeugt ein indirekter Verweis im Eintrag »unlauterer Wettbewerb« des Dic­

51 Ebd. 52 Blanc u. Toubeau, S. 118.

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tion­naire du commerce, de l’industrie et de la banque von 1901. Georges Huard nahm dort das Thema »Warenbetrug« explizit auf, schloss es aus seinen Ausführungen allerdings aus, »weil das Delikt, auf das der Gesetzgeber abgezielt hat, eher der Betrug am Kunden gewesen zu sein scheint als der unlautere Wettbewerb«.53 Unsicherheit über die Absicht herrschte aber auch aufgrund der Materie selbst, wie Desclozeaux 1901 verdeutlichte.54 Das Gesetz von 1905 fand Blanc und Toubeau zufolge eine »innovative« Lösung. Zugleich zeigt die Diskussion dieses Punktes, in welche Richtung die Reform hier weitergetrieben werden sollte. § 3, Abs. 2 behandelte die Frage der Gutwilligkeit bzw. der Gutgläubigkeit, mithin die Absicht des Verkäufers. Die Autoren zitierten den Berichterstatter der Vorlage mit den Worten, dass es ohne betrügerische Absicht keinen Gesetzesverstoß gebe. Damit es also eine Verurteilung für Betrug geben könne, müsse Unehrlichkeit bzw. unlautere Absicht nachgewiesen werden. Das Gesetz könne nur auf »Betrugstatbestände« zielen, auf »wissentlich angewandte Vorgehensweisen«. Die Autoren merkten an, dass der entlastende Umstand der Gutgläubigkeit deshalb die Straflosigkeit des Verkäufers nach sich zog. Selbst wenn also der bemängelte Zustand der Ware zweifelsfrei erwiesen sei, führe dies dazu, dass »die Hälfte der Delinquenten« davonkomme. Ein 1908 eingebrachter Vorschlag zur Novellierung des Gesetzes zielte deshalb darauf ab, die Strafbarkeit auch auf diejenigen auszuweiten, die nachweislich guten Glaubens gehandelt hatten. Das volle Strafmaß solle bei Wiederholungstaten angewandt, die Ware konfisziert und zerstört und das Urteil veröffentlicht werden. Auf diese Weise erhalte man, so wurde der Urheber des Vorschlags zitiert, die »Statistik des wenig lauteren Handels«. Sei die Ware gut, könne sie verkauft werden; sei sie gefälscht, dann setze sie den Besitzer der Strafe aus, einerlei ob er gutgläubig oder schlechten Willens gehandelt habe. Im ersten Fall sollten die Strafen allerdings sehr gering sein. Der Tendenz nach löste hier also allein die Tatsache der normabweichenden Ware die Strafe aus, nicht die unehrliche Absicht des Produzenten oder Verkäufers. Blanc und Toubeau waren diesem Vorschlag gegenüber nicht abgeneigt. Sie wiesen darauf hin, dass ähnliche Bestimmungen in einer ganzen Reihe anderer Länder in Kraft waren. In einigen Fällen gäbe es allerdings auch dann noch ein strafwürdiges Element im Verhalten des Delinquenten, nämlich die »Vernachlässigung von Berufspflichten«. Juristisch gesprochen handelte es sich hier um die Bestrafung von Fahrlässigkeit. Der impliziten Ausweitung des Verdachts entsprach auch § 3 des Gesetzes, eine weitere »glückliche Neuerung«. Der Paragraf traf den Handel mit »verdächtigen chemischen Produkten«, insbesondere den mit sogenannten »önologischen Produkten«, der sich offen dem Verkauf von Farbstoffen, Zusätzen und Mixturen widmete, die als Elemente der »unverschämtesten und umfangreichsten« Fälschung überhaupt galten. Fortan musste

53 Huard, Concurrence, S. 983. 54 Desclozeaux, Falsifications, S. 150–153.

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eine Fälschung mithilfe dieser Stoffe nicht erst stattgefunden haben. Allein der Umstand, solche Dinge anzubieten, sollte für die »wenig skrupulösen Vertreter dieses für alle sichtbaren Handels« ausreichen, um vom neuen Gesetz belangt werden zu können.55 Andererseits spielte eine ganz andere Art von Schaden für die Verschärfung des Strafrechts ebenfalls eine große Rolle. In der Fälschung von Lebensmitteln wurde der mögliche Schaden bzw. die Gefahr für die Gesundheit des einzelnen und der ganzen Bevölkerung gesehen. Der Tenor des im Jahr 1862 von dem Physiologen Ambroise Tardieu in seinem Dictionnaire d’hygiène publique et de salubrité veröffentlichten Artikels über Fälschung ist für diese Dimension der Problematik symptomatisch: »Unter den Substanzen, die zum Verzehr des gesunden oder kranken Menschen bestimmt sind, gibt es in keinem Land, ob in England oder Frankreich, fast keine mehr, die nicht Gegenstand von betrügerischen oder zufälligen Fälschungen oder Modifikationen sind und die deshalb geeignet sind, die öffentliche Gesundheit auf schlimmste Weise zu kompromittieren. Auch die Grundlagen unserer Ernährung, Brot, Wein, Milch und Salz sind von solch schädlichen Mischungen nicht ausgenommen; und wenn man berücksichtigt, dass zu den Elementen, mit denen diese Fälschungen hergestellt werden, die fürchterlichsten Gifte zählen, Blei, Arsen, dann ist das Interesse am Studium der Modifikation von Lebensmitteln sowie der Mittel, sie aufzuspüren, nur zu verständlich«.56

Mit dem Gesetz von 1905 sollten Fälschungen effektiver als bisher zu verhindert werden. Der Generalprävention diente die Verschärfung des Strafrechts. Aber das Gesetz ging in seinen Bestimmungen weit darüber hinaus, denn es integrierte das Strafrecht in ein aus bereits bestehenden Institutionen neu zusammengesetztes Überwachungs- und Sicherheitsdispositiv, dessen konkrete Ausgestaltung und praktischer Betrieb der Exekutive überlassen wurde. Der Gesetzgebungsprozess scheint sich nicht zuletzt deshalb über zwanzig Jahre hingezogen zu haben, weil die im Parlament verhandelte Rechtsreform immer wieder an eine Grenze stieß, die sich aus der Verwissenschaftlichung der Produktion, den sich ständig wandelnden Herstellungsweisen und vermehrenden Produktvarianten ergab. Blanc und Toubeau zufolge zog das Gesetz lediglich die »großen Linien«, es war ein Rahmengesetz, das aus einer formalen Kopplung von genauen Definitionen der »konstituierenden Elemente einer Vielzahl von Produkten«, den zu ihrer Feststellung gebrauchten wissenschaftlichen und polizeilichen Verfahren und den zu ihrer Verurteilung nachzuweisenden Strafrechtskriterien bestand. Die Betrugsdefinition und ihre Differenzierung wurden hier formal abhängig gemacht von der Ausdifferenzierung und Spezifizie-

55 Blanc u. Toubeau, S. 122. 56 Tardieu, Falsifications, S. 264. Auch Tardieu verwies auf einzelne Einträge, um dort die jeweils geläufigen Fälschungen darzustellen.

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rung der wissenschaftlichen Prüfverfahren. Je mehr man über ein Produkt und seine Bestandteile wusste, desto präziser konnte Betrug im Einzelnen definiert werden. Anders gesagt: Die wissenschaftliche Wahrheitsproduktion wurde zum normativen Maßstab des Warenbetrugs. Der Exekutive wurden mit dem Gesetz gesetzgeberische Kompetenzen übertragen und das hieß, dass die Ausführungsbestimmungen bezüglich der Prüfungsverfahren für ganze Produktgruppen von der Regierung selbst geregelt werden sollten – freilich unter der Aufsicht des höchsten französischen Verwaltungsgerichts, des Staatsrates. Diese Konstruktion entsprach in Teilen ganz offensichtlich der Ausdifferenzierung und Ordnung des Fälschungswissens in den Nachschlagewerken der Verwaltungswissenschaften, des Handelswissens und der Hygiene. Auf der einen Seite entwickelte sich die Fälschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem strafrechtlichen Leitkonzept, mit dem in der Fülle der Produkte, Stoffe und Dinge, ihrer Produktion, Vermarktung und ihrem Verkauf zwischen Betrug und bloßer Produktvariation, »ehrlichem« und »unlauterem« Wettbewerb unterschieden werden konnte. Das konkrete Fälschungswissen fand sich jedoch nur in Ausnahmefällen in den Einträgen zu Fälschung und sehr viel öfter in den Artikeln über eine Vielzahl anderer Gegenstände: Lebensmittel, Nährstoffe, Inhaltsstoffe, Messapparate usw. Gerade im Fall der positiven Definition von Lebensmitteln ist der Begriff der betrügerischen Fälschung also nur relational zu verstehen – als Sammelbegriff für diejenigen Eigenschaften, die ein »reines« Lebensmittel nicht haben durfte bzw. die es – wenn Eigenschaften fehlten – per definitionem haben musste. Die Frage, wie sich diese Entwicklung und insbesondere das Lebensmittelreinheitsgesetz von 1905 auf das verwaltungswissenschaftliche Subsistenzkonzept auswirkten, lässt sich nun noch einmal aufnehmen. Lelong verzichtete in seinem Artikel »Subsistenz« für Band 24 des Répertoire du droit administratif ausdrücklich auf eine Behandlung der »Ökonomie« des Gesetzes und verwies stattdessen auf den Eintrag zum Thema »Sauberkeit/öffentliche Gesundheit« des Juristen Robert de Mouy, der im selben Band erschien. Die Leitgedanken, die Logik des Gesetzes wurden also thematisch eindeutig der Hygiene zugeordnet, während Lelong lediglich einige organisatorische Punkte erläuterte, bevor er sich einem Spezialfall, der Butterfälschung durch Margarinebeimischung widmete. De Mouys mit »Sauberkeit der Nahrungsmittel« überschriebener Abschnitt zur Lebensmittelhygiene schlug einen weiten Bogen von den Befugnissen der Stadtverwaltungen zur Überwachung der Produktion bzw. Bekämpfung der Fälschung von Lebensmitteln im Allgemeinen und einzelner Lebensmittel im Besonderen (Fleisch, Brot, Fisch, Wild) bis zu den organisatorischen Umstellungen und Ausführungsbestimmungen, die auf das Gesetz von 1905 folgten. Zwei Aspekte verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erstens stellte de Mouy fest, dass die Ausübung der Polizeirechte im Feld der Nahrungsmittel durch § 97, Abs.  5 des Kommunalgesetzes vom 5.  April 1884 den Munizipalbehörden zugeordnet war. Ausdrücklich erwähnt wurde an die221

ser Stelle, dass das Feld der Lebensmittelsicherheit vom Hygienegesetz von 1902 nicht berührt wurde, mit dem die staatlichen Gesundheitsinstitutionen neu geordnet wurden. Unter hygienischen Gesichtspunkten reiche es allerdings bei weitem nicht aus, so de Mouy, sich im Rahmen der kommunalen Polizeiarbeit nur um die Sauberkeit der Produktionsorte, der Märkte usw. zu kümmern. Zu überwachen sei vielmehr »auch die Zusammensetzung der Gegenstände« und dies »nicht nur, um sich der Ehrlichkeit im Verkauf zu versichern oder um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht gefälscht sind«, sondern auch, »um zu verhindern, dass Waren an die Verbraucher geliefert werden, die aus gesundheitsschädlichen Stoffen bestehen«. In dieser Hinsicht sei das Kommunalgesetz von 1884 nicht ausreichend. Spezielle Gesetzestexte hätten nun »ein Regime organisiert, das die öffentliche Gesundheit wirksam schützt«.57 Durch Analogiebildung mit der kommunalen Polizeiarbeit, ihren Rechten und Befugnissen, leitete de Mouy hier die Legitimationsgrundlage für einen lebensmittelpolizeilichen Apparat ab, der von der Ministerialverwaltung in Zusammenarbeit mit den Kommunen und Departements organisiert wurde und folglich nicht mehr ausschließlich auf die lokale Polizei begrenzt war. Zweitens ist die Darstellung der gesetzlichen Regelungen für einzelne Lebensmittel und der an sie anschließenden Verwaltungsrechtsprechung durch einen bestimmten Vorbehalt gegenüber dem extensiven Gebrauch gekennzeichnet, den offenbar viele Stadtverwaltungen von hygienischen Argumenten machten. So durften Bürgermeister keine Vorschriften erlassen, welche die Fleischer der Kommune gegen die Konkurrenz der auswärtigen Kollegen schützen sollten, »weil sich diese Protektion nicht aus der Sorge um die öffentliche Gesundheit ergibt«.58 Mit dem Argument, Gesundheitsgefahren bannen zu wollen, ließen sich nicht etwa fiskalische Interessen verfolgen und Schlacht- oder Stempeltaxen erlassen. Andererseits zeigt der kurze Abschnitt über Brot eine deutliche Verschiebung der Prärogativen an. Die Stadtverwaltung habe nicht nur die Befugnis, dafür zu sorgen, dass die Brotwaagen geeicht seien und Brote das Gewicht aufwiesen, für das sie verkauft wurden. Sie hatte zudem »aufgrund einer Sondergesetzgebung« noch das Recht, Brot zu taxieren. »Alle diese Sonderrechte nehmen ihr allerdings nicht dasjenige, zu prüfen, ob es – wie alle anderen Lebensmittel – unter dem Gesichtspunkt der Hygiene alle wünschenswerten Eigenschaften besitzt«.59 Die kommunalen Taxierungsrechte traten in diesem Text hinter Hygienegesichtspunkte zurück. Die »Ökonomie« des Gesetzes von 1905 beruhte, bemerkte de Mouy abschließend, »auf der doppelten Sorge um die Sicherheit der öffentlichen Gesundheit und um den Respekt des Privateigentums. Diesem Umstand ist zweifellos die Komplexität seiner einzelnen Bestimmungen geschuldet und die Vielfalt der Untersuchungsmaßnahmen, 57 Mouy, S. 112. 58 Ebd., S. 113. 59 Ebd.

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die sowohl den Betrug nachweisen als auch die Betroffenen gegen jeden Irrtum oder Willkürakt wappnen sollen, der ihren kommerziellen oder industriellen Interessen schadet«.60

Während de Mouy hier die Dispositionen des Lebensmittelreinheitsgesetzes von 1905 vor dem Hintergrund kommunaler Polizeirechte als deren logische Erweiterung diskutierte, ging Lelong auf einen Spezialfall ein, die Butterfälschung mithilfe von Margarinebeimischungen. Tatsächlich existierte für Butter ein seit 1887 verabschiedetes und 1897 novelliertes Spezialgesetz, das – wie entsprechende Texte gegen Weinfälschung – bei der Ausarbeitung des allgemeinen Lebensmittelreinheitsgesetzes als Orientierung diente. Letzteres sah denn auch vor, dass die bereits existierenden Spezialregelungen im Rahmen des neuen Gesetzes ihre Gültigkeit behielten.61 Lelongs Text zu Butter wies dementsprechend vier große Abschnitte auf: »Präventive Maßnahmen«, »Überwachungsmaßnahmen«, »Expertise« und »Strafen«. Da Butterfälschungen durch die »aktuellen chemischen Ermittlungstechniken« kaum festzustellen seien, habe die Spezialgesetzgebung »präventiven Charakter«. In diesem Sinn wurden drei Vorkehrungen getroffen: »1. Verbot, Margarine künstlich den gelben Farbton zu geben, der für Butter charakteristisch ist; 2. Kontrolle der Margarinefabriken, um Betrug und vor allem die Mischung von Butter und Margarine zu verhindern; 3. Absolute Trennung des Margarinehandels vom Butterhandel.«62 Im Hinblick auf den Umfang der Überwachung von Produktion und Vermarktung ist schon die Anzahl der zu Stichprobenerhebungen berechtigten Beamten aufschlussreich. Lelong zählte insgesamt sieben verschiedene Beamtengruppen: 1.  die eigens geschaffene Gruppe der »Inspektoren der Margarine und Öl-Margarinefabriken«; 2. Polizeikommissare; 3. Kommissare der Eisenbahn- und Hafenpolizei; 4. Beamte der Steuerbehörden und des Zolls, entweder im Rahmen ihres Normaldienstes oder im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums; 5. Marktinspektoren; 6. Beamte des Stadtzolls (octroi) und Veterinäre im Dienst des Gesundheitsamts (vétérinaires sanitaires), die von der Präfektur zu diesem Zweck eingesetzt wurden; und schließlich 7.  »Beamte, die von den Präfekturen und Kommunen mit Sondermissionen betraut werden«.63 Aus Lelongs Text geht hervor, welcher institutionelle Aufwand betrieben wurde, um die Qualitäten von Butter und Margarine zu normieren. Für beide Produkte wurde eine Liste positiver Eigenschaften zusammengestellt und ein komplexer Polizeiapparat geschaffen, um Vermischungsrisiken zu bannen. Die detaillierten Regelungen und die räumliche Trennung von Butter- und Margarine-Produktion sind ein Beispiel für die Form der Produktpolizei, die mit dem Gesetz von 1905 verallgemeinert wurde. Dass die präventive Strategie schließ60 Ebd., S. 114. 61 Blanc u. Toubeau, S. 142–143. 62 Lelong, Subsistances (II), S. 7 f. 63 Ebd., S. 9 f.

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lich tendenziell auch das Strafrecht seiner Funktion beraubte, ist an dem Umstand zu erkennen, dass im Fall des einfachen Unterlassens der Beschilderung eines Margarinelagers bereits die Kenntnis der dort gelagerten Ware ausreichte, um einen Straftatbestand darzustellen: »Der Nachweis einer Betrugsabsicht ist nicht notwendig«.64

4. Die sozialökonomische Wende: Volksernährung und Volksgesundheit Bemerkenswert ist bei dieser zunehmenden Durchdringung von Produktion und Handel mit polizeilichen Kontroll- und Eingriffsbefugnissen, dass  – anders als im Fall der im 19.  Jahrhundert noch lebendigen Polemik zwischen Vertretern der Freihandelsdoktrin und Protagonisten souveräner Eingriffsrechte – in diesem Bereich des Subsistenzwissens kaum Kontroversen über die Staatlichkeit zu erkennen sind: von Politisierung keine Spur. Offensichtlich wurden dem Staat in dieser Problematik grundsätzlich positive Ordnungsfunktionen zugeschrieben, die zumindest in den hier untersuchten Wörterbucheinträgen nicht in Frage gestellt wurden. Ein Hinweis darauf, dass sich die Bewertungsgrundlagen um 1900 änderten, gibt die häufige Verwendung des Begriffes »Schutz«. So schrieb Robert de Mouy vom »wirksamen Schutz«, den das Lebensmittelreinheitsgesetz von 1905 der öffentlichen Gesundheit angedeihen lasse65; Blanc und Toubeau zufolge stellte das Gesetz »alle landwirtschaftlichen oder natürlichen Produkte unter Schutz«66; die Autoren sahen zudem den Grundgedanken des Gesetzes darin, »dem loyalen und legitimen Handel den Schutz zukommen zu lassen, den er braucht, um den guten Ruf zu bewahren, den französische Produkte auf den Märkten des Auslands genießen«.67 Im Rahmen des Agrarprotektionismus war die Schutzfunktion des Staates offensichtlich das­ jenige Moment, dass Kritik am Aufbau einer Wettbewerbs- bzw. »Dingpolizei«68 kaum aufkommen ließ, die – wie im Fall Butter/Margarine – tief in ökonomische Prozesse eingreifen konnte. Doch inwiefern ist diese Veränderung der Bewertungsgrundlage staatlichen Handelns um 1900 auch in den Abschnitten der traditionellen Subsistenzpolizey zu erkennen, die von der Kontroverse zwischen politischer Ökonomie und Staatspraktikern dominiert wurden? Bereits in den 1870er Jahren zeichnete sich in der Behandlung des Subsistenzthemas in jenen Wörterbüchern, die explizit dem politischen Wissen ge64 Ebd., S. 10. 65 Mouy, S. 105. 66 Blanc u. Toubeau, S. 122. 67 Ebd., S. 123. 68 Roland Canu und Franck Cochoy sprechen im Bezug auf die mit dem Gesetz instituierten Polizeiapparate zurecht von einer »police des choses«, vgl. Canu u. Cochoy, S. 70.

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widmet waren, ein Reflexionsprozess ab, der sich abgrenzend sowohl auf den verwaltungswissenschaftlichen Traditionsbestand als auch auf die theoretische Kritik der politischen Ökonomie bezog und den man als sozialökonomische Wende bezeichnen kann.69 Louis Foubert, der langjährige Leiter der Subsistenzabteilung im Handels- und Agrarministerium während des Zweiten Kaiserreichs, veröffentlichte im von Maurice Block 1874 herausgegebenen Dictionnaire général de la politique einen entsprechenden Artikel zu Subsistenz,70 der in den nachfolgenden Auflagen von Block selbst nur leicht überarbeitet und nachgedruckt wurde, ja selbst für wichtig genug erachtet wurde, um in die 1896 erschienene Kurzversion Petit dictionnaire de la politique aufgenommen zu werden.71 Dieser Text folgte zwar implizit der systematischen Kategorisierung von Normalität, Ausnahmezustand und Prävention, die Foubert im Anschluss an ältere Vor­bilder in den Texten vornahm, die er seit 1856 in dem ebenfalls von Maurice Block herausgegebenen Dictionnaire de l’administration française veröffentlichte.72 Er unterschied sich jedoch in grundlegenden Punkten und ist in dreifacher Hinsicht bemerkenswert: Foubert nahm eine sozialökonomische Neuformulierung der Subsistenzfrage vor; er tat dies mithilfe eines politökonomischen Theorems, der »Arbeitsteilung«; und er führte seine Argumentation zu einer spezifisch realpolitischen Neubewertung staatlicher Intervention in der Subsistenzfrage. Der Artikel eröffnete mit einer Reihe von neun suggestiven Fragen, die um die Grundproblematik der Subsistenzfrage kreisten, alternative Positionen in der Diskussion aufgriffen und der anschließenden Argumentation eine bestimmte Wendung gaben. Zunächst bewegten sich die Fragen auf einem Terrain, das aus den historischen Kontroversen bekannt war: »In welchem Maß kann die öffentliche Hand durch ihre Intervention die Versorgung der unter ihre Hoheit gestellten Gebiete erleichtern und Nahrungskrisen bekämpfen?«73 Welchen »Charakter« sollten solche Maßnahmen haben? Sei es sogar »notwendig […], dass die Regierungen sich mit Gesetzen, Verordnungen oder anderen Verwaltungsakten in die Operationen des Handels einmischen, um ihren natürlichen Verlauf zu ändern, oder soll sich ihre Rolle vielmehr darauf beschränken, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Hindernisse zu beseitigen, die ihre Entwicklung einschränken?«74 69 Im vielfältigen Diskurs der politischen Ökonomie in Frankreich setzte sich in den 1840er Jahren eine Trennung durch, die auch hier auftaucht. Auf die Reinheit ihrer Prinzipien und auf Verwissenschaftlichung ihrer Disziplin nach naturwissenschaftlichem Vorbild bedacht, grenzten die Ökonomen alle empirischen Fakten aus und überließen praktische Fragen der Anwendung ökonomischer Prinzipien der Sozialökonomie als einer »Kunst«, vgl. Sage, S. 79 ff. 70 Foubert, Subsistances (1874), S. 970–979. 71 Block, Subsistances, S. 723. 72 Foubert, Subsistances (1856), S. 1488–1493; ders. u. Block, S. 1679–1684. 73 Foubert, Subsistances (1874), S. 970. 74 Ebd.

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Gebe es in dieser Angelegenheit »Regeln, die immer und überall anwendbar« seien? Oder müsse man nicht den je nach Land unterschiedlichen »Allgemeinzustand der Gesellschaft und selbst die Vorurteile und Irrtümer der Bevölkerung« berücksichtigen? Erforderten nicht »Zeiten der Knappheit und der Not besondere Maßnahmen, die in Zeiten des Überflusses« sinnlos wären? Wie sollte man in Ländern handeln, die keinen Zugang zum Meer hätten?75 Nachdem Foubert auf diese Weise die einander ausschließenden, doktrinären Haltungen gegenüber gestellt hatte, verschob er die Subsistenzfrage auf ein neues Terrain und eröffnete eine neue Perspektive. Gebe es nicht »abseits der Gesichtspunkte der öffentlichen Ordnung und nationalen Sicherheit, die bisher die Subsistenzfrage dominiert haben, weitere Beweggründe für die Regierungen, sich mit dieser Frage zu beschäftigen?« Tendiere nicht der »allgemeine Fortschritt der Gesellschaften« dazu, der Subsistenzfrage »einen neuen Charakter« zu verleihen, und gebe es nicht »im Streben der Völker nach einer Verbesserung ihrer Situation Hinweise, die fortan die Aufmerksamkeit der Staatsmänner binden sollten«?76 Im Fortgang diskutierte Foubert diese Fragen im Einzelnen, wobei sich der Grundtenor seiner Ausführungen inhaltlich und thematisch über weite Strecken von den im Dictionnaire de l’administration française erschienenen Texten kaum unterschied. Anders als diese (wenn man so will: positivistischen) Abhandlungen über die historischen Maßnahmen zur Subsistenzsicherung (Kornreserven, Kornzölle, Brottaxe und Fürsorgemaßnahmen) ist der Text im Dictionnaire général de la politique jedoch durch eine explizite Positionierung, eine Reflexion auf ihre Opportunität – mithin auf die politische Rationalität ihres »richtigen« Einsatzes gekennzeichnet: »Die Subsistenzfrage ist­ zugleich politisch und ökonomisch«, notierte Foubert, »aber die Politik muss ihre Inspiration vor allem im Studium der sozialökonomischen Phänomene finden, wenn sie sich in diesen Angelegenheiten nicht schwerwiegenden Irrtümern aussetzen will.«77 In drei Schritten entfaltete Foubert seine Argumentation. Mithilfe des klassischen Theorems der »Arbeitsteilung« leitete er erstens die Umrisse einer unter ökonomischen Gesichtspunkten vernünftigen staatlichen Intervention in wirtschaftliche Zusammenhänge ab. Damit alle tun könnten, was sie täten, müsse es immer auch welche geben, die für diese Leute Nahrung produzierten, führte Foubert aus. Diese »so fruchtbare Aufteilung der menschlichen Tätigkeit« könne sich nur vermittels einer »kontinuierlichen Tausch­bewe­ gung zwischen den verschiedenen Produzentenklassen« erhalten. Aufgrund einer »natürlichen Konsequenz« landeten Agrar- und Industrieprodukte immer dort, wo sie gebraucht würden. »Man kann also sagen, dass die regel­mäßige Versorgung der Städte und Landschaften in normalen Zeiten die zwangsläufige Folge der Arbeitsteilung ist«.78 Die Behörden dürften diesen »natürlichen 75 Ebd. 76 Ebd., S. 971. 77 Ebd. 78 Ebd.

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Lauf der Dinge« nicht ändern, jegliche Interventionen wären nur schädlich. Es bleibe nichts anderes als »auf die individuelle Initiative« zu vertrauen. Soweit die klassische, staatskritische Argumentation. Doch Foubert gab ihr mithilfe des Theorems »Arbeitsteilung« im Folgenden eine Wendung, die es erlaubte, eine ökonomisch sinnvolle Perspektive für staatliches Handeln und positive wirtschaftspolitische Aufgaben zu definieren. Der ›natürliche Lauf der Dinge‹ sei zwar die »beste Garantie für regelmäßige Versorgung«, aber die historische Entwicklung zur Arbeitsteilung zeige auch, »wie notwendig der Beitrag des Staates ist und worin er bestehen muss«. Der Beitrag der Regierung »sei beträchtlich, aber indirekt«.79 Foubert wies den Staat hauptsächlich als Betreiber einer institutionellen Infrastruktur aus: Gesetze und Institutionen zum Schutz von Personen, Eigentum und Handelsfreiheit, Aufbau und Unterhalt eines Wege- und Transportnetzes sowie von Häfen; Unterhalt einer Flotte zum Schutz des Seehandels; Kreditinstitutionen; Aufbau und Betrieb von Märkten und Messen; und schließlich Bekämpfung der »verschiedenen Formen des Betrugs, die fortwährend die Ernsthaftigkeit der Geschäfte verderben«.80 Den zweiten und mit Abstand längsten Abschnitt leitete Foubert mit einer Problematisierung dieser nicht mehr ausschließlich negativen, sondern posi­ tiven, wirtschaftspolitischen Aufgabenbeschreibung des Staates ein, indem er die Perspektive wechselte und von den Folgen der von Natur aus schwankenden Erträge der landwirtschaftlichen Produktion ausging. Die immer wiederkehrenden Defizite, ja die Natur selber, störten gewissermaßen indirekt den »öffentlichen Frieden« und bedrohten die »Stabilität der Regierung«. Daher stelle sich die Frage, wie »die Politik angesichts einer so fürchterlichen Möglichkeit gelassen« bleiben könne. Müsse man »eine solche Gefahr nicht mit allen Mitteln bekämpfen« und könne man sich »zur Wiederherstellung des Gleichgewichts absolut auf die natürliche Austauschbeziehung verlassen, die aus der Arbeitsteilung resultiert und deren Instrument der Handel ist?«81 Fouberts Antwort fiel differenziert aus. Er leitete eine ausführliche Diskussion der bereits im Dictionnaire de l’administration française dargestellten Maßnahmen mit einer klassischen liberalen Utopie ein – mit der Vorstellung eines zukünftig global integrierten Marktes, der »eine Art umfassende Versicherung gegen die Ungleichmäßigkeit der Ernten«82 darstelle. Als Beleg für Tendenzen in diese Richtung führte er den gelungenen Defizitausgleich im Jahr 1862 durch den internationalen Kornhandel an, der durch die Aufhebung des Stufenzolls 1861 möglich geworden sei. Keine der traditionellen subsistenzpolitischen Maßnahmen war Foubert zufolge jedoch funktional im Sinn der ihnen zugeschriebenen Zwecke. Argumentation, Diktion und Wortwahl wiesen diesen Abschnitt als klassische, polit-ökonomische Abhandlung aus: Kornreserven 79 Ebd. 80 Ebd., S. 972. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 972 f.

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bezeichnete er als »Anachronismus«,83 die den Kornhandel »vernichteten«,84 die Stadtfinanzen durch die »Schlampigkeit und schlechte Leitung«85 durch Beamte ohne »persönliches Interesse am Erfolg der Operation«86 ruinierten und noch dazu, falls privat betrieben, Geschäftsleute »quälenden Untersuchungen«87 und dem »Hass des Volkes«88 auf »hortende« Geschäftsleute aussetzten;89 Kornkäufe der öffentlichen Hand in akuten Notlagen »lähmten«90 den Handel, weil sich der in dem Maße zurückziehe, wie die »Behörde sein Tätigkeitsfeld heimsucht«.91 Anstatt den Handel zu unterstützen, halte man ihn durch solche Maßnahmen »ewig in Verdacht«, diese Vorkehrungen seien »zum großen Teil darauf zurückzuführen [gewesen], dass man die durch Nahrungskrisen hervorgerufenen Leiden der Hortung zuschrieb«.92 »Jeder, der sich mit dem Weizenhandel beschäftigte, stand mehr oder weniger in dem Verdacht ein Aufkäufer zu sein und jeder Aufkäufer galt als Staatsfeind.«93 Weder die »Kornzollsysteme« noch die »Brottaxe« fanden Fouberts Zustimmung. Wenn Zollfreiheit zur Sicherstellung der Versorgung am besten geeignet sei, warum brauche man dann eine Brottaxe? Unter »ökonomischen Gesichtspunkten« seit die Taxe nicht zu rechtfertigen«, während sie »unter politischen Gesichtspunkten den schwerwiegenden Nachteil hat, in der Bevölkerung die falsche und gefährliche Idee zu nähren, dass die Lebensmittelpreise vom Willen der Regierung abhängen«.94 Zwar seien Regierungen in Nahrungsmittelkrisen nicht zur Untätigkeit verurteilt, allerdings sollten ihre Aktivitäten darin bestehen, den Handel durch die »Ausweitung seiner Handlungsmöglichkeiten« zu unterstützen, anstatt ihn durch »restriktive Vorkehrungen« zu blockieren. Neben Abgabenerleichterungen für Inlandstransporte, der Zulassung ausländischer Handelsschiffe und die Verringerung der Preise für Eisenbahntransporte führte Foubert hier eine Reihe von privaten und öffentlichen Unterstützungsleistungen für Arme an, hauptsächlich die finanzielle Unterstützung »öffentlicher Bauten« und die Ausgabe von Brotbons.95 Nach diesen Ausführungen, die sich mit der historischen und zeitgenössischen ökonomischen Staatskritik völlig im Einklang befanden, nahm die Argumentation jedoch in einem dritten Abschnitt eine realpolitische, pragmatische Wendung. Man dürfe, so Foubert, »im Übrigen in diesen Angelegenheiten nicht 83 Ebd., S. 974. 84 Ebd., S. 973. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 974. 89 Ebd., S. 973–975. 90 Ebd., S. 975. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 977. 95 Ebd., S. 978.

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alles den Prinzipien der politischen Ökonomie unterordnen. Es ist unerlässlich, dem Gesamtzustand der Gesellschaft, den Vorurteilen und Irrtümern des Publikums Rechnung zu tragen«.96 Dabei handelte es sich um nichts weniger als um die Einsicht, dass sich gegen die öffentliche Meinung nicht auf Dauer regieren ließ. Foubert knüpfte daran zwei alternative Vorgehensweisen. Erstens sei »Rechthaben […] im Angesicht einer ausgehungerten Bevölkerung […] nicht genug«. Könnte die Bevölkerung von der ökonomischen Wahrheit nicht überzeugt werden, müsse man »über die notwendige Stärke verfügen, um sie zum Gehorsam gegenüber dem Weg zu zwingen, den Vernunft und Erfahrung weisen.«97 Verfüge man aber nicht über die »nötigen Mittel«, sie zwingen zu können oder sehe man »dermaßen gewaltige Widerstände voraus, dass man nur um den Preis eines Blutbads an einer unglücklichen Menge, deren einzige Vergehen Unwissenheit und Elend sind, hoffen kann, sich durchzusetzen, gebieten dann nicht Menschlichkeit und Politik den Regierungen, gegenüber den populären Vorurteilen zurückzuweichen?«98

Die zuvor kritisierten und generell negativ bewerteten Maßnahmen könnten deshalb grundsätzlich geboten sein bzw. man dürfe sich ihnen nicht grundsätzlich verschließen, denn in solchen Fällen handele es sich darum, »die Vorstellungskraft zu lenken und unter den Mitteln diejenigen auszuwählen, die einerseits am meisten geeignet sind, die Aufregung zu besänftigen, und sich andererseits am besten mit den Aktivitäten des Handels vereinbaren lassen.«99 »Politik« in der Subsistenzfrage bestand Foubert zufolge also bei allen Vorbehalten gegenüber der »Menge«, der »Masse«, dem »Publikum« in einer grundsätzlich kompromissbereiten Haltung. Sie bestand in der Bereitschaft, Maßnahmen zu ergreifen, deren Wirkungslosigkeit bzw. schädliche Effekte nicht bezweifelt werden konnten. Sie bestand des Weiteren darin, die Folgen der Entscheidung für ökonomisch sinnlose, aber politisch sinnvolle Maßnahmen abschätzen zu können. Das war aber noch nicht alles. Selbst jenseits solcher Ausnahmezustände, in »normalen Perioden« könne eine solche Haltung notwendig sein. Kompromissbereitschaft gegenüber den eigenen Prinzipien und dem Wollen der Menge könne »für eine recht lange Zeit« auch dort geboten sein, wo sich »eingefleischte Regelungsgewohnheiten« hartnäckig hielten. Foubert spielte auf »mehr als eine Kommune« in Frankreich an, die noch zehn Jahre nach der Liberalisierung der Bäckerei an der Taxe festhielten.100 Im Anschluss an diese Überlegungen und zum Abschluss des Artikels nahm Foubert die zu Beginn seines Artikels gestellte Frage noch einmal auf, ob die Subsistenzproblematik mit dem »Fortschritt der Gesellschaft« nicht eine ganz 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 979. 100 Ebd.

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neue Bedeutung bekäme. Die Subsistenzfrage sei selbst mit der Aufhebung vieler derjenigen Bedingungen nicht obsolet, die nach Ansicht der meisten Ökonomen immer wieder Nahrungskrisen herbeigeführt oder begünstigt hatten. »In dem Maße, wie der Mensch auf dem Weg des Fortschritts voranschreitet, sieht er in sich neue Wünsche entstehen. Es gab eine Zeit, in der die Völker von ihren Regierungen nur verlangten, dass diese sie nicht verhungern ließen. Heute hat man in den Nationen, die an der Spitze der Zivilisation marschieren, höhere Ansprüche: Man möchte besser und so lange wie möglich leben, und wenn die Völker auch übertriebene Vorstellungen haben vom Anteil, den die Regierungen am Erreichen dieser Ziele haben können, so wäre es doch nichts desto trotz nicht ungefährlich, dieses neue Streben nicht zu berücksichtigen.«101

Die weit verbreitete Ansicht, dass es vor allem die »unzivilisierten, rückständigen Länder« oder Bevölkerungsteile seien, die immer wieder zu politischen Relativierungen der Handelsfreiheitsmaximen zwangen, wurde hier abgelöst von der Einsicht, dass es sogar die Völker bzw. Bevölkerungsgruppen »an der Spitze der Zivilisation« bzw. des »Fortschritts« waren, die der Subsistenzfrage durch neue Bedürfnisse zu neuer Aktualität verhalfen. »In einigen Jahren«, kündigte Foubert an, werde man die Intensität der Kontroversen um die Stufenzölle und das Bäckereigewerbe kaum noch nachvollziehen können. Dann jedoch »werden sich die von uns angezeigten Tendenzen energisch aufdrängen«. Die »Subsistenzfrage scheint also bald einen neuen Charakter anzunehmen. Bis jetzt bestand sie vor allem in der Suche nach den Mitteln, mit denen Nahrungskrisen vorgebeugt oder ihre Auswirkungen abgemildert werden konnten. Vielleicht müsste man sie bald schon dem Studium des Ensembles an Verbesserungen angliedern, deren Ziel die schrittweise Hebung des Wohlstandsniveaus der Arbeiterklassen ist, die heute Gegenstand so beunruhigender Befürchtungen sind.«102

Auch und gerade hier sei die Subsistenzfrage eng mit der Politik verbunden, deren Ziel sei schließlich, »das Leben bequem und die Völker glücklich«103 zu machen. Fouberts zwiespältiger Text – à cheval zwischen seinem während des Zweiten Kaiserreichs gewonnenen praktischen Wissen und den spezifischen Erfordernissen einer demokratisch-republikanischen Regierungsweise in der Subsistenzfrage  – weist das Dilemma auf, in welches der Versuch hineinführte, zwischen der klassischen Kritik am Traditionsbestand subsistenzpolizeilicher Maßnahmen einerseits und der realpolitischen Einsicht andererseits zu vermitteln, dass sich die wirtschaftstheoretisch »richtigen« Maßnahmen nicht gegen die öffentliche Meinung durchsetzen ließen. Wie im Versuch einiger Ökonomen in den 1850er Jahren, das historisch belastete Wort »Korn« durch das aufgrund seiner agronomischen Verwendungskontexte eher wissenschaftliche Neutralität 101 Ebd. 102 Ebd., S. 979. 103 Ebd.

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und Objektivität verbürgende Wort »Getreide« abzulösen, sind im Fall des Subsistenzkonzepts um 1900 ebenfalls Versuche erkennbar, das Wort aufzugeben und zu ersetzen  – etwa durch den Begriff »Volksernährung«. Erstaunlicherweise ist der Begriff im Material allerdings nur ein einziges Mal als Eintragstitel nachgewiesen – im vierbändigen, ab 1886 von dem Agronomen Jean-Auguste Barral herausgegebenen Dictionnaire de l’agriculture. Der Eintrag »Volksernährung« stand paradigmatisch am Ende einer Reihe anderer und weitaus längerer Einträge, die Ernährung unter verschiedenen Blickwinkeln erläuterten: »Ernährung«, »Ernährung der Pflanzen«, »Ernährung der Tiere«, »Ernährung des Menschen«, »Volksernährung«. Barral legte in seinem Artikel eine weite Definition von »Ernährung« zugrunde, die zunächst keinen Bezug auf Nahrung, sondern auf Versorgung erkennen ließ: »Tätigkeit, die Dinge zu liefern, die zur Fortdauer gleich welchen Phänomens benötigt werden«.104 Entsprechend breit war das Spektrum dieser Dinge: »So spricht man von der Versorgung einer Maschine, eines Kanals, einer Pflanze, eines Lebewesen, einer Familie, einer Stadt, einer Vereinigung, einer Fabrik«.105 Zweitens hatte Ernährung immer einen (einzigen) Zweck – sie sollte Funktionen aufrechterhalten: »Versorgung hat den Zweck, ihnen die Elemente zu liefern, die für die Erfüllung all ihrer Funktionen und von ihnen erwarteten Aktivitäten unerlässlich sind: Bewegung, Arbeit, Herstellung aller möglichen Materialien, und die vor allem für die Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche des Menschen gebraucht werden«.106

Die Reihenfolge, in der der Begriff Ernährung/Versorgung in diesem Wörterbuch differenziert und dargestellt wurde, setzte die verschiedenen Elemente – Versorgung der Pflanzen, der Tiere und des Menschen – in einen zyklischen Zusammenhang. Vom landwirtschaftlichen Standpunkt, führte Barral aus, interessiere nur die Versorgung der »organisierten, pflanzlichen und animalischen Lebewesen«.107 Erst im Anschluss an diese allgemeine Definition erfolgte die Differenzierung des Begriffs in Versorgung (alimentation) und Ernährung (nutrition). Während erstere von »Ökonomen und Beamten geregelt« werde, sei letztere das »Gebiet des Physiologen«. Das »Studium der Ernährung« beschäftige sich damit, »was aus den verschiedenen Nahrungsmitteln geschieht, mit ihrer Veränderung, mit der speziellen oder nacheinander eingenommenen Rolle ihrer konstituierenden Prinzipien«, während es beim Studium der »Versorgung« darum gehe, »Pflanzen, Menschen und Tieren so preisgünstig wie möglich Nahrung zu verschaffen, um die größtmögliche Menge an Dingen zu erhalten, welche die Landwirtschaft produziert«.108 104 Barral, J. A., Alimentation, S. 240. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd.

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An dieser Stelle riss ein Argumentationsstrang ab. Während der Text sich im Fortgang mit ernährungsphysiologischen Grundsätzen beschäftigte, führt die Suche nach dem Bereich, der den Ökonomen und Beamten vorbehalten war, zum Eintrag »Volksernährung«. Allerdings blieb dieser Verweis implizit. Denn die kurze Darstellung der »rationellen Ernährung« ließ zunächst offen, ob hier ökonomische oder physiologische Aspekte verhandelt wurden. Das Hauptprinzip der »rationellen Ernährung«, so Barral, bestehe in der richtigen »Ersetzung« der Nahrungsmittel nach dem Prinzip, dass »zwischen den Grundelementen der Ernährung konstante Verhältnisse aufrechterhalten« werden müssen. Bedeutsam schien dem Autor der Hinweis auf einen »Fortschritt«. Seit man dieses Prinzip kenne, gehe man nicht mehr »nach Zufall oder Routine« vor wie früher, sondern folge »gewissen Regeln«. Das gelte für die Ernährung der Pflanzen wie für die Ernährung der Tiere – wobei hier offensichtlich auch der Mensch hinzugezählt wurde: Im ersten Fall füge man – Barral nannte keine Namen – den Bodeneigenschaften Düngemittel hinzu, um »die Bedürfnisse der Pflanzen zu befriedigen«; im zweiten Fall stelle man die »Nahrungsrationen« so zusammen, dass sie ausreichend Stickstoffe, Korn, Kohlenhydrate und Mineralien enthielten, und dies »auf eine Weise, dass ihre Verhältnisse untereinander optimal dem Nutzen entsprechen, den man erreichen möchte«.109 Zur Erläuterung des der Ökonomie und der Verwaltungswissenschaft zugeordneten Begriffs »Volksernährung« griff Barral auf eine Formulierung zurück, die fast wortgleich in verwaltungswissenschaftlichen Wörterbüchern zu finden war: »Für die Subsistenz der Bevölkerung zu sorgen ist zu allen Zeiten ein konstantes Anliegen der Regierungen und Stadtbehörden gewesen.«110 Dem Text selbst ist allerdings wenig zu entnehmen, was eine solche Umsemantisierung sinnfällig erscheinen ließe. Nach der Feststellung, Subsistenz sei ein historisches, ein überkommenes und gelöstes »Problem«, weil man schließlich verstanden habe, dass »Freiheit und Sicherheit des Handels« kombiniert mit »gut ausgebauten Straßen« und »vielfältigen Transportmöglichkeiten« die einzigen zu verwendenden, weil wirksamen Mittel seien, schließt sich ein ganzer Katalog an Verhaltensregeln und Handlungsanweisungen für gutes Regieren an – »So machen es die richtig regierten Völker«.111 Diese sind ähnlich auch in verwaltungswissenschaftlichen, ökonomischen oder politischen Wörter­büchern zu finden. Von größerer Bedeutung scheint bei dieser großen Schnittmenge vor allem das zu sein, was fehlt: Die Erläuterungen zum Begriff der »Volksernährung« verzichteten auf die systematische Einteilung der staatlichen Eingriffe nach Mo109 Ebd. Vgl. auch Laumonier, Alimentation, S. 149–157: hierbei handelt es sich ebenfalls um einen ernährungsphysiologischen Abriss. Ernährung wurde von dem Physiologen Laumonier als »Versorgung des Organismus mit den für seine Erhaltung, Erholung und Entwicklung notwenigen Substanzen« definiert (S.  149). Es folgte eine Darstellung »Nahrungsrationen« und ihre systematische Unterscheidung nach Klimata, Alter und Geschlecht sowie nach Berufen. 110 Barral, J. A., Alimentation publique, S. 257. 111 Ebd., S. 257.

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dalitäten und Situationen. Einzelne Elemente sind wiederzuerkennen, aber sie waren aus dem systematischen Rahmen herausgelöst. »Den ehrlichen Handel passieren lassen und dafür sorgen, dass er trotz der Aktivitäten des unlauteren Handels immer passieren kann, die Handelsfreiheit in den Markthallen und auf den Marktplätzen sichern, über die öffentliche Gesundheit wachen, Betrug und Fälschungen verfolgen und streng verurteilen lassen ohne jedoch dem lauteren Handel zu schaden: das ist der einzige Schutz, den man von den Behörden fordern darf.«112

Die vorhandenen Elemente wurden nicht etwa nach einem anderen, gar spezifisch landwirtschaftlichen Prinzip neu zusammengesetzt und aneinandergereiht. Die Anordnung der Verhaltensregeln folgte keinem ersichtlichen Prinzip, es war auch keine Haltung erkennbar, die Optionen staatlichen Handelns kategorisch ausschloss. Vielmehr war eher von anzustrebenden Idealzuständen die Rede, von optimalen Verhältnissen. Die Behörden dürften zwar weder damit »beauftragt« werden, »sich um die Versorgung zu kümmern«, noch damit, »die Preise der wichtigsten Lebensmittel zu regeln«. Allerdings gab es Einschränkungen für diese Regel: Nur in bestimmten, »anormalen und glücklicherweise vorübergehenden Umständen wie Seeblockaden und Kriegen« dürfe man diese Maßnahmen er­ greifen. Das waren Situationen, die traditionellerweise vom administrativen Subsistenzkonzept erfasst wurden – allerdings fehlte hier bezeichnenderweise der Hinweis auf weitere Ausnahmezustände wie Perioden der Teuerung, des Mangels oder gar des Hungers. Auch dürfe der Staat prinzipiell weder als Fabrikant noch als Händler auftreten – mit einer »Ausnahme«: unter den Bedingungen eines »absoluten Monopols« wie im Fall des Tabaks. Und schließlich kam es auch in der Zollfrage nicht auf Prinzipientreue an: »Alle Außen- und Stadtzölle sind Hindernisse« – die nicht etwa aufgehoben, sondern »auf ein Minimum reduziert« werden sollten. Insgesamt offenbarte sich in der Ausgestaltung der Handlungsanweisungen für gutes Regieren eher eine flexible Haltung. Barral teilte dem Staat in der Problematik der Volksernährung durchaus positive Aufgaben zu, leitete sie aber nicht aus einer älteren Systematik staatlichen Handelns ab, sondern aus den Freiheits- und Sicherheitsbedürfnissen der Landwirtschaft und des Handels mit landwirtschaftlichen Gütern. In diesem Sinn wurde die Förderung von Genossenschaften befürwortet, die dem Absatz landwirtschaftlicher Produkte dienten. In diesem Sinn hatte der Staat die Aufgabe, »jeden Fortschritt, alle nützlichen Erprobungen, alle Werke öffentlicher Wohlfahrt« unterstützen. Entsprechend sollte er den »ehrlichen Handel« vor unlauterem Wettbewerb »schützen«. Die ab Mitte der 1880er Jahre allgegenwärtige Diskussion über Agrarzölle wurde hier jedoch nicht aufgegriffen. Wenn all diese Regeln befolgt würden, dann sei die »Volksernährung auf beste Weise gesichert«,113 notierte Barral. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 257.- Ähnlich verwendete Raoul Duval den Begriff: »Unter einem solchen Regime durfte man kaum damit rechnen, dass der Handel den Bedarf der Volksernährung befriedigen konnte«, siehe Duval, S. 907.

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Auch in diesem Satz ließ sich das Wort Volksernährung ohne weiteres durch Subsistenz ersetzen. Ein Grund für die semantische Umstellung könnte deshalb in der strukturellen Kopplung des ökonomischen Versorgungsbegriffs mit dem physiologischen Ernährungsbegriff gesehen werden, die im Subsistenzkonzept nicht vorhanden war. Sie ermöglichte es jedoch, zwei heterogene Dimensionen der Versorgung zusammenzudenken, die im Zeitalter der Industrialisierung und der Arbeitskraft des »menschlichen Motors«114 zusammenrückten: auf der einen Seite die Versorgung des individuellen Körpers, die Ebene der physiologischen Prozesse, auf der anderen Seite die Versorgung des Haushalts115 und der Bevölkerung, die Ebene der ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse.116 Seine volle Ausprägung fand dieses Konzept allerdings erst in den 1920 Jahren und auch nicht auf dieser Seite des Konzepts, sondern im hygienischen und physiologischen Wissen.

114 Vernon, S. 81–117; Rabinbach, S. 156–161. 115 Diese Perspektive der Haushaltsversorgung lag dem gesamten siebten Band von Gaffards Subsistenzenzyklopädie zugrunde: »Ce septième livre, sur les subsistances ou objets relatifs à l’alimentation, commence la troisième partie de l’ouvrage, consacrée à l’économie domestique, que complétera le 8e livre, traitant de l’entretien de l’homme, ou de in satisfaction de ses besoins naturels, en l’état de santé, autres que l’alimentation, et tels que habitation, chauffage, éclairage, vêtements, etc. L’Économie domestique est, dans le sens le plus étendu, l’art d’administrer les affaires privées de la maison de la manière la plus conforme au bien-être«, siehe Gaffard, S. 5. 116 Vgl. Pouchet, Livre II und ders., Théorie.

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VI. Wettbewerb zugunsten des Verbrauchers? Kommunale Versorgungspolitik auf den Fleisch- und Brotmärkten der Dritten Republik, 1869–1905

Das Gesetz zur Betrugsbekämpfung von 1851 verankerte mit der Hygiene eine »neue Spielregel« im Lebensmittelmarkt.1 Während die rechtlichen Aspekte der Produktnormierung und -standardisierung bereits Gegenstand umfassender Forschung sind,2 ist die darauf bezogene Ebene der konkreten Polizeiarbeit in den Kommunen noch weniger ausgeleuchtet: Wie stellte sich das Problem der Produktqualität und der Lebensmittelsicherheit in der kommunalen Marktund Gewerbeaufsicht dar? Auf welche Weise, aus welchen Gründen, unter welchen Maßgaben, mit welchen Zielen und mit welchen Auswirkungen hielt der Aspekt der Lebensmittelsicherheit, d. h. die Betrugs- und Fälschungsprävention, zwischen 1851 und 1905 als ordnungspolizeiliche Dimension Einzug in die Markt- und Gewerbeaufsicht? Die Ausdifferenzierung und Entfaltung dieses ordnungspolizeilichen Arbeitsfeldes scheint mit der Abkehr von direkten Eingriffen der Verwaltung in die Preisentwicklung einhergegangen zu sein. Da diese neuen Tätigkeiten auf den Märkten Spezialwissen voraussetzten, rekrutierte die Gewerbe- und Marktaufsicht Experten, über deren Arbeit im Rahmen der kommunalen Ordnungspolizei noch wenig bekannt ist. Dabei ist von vornherein abzusehen, dass sie nicht einfach Erfüllungsgehilfen von Vorschriften und Anordnungen ihrer Vorgesetzten waren, sondern dass ihre Arbeit im Alltag eine Eigendynamik entfaltete, die darüber weit hinausging.3 Welchen Beitrag leisteten diese Experten im kommunalen Ordnungsdienst für die Neudefinition der klassischen Subsistenzfrage unter Wettbewerbsbedingungen als Staatsaufgabe bzw. als Aufgabe von Handel, Gewerbe und Zivilgesellschaft? Inwiefern kann man hier in Anlehnung an Lorraine Daston von einer ›moralischen Ökonomie der Expertise‹ sprechen?4 Inwiefern kamen in der Praxis der Experten moralische Wertorientierungen gegenüber dem Handel und nicht nur ethische Haltungen bezüglich der wahrheitspolitischen Bedingungen ihrer Tätigkeit zum Tragen? Die Berufung auf die Objektivität wis1 Nadau, S.  77; Stanziani, Histoire, S.  50–56; zur öffentlichen Gesundheit in der Bretagne um 1890 siehe Léonard; zur Hygienebewegung allgemeiner siehe Bourdelais; Murard u. Zylberman. Text und Begründung des Gesetzes vom 27. März 1881 in Riché. 2 Stanziani, Histoire, S. 50 ff. 3 Zur Aufnahme von bürgerlichen Akteuren mit Bildungstiteln in den Dienst der Stadtverwaltung, der sich im 19. Jahrhundert vollzog und im letzten Drittel stark beschleunigte, siehe Dumons. u. Pollet, Entrer; Marec, Capacités. 4 Daston.

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senschaftlicher Methoden und mit ihnen erzielter Ergebnisse führte eine ganz andere Legitimität ins Feld als eine Amtsperson. Welche Rolle spielten also moralische Vorstellungen auch über die richtige Art und Weise der Herstellung und Vermarktung der Produkte, die sie prüften und deren gesundheitspolizeiliche Unbedenklichkeit sie beurteilten? Welche Zusammenhänge gab es zwischen dieser Form der Moralisierung der Lebensmittelmärkte durch Experten, die an den zentralen Funktionsstellen der Gewerbe- und Marktaufsicht eingesetzt wurden, und der »moralischen Ökonomie der Menge«, mit moralischen Vorstellungen über richtiges Wirtschaften von Teilnehmern an Subsistenzprotesten also, die noch 1846/47 Kornhändler, Müller, Bäcker und auch Beamte in Teuerungsphasen unter Rechtfertigungszwang gesetzt hatten?5 Inwiefern entstand mit der Hygiene und gesundheitspolitischen Imperativen ein neuer Wertehimmel, der zwar vor allem von den Experten und der bürgerlichen Gesellschaft geteilt wurde, der aber zugleich dazu führte, dass die Experten im Polizeidienst sich zu Erziehern der Produzenten und zu Repräsentanten der vermeintlich ›unwissenden‹ Konsumenten aufschwangen? Anhand der beiden Beispiele Brest und Rennes wird nicht so sehr auf Vergleichbarkeit abgehoben oder Repräsentativität angestrebt. Vielmehr geht es um die diskursiven Zusammenhänge von Verwaltung, Wissen und Politik sowie die konkrete Ausgestaltung von Subsistenzpolitik. Das führt in diesen beiden Fällen zu einem Ausgleich der Aspekte. Während sich anhand des Materials aus dem Stadtarchiv von Brest die langfristigen Entwicklungen der Markt- und Gewerbeaufsicht nachzeichnen lassen und hier insbesondere die Ausdifferenzierung und Wirksamkeit eines unter physiologischen, naturwissenschaftlichen und gesundheitspolizeilichen Vorzeichen etablierten Kontrolldispositivs, lässt sich anhand des Materials aus dem Archiv der Stadt Rennes ein anderer Aspekt verdeutlichen: Die konkrete Praxis der Experten, das »Handeln« der beaufsichtigten Akteure und die Rekonfiguration der Versorgungskonflikte.

1. Lebensmittelinspektion, öffentlicher Schlachthof und Chemielabor: Transformationen der Markt- und Gewerbeaufsicht in Brest, 1869–1887 Im Zeitraum zwischen Ende der 1860er und Mitte der 1880er Jahre drangen neue Wissensformen, Analysetechniken und Experten in den Apparat der kommunalen Marktpolizei in Brest vor. Dabei entstand mit der Lebensmittelinspektion (ab 1869), dem Chemielabor (ab 1883) und dem öffentlichen Schlachthof (ab 1887) ein Gefüge kommunaler Institutionen, das nicht nur den Fokus, die Praxis und die Rationalität der ordnungspolizeilichen Aufsicht über die Lebensmittel produzierenden Betriebe und den Lebensmittelhandel auf den offenen 5 Thompson, E. P., S. 76–136.

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Märkten veränderte. Spätestens ab den 1890er Jahren entfaltete es auch Wirkungen auf das Beziehungsgeflecht zwischen urbanen Räumen, Lebensmitteln und Konsumenten. Materialgrundlage für diesen Abschnitt der Untersuchung ist die archivalische Überlieferung der kommunalen Marktaufsicht (police des halles et marchés),6 der Fleischereiaufsicht (police de la boucherie),7 die Dokumentation der Projektdiskussionen über den öffentlichen Schlachthof8 und seinen Betrieb9 sowie des Chemielabors10 im Stadtarchiv von Brest. Analysiert wird der historische Diskurs, den diese von einer Signatur zusammengehaltenen und zugleich von anderen Serien differenzierten, von unterschiedlichen Akteuren produzierten Dokumente über ihr jeweiliges Thema konstituierten. Diese Vorgehensweise birgt zwei Möglichkeiten. Erstens kann auf diese Weise untersucht werden, wie sich das in der Kommunikation innerhalb der Behörde und zwischen Beamten und Bürgern erzeugte Aktenwissen der Gewerbe- und Marktaufsicht durch das Vordringen physiologisch-medizinischen und naturwissenschaftlichen – kurz: hygienischen – Wissens veränderte. Zweitens kann das Akten­ wissen so systematisch daraufhin untersucht werden, wie es die Gegenstände ganz praktisch hervorbrachte, die in ihm auf bestimmte Weise dargestellt, thematisiert und problematisiert wurden. Ausgehend von der Materialität der Akten wird in der Gesamtschau unmittelbar ersichtlich, dass die Jahre um 1880 für das administrative Wissen und die Praxis der Gewerbe- und Marktaufsicht in Brest einen entscheidenden Wendepunkt darstellten. Zwischen 1878 und 1882 schwoll die Überlieferung in allen drei untersuchten Aktenbeständen erheblich an. Die Berichte des Lebensmittelinspektors häuften sich 1881 anlässlich verstärkter Kontrollen von aus den USA importiertem Schweinefleisch auf Trichinenbefall. Die 1878 begonnenen Diskussionen über das neue Schlachthofprojekt traten 1881 mit der Beratung im Stadtrat in ihre entscheidende Phase. Eine bereits 1872 und 1874 in Kommissionen beratene und im Stadtrat geführte Diskussion über Maßnahmen gegen die Fleischteuerung wurde 1880 wieder aufgenommen. Und 1882/83 schließlich wurde in relativ kurzer Zeit die Einrichtung eines städtischen Chemielabors diskutiert und beschlossen. Diese chronologische Konvergenz lässt  a priori darauf schließen, dass in der Stadtverwaltung von Brest um 1880 eine grundlegende Problematisierung der existierenden Einrichtungen und Praktiken der 6 AMB  1I7.1: Halles et marchés/règlementation, emplacements, denrées, droits de places [1793–1959]. 7 AMB 5I11.2: Surveillance des abattoirs privés; Projet d’abattoirs public. an III-1882; AMB 4F5.1: Boucherie: listes des bouchers, qualité de la viande, prix, condition de vente, locaux, consommation de viande [1791–1954]. 8 AMB M 232: Abattoirs de Brest; projet de construction etc]. 9 AMB  5I11.3: Abattoirs du Boulevard Gambetta; Marchés d’animaux dans l’enceinte; règlementation, Organisation de l’abattoir; inspection des viandes [1887–1859]; AMB 5I11.4: Abattoirs public; rapport d’activité [1887–1974]. 10 AMB 5I4.3: Laboratoire municipal [1882–1966]; AMB 5I4.4: Laboratoire municipal.

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Gewerbe- und Marktaufsicht stattfand. Dabei stellte sich schnell ein Konsens darüber ein, dass die Aufsicht, so wie sie bis dahin ausgeübt wurde, nicht genau genug hinsah bzw. dass ihr wesentliche Dinge entgingen, ja zwangsläufig entgehen mussten. Doch inwiefern waren der öffentliche Schlachthof und das Chemielabor Lösungen für dieses Problem? Und welche Verschiebungen des administrativen Kontrollblicks, des administrativen Produkt- und Handelswissens gingen mit ihrer Einrichtung und mit ihren Praktiken einher? 1.1 Lebensmittelinspektion Die Überlieferung zur Marktpolizei in Brest im hier interessierenden Zeitab­ schnitt umfasst Dokumente, die höchst unterschiedliche Aspekte thematisieren. Sie reichen von Entwürfen und Korrespondenzen zur Reform der Marktordnung in den Jahren 1844–47,11 185512 und 189513 bis zu den Jahresberichten des Lebensmittelinspektors um 1900.14 Gerade diese Bandbreite der Aspekte und Vorgänge macht es möglich, das Verhältnis von Experten mit Spezialwissen zur administrativen Marktaufsicht genauer zu bestimmen. Bis zur Einstellung eines Lebensmittelinspektors im Jahr 1869 tauchen in den Akten der Marktaufsicht nur vereinzelt Vorgänge auf, in denen spezielle Expertise mobilisiert wurde. So holte der Bürgermeister in den Jahren 1842 und 1845 bei der örtlichen Ärztegesellschaft (Societé médicale de Brest) Gutachten zu havariertem Getreide und zu verdorbenen Kartoffeln ein.15 Insbesondere im zweiten Fall, in dem es um Kartoffelfäule ging, ist das Vorgehen der Behörde als typisch für die Phase anzusehen, in der die Verwaltung nicht über interne Expertise verfügte. Der Bürgermeister betraute eine in der Ärztegesellschaft rekrutierte Kommission mit der Untersuchung des Problems.16 Doch auch die hielt es für notwendig,

11 AMB  1I7.1: Cunin-Gridaine, MI, an: Préfet du Finistère, 19.9.1844; ebd.: Cocagne, Sous-­ Préfet de Brest, an: Lettré, Maire de Brest, n° 3415 Règlement de la mairie de Brest pour la police des marchés, 1.10.1844; AMB  4F5.1: Cunin-Gridaine, an: Préfet du Finistère, 26.5.1846; AMB  1I7.1: Cunin-Gridaine, ministre, an: Préfet du Finistère, 9.9.1846; AMB 1I7.1: Lettré: Règlement de police des marchés – projet, 21.8.1846–2.2.1847; ebd.: Conseil, A. B., Maire par interim, Extrait des registres des actes administratives de la mairie de Brest, 23.11.1847. 12 AMB 1I7.1: Mairie de Brest [arrêté de police des marchés], 22.9.1855. 13 AMB 1I7.1: Delobeau, Règlement de police des halles et marché, o. D. [1895]. 14 Der erste (erhaltene Bericht) stammt von Hévin aus dem Jahr 1873: AMB 1I7.1: Hévin, pharmacien, inspecteur des denrées alimentaires, an: Maire de Brest, [Tätigkeitsbericht für 1872], 21.4.1873. 15 AMB 1I7.1: Jean-Nicolas Grémillet, Commissaire de police de Brest, Louis Guillaume Toussaint Tournache, Commissaire de police du 1re arrondissement, 7.1.1842; ebd.: Debry [u. a.], docteur en médecine, 22.2.1842. 16 AMB 1I7.1: société médicale de Brest, an: Maire de Brest, [Pommes de Terre], 11.9.1845.

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»zwei Männer hinzu zu bitten, die aufgrund ihrer Spezialkenntnisse in der Lage sind, zur Aufklärung der Frage sehr viel beizutragen, die in fast ganz Frankreich an der Tagesordnung ist. Dies sind die Herren Crouan, ausgezeichneter Pharmazeut in Brest, der sich mit großer Sorgfalt Studien der Botanik widmet, und Paugam, der mit großem Erfolg den botanischen Garten von Brest leitet.«17

Die Verwaltung mobilisierte punktuell in solchen Fällen die örtliche Ärzteschaft, um die Qualität von Lebensmitteln prüfen zu lassen. Ein Apotheker und ein Botaniker ergänzten notfalls den medizinischen Sachverstand. Einige in der Akte dokumentierte Vorgänge aus den Jahren 1854 und 1866 zeigen, dass die Problematisierung der Lebensmittelqualität sich innerhalb der Verwaltung auch auf den Obsthandel bezog. Ein Schreiben des Bürgermeisters von Plougastel auf der Brest gegenüberliegenden Halbinsel Crozon vom 15. August 1854 kritisierte »die Maßnahmen des Brester Bürgermeisters zur Unterbindung des Verkaufs von Früchten schlechter Qualität oder von solchen, die noch nicht den angemessenen Reifegrad erreicht haben«, weil sie den Händlern aus Plougastel zum Nachteil gereichten. Da er diese Maßnahmen grundsätzlich für richtig hielt, unterbreitete er einen Kompromissvorschlag, dessen Formulierung zugleich ein Schlaglicht auf die Kontrollpraxis in Brest wirft: »Ich würde Sie bitten, erstens den Polizeikommissar anzuweisen, die Inspektion der Früchte auf dem Brester Kai durchzuführen, denn das würde Transportkosten und Marktsteuern sparen; zweitens die Behälter zu markieren, in denen Obst guter Qualität festgestellt wurde; und drittens diejenigen zu verlesen, in denen einige unreife Früchte festgestellt wurden, denn wenn die mir vorgetragenen Berichte stimmen, dann sind Obstkörbe, die der eine Polizeibeamte als von guter Qualität ansah von anderen Polizisten konfisziert worden«.18

Ein Bericht des Zentralkommissars aus dem August 1866 nahm die Problematik grundsätzlicher auf. Gemäß der »verhängnisvollen Gewohnheiten der Gegend« habe man sowohl auf dem Markt als auch in den Geschäften unreife oder verfaulte Früchte angeboten, merkte er an. »Bis heute hat man dem freilich nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn man es einmal ansprach, bekam man zu hören, dass man das schon lange so mache und es deshalb in der Stadt auch nicht mehr Kranke« gebe. Unter den »aktuellen Umständen« – hier spielte er auf die Teuerung der Jahre 1866 bis 1869 an – hielt es der Kommissar indes für besser, »die Verantwortung der Behörden zu schützen« und anzukündigen, dass ab sofort Kontrollen durchgeführt und verdorbene Früchte eingezogen würden.19 Die Kontrolle von Obst, wie die anderer Lebensmittel, oblag also den Ordnungspolizisten im Rahmen ihrer täglichen Routine. Dass diese 17 AMB 1I7.1: Société médicale de Brest, [Pommes de Terre], 24.9.1845; ebd.: société médicale de Brest, an: Maire de Brest, Rapport de la société de médecine de Brest, 22.4.1846. Siehe auch Conseil d’Hygiène et de salubrité. 18 AMB 1I7.1: Maire de Plougastel, an: Maire de Brest, 15.8.1854. 19 AMB 1I7.1: Commissiare central, an: Maire de Brest, 31.7.1866.

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unterschiedliche Auffassungen von guter Qualität hatten, scheint der Vorschlag des Bürgermeisters von Plougastel zu belegen. Das kurze Memorandum des Hauptkommissars wiederum formulierte einen Zusammenhang zwischen unreifen Früchten, Lebensmittelvergiftung und Verantwortung der Behörden und schlug die Lösung des Problems vor – regelmäßige Kontrollen. Die Einrichtung des Amtes eines »Lebensmittelprüfers« (vérificateur des denrées) im Jahr 1869 verankerte schließlich spezielle Kenntnisse über die Eigenschaften von Lebensmitteln innerhalb der Brester Stadtbehörde und machte sie zu einem festen, permanenten Bestandteil der kommunalen Gewerbe- und Marktaufsicht. Der konkrete Kontext dieser Einrichtung erschließt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Vorgang selbst, doch spricht einiges dafür, dass die Brotteuerung der Jahre 1868/1869 der Stadtverwaltung gewichtige Argumente lieferte. In der Teuerung des Jahres 1854 hatte der Stadtrat eine entsprechende Initiative des Bürgermeisters mit dem Argument abgelehnt, ein solcher Inspektor würde die Handelsfreiheit zu sehr einschränken. Ende der 1860er Jahre befanden sich die Führung der Stadtverwaltung und die Stadtratsmehrheit fest in der Hand der wenigen großen Marineausstatter und Handelshäuser. Die in der Brester Arbeiterbevölkerung erhobene Forderung nach Wiedereinführung der 1863 ausge­ setzten offiziellen Brottaxe wurde mit revolutionären Drohungen verbunden – »wir werden bald wieder 1848 haben!«20 – und Kritik am Bürgermeister Kerros auf dessen Eigeninteressen als Geschäftsmann zurückgeführt  – »[…] weil Sie Händler sind«.21 Dass in der Einsetzung eines Lebensmittelprüfers, der seinen Dienst auf den Märkten, in den Bäckereien und Fleischereien versah, in dieser Situation eine Möglichkeit gesehen wurde, die aufgebrachte Stimmung zu beruhigen, ist durchaus möglich, hatten doch im Jahr 1856 die Dampfmühlenbetreiber des südlichen Finistère mit genau diesem Ziel dem Präfekten die Bestallung eines Kornspeicherinspektors vorgeschlagen.22 Die am 29. Oktober 1869 vom Bürgermeister unterzeichnete Dienstordnung des Lebensmittelprüfers sowie eine spezielle Dienstanweisung sind von diesen Spannungen zwischen der in der Bevölkerung erhobenen Forderung nach mehr Kontrolle der Lebensmittel produzierenden Gewerbe und Lebensmittelhändler einerseits und der möglichst weitgehenden Beschränkung dieser Kontrolle andererseits gekennzeichnet. Die Dienstordnung umfasste fünf Paragrafen. Der erste Abschnitt regelte grundsätzlich die Stellung des Prüfers im Dienst der Polizei: »Der Inspektor hält sich dem Zentralkommissar und folglich allen Bezirkskommis­ saren zur Verfügung. Seine Handlungen sind null und nichtig, solange sie nicht von einem Polizeikommissar bestätigt worden sind, der allein befugt ist, die rechtlichen 20 AMB 6F4: Tangui, Mayard, Gamguenel, Marzon, Pivert, Goitier, Thomas, Blong, +, an: Kerros, 11.11.1867. 21 AMB 4F4.2: O.A., an: Kerros, 25.8.1868. 22 Auch das Gesetz zur Verbesserung der Betrugsbekämpfung im Lebensmittelhandel vom 27. März 1851 ist in diesem Sinn interpretiert worden, siehe Stanziani, Histoire.

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Schriftstücke auszustellen, die sich aus einem Betrug oder der schlechten Qualität von in Verkauf gebrachter Ware ergeben. Wenn eine Anzeige auszustellen ist, dann verfasst er einen Bericht, der an das Protokoll des Polizeikommissars angeheftet wird«.23

Damit war a priori zweierlei klargestellt: Erstens wurde zwischen dem Expertenurteil und der amtlichen Entscheidung prinzipiell unterschieden; die Entscheidungen des Prüfers hatten an sich keinerlei rechtliche Bindung. Zweitens wurde Spezialwissen über Lebensmitteleigenschaften zwar in die Marktaufsicht eingebunden, dies allerdings auf einer subalternen Position. Der Prüfer war lediglich ein Gehilfe der Ordnungspolizei.24 Die beiden folgenden Paragraphen spezifizierten die Ausübung und die Aufgaben der Inspektion. § 1 legte fest, dass der Inspektor »täglich die Märkte und anderen Orte des Verkaufs aufsucht, um sich der guten Qualität der Dinge zu versichern, die der Ernährung dienen, d. h. Korn, Brot, Fleisch- und Wurstwaren, Geflügel, Wild, Fisch, Austern, Muscheln, Butter, Eier, Käse, Milch, Getränke aller Art, Gemüse und Obst, sowie die Produktionsstätten [laboratoires] der Metzger und die Schlachthöfe, um sich des Zustands der Tiere vor der Schlachtung zu versichern«.25

Dass die zu kontrollierenden Dinge genannt und aufgezählt wurden, bedeutete auch, dass sich der Inspektor außerhalb dieser Liste auf unsicherem Terrain bewegte. Bezeichnenderweise war hier zudem von den Läden und Marktständen die Rede sowie von Metzgereien und Schlachthöfen – nicht jedoch von Mühlen oder Bäckereien. Der dem Inspektor vorgeschriebene Überwachungsfokus war folglich einerseits auf Dinge im Markthandel und andererseits vor allem auf Fleisch gerichtet. Bezüglich des Fleischs präzisierte die Dienstordnung des Weiteren, dass sich der Inspektor mit den städtischen Steuerbüros in Verbindung zu setzen habe, von denen er »nützliche Informationen über die in die Stadt gebrachten Tiere«26 erhalten könne. Der zweite Absatz (§ 2) enthielt Vorschriften zur Vorgehensweise des Inspektors: »Was die auf den Märkten und öffentlichen Wegen zum Verkauf angebotenen Waren betrifft, soll [der Inspektor, d. Vf.] die schlechten beschlagnahmen und auf die Straße werfen, ohne dass dies zur Anzeige gebracht werden muss. Notwendig ist dazu allerdings das Einverständnis des Händlers«.27

Was zunächst wie eine sehr weitreichende Befugnis klingt, entpuppt sich im Nachsatz als eine grundsätzliche Einschränkung. Im Prinzip konnte der Inspek­ 23 AMB 1I7.1: Ville de Brest. Règlement administratif relatif à l’Inspecteur des denrées alimentaires, 29.10.1869. 24 Erst im Jahr 1889 wurde der Lebensmittelinspektor vereidigt und erhielt damit die gleichen rechtlichen Befugnisse wie die übrigen Polizeibeamten. 25 AMB 1I7.1: Ville de Brest. Règlement administratif relatif à l’Inspecteur des denrées alimentaires, 29.10.1869. 26 Ebd. 27 Ebd.

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tor ohne die Zustimmung des betroffenen Gewerbetreibenden oder Händlers gar nichts tun. Beanstandete Ware unbrauchbar zu machen, setzte Konsens voraus und war ersichtlich auf Aushandlung ausgelegt. Für Fälle, in denen sich zwischen Händler und Inspektor keine Einigkeit über die Bewertung der Qualität einstellte, gab es in der Dienstordnung deshalb eine Zusatzbestimmung: »Wenn der Händler Widerspruch einlegt, wird zu einer Gegen-Expertise in Anwesenheit des Polizeikommissars geschritten, der, falls nötig, eine Anzeige aufsetzt«.28 Auf jeden Fall erhielt die vorgesetzte Behörde dann Kenntnis von dem Streit, denn der Polizeikommissar hatte anschließend einen Spezialbericht anzufertigen, der den Vorgang »der Verwaltung zur Kenntnis«29 brachte, d. h. dem mit der Marktaufsicht betrauten stellvertretenden Bürgermeister. Mit anderen Worten: Diese Fälle waren mit mehr Arbeit verbunden. § 3 legte die Art und Weise des Vorgehens bei Kontrollen von niedergelassenen oder reisenden Händlern fest. Diese wurden aus der Dienstroutine explizit ausgeklammert: »In diesem Fall stellt sich der Inspektor dem zuständigen Polizeikommissar zur Verfügung, ohne dessen Gegenwart die Inspektion in bestimmten Fällen als Behördenübergriff oder als Hausfriedensbruch qualifiziert werden könnte«.30 Das war eine logische Folge des Umstands, dass der Inspektor nicht mit Amtsmacht ausgestattet war. Solche Kontrollbesuche sollten nur dann stattfinden, »wenn ein Händler angeklagt wird oder wenn sie aufgrund bestimmter Hinweise von den Polizeikommissaren für notwendig erachtet werden«,31 also bei Strafverfolgung und kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit. Schließlich wurde dem Inspektor noch eine Bestimmung auferlegt, die ihm das Interesse an Beschlagnahmungen fast vollständig nehmen musste. § 4 schrieb vor: »Die Kosten für die Analyse der von ihm geprüften und von den Polizeibeamten oder Steuerbeamten angezeigten oder eingezogenen Gegenstände obliegen dem Inspektor«.32 Ob die Kosten nachträglich erstattet wurden oder nicht, ist der Dienstordnung nicht zu entnehmen. Die Verwaltung setzte mit dieser Vorschrift jedenfalls einen negativen Anreiz. Die Form der Einbindung von speziellen Kenntnissen über die Natur der in Brest gehandelten Lebensmittel, ihre Herstellungsweise, ihre Herkunft und Eigenschaften in die Marktpolizei stellte eine Rationalisierung33 widerstreitender Interessen in der öffentlichen Kontroverse über die Lösung des Versorgungskonflikts der Jahres 1868/69 dar. Zugleich war diese Konstellation derjenigen ähnlich, die im Kontext der Zweiten Republik und als fernes Echo auf die zahlreichen Betrugsfälle während der Teuerungsperiode der Jahre 1845 bis 1847, wie im Gutachten der Berichterstatter deutlich wird, zur Verabschiedung des 28 Ebd. 29 Ebd. 30 AMB 1I7.1: Ville de Brest. Règlement administratif relatif à l’Inspecteur des denrées alimentaires, 29.10.1869. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Lascoumes, S. 387–401.

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Gesetzes vom 27. März 1851 geführt hatte. Allerdings hatte dieses Gesetz lediglich ältere Rechtsvorschriften zu Betrug im Lebensmittelhandel mit dem erklärten Ziel systematisiert, die Rechtskategorie Betrug präziser zu fassen. Nicht nur betrogene Konsumenten, sondern auch betrogene Händler sollten so bessere Möglichkeiten haben, ihre Rechte vor Gericht durchzusetzen. Was das Gesetz gerade nicht institutionalisierte, war eine vorbeugende Strategie im Sinn polizeilicher Kontrolle und Betrugsprävention. Einen Schritt in genau diese Richtung tat jedoch die Stadtverwaltung von Brest im Jahr 1869, indem sie einen Lebensmittelinspektor in der Marktaufsicht einsetzte. Dessen Dienstanweisung drängte indes auf weitgehende Zurückhaltung: »Da die Verwaltung in keiner Weise die Absicht hegt, diejenigen zu schikanieren, die unsere Märkte versorgen, wird dem Inspektor nahegelegt, ihnen gegenüber umsichtig und zurückhaltend zu handeln und ihnen sogar alle möglichen Zugeständnisse zu machen, die mit den Rechten der Käufer vereinbar sind«.34

Über die drei Personen, die dieses Amt in Brest im Untersuchungszeitraum inne­ hatten, ist verhältnismäßig wenig bekannt. Allerdings verfügten alle drei über pharmazeutische Bildung. Der 1869 eingestellte Inspektor, Hévin, übte diese Tätigkeit nur knapp vier Jahre aus; sein Nachfolger ab 1876, Armand Désiré Pennors, ein ortsansässiger Apothekergehilfe, versah dieses Amt 26 Jahre lang bis zu seinem Tod im Jahr 1899, und selbst als seinen Nachfolger, Eugène Lucien François Retière, wählte die Stadtverwaltung einen diplomierten Pharmazeuten.35 Die alltägliche Arbeit der Inspektoren ist in den Akten der Marktaufsicht nur spärlich dokumentiert, auch wenn sie diese Überlieferung seit den 1870er Jahren dominiert. Einige wenige Schriftstücke legen nahe, dass der Inspektor täglich, wöchentlich und monatlich Bericht erstattete, doch im Unterschied zu den Jahresberichten sind von diesen nur einzelne erhalten. Die für die Jahre zwischen 1873 und 1899 erhaltenen jährlichen Tätigkeitsberichte des Lebensmittelinspektors bilden dagegen eine durchgehende Serie, deren Analyse zeigt, wie das Wissen der Inspektoren über die Lebensmittel produzierenden Gewerbe und den Markthandel aufgebaut war, wie es sich veränderte und wie sie ihre eigene Praxis reflektierten. Weil sich die Bedeutung der Lebensmittelinspektion mit der Eröffnung des Labors 1883 und des Schlachthofs 1887 veränderte, werden im Folgenden zunächst nur die Berichte bis 1887 ausgewertet. 34 AMB 1I7.1: Instruction particulière à donner à M…. vérificateur des denrées alimentaires, o. D. [1869]. 35 AMB 1I7.1: Eugène Lucien Francois Rétière, an: Delobeau, Maire de Brest, [lettre de candi­ da­ture], 10.11.1899. Weitere Bewerbungen, die auch dokumentieren, welche Qualifikatio­ nen das bürgerliche Publikum für erforderlich hielt, um diese Tätigkeit auszuüben, siehe ebd.: Auguste Edouard Peron, [Lettre de candidature], 7.11.1899 (ebenfalls ein Pharmazeut); G. Cartes, [lettre de candidature], 9.11.1899, (ein Agronom); Cohou, an: Delobeau, Maire de Brest, 10.11.1899 (ein Weinhändler und ehemaliger stellvertretender Bürgermeister von Landivisiau); Etienne Picard, an: Delobeau, Maire de Brest, 14.11.1899 (ein Handelsangestellter).

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Die allgemeine Gliederung dieser Berichte wandelte sich kaum  – das gilt im Übrigen über das Jahr 1887 hinaus. Lediglich der Wechsel von Hévin zu­ Pennors im Jahr 1877 brachte eine Veränderung. Die drei erhaltenen Berichte Hévins folgten keiner einheitlichen Struktur. So begann etwa der zweite Bericht für das Jahr 1873 mit einer Übersicht über Prozesse wegen Lebensmittelbetrugs und, nach einzelnen Lebensmitteln sortiert, über die Konfiszierungen. Anschließend folgten Abschnitte zu einzelnen Lebensmitteln, in denen zunächst die Menge betrachtet und mit den Preisen in Beziehung gesetzt und im zweiten Schritt die Qualität der Waren dargestellt wurde. Meist folgte am Ende der einzelnen Abschnitte eine Bewertung, die beides in Beziehung setzte.36 Der erste (erhaltene) Bericht für das Jahr 1872 war auf der obersten Ebene nach Waren gegliedert,37 während der dritte Bericht nach Konfiszierungen gliederte.38 Sein Selbstverständnis und den eindeutig auf Prävention ausgerichteten Zweck seiner Praxis formulierte Hévin am Ende des zweiten Berichts: »Am Ende […] glaube ich sagen zu können, […] dass meine unablässige Tätigkeit einiges zur Verhinderung von Missbräuchen [abus] beiträgt, wie es im Übrigen auch meine täglichen Berichte belegen«.39 Die Jahresberichte Pennors ab 1877 wiesen eine andere, eine analytischere Gliederung auf, die sich als bemerkenswert stabil erwies. Die Berichte umfassten nun zwei große Abschnitte zur »Versorgungslage« (approvisionnement, approvisionnement général) und zur »Inspektion und besondere[n] Vorkommnisse[n]«. Auch die Reihenfolge, in der diese beiden Gesichtspunkte behandelt wurden, blieb bis auf eine charakteristische Ausnahme – im Bericht über das Jahr der Schlachthoferöffnung 1887 war die Reihenfolge vertauscht – die gleiche.40 Pennors führte also in seinen Jahresberichten zwei unterschiedliche polizeiliche Perspektiven auf die Lebensmittel produzierenden Gewerbe und den Lebensmittelmarkt in Brest zusammen: Auf der einen Seite eine totalisierende Perspektive, in der die Gesamtmenge der in Brest gehandelten Lebensmittel im Verhältnis zum Verbrauch erfasst und bewertet wurde, und auf der anderen Seite eine individualisierende Perspektive, in der die einzelnen Lebensmittelarten im Hinblick auf ihre Qualität – »in der Regel gut«, »lässt zu wünschen übrig« – beurteilt wurden.41

36 Vgl. AMB  1I7.1: Hévin, pharmacien, inspecteur des denrées alimentaires, an: Maire de Brest, [Tätigkeitsbericht für 1873], 10.4.1874. 37 AMB 1I7.1: Hévin, an: Maire de Brest, [Tätigkeitsbericht für 1872], 21.4.1873. 38 AMB 1I7.1: Hévin, an: Maire de Brest, [Tätigkeitsbericht für 1874], 23.4.1875. 39 AMB 1I7.1: Hévin, an: Maire de Brest, [Tätigkeitsbericht für 1873], 10.4.1874. 40 Das weist – wie einige andere teilweise wörtliche Übernahmen aus späteren Berichten – darauf hin, dass sich Pennors im Aufbau an seinen vorherigen Berichten orientierte. 41 Zu dieser Verschränkung in der politischen Rationalität der Polizei bei Foucault, »Omnes et singulatim«, S. 953–980.

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1.2 Schlachthofbau Das im Jahr 1861 durch einen Beschluss des Innenministers abgebrochene Projekt eines öffentlichen Schlachthofs der Brester Stadtverwaltung wurde Ende der 1870er Jahre wieder aufgenommen und in der ersten Hälfte der 1880er Jahre umgesetzt. Allerdings nahm die Stadtverwaltung nicht schlicht das alte Projekt aus der Schublade, sondern ließ völlig neu planen. Die diskursanalytische Auswertung der Akten zu dieser zweiten Projektierungsphase und insbesondere die Überlieferung der Brester Fleischergewerbe- und Fleischmarktaufsicht zeigt, dass sich die Bedeutung des Schlachthofs als ordnungspolizeiliches Instrument in den Diskussionen innerhalb der Stadtverwaltung und ihrer Beratungs­ gremien im Verlauf der 1870er Jahre erheblich verschob. Das administrative Verständnis des Schlachthofs wurde in dieser Zeit in Brest von einer Spannung zwischen zwei diskursiven Kontexten geprägt: Zum einen von der teuerungspolitischen Diskussion der Jahre 1871 bis 1874 bzw. 1880, zum anderen durch hygienische Argumente, die insbesondere in den vorbereitenden Projektdiskussionen Ende der 1870er und zu Beginn der 1880er Jahre überwogen. Die Überlieferung ist für diesen Zeitraum sehr viel dichter als im Fall der Lebensmittelinspektion. Die Dokumente lassen sich drei größeren Komplexen zuordnen, nämlich der ordnungspolizeilichen Kontrolle der Fleischereien durch die örtlichen Polizeibeamten, die allerdings wiederum nur sporadisch dokumentiert ist; den Beratungen einer zu diesem Zweck eingerichteten Stadtratskommission über geeignete Maßnahmen gegen die Fleischteuerung, die unter anderem Informationen aus anderen Städten einholte; und schließlich der Diskussion und der konkreten Planung des Schlachthofbaus. Die Heterogenität der Dokumente ist zugleich ein Hinweis darauf, dass am überlieferten administrativen Diskurs der Fleischereigewerbe- und Fleischmarktaufsicht in den 1870er und 1880er Jahren wesentlich mehr und zugleich sehr unterschiedliche Akteure beteiligt waren als an der Kommunikation bezüglich der Lebensmittelinspektion und der Marktaufsicht. Hier waren vor allem lokale und regionale Akteure beteiligt, etwa Beamte der lokalen Polizei, der Stadtverwaltung und der Oberbehörden, verschiedene ortsansässige Experten, Bürgermeister von Kommunen der Brester Umgebung sowie einige Obst- und Fischhändler. In der dokumentierten und überlieferten Kommunikation über die Brester Fleischereigewerbe- und Fleischmarktaufsicht dagegen tauchen neben den lokalen auch überregionale Akteure und Bezugnahmen auf, etwa die Beratungskorrespondenz mit den Bürgermeistern der Großstädte Bordeaux, Lille, Le Havre, Valence, Toulouse, Rennes und Lyon, oder der Schriftwechsel mit dem Geschäftsführer der Compagnie générale des abattoirs publics in Paris über eine Schlachthofkonzession. An der Kommunikation über das Schlachthofprojekt waren neben ortsansässigen Veterinären, Beamten verschiedener Verwaltungsabteilungen, den Stadtratsmitgliedern, dem Stadtarchitekten und der Compagnie des Chemins de Fer de l’Ouest über das vorgeschriebene Verfahren »commodo et incommodo« auch betroffene Bürger eingebunden. In diesem Material 245

zeichnet sich zwischen Anfang der 1870er und Mitte der 1880er Jahre ein heterogenes, dichtes diskursives Netz ab, in dem sich die konkrete Bedeutung des Brester Schlachthofs konstituierte.42 Der Schlachthof tauchte erstmals im Kontext der Korrespondenz einer Stadtratskommission auf, die zwischen Ende 1871 und Anfang 1874 über die Fleischtaxierung als angemessene Maßnahme gegen die Fleischteuerung beriet. Louis de Kerjégu, der Vorsitzende des Landwirtschaftsvereins des Bezirks Brest, schickte am 4. Dezember 1871 an die Kommission eine achtseitige, handschriftliche Denkschrift mit Informationen und Überlegungen zur Reform des Viehund Fleischmarkts in Brest im Allgemeinen und zur Taxe im Besonderen. Für de Kerjégu, dem die Kommission im März 1873 in ihrem Zwischenbericht unterstellte, er betrachte die Frage eben »als Landwirt, nicht als Konsument«,43 war der Schlachthof die erste und wichtigste von drei Optionen. Man könne die »ehrgeizigen Preisforderungen«44 der Fleischer, die »den Viehzüchtern die Tränen in die Augen treiben und den Käufern nur das Jammern lassen«,45 nur dämpfen, wenn größeres Vertrauen und praktisches Können die Viehzüchter und -mäster zur Akzeptanz eines Schlachthofs führten, in dem die Tiere mittels Entrichtung einer Schlachttaxe geschlachtet würden, und wenn sie die Vorteile einer Übereinkunft bezüglich der gemeinsamen Klassifikation ihres Fleisches einsähen, das dann in Form einer Fleischbörse (à la criée) verkauft werden könne.46 Mit einem solchen zentralisierenden »Mechanismus«, so Kerjégu, entginge der Züchter der »Tyrannei« des Fleischers. »Leider wird sich diese so einfache, dem gesunden Menschenverstand und der ausgleichenden Gerechtigkeit entsprechende Sache erst durchsetzen, wenn die Landwirtschaftsvereine von den Städtern, Konsumenten und ihren Stadtverwaltungen besser verstanden und unterstützt werden, die, ich zögere nicht, es zu sagen, unter bestimmten Aspekten im Verständnis der Ökonomie und ihrer Interessen genauso wenig fortgeschritten sind wie die Viehzüchter.«47

Die zweite Option, die Kerjégu allerdings sehr viel weniger ausführlich behandelte, war die Bildung einer Konsumkooperative: »[…] zwischen den wichtigsten Konsumenten einer großen Stadt [könnte] ein Verein gegründet werden, um die Fleischerei in den Grenzen eines gerechten Profits zu halten«.48 Zwei Dinge 42 Zu vielfältigen lokalen, regionalen, überregionalen sowie z. T. transnationalen Akteuren und Referenzzusammenhängen in den Diskursen über die Fleischmarktaufsicht in Riga in etwa der gleichen Zeit siehe: Heinert, S. 239–250. 43 AMB 4F5.1: Extrait du registre des délibérations du Conseil Municipal de Brest/Séance extraordinaire du 1er mars 1873, Vorstellung und Diskussion des von Lalla vorgestellten Kommissionsberichts. 44 AMB 4F5.1: Louis de Kerjégu, o.T., 4.12.1871 [unpag.], S. 7). 45 Ebd., S. 8. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd.

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seien dazu unerlässlich: erstens »ein oder zwei rechtschaffene und in der Sache erfahrene Konsumenten« und zweitens »ein oder zwei rechtschaffene und erfahrene Fleischer«. Zu dem von ersterem bezahlten Preis füge man zwei Prozent Betriebskosten hinzu, dann könne legitimerweise niemand klagen. Wenn man so kalkuliere, könne man überdies die berechtigte Hoffnung haben, dass Viehzüchter und -händler sich als Lieferanten beteiligten.49 Als dritte und letzte Option blieb der status quo. Denn folge man keinem dieser beiden Ansätze, so de Kerjégu abschließend, bliebe »Viehproduzenten und Konsumenten nur die Resignation gegenüber dem was ist«. Die Taxe jedenfalls könne keine Lösung sein. Sie sei illegitim und brächte mitnichten den Vorteil, den sich die Stadtverwaltung davon verspreche.50 Die Denkschrift Louis de Kerjégus blieb in der zwischen Dezember 1871 und September 1874 immer wieder auflebenden teuerungspolitischen Diskussion eine wichtige Referenz, allerdings weniger aufgrund ihrer Werbung für den Schlachthof. Zwar hielt der Zwischenbericht der Kommission am 1. März 1873 fest, dass ein Schlachthof einen »vorteilhaften Fortschritt« darstelle, »weil er Konsument und Produzent in direkten Kontakt« bringe und damit den Zwischenhandel reguliere. Da es in Brest keinen öffentlichen Schlachthof gebe, sei dies jedoch keine Lösung für das aktuelle Teuerungsproblem – genauso wenig wie eine »Städtische Fleischerei«, eine Fleischbörse oder eine Fleischerei-Aktien­ gesellschaft.51 Diese Feststellung führte zunächst allerdings nicht dazu, dass die Bemühungen in diese Richtung intensiviert wurden, auch wenn der Schlachthof im Hintergrund der Diskussion präsent blieb.52 In den Beratungen und den Korrespondenzen der Kommission in den Jahren 1873/74 stand vielmehr die Suche nach sofort umsetzbaren und unmittelbar wirksamen Maßnahmen im Vordergrund, um mit der Fleischteuerung einen »Missbrauch abzustellen, dessen einziges Opfer die Konsumenten sind«.53 Mit de Kerjégus Denkschrift hatten alle diskutierten Optionen und Vorschläge immerhin gemeinsam, dass sie als freihändlerische Alternativen bzw. funktionale Äquivalente zur Taxe gedacht wurden. Die Kommission umgab sich für ihre Beratungen gezielt54 mit Verwaltungswissen anderer Kommunen – im Frühjahr 1873 zunächst der Großstädte Bordeaux und Le Havre, im August 1874 der Großstädte Lyon, Toulouse, Rennes, Lille und Valence sowie der Zentren der Nachbarbezirke Landivisiau,55 Mor49 Ebd., S. 8. 50 Ebd. 51 AMB  4F5.1: Extrait du registre des délibérations du Conseil Municipal de Brest/Séance­ extraordinaire du 1er mars 1873. 52 AMB 5I11.2: Achille Thomas, an: Maire de Brest, 17.7.1874. 53 AMB  4F5.1: Extrait du registre des délibérations du Conseil Municipal de Brest/Séance­ extraordinaire du 1er mars 1873. 54 Vgl. den Brief an den Präfekten des Departements Rhône: AMB 4F5.1: Maire de Brest, an: Préfet du Rhône, N° 115, 21.7.1874. 55 AMB 4F5.1: Maire de Landivisau, an: Maire de Brest, 1.8.1874.

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laix56 und Quimper.57 Sie prüfte auf der Suche nach »zufriedenstellenden Lösun­ gen« des Teuerungsproblems die »Erfahrungen anderer Stadtverwaltungen«58 und wertete von diesen geschickte Dokumente aus – in der Hauptsache Informationsschreiben der Bürgermeister,59 Denkschriften dortiger Beratungskommissionen60 und Verordnungstexte.61 Dem Beratungsprozess ist zu entnehmen, dass sich die Frage zwischen Frühjahr 1873 und Spätsommer 1874 im Punkt der Taxe zuspitzte. Ging es im ersten Bericht anhand einer Diskussion der in Le Havre und Bordeaux praktizierten Teuerungspolitik sowie der Denkschrift Louis de Kerjégus noch allgemein um geeignete Maßnahmen, stand im zweiten Bericht vom September 1874 die dezidierte, vergleichende Auseinandersetzung mit taxierenden (Lyon, Valence) und nicht taxierenden Kommunen (Lille) im Vordergrund. Dies offenbar deshalb, weil der Unterpräfekt des Bezirks Brest in einem Schreiben an den Bürgermeister vom 31. August 1874 auf entsprechende Maßnahmen zur Dämpfung nicht nur der Fleisch-, sondern auch der Brotpreise drängte.62 Die Textsammlung der Kommission bündelte folglich Dokumente einer Mitte der 1870er Jahre in ganz Frankreich geführten Diskussion über Maßnahmen gegen die Fleischteuerung und Reformen der kommunalen Fleischmärkte. »Die Nachrichten aus den Großstädten, mit denen sich die Kommission in Verbindung gesetzt hat, zeigen, dass man überall mit der Teuerung beschäftigt ist«.63 In der Gesamtschau zeigt sich, dass es in diesen lokalen Reformprozessen einmal mehr um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Taxierung als Instrument öffentlichen subsistenzpolitischen Handelns ging. Bei gleicher Zielstellung  – niedrigere Fleischpreise  – und einer Reihe gemeinsamer Argumente und Gesichtspunkte bei der Problematisierung der lokalen Fleischmärkte gelangten die Stadtverwaltungen zu vollkommen unterschiedlichen Lösungen. Großstädte wie Valence und Lyon richteten die Taxe ein, während andere Kommunen wie Bordeaux, Lille und auch Brest die Taxe grundsätzlich ablehnten und nach Alternativen bzw. funktionalen Äquivalenten suchten. Die den Taxierungsverordnungen von Valence und Lyon vorangestellten Beschlussfassungen legen nahe, dass sich die Taxierung aus einer gewissen Selbst56 AMB 4F5.1: Maire Morlaix, an: Maire de Brest, n° 191, 10.9.1874. 57 AMB 4F5.1: Maire de Quimper an: Maire de Brest, 12.9.1874. 58 AMB  4F5.1: Extrait du registre des délibérations du Conseil Municipal de Brest/Séance­ extraordinaire du 1er mars 1873. 59 AMB 4F5.1: Maire de Bordeaux, an: Maire de Brest, n° 2444, o. D. [September 1874]. 60 Dupont, Rapport sur la boucherie, Bordeaux, o. D. [1873]. 61 AMB 4F5.1: Maire de Valence, Extrait des registres des arrêtés du Maire de la ville de Valence, 29.6.1874; ebd.: Catel-Béghin, Ville de Lille, Règlement de la vente des denrées alimentaires, 4.8.1874; ebd.: Ducros, Boucherie, établissement de la taxe de la viande à Lyon, 7.8.1874. 62 AMB 4F5.1: Sous-Préfet de Brest, an: Maire de Brest, 31.8.1874. 63 AMB 4F5.1: Commission de la boucherie, Question de la vente des viandes de Boucherie à Brest, 14.9.1874.

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bezüglichkeit des Verwaltungshandelns ergab. Sie beriefen sich an erster Stelle auf ihre Pflicht zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Ein Vergleich der amtlich festgestellten Viehpreise mit den Fleischpreisen habe viel zu große Abweichungen ergeben. Offensichtlich missachteten die Fleischer die Merkuriale. Die Verwaltung habe jedoch die »Pflicht, den legitimen Forderungen der Bevölkerung Gehör zu schenken«64 – zumal, wie die Verordnung des Bürgermeisters von Valence feststellte, »der übertriebene Fleischpreis der armen Klasse eine Nahrung verweigert, die sie für ihre Arbeit nötiger brauchen als andere Klassen«.65 Die Taxe wurde eingerichtet, die Abweichungen zwischen amtlich erhobenen Vieh- und Fleischpreisen zu korrigieren, aber auch, um zwischen den Gewinninteressen der Fleischer und dem Interesse der Konsumenten an niedrigeren Fleischpreisen einen Ausgleich zu schaffen. Die Taxierungsverordnung der Stadt Lyon enthielt darüber hinaus die Bestimmung, dass die Fleischer ihren Kunden »unaufgefordert« einen Rechnungsbeleg (bulletin) ausstellen sollten, der Namen und Adresse des Fleischers, Namen des Käufers, Gewicht und Kategorie des verkauften Fleisches, Kilogrammpreis sowie den bezahlten oder geschuldeten Betrag enthielt. Fleisch unterschiedlicher Kategorien sollte getrennt gewogen und verzeichnet werden.66 Eine ähnliche Bestimmung enthielt die vollkommen an freihändlerischen Prinzipien orientierte Verordnung zur »Regelung des Lebensmittelverkaufs« in Lille. Der Stadtverwaltung ging es von vornherein um Maßnahmen gegen die Teuerung, die »im Einklang mit der Handelsfreiheit« standen. Die Taxe schloss sie deshalb definitiv aus, befand sie sich doch »in grundsätzlichem Widerspruch mit den elementarsten Prinzipien der Nationalökonomie«, rege zu Betrug bezüglich des Verkaufsgewichts an und führe »mit Sicherheit« zur »Verfälschung der Produkteigenschaften«. Auf einem so großen Markt wie dem von Lille wirke sich vielmehr der »freie Wettbewerb« mäßigend auf den »wahren Kurs« der angebotenen Lebensmittel aus. Die Verordnung der Stadtverwaltung war lediglich als »Förderung« dieses Prozesses gedacht: »Um dieses Ergebnis zu fördern, hat die Verwaltung die Pflicht, die Konsumenten über die Eigenschaften [qualités] und die realen Preise der angebotenen Waren aufzuklären, damit sie in die Lage versetzt werden, über den Preis der von ihnen verlangten Ware zu verhandeln, und so Wettbewerb hervorzubringen, der ihren Interessen dient«.67

Zwischen dem obrigkeitlichen Konsumentenschutz vermittels Taxierung (wie in Lyon und Valence) und der Förderung des Wettbewerbs vermittels Ausgleichs der Informationsasymmetrie zwischen Fleischer und Kunden (wie in Lille) 64 AMB 4F5.1: Ducros: Boucherie – établissement de la taxe de la viande à Lyon, 7.8.1874. 65 AMB 4F5.1: Maire de Valence, Extrait des registres des arrêtés du Maire de la ville de Valence [Taxe], 29.6.1874. 66 MB 4F5.1: Ducros: Boucherie – établissement de la taxe de la viande à Lyon, 7.8.1874. 67 AMB 4F5.1: Catel-Béghin: Ville de Lille – Règlement de la vente des denrées alimentaires, 4.8.1874.

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nahm die Stadtverwaltung von Bordeaux eine dritte Position ein. Der ausführliche, gedruckte Untersuchungsbericht einer Bordelaiser Sonderkommission berief sich nicht auf nationalökonomische Prinzipien, sondern auf die Beobachtung von Fakten. »Mir scheint«, schrieb Dupont, der Autor des Berichts, mit Blick »auf die vielen Untersuchungen und Arbeiten, zu denen die Fleischerei in Bordeaux Anlass gegeben hat […], dass das Hauptelement der Frage bis heute noch nicht angemessen behandelt worden ist. Die Autoren sorgten sich bisher mehr um Details als um Tatsachen; sie scheinen uns mehr um eine Lösung des Problems mithilfe der Wirtschaftswissenschaft [sic!] als mithilfe der Tatsachenbeobachtung bemüht gewesen zu sein«.68

Deshalb, so Dupont, sei »die Freiheit« noch kaum »richtig angewandt« worden. Er unterschied in seiner sozialökonomischen Studie, die sich auch auf internationale Preisvergleiche stützte, zunächst zwischen »unbegrenzter« und »begrenzter Freiheit« und richtete das Verwaltungshandeln in der Fleischmarktfrage grundsätzlich neu aus, indem er eine doppelte Verschiebung vornahm. Einerseits verlagerte er den Fokus von der Disziplin der Gewerbetreibenden hin zur Förderung der Konkurrenz unter den Fleischern, andererseits von der Disziplin der Fleischvermarktung zur Regulierung der Beziehungen zwischen Käufern und Verkäufern. Dieser Regulierung sollte ähnlich wie in Lille die Einführung einer Reihe von Maßnahmen dienen, wie die Pflicht zur Ausstellung von Rechnungszetteln, zur Etikettierung der Waren auf den Ladentischen, regelmäßige Presseberichterstattung und Veröffentlichung der Preise.69 Zugleich implizierte diese Neuausrichtung der Fleischmarktordnung eine Wende zur Erziehung des Verbrauchers. Ein für alle Seiten wirklich »befriedigendes Gleichgewicht« sah Dupont nämlich erst dann erreicht, »wenn sich die Sitten und Gebräuche der Bordelaiser Konsumenten erheblich verbessert haben«70 würden. Die Verordnung des Bürgermeisters von Bordeaux nahm diese Argumentation auf. In der Fleischerei, so der Verordnungstext, werde »täglich betrogen«, so dass die Verwaltung zur Überzeugung gelangen konnte, dass nur »die Rückkehr zur restriktiven Reglementierung das Übel beheben« könne. Das Gesetz von 1791, das die Taxierungsrechte gewähre, könne aber als »Ausnahmegesetz nur unter genau kontrollierten Bedingungen angewandt« werden, weil es die »freie Initiative des Individuums einschränke«. Vor diesem Hintergrund habe die Verwaltung die Aufgabe, »den Verkäufern ihre Pflichten und den Käufern ihre Rechte ins Bewusstsein zu rufen«, vor allem den Käufern müssten »die rechtlichen und praktischen Mittel gegeben werden, um Betrug feststellen zu können«. Die Verordnung enthielt eine Reihe von Bestimmungen, welche die Beziehung zwischen Fleischern und Kunden regelten, unter anderem auch die Anordnung, dass 68 AMB 4F5.1: Dupont, Rapport sur la boucherie, Bordeaux [1873], S. 2. 69 Ebd., S. 18 ff. 70 Ebd., S. 23.

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die Fleischer ein »lesbares Bulletin« mit Qualität, Gewicht und Preis an ihrem Warenangebot anbringen sollten. Die Konsumenten wiederum forderte die Verordnung ausdrücklich auf, »wie sie es für alle Gegenstände halten, die sie kaufen«, den Wert, das Gewicht und die Qualität des Fleisches zu prüfen. Würden sich alle Beteiligten an diese Maßnahmen und Anordnungen halten, wozu die »energische Überwachung durch die Verwaltung« beitragen werde, dann bestehe Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur »normalen und regelmäßigen Situation«.71 Die Brester Stadtratskommission schrieb sich mit ihren eigenen Überlegungen in diesen Raum der Politikprogramme und des kommunalen Verwaltungswissens ein, indem sie sie auf spezifische Weise in den lokalen Kontext übersetzte. Zwei Berichte aus dem September und Oktober 1874 zeigen, wie sie dabei vorging. Ausgangspunkt des ersten Berichts vom 14. September 1874 war wie in Valence und Lyon die Feststellung, dass sich die gesunkenen Viehpreise nicht in einem Rückgang der Fleischpreise niederschlugen. In Brest habe es deswegen Beschwerden gegeben, die jedoch »ausnahmslos von Konsumenten der Filet­stücke« stammten. Der Bericht hielt gleich zu Beginn fest: »Diese Klagen scheinen im Übrigen die Verwaltung für einen Zustand verantwortlich machen zu wollen, den sie als erste beklagt, dessen Veränderung aber nicht vollständig von ihr abhängt.« Tatsächlich war der Bericht vor allem um Argumente bemüht, mit denen sich die Einführung der Taxe vermeiden ließ. Auch wenn einige Klagen Beispiele für günstige Viehkäufe durch Fleischer anführten, so sei der Preis in der Umgebung so stabil hoch, dass manche Fleischer bis ins Departement Loire inférieure und ins Limousin reisen müssten, um günstiger an Vieh zu kommen. Zwei Kommissionsmitglieder hatten den Fleischern über die Schulter schauen dürfen und die Ergebnisse in Tabellen festgehalten. Die Preise für »­ Stücke schöner Qualität«, so der Bericht, »können den Verbrauchern der Stadt als Richtwerte dienen«. Kuhfleisch sei im Gegensatz zu Rindfleisch generell etwas billiger, dabei aber »vollkommen gut und gesund«. Fleisch sei in Brest generell von »guter Qualität« und im Vergleich zur Umgebung auch günstig. »Unter diesen Umständen«, erklärte der Bericht, »kann die Einführung der Taxe nicht in Betracht kommen.« Doch nicht nur gleichsam empirische Argumente sprachen dagegen. Die Kommission lehnte die Taxe aus prinzipiellen Erwägungen ab und berief sich dabei auf die offizielle Doktrin des »Empire liberal« der 1860er Jahre: »Die Taxe ist ein Akt des Misstrauens, der Antagonismen hervorruft anstatt das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen herzustellen. Sie kann nur ein vorübergehend einzusetzendes Hilfsmittel gegen Betrug oder künstlich herbeigeführte Hochpreise sein.«72

71 AMB 4F5.1: Maire de Bordeaux, Arrêté sur le commerce de la boucherie, 15.9.1874. 72 AMB 4F5.1: Commission de la boucherie, Question de la vente des viandes de Boucherie à Brest, 14.9.1874.

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Der Bericht zitierte ein ministerielles Rundschreiben vom 27. Dezember 1864, um die eigene Argumentation zu verstärken. »Aufgeklärte Geister« gäben das »System der Reglementierung in Handelsdingen« auf. Die Einrichtung der Fleischtaxe sei »extrem schwierig«, weil selbst das Fleisch ein und desselben Tieres unterschiedliche Qualität aufweise. Richte man die Taxe ohne Rücksichtnahme auf diese Komplexität ein, treibe man den Preis der niederen Fleischstücke in die Höhe und begünstige den »reichen Konsumenten« gegenüber dem »armen Konsumenten«; wenn man zwischen Preisen und Qualitäten unterscheiden wolle, handle man sich »unüberwindliche Schwierigkeiten« ein und öffne »Irrtum und Betrug« Tür und Tor. Unter diesen Bedingungen sei die Aufgabe dieser Maßnahme »unter allen Aspekten wünschenswert«. Wo sie beibehalten werde »impliziert sie ärgerlicherweise die Verantwortlichkeit der Stadtverwaltung«.73 Vor diesem Hintergrund vertrat die Kommission den Standpunkt, »dass Handelsfreiheit und Wettbewerb die besten Mittel sind, um auf Dauer die Befriedigung aller Interessen zu erreichen.« Selbst die Einrichtung von Fleischerei-Aktiengesellschaften war unter diesen Gesichtspunkten kritikwürdig. Einerseits eine exzellente Sache, »bekämpfe« sie andererseits als Betrieb der öffentlichen Hand den Wettbewerb. Der Bericht räumte allerdings ein, dass es in der Fleischerei »nicht nur ehrenwerte Leute« gebe, dass es hier »wie in allen Handels- und Gewerbebranchen […] traditionelle Betrügereien« gebe, die auch die »aktivste Überwachung« nicht verhindern könne. Die einzige Maßnahme, welche die Kommission schließlich empfahl, bestand darin, »den Elementen der Transaktion große Publizität« zu geben: Informationen über die Preise, das­ Gewicht und die einzelnen Fleischsorten sollten an den Ladentischen sichtbar angebracht und dies von der Polizei genau überwacht werden.74 Im Mittelpunkt des zweiten Kommissionsberichts vom Oktober 1874 stand die vergleichende Auswertung der Korrespondenz. Er listete zunächst die Städte auf, die eine Taxe eingeführt hatten, sowie jene, die dies nicht getan hatten. Anschließend wurde die erste Gruppe darauf hin untersucht, wie die Taxe dort genau aufgebaut war. Einen gemeinsamen Nenner zu finden, der einen Vergleich zuließ, stellte sich dabei als äußerst schwierig dar, denn die aus den Städten mitgeteilten Taxentarife bezogen sich auf unterschiedliche Qualitäten (Vieh oder Fleisch) und Mengen. Das einzige, was von vornherein vergleichbar zu sein schien, war der Gebrauch der Begriffe. »Zwei Ausdrücke, Qualität und Kategorie, werden überall im selben Sinn verwendet – verschiedene Tiere können verschiedener Qualität sein; die Teile des gleichen Tieres sind alle von der Qualität des ganzen Tieres, aber man unterteilt ein Tier in unterschiedliche Kategorien. Alle Kategorien eines Rinds erster Qualität sind selbst von erster Qualität.«75 73 Ebd. 74 Ebd. 75 AMB 4F5.1: Commission de la boucherie, o. D. [Oktober 1874].

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Ein daran anschließender Vergleich der Tarife und Preise aller Städte mit den Preisen in Brest ergab, dass »Rind erster Qualität« in den taxierenden Kommunen durchweg günstiger war. Diese Differenz räumte die Kommission zwar ein, hielt sie aber für so »gering«, dass sie die Einführung der Taxe in Brest nicht rechtfertige. Im Gegenteil schien das Ergebnis zu belegen, dass die Taxe die »Filetstücke« auf Kosten der »niederen Kategorien« verbillige. »Dieses Ergebnis würde nur die Konsumenten dieser Stücke zufriedenstellen, es entspräche den lärmigsten Forderungen gerade dieser Konsumenten, die überdies die Frage nicht kennen und sie vielleicht auch nicht kennen wollen, aber es kann die Stadtverwaltung nicht zufriedenstellen.«76

Wenn zudem das »Fleisch zweiter Qualität« in Brest oft zu teuer verkauft werde, dann hänge dies mit der »Unachtsamkeit und dem geringen Scharfsinn« der Kunden zusammen. Im Übrigen werde »unentwegt betrogen«. Die Kommission wiederholte abschließend ihre Empfehlungen aus den früheren Berichten: Förderung des Wettbewerbs und des Großhandels, Einrichtung einer Fleischbörse, Förderung des überlokalen Versorgungshandels, Herstellung von Öffentlichkeit bezüglich der Preisschwankungen, Etikettierung an den Ladentischen. Um »Betrug bezüglich Gewicht und Qualität zu unterbinden«, sei die Einführung von Rechnungen ebenfalls eine »gute Sache«, denn die würden »regelmäßige Prüfungen« zulassen. Aber die Kommission hielt dies für eine »erhebliche Störung« und für die »kleinen Fleischer« sei die Rechnungspflicht »beinahe eine Unmöglichkeit«.77 Sowohl im Gebrauch der aus anderen Stadtverwaltungen bezogenen Dokumente als auch in der Referenzierung der eigenen Empfehlungen unterschieden sich die beiden Berichte. Während der erste Bericht aus dem September sich noch auf eine grundsätzliche Argumentation gegen die Taxe verlegte und dazu auf einen Minister und die offizielle freihändlerische Doktrin des gerade untergegangenen Zweiten Kaiserreichs berief, ließ sich der zweite Bericht sehr viel stärker auf die verschiedenen Lösungen in anderen Städten sowie die infolge dieser Maßnahmen dort erzielten Fleischpreise ein  – mithin auf eine Analyse der Fakten. Um zu einem Ergebnis zu gelangen, musste die Kommission die unterschiedlichen lokalen Kategorisierungen des Fleisches objektivieren, in vergleichbare Kategorien übersetzen und zu einem Normalfeld zusammenfassen, in das auch die Fleischpreise von Brest zu Vergleichszwecken eingefügt werden konnten. Da diese Operation jedoch einen Vorteil der taxierenden Kommunen ergab, war die Ablehnung der Taxe nur prinzipiell zu begründen. Die Kommission erklärte nun vielmehr auf die Zahlen gestützt, dass die Taxe vor allem den »reichen Konsumenten« nütze, nicht jedoch den »armen Konsumenten«. Ihre Empfehlungen folgten deutlich, auch wenn sie nicht ausdrücklich genannt wurden, den Beispielen aus Bordeaux und Lille. 76 Ebd. 77 Ebd.

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Der Vorgang insgesamt belegt eindrücklich, dass die Angleichung und Vereinheitlichung der teuerungspolitischen Verwaltungspraktiken im nationalen Rahmen nicht nur auf zentralstaatliche Mechanismen zurückgeführt werden kann, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Umsetzung der oberbehördlichen Vorgaben durch die Lokalbehörden stets ein kontroverser Prozess war. Dass sich die Kommission im Oktober 1874 noch ein zweites Mal über ihre Dokumente beugte, hing mit der nachdrücklichen Aufforderung des Unterpräfekten zusammen, dass die Stadtverwaltung endlich das Teuerungsproblem lösen und dabei die taxierenden Städte »imitieren« solle. Indem sich die Kommission in ihrer Suche nach der bestmöglichen Lösung für ein lokales Problem auf die Lösungen und Ergebnisse anderer Kommunen bezog und gegenüber der Oberbehörde die Unterschiedlichkeit der Regelungsweisen herausstellte – »Die großen Städte sind in dieser delikaten und schwierigen Frage keineswegs einmütig«,78 entgegnete der Bürgermeister dem Unterpräfekten –, scheint sie Spielräume gegenüber den Oberbehörden gewonnen zu haben. In Brest jedenfalls wurde in den Jahren 1873 und 1874 keine Fleischtaxe eingeführt. Stattdessen verlegte sich die Stadtverwaltung auf zwei verschiedene Maßnahmen, die an der Ordnung des Fleischmarkts nichts änderten. Die erste bestand in der Assoziierung des Fleischers Gambier, mit dem die Stadtverwaltung einen Vertrag schloss. Der Fleischer verpflichtete sich mit seiner Unterschrift, »in seinem Laden und seinen Verkaufsständen die verschiedenen Rinderteile, die er in den Verbrauch liefert, nach ihren Qualitäten und ihrem Wert zu ordnen sowie Etiketten anzubringen, auf denen Art der Stücke und ihr Preis angezeigt werden und sie zu [bestimmten] Preisen […] anzubieten.«79

Jeden Montagmorgen um 9 Uhr sollte Gambier mitteilen, ob er die Preise ändern wolle. Die Stadt sagte ihn im Gegenzug ihre Patronage und die Überwachung seines Ladens zu und übernahm die wöchentliche Information des Publikums durch die Zeitung. »Der Lebensmittelinspektor wird jeden Tag die strikte Einhaltung insbesondere bzgl. des Classements der unterschiedlichen Rinderstücke und der auf den Etiketten geschriebenen Preise überwachen.« Gambier sollte des Weiteren, wenn der Kunde das forderte, eine Rechnung ausstellen, auf der die Art des Fleischstücks sowie Preis und Gewicht vermerkt­ wurden. Die Übereinkunft sollte schließlich nur solange gelten, wie Gambier zu Preisen verkaufte, die von der Stadt »genehmigt« wurden.80 Die zweite Maßnahme bestand ab Dezember 1874 in der verstärkten Mobilisierung der Ordnungspolizei zu Gewichtskontrollen in den Verkaufsräumen der Fleischer und Bäcker. In den Akten der Marktaufsicht sind entsprechende 78 AMB 4F5.1: Maire de Brest, an: Sous-Préfet de Brest, 31.8.1874. 79 AMB  4F5.1: Extrait du registre des délibérations du Conseil Municipal de Brest/Séance­ extraordinaire du 1er mars 1873. 80 Ebd.

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Berichte des Brester Hauptkommissars über Kontrollen Ende 1874, Mitte 1875 und Anfang 1876 erhalten.81 Die Beamten dokumentierten minutiös, welche Fleischereien sie in den vier Stadtbezirken kontrollierten, wie viele Prüfungen des Warengewichts nach dem Verkauf sie vornahmen, welche das exakte Gewicht, welche ein zu niedriges und welche ein zu hohes Gewicht ergaben. In einigen Fällen errechneten sie auch durchschnittliche Abweichungen  – eine Kalkulation, die nur Sinn machte, wenn sie mit aggregierten Verlusten (bzw. Gewinnen) in Beziehung gesetzt wurde, welche die Kundschaft durch die Gewichtsabweichungen zu tragen hatte.82 Diese Kontrollen stützten sich wie die Einsetzung eines Lebensmittelinspektors im Jahr 1869 auf das Gesetz vom 27. März 1851; einige Berichte zitierten es ausdrücklich. Die Instrumentalisierung dieses Gesetzes zu teuerungspolitischen Zwecken ist in dreifacher Weise bemerkenswert. Sie deutet erstens darauf hin, dass die Fleischteuerung in den Jahren 1873 und 1874 in der Brester Stadtverwaltung nicht mehr als Ausnahmezustand gesehen, sondern als normales Marktgeschehen akzeptiert wurde. Für die Bekämpfung der Teuerung mobilisierte sie gerade nicht die traditionellen Taxierungsrechte, wie beispielsweise die Verwaltungen in Lyon und Valence. Vielmehr knüpfte sie mit der Überwachung des Warengewichts als eine der vertraglich fixierten Eigenschaften der verkauften Ware an die Maßnahmen anderer Städte wie Bordeaux und Lille an, die sowohl in ihren kurzfristigen teuerungspolitischen Maßnahmen als auch in ihren langfristigen Reformbestrebungen die Geschäftsbeziehungen zwischen Verkäufern und Kunden fokussierten. Mit der Umstellung der Rechtsgrundlage administrativen Handelns vom Taxierungsrecht der Verwaltung auf das bürgerliche Vertragsrecht wurde die Fleischteuerung als Marktgeschehen gewissermaßen normalisiert. Zweitens schrieb diese Instrumentalisierung die bereits mit der Bestallung des Lebensmittelinspektors 1869 einsetzende, polizeiliche Interpretation des Gesetzes vom 27. März 1851 fort, das ursprünglich lediglich die Strafverfolgung erleichtern sollte. Die offenbar stichpunktartig durchgeführten Kontrollen der Jahre 1874 bis 1876 dienten jedoch der vorbeugenden Betrugsprävention, nicht der Amtshilfe in kriminalpolizeilichen, von der Justizbehörde angeordneten Ermittlungen in anhängigen Betrugsstrafverfahren. Das Abkommen mit Gambier enthielt ebenfalls Bestimmungen, die den Lebensmittelinspektor in die Überwachung der Angebots- und Verkaufsmodalitäten einband. 81 AMB 1I7.1: Commissaire central, Vérification du poids du pain du 12 au 17 janvier 1875, 18.1.1875; ebd.: Maire de Brest, an: Commissaire central, 6.3.1875; ebd.: Commissaire de police, Rapport, 13.3.1875; ebd.: Commissaire central de police, an: Maire de Brest, Rapport sur la fidélité du poids du pain et de la viande (loi du 27 mars 1851), 30.8.1875; ebd.: Commissaire central de police, Note, 18.3.1876; ebd.: Commissaire central de police, an: Maire de Brest, Rapport sur la fidélité du poids du pain et de la viande (loi du 27 mars 1851), 22.3.1876. 82 AMB 1I7.1: Commissaire de police, Rapport sur la fidélité dans la vente des denrées alimentaires (loi du 27 mars 1851), 8.12.1874.

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Drittens schließlich konstituierte die Rationalität dieser teuerungspolitischen Maßnahme die Konsumenten nicht mehr ausschließlich als passive Subjekte, deren Interessen die Verwaltung formulierte und gegenüber den Gewerbetreibenden und Händlern vertrat. Wie die zahlreichen auch in anderen Städten im Rahmen der Teuerungsdiskussion debattierten Details der Reformverordnungen – Etikettierung mit Angaben zu Qualität, Sorte, Gewicht und Preis, Rechnungen usw.  – implizierten die Kontrollen in Brest einen deutlich aktiveren Konsumenten, einen Kunden, dem Informationen an die Hand gegeben wurden, über die bis dahin nur Produzenten und Händler verfügten, und anhand derer er sich selbst vor Betrug schützen können sollte. Als Gegenstand von Klagen ist dieses von der Verwaltung gleichsam ermächtigte Verbrauchersubjekt und sein verändertes Verhältnis zur Marktaufsicht auch in mehreren Polizeiberichten über die Gewichtskontrollen Mitte der 1870er Jahre zu erkennen, die das Kundenverhalten problematisierten: »Die Prüfung ist oft schwierig. Die Käufer verhalten sich gleichgültig, die meisten können oder wollen meistens weder das Gewicht noch den Preis des gekauften Fleisches angeben. Im Übrigen weigern sie sich, ihren Namen zu nennen oder in das Polizeikommissariat zu kommen, so dass es schwierig ist, Anzeige zu erstatten. Die Bevölkerung beschwert sich allerdings auch selten«.83

Die Beamten klagten hier darüber, dass die Kunden ihre Interessen gerade nicht selbst schützten, obwohl sie darin von der Verwaltung unterstützt wurden. In der Teuerungsdiskussion der Jahre 1871 bis 1874 wurden der Brester Fleischmarkt, seine Akteure und Produkte, die Markt- und Geschäftsbeziehungen zwischen Produzenten und Verbrauchern sowie seine Preisbildungsmechanismen in der Verwaltung grundlegend problematisiert. Die Diskussion über die Reform des Brester Fleischmarktes verschob sich vor diesem Hintergrund in den folgenden Jahren. Sie wurde vorwiegend als Debatte über die Nützlichkeit eines öffentlichen Schlachthofs geführt, konkretisierte sich in neuen Planungen und materialisierte sich schließlich in einem Neubau am Boulevard Gambetta am Südrand der Stadt, der im Mai 1887 eröffnet wurde. Der von den Akten der Fleischereigewerbe- und Fleischmarktaufsicht sowie den Schlachthofprojekten konstituierte Diskurs weist neue und andere Akteure aus, die an diesen Vorgängen beteiligt waren. Neben dem Stadtrat, dem Bürgermeister, seinem für die Marktaufsicht zuständigen Stellvertreter, verschiedenen anderen Abteilungen der städtischen Behörden (Stadtsteuerbüro) und der Präfektur traten Unternehmer und verschiedene Experten in Erscheinung – vor allem Veterinäre, Architekten und Ingenieure. Die beiden wichtigen im Jahr 1881 im Stadtrat vorgestellten und diskutierten Gutachten über die Pläne der Stadt verfassten der in Brest praktizierende und immer wieder zur Lebensmittel­ kontrolle hinzugezogene Veterinär Le Roux und der Architekt Barillé, der zu83 AMB 1I7.1: Commissaire central de police, Rapport sur la fidélité dans la vente des denrées alimentaires (loi du 27 mars 1851), 8.12.1874.

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gleich als stellvertretender Bürgermeister amtierte. Ob die Schlachthoffrage von den Unternehmern, die zwischen 1875 und 1879 mit Angeboten an die Stadtverwaltung herantraten, auf die Tagesordnung gesetzt wurde oder ob die Verwaltung selbst ein entsprechendes Programm formulierte, lässt sich auf der Grundlage der Akten nicht klären.84 Fest steht jedenfalls, dass der Sohn des aus den 1840er und 1850er Jahren durch seine versorgungspolitischen Interventionen und Vorschläge bekannten Aristide Vincent als Vertreter der in Paris ansässigen Compagnie des abattoirs publics auftrat und im Verlauf des Jahres 1875 mehrmals an die Stadtverwaltung schrieb.85 Im April 1876 folgte ein Schreiben des Unternehmers Omnès, der ebenfalls um eine Konzession warb.86 Schließlich trat im Jahr 1879 der Geschäftsführer der landesweit agierenden Société nationale des abattoirs publics mit der Stadtführung in Korrespondenz, stellte das Angebot des Unternehmens vor und forderte Informationen über die Pläne der Stadt.87 Das Verhältnis der Stadtverwaltung zur Wirtschaft bzw. der Stellenwert unternehmerischen Denkens im Selbstverständnis der städtischen Führung um 1880 wird in den Auseinandersetzungen mit den Angeboten der Unternehmer und in der Entscheidung deutlich, weder den Bau noch den Betrieb des öffentlichen Schlachthofs zu konzessionieren. Vincent hatte in seinen Schreiben 1875 das Scheitern der früheren Projekte mit der »falschen Perspektive« der Stadtverwaltung erklärt. Es gebe zwei Betrachtungsweisen: Entweder die Stadt baue und betreibe selbst, was für das verschuldete Brest nicht gut sei, oder sie lasse bauen und betreiben, von einem Unternehmer oder einer Gesellschaft, welche die Risiken trage, aber auch die Gewinne erhalte. Das zweite »System« sei für Städte zweifellos besser geeignet und werde von »unseren Lehrmeistern in Bequemlichkeit, den Amerikanern und Engländern«, angewendet, die sich meist darauf beschränkten, Vorteile aus der Arbeit anderer zu ziehen, »Gründe, weshalb diese intelligenten Völker an Bequemlichkeiten aller Art reicher sind als wir«. Die andere Alternative solle Bauten vorbehalten bleiben, an der nur die Stadt selbst Interesse habe, z. B. Schulen, Rathäuser und ähnliches. Sein Schreiben hatte Vincent mit einer philosophischen Betrachtung über die Zeitlichkeit der Verwaltung abgeschlossen:

84 Vgl. zur Genese der Schlachthoffrage in Riga und der Rolle einzelner Akteursgruppen­ Heinert, S. 239–245. 85 AMB  5I11.2: Aristide Vincent, an: Maire de Brest, 22.3.1875; ebd.: Aristide Vincent, an: Maire de Brest, 17.6.1875; ebd.: Aristide Vincent, an: Maire de Brest, 13.12.1875. 86 AMB 5I11.2: Omnès, entrepreneur, an: Maire de Brest, 20.4.1876. 87 AMB  5I11.2: Emile Wattebled, société générale des abattoirs de France, Envoi de documents/Demande de croqui de l’emplacement des futures abattoirs de Brest, 12.4.1879; ebd.: Administrateur délégué de la société générale des abattoirs de France, an: Préfet du Finistère, o. D. [Sept. 1879]; ebd.: Administrateur gérant de la société générale des abattoirs de France, an: Maire de Brest, Abattoir de Brest, 1.7.1879; ebd.: Administrateurs délégué, société g­ énérale des abattoirs de France, an: Maire de Brest, 28.8.1879.

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»In Frankreich vergessen die Stadtverwaltungen, dass sie relativ ewig [sic!] sind, sie handeln eher wie ein Individuum, dessen Dauer und Ressourcen begrenzt sind, das im Augenblick lebt, weil ihm die Zukunft nicht gehört. Mit diesem System lebt man von Tag zu Tag, man gründet nichts für die Zukunft, überlastet jedoch die Gegenwart durch Opfer, die in keinem Verhältnis zu den aktuellen Ressourcen stehen.«88

Wenn man dagegen die Dienste von Kapitalisten annehme, lasse man die jungen Generationen profitieren: »Mit dem französischen System läuft man den Bedürfnissen immer hinterher, es fehlt immer an vielen nützlichen Dingen, man wartet immer, man lebt nicht, sondern vegetiert nur.«89 Dieser Position mochte sich die Stadtführung nicht anschließen. Sie ließ das Angebot der Société nationale des abattoirs publics erst im September 1879 im Stadtrat prüfen. Der Berichterstatter Deschateau kam zu dem Schluss, dass die Gesellschaft entweder »enormen Gewinn« machen wolle oder ein Schlachthaus plane, das völlig überdimensioniert sei.90 Der Bürgermeister schloss sich dieser Einschätzung an. Seine Stellungnahme unterstrich, dass die Stadtverwaltung die Hoheit über die strategischen Mittel nicht aus der Hand gegeben wollte, die mit der Eigenregie des Schlachthofs verbunden waren. Die Stadt könnte dann auch immer, falls der Stadtrat das für angemessen halte, die Schlachttaxe senken, was nicht möglich sei, wenn der Betrieb konzessioniert sei.91 Bezüglich der Nützlichkeit des Schlachthofs herrschte grundsätzlich Einigkeit. Dabei verschoben sich die Ende der 1870er Jahre mit dem Schlachthof verknüpften Erwartungen zwischen teuerungspolitischer Steuerung und gesundheitspolizeilicher Prävention. Die hygienischen Aspekte überwogen allerdings Ende der 1870er Jahre sowohl in den Bewerbungen der Unternehmer als auch in den Berichten der Gewerbe- und Marktaufseher, die im Rahmen ihrer Praxis immer wieder auf die Vorteile eines Schlachthofes hinwiesen. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen«, schrieb der Unternehmer Omnès im April 1876 dem Bürgermeister, »dass Brest die einzige bedeutende Stadt in Frankreich ist, die nicht über eine für die öffentliche Hygiene so nützliche Einrichtung verfügt. Diese Frage ist in meinen Augen fundamental«.92 Auch Wattebled, der Geschäftsführer der Société nationale des abattoirs publics, argumentierte hauptsächlich mit den hygienischen Verbesserungen, die Schlachthöfe im Allgemeinen mit sich brachten: »Die offiziellen Statistiken zeigen, dass die mittlere Lebensdauer in Paris seit dem großen Stadtumbau und dem Bau des Schlachthofs von La ­Villette um zwei Jahre gestiegen ist.«93 Oberbehörden und Stadtverwaltungen hätten »immer die Gefahren« gesehen, die von einer »vollkommen sich 88 AMB 5I11.2: Aristide Vincent, an: Maire de Brest, 22.3.1875. 89 Ebd. 90 AMB 5I11.2: Deschateau, Rapport sur la demande faite par la compagnie générale d’abattoir public pour obtenir l’autorisation d’en créer un à Brest, 12.6.1879. 91 AMB 5I11.2: Projet d’établissement d’un abattoir, o. D. [Juni 1879]. 92 AMB 5I11.2: Omnès, entrepreneur, an: Maire de Brest, 20.4.1876. 93 AMB 5I11.2: Administrateur délégué de la société générale des abattoirs de France, an: Préfet du Finistère, o. D. [Sept. 1879].

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selbst überlassenen Fleischerei für die Hygiene und öffentliche Gesundheit« ausgingen. Daher gebe es zahlreiche Vorschriften über die »gute Führung der Schlachthäuser« und die Fleischinspektion. Leider ließen sich die Gefahren, die von innerstädtischen Privatschlachtereien als Infektionsherden ausgingen, nicht vollkommen kontrollieren, ebenso wenig verhindern, dass ungesundes Fleisch in den Handel gelange und zu einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit werde. Deshalb forderten »alle, die diese Frage studiert« hätten, diese Produktionsstätten einer »permanenten Kontrolle zu unterwerfen«. Diese Kontrolle müsse jedoch »illusorisch« bleiben, »wenn das Schlachten nicht in einer großen öffentlichen Anlage konzentriert und der unablässigen Überwachung der Verwaltungsbehörde unterstellt ist«.94 Lebensmittelinspektor Pennors hob in seinen Jahresberichten zwischen 1878 und 1882 regelmäßig hervor, dass die Kontrolle der Fleischqualität in einem öffentlichen Schlachthof erheblich leichter fiele. »Im Hinblick auf die Fleischqualität wird eine wirklich strenge Überwachung nur in einem gemeinsamen Schlachthof möglich sein, in dem alle Tiere visitiert werden, bevor man sie schlachtet«.95 Auch der Veterinär Le Roux stellte in einem Gutachten für die Marktaufsicht 1881 fest: »Ich weise darauf hin, dass so schlechtes Fleisch fast immer aus Landerneau, Lannilis oder Lesneven kommt und dass dies so bleibt, bis wir endlich einen Schlachthof haben«.96 Ein ganz spezifisches Interesse verband ein anderer Veterinär namens Touques, aus dem benachbarten Landerneau, der als von der Präfektur bestellter Experte arbeitete, mit dem Projekt. Wie de Kerjégu verstand er den Schlachthof zwar auch als Mittel zur Förderung der Landwirtschaft. In seiner Vorstellung war diese Einrichtung aber zugleich mit wissenschaftlichen Forschungsmöglichkeiten und moralischen Urteilen über »das ökonomische Element« verknüpft. »Diese wohlverstandene Einrichtung […] wird auf jeden Fall sehr großen Einfluss auf die Zukunft der Landwirtschaft des ganzen Finistère und auf die Fortschritte der Hygiene in unserer Gegend wie in Brest selbst haben«, schrieb er im März 1876 an den Bürgermeister. »Ich gehe nämlich davon aus, dass der Brester Schlachthof nicht nur eine Einrichtung rein administrativen Interesses ist, sondern auch ein Ort ökonomischer Studien, die sich mit der Lösung des Problems der Senkung der Lebenshaltungskosten [vie à bon marché] beschäftigen, und ein extrem interessantes Zentrum für die Beobachtung der Gesetze der privaten und öffentlichen Hygiene und selbst der vergleichenden Medizin sein wird«.97 94 Ebd. 95 AMB 1I7.1: Pennors, inspecteur des denrées, Alimentation des marchés de Brest, du 1er janvier au 31 décembre 1877, o. D. [vor 31.1.1878]. Im Wortlaut gleich: ebd.: Pennors, inspecteur des denrées, an: Maire de Brest, Année 1880/Denrées alimentaires. Copie du rapport remis à Monsieur Troude le 2 Janvier 1881, 2.1.1881; ebd.: Pennors: Rapport succinct, concernant l’approvisionnement des marchés et les faits saillants de l’Inspection des denrées pendant l’Année 1882, o. D., [vor dem 31.1.1883]. 96 AMB 1I7.1: Le Roux, vétérinaire, 10.4.1881. 97 AMB 5I11.2: Touques, m.s.a., Landerneau, an: Maire de Brest, 1.3.1876.

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Die Planungen sollten daher auf keinen Fall dem »ökonomischen Element«, d. h. Unternehmern und Fleischern allein überlassen werden, sonst bliebe auf dem Fleischmarkt alles wie gehabt. Wie sehr sich in genau diesem Sinn von Experten vertretene gesundheitspolizeiliche Gesichtspunkte im Diskurs der Stadtverwaltung über den Fleischmarkt als Brechung ökonomischer Prinzipien auswirkten, zeigt schließlich ihre Aktivität in einer weiteren Teuerung Ende 1879/Anfang 1880, ihr Umgang mit einer Warnung vor mit Trichinen verseuchtem Schweinefleisch aus den USA im Frühjahr 1881 und der vorläufige Höhepunkt der Planungsdebatte mit der Vorstellung und Diskussion der beiden Expertengutachten im Stadtrat im November 1881, die zum Beschluss des Schlachthofbaus führten. In zwei für die örtliche Presse vorbereiteten Notizen nahm der Bürgermeister im Januar 1880 die Beratungsergebnisse der Kommission aus den Jahren 1872 bis 1874 auf und lehnte, gestützt auf Informationen zu den Fleischpreisen in umliegenden Städten,98 die Fleischtaxierung erneut ab. Man müsse wissen, »dass die Frage der Fleischerei und des viel zu hohen Fleischpreises den Bürgermeister immer sehr besorgt hat, dass er alle erreichbaren Informationen eingeholt und alle Mittel ausgeschöpft hat, um einen Missbrauch abzustellen, der einzig auf die Handelsfreiheit und die schuldige Übereinkunft [entente coupable] der Fleischer zurückzuführen ist.«99

So habe die Kommission entschieden, »1. dass die Einrichtung dieser Taxe die Preise für Stücke geringerer Qualität in die Höhe treibt und demnach den reichen Konsumenten zuungunsten des kleinen Konsumenten begünstigt, 2. dass Handelsfreiheit und Wettbewerb die besten Maßnahmen sind, um auf stabile Weise [de manière durable] die Befriedigung aller Interessen zu sichern, 3. dass unter diesem Gesichtspunkt die Einrichtung von Kooperativen immer eine ­exzellente Sache ist«.100

Tatsächlich meldete sich kurze Zeit später ein Brester Bürger, beim Bürgermeister mit dem Ansinnen, eine solche Kooperative als Aktiengesellschaft zu gründen. Burlé kündigte am 22. Januar 1880 die Gründung einer »philantropischen Gesellschaft« an mit dem Ziel, »unserer Bevölkerung einen Dienst zu erweisen, indem das Monopol der Fleischer zerstört wird«.101 Als es wenig später um die 98 AMB 4F5.1: Maire de Morlaix, an: Maire de Brest, [Fleischpreise], 9.1.1880; ebd.: Maire de Landerneau, an: Maire de Brest, viandes de boucherie  – renseignements, 9.1.1880; ebd.: Maire de Quimper, an: Maire de Brest, viandes de boucherie – renseignements, 17.1.1880, ebd.: Maire de Chateaulin, an: Maire de Brest, 19.1.1880. 99 AMB 4F5.1: Maire de Brest, [note] A mettre au procès-verbal en tête de la question de la­ Boucherie pour servir de début à la note déjà remise, o. D. [Januar 1880]. 100 AMB 4F5.1: Maire de Brest, Question de la Boucherie, o. D. [Januar 1880]. 101 AMB 4F5.1: E. Burlé, commissionnaire de commerce, an: Maire de Brest [Société coopérative Brestoise], 22.1.1880.

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Bildung des Aufsichtsrates und seine Besetzung mit »ehrenwerten Männern« der Brester Gesellschaft ging, fragte Burlé den Bürgermeister, ob dieser ehrenhalber den Vorsitz übernehme. Auch dieses Ehrenamt würde den Bürgermeister in die Verantwortung nehmen: »Wir wissen«, schrieb Burlé deshalb, »dass es sein kann, dass Sie dieses private Amt als mit Ihrem offiziellen Amt unvereinbar betrachten«. Falls das der Fall sei, wünsche man sich den Bürgermeister wenigstens als Aktionär, denn diese »moralische Unterstützung« müsse dazu führen, dass sich auch »eine Anzahl Stadtratsmitglieder« der Sache anschlösse. Das Schreiben gab der Hoffnung Ausdruck, dass die »Stadtverwaltung wenigstens individuell dem im öffentlichen Interesse gegründeten Werk sympathisch« gegenüberstehe.102 »Niemand bestreitet«, führte Burlé in einem separaten Schreiben an die Stadtratsmitglieder aus, »dass die exorbitanten Forderungen der Fleischerei eine ernsthafte Gefahr für die allgemeine Nahrungsversorgung [alimentation générale]  darstellen.« Es handele sich bei der in Gründung befindlichen Aktiengesellschaft also grundsätzlich mehr um ein »philantropisches Werk« als um eine »finanzielle Operation«.103 Er vermied deshalb auch in der Redaktion der Statuten, wie er nach der Zusage der »moralischen Unterstützung« an den Bürgermeister schrieb, »[s]eine eigene Person in den Vordergrund zu stellen um zu demonstrieren, dass es in dieser Sache eher um das Allgemeininteresse geht als um ein Privatinteresse«.104 Denn gerade eine solche »Einrichtung erfordert ernsthafte Unterstützung und enge Solidarität«.105 Der Vorgang zeigt, wie sich im Jahr 1880 zwischen Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft eine implizite Partnerschaft etablierte, die eine direkte Intervention in den Fleischmarkt vermied: Die Verantwortung für die strategische Dämpfung der Fleischpreise wurde auf eine private »philantropische« Initiative übertragen, die zwar als Marktakteur agieren konnte, sich jedoch auf das Allgemeininteresse und das republikanische Konzept der Solidarität bezog und im Gegenzug die »moralische Unterstützung« der Beamten als Bürger erhielt. Vom Schlachthof als einem teuerungspolitischen Instrument war in den Rechtfertigungen des Bürgermeisters allerdings keine Rede. Dessen Notwendigkeit unterstrich im Februar 1881 in der Verwaltungskommunikation ein anderer Vorgang, der durch die örtliche Presse und das Landwirtschaftsministerium in die Stadtverwaltung hineingetragen wurde.106 Als Atlantikhafen war Brest von einer Warnung vor importiertem und mit Trichinen verseuchtem Schweinepökelfleisch betroffen. Eine Ende Februar 1881 verfasste Notiz des Bürgermeisters erklärte, dass er »unmittelbar nach Bekanntwerden eine Inspektion des Fleisches dieser Herkunft im örtlichen Handel« veranlasst habe. Bis 102 AMB 4F5.1: E. Burlé, commissionnaire de commerce, an: Maire de Brest, 28.1.1880. 103 Ebd. 104 AMB 4F5.1: E. Burlé, commissionnaire de commerce, an: Maire de Brest, 1.3.1880. 105 AMB 4F5.1: E. Burlé, commissionnaire de commerce, an: Maire de Brest, 28.1.1880. 106 AMB  1I7.1: Sous-Préfet de Brest, an: Maire de Brest, n° 291 [porcs salés d’Amérique], 2.3.1881.

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dato habe der Lebensmittelinspektor aber keine Spuren von trichinösem Fleisch im Handel entdeckt. »Prüfung und Überwachung gehen weiter«.107 Zuvor hatte ein Bericht des Lebensmittelinspektors Pennors am 20. Februar gemeldet, dass »minutiöse Recherchen« keine Spur von Trichinen ergeben hätten.108 Zu diesen Prüfungen wurde nun allerdings ein weiterer Experte, ein Arzt der Marine, mit seinem Mikroskop hinzugezogen. Der teilte Pennors am 24. Februar 1881 mit: »Ich habe die sechs Schinkenfragmente aufmerksam unter dem Mikroskop untersucht, die sie mir im Verlauf der Woche geschickt haben. Ich habe bei einer 80fachen Vergrößerung mit dem Nachet-Mikroskop keine Trichinen gefunden. Ich kann deshalb behaupten, dass die sechs ersten Proben frei sind von Parasitenbefall.«109

Einige weitere Vorgänge des Jahres 1881 führten der Stadtverwaltung deutlich vor Augen, dass die organoleptische Analyse des Lebensmittelinspektors auf den offenen Märkten nicht ausreichte, um die von Medizinern und Naturwissenschaftlern immer wieder neu definierten Gefahren für die Gesundheit der örtlichen Bevölkerung auszuschließen, die potentiell von Fleisch110 – aber auch von anderen Lebensmitteln111 wie z. B. Fisch112 – ausgehen konnten. Durch diese Vorfälle erhielt das Schlachthofprojekt der Stadtverwaltung zusätzliche Impulse. Am 21.  November 1881 stellten zwei Experten ihre Projektgutachten im Stadtrat vor, der die Frage anschließend diskutierte und den Bau des Schlachthofs beschloss:113 Der als stellvertretender Bürgermeister mit der Marktaufsicht betraute Architekt, Mitglied des Bezirkshygienerats, Victor Barillé, dessen Bericht auf Kosten des Stadtrats gedruckt und veröffentlicht wurde,114 und der mit seiner Sachkunde regelmäßig zur Fleischkontrolle des Lebensmittelinspektors hinzugezogene Veterinär Sylvain Le Roux, dessen als »Ergänzung technischer Details« zum Barillé-Bericht vorgestellte Schrift 107 AMB 1I7.1: Maire de Brest, o. D., [Februar 1881]. 108 AMB 1I7.1: Pennors, 20.2.1881. 109 AMB 1I7.1: Roussel, médecin de 1ere classe de la marine, an: Maire de Brest, 24.2.1881. 110 AMB 1I7.1: Pennors, inspecteur des denrées, an: Maire de Brest, 10.4.1881; ebd.: Emmanuel A. Pioche de Launois, Commissaire de police du 2eme arr., an: Maire de Brest, n° 1180, 15.4.1881; ebd.: Le Roux, vétérinaire, 10.4.1881. 111 AMB 1I7.1: Pennors, inspecteur des denrées, an: Colonel Troude, Maire-adjoint de Brest, Denrées alimentaires. Marchés du 13 au 19 juin 1880, 19.6.1880; ebd.: Pennors, Denrées alimentaires, marchés du 20 au 25 juin 1880, an: Colonel Troude, adjoint-Maire, 25.6.1880; ebd.: Pennors, inspecteur des denrées, an: Maire de Brest, Denrées alimentaires. Marchés du 20 au 27 juin 1880, 27.6.1880. 112 AMB  1I7.1: Commissaire central de Brest, an: Maire de Brest, Enfouissement d’environ 200 poissons corrompus, 1.6.1881; ebd.: Lagrange de Langre, Santé publique – Interdiction des sels et vases en cuivre pour la préparation des conserves alimentaires, 3.6.1881, ebd.: Maire de Brest, an: Commissaire central de police, n° 1797, 10.6.1881. 113 AMB M232: Conseil Municipal de Brest, séance ordinaire du Lundi, 21.11.1881. 114 AMB 5I11.2: V. Barillé, adjoint au Maire, Notice sur l’utilité d’un abattoir public à Brest, 14.6.1881 (Brest 1882).

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im folgenden Jahr ebenfalls als Broschüre erschien.115 Sowohl Barillés 51 Seiten umfassende »Notiz über die Nützlichkeit eines öffentlichen Schlachthofs in Brest« als auch Le Roux’s 30seitiger »Bericht über das Projekt eines öffentlichen Schlachthofs in Brest« entwarfen den Schlachthof nicht nur als öffentliche Einrichtung, die von den Privatschlachtereien (tueries) und der Tier- bzw. Fleischversorgung durch das Umland ausgehende Gesundheitsgefahren bannen sollte. Sie verbanden mit dem Projekt vielmehr ein umfassendes Reformprogramm, das neben den Bedingungen der Fleischproduktion auch die ökonomischen Spielregeln der Fleischvermarktung verändern sollte. Während Barillé auch Aspekte der Raumplanung, der Baufinanzierung sowie der Schlachthofordnung behandelte und vor allem den »Einwand der Fleischer« ausführlich prüfte, dass der Schlachthof unweigerlich zu höheren Fleischpreisen führe,116 konzentrierte sich Le Roux in seiner Ergänzung auf Aspekte der »Hygiene und Versorgung« und problematisierte den status quo aus der Sicht des in die Fleischinspektion eingebundenen Tierarztes. Beide Experten thematisierten zunächst die Produktionsbedingungen in den insgesamt 36 Schlachtereien auf Brester Stadtgebiet, von denen fünf in Brest intra muros und 21 bzw. 10 in den östlichen Vorstädten Lambézellec und St. Pierre de Quilbignon lagen. »Eine gute Verwaltung«, schrieb Le Roux, »muss es als eine ihrer Hauptaufgaben ansehen, unablässig darüber zu wachen, dass die ganze Bevölkerung angemessen mit nahrhaftem Fleisch ernährt wird«.117 Barillé fragte in diesem Sinn, ob die privaten Schlachtereien »alle Sicherheitsgarantien bieten, welche die Konsumenten mit Recht von den Stadtverwaltungen erwarten können, denen sie die Führung ihrer Interessen anvertraut haben«.118 Er zeichnete ein düsteres Bild: »Eine Schlachterei besteht meist aus einem oder zwei Räumen von geringer Größe, mit niedrigen Decken, schlecht gereinigt und fast immer ohne ausreichend Licht und Wasser«.119 Während er immerhin konzedierte, dass auch an den innerstädtischen Schlachtereien der »Fortschritt nicht vorübergegangen«120 sei, stellte Le Roux die hygienischen Bedingungen aller Betriebe grundsätzlich in Frage. Selbst »bei bestem Willen« könnten sie nicht so sauber gehalten werden, wie es das »unbestreitbare Recht der Hygiene verlangt«.121 Die Unsauberkeit der Betriebe habe Auswirkungen auf die unmittelbare, aber auch auf die weitere Umgebung. Barillé hob einerseits auf das »abstoßende Bild« ab, das die Schlachtereien der Nachbarschaft und den Passanten boten. Im Moment des Schlachtens würden die Läden und 115 AMB 5I11.2: Sylvain Le Roux, Rapport sur le projet de construction d’un abattoir public à Brest, Brest 1882. 116 Barillé, S. 1. 117 Le Roux, S. 1. 118 Barillé, S. 6. 119 Ebd., S. 2. 120 Barillé, S 2. 121 Le Roux, S. 4.

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Fenster zwar geschlossen, die »klagenden Laute der Tiere« drängen jedoch nach draußen. Fenster und Türen würden nach dem Vorgang wieder geöffnet und man könne nun die »mit Blut bespritzten Schlachter« sehen, wie sie den Kadaver zerlegten. Blut flösse auf den Gehsteig und die Tierreste lägen in den Ecken der Schlachterei herum.122 Für gravierender hielten er und Le Roux freilich die »ernsthaften Widrigkeiten und Gefahren für die Gesundheit«123 der Wohnbevölkerung. Die Luft in den Produktionsräumen und in ihrer Umgebung sei durch Tierreste, Abfälle, Flüssigkeiten und organische Substanzen, das ge­ ronnene Blut und das mit faulenden Materien gesättigte Wasser verdorben, das unter offenem Himmel meist in die Mistgruben neben den Schlachtereien ablaufe. Die »Atmosphäre enthält übelriechende Gase und pestartige Miasmen, die besonders bei großer Hitze im Sommer ärgerlichen Einfluss auf das Fleisch haben«, so dass die Schlachtereien »in manchen Momenten Epidemien verursachen können«.124 Unter expliziter Bezugnahme auf Louis Pasteur hielt Le Roux sie für »Krankheitsherde, in denen Keime alle Bedingungen vorfinden, um sich zu vermehren und ansteckende Krankheiten zu verursachen«. Beiläufig brachte er sie mit den Typhusepidemien in Verbindung, welche die »dicht bevölkerten Stadtviertel jedes Jahr heimsuchen«.125 Eine zweite, mit den Schlachtereien verbundene Gesundheitsgefahr lokalisierten die beiden Experten in der Lieferung von lebendem Schlachtvieh oder bereits zerlegten Tieren aus der Umgebung in die Stadt. »Alle Arten von verletzten oder kranken und deshalb ansteckenden Tieren«126 fänden ihren Weg in die Schlachtereien und über diese in den Verbrauch, stellte Barillé fest. Le Roux, dessen amtliches Tätigkeitsfeld als von der Präfektur bestellter Amtstierarzt hier unmittelbar berührt war, bestätigte diese Behauptung, formulierte jedoch einen engeren Zusammenhang zwischen Fleischqualität und Ernährung. Täglich werde für die Versorgung vor allem der Arbeiterklasse Schlachtvieh aus umliegenden Städten eingeführt und durch Zwischenhändler (revendeurs bzw. chevillards) verkauft, bevor man sie untersuchen könne. Dabei sei öffentlich bekannt, dass diese Tiere »ungesundes oder zumindest wenig nahrhaftes Fleisch liefern«, das jedoch gerade die Arbeiterklasse »zur Ersetzung der verbrauchten Kräfte« benötige. Manche dieser Tiere seien »gänzlich ungeeignet für die Ernährung des Menschen, wenn nicht sogar schädlich und gefährlich für seine Gesundheit«.127 Mit Anekdoten aus seiner täglichen Praxis versah Le Roux Ausführungen über das »profunde Unwissen« der Bauern, die Krankheiten ihrer Tiere oft nicht erkannten. Einmal geschlachtet, fasste Barillé zusammen, könnten auch Veterinäre nicht mehr feststellen, an welcher Krankheit das 122 Barillé, S. 2/3. 123 Ebd., S. 3. 124 Ebd., S. 2/3. 125 Le Roux, S. 5. 126 Barillé, S. 5. 127 Le Roux, S. 10.

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Tier gestorben sei. Am sichersten sei »nach Ansicht der Tierärzte« die Begutachtung vor bzw. die Prüfung der inneren Organe unmittelbar nach der Schlachtung, doch die würfen die Schlachter als erstes weg.128 Der Schlachthof stellte für beide Hygieneexperten in hygienischer H ­ insicht also eine Rationalisierung der polizeilichen Überwachung dar. Im Sinn eines Sicherheitsdispositivs sollte er die Gesundheitsgefahren bannen, indem die Fleischproduktion räumlich zentralisierte und so die Möglichkeit geschaffen wurde, zum einen die Einhaltung »exzessiver Sauberkeit«129 in den Produktionsräumen zu überwachen und zum anderen den Zustand der Tiere vor der Schlachtung durch Tierärzte zu prüfen. Ansonsten bliebe nur, so Barillé, »in jeder Schlachterei und in jedem Steuerbüro einen Polizeibeamten zu postieren«.130 Überdies, fügte Le Roux hinzu, müssten diese Beamten über »Spezialwissen«131 verfügen, denn »nicht jedermann kann alle gefährlichen Krankheiten mit bloßem Auge erkennen«.132 Die meisten Gesundheitsrisiken seien nur für den Veterinär erkennbar, was ihn in seinen Augen dazu berechtigte, Schlachtvieh bereits bei bloßem Verdacht auf Krankheiten oder sonstige Unregelmäßigkeiten aus dem Verkehr zu ziehen.133 Mit diesen im engeren Sinn sanitätspolizeilichen Gesichtspunkten verbanden Barillé und Le Roux jedoch auch eine doppelte fleischwirtschaftspolitische Strategie. Auf der einen Seite, wie Barillé im Anschluss an eine ausführliche Analyse der Gestehungskosten der Brester Fleischer erläuterte, wirke der Schlachthof als Preisregulator. Durch den Schlachthof könnten die Preise insgesamt nicht steigen, weil dieser für alle Fleischer – für die wenigen größeren und reichen Betriebe wie die vielen kleinen, die über keine eigenen Privatschlachthäuser verfügten (bouchers à la cheville) – gleiche Produktionsbedingungen schaffe. Wenn die kleineren Betriebe im Schlachthof geringere Produktionskosten haben würden und als bisher, könnten sie den größeren Unternehmen Konkurrenz machen, die dann ihre Preise senken müssten.134 Dieser Strategie entsprach in den Plänen des Architekten die Raumaufteilung: Der Schlachthof erinnerte mit seinen zwölf »vollkommen gleichförmigen«,135 in drei Reihen angeordneten Gebäuden mit je vier Schlachtkammern (case)  auf quadratischem Grundriss an einen Kasernenbau. Jedem Fleischereibetrieb sollte eine dieser Kammern zugewiesen werden und insofern stellte der Schlachthof eine Transposition und räumliche Konzentration der über die Stadt verteilten Privatschlachtereien dar. Zugleich wirkte er wie eine Vereinzelungs- und Nivellierungsanlage, denn er unterwarf alle Fleischer ausnahmslos den gleichen räumlichen Pro­ 128 Barillé, S. 6. 129 Ebd., S. 6. 130 Ebd. 131 Le Roux, S. 10. 132 Ebd., S. 11. 133 Ebd., S. 9. 134 Barillé, S. 17. 135 Ebd., S. 24.

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duktionsbedingungen.136 Auch der Veterinär Le Roux ging davon aus, »dass der Schlachthof unvermeidlich dazu beitragen wird, den Fleischpreis zu senken, anstatt zu erhöhen«,137 und interpretierte die Reformstrategie als »Befreiung«: »Der Schlachthof wird die Fleischer in gewisser Weise nivellieren und bereits dadurch einen Wettbewerb schaffen, der vorher nicht möglich war, weil die vielen kleinen Fleischer ohne eigenen Schlachthof, ohne Vermögen, den großen Fleischern ausgeliefert waren. […] Die kleinen Fleischer, die sich durch den Schlachthof in gewisser Weise vom Joch ihrer reichen Kollegen befreit fühlen, werden ihnen en bloc einigermaßen ernsthafte Konkurrenz machen, was eine Senkung des Fleischpreises zur Folge haben wird. […] Man darf vermuten, dass der Verbraucher davon profitieren wird«.138

Auf der anderen Seite versprachen sich Barillé und Le Roux von der Konzentration der Fleischer im Schlachthof, dem Ausgleich der Produktions- und Wettbewerbsbedingungen und der sanitätspolizeilichen Kontrolle der Fleischproduktion eine Verbesserung der Fleischqualität in Brest. Wie Barillé erläuterte, seien die Produktionskosten in der Brester Umgebung zwar günstiger, die Qualität des Fleisches in der Stadt sei jedoch besser. Allerdings würde dieses bessere Fleisch von den Großbetrieben aufgekauft, während sich die vielen kleinen Fleischhändler im Umland versorgen müssten, dort jedoch oft nur noch jenes Fleisch bekämen, dass die ortsansässigen Fleischer nicht an Ort und Stelle verkaufen konnten, d. h. Fleisch »allerletzter Qualität«.139 Mit dem Schlachthof, argumentierte Le Roux, »wird es nicht mehr wie früher, als es noch keine Inspektion gab, Fleisch erster oder schlechter Qualität geben. Fleisch wird zwar immer unterschiedliche Gütegrade aufweisen, aber alles wird von guter Qualität sein«.140 Der Schlachthofzwang, mit dem die Brester Fleischer belegt werden sollten, hatte für den Veterinär also eine doppelte Funktion. Nach außen wirkte er normierend auf die Fleischqualität und schützte so die Brester Verbraucher gegen ungeprüftes Fleisch, dessen Nahrhaftigkeit infrage stand und bei dem Gesundheitsgefahren nicht ausgeschlossen werden konnten. Nach innen etablierte der Schlachthof dann jedoch für die Fleischqualität einen Normalismus. Da die für die Versorgung der Bevölkerung bestimmte Fleischproduktion hier in ihrer Gesamtheit der Inspektion unterworfen war, konnte grundsätzlich von guter Qualität ausgegangen werden, die dann je nach Tierart, Viehqualität und Fleischstück differenziert wurde. Der Stadtrat beschloss die Umsetzung dieses Projekts. Nach einem Ausschreibungsverfahren begann im Jahr 1885 der Neubau, der im Juli 1887 eröffnet wurde.

136 Siehe die Planskizze, ebd., S. 52. 137 Le Roux, S. 13. 138 Ebd., S. 14. 139 Barillé, S. 17. 140 Le Roux, S. 14.

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1.3 Stadtlabor Im Jahr 1882 beriet der Stadtrat auch über die Einrichtung eines städtischen Chemielabors. Die im Stadtrat gebildete Beratungskommission beschied die Frage, ob eine solche Einrichtung »nützlich« sei, nicht nur positiv, sondern hielt sie sogar aus zwei miteinander verknüpften Gründen für »notwendig«. Erstens: »Nahrungsmittel […] sind leider viel zu häufig Gegenstand von spontanen Veränderungen [altérations] und Fälschungen [sophistications]. Diese spontane Veränderung oder Fälschung kann zwei Effekte haben: Den Nährwert verringern oder schädlich sein. Im ersten Fall ist es wichtig, dass die Kundschaft [public] über den realen Wert der Dinge aufgeklärt wird, die sie kauft; im zweiten Fall muss der Verkauf dieser Waren verboten werden«.141

Zweitens: »Nun ist [heute] die einzige Kontrolle von Lebensmitteln, die in Brest durchgeführt wird, zwar in den Händen eines Experten, der zwar sicher geschickt und ge­ wissenhaft ist, der aber nur über primitive, vollkommen ungeeignete Mittel verfügt, um zu einem zufrieden stellenden Ergebnis zu kommen. Dem müssen wir uns stellen.«142

Mit diesem »Experten« war der Lebensmittelinspektor Pennors gemeint, dessen organoleptische Warenprüfung (Riechen, Betasten, Schmecken, Beschauen) nun für nicht mehr auf der Höhe der Möglichkeiten angesehen wurde. Angesichts der modernen Fälschungsverfahren werde es »schwierig, die Gesundheit der Bevölkerung wirklich zu schützen und Betrug wirksam zu verhindern.« Die Wissenschaft, die den Fälschern immer neue Verfahren zur Verfügung stelle, mache es dem »gewöhnlichen Inspektor« mit seiner »altertümlichen Methode« und »gezwungenermaßen sehr einfachen Instrumenten« mehr oder weniger unmöglich, Fälschungen zu verhindern. Da helfe nur die »chemische oder mikroskopische Analyse« und die Einrichtung eines Labors, das dem »städtischen Inspektionsdienst« und der Öffentlichkeit dauerhaft zur Verfügung gestellt werden müsse.143 Das Labor nahm am 23. März 1883 unter der ehrenamtlichen Leitung von Alain Hétet, einem pensionierten Chemiker der Brester Marinegarnison, seine Arbeit auf. Zunächst zum Zweck eingerichtet, mit Hilfe chemischer und mikroskopischer Analyse die Reinheit bzw. Echtheit der Eigenschaften von Lebensmitteln zu testen, entwickelte sich das Labor spätestens mit der Amtsübernahme des jungen Arztes Claude Allary im Sommer 1890 zu einem wichtigen Element der örtlichen Gesundheitspolizei. Allary spezialisierte sich auf Trink141 AMB  5I4.3: Projet de création d’un laboratoire municipal, Rapport, 3.12.1882 [unpag.], S. 1. 142 Ebd., S. 1 f. 143 Ebd., S. 2.

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wasser. Im April 1895 meldete er dem Bürgermeister Übungen im Umgang mit der »praktischen Mikrobiologie«, »um das bakteriologische Labor nutzen zu können, das mir die Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt hat. Die Dienste, die dieses neue Labor sowohl im Hinblick auf die Trinkwasserüberwachung als auch im Hinblick auf die sichere Anwendung der Methoden Pasteurs bei der Behandlung verschiedener Krankheiten leisten wird, können an Bedeutung nur gewinnen.«144

Im Lauf der nächsten Jahre erweiterte die Stadt das Labor um ein »radiographisches Kabinett«. Er werde nun »oft von Arbeiterinnen und Arbeitern aufgesucht, die von ihren Ärzten zu mir geschickt werden, um Werkzeugteile oder abgebrochene Nadeln [in ihrem Körper, d. Vf.] zu finden; letzteres kommt häufig vor«.145 Allary setzte seinen Röntgenapparat etwa ein, um Gutachten in Rechtstreitigkeiten um Unfallversicherungsleistungen für verunglückte Arbeiter zu erstellen.146 Dass selbst aus St. Brieuc, der am Ärmelkanal gelegenen Hauptstadt des benachbarten Departements Côtes du Nord, Patienten zu Allary geschickt wurden, zeigt, dass das Labor bereits weit über die Stadtgrenzen hinauswirkte und überregionale Bedeutung gewonnen hatte. Damit legte das kommunale Chemielabor zwischen 1883 und 1900 einen erstaunlichen Weg zurück. Ursprünglich in der Tradition der klassischen Subsistenzpolizey zur Prävention von Lebensmittelfälschungen in Brest eingerichtet, wandelte es sich bis zur Jahrhundertwende in eine Institution, die jenseits dieser Routinearbeit im engeren Sinn technologische Dienstleistungen in der ganzen Region bereitstellte. Diese Entwicklung war nicht ungewöhnlich. Das Brester Chemielabor stand im Schnittpunkt zweier Entwicklungen. Sowohl in der Gewerbe- und Marktaufsicht der Stadtverwaltung als auch in den Aufsichtsbehörden und den Ministerien nahm die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise und Beratung zu. Zu Beginn der 1850er Jahre wandte sich die Marktaufsicht wie gesehen an externe Experten, etwa Ärzte und Botantiker, um die Unschädlichkeit zweifelhaften Mehls oder havarierter Kartoffeln prüfen zu lassen. Mit dem 1869 ein­ gestellten Lebensmittelinspektor trat zwar ein Experte, der Apotheker Pennors, in den Dienst der Stadt, doch auch während seiner Tätigkeit kam es immer wieder vor, dass mit wissenschaftlichen Geräten wie Mikroskopen ausgestattete Experten der Marine zur Begutachtung hinzugezogen wurden. Mit der Eröffnung des Labors im Jahr 1883 kehrte sich dieses Verhältnis von Marktaufsicht und Expertise um. Die Stadtverwaltung wurde nun selber zum Disponenten wissenschaftlicher Expertise, die sich außerdem nicht mehr auf Lebensmittel beschränkte. 144 AMB 514.3: Allary, directeur du laboratoire municipal, Rapport pour l’exercice de 1894, 30.4.1895, S. 6. 145 AMB 5I4.3: Allary, Rapport à joindre aux trois tableaux numériques remis par le laboratoire (exercice de 1898), S. 2. 146 AMB 5I4.3: Allary, Relevé des analyses faites pendant l’année 1899, 15.6.1900, S. 5.

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Die städtischen Chemielabore waren am Prozess der nationalen Integration der Märkte für Lebensmittelprodukte beteiligt, indem sie zur Definition ihrer Eigenschaften beitrugen.147 Einige Labore wie das in Rennes entwickelten besondere Expertise für regionale Produkte – in diesem Fall für Cidre.148 Die Methoden, mit denen sie dabei jeweils vorgingen, führten allerdings zu abweichenden Ergebnissen, die immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten mit Produzenten und ihren Verbänden Anlass gaben. Daher richtete die Regierung im Landwirtschaftsministerium einen Wissenschaftsrat ein, der die Analysemethoden für viele einzelne Produkte und damit auch die Liste ihrer Normeigenschaften standardisierte und als Bulletins an die einzelnen Stadtlabore verschickte. Auf diese Beratungsverfahren und die präventive Perspektive auf Fälschungen baute 1905 die Verabschiedung des Lebensmittelreinheitsgesetzes auf.149 Neben dieser überregionalen Einbindung und Standardisierung seiner Lebensmittelexpertise war das Brester Labor aber auch im lokalen Institutionengefüge der Gewerbe- und Marktaufsicht verankert, das die Stadtverwaltung 1887 mit der Eröffnung des öffentlichen Schlachthofs und dem dort arbeitenden Veterinärinspektor komplettierte. Dass diese Experten in der Bekämpfung von Betrug und Fälschungen eng zusammenarbeiteten, belegen ihre jeweiligen Berichte. Der Schlachthof bildete das Zentrum eines hygienischen Dispositivs, von dem aus nicht nur der Fleischmarkt, sondern der Lebensmittelmarkt insgesamt kontrolliert wurde. Im März 1887 erkundigte sich Lebensmittelinspektor Pennors beim zuständigen stellvertretenden Bürgermeister Rivière, wie sich nach der Eröffnung des Schlachthofs seine Aufgaben verändern würden, ob er fortan zum Personal des Schlachthofs zähle, und ersuchte zugleich darum, im Schlachthof eine Dienstwohnung beziehen zu dürfen.150 Rivière lehnte dies ab und verdeutlichte zugleich, worauf der Inspektor in Zukunft zu achten haben würde: »Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Ihr Dienst in keiner Weise eingeschränkt wird, wie Sie zu glauben scheinen. Sie werden im Gegenteil fortfahren, die Verkaufsstände der Fleischer regelmäßig zu kontrollieren um sicherzustellen, dass alle angebotenen Fleischstücke den Stempel des Schlachthofs tragen und diesbezüglich nicht betrogen wird. Sie werden darauf achten, dass die Fleischer keine Ware zum Verkauf anbieten, die bereits verfällt und ihre Eignung für den Verzehr verliert. Sorgen Sie sich also nicht darum, nichts zu tun zu haben. Was den Dienst im Schlachthof betrifft: um die Fleischinspektion wird sich zukünftig ausschließlich ein diplomierter Veterinär kümmern.«151

147 Stanziani, Histoire, S. 256 ff.; vgl. zur nationalen Vereinheitlichung der Hygieneexpertise innerhalb der Verwaltung Paquy; Dumons u. Pollet, Pratiques. 148 Tanguy, S. 435–451. 149 Stanziani, Histoire, S. 260. 150 AMB 1I7.1: Pennors, an: Rivière, 18.3.1887. 151 AMB  1I7.1: Maire de Brest, an: Pennors, N° 2673  – service de l’abattoir municipal, 29.6.1887.

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Der Inspektionsdienst Pennors wurde in der Folge nicht dem Schlachthof, sondern 1889 dem Chemielabor unterstellt und mit den hoheitlichen Befugnissen ausgestattet, die ihm zwanzig Jahre zuvor noch vorenthalten worden waren: »Um seine Aufgaben mit aller Leichtigkeit erfüllen und den Dienst des Chemielabors wirksam unterstützen zu können, ist es von Nutzen, dass der Lebensmittelinspektor selbst mit der Befugnis ausgestattet wird, gefälschte und zum Verzehr ungeeignete  oder verdächtige Ware einzuziehen und gegebenenfalls eine Anzeige auf­zu­ setzen.«152

Ende der 1880er und zu Beginn der 1890er Jahre stellte sich in der Gewerbeund Marktaufsicht von Brest eine eigentümliche, auf der Zusammenarbeit der drei Institutionen Lebensmittelinspektion, Schlachthof und Chemielabor ba­sierende Arbeitsteilung ein. Der Lebensmittelinspektor versah als Außendienstmitarbeiter des Labors seinen Dienst auf den offenen Märkten und in Lebensmittelläden, wo er nun Stichproben entnahm und zum Labor brachte. Der Chemiker dagegen arbeitete ausschließlich in seinem Labor. Diese Arbeitsteilung war zwar auch in anderen Städten üblich, lief aber eigentlich dem allpräventiven Zweck zuwider, der dem Labor ursprünglich zugedacht worden war. Der Chemiker analysierte lediglich ex post die Proben in seinem Labor, die der Inspektor mit seinen, wie es 1882 im Beratungsprotoll der Stadtratskommission hieß, »primitiven, vollkommen ungeeigneten Mitteln« auf den Märkten entnahm. Die Fleischkontrolle fand im Schlachthof statt, wo inspiziertes und für den Verkauf in Brest freigegebenes bzw. für den Verzehr geeignetes Fleisch einen Stempel erhielt, der gewissermaßen in letzter Instanz die Autorität des Bürgermeisters symbolisierte und mit der Ernährungshygiene der Bevölkerung verknüpfte. Auf dem Markt kontrollierte wiederum der Inspektor ex post, ob das von den Fleischern angebotene Fleisch vom Veterinär gestempelt war oder nicht und beurteilte nur noch sein Alter. Mit der Verflechtung von drei unterschiedlichen Formen der Expertise: – der chemischen, mikroskopischen, bakteriologischen und mikrobiologischen Analyse des Labors; – der veterinärmedizinischen Fleischbeschau des Veterinärs, der im Zweifel ebenfalls ein Mikroskop zu Rate zog, dem Concierge (surveillant général) und dem Direktor des Schlachthofs; – dem auf Betasten und Riechen, Schmecken und Beschauen angewiesenen Lebensmittelinspektor, wandelte sich der Blick auf Nahrungsmittel der administrativen Gewerbe- und Marktaufsicht der Brester Stadtverwaltung an der Wende zu den 1890er Jahren grundlegend. Das betraf nicht nur die Art des nun in weiten Teilen stark verwissenschaftlichten Wissens, sondern auch die im Fokus der verwissenschaftlichen Lebensmittelkontrolle immer wieder neu auftauchenden Dinge und Risiken. Bisher ohne Weiteres getrunkenes Wasser wurde plötzlich gesperrt, weil 152 AMB 1I7.1: Maire de Brest, arrêté, 4.3.1889.

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es Bakterien enthielt; der Veterinär stellte fest, dass viele Fleischer im Schlachthof unter seinen Augen Bullenfleisch (taureau) als Rindfleisch (bœuf ) verkauften und den Verbraucher betrogen; der Lebensmittelinspektor beklagte, dass die Farbe, mit der der Veterinär im Schlachthof kontrolliertes Fleisch stempelte, der »notorischen Feuchtigkeit der Region« nicht standhielt, so dass die Fleischer sie abwischen konnten. Um die Jahrhundertwende hatte die unter gesundheitspolizeilichen Gesichtspunkten durchgeführte Marktaufsicht die Beziehung nicht nur der Brester Bürger, sondern auch der Bevölkerung der unmittelbaren Umgebung zu den Grundnahrungsmitteln verändert. Am 17. Februar 1909 schrieb ein gewisser Bohars, Arbeiter aus Guilers, einem kleinen Vorort von Brest, an den Bürgermeister: »Wir fragen uns hier alle, warum es Fleischer gibt, die ihr Fleisch prüfen lassen und wir hier alle sehr schlecht bedient werden, sehr teures tuberkulöses Vieh hier, wir halten aber auch auf unsere Gesundheit. Wie in Brest. Und wir fordern deshalb von Ihnen ihr Möglichstes, um Abhilfe zu schaffen und alles oftmals krebskrankes und tuberkulöses Fleisch über den Schlachthof zu leiten. Wir danken Ihnen im Voraus und zählen auf Ihr gutes Herz, es sollte keiner übrigbleiben, der sein Fleisch nicht prüfen lässt. Wir sind alle Arbeiter und müssen tuberkulöses Fleisch essen«.153

2. ›Moralische Ökonomie der Expertise‹? Die Praxis der Fleischinspektion in Rennes und die Verschiebung der Versorgungskonflikte In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang es den Tierärzten, im Rahmen der Hygienebewegung eine Schlüsselposition in der Regulierung der franzö­ sischen Märkte für Fleischprodukte einzunehmen.154 Die Strategien ihrer Berufsverbände und Medien ebenso wie die Nachfrage ihrer Expertise im Parlament und in den Ministerien des Inneren, des Handels und der Landwirtschaft waren insbesondere in den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1900 konstitutiv für eine Konstellation, in der die Ausarbeitung von administrativen Maßnahmen und die Definition von Normen, welche die Qualität von Fleisch sowie generell von Tieren gewonnener Produkte regulierten, entscheidend von veterinärmedizinischer Beratung und Bewertung abhingen. Das veterinärmedizinische Wissen zur Übertragbarkeit etwa von Trichinose oder von Tuberkulose zwischen Tier und Mensch sowie die Erforschung der Übertragungswege und -weisen führte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer ganzen Reihe von Dekreten und Gesetzen, welche die Rolle der Verwaltung bezüglich der Gesundheit der

153 AMB 5I11.3: Bohars, an: Maire de Brest, 17.2.1909. 154 Siehe zur Sozialgeschichte der Veterinäre in Frankreich grundlegend Hubscher, Maîtres, S. 190–243; sowie ders., Invention.

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Viehherden, der Hygiene der Schlachthöfe und der Ausübung der Fleischinspektion betrafen.155 Die Forschung zu diesem Thema hat zwei wichtige Elemente des Zusammenhangs von Staat, Expertise und Markt deutlich herausgearbeitet. Zum einen kam die veterinärmedizinische Expertise auf durchaus unterschiedliche Weise zum Einsatz, sei es in Beratungsgremien, in nationalen und internationalen Kongressen, sei es in der Begutachtung vor Gericht oder im Rahmen departementaler Tier- bzw. kommunaler Fleischpolizei. Veterinäre waren sowohl an legislativen Prozessen und der Ausarbeitung von Dekreten oder ministeriellen Instruktionen auf nationaler Ebene als auch an der Praxis der Fleischmarkt- und Schlachthofaufsicht auf kommunaler Ebene beteiligt.156 Zum anderen wird den Veterinären und ihrer Expertise im Rahmen ihrer zunehmenden Relevanz für gesundheitspolitische Institutionen und administrative Entscheidungen zumindest mittelbar eine strukturierende, ja konstituierende Wirkung auf den Handel mit Vieh und Fleischprodukten zugeschrieben. Agrarverbände und Fleischproduzenten etwa beriefen sich ebenfalls immer wieder auf veterinärmedizinische Expertise, um Gesetze und Dekrete zugunsten ihrer Marktpositionen durchzusetzen, etwa im Fall der Schutzzölle bzw. Importverbote seit den 1880er Jahren.157 Im Folgenden untersuche ich den Zusammenhang von Verwaltung, vete­ri­ närmedizinischer Expertise, Veterinär-Fleischinspektoren (vétérinaires-inspec­ teurs des viandes) und Fleischmarkt in Rennes. Die Geschichte der veterinärmedizinischen Expertise in ihrer Rolle für die Fleischmarktregulation wird hier von einem auf die Peripherie fokussierten Ausgangspunkt her betrachtet und damit aus einer anderen Perspektive als dies in den Untersuchungen geschieht, die sich mit den Institutionen in Paris beschäftigen. Dabei wird herausgearbeitet, welche translokalen Bezüge in der Fleischpolizei von Rennes hergestellt wurden, welche Prozesse der nationalen Vereinheitlichung oder regionalen Differenzierung für die Verwaltung, die Expertise und den Handel in der westfranzösischen Provinz einschlägig gewesen sind. Zugleich liegt die These zugrunde, dass der veterinärmedizinischen Expertise und den Fleischinspektoren auf stadtkommunaler Ebene – zumindest in Rennes – zwischen 1851 und 1910 viel früher eine viel umfassendere Rolle für die Konstitution des lokalen Fleischmarktes zukam, als auf gesamtstaatlicher Ebene. Die historische Konfiguration des Veterinärs als Experten und seiner Inspektionspraxis158 in Rennes kennzeichnen folgende Phasen. Erstens waren Veterinäre bereits in den 1850er Jahren an einer Reform der kommunalen Fleisch155 Siehe Bourdieu, Crise; Stanziani, Alimentation, S. 135–149. 156 Für die Sozialgeschichte der Schlachthöfe, siehe Muller, S. 45–70; Stanziani, Construction, S. 80–107; Heinert. 157 Siehe Stanziani, Histoire, S. 191–219. 158 Vgl. zu Konzept und Geschichte der Expertise und des Experten: Stanziani, Expertise, S. 145–157; Engstrom, S. 7–17; Hitzler; Junge.

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marktordnung beteiligt, die sie in die Position eines mit Polizeibefugnissen ausgestatteten Amtsträgers brachte, welche sie im Untersuchungszeitraum immer weiter ausbauten. Dabei hatten sie nicht nur die Fleischqualität, sondern immer auch die Fleischpreise im Blick. Die Expertise der »vétérinaires-inspecteurs des viandes« entwickelte sich zweitens in Rennes ab den 1880er Jahren und dann vor allem in den 1890er Jahren unter dem Einfluss neuer Gefahrendefinitionen (Tuberkulose) in einem Spannungsfeld zwischen kommunalpolizeilicher Inspektionspraxis und nationalen bzw. internationalen veterinärmedizinischen Wissensordnungen. Drittens verstanden sich die Veterinäre in den 1890er und 1900er Jahren als Sachwalter eines notorisch unaufgeklärten Konsumentenpublikums, dessen Gesundheit es vor den ebenso notorisch »betrügerischen« Fleischern und Metzgern zu schützen galt.159 2.1 Die Reform der Fleischmarktordnung in Rennes, 1851–1855 Vor dem Hintergrund steigender Fleischpreise bei stark fallenden Viehpreisen trat der Stadtrat von Rennes im April 1851 in einen Beratungsprozess über das »Fleischereiregime der Stadt betreffende Fragen ein«, der mit Unterbrechungen bis zur Eröffnung des öffentlichen Schlachthofs im August 1855 fortgeführt wurde. Unter der Maßgabe, »die Arbeiterbevölkerung mit gesunden und günstigen Nahrungsmitteln im Überfluss zu versorgen«,160 wurden Mittel und Wege diskutiert, mit denen man zugleich die Fleischpreise senken, die Fleischqualität verbessern und so insbesondere den Fleischkonsum der Arbeiter fördern könne. Dieser Kommission gehörten zwei Fleischer, Éon und Texier, ein Gutsbesitzer und Mitglied des Stadtrats (der spätere bonapartistische Bürgermeister) Ange de Léon, der Vorstand des städtischen Zollbüros Hémery, der für die Marktpolizei zuständige stellvertretende Bürgermeister – sowie die beiden Veterinäre des Departements Templé und Bellamy an.161 Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass ihrer Zielsetzung mit dem »Regime der freien Konkurrenz« am Besten gedient sei und arbeitete eine Reform aus, die in ihren drei Grundzügen das nächste halbe Jahrhundert erhalten blieb: Erstens erhielten die Fleischer der Stadt (bouchers urbains), d. h. jene Fleischer, die in der Stadt ihren Firmensitz und im Schlachthof ihre Produktions159 Materialgrundlage für dieses Kapitel sind Akten aus dem Stadtarchiv Rennes (AMR) und dem Archiv des Departments Ille & Vilaine (ADIV). 160 AMR 5F18: Comission extraordinaire instituée par arrêté du Maire de Rennes du 22.4.1851 pour l’examen des questions concernant le régime de la boucherie dans la villle de Rennes. 161 AMR  5F18: Examen et solution de diverses questions concernant le régime de la boucherie dans la ville de Rennes, 25.4.1851; AMR 5F20: Ange de Léon, Rapport, 14.12.1854; AMR 5F19: Bellamy, président de la Commission de la boucherie, rapport, 2.4.1855.- In das Beratungsverfahren griff auch der Präsident der departementalen Société d’agriculture mit einem langen Brief an den Bürgermeister ein, siehe AMR 5F20: Charles Chevalier de la Teillais, an: Maire de Rennes, 22.5.1851.

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stätte hatten, Konkurrenz durch Fleischer, die extra muros, d. h. im unmittelbaren und mittelbaren Umland, meist in Nachbarkommunen von Rennes, ihre Niederlassung hatten, und auf dem Markt einen Stand mieten mussten  – die auswärtigen Fleischer (bouchers forains). Zweitens schloss an diese Institutionalisierung von Wettbewerb zwischen städtischen und ländlichen Fleischproduzenten eine neue stadträumliche Allokation der Fleischvermarktung an. Es gab zwei überdachte Markthallen in Rennes: die »Halles St. Anne« und die »Halles des Lices«, von denen erstere von der städtischen Marktordnung als Fleischmarkt vorgesehen wurde. Dort allerdings durfte Fleisch nur en détail verkauft werden (St. Anne wurde explizit als Konsumentenmarkt ausgewiesen), um den Zugang der »ärmeren Bevölkerungsklassen« zu Fleischprodukten zu gewährleisten. Drittens löste die Kommission das Problem, wie nach der Umstellung auf das »Prinzip der Handelsfreiheit« die Fleischqualität von der Verwaltung garantiert werden könne, durch die für die städtischen Fleischer obligatorische Schlachtung im Schlachthof – sowie die Einrichtung des Amtes eines mit Polizeibefugnissen ausgestatteten Fleischinspektionsveterinärs.162 In diesem neuen kommunaladministrativen Fleischmarktdispositiv kam der Überwachungstätigkeit des Veterinärs und des Schlachthofdirektors folglich eine zentrale Bedeutung zu  – eine Bedeutung, die in den nächsten Jahrzehnten mit den gesundheitspolitischen Prämissen noch steigen sollte. Das zeigt sich daran, dass die in den Jahren 1851 bis 1855 erarbeitete Ordnung des Fleischmarktes in den Jahren 1889,163 1893164 und 1902165 zwar überarbeitet, dabei aber im Grunde nur immer strengere Maßstäbe für die Qualität von Vieh und Fleisch und neue Regeln für die Inspektion erlassen wurden. In den Revisionsverfahren wurde die Stadtverwaltung von dem seit 1871 amtierenden Veterinär Charles-Henri Chevaucherie beraten und seine Stellungnahmen waren meist ausschlaggebend. In den Jahren 1851 und 1854 diskutierte die Kommission zur Regulation der Fleischpreise und zur diesbezüglichen Disziplin der Fleischer auch die Alternative, das Fleisch zu taxieren. Sie verwarf diese Option aber mehrheitlich aus prinzipiellen Gründen und aus solchen der Machbarkeit.166 In der entscheidenden Abstimmung im März 1854, als die Frage erneut aufkam, weil der 1851 eingerichtete Wettbewerb zwischen städtischen und ländlichen Fleischern nicht zu einer Preissenkung geführt hatte, verweigerte der beim Departement an162 AMR 5F18: Commission au sujet du commerce de la boucherie, procès-verbal, 24.3.1854 und die Verordnung: ebd.: Ville de Rennes, arrêté de police concernant le marché couvert de la place Saint-Anne, 11.4.1855. 163 AMR I101: Maire de Rennes, arrêté, règlementation de l’inspection de la viande de porc, 10.4.1889. 164 AMR 5F18: Maire de Rennes, arrêté, règlementation de la Boucherie et de la Charcuterie, 10.1.1893. 165 AMR 5F18: Maire de Rennes, arrêté, Boucherie, Charcuterie, Triperie, 16.1.1901. 166 AMR 5F18: Commission au sujet du commerce de la boucherie, procès-verbal, 24.3.1854.

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gestellte, aber den Dienst des Fleischinspektors in Rennes versehende Veterinär Bellamy als einziger seine Zustimmung.167 In einem Beitrag für die Lokalzeitung Journal de Rennes sprach er sich öffentlich gegen die Abschaffung und stattdessen für eine Reform der »in Rennes seit langem wirkungslosen Taxe« aus. Die Viehbauern des Departements seien zu »unwissend« und die Metzger zu »untalentiert«, um das »System der Konkurrenz« im beabsichtigten Sinn mit Leben zu füllen. »Man sollte nicht glauben, dass die Aufhebung der Taxe und die selbst tägliche Öffnung des Marktes auf dem St Anne-Platz zu Wettbewerb führen werden; erstens, weil alle Fleischer von Rennes [im Stadtteil Champdolent, d. Vf.] konzentriert sind, weil sie fast alle mit einander verwandt oder befreundet sind, weil sie ihre Interessen nur zu gut verstehen; sodann, weil es seit vielen Jahren zwischen den Fleischern der Stadt und denen des Umlands Geschäftsbeziehungen gibt, die sowohl die einen als auch die anderen binden; der beste Beweis dafür, dass die Fleischer den Wettbewerb nicht fürchten, ist, dass sie ihn der Taxe vorziehen.«168

In Bellamys Einlassungen zur Korporation der Fleischer lassen sich wirtschaftspolitische Anschauungen über die »richtige« Einrichtung des Fleischmarktes zwecks Herbeiführung niedriger Preise von eher technischen Überlegungen zur Kontrolle der Fleischproduktion zwecks Herbeiführung »guter Fleischqualität« kaum trennen, weil sich die Fleischer im Hinblick auf beide Dimensionen der »Fleischereifrage« in den Augen des Veterinärs beständig dem obrigkeitlichen Zugriff zu entziehen trachteten. Dieser Zusammenhang von moralischen Vorstellungen von ökonomischem Handeln und Selbstverständnis des Veterinärbeamten wird weiter unten ausführlicher aufgenommen. Hier soll der Hinweis genügen, dass sich die Stadtverwaltung wenig später – nach Beratungen in einer nun von Bellamy geleiteten Kommission169 – dieser moralisierenden Sichtweise anschloss und erneut eine Fleischtaxe einführte.170 Damit galt auf dem Fleischmarkt in Rennes bis auf Weiteres ein Mischregime, das Elemente des »Regimes der freien Konkurrenz« mit Elementen des »Regimes der Reglementierung« (der Taxe) kombinierte.171

167 Siehe ebd. 168 Bellamy.- Bellamy kehrte die Reihenfolge der Wendung »gesundes und günstiges Fleisch« um zu »günstiges und gesundes Fleisch« – und machte damit seine Prämissen deutlich. 169 Siehe AMR 5F19: Bellamy, président de la Commission de la boucherie, rapport, 2.4.1855. 170 AMR 5F19: Maire de Rennes, arrêté, taxe de la viande, 1.8.1855: »[…] considérant que l’art. 30 de la loi précitée du 19–22.7.1791 autorise les administrations municipales à taxer la viande; considérant que notre susdit arrêté du 24.7.1854 n’a pas obtenu les résultats qu’on devait attendre de la libre concurrence […]«. 171 Zum Mittel der Taxierung griff die Stadtverwaltung erneut in den Fleischteuerungsjahren 1871 und 1893.

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2.2 Fleischqualität zwischen lokaler Inspektionspraxis und veterinärmedizinischen Wissensordnungen, 1890–1912 Im Hinblick auf die Figuration der veterinärmedizinischen Expertise und des Fleischinspektors Charles-Henri Chevaucherie zeichnen sich ab den 1880er und besonders in den 1890er Jahren deutlich zwei Felder ab. Erstens die Beratung der Stadtverwaltung und der Unterpräfektur zu allen Fragen des Fleischmarktes; zweitens die Praxis der Untersuchung von Schlachtvieh und Fleisch, die im Schlachthof, auf den überdachten Marktplätzen sowie auch in Boutiquen und Ställen vorgenommen wurde. Sie bildeten zusammen die beiden Hauptarbeitsgebiete der Fleischereigewer­ beaufsicht, die in Rennes federführend von zwei Ämtern bzw. Amtsinhabern ausgeübt wurde: Von dem Direktor des Schlachthofs, der dortselbst seine Dienstwohnung hatte, und vom Veterinärinspekteur, dem in Rennes bis 1899 nicht nur die Inspektion von Vieh und Fleisch im Schlachthof, auf dem Marktplatz von St. Anne, sowie den im Lauf der Zeit hinzukommenden anderen Fleischverkaufsstellen, sondern auch die Inspektion aller übrigen auf den Märkten angebotenen Lebensmittel oblag. Hinzu kamen in der Überwachung des Fleischverkehrs zwischen Stadt und Land der Octroi, dessen an den Stadteingängen postierte Büros, die Stadtzölle erhoben und gleichzeitig die in die Stadt einund ausgeführten Waren beobachteten. Obwohl keine ausgebildeten Fleischbeschauer, waren ihre Informationen von großer Bedeutung und oft Anstoß für fleischpolizeiliche Untersuchungen. Im Jahr 1890 geriet dieses lokaladministrative Gefüge der Fleischüberwa­ chung in erheblichen öffentlichen Misskredit.172 Der Fleischer Joyeux hatte eine bei der Inspektion im Schlachthof abgelehnte Kuh kurzerhand außerhalb geschlachtet, von dem dafür zuständigen Schlachthofangestellten mit dem Visitenstempel versehen lassen und das Fleisch dann an die örtliche Garnison geliefert, wo es sich nach der Verarbeitung als ungenießbar erwies.173 Joyeux wurde der Prozess gemacht, doch er wurde im Juni 1890 freigesprochen, weil es seiner Verteidigung gelang, dem Fleischinspektor Chevaucherie und dem Schlachthofdirektor Michaud erhebliche Versäumnisse nachzuweisen  – »schwerwiegende Missstände«,174 wie der Staatsanwalt formulierte. Einerseits versah Chevaucherie seinen Inspektionsdienst im Schlachthof nur noch sporadisch. Er verließ sich stattdessen auf den 76jährigen Michaud, der zwar über keinerlei einschlägige Ausbildung, aber »inzwischen über einige Erfahrung« verfügte, wie Chevaucherie zu seiner Verteidigung ausführte.175 Michaud sah sich andererseits außerstande, die vorgeschriebene Schlachthofstatistik über Zu- und Abgänge 172 Die Polizeiakte zum Vorgang: AMR I101: Affaire Joyeux – Extraits du procès-verbal d’enquête du commissiare central, o. D. [Mai/Juni 1890]. 173 AMR I101: Collard, chef du 41eme bataillon, 17.5.1890. 174 AMR I101: Procureur de la République, an: Maire de Rennes, 19.5.1890. 175 AMR I101: Chevaucherie, an: Maire de Rennes, 15.5.1890.

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vorzulegen.176 Auch die Stempelgewalt war ihm entglitten: Der Angestellte Signoret war mit den Stempeln offensichtlich ordnungswidrig auch außerhalb des Schlachthofs umgegangen.177 An der »Affaire Joyeux« sind für die Konfiguration der lokalen Expertise drei Aspekte von besonderer Bedeutung. Erstens kam es zu einem Kompetenzstreit zwischen Stadtverwaltung und Staatsanwaltschaft, als diese anordnete, dass Chevaucherie und Michaud in Zukunft einen Durchschlag sämtlicher Berichte auch an die Justiz zu senden hätten. Der Bürgermeister von Rennes, Le Bastard, sah darin einen Eingriff in seine Amtshoheit über kommunale Polizeiangestellte und bestand darauf, dass die Korrespondenz weiterhin nur über ihn lief. Dabei offenbarte er genau die marktpolizeiliche Haltung, die von der Justiz kritisiert wurde: »Es kommt öfter vor […], dass der Marktinspektor [Chevaucherie, d. Vf.] Fisch, Krustentiere, etc. beschlagnahmt, deren Qualität zu wünschen übriglässt, ohne dass es nötig ist, gegen die Händler vorzugehen, vor allem wegen der geringen Mengen, die dabei auf den Müll geworfen werden. Es handelt sich dabei um eine Frage des Er­ messens, der Gerechtigkeit. Darauf hob ich ab, als ich sagte, dass ich Ihnen Anzeigenprotokolle übermittle, falls notwendig. In manchen Fällen würde es wirklich einen Missbrauch darstellen, gegen Händler vorzugehen«.178

Zweitens kommentierte die lokale Presse die Vorgänge äußerst negativ179 und Le Bastard bemühte sich um Schadensbegrenzung. Zunächst versuchte er, den Presseinformanten bei der Polizei ausfindig zu machen und ließ dann ein Kommuniqué veröffentlichen, das »Konsequenzen« ankündigte.180 Schlachthof­ direk­tor Michaud wurde in den Ruhestand geschickt und durch Jacques Bollotte ersetzt (ebenfalls kein Veterinär). Chevaucherie allerdings blieb im Amt. Dessen Beteiligung an der Affäre zog indessen – drittens – in berufsständischen Medien weite Kreise. So berichtete die Wochenzeitung Semaine vétérinaire181 über den Fall und sah durch das Verhalten Chevaucheries das Ansehen der ganzen Profession beschädigt: »Auf die zweideutige Rolle, die in dieser Angelegenheit der Veterinär des Schlachthofs von Rennes gespielt hat, möchte ich gar nicht weiter eingehen, ich begnüge mich damit, sein Verhalten bitter zu beklagen. Während wir im Namen der Hygiene eine Kampagne führen, um der öffentlichen Hand die Notwendigkeit einer tierärztlichen Inspektion des Schlachtfleischs zu demonstrieren; während der Initiativausschuss 176 AMR I101: Michaud, an: Maire de Rennes, 16.5.1890. 177 AMR I101: Maire de Rennes, an: Pocureur de la République, 19.5.1890. 178 AMR I101: Maire de Rennes, an: PG, 6.5.1890 [Herv. d. Vf.]. 179 Siehe La santé des troupes, in: L’avenir de Rennes et d’Ille et Vilaine, 20.  Jg, n° 8573 v. 5.6.1890; A propos de l’abattoir, in: Le Petit Rennais. Organe du comité républicain national, 8. Jg, n° 2510 v. 9.6.1890. 180 AMR I101: Maire de Rennes, an: Rédacteur en chef, 9.6.1890. 181 La Semaine vétérinaire v. 27.7.1890, S. 466 f.; v. 31.8.1890, S. 545–548.

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[der Veterinäre Frankreichs, d. Vf.] sich um die Aufmerksamkeit unserer Regierung bemüht, sind die öffentlich geführten Klagen kaum zu ertragen, die einem von uns vorwerfen, seine administrativen Pflichten verletzt zu haben«.182

Ob die »Affaire Joyeux« berufsständische Konsequenzen für Chevaucherie hatte, muss hier dahingestellt bleiben. Chevaucherie musste in seiner Inspektionspraxis fortan jedenfalls mit der genaueren Beobachtung durch seine Vorgesetzten sowie durch die städtische Öffentlichkeit und die Kollegenschaft rechnen. Deshalb wurde die veterinärmedizinische Fleischexpertise in Rennes besonders in den 1890er Jahren nicht nur durch die administrative Ermächtigung, d. h. die Delegation von Polizeibefugnissen konfiguriert. Chevaucherie geriet unter besonderen Legitimationszwang, wenn er in der Praxis der Fleischinspektion und bei der Qualifizierung von Fleischproduktionsweisen mit Gegenpositionen konfrontiert wurde, die sich auf veterinärwissenschaftliche Autoritäten beriefen und damit die fachliche Kompetenz des Fleischinspektors in Zweifel zogen. Für die Fleischer war die Beschlagnahmung von Tieren und von Fleisch ein materieller Verlust. In dieser Situation standen ihnen zwei rechtliche Optionen zur Verfügung: Entweder nahmen sie denjenigen in zivilrechtlichen Regress, der ihnen das Vieh verkauft hatte, wozu ihnen eine Frist von neun Tagen zustand. In der Praxis erwies sich das häufig als aussichtslos, weil die meisten Geschäfte per Handschlag getätigt wurden und der Verkäufer das beschlagnahmte Tier als ehemals seines anerkennen musste.183 Oder sie verlangten innerhalb von 24 Stunden ein veterinärmedizinisches Gegengutachten. Falls dieses zu einem widersprechenden Ergebnis kam, wurde von Amtswegen eine dritte Begutachtung (tiers-expertise)  angeordnet. Falls diese die Beschlagnahmung des Tieres oder des Fleisches bestätigte, ging der Fleischer leer aus, andernfalls wurde das Fleisch zum Verzehr freigegeben184 Dieses verwaltungsrechtliche Verfahren legte die Entscheidungsfindung in strittigen Fällen komplett in die Hände der Veterinäre. Die Autorität der veterinärmedizinischen Expertise in punkto Normierung der Fleischqualität wurde damit zwar grundsätzlich und insgesamt unterstrichen, doch die des städtischen Inspektors gleichzeitig der Kritik durch Fachkollegen ausgesetzt. Dabei gingen wenige Streitfälle zuungunsten Chevaucheries aus, so dass die Vermutung naheliegt, dass sich die an einer Hand abzuzählenden, in Rennes praktizierenden Tierärzte untereinander verständigten. Diesbezüglich geben die Akten keinen Aufschluss. Doch eine Petition der auswärtigen Fleischer (bouchers forains) aus dem Jahr 1894 schlug dem Bürgermeister vor,

182 La Semaine vétérinaire v. 31.8.1890, S. 546. 183 Siehe AMR I101: o.A., [Fleischereipetition], o. D. [1862]. 184 Zu den taktischen Möglichkeiten dieser beiden Rechtswege, siehe Stanziani, Histoire, S. 206–209.

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»um die Schwierigkeiten zu vermeiden, die dem Fleischer aus der Inspektion entstehen können, sollte eine Oberinspektionskommission eingerichtet werden, vor der diese Schwierigkeiten unter Bedingungen und mit allen Garantien verhandelt werden, die von Ihnen festgelegt werden […]«.185

Diese Aushebelung nicht unbedingt der veterinärmedizinischen Entscheidung darüber, was schädlich bzw. unschädlich für die Volksgesundheit sei, sondern der Machtposition des städtischen Veterinärs im Wege eines demokratischen Beratungsverfahrens kam für den Bürgermeister nicht in Frage. Er schloss sich darin der Stellungnahme Chevaucheries zu dieser Petition an, der ihm schrieb: »Abschließend noch zu der aufgeblasenen Angelegenheit: Bildung einer Oberinspektionskommission. Ich finde, dass die Herren Fleischer für ihre Verteidigung ausreichend gewappnet sind […] Ich finde den Vorschlag absurd, weil ich meine Autorität verlöre und meine Rolle vollkommen lächerlich würde. Ich zweifle nicht an dem Vertrauen, dass Sie mir stets erwiesen haben und denke, dass ich es auch weiterhin verdiene. Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie mir nicht auferlegen werden, mich einer Kommission zu unterwerfen, die meine Ansicht in den meisten Fällen (und mit gutem Grund) nicht teilen wird.«186

Bereits während der »Affaire Joyeux« hatte Chevaucherie seinen lückenhaften Dienst damit gerechtfertigt, dass er als einziger Inspektor nicht nur im Schlachthof, sondern auch auf den Märkten zugegen sein sollte, wo drei Mal in der Woche etwa 200 auswärtige Fleischer ihre Fleischprodukte anboten. Um seine Inspektionstätigkeit dennoch durchführen zu können, verlangte er von den im Schlachthof arbeitenden städtischen Fleischer, dass sie mit der Zerlegung getöteter Tiere erst nach der Beschau begannen.187 Aus den gleichen Gründen forderte er die Anhaftung des Lungengewebes an einem vorderen Viertel eines zerlegten Tieres, das von auswärtigen Fleischern in die Stadt gebracht wurde.188 Allerdings führte er zur Begründung dieser Anordnungen keine dienstspezifischen, sondern veterinärmedizinische Argumente an. Bestimmte Krankheiten wären nur genau an den Stellen erkennbar, die bei Beginn der Zerlegung eines Rinds als erste beschädigt würden;189 und da Tuberkel ausgehend von der Lunge in den Tierkörper wanderten, könne man bei der Untersuchung des Hinterteils nicht genau sagen, ob das Tier genießbar sei oder nicht.190 In beiden Fällen wehrten sich auswärtige und städtische Fleischer jeweils mit entsprechenden Petitionen. Während erstere auf die in ihren Augen unnötige Verzögerung hinwiesen, die sich aus dem Zerlegungsverbot für die Weiterver185 AMR 5F18: A. Chatel, avocat, professeur à la faculté de droit, pour le syndicat des bouchers forains, an: Maire de Rennes, 12.7.1894. 186 AMR 5F18: Chevaucherie, an: Maire de Rennes, 15.7.1894. 187 AMR 5F20: Chevaucherie, an: Maire de Rennes, 14.5.1894. 188 AMR 5F18: Chevaucherie, an: Maire de Rennes, o. D. [Mitte Juli 1894]. 189 AMR 5F20: Chevaucherie, an: Maire de Rennes, 14.5.1894. 190 AMR 5F18: Chevaucherie, an: Maire de Rennes, o. D. [Mitte Juli 1894.

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arbeitung einer schnell verderblichen Ware ergab,191 begründeten die auswärtigen Fleischer ihre Position damit, dass sie die Vorderteile der Tiere, an denen die Lunge anhaftete, auf ihrem Heimatmarkt verkauften und nur die weniger geschätzten Hinterteile auf den Markt in Rennes brachten.192 Beide Verbände untermauerten ihre Argumentation, indem sie sich auf überregional gültiges Expertenwissen beriefen. Der Verband der in der Stadt ansässigen Fleischer holte in diesem zwischen 1894 und 1896 anhaltenden Konflikt nicht nur Stellungnahmen der Fleischereiverbände aus Le Havre, Nantes, Bordeaux und Lyon ein,193 sondern wartete auch mit einer Stellungnahme des Doyens der veterinärmedizinischen Fleischbeschau in Frankreich, Louis Villain, auf.194 Villain war zugleich oberster Beamter des Pariser Fleischinspektionsdienstes und Verfasser des einschlägigen Handbuchs »Manuel de l’inspecteur des viandes«195 (1886/1890) und galt nicht mehr nur in Fachkreisen als unumgängliche veterinärmedizinische Autorität.196 Der Verband der Landfleischer bemühte dagegen drei Kollegen Chevaucheries aus Rennes.197 Weder im einen noch im anderen Fall zeigte sich Chevaucherie jedoch kompromissbereit. Während er den Beistand der Fleischereisyndikate aus anderen französischen Großstädten mit den Worten »alle gleich, diese Fleischer«198 vom Tisch wischte, legitimierte er seine Anordnungen gegenüber dem Bürgermeister mit Blick auf die Stellungnahme Villains: »Ich sage Ihnen, dass Paris, wo es im Schlachthof angestellte Inspektoren gibt, mit unserer Stadt nicht zu vergleichen ist, wo die einzige Inspektion abends eine halbe Stunde vor Schließung des Schlachthofs stattfindet. In La Villette ist es den Fleischern schlicht unmöglich, am Tierkörper Schäden zu entfernen ohne gesehen zu werden, Schäden, die in manchen Fällen die Beschlagnahmung ihres Tieres zur Folge haben könnten, während das hier, wo die Überwachung nicht so stark ist, leicht passieren kann. Während man in Paris nur hin und wieder Stücke zerschneiden muss, um eine mehr oder weniger große Zahl an Pathologien aufdecken zu können, mache ich das hier häufig. Herr Villain scheint zu unterstellen, dass ich die Innereien nicht beschaue: Leber, Milz, Lunge, Herz. Er täuscht sich, denn diese Eingeweide werden 191 AMR 5F20: bouchers de la ville de Rennes, an: Maire de Rennes, 5.9.1894. 192 AMR 5F18: A. Chatel, avocat, professeur à la faculté de droit, pour le syndicat des bouchers forains, an: Maire de Rennes, 12.7.1894. 193 AMR I101: Chambre syndicale de la Boucherie de Nantes, 7.2.1896; Syndicat de la Boucherie loynnaise, 8.2.1896; Chambre syndicale de la boucherie du Havre 8.2.1896; Chambre syndicale l’Union de la boucherie et de la charcuterie de Bordeaux, 9.2.1896. 194 AMR  I101: Villain, différend entre les bouchers de Rennes et le vétérinaire inspecteur, 31.10.1894. 195 Siehe Villain. Ebenfalls einflussreich: Baillet. 196 Siehe Hubscher, Les maîtres, S. 196; Stanziani, La construction institutionnelle. 197 AMR 5F18: »Nous soussignés Escot, Nicolas & Ripert, Vétérinaires à Rennes (Ille et Vilaine), certifions qu’il est possible, à l’aide des piliers du diaphragme, de laisser adhérents d’une manière très intime à l’un des quartiers postérieurs d’un animal destiné à la boucherie le poumon, le cœur, le foie et la rate. Rennes 10.7.1894«. 198 AMR I101: Chevaucherie an Maire de Rennes, 22.2.1896.

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gegenüber jedem Tier an einem Haken aufgehängt, ohne dass die Ordnung durcheinanderkommen kann. Die große Zahl beschlagnahmter Eingeweide, die ich ihnen in meinem monatlichen Bulletin mitteile, ist dafür die Garantie«.199

2.3 Fleischereiaufsicht im Dienst von Volksgesundheit und Volksernährung Die Möglichkeit der Ansteckung mit Tuberkulose durch den Verzehr von Fleisch und die Definition der Übertragungswege hatte in den 1890er Jahren einschneidende Folgen für die Art der Fleischbeschau und damit mittelbar auch für den Fleischmarkt.200 So stellte Chevaucherie im Jahr 1891 fest: »Wie ich Ihnen in all meinen Jahresberichten mitgeteilt habe, ist die Tuberkulose eine ansteckende, durch den Verzehr von Milch und Fleisch auf den Menschen übertragbare Krankheit, die bei einer sehr großen Zahl unserer Rinder auftritt«.201

Die dargestellten Auseinandersetzungen um die Inspektionspraxis Chevaucheries in der ersten Hälfte der 1890er Jahre beruhten nicht zuletzt auf der Umstellung der Fleischbeschaupraxis sowie aller Beteiligten auf neuartige, veterinärmedizinisch definierte Risiken für die Volksgesundheit. Der Einsatz Chevaucheries und der veterinärmedizinischen Expertise für die »öffentliche Gesundheit« bzw. das Wohl eines unwissenden Konsumentenpublikums202 sowie seine kompromisslose Haltung gegenüber den Fleischern hatten im weiteren Verlauf der 1890er Jahre und zu Beginn des 20. Jahrhunderts strukturierende Effekte auf den Fleischmarkt und sein Publikum in Rennes. Die maßgeblich auf Chevaucheries Beratung zurückgehenden Inspektionsreglements von 1893/94203 trugen zunächst zur Intensivierung der Auseinandersetzung zwischen Stadtverwaltung und Fleischereiverbänden bei. Denn nun galt es nicht mehr zu entscheiden, welche Teile eines als von Tuberkulose befallen erkannten Tierkörpers zum Verzehr freigegeben werden konnten, sondern nur noch darum, ob Tuberkel gefunden wurden oder nicht. Die Zahl der Beschlagnahmungen stieg folglich an. Dabei betrachtete Chevaucherie die anatomischen Kenntnisse, welche die Fleischer von den tagtäglich bearbeiteten Tierkörpern besaßen, als »subversives Wissen« – vor allem dazu da, ihn und damit die Konsumenten zu betrügen.204 199 AMR 5F20: Chevaucherie, an: Maire de Rennes, 22.11.1894. 200 Siehe Stanziani, Histoire, S. 223–255. 201 AMR 5F18: Chevaucherie, an: Maire de Rennes, 16.11.1891. 202 Damit lag er auf einer Linie mit politischen Strategien der veterinärmedizinischen Fachverbände in Frankreich, siehe Hubscher, Les maîtres, S. 196–200. 203 AMR  I100: Abattoir/inspection des viandes de boucherie/arrêté, 10.1.1893 [Plakat]; AMR 5F18: boucherie-abattoir, arrêté, 22.6.1894 [Plakat]. 204 Stanziani weist darauf hin, dass die in verschiedenen Kontexten benutzten Begriffe für Betrug mit der Beschleunigung des ökonomischen und technischen Wandels konvergieren: »falsification«, siehe ders, Expertise, S. 154.

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Vor diesem Hintergrund geriet vor allem das aus der Umgebung eingeführte Fleisch (sogenanntes »auswärtiges Fleisch«) unter Generalverdacht, weil es nicht im überwachten Raum des Schlachthofs von Rennes produziert wurde. Die Inspektion des auswärtigen Fleisches war besonders genau und dieser besondere Konflikt trug zur Gründung eines eigenständigen Verbands der auswärtigen Fleischer bei. Auf der anderen Seite überstand aber die 1855 institutionalisierte und vor allem versorgungs- und konsumpolitisch begründete Regelung, dass städtische Fleischer sich auf den Marktplätzen (d. h. bei den auswärtigen Fleischern) nur en détail versorgen durften, alle Revisionen, auch die des Jahres 1902. Dieser Konfliktzusammenhang wiederum führte nicht nur zur Gründung des Verbands der städtischen Fleischer, sondern auch dazu, dass dieser in Jahren 1903–1905 einen Prozess gegen die Stadtverwaltung anstrengte (und letztinstanzlich im Conseil d’État verlor), um den Fleischkauf en gros auf diesen Märkten in Rennes durchzusetzen. Dass es zumindest einem Teil der Verbraucherschaft, deren Gesundheitsinteressen Chevaucherie und sein Nachfolger Romary zu vertreten beanspruchten, nach 1900 erneut mehr um die Fleischpreise als um die Fleischqualität ging, belegt eine Petition aus dem Januar 1909. Sie ist ein Zeugnis für die nach wie vor erhebliche Politisierung der Lebensmittelmärkte und vor allem deshalb interessant, weil es sich bei ihren Verfassern um ehemalige Fleischereiarbeiter handelte – sie sprachen zugleich als Experten, als Konsumenten und als Bürger: »Herr Bürgermeister, wie bewundern Ihre harte Haltung gegenüber den Bäckern. Wir betrachten Sie als Vater der Arbeiter. Man sieht, dass Sie die Wünsche des Arbeiters erraten und wir denken, dass sie auch gegenüber der Schlachterei das Notwendige zu tun wissen werden. Schlachterei und Bäckerei sind die beiden Hauptpunkte. Seien Sie überzeugt, Herr Bürgermeister, dass die Genossen nicht vergessen werden, was Sie für uns tun.«205

Die Untersuchung der Markt- und Gewerbeaufsicht in den beiden bretonischen Großstädten Brest und Rennes zeigt: Die Hinzuziehung und Übernahme von Experten in den Kommunaldienst hatte massive Auswirkungen nicht nur auf die lokale Vermarktung von Nahrungsmitteln und hier insbesondere von Fleisch, sondern auch auf deren Rahmenbedingungen. Anknüpfend an die Perspektiven des Betrugspräventionsgesetzes von 1851, das in den letzten Monaten der Zweiten Republik erlassen wurde und eine legislative Konsequenz aus der Subsistenzkrise am Ende der Julimonarchie gezogen hatte, nahmen die Kommunalverwaltungen nicht mehr nur hauptsächlich Notiz von der Menge an auf den Markt gebrachten Lebensmitteln, sondern diese buchstäblich auch immer genauer unter die Lupe. Dabei sind charakteristische Ungleichzeitigkeiten festzustellen. In Brest setzte dieser Prozess erst am Ende des Zweiten Kaiserreichs mit der Einstellung eines Lebensmittelinspektors ein; in Rennes übernahmen bereits in den 1850er Jahren die beiden Veterinäre des Departements kontrollierende Funktionen auf 205 AMR 5F20: les camarades anciens bouchers de Rennes et environs, 23.1.1909.

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dem Fleischmarkt, die sich schließlich auf alle Lebensmittel erstreckten. Diese Ungleichzeitigkeit ist zum Teil darin begründet, dass das Gesetz von 1851 kein Polizeigesetz im eigentlichen Sinn war, sondern lediglich einige Strafrechtstatbestände bündelte und systematisierte. Eine allpräventive Lebensmittelkontrolle implizierte dieses Gesetz mitnichten, im Gegenteil: Es verbesserte die Erfolgsaussichten von bereits Geschädigten vor Gericht – von betrogenen Verbrauchern ebenso wie von Gewerbe- und Handeltreibenden. Dass der Konsumentenschutz nicht an erster Stelle stand, zeigen die Vorbehalte, die der Einrichtung des Lebensmittelinspektionsamtes in Brest entgegengebracht wurden. Die Sorge, der Inspektor würde die Handelsfreiheit einschränken, verhinderte die Einrichtung des Inspektorenamts im Jahr 1854 und selbst die Aufgabenbeschreibung aus dem Jahr 1869 artikulierte noch den Vorbehalt, dass der Inspektor in seinem Dienst zu weit ging. Dass sich die Perspektive des allpräventiven Konsumentenschutzes – auch unter Berufung auf das Gesetz von 1851 – in die Markt- und Gewerbeaufsicht dennoch spätestens in den 1880er Jahren durchsetzen konnte, hängt mit dem steigenden Stellenwert der Hygiene und des naturwissenschaftlichen Wissens zusammen, das die bürgerlichen Experten als Grundlage ihrer Arbeit in den Kommunaldienst hineintrugen. Auffällig ist jedoch die unterschiedliche Behandlung von Brot und Fleisch. Anders als Fleisch spielten mit Brot verbundene Gesundheitsgefahren bei der Etablierung der hygienischen Kontrolldispositive in der Gewerbe- und Marktaufsicht eine weitaus geringere Rolle.206 Dafür mag es zwei unterschiedliche Gründe geben. Auf der einen Seite wurde Fleisch zwar bereits in den 1850er Jahren, am Beginn der Industrialisierungsprozesse in der französischen Gesellschaft als Nahrungsmittel für die Arbeiterbevölkerung beworben, de facto aber immer noch eher vom Bürgertum konsumiert. In Rennes etwa nahm die Hygienisierung der Marktaufsicht vom Fleisch ihren Ausgang und dehnte sich dann aus. Die Veterinäre übernahmen in Rennes auch die Lebensmittelinspektion. Anders in der von Soldaten und Arsenalarbeitern geprägten Stadt Brest. Hier stand von Anfang an die Inspektion aller Lebensmittel im Fokus. Auf der anderen Seite konnte sich deshalb zwar auch die Institutionalisierung von Wettbewerb auf dem Fleischmarkt eher durchsetzen als auf dem Brotmarkt, der auch nach der Gewerbereform 1863 unter dem Taxierungsvorbehalt der Kommunalverwaltungen stand. Die in Rennes bereits in den 1850er Jahren und in Brest in den 1870er Jahren geführten Diskussionen zeigen dabei, dass und wie ›Konkurrenz‹ auf dem Fleischmarkt von der Verwaltung ›gemacht‹ wurde, um die Versorgung zu sichern. Die Veterinäre verknüpften nicht nur in den Beratungen über das Fleischmarktregime hygienische Argumente mit moralischen Urteilen über die Fleischer, sondern auch in ihrer Praxis. Mittelfristig führte diese Form der moralischen Ökonomie der Expertise zu einer Verschiebung der Konfliktlagen auf dem Nahrungsmittelmarkt. 206 Die Hygiene der Brotproduktion war zwar im ganzen 19. Jahrhundert präsent, spielte aber erst in den 1880er Jahren für die Gewerbeaufsicht wirklich eine Rolle, siehe Jarrige, S. 657 ff.

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VII. Vie chère: Lebensmittelteuerung, Protestgewalt und wohlfahrtsstaatliches Regieren am Vorabend des Ersten Weltkriegs, 1905–1913

Um die Wende zum 20. Jahrhundert änderten sich in Frankreich die Rahmenbedingungen für die Politisierung ökonomischer Zusammenhänge und insbesondere der seit den 1890er Jahren steigenden Lebensmittelpreise in mehrfacher Hinsicht.1 Erstens belegte die Regierung Méline die Einfuhr von Lebensmitteln bzw. Rohstoffen wie Getreide und Vieh mit hohen Zolltarifen, die in manchen Fällen und unter bestimmten Bedingungen des internationalen Marktes einer Abschottung der inländischen Produktion gleichkamen.2 Bereits seit 1883 waren die sanitätspolizeilichen Bestimmungen für die Zollkontrollen von eingeführtem Lebendvieh und Frischfleisch im Zuge des Bedeutungsgewinns veterinärund humanmedizinischen Wissens ständig verschärft worden.3 Schon in den Jahren 1896/97 hatte das lange Zögern der Regierung, angesichts der hohen Weizenpreise die Getreidezölle zu senken, zu einer ersten landesweiten Kontroverse geführt und Méline das noch mehr als ein Jahrzehnt später erinnerte Epithet »Méline pain cher« eingebracht.4 Vor diesem Hintergrund hatten sich auch die Bemühungen erneut verstärkt, die munizipalen Taxierungsrechte endgültig aufzuheben. Sie waren 1898 in Gesetzesvorschläge gemündet, zumindest die verwaltungsrechtlichen Vorschriften landesweit zu vereinheitlichen und den betroffenen Bäckern die Möglichkeit eines ordentlichen Berufungsverfahrens zu eröffnen.5 1 Der Anstieg der Lebenshaltungskosten in den Jahrzehnten um 1900 betraf nicht nur Frankreich, sondern weitere europäische Länder, vgl. Trentmann, Coping; ders. u. Morgan; Nonn, Verbraucherprotest; ders., Fleischteuerungsprotest; Geyer; Lindenberger.– Für dieses Kapitel ist durch eine Tag-für-Tag-Durchsicht der folgenden Pariser Tageszeitungen zwischen Mitte August und Mitte Oktober 1911 vorgenommen worden: Le Temps, La Presse, Le journal des débats politiques et littéraire, L’Aurore, L’Intransigeant, L’Action Française, L’Humanité, Le Petit Journal, Le Matin, Le Gaulois und La Croix, sowie der beiden Regionalzeitungen La dépêche de Brest und L’Ouest-Éclair. Außerdem habe ich zusätzlich die Presseausschnitte zum Thema der vie chère-Proteste hinzugezogen, welche die Handelsdirektion im Handelsministerium erstellt hat (AN CHAN F 10 7024, 7025, 7026). Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine erheblich überarbeitete und erweiterte Fassung von Streng, Vie chère. 2 Zur Zollpolitik siehe Barral, P.; Aldenhoff-Hübinger; Goroll; Hornbogen. 3 Das Regime der veterinärmedizinischen Zollkontrollen, ihrer Praktiken und ihres Einflusses auf die Definition der Binnenmarktgrenzen ist kaum untersucht worden, vgl. etwa Bourdieu, Crise. Vgl. auch AN CHAN F 10 5452: [Controle sanitaire des importations 1878–1954; Brest, 1895–1954]. 4 Etwa »Méline Teuerbrot«, siehe Roldes, Le Prix de la vie. 5 Siehe hierzu Join-Lambert. Vgl. auch Delarue; Séran; Burdeau; Boutroux.

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Zweitens war die Phase unmittelbar um 1900 durch erbitterte Auseinander­ set­zungen zwischen nationalistisch-konservativen und republikanischen Kräften in der französischen Gesellschaft geprägt, etwa die Dreyfus-Affäre6 und die 1905 einsetzende Laisierungspolitik des sozialrepublikanisch-sozialistischen »Blocks«.7 Mit der »sozialrepublikanischen Wende« (P. Rosanvallon) in den Jahren um 1900 setzte zugleich eine stärkere Hinwendung zur Sozialpolitik ein, die zur Konzeption und Diskussion einer Reihe von Sozialgesetzen führte, etwa der Unfallversicherung oder der Arbeiter- und Bauernrente.8 Im selben Zeitraum entstanden Ansätze zur Schlichtung und Regulierung der Arbeitsbeziehungen, gründete sich 1895 der Gewerkschaftsverband Confédération Générale du Travail (CGT), der die regionalen Bourses du Travail und die Berufsfachverbände unter einem organisatorischen Dach vereinte und die Arbeiter in ihren Auseinandersetzungen mit den Unternehmern unterstützen sollte.9 In den großen Streikbewegungen nach 1900 wie in den Eisenbahnerstreiks in Nordfrankreich 1910 oder den Streiks der Gastronomieangestellten im Sommer 1911 spielten neben Löhnen zunehmend auch die Arbeitsbedingungen eine Rolle, etwa die Regulierung der Arbeitszeiten und Ruhetage.10 So setzte sich etwa die Bäckerei­ gewerkschaft für ein Verbot der Nachtarbeit ein und bestritt mit diesem Thema Arbeitskämpfe, so etwa der Ortsverband der Bäckergesellen von Brest, der im Jahr 1904 unmittelbar nach dem Sieg der Sozialisten bei den Kommunalwahlen einen Streik organisierte. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Ausschreitungen, die den neu gewählten Bürgermeister zur Distanzierung zwangen.11 Für die Problematik der Lebensmittelmärkte ist schließlich drittens das 1905 verabschiedete Gesetz über die Lebensmittelreinheit von zentraler Bedeutung. An den vorbereitenden Diskussionen hatten Fachverbände der Industrie, des Handels und der Produzenten ebenso teilgenommen wie verschiedene Expertengruppen.12 Das Gesetz führte eine Reihe von bereits existierenden Sonderbestimmungen zusammen und etablierte im Landwirtschaftsministerium eine eigenständige Abteilung, die Polizeiaufgaben bezüglich der Produktqualitätsprüfung übernahm. In diesem Rahmen wurden die regional und dezentral entstandenen städtischen Chemielabore in einem Antragsverfahren als staatliche Prüfinstitute anerkannt und ein Netz aus Prüfinstanzen gewoben, das durch die Zirkulierung der entsprechenden Normeigenschaften bestimmter Produkte sowie standardisierter Prüfverfahren die marktgängigen Produkte in ihren Eigenschaften zugleich vereinheitlichen und markenrechtlich schützen sollte. Soweit war das Gesetz zunächst eine Form republikanischer Marktregulierung, die auf 6 Vgl. jetzt Fuller. 7 Siehe Bouvers. 8 Rosanvallon, Modèle. 9 Siehe Dreyfus. 10 Siehe Bouillié; Perrot. 11 Siehe AMB  2I5: Sécurité publique/Troubles et violences dans les grèves/Dégâts, victimes (1904–1906). 12 Siehe hierzu weiterhin grundlegend die Arbeit von Stanziani, Histoire, S. 287–314.

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der Initiative der mächtigsten Verbände und ihrer Kollaboration beruhte.13 Doch zugleich veränderte die erhebliche Verdichtung und Nationalisierung der Lebensmittelmarktordnung die Bedingungen für die Politisierung von Fragen der Lebensmittelversorgung und der Ernährung bzw. der Produkt- und der Preispolitik.14 Die Mehrdeutigkeit des neuen sowohl legislatorischen als auch »dingpolizeilichen«15 Zugriffs auf Nahrungsmittel und ihre Eigenschaften brachte 1911 der Abgeordnete Jules Siegfried (Gauche démocratique)  in einer Parlamentsrede mit der folgenden Bemerkung über die Einfuhrbestimmungen für Frischfleisch auf den Punkt: »Vor der Abgrenzung [délimitation] der Champagne hatten wir die Abgrenzung [délimitation] der Lendenstücke«.16 Vor diesem Hintergrund entfaltete sich im Herbst 1911 eine Protestbewegung, die bis zum Ersten Weltkrieg erhebliche – wenn nicht unmittelbare, so doch mittelbare – Wirkung auf die Organisation zentraler nationaler Lebensmittelmärkte und Versorgungspolitiken haben sollte. Im Folgenden wird deshalb zunächst die diskursive Konstruktion des Protests und insbesondere der Protestgewalt in der französischen Tagespresse herausgearbeitet (1), anschließend die landesweite Diskussion über Ursachen der Teuerung und geeignete Gegenmaßnahmen dargestellt (2) und schließlich untersucht, wie die politischen Institutionen auf lokaler, regionaler und zentraler Ebene auf die Krise reagierten (3).

1. Die vie chère-Protestbewegung 1911: Medienberichterstattung und Protestgewalt Die Bewertungen und Einschätzungen des gewalthaften Aspekts des vie chèreProtestes gingen je nach Autor oder beobachteten Akteuren auseinander. Deshalb ist es notwendig, die Konzepte von Protest und Gewalt in die Analyse mit einzubeziehen, mit deren Hilfe die Bewegung beobachtet und beschrie13 Von einem »republikanischen« Marktkontrollmodus sprechen Jacquet u. Laferté. 14 Die neue Gesetzgebung zeitigte unmittelbar mobilisierende Wirkung. So war die Festlegung der Grenzen bestimmter Anbaugebiete, der daran gekoppelten, geschützten Herkunftsbezeichnungen und Preisgestaltungsmöglichkeiten einer der zentralen Konflikteinsätze in der Massenbewegung des »Midi rouge« 1907 und den Aufständen der Champagner-Bauern 1910 – ein bisher oft unterschätztes Merkmal dieser ausgreifenden Protestbewegungen. »Que demandent les manifestants? Ni réformes ni révolutuions. […] À vrai dire la confusion des classes interdit toute revendication réelle hormis un appel assez dérisoire à la lutte contre la fraude«, notierte etwa Madeleine Rebérioux in dies., S. 97; siehe auch Guy. 15 Als solche »police des choses« haben Canu und Cochoy das neue ordnungspolizeiliche Dispositiv bezeichnet, das im Anschluss an die Verabschiedung des Reinheitsgesetzes 1905 installiert wurde, siehe Canu u. Cochoy, S. 73. 16 AN CHAN F 12 7024: Jules Siegfried (chambre des députés, N° 1309 – Proposition de loi ­ayant pour but de remédier à la cherté des denrées alimentaires et principalement de la­ viande (renvoyée à la commission des douanes), 9.11.1911, Paris 1911, S. 8.

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ben wurde.17 Stellt man in Rechnung, dass Gewalt ein »fundamental umstrittenes Konzept«18 ist, dann ist die Untersuchung dieses Diskurses für die Klärung der Frage nach der Legitimität der Protestbewegung notwendig. Besonders der Diskurs der überregionalen Presse versorgte das französische Publikum – und die Protestierenden als ein Teil dieses Publikums – mit einer Reihe an Begriffen und Deutungsmustern, die einen normativen Akzeptabilitätsrahmen für legitimes bzw. illegitimes Protestverhalten konstituierten.19 Daher wird im Folgenden zunächst der Diskurs der Tagespresse und weiterer Zeitschriften analysiert, wenn sie auf die vie chère-Problematik Bezug nahmen. Vor diesem Hintergrund ist es dann möglich, die Art und Weise zu untersuchen, in der die Protestierenden sich selbst identifizierten und ihre Aktivitäten rechtfertigten, d. h. danach zu fragen, ob und wie sie sich zu diesem spezifischen Akzeptanzrahmen verhielten. Und schließlich wird danach gefragt, wie die Protestinteraktionen durch gegenseitige Zuweisungen von Gewalt und Verletzung, Täterschaft und Opferschaft die Dynamik der kollektiven Gewalt in Gang hielten.20 Die Analyse der Berichtspraxis und der Erzählweisen der Journalisten unterstreicht diesen grundlegenden epistemologischen Aspekt. Häufig benutzten sie zur Beschreibung des Protests Formeln wie »Theater«21 oder »Szenen der Gewalt«.22 Diese Metaphern waren alles andere als neutral, denn sie artikulierten eine fundamentale Distanz zwischen den beobachtenden Journalisten und den beobachteten Protestakteuren – eine Metapher, mit der diese Distanz als Beziehung zwischen einem disziplinierten, bürgerlichen Theaterbesucher und einem Schauspielensemble auf der Bühne gleichgesetzt wurde.23 Die Journalisten berichteten folglich über ein Spektakel, an dem sie nach ihrem Dafürhalten selbst keinerlei Anteil hatten. Des Weiteren implizierte diese Metapher ein gewisses 17 Die Vervielfachung der analytischen Gewaltkonzepte in den letzten vier Jahrzehnten hat nach meinem Dafürhalten die Fruchtlosigkeit jeglicher Versuche erwiesen, die Bedeutung des Gewaltbegriffs zu fixieren. Ein viel versprechender Ausweg aus diesem Dilemma ist die Einbeziehung des historischen Gewaltvokabulars in die Analyse, vgl. Haupt, Violence; Imbusch; Liell. 18 De Haan; für eine Diskussion des Konzepts des »essentially contested concept«, siehe Collier. 19 Für eine ganz ähnliche Analyse der diskursiven Rahmung des Protests, siehe Cossart. 20 Vgl. Baecker; Bonacker. 21 La vie chère. Le prix du beurre, des œufs, des légumes va sans cesse augmentant. C’est une des conséquences de la chaleur, in: Le Matin (10046) v. 30.8.1911, S. 1; Les manifestations continuent contre la cherté des vivres, in: La Presse (696) v. 1.9.1911, S. 1; Le renchérissement de la vie et les protestations des intéressés, in: Les Débats v. 4.11.1911. 22 Contre la vie chère. – Scènes de violences. – Un boulanger fait feu sur les manifestants. – Un jeune homme est grièvement blessé. – La foule met la boulangerie à sac, in: La D ­ épêche de Brest (9492) v. 30.8.1911; Cyr, La »déliquescence«, S. 1; Les manifestations de ménagères. Une émeute au marché de Saint-Quentin. Partout des violences et des désordres, in: La Presse (6964) v. 31.8.1911, S. 1; Les Troubles, in: Journal des débats politiques et littéraires (243) v. 3.9.1911, S. 1. 23 Zum recht ähnlichen Gebrauch der Theatermetapher in der deutschen Geschichte, siehe Blackbourn.

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kulturelles Wissen über die Zukunft und den weiteren Verlauf der Ereignisse. Wie jedes Bühnenstück waren die Unruhen auf den Straßen und Marktplätzen ihrer Natur nach vorübergehende Ereignisse; sie folgten vermutlich einem bestimmten Skript, entwickelten sich auf dramatische, tragische oder komische Weise und hatten zur Erleichterung der Beobachter ein vorhersehbares, unausweichliches Finale, dem eine moralische Botschaft innewohnte. Freilich war diese Form der Distanzierung von (bzw. der Selbstausschließung aus) den Protestereignissen gerade die Art und Weise, auf welche die Journalisten indirekt in die Bewegung und die Kontroverse involviert waren. Sie spielten eine ›Rolle‹, die in der soziologischen und historischen Gewaltforschung als »bystander« bezeichnet wird:24 nicht direkt an der gewalthaften Interaktion beteiligt, trugen gerade die Reporter als Beobachter der Protestereignisse mit ihren Berichten zur Dynamik des Geschehens bei, indem sie sie in ein diskursives Ereignis übersetzten und auf diese Weise die Einbindung oder Abkopplung weiterer Akteure ermöglichten. Die eingehende Untersuchung formaler Aspekte der Presseberichterstattung über die Unruhen ergibt Anzeichen für unterschiedliche Phasen der Formierung des Protestthemas. Die Aufmerksamkeit, die es im Verlauf der Zeit erhielt, stieg zunächst sprunghaft an und ging dann nur langsam zurück. Die durchgesehenen Tageszeitungen begannen Ende August 1911 mit der Berichterstattung über Demonstrationen von »Hausfrauen« gegen vie chère und hohe Lebensmittelpreise. In dieser Phase hatten die Berichte die Form kurzer faits divers-Meldungen, die im Mittelteil der Zeitungen platziert und in verschiedenen Rubriken wie etwa »letzte Meldungen« (dernière heure) oder »Soziale Bewegung« (mouvement social) eingefügt waren. Zu Beginn zeichnete die Proteste scheinbar noch nichts aus, das über das normale Maß an Sozialprotest im Alltag der französischen Gesellschaft hinausging.25 In den ersten Septembertagen nahm die Zahl dieser faits divers-Meldungen jedoch signifikant zu. Sie fanden sich häufiger auf den Titelseiten, wurden zu eigenen Rubriken mit Titeln wie »Gegen die Teuerung« oder »Konsumentendemonstrationen« zusammengefasst und durch fette Schrifttypen oder sogar Fotografien hervorgehoben. Ab diesem Zeitpunkt setzte auch die Kommentierung der Ereignisse ein. Die Zeitungen veröffentlichten Kommentare und Stellungnahmen der Redaktion oder anderer Autoren, die auf die Meldungen über die Demonstrationen und Protestereignisse Bezug nahmen, sie aber gleichzeitig mit anderen aktuellen Fragen verknüpften. Um die Mitte des Monats September 1911 waren schließlich alle untersuchten Zeitungen in eine breite Diskussion über die Ursachen der Teuerung, die Formen des Protests und über die richtigen »Mittel zur Abhilfe« (remèdes), die politischen Maßnahmen zur Lösung des Problems und zur Be24 Für eine Diskussion des Zusammenhangs, siehe Beck, S. 350. 25 Der Umstand, dass die verschiedenen Zeitungen oft wortgleiche Meldungen druckten, verweist darauf, dass sie sich bei den gleichen Presseagenturen bedienten. Auch Humanité war keine Ausnahme.

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wältigung der Krise eingestiegen. Das Thema hieß nun »Nahrungskrise« (crise alimentaire)  oder »vie chère-Krise« (crise de vie chère). Neben der in diesem Zeitraum ständig wachsenden Zahl an faits divers-Meldungen veröffentlichten die Zeitungen Analysen, Kommentare und Standpunkte von Nationalökonomen, Volkswirtschaftlern und Politikern und druckten – manchmal in Fortsetzung über mehrere Ausgaben – ausführliche Reportagen ihrer Journalisten über die Marktsituation bestimmter Lebensmittel oder den Lebensmittelmarkt im Allgemeinen. Ende September 1911 wanderten die Nachrichten von Unruhen wieder auf die Innenseiten der Zeitungen und machten anderen Themen Platz. Die Diskussion über die Teuerung, ihre Ursachen und Lösungen wurde jedoch fortgesetzt und lebte auch im Verlauf der beiden folgenden Jahre immer wieder auf. Der Eindruck, der sich aus dieser formalen Analyse der Aufmerksamkeitsstrukturen der Presse ergibt, wird durch die Untersuchung der Berichterstattung über die Proteste und ihre Formen gestützt. In den tagtäglich aufeinanderfolgenden Beschreibungen der Orte des Protests, der Akteure und ihrer Verhaltensweisen zeichnet sich deutlich ein Eskalationsprozess ab: (1)  Die Region Nord-Pas de Calais bildete das Zentrum der Protestgeographie. Der Beginn der Bewegung wurde Ende August 1911 aus Ferrière-laGrande gemeldet, einem Arbeitervorort der Industriestadt Maubeuge, doch der Protest »gewann schnell an Tiefe und Weite«,26 er »schwärmte aus«27 und breitete sich in den ersten Septembertagen gleichzeitig nach Saint-Quentin (Aisnes) im Südosten, Brest (Finistère) im Westen und weitere Städte im Pas-de-Calais aus. In den folgenden zwei Wochen kamen Städte und Gebiete in Nordostfrankreich hinzu. Unruhen wurden auch aus dem Tal der Maas gemeldet. Obwohl Protestereignisse aus Saint-Etienne, Troyes im Nivernais sowie Chalon-surSaône in Burgund gemeldet wurden, spielten diese in Südostfrankreich gelegenen Orte für die Bewertung und Kommentierung der Bewegung durch die Presse kaum eine Rolle. Die überregionale Presse beschwor einmal mehr den Mythos der intensiv industrialisierten, dicht besiedelten, stark urbanisierten, »gefährlichen Region«28 der beiden nördlichen Departements. Die konservative Action française brachte den allgemeinen Tenor mit einer Schlagzeile auf den Punkt: »Der Norden befindet sich im Aufstand«.29 Neben dieser Geografie der Bewegung ist eine Art Infrastruktur des Protests zu erkennen. Der mit Abstand wichtigste Ort war der öffentliche Marktplatz. 26 M. L., Les grèves de consommateurs, in: Journal des débats politiques et littéraires (238) v. 29.8.1911, S. 3; Contre la vie chère. Le mouvement s’étend dans le Nord, in: Le Gaulois (12372) v. 29.8.1911, S. 3. 27 »Le mouvement paraît faire tâche d’huile«: Grèves de consommateurs. Dans le Nord: elles ont gagné tout le bassin houiller. Grave conflit entre bouchers et marchands de bestiaux. Dans le Pas-de-Calais: Une opinion sur la tactique à suivre, in: L’Aurore (5036) v. 30.8.1911, S. 1. 28 ADN M159 29A: Vincent, Préfet du Nord, an: MI, président du conseil, Telegramme, 8.9.1911. 29 Le Nord en Révolte, in: L’Action Française (247) v. 4.9.1911, S. 1 f.

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Er spielte eine Schlüsselrolle. Der Marktplatz wurde »besetzt«30 (envahi) oder in ein »Theater schlimmer Vorfälle«31 (théatre d’incidents sérieux) verwandelt. Ein halbes Jahr später schrieb ein Beobachter diesen »Besetzungen« der öffentlichen Marktplätze in einem Kommentar über die »pittoresken Schauspiele, in denen sich die Marktplätze in Agoras verwandelten und improvisierende Redner die Menge aufwiegelten«,32 genuin politische Bedeutung zu. Der öffentliche Straßenraum war ebenfalls allgegenwärtig. Die meisten Vorfälle ereigneten sich in urbanen Räumen, aber viele Berichte erwähnten auch Menschenmengen und Protestzüge, die von einer Ortschaft zur nächsten oder in die Innenstädte der regionalen Zentren zogen und dabei mehr oder weniger weite Entfernungen zurücklegten.33 Einige der folgenschwersten Ereignisse fanden auf den Boulevards der Innenstädte von Creil (Seine et Oise) und Douai (Pas de Calais) statt.34 Schließlich verdient eine dritte Form des Raums Aufmerksamkeit: Die Innenräume von Lebensmittelläden wie Bäckereien,35 Epicerien,36 Cafés,37 Metzgereien38 und sogar eines Schlachthauses (Aniche39). (2)  Die Presse versorgte ihre Leserschaft auch mit einer Liste der Protest­ akteure.  Tatsächlich lassen sich fünf verschiedene Kategorien von Akteuren iden­ti­fizieren: (a)  »Frauen«, »Hausfrauen«, »Köchinnen« (cordons-bleus), »Furien« (mé­gè­res), »Jugendliche«, »Konsumenten«; (b) »Mengen«, »Massen«, »Volk«, »Bevölkerungen«; (c)  »Bäcker«, »Metzger«, »Epiciers«, »Händler«, »Bauern«; (d) »Arbeiter«, »Gewerkschafter«, »CGT-Agenten« (missionnaires), »Anarchisten«, »Revolutionäre«, »dunkle Gestalten« (mines patibulaires), »Wahnsinnige« (énergumènes); (e) »Gendarmen«, »Polizeibeamte«, »Soldaten«, »Bürgermeister«, »Unterpräfekten«, die Militärpferde nicht zu vergessen – die ›Szene‹ war sehr bevöl30 La vie chère. Violents incidents à Brest. Un marché envahi par les manifestants, in: L’OuestÉclair (4608) v. 5.9.1911, S. 5; La cherté des vivres. Á Haumont, trois présidentes de groupes ont été arrêtées, in: Le Petit Journal (17778) v. 30.8.1911, S. 2. 31 On sait que cette place a été le théâtre d’incidents sérieux: Les manifestations continuent contre la cherté des vivres, in: La Presse (696) v. 1.9.1911, S. 1. 32 Macquart, S. 141. 33 Ce qui se passe. La vie chère. Nouvelles émeutes, in: L’Intransigeant (11372) v. 3.9.1911, S. 1. 34 R. S. (envoyé spécial), A Douai et dans les environs on parlemente, in: L’Echo de Paris (9891) v. 4.9.1911, S. 2; A Creil: La troupe et la foule entrent en collision, in: République de l’Oise v. 13.9.1911; Les désordres à Creil. Collision sanglante, in: Moniteur de l’Oise v. 13.9.1911. 35 Contre la vie chère. Violentes bagarres. La foule sabote un marché et met une boulangerie à sac, in: Le Siècle (27615) v. 31.8.1911, S. 2. 36 Les manifestations contre la cherté des vivres. Scènes d’émeute à Saint-Quentin. Des magasins mis au pillage, une épicerie incendiée: fantassins et cuirassiers ont chargé. L’agitation continue dans la région du Nord et s’étend sur plusieurs autres points, in: Le Petit Journal (17780) v. 1.9.1911, S. 1. 37 Les manifestations de ménagères. Une émeute au marché de Saint-Quentin. Partout des violences et des désordres, in: La Presse (6964) v. 31.8.1911, S. 1. 38 Villette, CGT, S. 1. 39 Contre la »vie chère«, in: Le Temps (18323) v. 1.9.1911, S. 6.

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kert. Im Prinzip lässt sich sagen, dass das Auftreten jeder dieser Akteursgruppen mit dem Eintreten in eine neue Eskalationsstufe einherging. Obwohl einige Zeitungen weiterhin über die »Konsumentenbewegung« oder die »Konsumentenstreiks« berichteten, waren die Akteure der ersten Phase »Frauen«, »Hausfrauen«, »Köchinnen«, bisweilen unterstützt von »ihren Gatten« oder »Jugendbanden«. In dem Maße, in dem die Auseinandersetzungen intensiver wurden, verloren die Akteure in der Presse ihre Konturen und die Märkte, Straßen und ganze Städte wurden von »Mengen«, Massen«, dem »Volk« oder gar ganzen »Bevölkerungen« beherrscht. Wenn die ursprünglichen Akteure noch Erwähnung fanden, dann häufig auf pejorative Weise – als »Furien«. Die Akteure der dritten Gruppe stammten aus dem Handel. Sie waren zwar jeden Tag präsent, wurden aber meist als Opfer der Akteure der ersten, zweiten und der noch vorzustellenden vierten Gruppe präsentiert. Denn mit dem Auftritt von »Arbeitern«, »Gewerkschaftern« und »CGT-Agenten« in den ersten Septembertagen veränderte sich der »Charakter« der Bewegung in der Presse grundlegend. Die Mehrheit der Zeitungen stellte fest, dass es sich nun nicht mehr um einen »ökonomischen Aufstand« handelte, sondern um eine »revolutionäre Bewegung«. Manche Zeitungen hatten die Anwesenheit von Gewerkschaftern in einigen Protestereignissen zwar bereits erwähnt. Aber der allgemeine Tenor der Presseberichterstattung änderte sich erst mit der Veröffentlichung eines Regierungskommuniqués, das die Mitwirkung der CGT feststellte.40 Von diesem Augenblick an berichtete die Presse, die Bewegung werde von »Anarchisten«, »Revolutionären«, »dunklen Gestalten« und »Wahnsinnigen« getragen und radikalisiert. Auf diesem Höhe- und Umschlagpunkt der Berichterstattung, der offiziellen Warnung vor Revolutionsgefahr, verstand sich der Auftritt der letzten Akteursgruppe fast von selbst: Die »Repressionskräfte«, »Polizeibeamten«, »Gendarmen«, reguläre »Soldaten« und »Staatsanwälte« betraten die Bühne. Die Bewegung wurde durch die Presse zugleich grundlegend gegendert und schrittweise politisiert. Auf eine »spontan« entstandene »ökonomische Revolte«41 von »Hausfrauen« folgte zunächst eine kaum zu kontrollierende, feminisierte, irrationale »Menge«, die ganze Städte und Landstriche heimsuchte und in einen alarmierenden Versuch der maskulinisierten »Partei der Unordnung« mündete, eine Revolution zu organisieren. »Die Unruhen mögen betroffen machen, aber sie hatten nichts mit Politik zu tun«, kommentierte etwa die liberale Tageszeitung Journal des débats. »Nun jedoch haben anarchistische Politiker die Bewegung übernommen«.42 40 »En somme, le mouvement s’étend avec un caractère beaucoup plus révolutionnaire qu’économique«: J. B., Les causes, in: La Croix (8730) v. 3./4.9.1911, S. 1 f. 41 L’émeute économique. A Paris: une enquête du Conseil municipal; un appel de la CGT. Dans le Nord: quelques bagarres. En Bretagne: journée calme, in: L’Action Française (252) v. 9.9.1911, S. 2. 42 »Mais, quelque désolants que fussent ces troubles, ils ne touchaient pas directement à la­ politique […] les politiciens anarchistes ont pris la tête du mouvement.« Les Troubles, in: Journal des débats politiques et littéraires (243) v. 3.9.1911, S. 1.

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(3) Einige der Bezeichnungen, welche die Zeitungen für die Beschreibung der Aktivitäten der Protestierenden verwendeten, habe ich bereits erwähnt. Während einige von »Konsumentenprotesten«43 oder »Konsumentenstreiks«44 schrieben, druckten andere Berichte über den »Kreuzzug der Hausfrauen«,45 den »Kreuzzug der Konsumenten«,46 den »Kreuzzug gegen die Teuerung«47 oder den »Aufstand der Köche«,48 bevor sie mehr oder weniger einmütig zur Bezeichnung der Bewegung als »Revolution« übergingen. Freilich könnte anhand der Presse­ analyse eine vollständige Nomenklatur der Worte rekonstruiert werden, mit denen die Zeitungen das Verhalten der Protestierenden belegten. Vier Register dieser Nomenklatur verdienen allerdings besondere Aufmerksamkeit. Erstens meldeten die Zeitungen oft »Hausfrauenversammlungen«, bei deren Gelegenheit »Preise festgesetzt« wurden. Manchmal erwähnten sie die Bildung lokaler Komitees, etwa einer Ligue économique de défense des intérêts brestois;49 nach Ende der Versammlungen formierten sich »Züge« und »Prozessionen« auf den Straßen,50 die in Richtung der Marktplätze davonmarschierten und dabei die »Butter-Internationale« sangen.51 Zweitens fand die Presse für die Hauptakti­ vitäten der Protestierenden an Markttagen die Bezeichnung »Sabotage« und »direkte Aktion«: »die Köchinnen [cordon-bleus] proben den Aufstand, sie üben Sabotage und direkte Aktion«.52 Das Wort »Sabotage« wurde durchgehend verwendet und erwies sich damit als bemerkenswert stabil. Wenn Märkte nach kurzen Wortwechseln über Butter- und Eierpreise »sabotiert« wurden, dann handelte es sich um ein scheinbar umstandsloses »Umstoßen« der Eierkörbe; die Protestierenden, so ein Bericht, machten »großartige Omlettes auf dem Boden«,53 sie »bombardierten die Händler mit Eiern, Gemüse und Butterstücken«54 oder »überschütteten den Händler mit seinem ganzen Quark«.55 Weitere Verhaltensweisen, die mit diesen von Erregung und Tumult geprägten Vorgängen assoziiert wurden, waren »Johlen«, »Buhen«, »Bedrängen« oder »Stehlen«. 43 Les manifestations de consommateurs, in: Journal des débats politiques et littéraires (240) v. 31.8.1911, S. 2 f. 44 Mouvement social. Les grèves de consommateurs, in: Le Temps (18322) v. 31.8.1911, S. 3. 45 Villette, Croisade, S. 2. 46 Dubreuilh, Traînée, S. 1. 47 Grèves de consommateurs, in: L’Aurore (5036) v. 30.8.1911, S. 1; La croisade contre la cherté des vivres prend un caractère inquiétant. Elle menace de se transformer en une guerre économique des producteurs et des consommateurs, in: Le Matin (10047) v. 31.8.1911, S. 1. 48 Dumas-Vorzet, S. 1. 49 La vie chère. Violents incidents à Brest. Un marché envahi par les manifestants, in: L’OuestÉclair (4608) v. 5.9.1911, S. 5. 50 La grève des consommateurs, in: Le Temps (18316) v. 25.8.1911, S. 4. 51 Mouvement social. Les grèves de consommateurs, in: Le Temps (18319) v. 28.8.1911, S. 4. 52 Dumas-Vorzet, S. 1. 53 Contre la vie chère. Les consommateurs en révolte. Réunions, incidents et manifestations, in: L’Humanité (2691) v. 30.8.1911, S. 2. 54 La grève des consommateurs, in: L’Action française (243) v. 31.8.1911, S. 3. 55 Mouvement social. Les grèves de consommateurs, in: Le Temps (18314) v. 26.8.1911, S. 4.

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Diese Protestakte waren gegen Waren gerichtet. Die Akteure beschädigten, entwendeten, zerstörten und zweckentfremdeten diese, indem sie sie auf den Boden warfen oder auf ihre Besitzer. Gewalt wird deutlicher sichtbar in Berichten über das »Einwerfen von Schaufenstern mit Ziegeln« und das »Plündern« von Lebensmittelläden. In diesen Fällen stießen die Protestierenden auf »heftigen Widerstand« der Ladenbesitzer. Viertens schließlich beschrieben die Berichte die mêlée, das Durcheinander des Straßenkampfs zwischen Gewerkschaftern, die Barrikaden errichteten, und den »Straßenräumungen« der Gendarmen und Soldaten. Mehrere Kommentare und Leitartikel unterstrichen die Bedingungen für die Legitimität des Teuerungsprotests. Das Auftauchen der CGT war dabei entscheidend für die allgemeine Einschätzung der Bewegung. In den Augen der bürgerlichen Beobachter konnte freilich kein Protest Legitimität für sich beanspruchen, der als revolutionär betrachtet wurde. Entsprechend beklagten liberale, republikanische und agrarisch-konservative Redakteure die Untätigkeit der radikal-sozialistischen Regierung,56 den allgemeinen »Verfall« der franzö­ sischen Gesellschaft57 und forderten ein Verbot der CGT.58 Die Zeitung des politischen Zweigs der Arbeiterbewegung, die sozialistische Humanité, hielt sich mit Kommentaren zunächst auffällig zurück. Das implizierte jedoch keineswegs eine Billigung oder gar Unterstützung. Ende September, als die Protestbewegung abgeflaut war, veröffentlichte Adéodat Compère-Morel, ein sozialistischer Politiker, der mit der Propaganda im ländlichen Raum beauftragt war, folgenden Kommentar in L’Humanité: »Solche Aktionen mögen vielleicht Dilettanten der Gewalt und Liebhaber der di­ rekten Aktion erfreuen; einige mögen es für eine lebendige Demonstration des revolutionären Volksgeistes halten, andere für Anzeichen des Erwachens des proletarischen Bewusstseins; für uns ist es nichts anderes als der Beweis, dass die arbeitenden Massen noch immer der ökonomischen und sozialen Erziehung bedürfen, voilà tout!«59

Zu Beginn der Bewegung waren die Einschätzungen weniger eindeutig. Diese Ambivalenz zeigt sich in einem Interview mit Charles Gide, der als Volkswirtschaftler und Vorsitzender der kurz zuvor gegründeten Ligue nationale des consommateurs um Stellungnahmen gebeten wurde. »Muss ich wirklich betonen, dass meine neugierige Sympathie mit der Bewegung nicht bedeutet, dass ich die dummen Akte der Gewalt und des Plünderns billige?«,60 fragte er André ­Joubert, einen Journalisten der konservativen republikanischen Zeitung Le­ Siècle am Ende eines langen Interviews. In der durchgesehenen Presse ist zu56 Lanessan, Gouvernement, S. 1. 57 Cyr, Déliquescence, S. 1. 58 L’anarchie, in: Journal des débats politique et littéraire (253) v. 13.9.1911, S. 1. 59 Compère-Morel, Cherté, S. 1 f. 60 Joubert, S. 2.

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nächst keine einzige eindeutige Verurteilung zu finden. Im Gegenteil: »Es ist keine Organisation, die hinter den Demonstrationen steckt«, lauteten die Worte, mit denen ein weiteres Interview in Le Siècle begann, diesmal mit Armand Fénétrier, einem anderen führenden Aktivisten der Ligue nationale des consommateurs. »Es ist eher ein gewalthafter Geisteszustand [état d’esprit], eine legitime Irritation, die sich hier manifestiert«.61 Mit einem ähnlichen Hinweis auf die­ Legitimität der Bewegung äußerte sich Paul Strauss, radikal-republikanischer Senator des Departements Seine: »Wenn die Hausfrauen im Norden und Osten gegen die Teuerung der Lebensmittel protestieren, wäre es absurd und unangemessen, sich wie Pontius Pilatus zu verhalten. Der Staat [pouvoirs publics] und die öffentliche Meinung müssen dieses Problem ernstnehmen […] [Wir brauchen] Lösungen, um den legitimen Forderungen der Hausfrauen gerecht zu werden.«62

Mehrheitlich lehnten die Stellungnahmen in der Presse zwar ab, was sie als »neuartige Form der Sabotage«63 identifizierten, und bedauerten die »unschuldigen Bauern«. Aber auch dann stellten sie die Legitimität der »Hausfrauenproteste« nicht grundsätzlich infrage. Marc Réville, der konservative Senator des Departements Doubs, hielt in der republikanischen Zeitung L’Aurore fest: »Wenn die Konsumenten sich vereinigen und entscheiden, bestimmte Lebensmittel nicht über einem bestimmten Preis zu kaufen, dann ist das ihr Recht. Wenn sie einen Geldbeutelstreik organisieren, dann ist nichts legitimer. Aber wenn sie den Händler auf diese einzige Weise bestraft haben, die ihnen zur Verfügung steht, und ihn mit seinen Waren haben sitzen lassen, dann hat ihr legitimes Recht seine Grenze erreicht […] Leider befinden sich die Teuerungsprotestler nicht im Streik; sie wollen den Verkäufern die Preise diktieren, erst mit Drohungen und dann mit Gewalt«.64

Wie einige der für die Beschreibung der Bewegung anfänglich verwendeten Worte nahelegen, spielte eine Mehrheit der Kommentatoren und Beobachter ihre Bedeutung und Tragweite herunter, ja machte sich lustig über den »Aufstand der Köchinnen«. Das Verhalten der protestierenden Frauen galt schlicht als »dumm«: »Aufgeregte Hausfrauen glauben, sie könnten die Preise senken, indem sie Läden plündern und Metzger und Milchverkäuferinnen bestrafen, die genauso arm sind wie sie selbst. Das ist einfach dumm«.65 Dumm, aber ungefährlich? Ein in L’Aurore veröffentlichter Kommentar mit dem Titel »Gefahr!« (il y a danger) markierte den Wendepunkt: 61 La vie chère. Une levée de »cordons bleus«. Le consommateur n’était rien; il veut devenir quelque chose, in: Le Siècle (2761) v. 30.8.1911, S. 3. 62 Strauss (sénateur de la Seine), S. 1. 63 Dumas-Vorzet, S. 1. 64 Réville, Paysans, S. 1. 65 Berr, S. 2; Billet du Matin: La loi de l’offre et de la demande, in: La Libre Parole v. 9.9.1911, S. 1.

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»Einige unserer Kollegen haben sich über die Demonstrationen der Hausfrauen im Norden amüsiert, die aus Protest gegen die Teuerung bestimmter Lebensmittel Märkte sabotieren. Wir fanden das nie lustig. Wir glauben vielmehr, dass es an der Zeit ist, sie endlich ernst zu nehmen, um eine Tragödie zu verhindern. […] Frankreich hat die Gefahr der Überhitzung solcher populären Bewegungen schon oft erlebt. Man kann nie wissen, welche Verrücktheiten die Menge begeht, wenn man der Agitation ihren Lauf lässt. […] Bringt die Hausfrauen nachhause in ihre Küchen, gebt den Furien eine kalte Dusche, falls nötig. Genug Gewalt, genug direkte Aktion, genug Sabotage!«66

Dieses letzte Zitat führt zu der Überlegung, dass das Gendering der Protestbewegung ursprünglich eine der zentralen Bedingungen für ihre Legitimität gewesen ist. Sicher betraf die Teuerung der Butter-, Eier- und Fleischpreise nicht nur Arbeiterhaushalte, und es waren auch bei weitem nicht nur Akteure aus der Arbeiterklasse, die sich an der breiten Debatte über die Ursachen und Lösungen der Teuerung beteiligten. Die Bezeichnung »Kreuzzug« implizierte jedoch im metaphorischen Sinn, dass sich die Konsumentinnen als Hausfrauen auf einer heiligen Mission befanden. Die bestand ganz offensichtlich darin, das Haushaltsbudget zu schonen und die Ernährung der Familie zu gewährleisten. Mehr oder weniger alle Kommentare und Berichte bezogen sich auf eine familiäre Arbeitsteilung zwischen dem männlichen Brotverdiener und der weiblichen Brotkäuferin. So wie sie ihren Protest gestalteten, taten die »respektablen Hausfrauen«67 in den Augen der Öffentlichkeit zunächst nichts anderes als ihre »heilige« Pflicht zu erfüllen. d. h. das Überleben der Familie zu sichern.68 Sie konnten deshalb auf die Zustimmung einer schweigenden Mehrheit zählen, eine Zustimmung auch und gerade all derjenigen, die sich über den Verfall der Familie beklagten. Erst als die männlich dominierten Arbeiterorganisationen auf den Plan traten, wurde die Protestbewegung für bürgerliche Beobachter zu einer wirklichen Bedrohung – auf die sie mit der kaum verhohlenen Aufforderung reagierten, den Hausfrauen Gewalt anzutun und sie an ihren Platz in der Geschlechterhierarchie zurückzuzwingen. Die Lokalisierung des »Kreuzzugs der Hausfrauen« in der ökonomischen Sphäre jenseits des Politischen stand mit dieser Sichtweise vollkommen in Einklang, da Markt, Handel und Gewerbe zu den wenigen Frauen zur Verfügung stehenden Formen der Integration ins öffentliche Leben zählten.69 Neben der offensichtlich zentralen Bedeutung des Marktplatzes für die Bewegung weist 66 Lafitte, Danger, S. 1. 67 Turmann, S. 50–75. 68 Vgl. »Il est à souhaiter qu’une entente se fasse rapide, entre vendeurs et acheteuses, dont l’unique et louable souci est de veiller aux intérêts du ménage«: Dumas-Vorzet, S. 1. 69 Siehe Thompson, V. E., S. 86–130. Auch wenn die Bildung von Konsumentenkomitees eine Innovation im Repertoire des Teuerungsprotests darstellt, überzeugt Hansons Einschätzung nicht, dass dies auf die gesteigerte »integration of women, their principal actors, into the workplace and the political system« zurückzuführen war, siehe Hanson, S. 476. Das Engagement der Frauen in Konsumkomittées kann ämlich auch als direkte Folge ihrer Integration in die Marktsphäre betrachtet werden.

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die Allgegenwart des Streikbegriffs in den Berichten über die Proteste auf eine Art Übersetzung zwischen den Arbeitsmärkten und den Lebensmittelmärkten hin: Die im Jahr 1911 sattsam bekannte kollektive Aushandlung der Löhne, ihre Praktiken, Strategien und Taktiken könnten zum Verständnis der kollektiven Lebensmittelpreisverhandlungen gedient haben. In der Berichterstattung der bürgerlichen Presse wurden also Grenzen zwischen akzeptablem und inakzeptablem Protestverhalten gezogen. Aber die Frage, wie die Protestierenden sich zu den Akzeptabilitätsgrenzen verhielten, wie sie ihr Verhalten beschrieben, welche Strategien sie mit ihren Protesten verfolgten und wie sie insbesondere den Einsatz von Gewalt bewerteten, kann auf dieser Grundlage nicht zufriedenstellend beantwortet werden, weil sie kaum selbst zur Sprache kamen oder ungefiltert zitiert wurden. Die Frage der Gewalt als Mittel des vie chère-Protests, soviel kann immerhin festgehalten werden, war auch innerhalb des sozialistischen und gewerkschaftlichen Spektrums hochumstritten. Die bereits zitierte Stellungnahme des Sozialisten Compère-Morel zu den »Dilettanten der direkten Aktion« von Ende September 1911 weist darauf hin, dass gerade die um Respektabilität bemühten reformistischen Amtsträger der Sozialisten in Parteiorganisationen, Rathäusern und Nationalversammlung darum bemüht waren, sich von der Protestgewalt abzugrenzen. Insgesamt wies der Diskurs über die Protestgewalt während des Spätsommers und Herbstes 1911 im sozialistischen und syndikalistischen Spektrum drei Aspekte auf. Erstens hatten PSU und CGT bereits ein Jahr zuvor eine nationale Kampagne gegen die anhaltende Lebensmittelteuerung organisiert. Im Spätsommer 1911 erinnerten sich auch andere Zeitungen daran, dass die Sozialisten der Protestbewegung gewissermaßen den Boden bereitet hatten.70 Dennoch scheint der Beginn der Proteste auf Märkten in Nordfrankreich in der letzten Augustwoche 1911 sowohl die Partei als auch die Gewerkschaft völlig unvorbereitet getroffen zu haben – wohl nicht zuletzt, weil die Protestaktionen zunächst von weder parteilich noch gewerkschaftlich organisierten Frauen getragen wurden. Auch nahmen sie an einem gesellschaftlichen Ort – dem Marktplatz – ihren Ausgang, der in der gewerkschaftlichen Arbeit im Gegensatz zu den Betrieben kaum eine Rolle spielte. L’Humanité illustrierte die ersten Meldungen mit einer Karikatur, welche die Distanz der männlichen Sozialisten zum Geschehen artikulierte. Sie zeigte im Vordergrund zwei Frauen. Von einer der beiden waren Schürze und Rock zu sehen. Ihre obere Körperhälfte verdeckte ein großer Korb, den ihr offenbar die andere Frau übergestülpt hatte. Diese stand neben ihr, die Hände in die Hüften gestemmt. Aus dem Korb purzelten die letzten Eier, von denen einige bereits auf dem Boden zerschellt waren. Ein Dialog erläuterte die Szene: »Was kosten die Eier« – »ein Franc das Dutzend« – »Und ohne Schale?« Im Hintergrund war eine Gruppe Männer mit Hüten zu sehen, die wohlwollend feixten.71 Gerade in der Betrachtung der protestierenden Frauen unterschied sich das so70 Dulot, S. 3; Pouget, Émeute, S. 2. 71 Les Ménagères et la vie chère (Cartoon), in: L’Humanité (2691) v. 30.8.1911, S. 1.

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zialistische Blatt kaum vom allgemeinen Tenor der bürgerlichen Presse. »Blinder Protest, wird man sagen. Ja, zweifellos! […] Nichts an dieser Kampagne ist organisiert, nichts wird mit Bedacht getan, nichts ist gewollt und gerade deshalb ist sie ernst zu nehmen«.72 Das tat auch die anarchistische, der CGT nahestehende Zeitschrift Guerre sociale, welche die Beteiligung der Frauen zwar etwas anders, aber nicht weniger ambivalent interpretierte. »Schaut, wie es die Frauen machen. In jedem Ort haben sie eine Vorsitzende ernannt, die eine rote Schärpe trägt. Es gibt sogar weibliche Fahrradboten. […] Es ist an uns, unsere Genossinnen zu unterstützen [seconder] und voranzuschreiten [aller de l’avant]«,73 notierte der Gewerkschafter Broutchoux. Es ist durchaus denkbar, dass dieses ›unterstützende Voranschreiten‹ der männlichen Gewerkschafter, die zu zahlreichen Vorträgen in die Provinz reisten, dazu führte, dass die Frauen ab Mitte September 1911 die Lust an der Revolte verloren. Émile Pouget, eine der führenden Figuren des Anarchosyndikalismus in Frankreich und im Jahr 1895 Mitgründer der CGT,74 deutete die Protestbewegung als Integration der Frauen – als Hausfrauen – in den Klassenkampf: »Während also ihre Männer sich gegen den patron verteidigen, führen sie als Käufe­ rinnen, als Konsumentinnen die Auseinandersetzung mit dem Händler. Ihre G ­ este, ihr Durchhaltevermögen hat das unschätzbare  – und notwendige  – Ergebnis, dem Klassenkampf seinen echten und vollständigen Charakter zu verleihen: Er ist nicht länger einseitig [unilatérale], sondern wird umfassend [intégrale]. Dank der Revolte der Konsumenten macht die Arbeiterklasse von nun an Front gegen alle Ausbeutungs­ verhältnisse«.75

Immer unklarer war zweitens das Verhältnis der Arbeiterbewegung zur Gewalt.76 Zwar ergriff L’Humanité zunächst eindeutig Partei für die Bewegung, berichtete etwa am 1. September über »Hungerdemonstrationen«,77 am 2. September über »Demonstrationen von Arbeiterfamilien« bzw. die »spontane Revolte der Arbeiterfamilien«.78 Am selben Tag hielt Louis Dubreuilh fest, dass die »Bewegung so legitim« sei, dass in einigen Regionen »Zwischenhändler und Ladenbesitzer mit der Masse gemeinsame Sache machten«.79 Doch bereits am nächsten Tag setzte eine Differenzierung der Position ein. Die »Energie der Menge, deren gewalttätige und etwas chaotischen Bewegungen ein wenig der entfesselten Naturgewalt glichen«,80 wurde nun zum Problem. Während Dubreuilh in 72 Dubreuilh, Traînée, S. 1. 73 Broutchoux, Détails, S. 2. 74 Zu Pouget siehe C., Ch. 75 Pouget, Émeute, S. 2. 76 Vgl. auch Chatriot u. Fontaine, S. 19. 77 Les manifestations de la faim. Elles se multiplient dans le Nord. On registre déjà des résultats satisfaisants, in: L’Humanité (2693) v. 1.9.1911, S. 2. 78 De graves bagarres se produisent à Saint-Quentin. Des entents partielles surviennent à Lens, in: L’Humanité (2694) v. 2.9.1911, S. 1. 79 Dubreuilh, Mouvement, S. 1. 80 M., A.-M., S. 1.

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seinem Leitartikel die polizeiliche und militärische Repression der Bewegung verurteilte,81 wies gleichzeitig der sozialistische Abgeordnete Delory die Verantwortung der Sozialisten für die Formen zurück, welche die Bewegung angenommen hatte – nicht allerdings für die Bewegung selbst: »Ich leugne nicht, dass die sozialistische Propaganda […] die Massen in die Revolte geführt hat […]. Aber zu glauben, dass die Sozialistische Partei die Bewegung befohlen hat, ist abwegig. […] Welche Haltung soll sie einnehmen? Die Demonstranten in den Aufstand treiben? Das wäre Wahnsinn, denn es würde zu keinem Ergebnis führen. […] Wir wollen die Arbeiterklasse erziehen wie der Lehrer die Kinder.«82

Auch an der Basis gingen die Sozialisten auf Distanz zur Gewalt, wie die Resolution einer Versammlung in Chaville (Seine et Oise) zeigt. Die Teilnehmer beschlossen, »Produkte, deren Preise nicht vernünftig sind, sowie Ladenbesitzer, die mit den Ausbeutern [affameurs] der Arbeiterklasse gemeinsame Sache machen und sich ihren gerechten Forderungen widersetzen, methodisch zu boykottieren«.83 Gleichzeitig »empfehlen sie die Organisation von Kooperativen, aber verurteilen gewaltsame Mittel, die nur kurzfristige Ergebnisse erzielen«.84 Diese Differenzierung der Positionen im Flaggschiff der sozialistischen Tagespresse markiert die Wiederaufnahme oder Reaktualisierung eines bereits älteren Konflikts zwischen dem reformistischen und dem revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung in Frankreich. Während etwa Delory Wahlen für den geeigneten Weg zur Durchsetzung des Sozialismus hielt, freute sich Emile Pouget in einem Artikel für Guerre sociale vorbehaltlos gerade über die Protestgewalt: »Die Revolte der Hausfrauen ist indes als solche erbaulich. Es gibt Hoffnung für die Zukunft, dass die armen Schluckerinnen sich nicht mit Gesten der Empörung und des Protests begnügen. Sie erwarten ihr Heil nicht vom Regierungshimmel, sondern wissen selbst das Notwendige zu unternehmen«.85

In derselben Ausgabe druckte Guerre sociale zwei weitere, namentlich nicht gezeichnete Beiträge, die sich affirmativ auf Gewalt bezogen. Der erste Text war nichts anderes als eine praktische Handreichung für den Straßenkampf, insofern er drei Methoden vorstellte, wie man die Straßenräumung durch Kavallerietruppen verhindern konnte: mit die über Straße gespannten Eisendrähten; mit Glasscherben bzw. mitgebrachten und auf Zuruf auf der Straße zerschlagenen Flaschen; mit »Fußangeln« (chausse-trappes) aus Nägeln.86 Der zweite Artikel war mit »Die Gewalt hat etwas Gutes« überschrieben und vertrat die Auffassung, dass sich »einmal mehr die souveräne Tugend der direkten Aktion und 81 Dubreuilh, Répression, S. 1. 82 Delory (Député du Nord), S. 1. 83 Choiral, S. 4. 84 Ebd. 85 Pouget, Émeute, S. 2. 86 Pour arrêter les charges de cavalerie, in: Guerre Sociale 5/36 v. 6.9.1911, S. 2.

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der Sabotage« zeige. Wenn die Hausfrauen sich mit »Reden« und »Beschlüssen« begnügt hätten, würden sie nichts erreicht haben. »Und da sagen die Redakteure der kapitalistischen Blätter, dass Gewalt zu nichts führe!« Dann jedoch wandte sich der Text den »sozialistischen Abgeordneten im Norden« zu, die »in dieselbe Kerbe schlagen«. Wenn sie sich schon der »dummen Phrasen gegen Gewalt und Sabotage« nicht enthielten, könne man doch zumindest verlangen, dass sie nicht in das »Konzert der bürgerlichen Wachhunde« einstimmten. »Diese Saboteure, diese Apachen, diese zwielichtigen Gesellen […] dieses Gesindel ist Ihre Wählerschaft, werte Genossen, ob es gefällt oder nicht! Das ist ärgerlich, aber so ist es.«87 Und, so gab der anonyme Autor (wahrscheinlich Pouget selbst) am Ende zu bedenken, »an dem Tag, an dem die Sozialistische Partei aufhört, die Partei dieses Gesindels zu sein, dieser schlecht angezogenen, zerlumpten Leute, an dem Tag wird sie ihre Existenzberechtigung verlieren. […] Denn was ist die sozialistische Partei anderes als das Sprachrohr der Elenden und der Aufständischen?«88

In den folgenden Wochen entfaltete sich zwischen den Anarchosyndikalisten in Guerre sociale und den reformistischen Sozialisten vor allem in Nordfrankreich eine polemische Diskussion, die über die Gewalt in den Teuerungsprotesten hinausging und die grundsätzliche Haltung der Arbeiterbewegung zu gewalthaften Formen des Klassenkampfs thematisierte.89 Zwar ging es dabei auch darum, dass die gewalttätigen Übergriffe von Frauen der Arbeiterklasse auf die ihre Waren selbst vermarktenden Landwirte die Integrationsstrategie der SFIO bedrohten. »Der Bruch zwischen den ländlichen und urbanen Produktivkräften wird sich nicht einstellen, dieser Traum der satten Bürger wie der verhärmten Anarchisten wird nicht in Erfüllung gehen«,90 notierte etwa Compère-Morel Ende September 1911. Doch die Debatte nahm auch eine bereits ältere Kontroverse über Formen der »direkten Aktion« und insbesondere über die Sabotage wieder auf,91 die Emile Pouget 1897 auf dem Verbandskongress der Gewerkschaften in Toulouse vorgestellt und neben Boykott und Labelling als »neue Ar87 La violence a du bon, in: Guerre Sociale 5/36 v. 6.9.1911, S. 2. 88 Ebd. 89 Delzant, S. 3; Un sans-Patrie, Le Parti socialiste et la cherté des Vivres. Les vrais saboteurs du socialisme, in: Guerre sociale 5/38 v. 20.9.1911, S. 1 f.; Un sans-Patrie, La CGT et le Parti socialiste, in: Guerre sociale 5/40 v. 5.10.1911, S. 1 f. 90 Compère-Morel, Cherté, S. 1. Siehe auch die von Compère-Morels bereits in der Kampagne von 1910 in Humanité veröffentlichten Artikel, in denen er die Kleinbauern gegenüber den Trusts und Monopolen in der gleichen sozialen Lage verortete, wie die Industriearbeiterschaft: ders., Misère; ders., Réveil. Der »Heimatlose« nahm in seinem Kommentar für Guerre sociale direkt auf diesen Artikel Bezug, akzeptierte die sozialistische Strategie, forderte aber zugleich, die Beschimpfung der Anarchisten zu unterlassen, siehe Un sans-Patrie, Le Parti socialiste et la cherté des Vivres. Les vrais saboteurs du socialisme, in: Guerre sociale 5/38 v. 20.9.1911, S. 1 f., hier S. 2. 91 Hierzu immernoch grundlegend Maîtron, S. 302–308.

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beitskampform« konzeptionell begründet hatte.92 Diese Auseinandersetzung innerhalb der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen nahm freilich auf den breiteren gesellschaftlichen Diskurs über Sabotage Bezug, der im Sommer 1911 mit der Diskussion eines Gesetzesvorschlags zur Verschärfung des Strafrechts einen Höhenpunkt erfuhr.93 Für Pouget war Sabotage grundsätzlich und vor aller inhaltlichen Zweckbestimmung zunächst eine Form männlicher Subjektivierung: »Mit der Sabotage […] können die Arbeiter Widerstand leisten; sie sind dem Kapital nicht mehr vollkommen ausgeliefert; sie sind nicht mehr das weiche Fleisch, das der Meister nach seinem Gutdünken formt; sie haben mit der Sabotage ein Mittel, sich ihrer Männlichkeit zu versichern und dem Unterdrücker zu beweisen, dass sie Männer sind«.94

Gewerkschaftler und selbst so unterschiedliche Kritiker der Sabotage wie Georges Sorel und Jean Jaurès schrieben sie in eine männlich konnotierte Arbeitswelt ein, knüpften sie an das technische Wissen der Arbeiter, an Arbeitsethos oder Berufsehre.95 Vor diesem Hintergrund hat die konstante und fast banalisierte Bezeichnung der Protestaktionen von Frauen auf Märkten als Sabotage ein starker gender bias.96 Selbst die protestierenden Frauen in der kleinen, abgelegenen bretonischen Fischerstadt Cancale benutzten den Begriff in einer Petition an den Präfekten: »Wir Cancaleser Hausfrauen vom Hafen glauben, Sie warnen zu müssen, dass wir entschlossen sind, am Montag die Lebensmittel zu sabotieren, denn für eine Gegend wie unsere ist alles entschieden zu teuer.«97 92 Siehe AN CHAN F 7 13065: Pouget, Boycottage. 93 Eingebracht im Dezember 1910 von Ministerpräsident Briand nach Sabotageakten während des Eisenbahnerstreik im Norden, siehe AN CHAN F 7 13065: Octave Lauraine, Rapport fait au nom de la commission de la réforme judiciaire et de la législation civile et criminelle chargée d’examiner le projet de loi ayant pour objet la répression des actes de sabotage, Chambre des députés, n° 1118, 6e législateure, session de 1911, Paris 1911. An der Kommission war auch der sozialistische Abgeordnete Briquet beteiligt. 94 Pouget, Sabotage, S. 22 f. 95 Siehe Lauraine, S. 7. 96 Vgl. mit ähnlich gegendertem Duktus: »Eunuques« et saboteurs, in: Le Temps (18350) v. 28.9.1911, S. 1; siehe außerdem aus der Masse an Belegen: Agitation vaine. Le sabotage des marché de Paris a échoué, in: L’Eclair v. 18.9.1911; Contre la vie chère. Le sabotage des vivres continue dans le Nord, in: Le Journal v. 9.9.1911; La vie chère. Nouvelles manifestations. – Quelques conférences et Meetings dans le nord et en province.- La réprobation des sabotages par les ménagères, in: L’Aurore v. 9.9.1911; Les sabotages, in: Journal des débats politiques et littéraires (239) v. 30.8.1911, S. 3; Chronique agricole. La cherté des vivres, in: Journal d’agriculture pratique 75 (1911), Nr. 37, S. 321 f.; Dumas-Vorzet, S. 1; Contre la vie chère. Les consommateurs en révolte. Réunions, incidents et manifestations, in: L’Humanité, 30.8.1911, Nr. 2691, S. 2. 97 »Nous ménagères cancalaises du Port, croyons devoir vous avertir que nous sommes déci­ dées, lundi á faire du sabotage pour les vivres, car décidément pour un pays comme le notre, tout est d’un prix exagéré«, ADIV 4M95: groupe de ménagères cancalaises [Petition], 22.9.1911.

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Die Verwendung des Sabotage-Begriffs nicht nur zur Fremd-, sondern auch zur Selbstbeschreibung der protestierenden Frauen weist mindestens zwei Aspekte auf. Zunächst scheinen die Proteste in der Fremdbeschreibung ein diskursives Muster aktiviert zu haben, das diesen Protesten den Sinn absprach – Sabotageakte galten etwa in der legislatorischen Diskussion als »Verbrechen um des Verbrechens willen«98  – oder besser: Die Bezeichnung als Sabotage verstellte den Zugang der bürgerlichen Öffentlichkeit zu einem angemessenen Verständnis der Proteste. Zweitens bezeichnete der Begriff, wenn er von den Frauen selbst ver­wendet wurde, ganz offensichtlich einen Prozess der Selbstermächtigung, der in Analogie zu der von Pouget beschriebenen männlichen Selbstaffirmation gegenüber dem Arbeitgeber betrachtet werden kann. Im Akt der Warenzerstörung leisteten sie nicht nur Widerstand gegen die Markthändlerinnen und Bäuerinnen, mit denen sie die Marksphäre als Ort der Integration in die Öf­fentlichkeit teilten. Sie konstituierten sich gegenüber den Verkäuferinnen gleichzeitig als selbstbewusst mit ihrer Kaufkraft umgehende Gruppe. In diesem Sinn entstand in der »direkten Aktion« des Marktprotests als performativer Effekt der »Sabotage« tatsächlich das gegenderte, politische Subjekt der Konsumentin. Bleiben drittens die Praktiken des Protests selbst: das Umstoßen der Eierkörbe, Quarkschalen und Butterfässer. Pouget bezog das Konzept der Sabotage zwar eher auf die Qualität der Arbeit, d. h. auf die Eigenschaften der Ware Arbeitskraft, als auf die Quantität.99 Doch im Jahr 1907 kehrte Paul Lafargue den Begriff insbesondere im Bereich der Lebensmitteproduktion und -vermarktung um: »In den zivilisierten Nationen, in denen das Kapital herrscht, sind alle kapitalistischen Industriellen Saboteure, obwohl sie nicht so genannt werden. Sie fälschen, sie sabotieren alle Nahrungsmittel, das Brot und die Butter, die man darauf verstreicht, den gemahlenen Kaffee, den man mit arglosem Chicoree färbt; desgleichen den Wein, das Bier und das Wasser: die Oblaten, die den Heiland verkörpern und die der fromme Christ mit Ekstase verschlingt, sind diesem Schicksal ebenfalls nicht entgangen; gläubigere Katholiken als der Papst haben es gefälscht, sabotiert.«100

Lafargue und Pouget forderten die Arbeiter und Angestellten der Nahrungsmittel produzierenden und vermarktenden Betriebe auf, solche Praktiken öffentlich zu machen – auch und gerade zum Schutz der Konsumenten.101 Die Lebensmittelinspektoren, die sich auf den Märkten unter das Publikum mischten und die angebotene Ware kontrollierten, sie in die Hand nahmen, sie 98 Lauraine, S. 6. 99 Pouget, Sabotage, S. 24. 100 Lafargue, S. 1. 101 Pouget nannte diese Praxis »bouche ouverte« im Gegensatz zu »bouche cousue«: Die Loyalität der Arbeiter und Angestellten sollte den Käufern aus der Arbeiterklasse gelten, nicht den Betrugsabsichten ihres Arbeitgebers, sie sollten die Käufer im Verkaufsgespräch über die Eigenschaften der Ware »ehrlich« informieren, siehe ders, Sabotage, S. 51–62.

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befühlten, beschauten und an ihr rochen, waren von den Stadtverwaltungen angestellt worden, um die Vermarktung und den Verkauf verdorbener oder gefälschter Lebensmittel zu verhindern. Ware, die sie nicht für den Verzehr geeignet hielten, entzogen sie dem Handel, indem sie sie auf den Boden warfen, wo sie am Ende des Markttages mitsamt dem angefallenen Müll aufgekehrt wurden, oder – im Fall von Fleisch – übergossen sie mit einer säurehaltigen Lösung.102 Diese marktpolizeiliche Praxis, die sie an jedem Markttag beobachten konnten, schienen die protestierenden Käuferinnen zu imitieren, als sie im Spätsommer 1911 Nahrungsmittel, die sie zu teuer fanden und nicht herunterhandeln konnten, auf den Boden warfen. Damit schrieben sich die Konsumentenproteste des Jahres 1911 in den Möglichkeitsraum ein, der mit dem Lebensmittelreinheitsgesetz von 1905 eröffnet worden war. Denn die Käuferinnen knüpften an die gegenüber der Mitte des 19. Jahrhunderts stark veränderte Form der verwissenschaftlichten Markt- und Gewerbeaufsicht an, die sich auf die Produktqualität konzentrierte.103 An das klassische Repertoire des Teuerungsprotests erinnerten sie sich offenbar nicht mehr. Eine unmittelbare Übernahme der Ware und ihr etwa vom Bürgermeister beaufsichtigter Verkauf zu kollektiv festgelegten, als gerecht oder legitim erachteten Preisen wie in der traditionellen Form der »taxation populaire« ist jedenfalls nicht überliefert. Als sich die Organisationen der Arbeiterbewegung Mitte September 1911 auf breiter Basis an den Protesten zu beteiligen begannen, verknüpften ihre Protagonisten das Teuerungsproblem in Artikeln, Reden und Parolen zunehmend mit einem vordergründig abseitigen Thema, dem Antimilitarismus.104 Die Rüstungsanstrengungen des französischen Staates, militärische Leistungsschauen, die latente Gefahr eines Krieges mit Deutschland ebenso wie den Einsatz des Militärs gegen die Protestierenden nahmen Kommentatoren der sozialistischen und anarchosyndikalistischen Presse nicht nur zum Anlass, die Entfremdung der französischen Arbeiterklasse von den Kriegsvorbereitungen und -zielen der Regierung zu unterstreichen. Vielmehr kann die Antikriegspropaganda durchaus als bruchlose Weiterführung der Interpretation der Proteste als (Überlebens-)Kampf der internationalen Arbeiterklasse gegen die Vertreter des internationalen Kapitals betrachtetet werden, als welche Gewerkschafter und Sozialisten den »Fleisch-Trust«105 und Monopolstel102 Das Strafgesetzbuch stellte das Übergießen mit »korrodierenden Flüssigkeiten« übrigens ausdrücklich unter Strafe, der Gesetzentwurf zur Strafverschärfung in Sabotagefällen erweiterte diesen Paragrafen, siehe Lauraine, S. 8 f. Ausgenommen von dieser Strafbarkeit war freilich die marktpolizeiliche Praxis, die einen amtlichen Akt darstellte. 103 Vgl. Canu u. Cochoy, S. 70 f. 104 Flonneau hat in der Verknüpfung des Teuerungsthemas mit der Antikriegspropaganda die Ursache für das Abflauen der Proteste gesehen, siehe ders., S. 67; so auch Hanson, S. 480. 105 Mit Anspielung auf den Chicagoer »beaf trust«: La vie chère. Une levée de »cordons bleus«. le consommateur n’était rien; il veut venir quelque chose, in: Le Siècle (2761) v. 30.8.1911, S. 1; für die Kampagne des Jahres 1910, siehe Boudios, Consommateurs!, sowie Le Prix de la vie, in: L’Humanité (2329) v. 2.9.1910, S. 1; für 1911 siehe Compère-Morel, Trust.

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lungen106  auch und gerade in der Lebensmittelindustrie brandmarkten. Am 25. September 1911 gelang es der PSU, der SFIO und der CGT, trotz strömenden Regens und eines großen Polizeiaufgebots im Pariser Aéro-Park zu einer Kundgebung unter der Parole »Gegen den Krieg! Gegen die Teuerung! Gegen die Verfolgungen!« 60.000 Menschen zu mobilisieren. Die Metaphorik, die Émile Pouget für seinen Bericht über dieses Ereignis verwendete, weist in besonders prägnanter Weise darauf hin, warum sich Anti-Teuerungsprotest und Anti-Kriegspropaganda im Diskurs der Arbeiterbewegung ohne Weiteres verknüpfen ließen: »Die Menge, von der am Sonntag der Aéro-Park wimmelte, hat in diesem Moment des Zusammenhalts [cohésion] das Vertrauen und die Gewissheit gemeinsamer Interessen und Ideen geschöpft, die sie bewegen. Die Individuen, die sie bildeten und sich bis dahin in ihrem gleichgestimmten Schwingen weniger zahlreich glauben konnten, schöpften im Kontakt und in der Reibung der tausend und abertausend Arbeiter die Überzeugung, dass sich dieselben Elemente wieder zusammenfinden würden, noch stärker schwingend und noch mutiger, wenn es die Notwendigkeit erfordert. […] Ernste Stunden mögen kommen und dieser Antrieb der kompakten Massen wird sich in Demonstrationen von deutlicherer, kraftvollerer und entscheidenderer Tragweite übersetzen.«107

Pouget beschrieb die Demonstration im Aéro-Park als performativen Akt der körperpolitischen Selbstkonstitution der Arbeiterklasse, die den einzelnen Arbeiter in einer kohärenten Masse aufgehen ließ und ihn gleichsam vitalisierte. Sowohl die Teuerung als auch der Krieg setzten das (biologische) Überleben des einzelnen Arbeiters wie der gesamten Arbeiterklasse auf das Spiel. In der antimilitaristischen Propaganda spielte die Metaphorik des Schlachtens eine zentrale Rolle, die das vermeintliche Kriegsschicksal der Arbeiter mit der Produktion des Hauptnahrungsmittels der Industriearbeiter verknüpfte: dem Fleisch. So notierte »ein Heimatloser« in einem in Guerre sociale erschienenen Kommentar der Marineparade in Brest Anfang September 1911: »Die Lebensmittelteuerung, die Mieterhöhung, die Arbeitslosigkeit, die Säbelschläge und Gewehrschüsse während der Streiks, die nachfolgenden Festnahmen, das alles verblasst vor solcher Glückseligkeit. Armes Volk Frankreichs! […] Du krepierst vor Hunger! Aber freue Dich! […] Man will unsere Haut. Nun gut, die muss man erstmal kriegen. Das Vieh wird schon unruhig und beißt um sich, weil es hungert. Was wird das erst geben, wenn man es zum Schlachthof führen möchte.«108

106 Mit evolutionistischem Einschlag (die Großen »fressen« die Kleinen) siehe Compère-­ Morel, Monopoles. 107 Pouget, Mobilisation, S. 2. Pouget knüpfte an diese deutlich von massenpsychologischen Theorien geprägte Beschreibung der Kundgebung noch eine Überlegung zur Funktionsbestimmung der CGT als »Regulator« des Protests an, siehe ebd. 108 Un sans-patrie, Les affamés et la Revue navale, in: Guerre Sociale 5/36 v. 6.9.1911, S. 1.

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In ihrem gemeinsamen Aufruf zur Kundgebung im Aéro-Park vom 21. September 1911 an die »Hand- und Kopfarbeiter, Frauen, Familienmütter und Hausfrauen« schrieben die Gewerkschafter André Savoie und François Marie (beide CGT): »Die Demonstration wird durch ihre schiere Größe ein förmlicher Beweis unseres Willens sein, dem Kriegsgemetzel [carnage guerrier] von morgen Einhalt zu gebieten. Die Haie des Kapitals, der Finanz und des Agio, die dieses Verbrechen vorbereiten, sind dieselben, die mit dem Elend handeln, indem sie auf Nahrungsmittel spekulieren. Sie machen sich wenig aus der Haut, aus dem Leben der Arbeiter, wenn ihre eigenen Klasseninteressen auf dem Spiel stehen.«109

Die Demonstration sollte Louis Dubreuilh, Pierre Renaudel und Armand Roussel (SFIO) zufolge den »Unternehmensverbänden zu denken geben, die bereit sind, die Haut der französischen Proletarier ihren Spekulationen zu opfern«; das französische Proletariat, das »mit dem internationalen Proletariat solidarisch« sei, werde seinen Regierenden zeigen, »dass mit ihm für das Massaker nicht zu rechnen« sei.110 Savoie und Marie warnten die Regierung, dass »die ausgebeuteten Produzenten keineswegs entschlossen« seien, »ihr Leben für Interessen zu opfern, die für sie den Hungertod [famine]« bedeuteten, dass »Frauen, dass Mütter einen absoluten Horror vor dem Krieg mit seinen Mordszenen, seinen Leiden, seiner Trauer« hätten; und dass die Arbeiter »genug haben von der Teuerung, der blindwütigen Repression und ihrer Krönung durch den bevorstehenden Krieg«.111 Und schließlich, als die Demonstration kurz bevorstand, schrieb Louis Dubreuilh in einem Leitartikel für Humanité, dass die Pariser Arbeiterbevölkerung »den Regierenden zeigt, dass die Zeiten vorbei sind, da sie wie das arme Vieh von ihren Herren zum Schlachthof geführt werden konnte«.112 Die bürgerliche Tagespresse zog im Verein mit den Polizei- und Armeetruppen sowie der Strafverfolgung eindeutige Grenzen für die Akzeptanz des Protestverhaltens. Die Frage der Legitimität der Protestgewalt spaltete der Tendenz nach die Arbeiterbewegung, insofern gerade Vertreter des reformistischen Flügels sie mehr oder weniger scharf verurteilten, während anarchistische Gewerkschafter sie ausdrücklich begrüßten. Einen bemerkenswerten Status hatte der Begriff »Sabotage« zur Bezeichnung der Protestaktionen: Diente er der bürgerlichen Presse vor allem zur Verurteilung sinnloser Zerstörung, konstituierten sich Käuferinnen mit der Verwendung dieses Wortes zur Bezeichnung ihres Verhaltens als politische Subjekte in der Marktsphäre. Diese mit der Protestgewalt verknüpfte Selbstermächtigung ist in der Arbeiterbewegung schließlich selbst dort zu erkennen, wo sie eigentlich verurteilt wurde: in der Annäherung

109 Savoie u. Marie, Contre, S. 2. 110 Dubreuilh u. a., S. 1. 111 Savoie u. Marie, CGT, S. 1. 112 Dubreuilh, Protestation S. 1.

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von Teuerungsprotest und Antimilitarismus durch die Arbeiterorganisationen, die sich den Schutz und die Förderung des (Über-)Lebens der Arbeiterbevölkerung auf die Fahnen geschrieben hatten.

2. Die diskursive Konstruktion der Teuerung: Ursachen und Gegenmaßnahmen in der öffentlichen Debatte, 1909–1913 Die öffentliche Diskussion über die Lebensmittelteuerung setzte freilich nicht erst mit den Protesten Ende August 1911 ein. Bereits fast genau ein Jahr zuvor, am 17. August 1910,113 begann Maxence Roldes mit der Publikation einer Serie von Artikeln über die steigenden Lebenshaltungskosten in L’Humanité, in denen er die Preissteigerung einiger Grundnahrungsmittel wie Zucker,114 Brot115 und Kartoffeln116 analysierte und die großen Handelsverbände,117 Börsengeschäfte118 sowie die untätige Regierung119 verantwortlich machte. In diesem Zusammenhang entsandte die PSU eine Delegation zur Nationalversammlung, um sich für die Aufhebung der Einfuhrzölle einzusetzen und sich darüber zu informieren, was die Regierung gegen die Teuerung zu unternehmen gedachte.120 Nach diesem Auftakt veranstaltete die CGT in Paris erste Kundgebungen über die Teuerung121 und begann am 1.  September 1910 mit einer Kampagne, der sich bald auch die PSU und die Bourse des coopératives socialistes (BCS) anschlossen.122 Für diese führenden Organe der Arbeiterbewegung hatte das Thema eine zentrale strategische Bedeutung. So hielt Louis Dubreuilh die Kampagne deshalb für aussichtsreich, weil sie »für die Massen nicht abstrakt« blieb, sondern sie in ihren konkreten Sorgen berührte.123 Neben Roldes’ utopischen Ausführungen über die Lebensumstände in einer postrevolutionären Gesellschaft124 erschienen deshalb immer mehr Artikel von Vertretern der sozialistischen Konsumgenossenschaften, die das Thema Teuerung von seiner 113 Roldes, Prix, S. 1. 114 Roldes, Sucriers, S. 1; vgl. auch bereits: L’accaparement du Sucre, in: L’Humanité v. 30.3.1910, S. 1. 115 Méline Pain-Cher, in: L’Humanité (2318) v. 22.8.1910, S. 1; Roldes, Consommateurs contre intermédiaires; ders., Vente du pain. Seine Kritik am Geschäftsgebaren der Bäcker erregte allerdings den Widerspruch des Generalsekretärs der Bäckereiarbeitergewerkschaft Bousquet, siehe Roldes, Propos. 116 Ders., Pomme. 117 Ders., Meunerie, S. 1. 118 Ders., Spéculation, S. 1. 119 La mesure nécessaire, in: L’Humanité (2319) v. 23.8.1910, S. 2. 120 Groupe socialiste au Parlement, in: L’Humanité (2317) v. 21.8.1910, S. 1. 121 Union des syndicats de la Seine. Les Affameurs, in: L’Humanité (2317) v. 21.8.1910, S. 1. 122 Le Prix de la vie. Aux ouvriers. Aux consommateurs, in: L’Humanité (2328) v. 1.9.1910, S. 2. 123 Dubreuilh, Campagne, S. 1. 124 Celle qui vient, in: L’Humanité (2320) v. 24.8.1910, S. 1.

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praktischen Seite angingen. P. Quignon etwa, der Vorsitzende der Kooperative La Persévérante in Paris-Belleville stellte die Vorteile der genossenschaftlichen Organisation des Lebensmitteleinkaufs vor.125 An praktische Beispiele anknüpfend entwickelten Genossenschaftler das Konzept des politischen Konsumenten, der »Konsumentenmacht« (puissance du consommateur), erläuterten Widerstandsformen und riefen zu Boykotten auf.126 In diesem Sinn appellierte L’Humanité am 2. September 1911 an Arbeiter und Verbraucher: »Verbraucher, kümmere Dich selbst um Deine Interessen! Boykottiere die verteuerten Produkte!«127 In der Folgezeit organisierten PSU, BCS und CGT gemeinsam eine Reihe von lokalen Veranstaltungen, auf denen Preise diskutiert und Boykottaktionen beschlossen wurden.128 Allerdings scheinen diese in ihrer Wirkung begrenzt gewesen zu sein. Die Führung der Arbeiterorganisationen konnten sich offenbar weder auf den Umfang der Boykottaktionen noch auf die zu boykottierenden Produkte einigen.129 Während die Kampagne der Arbeiterbewegung im Oktober 1910 auslief, griffen andere Zeitungen und Gruppierungen130 das Thema auf. Bereits im Winter 1910/1911 alarmierten einige marktnahe Blätter die Öffentlichkeit über eine bevorstehende »Fleischkrise«.131 Während und nach den Protesten des Spätjahres 1911 lebte diese Diskussion nicht nur auf, sondern gewann erheblich an Intensität. Sie statteten das Thema mit einer besonderen Dringlichkeit aus und setzte es auf die Tagesordnung der politischen Institutionen. »Der Anstieg der Lebenshaltungskosten hat viele Aspekte und stellt vor unterschiedliche Probleme politischer, fiskalischer, ökonomischer und sozialer Natur«, kommentierte etwa ein Redakteur der Zeitung Radical, des Organs der regierenden Radikal-Sozialisten am 4. September 1911. »Es muss auf der Liste der Anliegen unserer Staatsmänner und Parteimitglieder an erster Stelle stehen«.132 Die Debatte über die Ursachen der Protestbewegung, den Anstieg der Lebenshaltungskosten und über die angemessenen politischen 125 Quignon, S. 3. 126 Vgl. insbesondere den Artikel des Vorsitzenden der Bourses des coopératives socialistes Boudios, Consommateurs, S. 1; ders., Contre; Contre le renchérissement de la vie. Manifeste de l’union des restaurants coopératifs, in: L’Humanité (2337) v. 10.9.1910, S. 2; Henriet. 127 Le Prix de la vie. Aux ouvriers. Aux consommateurs, in: L’Humanité (2328) v. 1.9.1910, S. 2. 128 Contre le renchérissement de la vie, in: L’Humanité (2333) v. 6.9.1910, S. 1; Contre le renchérissement de la vie, in: L’Humanité (2334) v. 7.9.1910, S. 1; Contre le renchérissement de la vie, in: L’Humanité (2335) v. 8.9.1910, S. 2; Contre le renchérissement de la vie, in: L’Humanité (2336) v. 9.9.1910, S. 2; La cherté des vivres. Les Réunions, in: L’Humanité (2350) v. 23.9.1910, S. 3. 129 Roldes etwa sprach sich für einen Zuckerboykott aus, weil auf Zucker leicht verzichtet werden konnte, siehe ders., Sucre, S. 1; der Genossenschaftler Henriet plädierte dagegen für Alkohol und bezog sich dabei auf die erfolgreichen Brauereiboykotte in Deutschland, siehe Henriet. 130 Guyot, Faits, S. 354–371; Rollin, Prix, S. 380–382. 131 La crise de la viande, in Bulletin C. G. A. v. 21.11.1910; La crise de la viande en France et en Europe, in: Bulletin C. G. A. v. 1.12.1910. 132 R., La vie politique: problèmes économiques, in: Le Radical v. 4.9.1911.

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Mittel zur Lösung des Problems wurde zwar von der Tagespresse getragen, aber das Thema konstituierte ein breiteres Publikum. Es involvierte neben den Protestakteuren vor Ort und Organisationen der Arbeiterbewegung auch Expertenkreise, Verbände der Industrie, des Handels und der Landwirtschaft, politische Parteien sowie Gruppen der Sozialreform. Dieses heterogene Publikum thematisierte verschiedene Aspekte der Teuerungskrise und diskutierte über geeignete Maßnahmen zur Lösung des Problems. Dabei setzte es die Organisation der nationalen Lebensmittelmärkte grundlegender Kritik aus und politisierte nachhaltig ein ökonomisches Problem, das buchstäblich die »vitalen Interessen« der Nation berührte. In der Diskussion zeichnete sich nämlich eine Kontroverse über die regulierenden Funktionen des Staates ab. Die Frage ist deshalb über die Krise hinaus, welche Effekte die Teuerungsdebatte der Jahre 1910 bis 1912 auf die Rationalität »richtigen« republikanischen Regierens allgemein und mithin auf den seit der Jahrhundertwende entstehenden Wohlfahrtsstaat in Frankreich hatte.133 Die Breite der im Spätsommer 1911 einsetzenden, öffentlichen und landes­ weiten Debatte über die Teuerung ist in ihren zahlreichen Verzweigungen und Nebenschauplätzen kaum abschließend zu ermessen. Immerhin können einige wichtige Trägergruppen und -medien identifiziert werden. Allein Humanité publizierte im Verlauf des Septembers und Oktobers 1911 zahlreiche Ankündi­gun­ gen von Meetings, Kundgebungen und Informationsveranstaltungen lokaler und überregionaler Gruppierungen der sozialistischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung sowie der reformistischen bzw. sozialistischen Kooperativenbewegung, in Paris und anderen Landesteilen.134 Aus der Protestbewegung heraus konstituierten sich neue Gruppen wie etwa die Ligue économique de défense des intérêts de Brest et de la région, die ebenfalls Informationsveranstaltungen organisierten,135 auf denen oftmals sozialistische Abgeordnete oder Gewerkschaftssekretäre auftraten und Flugblätter und Plakate136 verbreiteten. Die intensive Tätigkeit dieser Aktivisten mag das Beispiel des ehemaligen Generalsekretärs der Bourse du Travail von Brest und aktuellen Generalsekretärs des CGT-Regionalverbands, Jean Roullier137 erhellen: Er allein nahm sich vor, die im Finistère gelegenen Städte Quimper, Douarnenez, Pont-L’Abbé, Guilvinec, Château133 Vgl. Rosanvallon, État; vgl. auch Ewald, État-Providence. 134 Vgl. hierzu eingehender Flonneau, S. 57 ff. 135 Siehe Aux ménagères, aux consommateurs! Réunion publique, in: Le cri du peuple socialiste (151) v. 16.9.1911, S. 3. 136 Siehe ADF 1M159: CGT: A la spéculation opposons le Boycottage – conférence publique et contradictoire par J. Roullier, secrétaire de l’Union Régionale des Syndicats. [für den 16.9.1911]. 137 Als Generalsekretär war Jean Roullier von den Genossen der Bourse du Travail im Jahr 1909 abgewählt worden, weil sich der Konflikt zwischen »vereinigten Sozialisten« (PSU) und Anarchosyndikalisten nicht hatte schlichten lassen – im Gegenteil: »Die beiden Delegierten beschimpfen Roullier als Feigling und Verräter. Aufgebracht griff sich dieser einen gläsernen Aschenbecher und warf ihn mit Wucht Guermeurs an den Kopf. An Nase und Stirn schwer verletzt musste dieser ins Krankenhaus gebracht werden.« Siehe AN CHAN 7 13602: Commissaire spécial, Bourse du Travail. Violents incidents au comité central, 11.7.1908, S. 1.

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lin, Pont­debuis, Concarneau, Morlaix, St. Pol de Léon, Roscoff, Carhaix, Scaër, L’Aber-Ildut, Moulin-Blanc, Rosporden und Brest zu bereisen – mit dem Fahrrad.138 Standpunkte der Konsumentenbewegung vertrat diesseits der Arbeiterbewegung auch die im Herbst 1911 noch junge Ligue nationale des consommateurs, die über eine eigene Zeitschrift verfügte139 und im weitesten Sinn dem sozial­ reformerischen Milieu zugeordnet werden kann. Dessen Zeitschrift Réforme sociale dokumentierte eine Diskussionsveranstaltung über die Konsumentenproteste der Société d’économie sociale von Ende 1911 und publizierte ausführlichere Analysen über die Teuerung – allerdings mit einiger Verzögerung.140 Auf der anderen Seite des Spektrums beteiligten sich Orts- und Regionalverbände landwirtschaftlicher Organisationen  – selbst aus dem algerischen Oran141 – im Verlauf des Spätsommers und Herbstes 1911 an der Diskussion, indem sie sich zu Beratungen trafen und Beschlüsse fassten, die anschließend publiziert und den Ministern zugestellt wurden.142 Landwirtschaftliche Wochenzeitschriften wie L’Agriculture nationale, agronomische Fachzeitschriften wie das Journal de l’Agriculture pratique und veterinärmedizinische Zeitschriften wie Semaine vétérinaire kommentierten das Geschehen ebenfalls, nahmen es in ihre Wochenrückblicke auf,143 publizierten Kommentare144 und widmeten 138 Dieses Programm hatte Roullier in einem an Guerre sociale gerichteten Telegramm genannt, dass von der Polizei mitgelesen worden war, siehe ADF 1M159: Commissaire spécial de Brest, an: Préfet du Finistère, Telegramm, 18.9.1911. Er kam freilich nur bis Concarneau, tauchte danach unter und wurde am 18.9.1911 im Bahnhof von Brest festgenommen, siehe ADF 1M159: Commissaire spécial de Brest, an: Préfet du Finistère, Telegramm, 19.9.1911. 139 Un crime de lèse-Consommation. La Hausse du blé, in: Le consommateur v. 1.5.1912. Zum Nach der Jahrhunderwende beginnenden Aktivismus der Verbraucherinnen und Verbraucher siehe Chessel; Chatriot u. Fontaine. 140 Société d’économie sociale: La vie chère et les grèves de consommateurs – discussion à laquelle ont pris part MM. Dufourmantelle, Charles Gide, du Maroussem, Fénétrier, Béchaux, Ambroise Rendu, de Marcillac, Daudé Bancel, Georges Blondel, in: La Réforme sociale 3 (1912) 1, S. 73–90; Mourre, S. 433–448. 141 AN CHAN F 12 7024: La cherté des vivres et la modification du régime douanier du bétail – vœu de M. Fabriès, 2.11.1911; Chambre d’agriculture d’Oran/délibération, 19.2.1911. 142 Siehe u. a. AN CHAN F 12 7027: Rolland, président de la société d’agriculture de l’arrondissement de Brest, cherté de la vie – vœu, 21.12.1911; Société d’agriculture du dept. de la Gironde, vœu, 8.11.1911; AN CHAN F 12 7024: comice agricole de l’arrondissement de Lille, Vœux émis et instamment recommandés à l’attention des représentatnts au parlement, 20.12.1911; président du comice agricole de Cambrai, vœux, 7.12.1911; Victor Papon, agriculteur à St. Jumien (Haute Vienne), an: MIC, 14.6.1911; Comice agricole de Cosne, in: Journal d’agriculture pratique 75 (1911), S. 336; La vie chère. Un vœu des Agriculteurs de l’Oise, in: L’agriculture nationale 16/46 v. 18.11.1911, S. 724–725. 143 Chronique agricole. La cherté de la viande, in: Journal d’agriculture pratique 75 (1911) 27, S. 5–6; Chronique agricole. La cherté des vivres, in: Journal d’agriculture pratique 75 (1911) 36, S. 289–290; Chronique agricole. La cherté des vivres, in: Journal d’agriculture pratique 75 (1911) 37, S. 321–322; Chronique agricole. La cherté des vivres, in: Journal d’agriculture pratique 75 (1911) 39, S. 394. 144 Chambon, S. 547; Chronique politique: La faillite de la République, in: L’agriculture nationale 16/38 v. 23.9.1911, S. 595; Entretiens économiques: La cherté des vivres, in: L’agricul-

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sich in eingehenden Analysen vor allem der Fleischteuerung.145 Viele weitere Verbände, Institutionen und Gruppierungen, aber auch einzelne Unternehmer, welche die Interessen der betroffenen Industrie- und Handelsbranchen vertraten, beteiligten sich mit Stellungnahmen, Denkschriften und Petitionen an der immer breiteren Kontroverse. Überliefert sind etwa Protokolle und Beschlussfassungen der Handelskammern von Paris,146 Rouen,147 Nîmes,148 Versailles149 oder des »Interessenvereins der Butterhändler in den Departements Nord und Pas de Calais«.150 Schließlich muss auf die freihändlerischen Ökonomen151 und das alte Flaggschiff der liberalen Nationalökonomie, das Journal des économistes, hingewiesen werden, das seit August 1910 durchgehend an der Diskussion über die Lebensmittelteuerung teilnahm.152 Die meisten Beobachter waren sich über die »Komplexität«153 des Problems, seine »Vielschichtigkeit« und die »Diversität der Ursachen«154 einig, bezeugten ihre »Ratlosigkeit«155 und betonten die Notwendigkeit eingehender Untersuchungen, um angemessene Lösungen zu finden.156 Ein grundlegendes Erture nationale 16/40 v. 7.10.1911, S. 627; Entretiens économiques: Comment remédier aux misères de l’agriculture ?, in: L’agriculture nationale 16/41 v. 14.10.1911, S. 643–644; JeanLouis, Entretiens économiques: La vie chère. Ne comptez pas sur le gouvernement pour y remédier. Soyons pratiques, in: L’agriculture nationale 16/44 v. 4.11.1911, S. 691; Marcillac, S. 708. 145 Moussu, Villette (I); ders., Villette (II); Rollin, Encore (I), S.  276–279; ders., Encore (II), S. 295–298; ders., Abaissement, S. 599; sowie: La crise de la viande, in: Semaine vétérinaire 26 (1911) 33, S. 387–388; Délibération du conseil des ministres sur la cherté de la vie, et en particulier sur la hausse de la viande, in: Semaine vétérinaire 26 (1911), 37, S. 435–436. 146 AN CHAN F 12 7027: Chambre de commerce de Paris, Cherté des vivres. Propositions de loi diverses tendant à la modification du tarif des douanes, 16.3.1912. 147 AN CHAN F 12 7027: Chambre de commerce de Rouen, Séance du samedi 11 novembre 1911: Rapport sur la situation industrielle et commerciale pendant le 3ème trimestre de 1911, 11.11.1911. 148 AN CHAN F 12 7027: Chambre de commerce de Nîmes, Introduction en France du bétail ovin en provenance de l’Espagne, 11.5.1911. 149 AN CHAN F 12 7027: Labierre, président de la chambre de commerce de Versailles, Viandes congelées ou frigorifiées, 9.11.1911. 150 AN CHAN F 12 7027: secrétaire général de l’association amicale des marchands de beurre du Nord et du Pas de Calais, an: Ministre du commerce et de l’industrie, 20.10.1911. 151 Discussion: La hausse des produits agricoles en France et à l’étranger, in: Bulletin de la Société d’économie politique (1911), S. 113–122. 152 Vgl. nur Guyot, Une industrie persécutée, S. 280–287; Paturel, S. 384–406; Guyot, La cherté et le protectionnisme, S. 1–31. 153 Les Troubles du Nord, in: Journal des débats politiques et littéraires (241) v. 1.9.1911, S. 1. 154 Versannes; La vie chère et les économistes. Interview avec M. Paul Leroy-Beaulieu, in: L’Intransigeant v. 12.10.1911. 155 Le prix de la vie va sans cesse augmentant. Le renchérissement est régulier depuis dix ans et s’accentuera encore, in: Le Siècle (27616) v. 1.9.1911, S. 2. 156 Dumont (député du Jura, vice-président du Comité exécutif du parti radical et radical-socialiste), La vie chère; Momméja, Enquêtes; Roldes, Prix; La politique: la cherté de la vie, in: Le Rappel v. 3.9.1911.

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kenntnismittel, das von nahezu allen Debattenteilnehmern bei der Analyse des vie chère-Problems verwendet wurde, war eine Unterscheidung zwischen »natürlichen«, »zufälligen« und »okkasionellen« Ursachen auf der einen Seite und »künstlichen«, »dauerhaften« auf der anderen. Der Gebrauch dieser Unterscheidung in der Analyse der Teuerung machte es dann möglich, eine Reihe an Bedingungen und Ursachen zu identifizieren, die von der Regierung, jedem einzelnen Bürger sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen beeinflusst werden konnten, um die Teuerung und den Anstieg der Lebenshaltungskosten zu dämpfen. »Die Regierung kann an den natürlichen Ursachen nichts ändern. Aber es ist ihre Pflicht, alle anderen zu bekämpfen«.157 Häufig bildeten die Analyse der Ursachen und die Ableitung der wirksamen Lösungen einen Verweisungszusammenhang, wobei sich die Ausgangspunkte jedoch unterschieden: Meist leitete entweder eine bestimmte Sicht des »richtigen« Regierens die Diskussion der Ursachen, oder aber eine vorgeblich »tatsachenorientierte«, »unparteiische« Diskussion der Ursachen führte zur Forderung bestimmter Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen, deren Implementierung wiederum »richtiges« Regieren auszeichnen würde. Die Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Ursachen, ihre unterschiedliche Verwendung und Kombination mit Maßnahmen zur Lösung des Problems ist deshalb zentral für den kontroversen Prozess, in dem eine angemessene wirtschaftspolitische Reaktion auf die Krise ausgearbeitet wurde. Je nachdem, wo diese Grenzen gezogen wurden, erweiterte oder verengte sich der Eingriffsbereich der Regierungspolitik, wurden Reformen in bestimmten Bereichen angeregt, während andere unangetastet blieben. Über einige natürliche Ursachen herrschte noch weitgehende Einigkeit. Überschwemmungen im Verlauf des Jahres 1910 und der trockene Sommer des Jahres 1911 hätten das Futter der Viehherden verteuert und dies, so die Argumentation, habe zu einem Anstieg nicht nur der Viehpreise, sondern der Preise nahezu aller landwirtschaftlichen Produkte geführt; zudem dezimierten Epizootien wie die Maul-und-Klauen-Seuche und die Kachexie in den Jahren 1910/1911 die »nationale Viehherde«, verringerten das Angebot und trieben so den Preis. Der unveränderliche, schicksalhafte Charakter der natürlichen Ur­ sachen konnte sich allerdings auch auf die Preisbildungsmechanismen selbst­ erstrecken. Liberale Kommentatoren etwa wiesen auf das »fatale Gesetz von Angebot und Nachfrage« hin, um die Teuerung zu erklären und das Problem als solches jeglichem Regierungseingriff zu entziehen.158 Die Liste der diskutierten künstlichen Ursachen war beträchtlich länger, verwirrender und um­ strittener. Ökonomen wie Charles Gide und Paul Leroy-Beaulieu führten zwar den Anstieg der globalen Goldproduktion und die damit einhergehende Inflation an. Dieser Aspekt spielte aber in der öffentlichen Diskussion nur eine un-

157 Sauzède (Herv. d. Vf.). 158 La vie chère, in: La Lanterne v. 2.11.1911.

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tergeordnete Rolle, zumal weder der französischen Regierung159 noch der Arbeiterbewegung160 hier Möglichkeiten der Einflussnahme eingeräumt wurden. Die Debatte über Teuerungsursachen und geeignete Gegenmaßnahmen gravitierte um zwei Zentren. Zum einen um die Frage, inwiefern die hohen Agrarimportzölle, ja die agrarprotektionistische Ausrichtung der Wirtschaftspolitik generell für die Teuerung (mit-)verantwortlich waren und deshalb aufgegeben werden sollten (a); und zum anderen um die Frage, welchen Beitrag die Ordnung des Binnenmarktes mit seinen Versorgungsnetzwerken und Vermarktungsweisen zum Preisauftrieb leistete und welche Reformen zur Senkung der Preise führen würden (b). (a) In wenigen der Leitartikel und ausführlichen Analysen fehlten Hinweise auf die protektionistischen Importzölle auf Getreide oder die sanitätspolizeilichen Bestimmungen für die Einfuhr von Schlachtvieh und Frischfleisch.161 Jenseits dieser bloßen Thematisierung der Zölle im Besonderen und des Agrarprotektionismus im Allgemeinen gingen die Stellungnahmen jedoch völlig auseinander und reaktivierten eine Kontroverse, die seit Beginn der 1890er Jahre immer wieder auflebte.162 Bereits in der Diskussion über die Weigerung der Regierung Jules Méline im Jahr 1896, angesichts der hohen Brotpreise die Getreideimportzölle zu senken, spielte der Zusammenhang zwischen Zollpolitik und Lebensmittelversorgung der Arbeiterbevölkerung eine zentrale Rolle.163 Auf der einen Seite des Spektrums galten die Zölle als »Sondersteuer«, die der Verbraucher beim Kauf von Grundnahrungsmitteln entrichtete. Das »mélinistische Regime«, wie der Sozialreformer Pierre du Maroussem es nannte,164 war deshalb aufzuheben oder zumindest anzupassen. »Die Lebensmittelteuerung ist zum Teil  künstlich und könnte durch die Senkung der Zolltarife erheblich abgemildert werden«,165 bemerkte Charles Gide. »Ohne Absenkung der Zolltarife […] braucht man kaum daran zu denken, die Lebensmittelkosten für die Konsumenten zu senken«,166 pflichtete die Redaktion der Revue politique et parlementaire bei. Der liberale Journalist Fernand Momméja, der einige seiner 1911 für Le Temps durchgeführten Recherchen zu Preisbildungsprozes159 La vie chère et les économistes. Interview avec M. Paul Leroy-Beaulieu, in: L’Intransigeant v. 12.10.1911. 160 Gaumont, S. 241. 161 Aus der Masse an Belegen aus dem gesamten Spektrum: Les Troubles du Nord, in: Journal des débats politiques et littéraires (241) v. 1.9.1911, S. 1; Courtes vues, in: Le Temps (18323) v. 1.9.1911, S.  1; Versannes; Lanessan, Education, S.  1; Lafitte, Crise, S.  1; Berry, Grave; Maurras; La crise alimentaire et les droits de douane, in: Le Rappel v. 9.9.1911; Choiral, S. 1; Dumont, Contre, S. 1. 162 Vgl. mit einem deutsch-französischen Vergleich: Aldenhoff-Hübinger, S.  132–196. Siehe auch Barral, P. 163 Vgl. Graux, S. 31–37; S. auch Gohier, Pacte, S. 201–272. 164 Du Maroussem, Vie chère, S. 726. 165 Gide, Consommateurs, S. 167. 166 La cherté de la vie et la proposition de loi sur les abattoirs publics, Paris 1911, S. 7.

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sen im Lebensmittelmarkt im Jahr 1912 als Monographie veröffentlichte, stellte nach einer eingehenden Diskussion ebenfalls fest: »Die Hauptursache [für die Teuerung, d. Vf.] ist der zum Schutz der Landwirtschaft eingerichtete Zolltarif, der die Verbraucher über Gebühr belastet«.167 Die Sozialisten hieben in dieselbe Kerbe, so Maxence Roldes bereits in seinen Beiträgen in L’Humanité zur Kampagne im Spätsommer 1910: »Die einzig wirksame Maßnahme: Senkung oder vorübergehende Aufhebung der Zolltarife«.168 Fundamentalkritik an der Zollpolitik war schließlich auch ein traditionelles Thema der freihändlerischen Ökonomen. Dem »protektionistischen Wahnsinn«169 müsse Einhalt geboten werden, forderte Le Temps. Am 5. September 1911 veröffentlichte die Ligue du libre-échange in Paris einen antiprotektionistischen Rundbrief. Darin verglich ihr Vorsitzender, der ehemalige Minister für öffentliche Bauten Yves Guyot, die Situation des Jahres 1911 mit der des Ancien Regime und forderte die Aufhebung des protektionistischen Zollregimes: »Protektionistische Politik hat zur aktuellen Teuerung beigetragen und sie wird die hohen Preise weiterhin stützen. Wenn die Regierung ihren Protektionismus nicht aufzugeben bereit ist, muss sie ihre Ohnmacht offen eingestehen«.170 Vor diesem Hintergrund argumentierten Akteure am anderen Ende des Spektrums eher defensiv. Für den Abgeordneten des Departements Doubs, Marc Réville, etwa lag auf der Hand, dass »Teuerungen von Preisverfall gefolgt werden, in dem die französische Landwirtschaft den Tod riskiert, wenn sie nicht durch kluge Schutzbestimmungen vor ausländischen Importen verteidigt«171 würde. Deshalb forderte er rundweg: »Rühren Sie die Zolltarife nicht an!«172 Méline selbst, nun Senator der Vogesen, griff immer wieder in die Debatte ein, um die Regierung an ihre Schutzpflicht gegenüber den Landwirten zu erinnern, die unter den widrigen Wetterbedingungen litten.173 Und Gustave de Lamarzelle schließlich, Senator des bretonischen Departements Morbihan, koppelte den Fortbestand agrarprotektionistischer Maßnahmen an die Existenz protektionistischer Politik insgesamt: »Die Forderungen der Freihändler können nicht erfüllt werden. Nicht nur die Landwirtschaft wird in Frankreich geschützt, sondern ausnahmslos alle Industrien. […] Wenn die Protektion der Landwirtschaft fällt, dann fällt unweigerlich das gesamte System des französischen Protektionismus«.174 167 Momméja, Enquêtes, S. 262. Ausführlich dazu auch ebd., S. 225–234 und mit besonderem Fokus auf den Folgen des protektionistischen Zollregimes für die Arbeiterhaushalte, S. 1–11. 168 Roldes, Prix, S. 1; so auch Henriet. 169 La grève des consommateurs, in: Le Temps (18320) v. 29.8.1911, S. 1. 170 Guyot, Circulaire, 476–478. Yves Guyot war Ende der 1880er Jahre kurzzeitig Minister für öffentliche Bauten und trat seither in der Öffentlichkeit für freihändlerische Prinzipien – insbesondere auch in Bäckereifragen – ein. 171 Réville (député du Doubs), Droits, S. 1. 172 Ebd. 173 Méline, Vérité, S. 232–234; ders., La cherté. 174 Lamarzelle, S. 1.

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Zwischen den beiden Extrempositionen  – Aufhebung der Zollbestimmungen für Getreide, Vieh und Fleisch auf der einen, Bewahrung und Verteidigung des status quo auf der anderen Seite – gab es Wortmeldungen und Reformvorschläge, die einen Weg in der Vermittlung suchten.175 Zwar gingen diese Akteure davon aus, dass die Importbeschränkungen zur Teuerung beitrugen, sie akzeptierten aber zugleich pragmatisch die aufgrund ihrer Machtposition nicht zu umgehende Ablehnung der Agrarier. Das Beispiel des von dem radikalen Abgeordneten Jules Siegfried Anfang November 1911 in die Nationalversammlung eingebrachten Gesetzesvorschlags mag dies verdeutlichen. »Die wirkliche Ursache der aktuellen Krise«, stellte Siegfried in seiner Begründung klar, »die grundlegende und dauerhafte Ursache […] ist das ökonomische Regime, das durch oft übertriebene Schutzzölle die regulierende Wirkung der internationalen Märkte lähmt.« Aber, fügte er sogleich hinzu – und dies klang wie ein Echo auf de Lamarzelles Warnung: »Ich werde hier weder dem Protektionismus den Prozess machen noch mich auf eine Prinzipiendiskussion einlassen. In dem Augenblick, in dem Frankreich den Protektionismus akzeptiert hat, muss er auf alle Branchen der nationalen Arbeit angewandt werden: Landwirtschaft, Industrie, Handel. Ich akzeptiere also unser Zollsystem, solange es auf vernünftigen und gerechten Grundlagen beruht«.176

Unter der vorsichtigen Maßgabe, »den Verbrauchern Fleisch mittlerer Qualität zu wenig erhöhten Preisen« liefern zu können, sah Siegfrieds Gesetzesvorschlag vor: Erstens – wie zahlreiche andere Kommentatoren – die Senkung der Kornzölle von sieben auf vier Francs/100kg; zweitens die Aufhebung der sanitätspolizeilichen Bestimmungen bezüglich der Fleischinspektion beim Zoll – »schikanöse Vorschriften«, »Verwaltungsschikanen«, die »Importeure entmutigen«,177 und drittens die Unterstützung von Stadtverwaltungen, Handelskammern und privaten Unternehmern beim Aufbau von Kühlhäusern, von denen er »eine vollständige Transformation der allgemeinen Versorgungsbedingungen«178 erwartete. Doch selbst diese Kompromissposition fand nicht die nötige Mehrheit. Je länger die Krise dauerte, desto schärfer traten in den Stellungnahmen die sich überlagernden Gegensätze und Spannungen hervor, welche die französische Gesellschaft in der Belle Époque durchzogen.179 Die Protestbewegung, in deren Verlauf Frauen aus der urbanisierten Arbeiterbevölkerung industrieller Zentren Kleinbäuerinnen und -bauern angingen, die mehrmals in der Woche aus der Umgebung auf die Märkte reisten, um ihre eigenen Produkte zu verkaufen, schien diese Spannungen nicht nur offen zu legen, sondern zu vertiefen. Zugleich 175 La politique: la cherté de la vie, in: Le Rappel v. 3.9.1911. 176 AN CHAN F 12 7024: Jules Siegfried (chambre des députés), N° 1309 – Proposition de loi ayant pour but de remédier à la cherté des denrées alimentaires et principalement de la viande (renvoyée à la commission des douanes), 9.11.1911, S. 1. 177 Ebd., S. 8. 178 Ebd. 179 Vgl. Fridenson, S. 351–453.

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konnte es vorkommen, dass die Handelskammer180 und der Landwirtschaftsverein181 von Cambrai (Nord) in der Zollproblematik vollkommen gegensätzliche Beschlüsse fassten – und so die generell gegensätzlichen Stellungnahmen von Handelskammern und Fachverbänden der Lebensmittelindustrie und -vermarktung wie etwa der Fleischer182 und Metzger183 auf der einen, von Landwirtschaftsverbänden auf der anderen Seite auf engem Raum artikulierten. Der Vorstand der Handelskammer von Bourges bediente sich Anfang November 1911 eines evolutionstheoretischen Schlagwortes, um die Schärfe der Konflikte auf den Punkt zu bringen: »Der Struggle for Life ist nicht mehr länger eine bloß imaginäre Figur oder ökonomische Formel. Um einfach nur leben zu können, braucht es heute Anstrengungen und Ausgaben, die frühere Generationen nie gekannt haben«.184

Unterschwellig ist diese sozialdarwinistische Lesart auch in sozialistischen Beschreibungen der Konflikte greifbar, so etwa in Compère-Morels Analyse der Monopolentstehung im Lebensmittelmarkt: »Nachdem sie die Kleinen verschlungen haben, werden nun die Mittleren ihrerseits von den Großen eliminiert, die sich wiederum nach einem heftigen Kampf miteinander einigen, um gemeinsam den Produzenten ihre Raubtierbedingungen [conditions léonines] zu oktroyieren«.185

Die sozialdarwinistische Interpretation der gesellschaftlichen und ökonomischen Konflikte als Überlebenskampf forderte angesichts der Protestbewegung das solidaristische Gesellschafts- und Politikverständnis führender Republikaner heraus. Eine der einprägsamsten solidaristischen Analysen stammt von dem Radikalsozialisten und ehemaligen Arbeitsminister Joseph Paul-­Boncour. Dieser ging von einer »positiven Interdependenz« zwischen den Sozialreformen, dem Anstieg der Kaufkraft des urbanen Arbeiters und den Einkünften der Landwirte aus. Da beide wegen dieser »grundlegenden Solidarität« voneinander abhängig wären, sei die Entfremdung zwischen ihnen lediglich vorübergehend. Doch zeige sich in den Unruhen ein »Triumph des Materialismus über die Politik«, der die Wirkung der sozialpolitischen Maßnahmen auf die »länd180 AN CHAN F 12 7024: Chambre du commerce de Cambrai, Extrait du registre aux délibérations, 15.2.1912. 181 AN CHAN F 12 7024: comice agricole de l’arrondissement de Cambrai, Vœu émis en assemblée ordinaire le 24 novembre 1911. 182 AN CHAN F 12 7024: Lefèvre, président du syndicat de la boucherie de Paris et du dé­ partement de la seine, an: ministre du commerce de l’industrie, [pétition en faveur de l’importation], 29.5.1911. 183 AN CHAN F 12 7025: Fédération des syndicats de charcutiers de France, Résumés des vœus émis par les Congrès de la Fédération et renouvelés par l’Assemblée générale tenue les 10 et 11 avril 1911, Paris. 184 AN CHAN F 12 7024: Albert Hervet, président de la chambre de commerce de Bourges, La cherté des vivres et les mesures proposées pour y porter remède, 7.11.1911, S. 1 (Herv. i. O.). 185 Compère-Morel, Monopoles, S. 1.

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lichen Massen« hinauszögere und deshalb »ein Risiko für die Sozialpolitik der Republik« darstelle. Es sei Aufgabe der Regierung, so Paul-Boncours Schlussfolgerung, die Massen die »ökonomische Wahrheit« ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und unhintergehbaren Verbundenheit zu lehren und die »tatsächliche Solidarität der Interessen« zwischen Landwirten und Arbeitern, ländlichen und urbanen Gegenden wieder herzustellen.186 Man kann also festhalten, dass der Agrarprotektionismus zwar als Ursache für den Preisanstieg heftig kritisiert wurde, dem Raum der wirtschaftspolitischen Reformlösungen jedoch entzogen blieb  – dies allerdings nicht nur aufgrund der beherrschenden Machtposition der agrarischen Abgeordneten. Denn wie die zitierten Einlassungen von führenden republikanischen Abgeordneten zeigen, hatte sich bereits ein wesentlich breiteres Verständnis von protektionistischen Staatsaufgaben durchgesetzt, das nicht nur die landwirtschaftliche Produktion, Industrie und Handel betraf, sondern sich auch in der um 1900 einsetzenden Sozialgesetzgebung manifestierte. Die Lösung für das Teuerungsproblem konnte folglich nur auf der Grundlage dieses veränderten Staatsverständnisses gefunden werden.187 Freilich stimmten Freihändler, Radikalsozialisten, liberale Ökonomen188 und Statistiker189 oftmals in der Einschätzung überein, dass es zwischen den von der CGT erkämpften Lohnerhöhungen, den neuen Sozialgesetzen, den gestiegenen Produktionskosten und der Lebensmittelteuerung zumindest in einzelnen Branchen einen ursächlichen Zusammenhang geben könnte.190 Die Durchsicht des umfangreichen Materials hat allerdings keine Anhaltspunkte dafür geliefert, dass dies zu Forderungen nach der Aufhebung der Sozialgesetze geführt hätte. Dennoch sind in der Diskussion Zweifel und Verunsicherung über die mit diesen Gesetzen verknüpften gesellschaftlichen Prozesse greifbar. »Haben wir gegen ein grundlegendes soziologisches Gesetz verstoßen?«, fragte etwa Léon Bailby, Herausgeber der nationalistischen Tageszeitung L’Intransigeant. »Vieles spricht dafür, aber selbst unsere prominentesten Ökonomen wissen es nicht genau zu sagen.«191 Und tatsächlich stellte einer dieser prominenten Ökonomen, Paul Leroy-Beaulieu in einem Interview fest: »Wir sind heute anspruchsvoller, wir leben nicht mehr so einfach wie noch vor einem halben Jahrhundert. Selbst in der Arbeiterklasse werden heute höhere Ansprüche an das Leben gestellt, wird ein gewisses Niveau an Komfort und Wohlstand als unabdingbar betrachtet und dieses Niveau steigt von Tag zu Tag. In gewissem Sinn ist es der soziale Fortschritt selbst, der die Lebenshaltung so verteuert hat«.192 186 Paul-Boncour, S. 1. 187 Vgl. für die argumentative Ausweitung Roldes, Appels. 188 Siehe besonders Watelet; Charbin. 189 Siehe vor allem March und Levasseur. 190 Siehe auch Momméja, Crise, S. 3; ders., Enquêtes, S. 14–54. 191 Bailby, S. 1. 192 La vie chère et les économistes. Interview avec M. Paul Leroy-Beaulieu, in: L’Intransigeant v. 12.10.1911.

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Auch der Sozialreformer Pierre du Maroussem formulierte diese Einsicht in einem Abendvortrag am 13.  November 1911 vor Mitgliedern des Reformvereins Musée social. »Ein gewisser Geschmack am Komfort, eine durch wissenschaftliche Entdeckungen angestachelte Neugier und die Beschleunigung des Verkehrs haben Ausgaben verzehnfacht, die in den Haushaltsbudgets vor fünfzig oder zwanzig Jahren noch in einem embryonalen Stadium waren«, erklärte er. Allerdings solle sich niemand über diese Entwicklung beklagen, ermahnte er sein bürgerliches Publikum. »Denken Sie nach, meine Herren! Sie werden feststellen, dass an diesen Überlegungen des Arbeiters nichts auszusetzen ist – es sind Ihre eigenen«.193 Im Verlauf der Teuerungsdebatte zeichnete sich also auch eine Krise des zwar von allen Seiten kritisierten, de facto jedoch nicht mehr hintergehbaren Wohlfahrtsstaats ab, dessen Ziel im Schutz, in der Förderung und in der Regulierung »vitaler Prozesse« der Bevölkerung bestand.194 (b) Über eine zweite Ursache für die Teuerung wurde fast ebenso heftig gestritten wie über den Agrarprotektionismus: die Ordnung des nationalen Binnenmarktes für Grundnahrungsmittel, seine Bezugs- und Versorgungsnetzwerke, Vermarktungswege und Handelsgepflogenheiten. Momméja kam bei seinen Recherchen zu Einsichten, die breit geteilt wurden: »Die Dinge scheinen mit Absicht durcheinander gebracht worden zu sein, niemand sieht in diesem Handel wirklich klar«,195 stellte er in einer Untersuchung über den nationalen Viehund Fleischmarkt fest. Die Ware gehe durch viel zu viele Hände, bevor sie auf den Tisch des Konsumenten gelange: »Betrachten wir den Fall eines Grundnahrungsmittels, den Fall des Fleisches: Sein Preis steigt auf dem Weg von Nevers nach Paris um 73 %. Das ist enorm! Und es ist klar, dass mit einem Handelssystem etwas nicht stimmen kann, das zu einer solchen Unterdrückung des Konsumenten führt«.196 Die gesamte Diskussion über den Lebensmittelhandel war mit denunziatorischen und moralisierenden Begriffen durchsetzt, die aus der Geschichte des Teuerungsprotests sattsam bekannt sind. Insbesondere in den Zeitungsbeiträgen, Vorträgen und Aufrufen der Gewerkschafter und Sozialisten nahm die Polemik gegen die »Agio-Banditen«,197 die »schändliche Spekulation des Aufkäufers«,198 die »schändliche Spekulation schamloser Aufkäufer«199 bzw. die »kriminellen Machenschaften der Agiotage«200 großen Raum ein. CGT-Gene­ ralsekretär Jouhaux erklärte in Rennes dem Publikum, dass »Aufkäufer Indivi­ 193 Du Maroussem, Vie chère, S. 725. 194 Rosanvallon, État, S. 184–225. 195 Momméja, Enquêtes, S. 79. 196 Ebd., S. 90 f. 197 Lauche, S. 1. 198 Javary, S. 1. 199 Fédération nationale de l’Alimentation, in: L’Humanité (2720) v. 28.9.1911, S. 1. 200 La critique des intéressés, in: La Lanterne v. 16.6.1912.

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duen sind, die sich aller Waren bemächtigen, die sie bekommen können, um die Kurse nach ihrem Willen ändern zu können«;201 Louis Dubreuilh warnte im Herbst 1911 in L’Humanité, dass »Spekulanten und Aufkäufer die Erlaubnis besitzen, im nächsten Winter die Bevölkerung auszuhungern«,202 und der Gewerkschaftsverband des Departements Seine fragte: »Wo ist die Ursache? Wer ist verantwortlich? Die Aufkäufer, freibeuterischen Spekulanten und fetten Lebensmittelhändler«;203 ein Beschluss des Gewerkschaftsverbands Seine-et-Oise »empörte« sich »gegen die fetten Zwischenhändler, Aufkäufer und Agioteure, die das Volk aushungern«;204 und im Herbst 1911 berichtete L’Humanité über die Proteste »gegen skrupellose Aufkäufer und viel zu gierige Zwischenhändler«.205 Die gemeinsame Kampagne von CGT und BCS im Herbst 1910 sollte die »Arbeitermassen über die kriminellen Spekulationen der Aufkäufer« aufklären und sie in die Lage versetzen, »energische Maßnahmen zu ergreifen«.206 Georges Boudios, Vorsitzender der BCS, räumte freimütig ein: »Meiner Ansicht nach sind alle Mittel geeignet, gegen die Aufkäufer vorzugehen«.207 Einige Monate zuvor hatte L’Humanité zudem daran erinnert, dass »das Volk die Aufkäufer vor 120 Jahren an Laternen aufhängte«.208 Auch wenn diese Polemik zur Mobilisierung der Arbeiterschaft eingesetzt wurde, beriefen sich nicht nur die Arbeiterführer auf eine begriffliche Tradition, die bis in die Zeit der Französischen Revolution zurückreichte.209 Im Gegenteil: In der Fokussierung des Zwischenhandels, des Börsenhandels und ihrer Praktiken bildete sich eine vor dem Hintergrund der gesamten Debatte unwahrscheinliche Allianz zwischen konservativen Agrariern aus ländlichen Gegenden einerseits und urbanen, revolutionären Gewerkschaftern andererseits. Der bereits zitierte konservative Abgeordnete Réville hielt die Projekte zur Einführung von Kühltechnik für ein »von Spekulanten lanciertes Projekt«.210 Bezeichnenderweise Bezug nehmend auf protektionistische Argumente stellte ein Kommentator der katholischen Tageszeitung La Croix fest: »Auch die Machenschaften der Spekulanten und Aufkäufer sind nur Unfälle. Unfälle, die seltener und weniger desaströs wären, wenn diese schuldigen Machenschaften bei unseren Politikern nicht auf so große Nachsicht stießen«.211 »Heute haben wir Preise 201 Rennes: Contre la vie chère. Plus de 4000 personnes entendent le citoyen Jouhaux discuter sur ce sujet, in: L’Ouest-Éclair (4612) v. 9.9.1911, S. 5. 202 Dubreuilh, Campagne, S. 1. 203 Union des syndicats de la Seine, Les Affameurs, in: L’Humanité (2317) v. 21.8.1910, S. 1. 204 Choiral. 205 Le mouvement s’étend encore. Partout on proteste contre les accapareurs sans scrupules et les intermédiaires trop avides, in: L’Humanité (2703) v. 11.9.1911, S. 1. 206 La vie chère. Le Parti socialiste et la Bourse des coopératives socialistes de France ont décidé une action parallèle, in: L’Humanité (2345) v. 18.9.1910, S. 1. 207 Boudios, Prix, S. 1. 208 L’accparement du Sucre, in: L’Humanité v. 30.3.1910, S. 1. 209 Vgl. zum Folgenden: Stanziani, Spéculation, S. 275–288; konzeptionell anregend: Stäheli. 210 Réville (député du Doubs), Droits, S. 1. 211 Cyr, Politique, S. 1.

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wie in einer Hungersnot«, notierte der Exkommunarde Maxime ­Vuillaume in der Zeitung L’Aurore. »Wer kann schon sagen, ob die Zwischenhändler, diese Aufkäufer, nicht von der schlechten Ernte profitieren und ihre Profite in die Höhe treiben wollen?«212 Der konservative Republikaner Albert Sauzède merkte in der Tageszeitung L’Action an: »Es ist offensichtlich, dass die Teuerung hauptsächlich auf die viel zu hohe Zahl an Zwischenhändlern zurückzuführen ist. Die Mechanisierung beinhaltete einst das Versprechen, die Lebenshaltungskosten zu senken. Die Gier der Parasiten hat diesen Traum zerstört«.213 In ähnlichen Worten kritisierte der antisemitische Schriftsteller und Anarchist Urbain Gohier den »Schwarm maßlos gieriger Zwischenhändler«.214 Gegenüber dieser Polemik gerieten die Liberalen in die Defensive. Vorsichtig wandten einige Kommentatoren ein, dass »die Spekulanten nicht die einzigen Urheber der Krise«215 seien, dass man »in den Aufkäufern nicht die Haupt­ ursache für die Teuerung sehen« könnte.216 »Der Kapitalist wird als Feind denunziert«, klagte Le Temps Ende September 1911. »Die natürlichsten Bewegungen des Handels werden als Verhängnis betrachtet. Der Versorgungshändler par excellence, der Terminhändler, wird als Aufkäufer beschimpft. Der Spekulation, d. h. der Kunst des Kaufens und Verkaufens, wird grundsätzlich misstraut. Nieder mit den Zwischenhändlern! Das ist der Kampfschrei der armen Fanatiker.«217 Freilich gab es neben den schlichten Denunziationen auch ernsthafte Versuche, einzelne Märkte, Handelsnetze und Versorgungswege zu untersuchen und die Preisbildungsmechanismen zu verstehen. Albert Dulac, ein sozialistischer Agronom und Autor einer weithin beworbenen Untersuchung der landwirtschaftlichen Preisbildungsprozesse,218 gab in der Monatszeitschrift Revue socialiste folgendes Beispiel: »Ein Mastbulle wird von seinem Besitzer in die benachbarte Stadt gebracht und an einen Viehhändler verkauft: erster Handel, gegenseitig akzeptierter Preis. Der Viehhändler transportiert das Tier, sagen wir, nach Paris. In La Villette sucht er eine weitere, dritte Art Händler auf. Der Mastbulle wird erneut verkauft: zweites Geschäft, entsprechender Preis. Die chevillards, die Käufer des Großmarktes in La Villette, lassen den Mastbullen schlachten und verkaufen Viertelteile des geschlachteten Mastbullen an die Fleischer: drittes Geschäft. Die Fleischer schließlich zerlegen diese Viertel und verkaufen die Stücke an ihre Kundschaft: viertes Geschäft. Im Verlauf dieses Weges hat sich der ursprüngliche Preis des Mastbullen mindestens verdoppelt«.219 212 Vuillaume, S. 1. 213 Sauzède. 214 Gohier, Vie chère, S. 1. 215 R., La vie politique: problèmes économiques, in: Le Radical v. 4.9.1911. 216 Contre la vie chère. Le calme renait, in: La Lanterne v. 20.9.1911; siehe ganz ähnlich Massé: »les intermédiaires ne sont pas, par leurs agissements, la seule cause de l’augmentation«. 217 Une nouvelle menace socialiste, in: Le Temps (18342) v. 20.9.1911, S. 1. 218 Dulac, Formation. 219 Ders., Renchérissement, S. 205 f.

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Auch der liberale Journalist Momméja kam nicht um die Feststellung herum, dass »die Rolle des Zwischenhändlers im Handel zwar notwendig und viel zu nützlich ist, als dass man ernsthaft daran denken könnte, ihn komplett zu verdammen. Aber es gibt da wirklich Formen… Und wenn es sich um ein Grundnahrungsmittel wie Fleisch handelt, dann muss die Frage erlaubt sein, ob eine ganze Kohorte an Zwischenhändlern, die den ursprünglichen Preis einer Ware um 72 % in die Höhe treibt, nicht zu zahlreich, zu gierig und zu schlecht organisiert ist.«220

Die Umgehung oder Ausschaltung des Zwischenhandels war ein zentrales Anliegen der Genossenschaftsbewegung. Paul-Boncour zufolge konnten die Konflikte zwischen urbanen Verbrauchern und ländlichen Produzenten gedämpft, ganz vermieden und das Gewicht spekulierender Zwischenhändler verringert werden, indem man vermehrt »Märkte erster Hand« einrichtete und die Kontakte zwischen Produzenten und Konsumenten vervielfältigte.221 Tatsächlich war die Organisation der Konsumenteninteressen in der Teuerungsdiskussion des Herbstes 1911 zunächst ein »Gegenmittel«, auf das sich eine Mehrheit der Debattenteilnehmer einigen konnte. Während der Unruhen hatte das französische Publikum die Existenz einer Ligue des consommateurs »entdeckt«, die kurz zuvor unter der Ägide des Volkswirtschaftlers Charles Gide gegründet worden war.222 Vertreter dieser Liga ebenso wie der reformistischen und sozialistischen Konsumgenossenschaften ergriffen die Gelegenheit, um für ihre Anliegen und Organisationen als geeignete Gegenmaßnahmen zu werben.223 Im Punkt der Zweckbestimmung insbesondere der Genossenschaften gingen die Meinungen allerdings auseinander. Technisch gesehen, erklärte etwa Albert Dulac, sei es das Ziel von Konsumgenossenschaften, durch die Vereinigung und Konzentration von Kaufkraft den Wettbewerb auf den Lebensmittelmärkten zu disziplinieren, das »Zickzack der Preiskurven« zu regulieren und zu stabilisieren, ja die Lebensmittelpreise zu »immobilisieren«.224 Jean Gaumont, ein führender Vertreter der Genossenschaftsbewegung, sah in den Konsumvereinen auch eine Art Mechanismus, der den Familien der Arbeiterklasse in der »immer noch furchterregendsten aller Fragen«225 Sicherheit bot. Eine zweite Serie 220 Momméja, Enquêtes, S. 92. 221 Paul-Boncour, S. 1. 222 Die Juli-Ausgabe 1910 der Revue de solidarité sociale war vollständig den »groupements de consommateurs« gewidmet. 223 Contre la cherté des vivres. Opinion de M. Charles Gide, in: La France v. 8.9.1911; A quoi tient l’augmentation du prix de la vie. Pour rendre la vie moins chère, M. Charles Gide, président de la ligue des consommateurs, demande la diminution des droits de douane, in: Le Siècle (27634) v. 19.9.1911, S. 2; La vie chère. Une levée de »cordons bleus«. Le consommateur n’était rien; il veut devenir quelque chose. Interview avec M. Fénétrier, in: Le Siècle (2761) v. 30.8.1911, S. 3. 224 Dulac, Renchérissement, S. 213. 225 Gaumont, S. 236.

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von Argumenten betonte die moralisierende Wirkung der Genossenschaften und Konsumentenligen. Für Sozialisten etwa war die lokale Genossenschaft die Verwirklichung – gleichsam in einem »embryonalen Stadium« – einer besseren Gesellschaft, in der Verkaufspreise öffentlich von den Mitgliedern ausgehandelt und durch dieses Verfahren kollektiv legitimiert und gerechtfertigt sein würden. Auf etwas andere Weise definierte Charles Gide die Konsumentenbewegung als einen Ort, an dem die Konsumenten im Sinne ihrer »wahren Interessen« »erzogen« und »aufgeklärt« werden sollten. In seiner Sicht entstand mit der Konsumentenbewegung eine intermediäre Form des »Sozialismus«, die dazu bestimmt war, jenseits der Klassendifferenzen alle Konsumenten zum Zweck der Durchsetzung ihrer Interessen als Käufer und Kunden zu integrieren.226 In Analogie zu Arbeitergewerkschaften und Lohnstreiks könnten Konsumvereine Konsumentenstreiks organisieren, bestimmte Händler und Waren boykottieren und Preise aushandeln, gab auch Pierre du Maroussem zu bedenken.227 Dass schließlich selbst Liberale und Konservative bezüglich »der großen Zahl kleiner Zwischenhändler, die ihre Profite beim Kunden suchen«,228 der »übertriebenen Profite der Zwischenhändler«229 Reformbedarf einräumten, eröffnete eine zivilgesellschaftliche Unterstützung und parlamentarische Mehrheiten versprechende, wirtschaftspolitische Reformperspektive, die in den folgenden drei Vorkriegsjahren auf unterschiedliche Weise konkretisiert wurde.

3. Staat und öffentliches Handeln in der Teuerung: die Vie Chère-Krise und ihr langer Schatten, 1910–1914 Die politischen Institutionen – die sozialrepublikanische Regierung Joseph Caillaux, die kommunalen, präfektoralen und ministeriellen Verwaltungen, die Nationalversammlung und der Senat – waren, das wurde an einigen Stellen bereits deutlich, in die Kontroverse über die Ursachen der hohen Lebensmittelpreise und angemessene Gegenmaßnahmen tief verwickelt. Die archivalische Überlieferung der Verwaltung der beiden bretonischen Städte Brest und Rennes, der Präfekturen der Departements Finistère, Ille & Vilaine und Nord erlaubt eine eingehende Analyse des »öffentlichen Handelns«, der »Führungstechniken«230 und Regierungsweisen staatlicher Akteure in der Krise, die von mäßigenden Interventionen und der Organisation des Polizeieinsatzes bei Protesten bis zur Einsetzung einer interministeriellen Kommission zur Beratung über die angemessenen Maßnahmen und den Aktivitäten des Handelsministeriums reichten. Zugleich 226 Gide, Consommateurs, S. 167–168. 227 Du Maroussem, Vie chère, S. 729–733. 228 La grève des consommateurs, in: Le Temps (18320) v. 29.8.1911, S. 1. 229 Pégard. 230 Lascoumes u. Le Galès, S. 11–44.

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macht es der Blick in die Verwaltungsarchive möglich, das Krisenhandeln im Herbst 1911 in den weiteren Kontext der wirtschaftspolitischen Programmatiken und Aktivitäten der Republikaner vor dem Ersten Weltkrieg einzuordnen. Die lokalen Konstellationen, die Aktivitäten der städtischen und präfektora­ len Beamtenschaft im Verlauf der Krise sowie ihre Interaktionen mit den Protestierenden weisen einige charakteristische Merkmale auf. Häufig zogen die Protestzüge nicht nur auf die Marktplätze, sondern auch vor die Rathäuser. In den meisten Fällen waren die Bürgermeister dann bereit, Delegationen zu empfangen und schriftliche Forderungen nach amtlichen Preisdeckelungen entgegenzunehmen. Während einige den Forderungen nachgaben und Taxierungsverordnungen für Brot und Fleisch erließen, wenn sie dies im Vorlauf der Teuerung nicht bereits getan hatten, waren andere Beamte zumindest bereit, eine moderierende Rolle zu übernehmen. Sie versammelten Abordnungen der protestierenden Konsumenten, der Landwirte und der Kleinhändler im Rathaus, um über die Eier-, Butter-, Brot- und Fleischpreise zu verhandeln. Auch wenn die Ergebnisse nicht alle Parteien zufriedenstellen konnten, trugen die Bürgermeister auf diese Weise zumindest zur Verhinderung gewaltsamer Zusammenstöße bei. In gewisser Weise kann ein Vorbild für dieses Verhalten in zwei Instruktionen des Ministerratspräsidenten Caillaux gesehen werden, der zugleich das Amt des Innenministers ausübte. Am 2.  September 1911 instruierte er die Präfekten: »Wenn in Ihrem Departement Proteste gegen die Teuerung auftreten, werden Sie die Klagen, die Ihnen gerechtfertigt scheinen und unter akzeptablen Umständen vorgebracht werden, mit der gebotenen Sorgfalt prüfen. Wenn aber die Proteste eine gewaltsame Wendung nehmen und Störungen der öffentlichen Ordnung nach sich ziehen, werden Sie gegen die Organisatoren und Anführer dieser Proteste energisch durchgreifen«.231

Diese Prioritäten – zuerst sorgfältige Prüfung, dann Repression der Störungen – wiederholte Caillaux zwei Wochen später in einer weiteren Instruktion, mit der er die Präfekten vor dem Eintritt der Gewerkschafter in die Bewegung warnte und offizielle Maßnahmen des Ministerrats ankündigte.232 Die Überlieferung aus den Archiven und die Presseberichterstattung zeigen, wie sehr das administrative Gefüge der kommunalen Lebensmittelmarktordnung durch die Teuerung unter Druck geriet. Drei verschiedene Konstellationen lassen sich ausmachen. (1) Die Stadt Rennes, Metropole der östlichen Bretagne, blieb von der Protestwelle vergleichsweise unberührt. Zwei öffentliche Kundgebungen, die an den Abenden des 8. und 9. September 1911 von der örtlichen Bourse du Travail mit 231 ADF 1M159: MI, an: Préfets de France, Circulaire, 2.9.1911. 232 ADIV 4M95: Caillaux, MI, président du conseil, an: Préfets des départements, 106 – au sujet des manifestations contre la cherté des vivres – confidentielle, 15.9.1911.

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dem CGT-Generalsekretär Léon Jouhaux auf dem überdachten Marktplatz Les Lices organisiert wurden, hatten auf den Straßen von Rennes kein gewalthaftes Nachspiel. Dennoch war die Situation angespannt. Die Bourse du Travail ließ in der ganzen Stadt Listen plakatieren, mit »von der Bourse du Travail beschlosse­ nen Preisen«. Nach der ersten Kundgebung erhielt der Präfekt folgende Botschaft: »Sehr geehrter Herr Präfekt, Ich finde es geschmacklos dabei zuzuschauen, wie dieses fette Schwein Janvier [der Bürgermeister, d. Vf.] die Lices [den Marktplatz, d. Vf.] den Anarchisten der CGT überlässt, damit die dort ihre Apologie der Sabotage und der Revolution verbreiten können. Ich warne Sie, dass ich dem erstbesten, der meine Waren anrührt, das Gehirn herausblasen werde. Ich werde wie einige meiner Kollegen einen geladenen Revolver dabeihaben und auf den ersten Mann oder die erste Frau schießen, wenn sie irgendetwas an meinem Stand beschädigen. Ich verkaufe meine Waren zu dem Preis, den sie wert sind und wenn sie teuer sind, dann ist das einzig und allein die Schuld derer, die Löhne und Steuern auf idiotische Weise in die Höhe getrieben haben. Jetzt wissen Sie Bescheid!«233

Die radikalrepublikanische Regionalzeitung Ouest-Eclair berichtete über etwa 4.000 Teilnehmer an der ersten Kundgebung, die sich anschließend »friedlich zurückzogen«.234 Der bei der Veranstaltung anwesende Polizeikommissar bestätigte diese Zahl und berichtete des Weiteren, dass die Zuhörerschaft »zur Hälfte aus Hausfrauen« bestanden habe, »die sicher enttäuscht waren, weil sie in der Hoffnung gekommen waren, etwas über die Mittel und Wege zu erfahren, mit denen sie Lebensmittel zu einem günstigeren Preis bekommen könnten. Nur der Herr Jouault [sic!] streifte jedoch das Thema und dies ebenfalls ohne irgendwelche praktischen Lösungen anzuzeigen«.235 Der Polizeibeamte, der die zweite Kundgebung besuchte, beendete seinen kurzen Bericht mit den Worten: »keine Vorkommnisse«.236 Weder beschäftigte sich im Spätsommer und Herbst 1911 der Stadtrat von Rennes mit der Teuerung, noch wurden von der Stadtverwaltung spezielle Maßnahmen bezüglich der Marktordnung ergriffen. Tatsächlich profitierte die Konsumentenschaft aus der Arbeiterklasse in Rennes bereits seit längerem von einer kommunalen Fleischmarktpolitik, die ausdrücklich an ihren Interessen orientiert war. Während einer Reformphase in den 1890er Jahren waren die öffentlichen Fleischmärkte auf den zentral gelegenen Marktplätzen Les Lices und St. Anne neu geordnet worden, um die Versorgung der ärmeren Konsumenten zu gewährleisten. Die im Dezember 1901 erlassene Marktordnung unterband 233 ADIV 4M95: Anonyme, an: Préfet d’I&V [undat., wahrsch. September 1911]. 234 Contre la vie chère. Plus de 4.000 personnes entendent le citoyen Jouhaux discuter sur ce sujet, in: L’Ouest-Éclair (4612) v. 9.9.1911, S. 5. 235 ADIV 4M95: Commissaire central de Rennes, an: Préfet d’Ille-et-Vilaine, Réunion de protestation contre la vie chère organisée par la Bourse du Travail, 8.9.1911. 236 ADIV 4M95: Commissaire central de Rennes, an: Préfet d’I&V, 8242 – conférence au sujet de la cherté des vivres, 9.9.1911.

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den Fleischgroßhandel auf diesen Plätzen zugunsten des Einzelhandels, den Fleischer aus der Stadt selbst und aus der näheren Umgebung (forains) belieferten.237 Auf diese Weise waren oftmals als Wiederverkäufer tätige ortsansässige Fleischer und Metzger ausgeschlossen worden und die Fleischpreise in der Folge weniger starken Schwankungen ausgesetzt gewesen.238 Ein Briefwechsel des Bürgermeisters von Rennes mit seinem Kollegen in Lorient (Morbihan) aus dem Jahr 1907 belegt, dass der institutionell eingerichtete, beaufsichtigte und disziplinierte Wettbewerb als funktionales Äquivalent zur Taxierung betrachtet wurde. Auf die Frage des Bürgermeisters von Lorient nach Informationen über die Taxierungsgrundlagen in Rennes antwortete Janvier, dass »die Fleischtaxe in Rennes bis heute noch nie angewendet worden ist. Etwa 150 länd­ liche Fleischer konkurrieren mit denen der Stadt; zwei bis drei Mal in der Woche bringen sie fünfzehn bis zwanzig Tonnen Fleisch aller Kategorien in die Stadt, wo es auf den beiden überdachten Markplätzen Les Lices und St Anne an die Konsumenten verkauft wird. Dieser Wettbewerb trägt dazu bei, die Verkaufspreise auf einem relativ niedrigen Niveau zu halten«.239

Dieses Marktregime war freilich seit seiner ursprünglichen Einrichtung im Jahr 1855 umstritten. Im Jahr 1902 strengte der lokale Fleischereiverband Syndicat des patrons bouchers de Rennes eine Klage wegen »Überschreitung der Amtsbefugnisse« gegen den Bürgermeister an, mit dem Argument, dass das Großhandelsverbot einen unzulässigen Eingriff in die Handelsfreiheit darstelle und deshalb illegal sei.240 Vier Jahre später, im Jahr 1906, endete dieser Prozess in der letzten Instanz mit einem Grundsatzurteil des höchsten französischen Verwaltungsgerichts Conseil d’État, das dem Bürgermeister recht gab und die städtische Marktordnung bestätigte.241 Dieses Urteil hatte eine über den lokalen Kontext der Stadt Rennes hinausgehende Bedeutung, insofern es die Marktordnung der Stadt mit den Tugenden eines Leitbildes für konsumentenorientierte Marktpolitik ausstattete. In den folgenden Monaten erhielt der Bürgermeister immer wieder Informationsgesuche anderer Großstädte sowie Aufforderungen, sich städtepolitischen Kampagnen ähnlicher Zielsetzung anzuschließen. Die Präfektur des Departements Ille & Vilaine verteilte im September 1911 vor angekündigten Kundgebungen der CGT Gendarmerietruppen in Fougères242 und St. Malo,243 beschränkte sich aber ansonsten darauf, die von den Sonderkom237 Boucherie, charcuterie, triperie – arrêté, 16.12.1901, in: Bulletin municipal de Rennes 12 (1901) 11, S. 464–474. 238 AMR 5F18: Maire de Rennes, an: Mornard, avocat à la cour de cassation, 4.2.1902. 239 AMR 5F19: Maire de Lorient, an: Maire de Rennes, 20.2.1907, verso (Herv. d. Vf.). 240 AMR 5F18: Maire Rennes, an: Mornard, avocat à la cour de cassation, 4.2.1902; adjoint au Maire [Badin], Note pour Monsieur le Commissaire central – affaire des bouchers urbains, undat. [1902]. 241 Vgl. AMR 5F18: Mornard, avocat, an: Maire de Rennes, 22.12.1905. 242 ADIV 4M95: Préfet d’I&V, an: commandant de la Gendarmerie, 4.9.1911. 243 ADIV 4M95: Préfet d’I&V, an: commandant de Gendarmerie, 15.9.1911.

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missaren und Unterpräfekten eingehenden Berichte über die Kundgebungen an den Innenminister weiterzuleiten.244 (2)  Die Situation in Brest dagegen, dem westbretonischen Marinehafen, war typisch für eine stark in die Protestbewegung gegen die Teuerung involvierte Stadtgesellschaft. Ende August und Anfang September wurden erregte Diskussionen zwischen »Hausfrauen« und Eier-, Butter- und Milchhändlerinnen auf den Marktplätzen St. Martin, Berthelot und Pilier-Rouge im östlichen Vorort Lambézellec gemeldet.245 In Brest unterstützte die lokale Bourse du Travail die Bewegung nur in der Anfangsphase, organisierte große Kundgebungen und plakatierte Preislisten. Mit der von kleinbürgerlichen Beamten der Hafenverwaltung gegründeten Ligue économique de défense des intérêts de Brest et de la région entstand in Brest ein eigener organisatorischer Kern der Konsumentenbewegung.246 Obwohl die Polizei über die Entscheidung der Bourse du Travail berichtete, die Führung der Ligue économique nicht zu übernehmen, um nicht für deren absehbares Scheitern verantwortlich gemacht werden zu können,247 standen die Aktivitäten der Gewerkschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit von Stadt- und Präfektoralverwaltung. Delobeau, der konservative Bürgermeister der Stadt, lehnte es anlässlich eines Treffens mit Vertreterinnen der Ligue économique ab, Brot und Fleisch amtlich zu taxieren,248 ordnete jedoch eine verstärkte Überwachung der Lebensmittelqualität – insbesondere von Butter und Milch – auf den Marktplätzen an.249 Darüber hinaus brachte der in Fragen der Lebensmittelhygiene überaus bewanderte Arzt Delobeau die »Hausfrauen« und »respektablen Damen« gegen sich auf, als er ihnen die Vorzüge des nicht nur günstigen, sondern auch nahrhaften Pferdefleischs pries.250 Die Tätigkeit der Stadtverwaltung und der Präfektur entfaltete sich in zwei Richtungen. Auf der einen Seite sah sich der Präfekt aufgrund der Verlegung der meisten Gendarmerieeinheiten in die Brennpunkte der Protestbewegung in Nordostfrankreich sowie der Linientruppen in die Herbstmanöver in der Gegend von Épinal251 dazu gedrängt, die in Brest stationierten Kolonialtruppen für die Durchsetzung des Demonstrationsverbots zu requirieren.252 Damit war der Bo244 Siehe z. B. ADIV 4M95: Préfet d’I&V, an: président du conseil, MI, ministre de l’agriculture, 16.9.1911; Préfet d’I&V, an: MI, de l’agriculture, 6.9.1911. 245 ADF 1M159: Commissaire spécial des chemins de fer, an: Préfet du Finistère, protestations contre la cherté des vivres, 1.9.1911; Guillou, S. 1. 246 La vie chère. Violents incidents à Brest. Un marché envahi par les manifestants, in:­ L’Ouest-Éclair (4608) v. 5.9.1911, S. 5. 247 ADF 1M159: Commissaire spécial des chemins de fer, an: Préfet du Finistère, Bourse du Travail/comité général – rapport, 7.9.1911. 248 La vie chère. A l’hôtel de ville, in: La Dépêche de Brest (9509) v. 16.9.1911, S. 1. 249 La vie chère déchaîne des émeutes. Pillage, incendies, bagarres. La troupe charge; il y a de nombreux blessés, in: L’Ouest-Éclair (4605) v. 2.9.1911, S. 1 f., 5. 250 Deux délégations, in: Le Cri du peuple 4/152 v. 28.9.1911, S. 2. 251 ADF 1M159: Préfet du Finistère, an: MI, 5.9.1911. 252 ADF 1M159: général 11e corps d’armée, an: Préfet du Finistère, 9.9.1911.

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den für die Eskalation bereitet: Während der nicht genehmigten Demonstration am Abend des 8. Septembers wurden einige Demonstranten, Gendarmen und Polizeibeamte verletzt.253 Auf der anderen Seite betrieb der Präfekt im Zusammenspiel mit Sonderkommissaren erheblichen Aufwand, um den ehemaligen Sekretär der Brester Bourse du Travail, Jean Roullier, zu überwachen, zu verfolgen und schließlich auch festzunehmen, der die kleinen Städtchen des südlichen Finistère mit dem Fahrrad besuchte und dort Vorträge über die Teuerung hielt.254 Wie auch das gerichtliche Nachspiel im Fall eines Teilnehmers an der Demonstration vom 8. September, des Postangestellten Le Tréis, nahe legt, ging es der Staatsanwaltschaft vor allem um hartes Durchgreifen gegen Sozialisten. Die Fürsprache des Vorstands der örtlichen Kooperative und Mitherausgebers der sozialistischen Zeitung Cri du peuple, Guillou, »schwächt die Vorwürfe gegen Le Tréis mitnichten«, hielt der Staatsanwalt von Rennes fest.255 (3) Auf ganz ähnliche Weise war die Präfektur des Departements Nord fast ausschließlich mit der Organisation der Repressionsmaßnahmen, d. h. der Verteilung, Verlegung und dem Einsatz der Gendarmerie- und Truppeneinheiten beschäftigt. Louis Vincent, der langjährige Präfekt des Departements und ein erfahrener Spezialist der Aufstandsbekämpfung,256 requirierte Gendarmen aus vielen nordfranzösischen Departements und sorgte zudem dafür, dass Linientruppen aus den Herbstmanövern abgezogen und ins Departement verlegt wurden. Der Abzug der Truppen aus den Manövern, ihre massive Entfaltung in der Region und die Eskalation, die damit auf den Straßen einherging, stießen jedoch auf scharfe Kritik des Kriegsministers.257 Den ausführlichen Erklärungen und Rechtfertigungen, die Vincent in Erwiderung auf eine entsprechende Vorhaltung von Caillaux formulierte, ist zu entnehmen, dass er von der Protest­ bewegung überrascht wurde: »Die Ereignisse hatten eine verwirrende Plötzlich253 Contre la vie chère. A Brest: Le meeting du Treillis-Vert.- La manifestation projetée est dispersée par la police et la gendarmerie, in: La Dépêche de Brest (9501) v. 8.9.1911, S. 1; Après le meeting.- Les arrestations.- Dégâts importants.- Service d’ordre renforcé.- Agent de­ police révoqué.- Graves incidents à Lorient, in: La Dépêche de Brest (9593) v. 10.9.1911, S. 1. 254 ADF 1M159: o.A., note, 15.9.1911; Préfet du Finistère, an: MI, 18.9.1911; Préfet du Finistère, an: Commissaire spécial de Brest, 18.9.1911. 255 AN CHAN BB 18 2470 1784 A 2: PG de Rennes, an: garde des sceaux, n° 1784 A 1911, 20.10.1911; o.A, La Terreur dans le Finistère.- De scandales en iniquités – L’affaire Le Tréis, in: Le Cri du Peuple socialiste 4/157 v. 28.10.1911. Die Unnachgiebigkeit des Gerichts ist im Kontext öffentlicher Klagen über die »Nachlässigkeit der Justiz« wenig verwunderlich, vgl. Kalifa. 256 Vgl. Johansen. 257 Nach den Ereignissen sprach sich Kriegsminister Messimy im Übrigen für die Aufstellung mobiler Gendarmerieeinheiten aus, aus denen nach dem Zweiten Weltkrieg der CRS hervorging. ADN M159 29A: Messimy, Ministre de la guerre, an: Caillaux, MI, Président du conseil, Renforcement de la force armée dans l’arrondissement de Valenciennes, 23.9.1911 – eine Idee, die sich erst in den 1920er Jahren durchsetzte, siehe Bruneteaux, S. 64–90.

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keit«,258 rechtfertigte er den massiven Truppenbedarf. Mitte September 1911 waren insgesamt 6.000 Gendarmen und Soldaten an strategischen Punkten im ganzen Departement positioniert, die unmittelbar in bestimmte Ortschaften geschickt werden konnten, um dort Aufruhr zu verhindern oder niederzuschlagen. Dieser zentralisierte und strategische Gebrauch des Militärs trug ersichtlich den höchst unterschiedlichen Bedingungen der Konstellationen vor Ort keine Rechnung. Die angespannte Situation führte insbesondere die sozialistischen Bürgermeister betroffener Städte in das Dilemma, zwischen den praktischen Erfordernissen und Zwängen ihres Amtes und den Forderungen ihrer Wählerschaft nach wirksamer Bekämpfung der Teuerung vermitteln zu müssen. In Denain etwa spitzte sich die Lage für den sozialistischen Bürgermeister und Abgeordneten Auguste-Robert Selle erheblich zu, obwohl es ihm gelang, in aller Eile den Kauf und Verkauf von Fleisch und Brot zu organisieren. In seinem Wohnhaus von einer aufgebrachten Menge belagert, war er sehr zur Erheiterung der bürgerlichen Kommentatoren zur Flucht durch die Hintertür gezwungen und legte noch am selben Tag sein Bürgermeisteramt nieder.259 Im Allgemeinen waren die Bürgermeister der Industriestädte und ihrer Vororte darum bemüht, den ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen Rahmen auszuschöpfen, um die Teuerung einzudämmen. In einigen Städten des Bezirks Valenciennes wurden Lebensmittel offiziell taxiert.260 Als etwa die Fleischer von Dunkerque beschlossen, sich dem Protest anzuschließen und gegen die Viehhändler zu streiken, requirierte der Bürgermeister Soldaten der militärischen Nachschubverwaltung und richtete im Schlachthof einen städtischen Fleischerladen ein.261 Jenseits der kommunalen bzw. regionalen Ebene erhellt die Tätigkeit der Regierung und der Ministerialverwaltungen in Paris einige weitere Aspekte öffentlichen Handelns in der Teuerungskrise. Der Ministerrat beriet sich in Rambouillet am 1. September 1911 und beschloss, die Krise zunächst einmal untersuchen zu lassen, um auf dieser Grundlage geeignete Maßnahmen ergreifen zu können. Agrarminister Jules Pams ordnete über die Präfekturen eine Untersuchung der Lage auf den Lebensmittelmärkten der von Protest betroffenen Departements an;262 Célestin Hennion, der Direktor der Abteilung für nationale Sicherheit 258 ADN M159 29A: Vincent, Préfet du Nord, an: MI, président du Conseil, 19.9.1911. 259 ADN M159 29A: Préfet du Nord, an: MI, président du conseil, Cherté des vivres, 12.9.1911; sowie Alceste. 260 ADN M159 29A: Benoist, Sous-Préfet de Valenciennes, an: Vincent, Préfet du Nord, Situation générale dans l’arrondissement de Valenciennes, 7.9.1911. 261 ADN M159 29A: Terquem, Maire de Dunkerque, Ouverture d’une boucherie municipale [arrêté du Maire], 9.9.1911; Maire de Dunkerque, an: Sous-Préfet de Dunkerque, La grève des bouchers – organisation et fonctionnement d’une boucherie municipale – note pour M. le Sous-Préfet, 11.9.1911. 262 Diese Untersuchung war nicht auffindbar. Die Korrespondenz zwischen dem Präfekten des Finistère und dem entsprechenden Büro des Agrarministeriums legt aber nahe, dass es sich um eine einfache Abfrage von Lebensmittelpreisen handelte, vgl. ADF 4M95: minis-

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des Innenministeriums, wurde in den Norden entsandt;263 die Büros des von Maurice Couyba geführten Handelsministeriums fertigten Beratungsvorlagen, sammelten Presseausschnitte264 und werteten die in großer Zahl eintreffenden Petitionen von Stadträten, Generalräten der Departements, aber auch von Handels- und Agrarverbänden, nach ihrer Haltung zur Zollfrage aus.265 Die Beratungen einer interministeriellen Kommission, die aus Büroleitern und Referenten der Ministerien des Handels und der Landwirtschaft gebildet wurde, sowie die publizistische Darstellung ihrer Arbeit weist drei Aspekte auf: Erstens lud sie Experten zu Vorträgen ein, die von den verschiedenen Verbänden des agro-industriellen Sektors entsandt wurden; erstmals wurde die Ligue des consommateurs hinzugezogen und erhielt auf diese Weise eine offiziöse Legitimation als Gesprächspartner der Regierung in Konsumentenfragen. Zweitens konnte die Staatsregierung durch die gezielte Mobilisierung ihrer zivil­gesellschaftlichen »Hilfstruppen« (P. Rosanvallon)266 in einem von ihr gesteuerten Beratungsprozess die ausufernde Teuerungsdiskussion kanalisieren, die Grenzen des Machbaren austesten und bereits durch das Verfahren selbst Legitimität267 für ihre Entscheidungen gewinnen. Die Regierung erhielt im Verlauf der Beratungen auch weiterhin Petitionen von öffentlichen Körperschaften und Verbänden, die an dem Verfahren nicht beteiligt waren. Drittens schließlich hatte die Kommission den Auftrag, konkrete Vorschläge für Maßnahmen zur Bewältigung der Teuerungskrise auszuarbeiten.268 Die Kommissionsmitglieder, meist hochrangige Beamte und Abteilungsleiter der beteiligten Ministerien, erstellten und diskutierten im September 1911 ein ganzes Bündel an Vorlagen zu einzelnen Maßnahmen: Anpassungen des Zollregimes,269 Erleichterung der Viehimporte aus den Kolonien,270 Reform der Hygienestandards für Fleischtre de l’agriculture, an: Préfet du Finistère, télégramme, 31.8.1911; Préfet du Finistère, an: ministre de l’agriculture, Renchérissement des denrées, 3.9.1911. Der Präfekt des Departements Nord Vincent reichte die Fragen des Landwirtschaftsministers an den Leiter des tiermedizinischen Dienstes im Departements weiter – was die Bedeutung der Veterinäre in Ernährungsfragen unterstreicht, siehe ADN M159 29A: [Timoneaux], vétérinaire départemental en chef, an: Préfet du Nord, 21.9.1911. 263 Von dieser Inspektionsreise sind ebenfalls keine Dokumente überliefert. Die entsprechende Akte AN CHAN F 7 14779 ist bis auf wenige Presseausschnitte ohne direkten Bezug auf Hennions Reise leer. 264 Tatsächlich häufte die Handelsdirektion des Ministeriums eine große Menge an Presseausschnitten an, siehe AN CHAN F 12 7024, 7025. 265 AN CHAN F 12 7024: Pétitions défavorables à la modification du régime douanier des bestiaux et viandes; AN CHAN F 12 7027 [crise 1911]. 266 Rosanvallon, Modèle, S. 384–402. 267 Luhmann, Legitimität, S. 12. 268 AN CHAN F 12 7024: Cherté des vivres – réunion de la commission: vendredi 1er septrembre 1911. 269 AN CHAN F 12 7024: Commission interministérielle, Questions douanières, 1.9.1911; Commission interministérielle, Régime douanier, 1.9.1911. 270 AN CHAN F 12 7024: Commission interministérielle, Appoint colonial, 1.9.1911.

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importe und die Einrichtung von Kühlanlagen,271 Reformen der kommunalen Marktordnung,272 Revision der Eisenbahntarife für Lebensmitteltransporte,273 Neuordnung des Regimes der städtischen Zölle274 und ein Ausfuhrverbot für Futtermittel.275 Im Wirtschaftsministerium entstand parallel zur Kommissionsarbeit ein ebenso differenziertes wie umfassendes Programm, das diese Reformvorschläge systematisierte und ergänzte. Davon ausgehend, dass die Ursachen zum einen in der »Verknappung der Produktion durch die klimatische Situation und die Viehseuchen«, zum anderen im »Gesetz von Angebot und Nachfrage«276 zu suchen seien, stellte eine Vorlage des Ministers für die Sitzung des Kabinetts am 7.  September 1911 klar, dass das »Ziel aller Maßnahmen und Anstrengungen die Ausweitung der Versorgungsbasis des französischen Marktes«277 sein müsse. Sie teilte die Maßnahmen mithilfe einer grundlegenden Unterscheidung in zwei große Gruppen – »ökonomische Maßnahmen« (mesure d’ordre économique) und »administrative Maßnahmen« (mesure d’ordre économique): »Ökonomische Maßnahmen: 1. Erleichterung der Einfuhr von Vieh aus den Kolonien […]; 2. Revision der sanitätspolizeilichen Bestimmungen, die den Import von Schlachtvieh oder Frischfleisch (im gefrorenen Zustand) belasten […]; 3. Einführung des Status’ zollfreier Niederlage für Kühllager […]; 4. Aufforderung an die Eisenbahngesellschaften, die Versorgung unserer Märkte mit Nahrungsmitteln zu erleichtern […]; 5. Aussetzung der Ausfuhrzölle für Futtermittel […]. Administrative Maßnahmen: 1. Rückerstattung der Octroi-Steuer bei Wiederausfuhr in ganz Frankreich […]; 2. Reform der Markt- und Schlachthofordnung […].«278 271 AN CHAN F 12 7024: Drouets, Sous-directeur au ministère du commerce, et Lesage, chef de bureau au ministère de l’agriculture, Réglementation sanitaire et douanière des viandes fraîches ou conservées à l’aide d’un procédé frigorifique, note, 1.9.1911. 272 AN CHAN F 12 7024: Commission interministérielle, Règlementation des marchés et des ventes, 1.9.1911. 273 AN CHAN F 12 7024: Commission interministérielle, Note sur l’application du régime de l’abonnement pour le transport par chemin de fer de certains denrées périssables, 1.9.1911; Faugère, Sous-directeur des chemins de fer au ministère des travaux publics, Note sur le prix de transport des denrées, 1.9.1911. 274 AN CHAN F 12 7024: Martin, directeur des contributions indirectes, Droits d’octroi  –­ régime des compensations à la sortie, 1.9.1911. 275 AN CHAN F 12 7024: Commission interministérielle, Mesures à prendre contre l’exportation des fourrages, 1.9.1911. 276 AN CHAN F 12 7024: [ministre du commerce et de l’industrie], Cherté de la vie, 1911. 277 AN CHAN F 12 7024: [ministre du commerce et de l’industrie], Note exposant le point de vue du ministère du commerce lors de la 2ème conférence du 1er septembre à la présidence du conseil, 1.9.1911. 278 AN CHAN F 12 7024: [ministre du commerce et de l’industrie], Note remis au ministre sur la délibération du conseil réuni à Rambouillet le jeudi 7 sept. 1911, S. 1.

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Die Unterscheidung zwischen ökonomischen und administrativen Maßnahmen verweist auf eine spezifische Verknüpfung von zwei verschiedenen Rationalitäten staatlichen Handelns im Feld der Wirtschafts-, Markt- und Versorgungspolitik: die disziplinäre Rationalität der direkten ordnungspolizeilichen Eingriffe auf der einen, die biopolitische Rationalität der Reizung, Förderung und allenfalls indirekten Regulierung »natürlicher« Prozesse auf der anderen Seite.279 Für Couyba konvergierten allerdings die klassischen polizeilich-administrativen Maßnahmen mit diesem Konzept indirekt-ökonomischer Regulierung, wie in einer kurzen Ausführung zu »Eingriffen der Verwaltung in den Handel« nahe legt: »Ohne direkt in die Handelstätigkeit zu intervenieren, ohne etwa die Preise für Grundnahrungsmittel festzulegen«, erklärte er im Ministerrat am 1. September, »kann die Verwaltung indirekt eingreifen, etwa durch die Regulierung der Außenhandelspreise«.280 Er nannte unter dem Stichpunkt »Reform der Markt- und Schlachthofordnung« drei Maßnahmen, die zentrale Gravamina der Teuerungsdiskussion aufgriffen, ein bestimmtes – solidaristisches – Konzept der Lebensmittelvermarktung implizierten und zugleich Bereiche absteckten, in denen die Regierungen und Ministerien in den Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs besonders aktiv wurden: »a) Überwachung der zu zahlreichen Zwischenhändler; b) Publizität und Wahrhaftigkeit der Kurse; c) Besondere Erleichterungen für Produktions- und Konsumgenossenschaften.«281 Diese Programmatik konkretisierte sich in unterschiedlichen Projekten auf unterschiedliche Weise. So berief (der neue)  Handelsminister Fernand David im Januar 1912 aus der Umsetzung des teuerungspolitischen Programms heraus282 gemeinsam mit dem Landwirtschaftsminister Jules Pams eine weitere interministerielle Kommission. Ihr Auftrag lautete, einen umfassenden Neuordnungs- und Umbauplan für den zentralen französischen Schlachthof- und Viehmarktkomplex in Paris-La Villette auszuarbeiten.283 Diese Reformen und Umbauten waren jedoch langwierig und wurden erst in der Zwischenkriegszeit zuende geführt.284 Die unter Punkt drei aufgeführte »Förderung von Produktions- und Konsumgenossenschaften« griff die von der sozialistischen Arbeiterbewegung getragene Debatte über die Vorteile dieser Mechanismen – Umgehung des Zwi279 Vgl. zu dieser grundlegenden Unterscheidung im Anschluss an die Machttheorie Michel Foucaults: Rosanvallon, Staat, S. 154–157. 280 AN CHAN F 12 7024: note exposant le point de vue du ministère du commerce, 1.9.1911, S. 4. 281 AN CHAN F 12 7024: [ministre du commerce et de l’industrie], Note remis au ministre sur la délibération du conseil réuni à Rambouillet le jeudi 7 sept 1911, S. 1. 282 Couyba regte in seiner Vorlage unter dem Punkt »Marktordnung« lediglich eine Reform des Fleischmarktes an, AN CHAN F 12 7024: [ministre du commerce et de l’industrie], note exposant le point de vue du ministère du commerce, S. 3. 283 AN CHAN F 12 7622: David, ministre du commerce, an: Pams, ministre de l’agriculture, Réorganisation du marché de La Villette – Institution d’une commission, 6.1.1912. 284 Sie können deshalb hier nicht weiterverfolgt werden. Reichhaltiges Material findet sich in AN CHAN F 10 2172: Viande. Marchés Abattoirs, 1902–1940.

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schenhandels, Regulierung der Lebensmittelpreise auf – und übersetzte sie in eine Regierungsvorlage. Sie diente dezidiert der Entschärfung bzw. Entpolitisierung des Teuerungskonflikts. Couyba zufolge sollte »die Aktivität der Gewerkschaften sehr vorteilhaft an diesem ökonomischen Ziel ausgerichtet werden«285 können. Charles Dumont, Abgeordneter aus dem Departement Jura und stellvertretender Vorsitzender des »Exekutivkomitees der radikal-sozialistischen Partei«, verdeutlichte Ende September 1911, dass das Teuerungsproblem mit diesem Gesetzesvorhaben entpolitisiert werden sollte: »Es bleibt zu hoffen, dass ein aufmerksam, energisch und dauerhaft geführter Kampf von Regierung und Parlament gegen die Aufkäufer und Spekulanten den Schreihälsen der CGT den Wind aus den Segeln nimmt.«286 Diese Entpolitisierungsversuche schlugen jedoch fehl. Zwar wurde die Munizipalisierung und genossenschaftliche Organisation des Bäckerei- und Fleischereigewerbes in einigen von Sozialisten regierten Städten bereits seit den 1890er Jahren praktiziert.287 Der Regierungsvorschlag griff also lediglich ein bereits eingeführtes wirtschaftspolitisches Instrument auf und sollte die verwaltungsrechtlichen Schwellen für die Verallgemeinerung solcher Formen des öffentlichen Dienstes absenken.288 In Frankreich standen jedoch im Jahr 1912 Kommunalwahlen bevor, so dass das Vorhaben unmittelbar die politischen Gegner mobilisierte. Das »gefährliche Projekt«289 bzw. »verabscheuenswürdige Projekt«290 traf auf den erbitterten Widerstand von Gewerbetreibenden und ihren Verbänden,291 die in ihrer Kampagne von liberalen und konservativen Zeitungen unterstützt wurden.292 Sie erinnerten die Regierung und das Publikum an das desaströse Scheitern noch jeglichen Versuchs der Regierungen und Verwaltungen, ein Maximum einzuführen oder »auf kommerzielle Weise zu handeln«.293 Unter diesen Umständen hatte das Reformprojekt keine Chance. Die Regierung Caillaux wurde kurz nach der Parlamentsdiskussion im Februar 1912 aufgelöst.294 285 AN CHAN F 12 7024: [ministre du commerce et de l’industrie], note exposant le point de vue du ministère du commerce, S. 5. 286 Dumont, Contre. 287 Vgl. Furlough. 288 Benoit; Napoli, Service, S. 249–257. 289 Un projet dangereux, in: Journal des débats politiques et littéraire (249) v. 9.9.1911, S. 1. 290 Détestable projet, in: Figaro (252) v. 9.9.1911, S. 1. 291 AN CHAN F 12 7025: Jumin, Président de la fédération des syndicats de charcutiers de France, an: ministre du commerce et de l’industrie, [o.T.], 27.9.1911; AN CHAN F 12 7027: Devaux, Chambre du commerce de Caen, La cherté des vivres et le projet d’institution de boulangerie et de boucheries coopératives municipales [o. D.]; AN CHAN F 12 7024: Du­ ruflé, président de l’union nationale de la boucherie et charcuterie de France et des colonies, an: ministre du commerce et de l’industrie, 13.9.1911. 292 Un désabusé, Notes sociales, in: Le Gaulois (12387) v. 13.9.1911, S.  1; La vie municipale. Contre la création de boucheries et boulangeries municipales, in: Le Petit Journal v. 23.11.1911; Une novelle menace socialiste, in: Le Temps (18342) v. 20.9.1911, S. 1. 293 M. J., Le collectivisme municipal à l’étranger, in: Le Petit Journal v. 23.11.1911, S. 2. 294 Seager.

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Einen zweiten Schwerpunkt der Parlamentsdebatten über die Regulierung des Zwischenhandels bildete in den Jahren zwischen 1910 und 1914 der Börsenhandel bzw. das Termingeschäft. In einer ausführlichen Analyse der Teuerungsursachen und Reformansätze bezeichnete Cahen, der Vorsitzende des einflussreichen »Republikanischen Handels-, Industrie- und Landwirtschaftskomitees«, im Jahr 1911 die Regulierung des Zwischenhandels und des Termingeschäfts als »Kern des Problems«.295 In der Überlieferung des Justizministeriums zeichnet sich seit Beginn der 1910er Jahre eine größere Bereitschaft ab, Kurssprünge an der Pariser Warenbörse genauer zu untersuchen oder Anzeigen von Fachverbänden nachzugehen.296 So deckten landesweit durchgeführte Ermittlungen in den Jahren 1910 und 1913 geheime Absprachen im Zuckerhandel auf.297 Mehrmals ließ das Justizministerium seit 1908 Vorwürfe gegen einen »chilenischen« bzw. »brasilianischen« Börsenhändler namens Santa Maria prüfen, der in der Öffentlichkeit zunehmend den Mythos des bösartigen Speku­ lanten verkörperte.298 Vorermittlungen endeten allerdings in diesen wie in anderen Fällen in den Jahren 1908 bis 1912 regelmäßig mit dem Ergebnis, dass den Beschuldigten nichts vorgeworfen werden könne, was gegen die in der Materie einschlägigen Paragrafen des Strafgesetzbuchs verstieß.299 Finanzminister Fernand David erläuterte 1912 in einem Interview mit Fernand Momméja sein deutlich durch hygienistische Denkmuster geprägtes Börsen­ reformprogramm: »Sanierung des Marktes durch die Ausschaltung der zersetzenden Zwischenhändler und der Spekulanten; Ausweitung des Terminhandels; methodische Organisation der Provinzmärkte; Modifizierungen in der Erstellung der Kursnotierung.«300

295 AN CHAN F 12 7024: Cahen, président du comité républicain du commerce, de l’industrie et de l’agriculture, Cherté de la vie – octrois et douanes – les commerce et les intermédi­ aires – marchés fictifs, l’accaparement, la spéculation – salaires conséquence des lois sociales – la solution – l’outillage économique – vœu, o. O. 1911, S. 5. 296 Siehe AN CHAN BB 18 6604 BL 1–23. 297 AN CHAN BB 18 6604 76 BL 11: Accaparement de sucre; siehe auch AN CHAN 14779:­ accaparement des sucres 1913. 298 Siehe Compère-Morel, Cherté, S. 1; Roldes, Prix (II), S. 1; AN C 7434: Proposition de loi ayant pour but la diminution du prix des denrées alimentaires, présenté par M. Georges Berry, député, in: N° 1905 Chambre des Députés, 10e législature, session de 1912, annexe au procès-verbal de la séance du 23 mai 1912, S. 3. 299 AN CHAN BB 18 6604 76 BL 12: Poncet, Commissaire aux délégations judiciaires, Enquête relative à la hausse du prix du blé pendant les mois d’avril et de mai 1912. Analyse des réponse, Mai 1912, Vgl. ebd., BL 5: Ministère de la Justice, direction des affaires criminelles et des grâces, 1er bureau, an: Directeur du contentieux et de la justice militaire, dept. du contentieux, 2 lettres  – 1: Guerre, 21.8.1908; ebd., BL 12: Poncet, Commissaire aux délé­gations judiciaries, Déclaration de M. Boverat, Président du Syndicat général des grains, graines, farines, huiles, surcres et alcools, à la Bourse de Commerce (1), 14.5.1912. 300 Momméja, Enquêtes, S. 258.

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Im Mai 1912 und im Juli 1913 debattierte die Nationalversammlung über zwei Gesetzesvorschläge, welche die weithin geteilte moralische Verurteilung der »Agiotage«, der »Spekulation« und des »Börsenspiels« in eine Verschärfung der §§ 420–422 Code Pénal und ein Verbot der Leerverkäufe übersetzten. Der Vorschlag des Pariser Abgeordneten Georges Berry stand noch ganz im Zeichen der Teuerungsdebatte des Jahres 1911. »Das Grundübel, das bekämpft werden muss, der Aufkauf (accaparement), ist zweifellos eine der Hauptursachen für den Anstieg der Lebenshaltungskosten«,301 führte Berry aus. Man könne sich nicht vorstellen, mit welchem »Zynismus«, welcher »Unverfrorenheit« und »Rücksichtslosigkeit« manche Personen im Terminhandel agierten;302 es handele sich um einen »Angriff auf die grundlegenden Regeln der Rechtschaffenheit«.303 Außer einer Ausweitung der Anwendbarkeit von § 419 Code Pénal, der den gemeinschaftlichen Preisauftrieb unter Strafe stellte, auf einzelne Personen, regte er an, unter bestimmten Umständen den Behörden die rechtliche Möglichkeit einzuräumen, zum Schutz der Müller, Kleinhändler und Verbraucher den Getreidepreis zu taxieren, um sie »gegen Machenschaften zu schützen, welche die einen ruinieren und die anderen aushungern«.304 Vor dem Hintergrund einer erneuten Weizenhausse im Juni 1913 brachte schließlich Justin Godart einen Gesetzesvorschlag ein, der zwar die Forderung nach einem »Verbot der Spekulation auf Lebensmittel« im Titel trug, jedoch lediglich auf ein Verbot der Leerverkäufe hinauslief.305 »Diese Geschäfte«, fasste Godart das weit verbreitete moralische Urteil zusammen – von dem er allerdings den »ordentlichen«, »rechtschaffenen Terminhandel« ausdrücklich ausnahm, »haben keine reale Basis. Sie belasten die Preisbildung und werden von echten und unverfrorenen Spekulanten, gierigen Zwischenhändlern getätigt, die in diesem Spiel, das sich Handelsbörse nennt, unglaublich frech auftreten, das ganze Land beherrschen und an der Festlegung der Kurse beteiligt sind, die Produzenten, Industrielle und Verbraucher gleichermaßen ertragen müssen. Darin liegt eine Gefahr, vor der die Experten warnen und die auch die Fakten zur Genüge belegen.«306

Fassen wir zusammen: Das Krisenmanagement der Kommunal-, Präfektoralund Ministerialbehörden sowie der Regierung war sowohl auf eine Niederschlagung der gewalthaften Proteste ausgerichtet als auch auf die Suche nach mehrheitsfähigen Marktreformen. Dabei führte die Entsendung von Truppen zwar 301 AN C 7434: Proposition de loi ayant pour but la diminution du prix des denrées alimentaires, présenté par M. Georges Berry, S. 1. 302 Ebd., S. 3. 303 Ebd., S. 5. 304 Ebd., S. 3. 305 AN CHAN C 7434: Justin Godart, député, proposition de loi tendant à interdire la spéculation sur les denrées alimentaires (renvoyée à la commission du commerce et de l’industrie), in: N° 3081, Chambre des députés, 10e législature, session de 1913, annexe au procès-verbal du 29 juillet 1913. 306 Ebd., S. 3.

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zur Eskalation. Bemerkenswert ist jedoch, dass die radikalsozialistische Regierung Caillaux in intensiven Beratungen nach Wegen suchte, die als Bedrohung für die Republik wahrgenommene Mobilisierung der Arbeiterbevölkerung in der Teuerungsfrage in politische Reformprojekte zu übersetzen. Der Vorschlag, die Beteiligungsmöglichkeiten von Stadtverwaltungen an Fleischerei- und Bäckereigenossenschaften zu erweitern, kann dabei als Versuch verstanden werden, die Kontroverse gleichsam dadurch zu entpolitisieren, dass ihre Lösung den Kommunalverwaltungen übertragen wurde. Gleichzeitig manifestierte sich in der Konzentration auf den Zwischenhandel sowohl in der linken Öffentlichkeit als auch in einigen Regierungsprojekten und Gesetzesvorschlägen zur Börsenreform eine solidaristische Gesellschaftskonzeption, die sich der Tendenz nach auch über die Exklusion oder Disziplin der »intermediären« Figuren und Netzwerke konstituierte. Und schließlich offenbart sich gerade in dieser sozialprotektionistischen Tendenz die biopolitische Rationalität wohlfahrtsstaatlichen Regierungshandelns. In diesem Kapitel wurden die Protestbewegung gegen die Lebensmittelteuerung im Spätsommer und Herbst 1911 und die von ihr intensivierte Kontroverse über den Anstieg der Lebenshaltungskosten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg analysiert. Im ersten Abschnitt wurde gezeigt, auf welche Weise die Presse einen Rahmen für die Akzeptanz und die Legitimität des Protests und seiner Formen entwarf. Die diskursgeschichtliche Untersuchung der Berichte und Kommentare konnte dabei nachweisen, dass es eine relativ stabile Verknüpfung zwischen dem Geschlecht der Protestierenden, der Protestgewalt und dem Politischen gab. Zu Beginn wurde die Bewegung als »Kreuzzug der Hausfrauen« belächelt, doch aus genau diesem Grund stand die Legitimität des Protestanliegens nicht infrage. Der Akzeptabilitätsrahmen verengte sich sodann deutlich, als die »revolutionären« männlichen Gewerkschafter auf den Plan traten. Dieser Legitimitätsverlust der Proteste ging allerdings mit einer nachhaltigen Politisierung des Vie chère-Themas einher, das zuvor der ökonomischen Sphäre zugeordnet worden war. Die breite Kontroverse über die Ursachen der Teuerung und angemessene »Gegenmittel« waren Gegenstand des zweiten Abschnitts. Dabei hat sich gezeigt, dass der seit den 1890er Jahren anhaltende Anstieg der Lebenshaltungskosten zwar vor allem der protektionistischen Zollpolitik zugeschrieben wurde, aus diesem Konsens allerdings nicht der Rückbau des Zollregimes resultierte, sondern vielmehr die Übertragung der protektionistischen Argumentation auf die Sozialpolitik und die Konzentration der Lösungsprojekte auf die Organisation der Lebensmittelmärkte und ihre Versorgung. Insgesamt wurde der Staat in der Teuerungsdiskussion der Jahre 1910 bis 1912 tiefer in die protektionistische Gouvernementalität verstrickt. Im Mittelpunkt des letzten Abschnitts schließlich stand die Staatspraxis bzw. das öffentliche Handeln lokaler Stadtverwaltungen, von Präfekturen und der Pariser Ministerialbürokratie in der Teuerungskrise. Dabei ließ sich zeigen, 334

dass sich die konkreten Konstellationen und Verläufe der Teuerungskrise vor Ort mehr oder weniger stark unterschieden. Aus den untersuchten Fallbeispielen in Brest, Rennes und im Departement Nord kann der Schluss gezogen werden, dass es mindestens zwei Bedingungen gab, welche die Intensität der Proteste beeinflussten. Auf der einen Seite blieb der Protest in Rennes auf einem relativ niedrigen Niveau, was hier unter anderem auf eine bereits länger betriebene, an den Interessen der ärmeren Konsumenten orientierte Marktpolitik zurückgeführt wird, die für niedrige und stabile Preise sorgte. In Brest dagegen gab es eine solche Politik nicht. Hier und im stark urbanisierten Departement Nord eskalierte der Konflikt, weil die lokalen Beamten und die Präfekturen sich vor allem auf die Bekämpfung des Protests beschränkten. In Brest gelang es dem Bürgermeister trotz der Existenz einer aus der Bewegung heraus entstandenen Konsumenten-Liga nicht, den Konflikt durch Gespräche und Verhandlungsrunden zu moderieren. Und im Departement Nord schließlich gerieten gerade jene sozialistischen Bürgermeister, welche die Belastung ihrer Wählerschaft durch die Teuerung durchaus kannten, zwischen die Fronten des eska­ lierenden Militäreinsatzes durch den Präfekten einerseits und die sich radikalisierenden Forderungen der Protestierenden auf der anderen Seite.

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Schluss Die aus dem 18.  Jahrhundert stammende »Subsistenzfrage« löste sich nach dem Eintritt der französischen Gesellschaft in die industrielle Moderne um 1850 k­ eineswegs auf. Sie wurde vielmehr unter ihren Vorzeichen neu und anders formuliert – als eine Dimension der »sozialen Frage«. Greifbar wird diese Verschiebung sowohl auf der diskursiv-begrifflichen Ebene des Konzepts »Subsistenz« als auch in den Praktiken der Beamten, die mit der Aufsicht der versorgungswichtigen Gewerbe und Märkte beauftragt waren. Das Subsistenzkonzept und sein semantisches Netzwerk in der Verwaltungswissenschaft waren bei der Definition der Staatsaufgabe Subsistenz von zwei Entwicklungen geprägt. Auf der einen Seite blieb die klassisch dreifache polizeiwissenschaftliche Systematik von administrativen Maßnahmen für die Normallage, die Krisenprävention und den effektiven Krisenfall erhalten. Doch der Rückgriff auf Techniken der letzten beiden Kategorien stellten die allermeisten Autoren unter starke Vorbehalte. Diese Zurückhaltung oder prinzipielle, innere Begrenzung der politischen Rationalität staatlichen Handelns ist andererseits bei Maßnahmen für die Normallage nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Die Analyse entsprechender Wörterbucheinträge zeigt, dass dieser Bereich der Staatsaufgabe Subsistenz im Untersuchungszeitraum nicht nur erhalten blieb, sondern sich spätestens in den 1880er Jahren thematisch stark ausdifferenzierte. Das Gravitationszentrum staatlichen Handelns verschob sich auf der begrifflichen Ebene von Maßnahmen zur Sicherstellung der Mindestversorgung der Bevölkerung mit Nahrung hin zu solchen, die dem Schutz vor »unlauterem« Wettbewerb sowie der Garantie der intrinsischen Qualitäten, der »Reinheit« von Lebensmitteln als marktgängige Waren dienten. Bemerkenswert ist dabei, dass Subsistenz auch um die Wende zum 20. Jahrhundert immer noch als begrifflicher Rahmen fungierte. Grundsätzliche Kontroversen und antistaatliche Polemik, welche die Auseinandersetzung bis in die 1860er Jahre geprägt hatten, waren in diesem Teilbereich der Staatsaufgabe Subsistenz kaum noch vorhanden. Vielmehr vollzog sich sowohl im Verwaltungsals auch im ökonomischen Wissen über Grundnahrungsmittel unter Bezugnahme auf vorwiegend naturwissenschaftliche Expertise um 1900 allmählich ein grundlegender Wandel im Verständnis von Staatlichkeit selbst. Staatsaufgaben in diesem Bereich wurden nicht mehr vorrangig negativ, von den Grenzen staatlicher Eingriffsbefugnisse und Zuständigkeiten her formuliert, sondern überwiegend positiv (bzw. positivistisch). Zwischen den Konzepten im Wörterbuchwissen, in Abhandlungen verschiedener Experten, Berichten von Beamten der städtischen Markt- und Gewerbe­ aufsicht und den Technologien des Verwaltens bestand, das hat die Untersu­chung 337

des Weiteren gezeigt, ein mittelbarer Zusammenhang. Es handelte sich um eine diskursive Beziehung, die über die zur Beobachtung und Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und Begründung implementierter Maßnahmen verwendeten Begrifflichkeiten und Wissensordnungen vermittelt war. Die auf Subsistenz bezogenen Praktiken der Beamten am Ort waren in einem diskursiven Raum verortet, der sich in einem tiefgreifenden Wandel befand. Die beiden Jahrzehnte zwischen der Mitte der 1840er und der Mitte der 1860er Jahre stellen eine erste Phase des konzeptionellen Übergangs dar. Die Phase war durch eine mit dem Anstieg der Korn- und Brotpreise Mitte der 1840er Jahre einsetzende und sich rasant intensivierende Diskussion über das Subsistenzproblem gekennzeichnet. Diese hatte ihren Höhepunkt während der revolutionären Umbrüche der Jahre 1847–49 und ging im Zuge der bonapartistischen Restauration wieder stark zurück, ohne allerdings vollständig zu verstummen. Der Raum des Sagbaren war während des Zweiten Kaiserreichs durch Zensur jedoch stark eingeschränkt. Zwei sehr unterschiedliche Programme zur Lösung der Subsistenzfrage stachen in dieser Diskussion heraus. Das republikanische Programm der territorialen Kornreservenbildung durch den Staat knüpfte in den Grundzügen an Versorgungspolitiken der Französischen Revolution an, während die gleichfalls vieldiskutierte Einrichtung von Arbeitsrestaurants und Suppenküchen ein genuines Projekt der karitativ engagierten Honoratiorenschaft des Zweiten Kaiserreichs war. Den Programmen zur Bildung von staatlichen Kornreserven war gemeinsam, dass sie ausgeklügelte Formen der Versicherung der Bevölkerung gegen akute Unterversorgungslagen konzipierten. Sie verknüpften agronomische Berechnungen der zukünftig produzierten Kornmengen mit historischen Preisstatistiken sowie zeitgenössischen technologischen Entwicklungen der Getreidekonservierung. Das defensive Argument, dass der Kornmarkt mit seinem Gesetz von Angebot und Nachfrage durch den Verzicht auf direkte Preisfestsetzungen (wie etwa ein seit der Französischen Revolution weitgehend disqualifiziertes Maximum) unberührt bliebe, vermochte die Verwaltung des Zweiten Kaiserreichs jedoch nicht zu überzeugen. Diese optierte für andere Lösungen. Arbeiterrestaurants und Suppenküchen zielten nicht auf die Totalität des Kornhandels und die Regulation der Kornpreise, sondern boten kleinräumige, auf konkrete und lokal begrenzte Notlagen fokussierte Lösungen. Sie gingen auf in den 1830er Jahren entstandene Konzepte zur Lösung der neuen »Sozialen Frage« zurück und überführten die Subsistenzfrage des Ancien Regime in die postrevolutionäre Moderne. Ihnen lagen pastorale Führungstechniken zugrunde, insofern sie auf die Ansprache des männlichen Arbeiters bauten und an sein Gefühl der Verantwortung für sich selbst, für seine Familie und die Gesellschaft appellierten. Ihren Befürwortern ging es um die Bildung letztlich nicht nur eines tugendhaften Konsumenten, sondern auch eines tugendhaften Gesellschaftsmitglieds, das dem Alkohol entsagte, sparsam und vorausschauend handelte und sich gesund ernährte. Das Arbeiterrestaurant und die Suppenküche waren frühe sozialreformerische Programme, welche die 1848 sichtbar gewordene Spaltung der Gesellschaft in eine 338

Klasse der Besitzenden und eine Arbeiterklasse aufheben sollten – freilich mit den Mitteln des moralischen Vorbilds und der disziplinären Führung. Das tugendhafte ökonomische und politische Subjekt stand als implizite Norm auch im Mittelpunkt der Beobachtung der Gesellschaft in der Subsistenzkrise der 1850er Jahre durch die Justizbehörden und die Gebietsverwaltungen. In der Korrespondenz der Oberstaatsanwaltschaften mit den Justizbehörden in den einzelnen Departements über »Vorkommnisse« ist eine gesteigerte Bereitschaft zu beobachten, die Kommunikation über Korn- und Brotpreise als Politikum zu betrachten. Die Behörden waren extrem sensibilisiert für jede Verknüpfung der hohen Preise mit der Semantik des Politischen, seien es Bezugnahmen auf das bonapartistische Regime oder die stark geschwächte republikanische Opposition. Sämtliche ansatzweise an unkontrolliertes kollektives Handeln gemahnenden Praktiken wurden kriminalisiert. Das ist nicht nur in den Berichten der Justizbehörden, sondern auch in der Kommunikation der Innen- und Gebietsverwaltung zu sehen. Der durch Bedrohungsszenarien bedingte ­Fokus der Gesellschaftsbeobachtung war hier so weit gefasst, dass er nicht nur die Kundenaktivität auf Wochenmärkten und in Bäckereien im Auge hatte, sondern auch die an sich gesetzmäßige Kornspekulation und – das war neu – die Gefahren, die von verunreinigten oder verdorbenen Waren ausgingen. In einem ländlichkleinbäuerlich geprägten Departement wie dem Finistère ist eine weitere bezeichnende Entwicklung zu beobachten. Das Instrument der Brottaxierung, die in enger Zusammenarbeit zwischen der Kommunalbehörde und den örtlichen Bäckern ausgearbeiteten Verkaufstarife für Brotsorten, war für liberale Nationalökonomen, welche die Wirtschaftspolitik des Zweiten Kaiserreichs dominierten, zwar grundsätzlich ein rotes Tuch. Im Finistère breitete sich die Taxierung vom Ende der 1840er bis in die 1860er Jahre jedoch auf viele kleine Kommunen aus, wobei die Präfektur lediglich darauf achtete, dass dieses obrigkeitliche Instrument auf liberale Weise gehandhabt wurde. Der semantische Wandel des Subsistenzkonzepts, die programmatisch diskutierten Technologien der Subsistenzsicherung und die implementierten Praktiken der Subsistenzverwaltung konstituierten um die Mitte des 19.  Jahrhunderts folglich eine spannungsreiche Subsistenzpolitik. Wichtige Weichen für die Programmatik der Subsistenzpolitik der 1850er und 1860er Jahre wurden bereits in der Teuerungskrise der Jahre 1846/47 und der enorm breiten Diskussion der Zweiten Republik gestellt. In der Gesamtschau entsteht ein Bild, das über die gängige politikgeschichtliche Interpretation des Zweiten Kaiserreichs als Abfolge einer autoritären und einer liberalen Phase hinausweist. Vor dem Hintergrund der Subsistenzpolitik muss mehr von einem Prozess der Gouvernementalisierung gesprochen werden: Traditionell obrigkeitsstaatliche Instrumente wie die Brottaxierung und das Ausnahmeregime des Bäckereigewerbes wurden in ihrer Verbreitung gerade nicht eingeschränkt (das Bäckereigewerbe erst 1863 liberalisiert), sondern in ihrem Gebrauch vielmehr von Innen begrenzt. Das sicherte einerseits den polizeilichen Zugriff auf den örtlichen Korn- und Brotmarkt und andererseits die Kooperationsbereitschaft der Kornhändler und Bäcker. 339

Im Zusammenwirken von Hygiene als »neuer Spielregel« (T. Nadeau), physiologisch-naturwissenschaftlichem Expertenwissen und Markt- bzw. Gewerbeaufsicht verschoben sich spätestens in den 1880er Jahren die Grundlagen der Subsistenzpolitik vollends. Wie die Untersuchung am Beispiel der bretonischen Städte Rennes und Brest zeigt, gingen dabei wichtige Impulse von den großstädtischen Kommunen aus. So ist etwa in Brest zwischen dem Ende der 1860er und dem Ende der 1880er Jahre die sukzessive Einrichtung und pragmatische Verknüpfung von städtischem Schlachthof, Veterinär- und Lebensmittelinspektion sowie Chemielabor zu beobachten. Diese technisch-polizeilichen Institutionen und ihre naturwissenschaftlich-rechtlichen Grundlagen bildeten ein »dingpolizeiliches« Dispositiv (R. Canu/F. Cochoy), das die kommunale Gewerbe- und Marktaufsicht auf die disziplinierende Regulierung des Handels und des Wettbewerbs ausrichtete. Die im Lauf der Jahrzehnte immer stärker ausdifferenzierte, regelmäßige und alltägliche Kontrolle der Lebensmittel unterschied sich daher in ihrer Rationalität prinzipiell von der Brot- und Fleischtaxierung oder der Festsetzung von Preisen als präventiven Maßnahmen im Fall von Knappheiten oder Teuerungen. Der Fokus der polizeilichen Praxis amtlicher Experten im Markt für Grundnahrungsmittel bzw. im Lebensmittel produzierenden Gewerbe verschob sich auf die Produkte selbst. Sie stützten sich in ihrer Kontrolltätigkeit auf veterinärmedizinisches und chemisches, physiologisches und pharmazeutisches Wissen sowie immer neue rechtliche Vorschriften. Gleichwohl verfügten sie über implizite Wert- und Moralvorstellungen, die sich in ihrer Praxis bemerkbar machten. Die Gutachten mancher Experten wie etwa des Lebensmittel- und Fleischinspektors Chevaucherie in Rennes waren durch moralische Urteile über die »Profitgier« der Fleischer und Bäcker oder die »Rücksichtslosigkeit« geprägt, mit der Händler Milch, Butter und Wein »panschten«, die Kundschaft eines Teils des Nährwerts beraubten oder sogar ihre Gesundheit gefährdeten. Chevaucherie entwickelte persönliche Animositäten und nahm die Ware einzelner Händler besonders genau unter die Lupe, was zu offenen Konflikten und Rechtstreitigkeiten führte. Der Schriftverkehr mit anderen Stadtverwaltungen, Untersuchungsberichte, Expertengutachten und Beratungsprotokolle zur Markt- und Gewerbeaufsicht aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, zeigt die allmähliche Herausbildung eines jenseits und unterhalb der Zentralverwaltung zirkulierenden praxisbezogenen Wissens über das »richtige« kommunale Verwalten und Regieren in den neuen Subsistenzfragen. Ob es um Reformen der Marktordnung oder Schlachthofprojekte, um Inspektionsordnungen oder Diskussionen über Teuerungsursachen und angemessene Gegenmaßnahmen ging: Die Stadträte und Bürgermeister erbaten entsprechende Dokumente zu Beratungszwecken von Amtskollegen in anderen Städten oder kamen an sie gestellten Anfragen nach. Dabei zeigt sich, dass der Einfluss des Pariser Vorbilds nicht überschätzt werden sollte. Die Auswahl der Adressaten für Informationsgesuche richtete sich in Brest und Rennes eher danach, welche Städte etwa die gleiche Größe hatten, in welchen Städten ein ähnlicher Regelungsbedarf vermutet wurde oder auch da340

nach, ob persönliche oder parteipolitische Beziehungen zwischen den Bürgermeistern bestanden. In Brest diente so oftmals Rennes zur Orientierung, während sich die Verwaltung in Rennes wiederum nach Großstädten wie Bordeaux, Dijon oder Lyon richtete. Als im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende die Lebenshaltungspreise erneut anstiegen, in der Öffentlichkeit landesweit wieder verstärkt über Lebensmittelteuerung und ihre Ursachen diskutiert wurde und es im Herbst 1911 sogar zu einer großen Welle des gewalthaften Protests kam, zeigte sich, wie sehr die Hygienebewegung die Rahmenbedingungen der Subsistenzpolitik in den vorausgegangenen Jahrzehnten verändert hatte. Im Zentrum standen die hohen Preise für Fleisch und andere tierische Produkte, die für den Erhalt des »menschlichen Motors« (A. Rabinbach), der Körperkraft des männlichen Industriearbeiters, als unbedingt notwendig galten. Das Krisenmanagement der Behörden sowie der radikalsozialistischen Regierung Caillaux erschöpfte sich nicht in der Niederschlagung der Proteste, sondern bestand auch in einer intensiven Suche nach Marktreformen, die in der Nationalversammlung mehrheitsfähig waren. Die als Bedrohung für die Republik wahrgenommene Mobilisierung der Arbeiterbevölkerung in der Teuerungsfrage sollte durch Reformprojekte kanalisiert und die landesweite Kontroverse gleichsam dadurch entpolitisiert werden, dass ihre Lösung den Stadtverwaltungen übertragen wurde. So sah ein von liberalen Ökonomen scharf kritisiertes Regierungsprojekt vor, die Beteiligungsmöglichkeiten von Stadtverwaltungen an Fleischerei- und Bäckereigenossenschaften zu erweitern, um die Preise auf den lokalen Märkten dämpfen und indirekt regulieren zu können. In einigen sozialistisch regierten Stadtkommunen wie in Dunkerque griffen Bürgermeister auf dem Höhepunkt der Krise tatsächlich zu solchen entfernt an subsistenzpolizeiliche Maßnahmen für die Krisenbewältigung erinnernden Mitteln, um die Versorgung der Arbeiterbevölkerung mit günstigem Fleisch zu gewährleisten. In anderen Städten, etwa in Brest, ordnete der Bürgermeister schärfere Kontrollen der Produkte auf den offenen Märkten an, eine Maßnahme, die sich im normalen Rahmen der Markt- und Gewerbe­ aufsicht bewegte. In der intensiven öffentlichen Debatte über diese Krise, den administrativen Maßnahmen der Behörden insbesondere auf kommunaler Ebene und der Protestbewegung treten die Veränderungen der Subsistenzpolitik gegenüber den Jahrzehnten vor der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich hervor. Auf der einen Seite manifestierte sich in den Protesten durchaus noch jene »moralische Ökonomie der Menge« (E. P. Thompson), eine auf die Gemeinschaft bezogene Vorstellung über das »richtige« und »gerechte« Wirtschaften mit Lebensmitteln. Quer durch alle politischen Lager ist im Herbst 1911 eine bis in revolutionäre Zeiten zurückzuverfolgende moralische Empörung über den Zwischenhandel zu beobachten, der für den Preisanstieg verantwortlich gemacht wurde. Ihr lag eine – solidaristisch, sozialistisch oder völkisch ausformulierte – Gesellschaftskonzeption zugrunde, die sich der Tendenz nach über den Ausschluss der »in­ter­ mediären« Figuren und Netzwerke konstituierte. Auf der anderen Seite vertra341

ten jetzt nicht mehr lokale Würdenträger moralisch begründete Ansprüche auf Nahrungsmittelversorgung ihrer Gemeindemitglieder gegenüber den Produ­ zenten und Händlern, sondern naturwissenschaftlich ausgebildete, bürgerliche Experten mit moralischen Ansichten über böswillige, arglistige und gierige Produzenten die Gesundheitsinteressen der vermeintlich ungebildeten Konsumentenmassen. In diesem Sinn trat neben die »moralische Ökonomie der Menge« eine »moralische Ökonomie der Expertise« (L. Daston), die freilich wesentlich stärker auf den Lebensmittelmarkt einwirken konnte als kollektiver Protest, weil sie im Gewand naturwissenschaftlicher Expertise nicht angreifbar war, in Prüfverfahren und Gutachten einfloss und so ein Element der administrativen Alltagspraxis wurde. Mit Blick auf die weitere Entwicklung im 20.  Jahrhundert ist festzuhalten, dass die beiden Weltkriege und die Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit in mehrfacher Hinsicht eine Rückkehr zu subsistenzpolitischen Notmaßnahmen erzwangen, die bis dahin für obsolet gehalten worden waren. Die Versorgung der Bevölkerung wurde erneut staatlich organisiert, Lebensmittel wurden rationiert und teilweise zentral verteilt, Ersatzstoffe für solche Lebensmittel eingeführt, die man für die Verpflegung der Armeen benötigte. Auch waren, wie etwa 1919 in Paris, hohe Preise, Knappheit und schlechte Qualität der Lebensmittel vereinzelt Anlass für lokale Proteste, deren Protagnisten nun allerdings als Bürgerinnen und Bürger bzw. Konsumentinnen und Konsumenten auftraten. Und die von Stewart Kaplan rekonstruierte, in den Medien breit beachtete Affäre um das »Pain maudit« in den 1950er Jahren, eine von Brot ausgegangene Lebensmittelvergiftung, deren Ursachen lange Zeit nicht entdeckt wurden, belegt überdies eindrücklich, welche zentrale Rolle Brot als Grundnahrungsmittel in der französischen Nachkriegsgesellschaft hatte.

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Abkürzungen

ABPO Annales de Bretagne et des pays de l’Ouest ADF Archives départementales du Finistère ADIV Archive départementales d’Ille et Vilaine ADN Archives départementales du Nord AfS Archiv für Sozialgeschichte AHRF Annales historiques de la Révolution française AKG Archiv für Kulturgeschichte AMB Archives municipales de Brest AMR Archives municipales de Rennes AN CHAN Archives nationales, centre historique des archives nationales BCS Bourse des coopératives socialistes Bez. Bezirk CESR Cahiers d’Économie et de Sociologie Rurales CGT Confédération générale du travail CH Cahiers d’histoire CRS Compagnies républicaines de service EuRH European Review of History FHS French Historical Studies FQS Forum Qualitative Sozialforschung Fr Hist French History GG Geschichte und Gesellschaft GH German History GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HES Histoire, économie et société HJ The Historical Journal HPE History of Political Economy HSR Histoire et sociétés rurales IASL Intern. Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur IJCV International Journal of Conflict and Violence J Interd H Journal of interdisciplinary history JCP Journal of Consumer Policy JEV Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte JMEH Journal of Modern European History JMH Journal of Modern History JPI Journal of Political Ideologies JSB Journal of British Studies JSFdS Journal de la société française de statistique JSH Journal of Social History LMS Le Mouvement social MAC Ministre de l’agriculture et du commerce

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MACTP MbISB MI MIC MJ P&P PG PI PSU RES RFSP RH RH19 RHMC RHSH SFIO SH Soc Stud Sci SozW TRHS ZAA ZNR

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Ministre de l’agriculture, du commerce et des travaux publics Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen Ministre de l’intérieur Ministre de l’intérieur et des cultes Ministre de la justice Past & Present Procureur général Procureur impérial Parti socialiste unifié European Studies Review Revue française de science politique Revue historique Revue d’histoire du XIXe siècle Revue d’histoire moderne et contemporaine Revue d’histoire des sciences humaines Section française de l’internationale ouvrière Social History Social Studies of Science Soziale Welt Transactions of the Royal Historical Society Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivquellen Centre historique des archives nationales (AN CHAN)

AN CHAN BB 18 1553 7006 A2: mesures à prendre pour réprimer l’agiotage dans le commerce des céréales, juin-juillet 1856. AN CHAN BB 18 1618 3713 A3: Agitation populaire à Pont-L’Abbé (Finistère) à cause du renchérissement des pommes de terre, oct/nov. 1860. AN CHAN BB 18 1677 9348 A3: Boulangerie – Décret qui en déclare le commerce libre 22 juin 1863. AN CHAN BB 18 2470 1784 A 2: [Affaire Le Tréis]. AN CHAN BB 18 6604 76 BL 12: Accaparement de blé 1910–1912. AN CHAN BB 18 6604 BL 1–23: [Affaires de spéculation; blé, sucre, alcool, prétrole …]. AN CHAN BB 30 367 816 A: Rapports des procureurs, instructions, rhythme et contenu. AN CHAN BB 30 407 959: Dossier du circulaire du 4 août 1853: dossier général sur les fausses nouvelles qui se produisent dans diverses localités. AN CHAN BB 30 417 P1372: Société secrète se rattachant à la Marianne établie aux Sables d’Olonne (Vendée), mai 1856. AN CHAN BB 30 417 P1411: Complot dans le Canton de Thouars, arrt. de Bressuire (2 Sèvres) pour l’assassinat de l’Empereur et le renversement du gouvernement/ juillet-sept. 1856. AN CHAN BB 30 366 3: Exécution du décret sur la liberté de la boulangerie, 22.6.1863, 1863–1864. AN CHAN BB 30 432: Troubles à l’occasion de la cherté des subsistances, 1853–1854. AN CHAN BB 30 433: Troubles à l’occasion de la cherté des subsistances, 1855– 1857. AN CHAN BB 30 434: Jugements et arrêts sur les poursuites relatives à la cherté des subsistances 1853–1854. AN CHAN BB 30 447: Loi de sûreté générale 1858. AN CHAN C 7434: Assemblée Nationale, 10e législature. AN CHAN F 10 2172: Viande. Marchés Abattoirs, 1902–1940. AN CHAN F 10 7026: Blé [1912–1913]. AN CHAN F 11 2759: Greniers de prévoyance et sociétés alimentaires, 1851–1870. AN CHAN F 12 7024: Vie chère [1911–1912]. AN CHAN F 12 7025: Vie chère [1911–1912]. AN CHAN F 12 7027: crise de vie chère [1911]. AN CHAN F 12 7622: Réorganisation du Marché de la Villette, 1911–1912. AN CHAN F 7 13065: Sabotage [1897–1911]. AN CHAN F 7 13602: Bourse du Travail [Brest].

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AN CHAN F 7 14779: Affaire d’accaparement des sucres/pour mémoire: Normand, Léon; Dhilly, Émile.

Archives départementales du Finistère (ADF)

ADF 1M159: Protestations contre la cherté des vivres [1911]. ADF 4M53: Dossiers individuels des commissaires de Police. ADF 6M907: Grains et légumes: correspondance. ADF 6M917: Pain. Constatations et fixations du prix 1863. ADF 6M946: Subsistances: cherté et rareté; boulangeries; céréales, blé, sel sucre [XIXe–XXe]: 1846–1847. ADF 6M947: Subsistances: cherté et rareté; boulangeries; céréales, blé, sel sucre [XIXe–XXe]: 1854–1861. ADF 6M952: Boulangerie: Correspondance, 1816–1862. ADF 6M955: Céréales: révision de la législation, 1858–1865. ADF 6M959: Commerce des grains. ADF 6M966: Farine: surveillance de la production [1855–1856].

Archives départementales d’Ille et Vilaine (ADIV)

ADIV 4M95: Agitation ouvrière 1911 – manifestations contre cherté des vivres – Fougères, Saint Malo. ADIV 6M734: Police du pain, années 1863 ff. ADIV 6M779: Boulangerie, années 1840 ff.

Archives départementales du Nord (ADN)

ADN M159 29A: Rapports quotidiens du préfet au Ministère de l’Intérieur sur la cherté des vivres et contre la guerre du 25 aout 1911 au 29 septembre. ADN M433 56–60: Police de la boulangerie, taxe du pain, 1853–1860.

Archives municipales de Brest (AMB)

AMB 1D2: Délibérations du Conseil municipal 23.8.1848–15.6.1867. AMB 1I7.1: Halles, marchés/réglementation, emplacements, denrées, droits de places 1793–1959. AMB 2D37: Correspondance du maire avec le sous-préfet et le préfet 19 mai 1851–23 mai 1855. AMB 4F1.4: Mercuriales: Instructions, demandes de tarifs, relevés pluri-annuels, décisions de prix, 1790–1969. AMB 4F4.1: Boulangerie/Exercice de la profession, an III-1846. AMB 4F4.2: Boulangerie/Exercice de la profession, 1848–1970. AMB 4F5.1: Boucherie: listes des bouchers, qualité de la viande, prix, condition de vente, locaux, consommation de viande [1791–1954]. AMB 5I11.2: Surveillance des abattoirs privés; Projet d’abattoir public, an III-1882. AMB 5I11.3: Abattoirs du Boulevard Gambetta; Marchés d’animaux dans l’enceinte; Réglementation; Organisation de l’abattoir; Inspection des viandes [1887–1859]. AMB 5I11.4: Abattoir public; rapport d’activité [1887–1974]. AMB 5I4.3: Laboratoire municipal, 1882–1966. AMB 5I4.4: Laboratoire municipal, 1882–1966.

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AMB 6F3.1: Crise des subsistances: apparitions, développement, mesures 1847/association brestoise pour l’achat de blé et de farine 1847. AMB 6F3.2: Crise des subsistances/Procès-verbaux des séances des citoyens inscrits sur la liste du jury (= commission des subsistances), 1847. AMB 6F4: Crise des subsistances, apparition, mesures 1867–68. AMB M 232: Abattoirs de Brest; projet de construction etc.

Archives municipales de Rennes (AMR)

AMR 2Q4: Distribution de soupes journalières, demandes de renseignements, société des fourneaux économiques, demandes de création, subventions, locaux, 1812–1940. AMR 5F18: Police des viandes, 1890–1900. AMR 5F19: Police des viandes, 1870–1890. AMR 5F20: Police de la boucherie, 1840–1915. AMR 5F22: Boulangerie. Minoterie. Réglementation situation. AMR 5F23: Boulangerie. Minoterie. Réglementation situation. AMR 5F24: Boulangers forains 1836–1901; Panification 1812–1926; Projet de réorganisation de la boulangerie de Rennes et création d’une caisse de prévoyance [1854–1860]. AMR I101: Abattoir, boucherie, 1889–1909.

Veröffentlichte Quellen Wörterbücher

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Zeitschriften und Zeitungen

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Le Matin Le Petit Journal Le Radical Le Rappel Le Siècle Le Temps Les Débats L’Humanité Mémoires de l’Académie royale des sciences, inscriptions et belles-lettres de Toulouse Procès-verbaux du Comice agricole de l’arrondissement de Douai Revue de la solidarité sociale Revue des deux mondes

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Broschüren und Monographien

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Register

Personenregister Abatucci, J.-P.  92–94,  97, 101, 106, 108 Allary, C.  267 f.

Cornudet de Chaumettes, E.-J.  179, 198 Couyba, M.  328, 330 f.

Bailby, L.  316 Barillé, V.  256, 262–266, Barral, J.-A.  191, 231–233, Beaumont, F.-B. de  179, 183 Béhic, A.  196–200, 202 f. Bella, F.  188 Berry, G.  333 Bizet, H.  111 f., 122, 128–132, 167, 172–195 Blanc, Ch.  213, 215 f., 218–220, 224, Block, Maurice  9, 31, 33, 208, 225, Boittelle, É.  190 Bollotte, J.  277 Bonaparte, Napoléon  170, 190, 193 Bonneau, P.  63 Boudin de Tromelin, G.  175 Boudios, G.  318 Bourguinat, N.  13 Boussingault, J.-B.  189 Briaune, J.-E.  59, 64, 188 Broutchoux, B.  298 Burat, J.  189 Burlé, E.  260 f.

Damay, N.  90, 96 f., 103 f. Darblay, A.-R. (aîné)  105–108, 178, 182 f. Darblay, A.-S. (jeune)  188 Daston, L.  235, 342 David, F.  330, 332 Delamare, N.  10, 25, 30, 34, 39, 49 Delaplane, V.  62 f., 66 Delobeau, L.  325 Delory, G.  299 Essarts, N.-T. L. des  49 Desclozeaux, J.  211 f., 214 f., 219 Doyère, L.  64 f., 189 Dubreuilh, L.  298, 305 f., 318 Duckett, W.  43 Dulac, A.  319 f. Dumas, J.-B.  198 Dumont, C.  331 Duval, R.  51, 53, 233 Duvergier, E.  198

Cahen, A.  332 Caillaux, J.  321 f., 326, 331, 334, 341 Canu, R.  340 Carfort, H. de.  154–160 Cherbuliez, A.-E.  49, 51 f. Chevalier, M.  184, 188 Chevallier, A.  107 Chevaucherie, Ch.-H.  274, 276–282, 340 Clément, Am.  32 f., 47 Cobden, R.  51 Cochoy, F.  340 Coignet, F.  65 Compère-Morel, A.  294, 297, 300, 315 Coq, P.  52 Coquelin, C.  31

Féart, P.  159 f., 171 Fénétrier, A.  295 Foubert, Louis  9 f., 33–37, 46 f., 49 f., 56, 186, 198, 225–230 Foucault, M.  16 France, M. de  78, 89, 94 Garnier, J.  44, 149 Gaumont, J.  320 Genty, R.  111, 122, 129 Gide, C.  294, 311 f., 320 f. Gleizes, A.  64, 73 Godart, J.  333 Gohier, U.  319 Gonse, R.  216 f. Gosset, P.  189 Grün, A.  67 f. Guilhaumou, J.  15

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Guillaumin, G.  31 Guizot, F.  28 Guyot, Y.  52, 313 Haussmann, G.-E.  150, 153 f., 160, 185 f., 188, 190–193 Hennion, C.  327 Hétet, A.  267 Hévin, C.  238, 243 f. Homon, Ch.  180 f. Huard, G.  219 Huart, H.  65 Janvier, J.  323 f. Jaurès, J.  301 Joubert, A.  294 Jouhaux, L.  317, 323 Kaplan, S. L.  342 Kerjégu, L. de  174, 180 f., 183, 246–248, 259 Kerros, J. de  111, 240 Klein, Pierre  68, 71–73 Koselleck, R.  10 Lacrosse, B.  136 Lafargue, P.  302 Lafaye, V.-B.  28 Lamarzelle, G. de  313 f. Larousse, P.  28, 30, 39, 44, 51 Lassaigne, J.-L.  107 Latour, B.  69 Laumonier, J.  43, 212, 232 Lavergne, L. de  182 Le Bastard, E.  277 Le Châtre, M.  30 Le Moutier, J.-M.  34 Le Play, F.  185, 187–190, 192–194, 198 Le Roux, S.  256, 259, 262–266 Le Tarouilly, A.  157–160 Lefebvre-Duruflé, N. J.  112 Lelong, E.  35–37, 52, 221, 223 Léon, A. de  156–159, 163, 171 f., 273 Leroy-Beaulieu, P.  311, 316 Lettré, F.-V.  111, 126, 128 Link, J.  30, 60, 75 Ludwig XIV.  216 Ludwig XV.  41, 47 Malthus, T.  32, 51 Mangin, A.  210 f., 213–218, Marie, F.  305

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Marolles, C.  65 Maroussem, P. du  312, 317, 321 Mège-Mouriès, H.  189 Méline, J.  285, 312 f. Merruau, Ch.  198 Meslé, J.-M.  159 Métivier, T.-J.  98 Michaud, H.  276 f. Mingasson, S.  63, 65 Modeste, V.  141 f., 149 f. Molinari, G. de  42 f. Momméja, F.  312, 317, 320, 332 Monny de Mornay, J. de  186, 198 Mouy, R. de  221–224 Nadeau, T.  340 Napoléon III.  51, 57, 63, 75 f., 87 f., 107 f., 112, 137, 139, 152, 160, 169, 173, 184, 188, 190–193 Ott, A.  40, 47 Pams, J.  327, 330 Paul-Boncour, J.  315, 316, 320 Payen, A.  186, 189, 213 Payre, R.  16 Pennors, A. D.  243 f., 259, 262, 267–270 Persigny, V. de  115, 117 Pietri, P. M.  185, 187, 190 Pihoret, A.  69 f. Pilatus, P.  295 Pionin, Ch.  208 Pollet, G.  16 Pommier, A.  43, 45 f., 151, 161, 189 Pompéry, T. de  112, 118, 133 Pouget, É.  298–302, 304 Puybusque, A. de  34 Quignon, P.  307 Rabinbach, A.  341 Raphael, L.  15 Renaudel, P.  305 Retière, E. L. F.  243 Revel, J.  18 Réville, M.  295, 313, 318 Richard, C.-L.-V.  111 f., 117–119, 122, 126 f., 129, 143, 146, 148 f., 165, 167 f., 180 Rigaud, R.  53 Robert de Massy, J.  189 Roldes, M.  306, 313

Romary, P.  282 Rosanvallon, P.  286, 328 Rouher, E.  105 f., 113 f., 116 f., 153, 167 f., 170–172, 174 f., 179, 182, 184–186, 188 f., 194–198 Rouhier d‘Andelarre, J.  182 Roullier, J.  308, 326 Roussel, A.  305 Sanson, A.  139 Sardou, A.-L.  28 Sauzède, A.  319 Savoie, A.  305 Selle, A.-R.  327 Siegfried, J.  287, 314 Smith, A.  51 Sorel, G.  301 Stanziani, A.  14

Strauss, P.  295 Tardieu, A.  220 Taulier, F.  69 Terneaux 64 Thompson, E. P.  13, 341 Tilly, Charles  12 Toubeau, M.  213, 215 f., 218–220, 224 Turgot, A.-R.-J.  51, 131 Valléry, Ch.  64 Villain, L.  280 Vincent, A.  112, 134, 257 Vincent, L.  326, 328 Viot, L.  65 Vitry, A. de  43 Vuillaume, M.  319

Sach- und Ortsregister Abbeville 105 Agiotage  48 Fn. 117, 61, 100 f., 101 Fn. 142, 102 f., 124, 136, 317, 333 Aix-en-Provence 98 f. Amiens  82, 99, 106, 107 Angers  78, 82, 199 Fn. 312 Angoulême 91 Aniche 291 Arbeiterbewegung  294, 298–301, 303–309, 312, 330 Arbeiterrestaurant (société alimentaire)  21, 57, 66, 69–74, 338 Armee 28 f.,  35, 58, 64, 77, 92, 110, 121, 203, 240, 262, 267 f., 283, 291 f., 294, 303–305, 325, 327, 335, 342 Arras  177 Fn. 190, Arvert  86, 90, 96 Audierne  142 Fn. 8, 144 f., 150 Bäckerei  10, 21, 31, 33, 36, 49, 103 Fn. 151, 121, 130, 135, 139, 147, 149, 154–161, ­165–175, 177, 184–195, 197 f., 200, 202, 204, 229, 240 f., 282, 291, 331, 339 – Ausnahmeregime  21, 141, 153, 161, 167, 169, 172, 175, 184 f., 189–195, 200, 202, 339 – Bäckereifrage  161, 185, 189, 192, 313 Fn. 170

– Gewerbe  21, 34, 49, 113, 139–141, 146 Fn. 25, 151, 153, 157, 159 f., 169, 171 f., 184 f., 187, 191, 193–195, 197, 202, 205, 230, 339 – Gewerbeordnung  19, 21, 34, 36, 49, 97, 139–141, 159, 161, 163–168, 170–175, 184 f., 187, 191, 194, 196, 205, 331 – Gewerbereform 20 f.,  56, 113, 139 f., 143, 153, 157, 159 f., 171 f., 184 f., 190–198, 198 Fn. 299, 199 Fn. 312, 200, 202, 204, 283 – Bäckereipolitik  139, 169, 172, 174, 184 – Syndikat  188, 190, 286, 306 Fn. 115, 308 Belle Île-en-mer 89 Besançon  78 Fn. 11, 82 Betrug  11, 21, 30, 36–38, 79, 94 f., 96 Fn. 112, 98, 101–103, 108, 114, 118–120, 124, 132, 163, 172, 200 f., 207–212, 214–221, 223 f., 227, 233, 235, 241–243, 249–253, 255 f., 267, 269, 273, 281 f., 302 Bordeaux  78, 82, 85, 199 Fn. 312, 215, 245, 247 f., 250, 253, 255, 280, 341 Bourg-en-Bresse 68 f. Bourges  78, 82, 107 Fn. 177, 315 Bourse des coopératives socialistes (BCS) 306 f.,  318 Bourse du Travail  286, 308, 308 Fn. 137, 322 f., 325 f. Boykott  300, 307

381

Brest  19–21, 23, 64, 68 Fn. 83, 77, 81, 104, 110–112, 118–123, 124 Fn. 260, 126, 1­ 28– 131, 134, 134 Fn. 312, 135–137, 139, 142– 145, 147 Fn. 31, 148–150, 152, 160 Fn. 107, 161, 165–168, 171–176, 181, 195 f., 196 Fn. 291, 197, 203, 215, 236–240, 2­ 42–248, 251, 253, 255–263, 2­ 65–271, 282 f., 286, 290, 304, 308 f., 321, 325 f., 335, 340 f. – Stadtverwaltung 111 f.,  122, 128–132, 134 f., 136 Fn. 319, 152, 160 Fn. 107, 166 f., 172–175, 195, 196 Fn. 291, 237, 239 f., 243, 245, 251, 255, 270 – Unterpräfektur  109, 111, 117, 121, ­129–132, 134 Fn. 312, 135 f., 142, 144, 147 Fn. 31, 148, 161, 166–168, 176, 180, 183, 195, 248, 254 Brot – Preis  75, 97, 123 f., 127–129, 140 f., ­146–148, 150–153, 155, 157, 160, 186, 189 f., 194, 198, 203, 248, 312, 338 f. – Qualität  146, 190 – Taxierung  52, 96 f., 103 Fn. 151, 140 f., 141 Fn. 4, 142, 144–151, 153, 158 f., 162– 166, 168 f., 169 Fn. 151, 173, 184–187, 193, 193 Fn. 283, 195–199, 203 f., 222, 228 f., 285, 322, 339 – Taxierungsverordnung 141–143, ­145–150, 161, 163–165, 168, 197, 205 Brotfabrik (Meunerie-Boulangerie)  157, 186–188, 190, 198 Fn. 298 Brüssel  185, 189 f., 193 Caen  78 Fn. 11, 82, 101 Fn. 142, 199 Fn. 312 Caisse de service de la boulangerie 150 f.,  153, 174, 188, 190, 192, 194 Camaret  144, 148, 150 Cambrai 315 Cancale 301 Carhaix  142 Fn. 8, 144 f., 145 Fn. 25, 146, 150, 164, 309 Chalon-sur-Saône 290 Charleville 105 Chateaubriant 98 Châteaulin  111, 119, 145, 145 Fn. 25, 146, 146 Fn. 25, 147 Fn. 30, 148 f., 178 Chateauneuf  144, 150, Chatellerault 98 Chaville 299 Code Pénal – § 256ff  91 – § 418  216

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– § 419 96 f.,  101, 103 Fn. 151, 104, 108, 333 – § 420  96, 108, 333 – § 421  102, 333 – § 422  102, 333 – § 423  38, 216 – § 475  216 Cognac 96 Colmar 82 Combrit  144, 145 Concarneau  81, 145, 309, 309 Fn. 138 Confédération générale du Travail (CGT)  286, 291 f., 294, 297 f., 304–308, 316–318, 321, 323 f., 331 Conseil d’État  113, 129, 139, 153, 159, 169, 172, 179, 182–193, 282, 324 Corbeil  42, 47, 105, 107, 188 Fn. 254 Côtes du Nord  78, 90, 268 Creil 291 Crozon  144, 148, 150, 165, 239 Denain 327 Dijon  78 Fn. 11, 82, 199 Fn. 312, 341 Douai  78 Fn. 11, 82, 199 Fn. 312, 291 Douarnenez  143 Fn. 10, 144–146, 147 Fn. 30, 149, 163–165, 308 Dunkerque  327, 341, Épinal 325 Essonne 107 Ferrière-la-Grande 290 Finistère  19, 23, 78, 81, 83, 109 Fn. 181, 110, 112, 114, 120, 123 f., 126, 131, 133, 135, 137, 142–145, 149 f., 161, 166, 168, 175 f., 178, 183, 195, 197, 240, 259, 290, 308, 321, 326, 339 – Präfektur  21, 77, 111, 113, 125 f., 128, 132, 135, 142, 146, 148 f., 161, 166, 168, 180, 321, 325 Fleisch – Inspektion 20 f.,  241, 259, 261–263, 266, 269–274, 276–283, 340 – Markt  19, 35, 237, 245–248, 250 f., 254, 256, 260 f., 263, 269, 272–274 – Preis  204, 248 f., 251, 253, 260 f., 263, 266, 273 f., 282, 296, 322, 324 – Qualität  9, 19, 221, 248 f., 251–254, 256, 259, 262–264, 266, 270 f., 273–276, 278, 282 – Taxierung  141 Fn, 4, 166 Fn. 139, 204, 246–253, 255, 260, 275, 283, 322, 324 – Teuerung  237, 245–249, 251, 255

Fleischerei  10, 30, 33 f., 36 f., 222, 240, ­245–247, 249–252, 254–256, 259–261, 263, 265 f., 269, 271–273, 276 – Gewerbeordnung 36 – Gewerbe- und Marktreform  248, 255 f., 263, 266, 272 f., 275, 328, 330 – Syndikat 280 Fougères 324 Freihandel  21, 44, 50, 53, 97, 101, 112, 114, 116–119, 125, 130, 132–134, 136 f., 141, 158, 160, 165, 167 f., 171, 177 f., 184, 191, 202, 205, 224, 227, 230, 233, 240, 249, 252, 260, 274, 283, 324 Ganges 68 Gendarmerie  109, 111, 117, 120, 122 f., 124 Fn. 258, 129, 135–137, 291 f., 294, 324–327 – Wissen  26, 38 Gesetz vom 27. März 1851  30, 37 f., 103, 200, 202 f., 208, 216, 240 Fn. 22, 243, 255 Gouesnou  144, 150 Grenoble 68 f.,  82 Guilvinec 308 Guingamp 90 Guipavas 144 Guise 99 Handelsfreiheit s. Freihandel Horten, Hamstern, Aufkauf  48, 118 Fn. 223, 165, 333 Huelgoat 144 Hygiene (Lebensmittel)  1, 14, 26, 217, 221 f., 235 f., 258 f., 263, 265, 271 f., 277, 283, 328, 340 f. Ile de Noirmoutier  96 Ile de Sein  144 Ile Tudy 144 f. Ille & Vilaine  19, 23, 78, 96, 195, 197 – Präfektur  195, 321, 324 Isle-Jourdain 90 Koalition  79, 90, 95–98, 100, 102, 104, 108, 137, 178, 182 Konsumgenossenschaft  68, 306, 320, 330 Korn (Getreide)  9–12, 19, 21, 30 f., 34–50, 52 f., 55–57, 59–66, 73, 75–77, 81, 84 f., 88, 95, 96 Fn. 112, 97–101, 103–105, 107–110, 112–120, 121–129, 131, 133–137, 139, 142, 144–146, 148, 150–154, 156 f., 159, 164 f., 169–171, 175 f., 178 f., 184, 186, 188 f., 194,

– –



– – – –

203–205, 207, 226–228, 230, 232, 236, 240 f., 314, 338 f. Kornfrage 36 f.,  39, 43, 45 f. Handel  10, 34 f., 38–40, 42–45, 47, 50, 52, 63, 73, 98, 100–102, 110, 112–114, ­118–120, 122 f., 125, 133, 135 f., 144, 154, 157, 165, 176, 188, 227 f., 338 Preis  11, 34, 48, 59–61, 65, 75, 77, 85, 94, 97, 99, 108, 112 f., 115, 120, 122, 125 f., 131, 134, 145 f., 148, 152, 169 f., 175, 187, 190, 285, 333, 338 Reserven, Speicher  12, 21, 31, 36, 38, ­40–43, 47–49, 57, 60 f., 63 f., 66, 134, 150, 153 Fn. 65, 156, 170 f., 204, 226 f., 338, 240 Stufenzoll (échelle mobile)  40–42, 51, 169, 175, 177, 179–185, 227 Taxierung 12 Teuerung 107

L’Aber-Ildut 309 Laferlé 99 Lambézellec  143 Fn. 10, 144 f., 150, 196 Fn. 291, 263, 325 Landerneau  81, 112, 123, 144, 144 Fn. 10, 145, 148–150, 181, 259 Lannilis  123, 259 Laon 99 Le Faou  133, 144, 148, 150 Le Havre 105 f.,  245, 247 f., 280, 359 Le Mans  139 Lebensmittelinspektion  38, 49, 134 f., 164, 214 f., 223, 236–255, 267, 269 f., 272 Lesneven  123, 124 Fn. 260,144, 181 Lesplanac 91 Ligue du libre-échange  313 Ligue économie de défense des intérêts de Brest (et de la région)  293, 308, 325 Ligue nationale des consommateurs  294 f., 309, 320, 328 Lille  19, 23, 68, 176 Fn. 190, 215, 245, ­247–250, 253, 255 Limoges  78, 82, 86, 199 Fn. 312, 204 Loire Inférieure  123, 313, 324 London  185, 189 f., 193 Lorient 324 Lyon  139, 173, 175, 245, 247–249, 251, 255, 280, 341 Marktordnung  17, 30, 49, 238, 274, 329, 340 – Brot 140 – Fleisch  150, 272, 323 f., 330 Fn. 282

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– Reform  246, 329, 330 Marle 99 Marseille 98 f.,  105, 188 Maubeuge 290 Mehl  19, 30, 39, 44, 47, 56, 81, 96 Fn. 112, 102–105, 107–110, 112, 122, 133 f., 139, 151, 154–159, 167, 169–175, 185–189, ­192–194, 203, 268 – Pflichtvorräte  47, 154, 158, 167, 169, ­171–175, 186, 192 – Preis  151, 203 – Taxierung 133 Metz  82, 106, 199 Fn. 312 Metz-sur-Seine 87 Ministerium – der Finanzen  106, 171, 332 – des Handels- und der Landwirtschaft  10, 105 f., 112–114, 116 f., 119, 121, ­126–128, 131 f., 142, 153, 166 f., 170–172, 174 f., 178 f., 182, 184, 188 f., 194–196, 198, 200– 202, 225, 285 Fn. 1, 286, 321, 328, 330 – des Inneren  56, 78 Fn. 10, 86, 89, 92 f., 97, 101, 103, 106, 115, 117, 124, 126, 161 Fn. 108, 171, 178, 245, 322, 325, 328 – der Justiz 76 f.,  80, 86, 92–94, 97–99, ­101–106, 108, 121, 137, 199 Fn. 312, ­200–203, 332 Moëlan  144, 165 Montereau-fault-Yonne  92, 94 Montesmet 99 Montpellier 82 Morbihan  78, 123 Morlaix  110–112, 119, 121 f., 127 f., 135, 142– 145, 145 Fn. 25, 146, 149 f., 161, 176, 180 f., 183, 309 Moselle  144 Fn. 10 Moulin-Blanc 309 Moussac-sur-Vienne 90 f. Müller  81, 95, 104, 107, 109, 112, 122, 129, 130–135, 150 f., 157, 187 f., 236, 333 Musée social  317 Nancy 82 Nantes  107 Fn. 177, 110, 122, 152 f., 153 Fn. 65, 155, 280 Nîmes  83, 310 Nord  19, 23, 86, 104, 290, 300, 310, 315, 321, 326, 335 Paris  17, 19 f., 23, 36, 38, 47, 49, 58, 71, 75, 76 Fn. 7, 80, 82, 94, 105–107, 109, 111,

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113 f., 129, 139 f., 150–156, 158, 160 f., 169, ­171–175, 177, 179, 182, 184–195, 198 Fn. 299, 199 Fn. 312, 204, 211, 215, 257 f., 272, 280, 304–308, 310, 313, 317, 319, 327, 330, 332–334, 340, 342 Parti socialiste unifié (PSU)  297, 304, 306 f., 308 Fn. 137 Pas de Calais  104, 290 Plabennec 181 Pleyben  144, 150 Ploudalmézeau 181 Plougasnou 128 Plougastel  144, 239 f. Plozévet 144 Poitiers 82 Polizei  39, 71, 109, 111, 117, 120–122, 129 f., 133, 137, 147, 156, 161 Fn. 108, 164, 185, 187, 190, 235 f., 239–242, 244 Fn. 41, 245, 252, 256, 265, 273, 277, 283, 286, 291 f., 304 f., 309 Fn. 138, 321, 323, 325 f. – Befugnisse  221–223, 274, 278 – Wissen  25, 36–38, 49, 155 – kommunale Polizeiordnung  141, 166, 196 Pontavent 99 Pont-Croix  144, 147 Fn. 30, 149 Pontdebuis, 309 Pont-l’Évêque 105 Pont-l’Abbé  135, 142 Fn. 8, 144 f., 149, 166 Fn. 166, 308 Poullan  144, 150, 165 Poullaouen  144, 164 Produktfälschung  11, 31, 79, 191, 207–221, 233, 235, 267, 269 Protektionismus 52 – Agrarprotektionismus 11f;  21, 52, 175 f., 181, 224, 312 f., 316–318, 334 – Kritik  313, 316–318 – Sozialprotektionismus  21, 334 Provins 177–180 Quimper  19, 23, 111, 120, 127, 132 f., 135, 142–145, 147, 149 f., 161, 181, 183, 248, 308 Quimperlé  81, 111, 118–120, 142, 144, ­147–150, 163 Redon  96, 197 Fn. 294 Reims 215 Rennes  19–21, 23, 78, 81–83, 88, 90, 94, 110 f., 121, 139, 152–160, 160 Fn. 107,

171 f., 197, 204 Fn. 333, 215, 236, 245, 247, 269, 271–278, 280 f., 283, 317, 321–324, 326, 335, 340f Riom  83, 199 Fn. 312 Riu 144 Roscoff  144, 150, 309 Rosporden  144, 150, 309 Rouen  78, 83, 111, 188, 199 Fn. 312, 310 Sables d’Olonne  95 Fn. 102 Sabotage  293, 295 f., 300–302, 303 Fn. 102, 305, 323 Sainte Verge  92 Saintes 96 Saint-Étienne 215 Saint-Quentin 290 Scaër 309 Schlachthof  33, 236–238, 243–247, 256–263, 265 f., 269–274, 276 f., 279 f., 282, 304 f., 327, 329 f., 340 Section Française de l’Internationale ­ Ouvrière (SFIO)  300, 304 f. Seine, Präfektur  150, 152, 154, 160, 185 f., 188, 190, 191 Fn. 270, (295), (318) Société Saint Vincent de Paul 67 f. Soissons 99 f. Spekulation  48, 61, 94, 97, 100 f., 101 Fn. 142, 102, 108, 133, 153 Fn. 65, 157, 218, 305, 317–319, 333 St. Brieuc  268 St. Malo  324 St. Paixent  90 St. Pierre de Quilbignon 144 f.,  263 St. Pol de Léon  135, 144, 150, 163, 165, 309 St. Renan  123, 181 Städtisches Chemielabor  215, 236–238, 243, 267–270, 286, 340 Subsistenz – Subsistenzfrage  9–15, 20 f., 25, 31 f., 35 f., 40, 43, 55–57, 59, 59 Fn. 29, 66, 74–76, 78, 78 Fn. 12, 84 f., 89, 93, 108, 113, 115, 136, 169, 192, 205, 207, 225 f., 229 f., 235, 337 f., 340 – Konzept  9, 15, 20 f., 25–33, 35, 37–39, 47, 53, 204, 221, 231, 233 f., 337, 339 – Krise  76, 80 Fn. 29, 84, 86 Fn, 46, 92, 101, 108, 113, 143, 204, 282, 339 – Politik  11, 16–21, 52 f., 57, 125, 140, 183, 204, 227, 236, 248, 339–342 – Verwaltung 9 f.,  17, 49, 54, 339 Suppenküche  21, 66–68, 71–74, 338

Terminhandel  48 Fn. 117, 98–100, 109, 120, 123–125, 136 f., 319, 332 f. Teuerung 11 f.,  19, 21, 30, 55 f., 60 f., 63, ­66–68, 71, 73, 75–78, 80 f., 85, 87–89, 94 f., 97, 103 Fn. 151, 107–109, 112–119, ­122–124, 128, 131, 133–137, 140 f., 142 Fn. 7, 148, 150– 153, 156 f., 159, 161, 164, 167, 169 f., 175, 184, 188, 200, 204 f., 233, 236, 239 f., 242, 247–249, 254–256, 260, 287, 289 f., 293 f., 296, 304–306, 309, 3­ 11–314, 316, 319, 322 f., 325–327, 331 f., 334 f., 340 f. – Begriff 30 f.,  34, 36, 38, 40 f., 47, 51, 53, 93 – Kommunikation 308 f.,  317, 320, 328, 330, 333, 334 – Krise  20, 55, 89, 101, 108, 110 f., 113, 125, 140, 290, 308, 327 f., 334, 339 – Politik  109, 137, 248 – Protest  10, 12–14, 21 f., 55 Fn. 4, 294–296, 296 Fn. 69, 297, 300, 303, 306, 317 – Vie chère  287–290, 297, 311 Toulon 110 Toulouse  83, 199 Fn. 312, 245, 247, 300 Tourcoing 104 Troyes  91, 199 Fn. 312, 290 Valence  245, 247–249, 251, 255 Valenciennes 327 Vannes  89, 123 Verbraucher  11 f., 14, 22, 52, 57, 61 f., 70, 74, 97, 100, 103, 114, 116, 119, 147, 149, 151, 153, 158 f., 162–165, 169 f., 183, 186 f., 192, 195, 199, 201–203, 212–215, 217 f., 222, 236 f., 243, 246 f., 249–253, 256, 260, 263, 266, 271, 273 f., 281–283, 285, 289, ­291–293, 295 f., 298, 302 f., 307, 309, 309 Fn. 139, 312–314, 317, 320–325, 328, 333, 335 Vervins 99 Veterinärmedizin  223, 245, 256, 259, 262, 264–266, 269–279, 282 f., 328 Fn. 262, 340 Vie sur Aisne  100 Vitré  197 Fn. 294 Volksernährung  14, 170, 224, 231–234, 281 Volksgesundheit  14, 224, 279, 281 Wettbewerb  21, 50, 96 f., 99 f., 131, 149, 157 f., 192, 195–199, 205, 208, 210, 218 f., 221, 224, 233, 235, 249, 252 f., 260, 266, 274 f., 283, 320, 324, 337, 340 Zensur  93, 108, 137, 338

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