Strom für die Republik: Die Stasi und das Kernkraftwerk Greifswald [1 ed.] 9783666310607, 9783525310601

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Strom für die Republik: Die Stasi und das Kernkraftwerk Greifswald [1 ed.]
 9783666310607, 9783525310601

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Analysen und Dokumente Band 53 Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)

Sebastian Stude

Strom für die Republik Die Stasi und das Kernkraftwerk Greifswald Mit 51 Abbildungen und 10 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Montagearbeiten zu den Blockwarten der Ausbaustufen Nord I und Nord II. Von hier wurde der Kraftwerksbetrieb später überwacht und gesteuert. BStU, MfS, ZAIG, Fo Nr. 2832, Bild 20

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1064 ISBN 978-3-666-31060-7

Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kernenergiewirtschaft in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Sozialismus und Kernenergie als Utopien . . . . . . . . . . . . 2.2 Das nukleare Risiko als Geheimsache . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Kernenergie – wirtschaftlicher Test und Konjunkturprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Sicherer, sauberer und billiger Strom . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Abhängigkeit und Autarkie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Gründerzeit und Abkühlung der »Atomeuphorie« . . . . . . . 2.7 Stagnation, Frustration und Krise . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Von der Stasi-Operativgruppe »KKW Nord« zur StasiObjektdienststelle »Bruno Leuschner« . . . . . . . . . . . . . 3.2 Tätigkeitsfelder der Dienststelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zuordnung, Struktur und Ausstattung . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Stasi-Offiziere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Informanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Informationen und Berichte als Arbeitsalltag . . . . . . . . . . 3.7 Operative Personenkontrollen und Operative Vorgänge . . . . 3.8 Sicherheitsüberprüfungen und Sicherungsvorgang . . . . . . . 3.9 Zur Wahrnehmung der Geheimpolizei im Kraftwerk . . . . .

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4. Das Kernkraftwerk Greifswald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Funktionsweise und Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Sicherheitsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Schutzgebietserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Bau und Inbetriebnahme – Erfolge und Rückschläge . . . . . 4.5 Verwerfungen in den 1970er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Herausforderungen in den 1980er-Jahren . . . . . . . . . . . 4.7 Tschernobyl als Zäsur und Katalysator . . . . . . . . . . . . 4.8 Protest gegen Kernkraftwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Zunehmende Bauzeiten und Kostenexplosion . . . . . . . . . 4.10 Die Krise als Untersuchungsgegenstand der Stasi . . . . . . . 4.11 Instandsetzung oder Stilllegung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12 Der Westen im Visier der Stasi . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5. Die Friedliche Revolution 1989/90 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Ausreise und Flucht als Ausdruck und Ursache der Krise . . . 5.2 Unzufriedenheit: Die Kollektiveingabe der A-Schicht . . . . 5.3 Polemik an der Berufsschule: »Der Sozialismus siegt« . . . . . 5.4 Friedensgottesdienste und Protestbewegung . . . . . . . . . . 5.5 Die »Wende in der Wende« und das Ende der Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Das Kraftwerk – Ort der Revolution? Die Kernkraftwerker – Revolutionäre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Umbau, Aktenvernichtung und Auflösung der Stasi . . . . .

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6. Das Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenverzeichnis zu den Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . Decknamenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Angaben zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur Geschichte des Kernkraftwerkes (KKW) Greifswald. Gleichwohl stellt sie keine Betriebsgeschichte im engeren Sinne dar. Im Mittelpunkt stehen vielmehr der Aufbau, die Tätigkeit und das Wirken der SED-Geheimpolizei in einem großen DDR-Betrieb mit mehreren Tausend Arbeitern und Angestellten. Dieser Betrieb war die größte nukleare Anlage im ostdeutschen Staat überhaupt und besaß als großer Stromproduzent eine immense wirtschaftliche und politische Bedeutung. Mit seiner Fertigstellung sollte das Kernkraftwerk Greifswald fast ein Viertel des ostdeutschen Stroms produzieren. Dieser Konjunktiv verweist unmittelbar auf eine weitere Besonderheit. Ende der 1960er-Jahre begonnen, ist der nukleare Komplex niemals fertiggestellt worden. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatte hier zweierlei zu überwachen und zu kontrollieren – ein Kernkraftwerk und eine Großbaustelle. Die folgenden Schilderungen werden von zwei erkenntnisleitenden Fragen begleitet. Gab es so etwas wie einen »guten Kern« der Stasi, der mit seinem Wirken für das Funktionieren der ostdeutschen Wirtschaft verantwortlich zeichnete? Und: Hat die Stasi mit ihrer Tätigkeit im Kernkraftwerk als besondere Diensteinheit im Mielke-Kombinat einen Super-GAU wie Tschernobyl in der DDR verhindert? Anders formuliert: Was waren die Tätigkeitsfelder der ostdeutschen Geheimpolizei im Kernkraftwerk Greifswald? Und wie – in ihrem Sinne – erfolgreich war ihr Wirken hier? Die Beantwortung dieser Fragen reiht sich ein in bereits existierende Untersuchungen zu den Aufgaben, dem Wirken und der Effektivität der SEDGeheimpolizei in der ostdeutschen Wirtschaft insgesamt. Bei der vorliegenden Regionalstudie handelt es sich um eine Struktur- und Konfliktgeschichte der Staatssicherheit und des Kernkraftwerkes bei Greifswald. Nach Schilderungen zur Entstehung, zum Aufbau, zur Arbeitsweise und zu den Tätigkeitsfeldern der Stasi-Objektdienststelle folgt eine ereignisgeschichtliche Darstellung vor dem Hintergrund betriebsgeschichtlicher Schlaglichter. Dazu gehören sowohl politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche als auch technische Geschehnisse. Zum besseren Verständnis erfolgt am Anfang ein Aufriss der Geschichte der DDR-Kernenergiewirtschaft und darüber, wie sich die Staatssicherheit dieses besonderen Industriezweiges annahm. Für den besseren Überblick ist im Anhang eine Zeittafel mit ausgewählten Ereignissen beigefügt. Die vorliegende Arbeit ist aus einer asymmetrischen Quellenlage heraus entstanden. Besondere Berücksichtigung fanden Akten und andere Überlieferungen aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Zum Teil konnte solches Quellenmaterial mit Bezug zum Kernkraftwerk Greifswald

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Einleitung

erstmals gesichtet und ausgewertet werden. Für den Historiker und den Leser gleichermaßen gilt dabei hinsichtlich der Stasi-Unterlagen mehr noch als für andere Quellen, dass diese einen Teil der historischen Wirklichkeit, nicht jedoch die historische Wirklichkeit widerspiegeln. Denn die Stasi legte Akten für ihre Zwecke an, sammelte sie und arbeitete mit ihnen aus eigenem spezifischem Interesse.1 Über das Stasi-Unterlagen-Archiv hinaus wurde im Betriebsarchiv der Energiewerke Nord (EWN) GmbH als Nachfolgebetrieb des Kernkraftwerkes, im Stadtarchiv Greifswald und im Landesarchiv Greifswald recherchiert. Diese Rechercheergebnisse konnten nicht in Gänze in die vorliegende Arbeit übernommen werden, dennoch waren sie für den Autor aufschlussreich und nützlich für die Kontextualisierung. Zur Geschichte der Stasi, der DDR-Kernenergiewirtschaft und zum Kernkraftwerk Greifswald existiert bereits vielfältige Literatur. Dort, wo es notwendig erschien, wurde auf diese zurückgegriffen. Ungeachtet der bereits existierenden Literatur und der vorliegenden Studie fehlen Darstellungen zur Geschichte der SED-Betriebsparteiorganisation im Kernkraftwerk sowie zu dessen Stilllegung und Rückbau nach 1990. Ebenso lohnend wäre eine sozial­ geschichtliche Beziehungsgeschichte von Kernkraftwerk und der nahe liegenden Stadt Greifswald.

1  Vgl. Einleitung. In: Klaus-Dietmar Henke, Roger Engelmann (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung. Berlin 1995, S. 9–20 sowie Roger Engelmann: Zum Quellenwert der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit. In: ebenda, S. 23–39, hier bes. 29.

2. Kernenergiewirtschaft in der DDR 2.1 Sozialismus und Kernenergie als Utopien Kaum ein anderer ostdeutscher Industriezweig stand so für die Hoffnungen und Erwartungen der SED-Führung wie die Kernenergiewirtschaft. Technischen Fortschritt, wirtschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliche Modernisierung, all dies sollte der Sozialismus bringen. Und all dies sah die SED-Führung in der Kernenergie. Für die Partei war die Kernenergie Symbol und Botschafter zugleich. Der Sozialismus sollte das Atom zum Wohle der Menschheit bändigen, moderne Arbeitsplätze schaffen und überhaupt das Leben verbessern. Damit wäre die Kernenergie zugleich Ausdruck einer leistungsfähigen und modernen DDR gewesen. Wie andere Länder in Ost und West auch, setzte der noch junge ostdeutsche Staat unter den besonderen Vorzeichen der SED-Diktatur ab Mitte der 1950er-Jahre zugleich auf die Kernenergie als Idee und als Zukunftsvorstellung zur Herausbildung einer nationalen Identität. Dazu passte, dass sich die Utopien ostdeutscher Politiker, Wissenschaftler und Ingenieure zum Sozialismus und zur Kernenergie in eigenartiger Weise trafen. Wie die Universitätstürme in Leipzig und in Jena als Kathedralen des wissenschaftlichen Fortschritts oder das Eisenhüttenkombinat Ost in Eisenhüttenstadt als Kathedrale der Arbeit galten, waren die zu errichtenden Kernkraftwerke Kathedralen eines erhofften wirtschaftlichen Fortschritts.1 Beispielhaft für diese sozialistische Ausprägung der weltweiten »Atomeuphorie« stand die Hoffnung des ostdeutschen Philosophen Ernst Bloch Ende der 1950er-Jahre: »Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie, in anderer Maschinerie als der der Bombe, in der blauen Atmosphäre des Friedens, aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling.«2 Am 29. März 1962 verkündete der SED-Partei- und DDR-Staatschef Walter Ulbricht das tags zuvor durch die Volkskammer verabschiedete Atomenergie­ gesetz, das die Verwendung der Atomenergie regelte. In seiner Einleitung hieß es: Die friedliche Anwendung der Atomenergie eröffnet dem gesellschaftlichen und technischen Fortschritt der Menschheit gewaltige Perspektiven. Sie ist notwendig für die rasche Entfaltung des sozialistischen Aufbaus. […] Die weitere Anwendung der Atomenergie in allen Bereichen der Volkswirtschaft fördert die rasche Entwicklung der Produktivkräfte und dient in unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat der weiteren Erhöhung des Lebensniveaus aller Bevölkerungsschichten.3 1  Stefan Wolle: Aufbruch in die Stagnation. Die DDR in den Sechzigerjahren. Bonn 2005, S. 63. 2  Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 33–42. Frankfurt/M. 1959, S. 775. 3  Gesetz über die Anwendung der Atomenergie in der Deutschen Demokratischen Republik, Atomenergiegesetz v. 28.3.1962. In: Gesetzblatt der DDR, T. I, Nr. 3 v. 31.3.1962, S. 47–50, hier 47.

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

Das ostdeutsche Atomenergiegesetz von 1962 war mehr als nur ein politisches und wirtschaftliches Programm. Hier zeigte sich die bis in die 1960er-Jahre reichende weltweite Atomeuphorie beispielhaft in den Farben der DDR. Das Atomenergiegesetz war angefüllt mit den DDR-typischen gesellschaftlichen und technischen Hoffnungen, Visionen und Utopien der 1960er-Jahre, die zugleich Raum boten für politische Propaganda und für die Pflege ideologischer Feind­ bilder. Weniger spröde als im Gesetzestext stand dazu in dem Jugendbuch »Weltall, Erde, Mensch« aus dem Jahr 1968: Heute […] wird die Atomenergie zur Energiequelle der Welt von morgen. […] Sie wird jenen Überfluss an Energie schaffen, der die Voraussetzung für einen Überfluss an Gütern aller Art ist, jenen echten Überfluss, der der kommunistischen Gesellschaftsordnung zu eigen sein wird, der Gesellschaftsordnung, die der Technik der wissenschaftlich-technischen Revolution entspricht.4

Als Beigabe zur staatlichen Jugendweihe fand »das Buch der Wahrheit« – wie es Ulbricht in seinem Vorwort nannte – mit seinen interessanten, aber gleichwohl offiziösen Darstellungen zu Geschichte, Natur und Gesellschaft große Verbreitung.5 Und so galt im ostdeutschen Staat, mit der Errichtung und Inbetriebnahme von Kernkraftwerken schreite man auf dem Wege zum Kommunismus einen Schritt voran. Das passte sich ein in eine technische wie gesellschaftliche Aufbruchsstimmung in der DDR in den 1960er-Jahren insgesamt, die der Historiker Stefan Wolle so beschrieb: »Der Beginn von Utopia war im Kalender angekreuzt.«6 Freilich galten Kernkraftwerke seinerzeit weltweit – also auch in westlichen Ländern – als moderne Zukunftstechnologie. Das Besondere in der DDR und im östlichen Staatenblock unter der Sowjetunion insgesamt war jedoch, dass führende Politiker hier diese Zukunftsvorstellungen mit dem Aufbau des Kommunismus verknüpften. Im Osten glaubte man, mit der Nutzung der Kernenergie einen Weg zu der vom sowjetischen Revolutionsführer Lenin vielbeschworenen Produktivkraft gefunden zu haben, die die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus bringen sollte. Versehen mit dem Zusatz der »friedlichen Nutzung« wurde die Kernenergie in populärwissenschaftlicher Literatur, in Sachbüchern, im Rahmen von Urania-Veranstaltungen oder im Schulunterricht als bereits in den 1950erJahren greifbare Zukunft dargestellt. Während im Westen und hier allen voran in den USA und in der Bundesrepublik das Atom »Soldat« und also »böse« sei, galt für das östliche Bündnis, dass das Atom »Arbeiter«, also »gut« wäre.7 Die 4  Rolf Dörge: Die Eroberung des Atoms. In: Weltall, Erde, Mensch. Ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft. Berlin 1968, S. 27–65, hier 27. 5  Walter Ulbricht: Zum Geleit. In: ebenda, S. 5–7, hier 5. 6  Wolle: Aufbruch in die Stagnation, S. 35. 7  Das fand seinen Ausdruck selbst im DDR-Atomgesetz von 1962. Vgl. Gesetz über die Anwendung der Atomenergie in der Deutschen Demokratischen Republik, Atomenergie-

Sozialismus und Kernenergie als Utopien

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Betonung der eigenen Friedfertigkeit sollte der Kerntechnologie zu gesellschaftlicher Akzeptanz verhelfen. Denn der Umstand, dass Ende der 1950er-Jahre zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung mit der Kernenergie vor allem das Unheil der Atombombe verbanden, dürfte in ähnlicher Weise auch für den ostdeutschen Staat gegolten haben. Dem stellte die SED-Führung das Bild von der »Kernenergie für eine friedliche Zukunft« entgegen. Oberflächlich betrachtet schien die Geschichte der ostdeutschen Propaganda Recht zu geben. So hatten die USA die Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima am 6. August 1945 und drei Tage später auf Nagasaki zu verantworten. Und spätestens mit dem Wechsel des westdeutschen Politikers Franz Josef Strauß vom Atomministerium ins Verteidigungsministerium im Oktober 1956 gab es dort nukleare Gedankenspiele. Auch der Bundeskanzler Konrad Adenauer betrachtete die Kernenergie nüchtern als »militärstrategische Angelegenheit«.8 Beide, Strauß und Adenauer, sperrten sich in den 1960er-Jahren – anders als die DDR – gegen ein internationales Abkommen zur Nichtverbreitung von Kernwaffen. Dagegen trumpfte die Sowjetunion mit der Inbetriebnahme eines ersten kleinen Kernkraftwerkes im Juni 1954 auf. Kurz darauf nahm sie im September 1959 das erste kernenergiebetriebene zivile Schiff in Betrieb, den Atomeisbrecher »Lenin«. Freilich verschwieg die SED-Propaganda, dass auch die sowjetische Kernenergiewirtschaft einen militärischen Hintergrund hatte.9

gesetz v. 28.3.1962. In: Gesetzblatt der DDR, T. I, Nr. 3 v. 31.3.1962, S. 47–50, hier 47. 8  Joachim Radkau, Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. München 2013, S. 120. 9  Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Die Energiepolitik der DDR. Mängelverwaltung zwischen Kernkraft und Braunkohle. Bonn 1988, S. 42; Gesamtdeutsches Institut, Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben (Hg.): Die Energiewirtschaft der DDR. Ein Überblick über die Entwicklung. Bonn 1978, S. 2; Joachim Kahlert: Die Kernenergiepolitik in der DDR. Zur Geschichte uneingelöster Fortschrittshoffnungen. Köln 1988, S. 64 f.; Johannes Abele: Kernkraft in der DDR. Zwischen nationaler Industriepolitik und sozialistischer Zusammenarbeit 1963–1990. Dresden 2000, S. 11; Eckhard Hampe: Zur Geschichte der Kerntechnik in der DDR von 1955 bis 1962. Politik der Staatspartei zur Nutzung der Kernenergie. Dresden 1996, S. 34 f.; Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 68, 118 f. u. 214 f. Vgl. R. Rockstroh: Zum Stand und zu einigen Tendenzen beim großindustriellen Einsatz der Kernenergie. In: Kernenergie (1980) 2, S. 37–43, hier 40; Günter Flach: 40 Jahre Deutsche Demokratische Republik. 33 Jahre Anwendung der Atomenergie. In: Kernenergie (1989) 10, S. 401 f.; Atomenergie für den Frieden. Wissenschaftlich-technische Ausstellung der UdSSR. Leipzig 1956, S. 33–40; Stichwort »Kernenergieantrieb«. In: Meyers Neues Lexikon. Leipzig 1973, Bd. 7, S. 458 f.; Manfred Zipfel: Die Entwicklung der Produktivkraft Kernenergie in den Fesseln des westdeutschen Monopolkapitals. Berlin 1961, S. 8 f. u. 11 f.; VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« (Hg.): Kernenergie für eine friedliche Zukunft. Budapest 1985. Zur populärwissenschaftlichen zeitgenössischen Darstellung vgl. Dörge: Die Eroberung des Atoms, S. 27–65. Ganz ähnliche Schwärmereien bzw. »›Atomzeitalter‹-Visionen« kursierten in den 1950er-Jahren in Ost und West. Meereswasserentsalzung, Wüstenbewässerung, kernenergiebetriebene Schiffe, Lokomotiven usw. waren Gegenstände der Kernenergie-Utopien. Vgl. Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 58 f.

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

2.2 Das nukleare Risiko als Geheimsache Von ihrer Utopie geleitet, verschwieg die SED-Führung der DDR-Bevölkerung die Risiken der Kernenergienutzung kurzerhand. Anfangs mit ideologischen Argumenten und auch wegen fehlender Erfahrungen, später schlicht aus politischem Kalkül. Bis Ende 1989 waren theoretische Störfallmodelle sowie Havarieund Katastrophenpläne für den nuklearen Ernstfall ebenso der Geheimhaltung unterworfen wie tatsächlich eingetretene Störfälle. Das hatte weitreichende gesellschaftliche Folgen. Die durch menschliche Sinne nicht wahrnehmbare Strahlengefahr blieb in der SED-Diktatur auch im nicht-technischen Sinne eine »undurchsichtige Angelegenheit«.10 Gleichwohl gab es in der DDR seit den 1970er-Jahren unter Fachleuten einen Lernprozess, der nuklearen Sicherheit einen zunehmend hohen Stellenwert zuzurechnen.11 Freilich taugte auch der westdeutsche Staat in punkto Öffentlichkeit und Offenheit keinesfalls als Vorbild. Der ostdeutsche Kernkraftwerks-Kritiker Sebastian Pflugbeil verwies nach 1990 darauf: »Geheimhaltung unerfreulicher Daten war kein Privileg der DDR. Wir können davon ausgehen, dass beispielsweise die AKW in den alten Bundesländern längst abgeschaltet wären, wenn einer der Umweltminister die Berichte über die Sicherheitsmängel der westdeutschen AKW an die Öffentlichkeit gebracht hätte.«12 Die DDR-Geheimhaltung des nuklearen Risikos war ideologisch begründet: Im Sozialismus sei die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überwunden, daher gäbe es eine militärische Nutzung der Kernenergie als Atombombe nur im Kapitalismus. Und die Möglichkeit eines nuklearen Störfalls sei im Sozialismus alleine schon deshalb ausgeschlossen, weil die Kernkraftwerke nicht dem kapitalistischen Profitstreben unterworfen wären, sondern als moderne volkseigene Betriebe mit gutem Fachpersonal dem Gemeinwohl dienten. In diesem Sinne wurde der bis dahin schwerste Störfall im US-amerikanischen Kernkraftwerk 10  Wolfgang Horlamus: Die Kernenergiewirtschaft der DDR. Von ihren Anfängen bis zur Abschaltung der Reaktoren im Kernkraftwerk Nord, Hefte zur DDR-Geschichte; 17. Berlin 1994, S. 5. 11  Vgl. Dietrich W. Nagel: Atomingenieur in Ostdeutschland. Autobiographie. Berlin 2004, S. 47; Wolfgang Stinglwagner: Die Energiewirtschaft der DDR. Unter Berücksichtigung internationaler Effizienzvergleiche. Bonn 1985, S. 68; Zipfel: Produktivkraft, S. 29–36; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 38 u. 45; Johannes Abele, Eckhard Hampe: Kernenergiepolitik der DDR. In: Peter Liewers, Johannes Abele, Gerhard Barkleit (Hg.): Zur Geschichte der Kernenergie in der DDR. Frankfurt/M. 2000, S. 29–89, hier 71 sowie Melanie Arndt: Tschernobyl. Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Erfurt 2011, S. 25. Jörg Roesler: Ostdeutsche Wirtschaft im Umbruch 1970–2000. Bonn 2003, S. 21; ders.: Umweltprobleme und Umweltpolitik in der DDR. Erfurt 2006, S. 26 u. 28; Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009, S. 125. Vgl. Sebastian Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme in der Energiewirtschaft der DDR. In: Horch und Guck 21 (2012) 76, S. 4–9, hier 8. 12  Vgl. Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 9.

Das nukleare Risiko als Geheimsache

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Three Mile Island im Frühjahr 1979 als Ergebnis kapitalistischer Profitgier gedeutet. Neben politischem Kalkül verbarg sich dahinter ein naiver Fortschrittsglaube, der die Möglichkeit technischen Versagens im Sozialismus schlichtweg leugnete. Der SED-Führung passte eine solche Argumentation auch deshalb ins Konzept, weil sie davon ausgehend die gesellschaftlichen Bedingungen für eine Anti-Kernkraftwerks-Bewegung im ostdeutschen Staat verneinte, wie es sie seit den 1970er-Jahren als »Graswurzel-Bewegung« in der Bundesrepublik gab. Diese betrachtete die Partei nicht als Ablehnung der Kerntechnologie, sondern schlicht als ein Aufbegehren gegen den kapitalistischen Staat.13 Als Ergebnis der Geheimhaltung des nuklearen Risikos und der Pflege der ideologischen Fortschrittspropaganda blieb die Akzeptanz der Kernenergienutzung in der ostdeutschen Gesellschaft bis zuletzt groß. Daran änderte auch der Super-GAU im sowjetischen Tschernobyl im Frühjahr 1986 nichts. In einer globalisierten Welt konnte die SED-Führung die Katastrophe und deren Folgen zwar nicht geheim halten. Das galt schon alleine wegen der medialen West-Orientierung der DDRBevölkerung und weil die Strahlenwolke aus der Sowjetunion an Staatsgrenzen und vor politischen Blöcken nicht haltmachte. Die kritischen Stimmen vor allem aus der unabhängigen Umweltbewegung blieben dennoch eine kleine Minderheit. Zwar hat es Ansätze einer kritischen gesellschaftlichen Verarbeitung des Themas gegeben. So erschienen bereits 1986/87 mehrere Beiträge in der Zeitschrift Sinn und Form und 1987 kam Christa Wolfs »Störfall«-Erzählung heraus.14 Eine politisch wirksame Anti-Kernkraftwerks-Bewegung, die in der SED-Diktatur immer auch Engagement für Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit war, hat es in der DDR jedoch bis zuletzt nicht gegeben. Die Kernenergie galt den allermeisten Menschen hier als saubere Zukunftstechnologie zur Ablösung der dreckigen Braunkohleverstromung. Im zuständigen Ministerium für Kohle und Energie fand das seinen Ausdruck nicht zufällig darin, dass man in den 1980erJahren hier bisweilen vom Braunkohlekombinat als dem »schwarzen« und dem Kernkraftwerkskombinat als dem »weißen« Kraftwerksverbund sprach. Und die zerstörerischen Umweltfolgen der Kohleverstromung waren eine alltägliche Erfahrung der Bevölkerung. Das führte im Frühjahr 1986 zu Meinungen, nach denen »die Umweltbelastung im Kreis Merseburg durch Schwefeldioxid u. a. Schadstoffe erheblich stärker sei, als mögliche geringe Auswirkungen aus Tschernobyl insgesamt«.15 Die politisch überforderte öffentliche Meinung blieb in der 13  Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hg.): Kernenergie­ politik der Länder des RGW. Konferenzbericht. Köln 1979, S. 45. Auch Hampe: Kerntechnik, S. 34; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 49. 14  Juri Stscherbak: Schmerz und Mut. Als Augenzeuge in Tschernobyl. In: Sinn und Form (1986) 6, S. 1278–1283; Christa Wolf: Störfall. In: Sinn und Form (1987) 2, S. 324–336; dies.: Störfall. Nachrichten eines Tages. Frankfurt/M. 2009. 15  Information über weitere Stimmungen und Meinungen im Zusammenhang mit der Havarie im KKW Tschernobyl v. 20.5.1986; BStU, MfS, BV Halle, KD Merseburg, Nr. 146, Bl. 29 f., hier 29.

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

DDR auch nach dem Super-GAU weiter durch die Friedenspropaganda, den Verweis auf die Fähigkeiten ostdeutscher Wissenschaftler und Ingenieure sowie die Leistungsstärke sowjetischer Kernkraftwerke geprägt. Vor allem der Glaube an Letzteres litt in der Folge der nuklearen Katastrophe von Tschernobyl jedoch. Der Propaganda-Slogan »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« verkam an diesem Punkt zur Groteske.16

2.3 Kernenergie – wirtschaftlicher Test und Konjunkturprogramm Seit ihrer Gründung verstand sich die DDR als moderner Industriestaat. In der DDR zeigten sich ebenso wie im Westen, wenngleich etwas zeitversetzt, Modernisierungserscheinungen wie die Zunahme von Freizeit sowie der Anstieg von Lebensstandard und Konsum. Auch in der Bundesrepublik schrieb man noch 1988 von der DDR als einem »hochentwickelten Industrieland«.17 Mit dem Selbstverständnis eines modernen Industriestaates einher gingen Annahmen zu einem wachsenden Energiebedarf von Wirtschaft und Privathaushalten. Für Ost und West gleichermaßen galt dabei weit über die 1950er-Jahre, dass die Verfügbarkeit einer ausreichend großen Menge Strom eine notwendige Grundlage für die Entwicklung moderner Industrien sei (Automatisierung, Radiotechnik, Elektrotechnik, Kybernetik etc.). Und unter Moderne verstand man damals in Ost und West gleichermaßen unter anderem einen Überfluss an Strom. Erst später galt im Westen und noch später im Osten das Energiesparen als modern.18 16  Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Unabhängige Umweltbewegung. Einführung. In: ders., Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 272–275, bes. 275; Kowalczuk: Endspiel, S. 125; Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 44; Wolfgang D. Müller: Geschichte der Kernenergie in der DDR. Kernforschung und Kerntechnik im Schatten des Sozialismus. Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III. Stuttgart 2001, S. 151. Abele: Kernkraft, S. 8; Nagel: Atomingenieur, S. 93; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 61. Im Jahr 1982 setzte die DDR rund 4 Mio. t Schwefeldioxid frei. Vgl. Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 5 f.; Roesler: Umweltprobleme, S. 59. Auch Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 33; Kowalczuk: Endspiel, S. 126. Zu teilweise deutlich anderen Werten bei gleicher Tendenz der erheblich höheren Umweltbelastung in der DDR vgl. D. Müller: Die weitere Entwicklung der Energiewirtschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. In: Kernenergie (1991) 5, S. 181–183, hier 181. 17  Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 60. 18  Vgl. Renate Hürtgen: »Stasi in die Produktion« – Umfang, Ausmaß und Wirkung geheimpolizeilicher Kontrolle im DDR-Betrieb. In: Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 295–317, hier 315; Roesler: Umweltprobleme, S. 6; ders.: Ostdeutsche Wirtschaft, S. 30; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 36; Gesamtdeutsches Institut (Hg.): Energiewirtschaft, S. 70 f. Zum Selbstverständnis eines modernen Industriestaates bspw. Stichwort »Kernkraftwerk«. In: Meyers Neues Lexikon, Bd. 7, S. 461–463, hier  463.

Kernenergie – wirtschaftlicher Test und Konjunkturprogramm

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Nicht weniger als die Lösung der so aufgeworfenen Energiefrage versprachen sich ostdeutsche Politiker und Fachleute von der Kernenergie. Das war keinesfalls eine nur auf die Zukunft gerichtete Herausforderung. Noch bis Ende der 1980er-Jahre litten die Wirtschaft und die Privathaushalte in der DDR unter einer schlechten Energieversorgung. Mit seiner Entscheidung für die Kernenergie lag der ostdeutsche Staat dabei im internationalen Trend der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Weil die DDR vergleichsweise früh auf den Aufbau einer eigenen Kernenergiewirtschaft setzte, zählen Historiker diese zu den »ersten wissenschaftlich-technischen Großprojekten« im ostdeutschen Staat.19 Mit dem Aufbau einer eigenen Kernenergiewirtschaft verband man in den 1950er-Jahren zudem Hoffnungen auf ein Investitionsprogramm und Wachstumsanreize für Wirtschaft und Wissenschaft. Die zentralistischen Strukturen der SED-Diktatur schienen die Möglichkeit für eine gleichsam konzertierte Aktion aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu bieten. Später entpuppten sich die starren ostdeutschen Strukturen jedoch als Hemmnis für Innovationen und Kooperationen. Nach ersten Achtungserfolgen erwies sich das freiheitlich-westliche System als das leistungsstärkere. Der frühzeitige Einstieg in den noch jungen, sich rasant entwickelnden sowie technologisch, materiell, finanziell und personell anspruchsvollen Industriezweig stellte sich im Nachhinein, anders als von der SED-Führung erhofft, nicht als strategischer Vorteil heraus. Wie andere Länder, die sich für die Kernenergie entschieden, löste die DDR ihr Energieproblem damit keinesfalls. Im Rückblick zeigte sich vielmehr, dass als Ergebnis dieser Politik die Energiewirtschaft in der späten DDR ein »strukturpolitischer Hemmschuh« war, zumal die Ergebnisse weit hinter den Erwartungen zurückblieben.20 Mit der deutschen Teilung als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges befand sich die DDR in einer schwierigen (energie-)wirtschaftlichen Situation. Der ostdeutsche Staat war arm an Rohstoffen. Von den Steinkohlelieferungen aus dem Ruhrgebiet und den Gruben östlich der neuen Oder-Neiße-Grenze, die vor dem Krieg zwei Drittel des Energiebedarfs gedeckt hatten, blieb er abgeschnitten. Die Anbindung an das gesamtdeutsche Gas- und Stromverbundnetz war gekappt, Kriegszerstörungen und Demontagen behinderten zunächst den Wiederaufbau von Tagebauen und Kraftwerken. Eine Vielzahl alter, kleiner und ineffizienter Kraftwerke sowie ein Mangel an Fachleuten bildeten weitere Hemmnisse, die bis weit in die 1960er-Jahre negativ auf die ostdeutsche Energiewirtschaft wirkten. Als Rohstoffe für die Stromproduktion verfügte die DDR vor allem über Braunkohle und Uran.21 19  Abele: Kernkraft, S. 7. 20  Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 195. 21  Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 20–26. Vgl. Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 56; Wolfgang Stinglwagner: Die Energiepolitik der DDR und ihre wirtschaftlichen und ökologischen Folgen. In: Eberhard Kuhrt (Hg.): Die Endzeit der DDR-Wirtschaft. Analysen zur Wirtschafts-,

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

Hinsichtlich ihres wichtigsten Energierohstoffes Braunkohle galt die DDR Mitte der 1980er-Jahre als Förder-Weltmeister. Bis zu 300 Millionen Tonnen holte sie damals Jahr für Jahr aus der Erde. Das nahm seinerzeit auch der Westen anerkennend zur Kenntnis. In den Bezirken Cottbus und Leipzig wurden riesige Tagebaue betrieben. Mit den Braunkohlekraftwerken in Lübbenau (1964 Inbetriebnahme, Leistung 1 300 MW), Vetschau (1967, 1 200 MW), Hagenwerder (1974, 1 500 MW) oder Boxberg (1979, 3 520 MW) errichtete der ostdeutsche Staat gigantische Anlagen. Das Kombinat Schwarze Pumpe galt zeitweise als der weltweit größte Braunkohleveredelungsbetrieb. Die Kohleverstromung hatte jedoch entscheidende Nachteile. Das jährliche Fördervolumen sowie das Gesamtvorkommen waren begrenzt, die Verfeuerung ineffizient. Die Umweltbelastung durch die Freisetzung von Staub und Schwefeldioxid war enorm. Zuletzt hielt die DDR zweifelhafte Rekorde wie den höchsten Ausstoß pro Kopf an Schwefeldioxid in Europa bzw. Kohlenstoffdioxid in der ganzen Welt. Unpraktisch und teuer war die Kohleverstromung, weil der Rohstoff zunehmend aufwendig gefördert und in riesigen Mengen in die Kraftwerke transportiert werden musste. In den Tagebauregionen entstanden Mondlandschaften, deren Rekultivierung immense Kosten bedeutete. Aufgrund ihres natürlichen Wasseranteils und ihrer wasser­ anziehenden Eigenschaft bestand in der kalten Jahreszeit über das Einschneien hinaus die oftmals zur Wirklichkeit werdende Gefahr des Einfrierens der Kohle und damit die Beeinträchtigung der Stromproduktion. Schließlich war Kohle ein wertvoller Rohstoff, den auch die ostdeutsche Chemieindustrie benötigte.22 Angesichts riesiger Uranvorkommen im Süden des Landes schien der Einstieg in die Kernenergiewirtschaft daher eine sichere, saubere und vergleichsweise günstige Lösung der ostdeutschen Energiefrage zu sein. Immerhin waren die Uranvorkommen im Süden der DDR die größten Europas. Die SowjetischDeutsche Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut baute hier bis 1990 die drittgrößte Sozial- und Umweltpolitik. Opladen 1999, S. 189–223, hier 189; Abele: Kernkraft, S. 41 sowie Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 4; Roesler: Umweltprobleme, S. 6 f. 22  Wolfgang Mitzinger: Die Entwicklung der Kernenergetik in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Kernenergie (1979) 9, S. 293–298, hier 293; Hannsjörg F. Buck: Umweltpolitik und Umweltbelastung. Das Ausmaß der Umweltbelastung und Umweltzerstörung beim Untergang der DDR 1989/90. In: Eberhard Kuhrt (Hg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren: Opladen 1996, S. 223–262, hier 232 f. Ministerrat der DDR (Hg.): Die Anwendung der Atomenergie in der Deutschen Demokratischen Republik für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Nationaler Bericht der DDR zur UNO-Konferenz über die Förderung der internationalen Zusammenarbeit bei der friedlichen Anwendung der Kernenergie, o. D., S. 13; Wolle: Aufbruch in die Stagnation, S. 68 f.; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 29, 56 u. 62; Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. III f., 30, 87 u. 97; ders.: Energiepolitik, S. 201–203 u. 208 f.; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 10 f., 15 u. 60; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 52; Gesamtdeutsches Institut (Hg.): Energiewirtschaft, S. VIII, 78 u. 153; Abele: Kernkraft, S. 41 f. u. 62. Vgl. Roesler: Umweltprobleme, S. 9 u. 12; für das Jahr 1982 auch Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 4–6.

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Uranmenge weltweit ab, jedoch hatte die DDR wegen der sowjetischen Suprematie keinen direkten Zugriff auf das hier lagernde Uranerz. Dieses entwickelte sich vielmehr zur »wertvollsten Reparationsleistung«23. Gleichwohl trug die ostdeutsche Erwartung eines eigenen Kernbrennstoffzyklus aus Uran-Abbau, -Aufbereitung und -Einsatz wesentlich zur Entscheidung für den Einstieg in die Kernenergiewirtschaft bei.24

2.4 Sicherer, sauberer und billiger Strom Im Sinne einer geregelten Versorgung wurde die Kernenergie als sicher betrachtet, weil sie anders als die Kohleverstromung kaum wetteranfällig war. Nukleare Sicherheit maß man den Anlagen schon alleine aus einem utopisch-sozialistischen Fortschrittsdenken und Technikglauben bei. Als sauber galt die Kern­energie, weil die Schornsteine der Kernkraftwerke keine Rußwolken ausstießen. Ihre Abgabe von Radioaktivität an die Umgebung im Normalbetrieb und der Umgang mit den radioaktiven Abfällen blieben dabei schlichtweg unbeachtet. Ein weiteres Argument ostdeutscher Politiker und Fachleute für die Kernenergie waren optimistische Voraussagen seit den 1950er-Jahren, dass Kernkraftwerke in absehbarer Zeit günstigeren Strom als Kohlekraftwerke liefern würden. Unter dem euphorisierenden Eindruck der Inbetriebnahme der ersten Reaktoren des Kernkraftwerkes bei Greifswald galt diese irrige Annahme in der DDR bis Mitte der 1970er-Jahre als opportun. Die Kostenfrage war schon alleine deshalb ein verkürztes Scheinargument, da ohne die Berücksichtigung von Entwicklungs-, Errichtungs- sowie Rückbau- und Entsorgungskosten lediglich die Brennstoffkosten je erzeugter Kilowattstunde verglichen wurden. Angesichts erster Betriebserfahrungen und schwerer Störfälle in England, den USA und der Sowjetunion stiegen die Sicherheitsanforderungen an die Kernkraftwerke und ihre Kosten schossen in die Höhe,

23  Ilko-Sascha Kowalczuk: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. München 2013, S. 33. 24  Diethard Mager: Wismut – die letzten Jahre des ostdeutschen Uranbergbaus. In: Kuhrt (Hg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR, S. 267–295, hier 267 u. 269; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 30; Müller: Kernenergie, S. 5 f. u. 221; Abele: Kernkraft, S. 14; Hampe: Kerntechnik, S. 45 f. Auch Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 6. Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 57. Zur Geschichte der Wismut in der DDR vgl. Juliane Schütterle: Kumpel, Kader und Genossen. Arbeiten und Leben im Uranbergbau der DDR. Paderborn 2010; Rainer Karlsch: Uran für Moskau. Die Wismut – Eine populäre Geschichte. Berlin 2007. Der HV A-Chef Markus Wolf resümiert in seinen Erinnerungen, dass die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft wegen des Anspruchs der Sowjetunion auf das Wismut-Uran sowohl der westdeutschen als auch der sowjetischen Konkurrenz und Abhängigkeit ausgesetzt war. Vgl. Markus Wolf: Spionagechef im geheimen Krieg. München 1997, S. 302.

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

sodass sie bis zuletzt um ein Vielfaches teurer als vergleichbare Kohlekraftwerke blieben.25 Überhaupt waren die Anfänge der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft von Prognosen geprägt, die in ihren optimistischen Aussagen miteinander wetteiferten. In den 1950er-Jahren nahmen Wissenschaftler und Funktionäre an, 1970 würde die DDR bereits 20 Kernkraftwerke betreiben, 1985 könnten 20 000 Megawatt und im Jahr 2000 dann 110 000 Megawatt Strom aus Kernenergie produziert werden. Die Jahrtausendwende markierte dabei so etwas wie eine Utopie und Zeitenschwelle, die es zu erreichen und zu überschreiten galt. Für die Verwirklichung der Jahr-2000-Prognose aus den 1950er-Jahren hätten nicht weniger als 250 Reaktoren des Typs errichtet werden müssen, von dem am größten ostdeutschen Kernkraftwerks-Standort bei Greifswald bis zuletzt ganze vier in Betrieb gingen.26 Kurz nach der Inbetriebnahme eines ersten relativ kleinen Kernkraftwerkes bei Rheinsberg meinte dessen Betriebsdirektor, Karl Rambusch – einer der führenden ostdeutschen Kernphysiker – im Jahr 1967, die DDR werde in den 1980er-Jahren jährlich ein Kernkraftwerk mit einer Leistung von 1 000 Megawatt errichten. Zeitgleich mit einem Politikwechsel hin zum Import ganzer sowjetischer Kernkraftwerke und der Inbetriebnahme der ersten Reaktoren des Kernkraftwerkes bei Greifswald prophezeite man Mitte der 1970er-Jahre dann, ab dem Jahr 2000 werde die Kernenergie mit etwa 40 Prozent den gleichen Anteil an der gesamten Stromproduktion wie die Kohleverstromung haben.27 Der DDR-Minister für Kohle und Energie, Wolfgang Mitzinger, meinte dann 1979, bis 1990 würde der Anteil der Kernenergie an der ostdeutschen Stromproduktion 20 Prozent betragen und der später zusätzlich hinzukommende Elektroenergiebedarf sei alleine durch Kernenergie zu decken.28 Und auch von der Akademie der Wissenschaften erging noch 1980 der Ratschlag, ab 1990 in der DDR große Kraftwerksanlagen nur ausschließlich als Kernkraftwerke zu errichten und den

25  Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 25; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 34; Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 81 f.; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 43. Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 68; Hampe: Kerntechnik, S. 33 sowie Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 8; Dörge: Die Eroberung, S. 55. 26  Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 35; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 36; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 7 u. 28; Abele: Kernkraft, S. 9. Vgl. Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 4; auch ders.: Die Umweltzerstörung und die ökologischen Folgen der Rohstoff- und Energiewirtschaft der DDR. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Bd. III/1, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Frankfurt/M. 1999, S. 557–572, hier 558 f. 27  Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 40; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 36; Gesamtdeutsches Institut (Hg.): Energiewirtschaft, S. 88. 28  Vgl. Wolfgang Mitzinger: Die Entwicklung der Kernenergetik in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Kernenergie (1979) 9, S. 293–298; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 7.

Sicherer, sauberer und billiger Strom

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wachsenden Energiebedarf ab dem Jahr 2000 mittels Kernenergie zu decken.29 Offenkundig unglaubwürdig waren Vorstellungen von Karl Rambusch aus dem Jahr 1989, als die Krise der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft mit den Händen zu greifen war, die DDR würde bis zum Jahr 2040 Kraftwerkskapazitäten mit zuletzt 32 000 Megawatt Kernenergie errichten. Das wären mehr als 72 Reaktoren des Greifswalder Typs gewesen.30 Prognosejahr Bedarf in Tausend GWh Anteil Kernenergie (in %) Installierte Leistung (in MW)

1965 68 12 1 500

1970 100 20 3 600

1975 1980 1985 2000 142 200 283 710 27 36 45 83 6 900 13 000 23 000 42 000

Tab. 1: Prognose Energiebedarf und anteilige Kernenergie in der DDR 195731 Produktionsjahr Produktion in GWh Anteil Kernenergie (in %) Installierte Leistung (in MW)

1960 – – –

1970 464 0,7 70

1980 11 889 12,0 1 830

1985 12 739 11,2 1 830

1989 12 287 10,3 1 830

Tab. 2: Entwicklung der Kernenergie in der DDR 1960–198932

Dass die anfänglichen Prognosen zu keinem Zeitpunkt erfüllt wurden, stand als negatives Markenzeichen für die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft. Im Gegensatz dazu jedoch nahm ihre strategische Bedeutung stetig zu. Die Fördermenge der einheimischen Braunkohle gelangte an ihre technischen Grenzen. Zunehmend teure Erdölimporte aus der Sowjetunion mussten abgelöst bzw. zu devisenbringenden Endprodukten veredelt werden. Darum geben die unerfüllten Prognosen eine deutliche Tendenz für die historische Verortung der DDR-Kernenergiewirtschaft vor. Dabei gilt, dass die frühen Versprechungen aus dem Zeitalter der »Atomeuphorie« weltweit uneingelöst blieben. Auch die Bundes­republik, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Internationale Atomenergieorganisation der UNO (IAEO) korrigierten ihre Prognosen bis in die 1980er-Jahre hinein auf bis zu ein Zehntel der ursprünglichen Annahmen. Eine für Ost und West gleichermaßen gültige Erklärung ist, dass die anfänglichen nuklearen Schwärmereien 29  Abele: Kernkraft, S. 59. 30  Karl Rambusch: Eine Abschätzung über den Einsatz von Druckwasserreaktoren in den Jahren von 1990 bis 2040 in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Kernenergie (1989) 10, S. 403–405. 31  Hans-Jürgen Hildebrand: Die Kernenergie im System der Elektrizitätsversorgung der DDR. In: Energietechnik (1957) 4, S. 146–157, hier 146; zit. nach: Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 28 u. 70. 32  Statistisches Amt der DDR (Hg.): Statistisches Jahrbuch 1990. Berlin 1990, S. 185.

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

nicht nur überhöhte Erwartungen, sondern teilweise taktischer Natur waren. In Ost und West dienten die hochtrabenden Pläne der Atomlobby zur »Legitimation der neuen Vorhaben, nicht ihrer Realisierung«,33 zumal die industrielle Nutzung der Kernenergie hier wie da zunächst »keine Realität, sondern eine Spekulation« war.34 Möglicherweise aber hat die SED-Führung den Zukunftswetten der Wissenschaftler und Ingenieure besonderen Glauben geschenkt, weil diese auf ihrer vermeintlich wissenschaftlich-marxistischen Ideologie aufsetzten. Und selbst wenn die Prognosen nicht hielten, was sie versprachen, bleibt festzuhalten: Der Einstieg in die Kernenergie gab der DDR-Wirtschaft einen Impuls, der unübersehbare wirtschaftliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Wirkungen hervorrief.35

2.5 Abhängigkeit und Autarkie Die Kernenergiewirtschaft stand wie kaum ein anderer Industriezweig für die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion.36 Mit der Abhängigkeit von der Sowjetunion verbunden waren einerseits deutlich größere Möglichkeiten, letztlich aber auch die Grenzen der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zog die Sowjetunion zunächst personelle und materielle Ressourcen aus dem Osten Deutschlands ab. Mitte der 1950er-Jahre wandelte sich diese Politik gegenüber der DDR. Den Aufbau einer ostdeutschen Kernenergiewirtschaft förderte die Sowjetunion aktiv mit Wissenschaftlern (oftmals aus der Sowjetunion zurückkehrende deutsche Fachleute), technischen Anlagen und technologischem Knowhow. Ein Verbot der Alliierten zur Kernforschung nach dem Zweiten Weltkrieg für ganz Deutschland hob ein erster Vertrag zwischen der DDR und der Sowjetunion im April 1955 auf. Dieser Startschuss kam nicht zufällig zustande, sondern war eingerahmt in internationale Entwicklungen. In das gleiche Jahr fiel im Januar das formale Ende des Kriegszustandes der Sowjetunion gegenüber der DDR, im Mai deren Verankerung im östlichen Verteidigungsbündnis des Warschauer Vertrages und im September schlossen beide Länder einen Vertrag über die formale 33  Abele: Kernkraft, S. 9 f. u. 16. 34  Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 51 u. 65. 35  Vgl. Gerhard Barkleit: »Überholen ohne einzuholen«. Die Entwicklung von Technologien für übermorgen in Kernenergie und Mikroelektronik der DDR. In: Christian Forstner, Dieter Hoffmann (Hg.): Physik im Kalten Krieg. Beiträge zur Physikgeschichte während des Ost-WestKonflikts. Wiesbaden 2013, S. 45–55, hier 55. Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 62, 180–188 u. 193 f.; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 61. Vgl. Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 4; R. Rockstroh: Zum Stand und zu einigen Tendenzen beim großindustriellen Einsatz der Kernenergie. In: Kernenergie (1980) 2, S. 37–43, hier 38. 36  Das fand seinen Niederschlag selbst im Atomgesetz von 1962. Vgl. Gesetz über die Anwendung der Atomenergie in der Deutschen Demokratischen Republik, Atomenergiegesetz v. 28.3.1962. In: Gesetzblatt der DDR, T. I, Nr. 3 v. 31.3.1962, S. 47–50, hier 47.

Abhängigkeit und Autarkie

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Unabhängigkeit des ostdeutschen Staates. Im Juli 1955 fand eine internationale Konferenz in Moskau und im August die erste »Atomkonferenz« der UNO im schweizerischen Genf statt. Beide Konferenzen hatten in dieser Form erstmals die industrielle Nutzung der Kernenergie zum Gegenstand. Bereits Ende 1953 stellte der US-amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower ein Programm für die industrielle Nutzung der Kernenergie atoms for peace vor, das die UNO im Dezember 1954 beschloss. Und die Sowjetunion benannte den ersten kleinen industriellen Reaktor der Welt, den sie im Juni 1954 in Obninsk bei Moskau in Betrieb nahm, analog dazu atom mirny. Die Welt war auf einem ersten Höhepunkt der »Atomeuphorie« angelangt. Und die DDR wollte an dieser Euphorie mithilfe der Sowjetunion teilhaben.37 Mit dem Aufbau einer eigenen Kernenergiewirtschaft strebte die DDR nach Unabhängigkeit vom Westen. Das war keinesfalls Traumwandeln. Die energie­ politische Unabhängigkeit war eine große Hoffnung, die in den 1950er-Jahren international mit der Kernenergie verbunden wurde. Auch angesichts späterer Entwicklungen samt zweier Ölpreisschocks in den 1970er-Jahren erschien eine solche Politik attraktiv, zumal sich die sowjetischen Erdöl- und Gasimporte damals für die DDR verteuerten. Anfang der 1980er-Jahre drosselte die Sowjetunion ihre Energieexporte und der ostdeutsche Staat musste nun mit dem Westen darum wettbieten. Vor diesem Hintergrund sollte die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft verschiedene energie­ politische Zwecke erfüllen: sie sollte den künftigen Mehrverbrauch an Energie abdecken und einen energiepolitischen Strukturwandel weg von fossilen Energieträgern vollziehen helfen. Spätestens Mitte der 1980er-Jahre drohte jedoch das Scheitern dieses Ansatzes. Die DDR taumelte mit zwei unfertigen Großbaustellen der Kernkraftwerke bei Greifswald und Stendal und wegen der zwischenzeitlichen Erdölablösung durch die Kohleverstromung in eine Zwangslage. Das Verfehlen 37  Bertram Köhler: Schwerpunkte der Entwicklung im Kraftwerksanlagenbau der DDR. In: Liewers; Abele; Barkleit (Hg.): Geschichte der Kernenergie, S. 115–161, hier 153; Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 26 f. u. 35; Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 18–22 u. 26–28; Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 73 f.; Müller: Kernenergie, S. 1, 13 u. 16–20; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 32–34; Abele: Kernkraft, S. 7 u. 13; Hampe: Kerntechnik, S. 8–10, 13 u. 25; Arndt: Tschernobyl, S. 12. Vgl. Eckhard Oberdörfer, Peter Binder: Der Energiegigant an der Ostsee. Die Geschichte des Kernkraftwerkes Nord in Lubmin. Greifswald 2014, S. 9 sowie Ilko-Sascha Kowalczuk: Das bewegte Jahrzehnt. Geschichte der DDR von 1949 bis 1961. Bonn 2003, S. 14 u. 16 f. Entsprechend der politischen Rahmenbedingungen ist historisch betrachtet irrelevant, ob die SED-Partei- und DDR-Staatsführung vor 1955 ein »energiepolitisches Interesse für den Aufbau der Kernforschung und Kerntechnik« pflegten. Praktisch war dies nicht realisierbar. Vgl. dazu Mike Reichert: Kernenergiewirtschaft in der DDR. Entwicklungsbedingungen, konzeptioneller Anspruch und Realisierungsgrad (1955–1990). St. Katharinen 1999, S. 73. Unter den bis 1955 aus der Sowjetunion in die DDR kommenden deutschen Wissenschaftlern waren u. a. Manfred v. Ardenne, Heinz Barwich, Hans-Joachim Born, Werner Hartmann, Gustav Hertz, Max Volmer und Carl-Friedrich Weiss.

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

der aufgestellten Prognosen lag auf der Hand, ohne dass die SED-Führung diesen Umstand jedoch wahrnehmbar reflektierte. Wie instabil die ostdeutsche Energiewirtschaft Ende der 1980er-Jahre aufgestellt war, zeigte schon ein einzelner großer Störfall im Kohlekraftwerk Boxberg im Winter Anfang 1987. Durch den Produktionsausfall entstand eine Stromlücke, die andere Kraftwerke nicht schließen konnten. Ein Strom-Import aus Ländern des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) fiel wegen der dort ebenfalls angespannten Situation aus. Stattdessen musste der Strom-Import aus Österreich nochmals angehoben werden.38

2.6 Gründerzeit und Abkühlung der »Atomeuphorie« In der Folge des erreichten ersten Vertrages zwischen der Sowjetunion und der DDR vom Frühjahr 1955 sowie nachfolgenden Beschlüssen des SED-Politbüros und des DDR-Ministerrates im November 1955 entstanden im ostdeutschen Staat eine ganze Reihe von Beratungsgremien, Forschungseinrichtungen sowie Betrieben zur Erforschung der Kernenergie. Dazu gehörten eine zentrale SEDParteikommission, der Wissenschaftliche Rat für die friedliche Anwendung der Atomenergie, das Amt für Kernforschung und Kerntechnik (AKK), die Fakultät für Kerntechnik an der Technischen Hochschule (TH) bzw. Technischen Universität (TU) Dresden und das Zentralinstitut für Kernphysik (ZfK) in Rossendorf bei Dresden. Im Dezember 1957 ging in Rossendorf der erste ostdeutsche Forschungsreaktor in Betrieb. Bereits im Juli 1956 hatte die Sowjetunion der DDR Hilfe bei der Errichtung eines ersten kleinen Kernkraftwerkes zugesichert. Im Jahr 1958 entstand das Wissenschaftlich-Technische Büro für Reaktorbau (WTBR), das 1961 in den Volkseigenen Betrieb (VEB) Entwicklung und Projektierung kerntechnischer Anlagen (EPkA) überging. Mit der Staatlichen Zentrale für Strahlenschutz (SZS) folgte im Juli 1962 die Bildung eines ostdeutschen Strahlenschutzamtes. Aus diesem ging im Sommer 1973 kurz vor der Inbetriebnahme des ersten Greifswalder Reaktors das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS) hervor.39 38  Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 97 u. 108; Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90. Berlin 2000, S. 387; D. Müller: Die weitere Entwicklung der Energiewirtschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. In: Kernenergie (1991) 5, S. 181–183, hier 181; Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 28; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 37; Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 1, 99 f. u. 198 f.; ders.: Energiepolitik, S. 191 u. 195; Abele: Kernkraft, S. 40, 61 f. u. 68; Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 49; Wolle: Aufbruch in die Stagnation, S. 68 f. u. 73 f.; Ulrich Mählert: Kleine Geschichte der DDR. München 2004, S. 136. 39  Müller: Kernenergie, S. 21–38, 44, 117 f. u. 269–271; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 34 f. u. 58; Hampe: Kerntechnik, S. 10, 13, 21, 26 f., 42 u. 47; Abele: Kernkraft, S. 45 f.; Ministerrat der DDR (Hg.): Nationaler Bericht, S. 10 f., 37–39 u. 53. Kahlert benennt ungenau

Gründerzeit und Abkühlung der »Atomeuphorie«

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Im Juli 1956 schlossen die Sowjetunion und die DDR einen Vertrag zur Errichtung eines ersten ostdeutschen Kernkraftwerkes. Und am 9. Mai 1966 ging das »Atomkraftwerk I« bei Rheinsberg, knapp 90 Kilometer nördlich von Berlin in der brandenburgischen Provinz, mit einer Leistung von 70 Megawatt offiziell in Betrieb. Das gewählte Datum, in der Sowjetunion als »Tag des Sieges« über den Hitlerfaschismus gefeiert, reihte sich in eine aufwendige staatliche Inszenierung ein. Immerhin verfügte die DDR nun über das erste deutsche Kernkraftwerk überhaupt, das industriell Strom erzeugte. Tatsächlich produzierte Rheinsberg am Tag seiner offiziellen Inbetriebnahme aus technischen Gründen nur eine geringe Menge Strom und musste kurz darauf ganz abgefahren werden. Ende Mai 1966 erreichte die nukleare Anlage erstmals ihre volle Leistung. Die Bauzeit des Kernkraftwerkes hatte sich gegenüber den ursprünglichen Planungen verdoppelt, seine Kosten hatten sich auf mehr als 400 Millionen MDN vervierfacht. In der Bundesrepublik ging derweil Ende 1966 ein erstes industrielles Kernkraftwerk im bayerischen Gundremmingen mit einer Leistung von mehr als 250 Megawatt in Betrieb. Vom zeitlichen Ablauf gelang der DDR damit einer ihrer seltenen Siege im technologischen Wettlauf zwischen Ost und West. Das galt jedoch nicht für die Leistungsfähigkeit der nuklearen Anlage, die zudem unerwartet hohe Kosten verursachte. Als industrielles Lehr- und Versuchskraftwerk betrieben, war der Strom aus Rheinsberg von der ostdeutschen Wirtschaft vor allem für die energieintensiven Wintermonate fest eingeplant.40 den 17.6.1955. Vgl. Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 26 f. Die Fakultät für Kerntechnik mit später 4 Fachrichtungen Kernphysik, Radiochemie, Kernenergetik und Strahlenmess­technik wurde 1962 wieder aufgelöst, ihre Ausbildungsinhalte anderen Studiengängen der TU Dresden zugeordnet. Diese Umstrukturierung stand im Zeichen der Neuausrichtung der DDR-Kernenergiewirtschaft im gleichen Jahr, eigene Forschungen und Entwicklungen wichen dem »schlüsselfertigen« Import sowjetischer KKW. Seit 1968/69 erfolgte die kernenergetische Ausbildung an der TU Dresden und der TH Zittau. Vgl. Peter Liewers, Johannes Abele, Gerhard Barkleit: Einleitung. In: dies. (Hg.): Geschichte der Kernenergie, S. 9–17, hier 15 f. Das Zentralinstitut für Kernphysik war dem AKK unterstellt und ging mit dessen Auflösung im Mai 1963 als Zentralinstitut für Kernforschung an die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Vgl. Vorstand des Forschungszentrums Rossendorf e. V./Vorstand des Vereins für Kernverfahrenstechnik und Analytik Rossendorf e. V. (Hg.): 50 Jahre Forschung in Rossendorf. Sonderausgabe der Hauszeitungen von FZR und VKTA zum gemeinsamen ›Tag des offenen Labors‹ am 20. Mai 2006, S. 2; Ministerrat der DDR (Hg.): Nationaler Bericht, S. 10. 40  Günter Hentschel: Kernkraftwerk Rheinsberg. Rückblick auf Errichtung, Betriebsergebnisse und Aufgaben. In: Liewers; Abele; Barkleit (Hg.): Geschichte der Kernenergie, S. 163–220, hier 177; Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 63; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 35; Sebastian Stude: 1955 Rheinsberg – zwischen Blockwarte und Kulturhaus. Das Kernkraftwerk Rheinsberg in der DDR. Rheinsberg 2014, S. 12; ders.: Objekt 903. In: Horch und Guck (2012) 78, S. 4–8; Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 133 u. 319. Müller bezeichnet dagegen das Versuchsatomkraftwerk im bayrischen Kahl (VAK) mit der Leistung von 15 Megawatt, das im Juni 1961 in Betrieb ging, als das erste deutsche KKW. Vgl. Müller: Kernenergie, S. 61–63; Hampe: Kerntechnik, S. 42. Mitunter übernehmen Autoren die Angaben zur offiziellen Inbetriebnahme bzw. Netzschaltung des KKW Rheinsberg am 9. Mai 1966 unkritisch. Vgl. Hampe: Kerntechnik, S. 102.

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

Damit baute die DDR unter Walter Ulbricht seit Mitte der 1950er-Jahre eine eigene aber keinesfalls eine eigenständige Kernenergiewirtschaft auf. Sie blieb stets eng verflochten mit der Sowjetunion und bis zuletzt abhängig von dieser. Deutlich kam das durch den Import sowjetischer Reaktordruckgefäße und Kernbrennstoffkassetten zum Ausdruck, um die der ostdeutsche Staat bedingt durch die internationale politische Konstellation und das Scheitern eigener Entwicklungsvorhaben nicht umhinkam. Aus technologischer Sicht war das für die DDR zunächst durchaus von Vorteil. Denn die Sowjetunion gehörte gemeinsam mit den USA und England zu den führenden Ländern bei der Nutzung der Kernenergie. Noch während der Errichtung des ersten Kernkraftwerkes bei Rheinsberg rückte die SED-Führung im Jahr 1962 von ihren anspruchsvollen Zielen in der Kernenergiewirtschaft ab. Stärker in den Fokus der staatlichen Planer rückte nun die »Chemisierung« – also die Chemieindustrie. Partei und Staat hielten zwar an ihren drei großen Wirtschaftshoffnungen Chemie, Kybernetik und Kernenergie fest. Kernkraftwerke sollten per Beschluss von 1965 jedoch vollständig aus der Sowjetunion importiert werden. In den 1970er-Jahren stellte die SED-Führung unter Erich Honecker dann Programme zum Wohnungsbau und zur Mikroelektronik in den Mittelpunkt ihrer Wirtschaftspolitik. Die begrenzten ostdeutschen Ressourcen wurden jetzt nicht mehr in der Kernenergiewirtschaft konzentriert. Dieser Ausstieg aus einer breit angelegten Kernenergiewirtschaft folgte der inter­ nationalen Entwicklung einer deutlichen Abkühlung der »Atomeuphorie«. Mit der Rücknahme ihrer kernenergiewirtschaftlichen Ziele fiel die DDR im internationalen Vergleich zunehmend zurück. Zuletzt war ihre Leistungsfähigkeit geringer als die solcher RGW-Länder wie der Tschechoslowakei oder Ungarn. Interessanterweise ging die Bundesrepublik beinahe zeitgleich zum ostdeutschen Staat den entgegengesetzten Weg. Gerade wegen der sich eintrübenden Aussichten für die Kernenergiewirtschaft und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Zurückhaltung, weil Gewinne auf absehbare Zeit nicht zu erwarten schienen, förderte die westdeutsche Politik in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre Forschung und Kraftwerksbau verstärkt.41

41  Reichert: Kernenergiewirtschaft, S. 491 f.; Wolle: Aufbruch in die Stagnation, S. 68 f. u. 73–77; Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 69–71. Zur kritischen Wahrnehmung der DDRKernenergiewirtschaft durch ihre eigenen Arbeiter und Angestellten vgl. Vernehmungsprotokoll des Zeugen Rockstroh, Bernd v. 16.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 2, Bl. 181–186.

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2.7 Stagnation, Frustration und Krise Alle DDR-Kernkraftwerke waren mit sowjetischen Reaktoren nach dem Druckwasserprinzip ausgestattet. Wasser diente in ihnen zugleich als Moderator der Kettenreaktion und als Kühlmittel zum Abführen der Wärmeenergie. Aus dem Russischen abgeleitet trugen diese Reaktoren die Bezeichnung WWER für »Wasser-Wasser-Energie-Reaktor«. Überhaupt waren die verschiedenen Typen der WWER-Reaktoren ein Exportschlager der Sowjetunion. Sie lieferte ihn über die RGW-Länder DDR, Tschechoslowakei, Bulgarien und Ungarn hinaus auch nach Finnland. Zwei seit 1977 in Finnland betriebene Reaktoren wurden eigens mit westlicher Technik unter anderem der Firma Siemens nachgerüstet. Sie überzeugten auch westliche Beobachter durch ihre »ausgezeichneten Verfügbarkeitswerte«42. Die Sowjetunion ermöglichte der DDR und anderen RGW-Ländern aus politischen und wirtschaftlichen Erwägungen heraus im Rahmen der sogenannten »sozialistischen Integration« Zugang zu ihrer Kernenergietechnologie. Gleichwohl war sie darauf bedacht, ihre Vormachtstellung auf diesem Sektor zu festigen. Während sie möglichst viel Knowhow von der DDR abzuschöpfen versuchte, gab sie eigene Forschungsergebnisse oder Betriebserfahrungen höchstens zögerlich preis. Mit der rigiden sowjetischen Politik verbunden war, dass die Kernenergie nicht nur gegenüber der ostdeutschen Öffentlichkeit, sondern auch auf politischer, wissenschaftlicher und technischer Arbeitsebene zur Geheimsache wurde. Als Begründung für die strenge Geheimhaltung galt von sowjetischer aber auch von ostdeutscher Seite, westlichen Stör- und Spionageversuchen zuvorkommen zu wollen. Ein Wissens- und Erfahrungsaustausch oder Fachdiskussionen zum Kraftwerksbetrieb und zur nuklearen Sicherheit waren dadurch behindert, zum Teil unmöglich. Bis zuletzt erschwerte diese »Politik der geheimen Verschlusssache« auch den Arbeitsalltag in den Kernkraftwerken.43 Auf ostdeutscher Seite erzeugte die ungleiche Partnerschaft gepaart mit lediglich teilweise erfüllten Hoffnungen in die sowjetische Kerntechnik zusehends Frustration und zuletzt auch Resignation. Das galt unabhängig von der Wertschätzung für die tatsächlich erbrachten sowjetischen Leistungen. Bis Mitte der 1980er-Jahre entwickelte sich schließlich eine handfeste Krise. Damals sah man den Betrieb des Kernkraftwerkes bei Greifswald aufgrund ausbleibender sowjetischer Lieferungen gefährdet. Der Grund für die nachlassenden Leistungen der Sowjetunion war vor allem deren erschöpfte Wirtschaftskraft. Für die Anlagen-Peripherie 42  Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 80. 43  Alexander Schönherr: Die ersten vier Blöcke des KKW Greifswald von der Vorbereitung bis zur Abschaltung. In: Liewers; Abele; Barkleit (Hg.): Geschichte der Kernenergie, S. 221–308, hier 227; Barkleit: »Überholen ohne einzuholen«, S. 49; Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hg.): Kernenergiepolitik, S. 15; Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 76–80; Müller: Kernenergie, S. 1–4, 137 f. u. 149; Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 47 u. 99–101.

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Kernenergiewirtschaft in der DDR

(Prüftechnik, Strahlenüberwachung) musste die DDR jetzt auf Eigenentwicklungen und vor allem auf den Import von West-Technik ausweichen. Ihre chronische Devisenarmut sowie westliche Embargobestimmungen erschwerten das. Die Embargobestimmungen ließen sich zwar mit einem gewissen organisatorischen Aufwand umgehen und Devisen bemühte sich die DDR einzusparen, indem sie westliche Technik ungeachtet geltender Lizenz- oder Patentrechte insgeheim nachbaute, aber in Hinblick auf eine Hochtechnologie im Kontext einer sich globalisierenden Welt blieben Embargo, Devisenmangel und Abgrenzung nicht zu unterschätzende Nachteile.44 Die sowjetische Krise und steigende internationale Sicherheitsstandards gewannen im Laufe der Zeit zunehmend an Bedeutung für die ostdeutsche Kernenergie­ wirtschaft. Verschiedene sowjetische Anlagenteile der DDR-Kernkraftwerke zeigten deutliche Schwächen. Neben versprödungsanfälligen Reaktordruckgefäßen und korrosionsgefährdeten Dampferzeugern gehörten dazu eine veraltete Anlagensteuerung sowie leistungsschwache Sicherungs- und Überwachungssysteme. Als die Sowjetunion ihren Einfluss Ende der 1980er-Jahre preisgab, bedeutete das letztlich das Ende für die ostdeutsche Kern­energiewirtschaft. Unter dem Eindruck neuer politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in der Folge der Friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit gaben wirtschaftliche Aspekte und das nukleare Risiko den Ausschlag, die ostdeutschen Kernkraftwerke zügig abzuschalten und stillzulegen.45 Das SED-Politbüro behandelte derweil im Frühjahr 1988 nicht zum ersten Mal die miserable Situation in der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft. Die zuständige Abteilung Grundstoffindustrie des SED-Zentralkomitees legte damals eine scharfe Analyse vor. Aus ihr ergab sich wenn nicht das Scheitern, so doch eine schwere Krise. Alleine auf der Großbaustelle zu den Greifswalder Reaktoren 5 bis 8 waren im Vorjahr Rückstände von mehr als 70 Millionen Mark eingetreten und zu den ohnehin mehrfach korrigierten Plänen traten erneute Zeitverzüge hinzu. Als Hauptursachen machte die SED-Führung verzögerte Projektauslieferungen, Projektänderungen, fehlende Ausrüstungen, den notwendigen Austausch von verbautem Rohrmaterial und aufwendige Reinigungen der Kühlkreisläufe aufgrund der extrem langen Bauzeiten aus. Als grundlegende Übel im Kraftwerksbau galten 44  Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 58 u. 64–67; Abele: Kernkraft, S. 8, 12, 16, 23 f., 27, 47, 73 u. 80; Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hg.): Kernenergiepolitik, S. 7 u. 17; Hampe: Kerntechnik, S. 93–102; Reichert: Kernenergiewirtschaft, S. 495. Vgl. Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 54; Nagel: Atomingenieur, S. 66 f.; Roesler: Ostdeutsche Wirtschaft, S. 32. 45  Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 44; Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 77; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 72 f.; Müller: Kernenergie, S. 38, 53–55, 59, 135 u. 204; Liewers; Abele; Barkleit: Einleitung, S. 12 f.; Schönherr: Greifswald, S. 269; Abele: Kernkraft, S. 12; Hampe: Kerntechnik, S. 88; Nagel: Atomingenieur, S. 60; Barkleit: »Überholen ohne einzuholen«, S. 50.

Stagnation, Frustration und Krise

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eine schlechte Leitung und Planung, fehlende wissenschaftliche und technologische Fähigkeiten, Mängel in den sowjetischen Projekten und Lieferausfälle aus der Sowjetunion.46 Im Spätsommer des gleichen Jahres schätzte Gerhard Ackermann, einer der führenden ostdeutschen Kernenergetiker in einer geheimen Studie ein, dass die Wettbewerbsfähigkeit des ostdeutschen Kernkraftwerksbaus ab Mitte der 1970er-Jahre drastisch zurückgegangen sei. Gegenüber dem Vorsitzenden des DDR-Ministerrates und SED-Politbüromitglied Willi Stoph benannte er damals im internationalen Vergleich einen »enormen Rückstand« der DDR.47 Ende November 1989 wurde die Krise der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft zumindest hinter verschlossenen Türen dann auch staatlicherseits beim Namen genannt. Ein Diskussionspapier konstatierte den ungenügenden Entwicklungsstand des DDR-Kraftwerksbaus und die Unerfüllbarkeit bis dahin geltender Pläne. Weil man an der nuklearen Option jedoch festzuhalten gedachte, kam nun der Vorschlag auf den Tisch, mit dem Westen zusammenzuarbeiten. Das Papier war in verschiedener Hinsicht ein Kind seiner Zeit, entstanden zwischen Maueröffnung und Deutscher Einheit. Staatlicherseits erfolgte eine vergleichsweise schonungslose Analyse der Krise. Mit westlicher Hilfe sollten Reformen wenn auch nicht aus eigener Kraft umgesetzt, so doch angestoßen werden. Wegen der extremen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verschiebungen gestaltete sich die Wirklichkeit dann aber deutlich anders. Im Rückblick blieb die Geschichte der DDR-Kernenergiewirtschaft eine Geschichte vieler uneingelöster politischer Versprechungen, unerfüllter Wirtschaftspläne, vielfältiger technischer Herausforderungen und ungelöster gesellschaftlicher Widersprüche. In diesem Sinne stellte die Kernenergiewirtschaft keinen Sonderfall dar, sondern stand beispielhaft für die DDR-Wirtschaft insgesamt.

46  Vgl. Information über die Lage beim Bau der Kernkraftwerke in der DDR, Anlage Nr. 5 zum Protokoll Nr. 17 v. 9.2.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 263, Bl. 269–284. 47  Vgl. Gerhard Ackermann: Anforderungen an die weitere wissenschaftlich-technische Arbeit auf dem Gebiet des Baues und der Montage von Kernkraftwerken v. 20.9.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 18231, Bl. 122–165, hier 123.

3. Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft Mit der Errichtung des Kernkraftwerkes bei Greifswald und dem industriellen Einstieg in die Kernenergienutzung sah sich die SED-Führung ab Ende der 1960er-Jahre einer besonderen politischen und wirtschaftlichen Herausforderung gegenüber. Politisches Scheitern (Energiepolitik), wirtschaftlicher Erfolg (stabile Stromproduktion und nukleare Sicherheit) und vorhandene Möglichkeiten (finanzielle, materielle und personelle Ressourcen) waren auf das Engste miteinander verknüpft. Vor diesem Hintergrund wurde die Kernenergiewirtschaft zum Arbeitsgegenstand der Staatssicherheit.1 Allgemein stellte die ostdeutsche Wirtschaft von Beginn an ein zentrales Tätigkeitsfeld der Stasi dar. Das ergab vor dem Hintergrund Sinn, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit die Grundlage jedes modernen Staates bildet. In der Ost-Berliner Stasi-Zentrale und den regionalen Bezirksverwaltungen bestand dafür ein eigener Arbeitsbereich. Nach verschiedenen Umstrukturierungen war dies seit 1964 die Abteilung XVIII (Volkswirtschaft).2 Bis 1989 stieg der Personalbestand der für die Überwachung und Kontrolle der Wirtschaft zuständigen Abteilung XVIII in der Ost-Berliner Zentrale und den Stasi-Bezirksverwaltungen auf 1 623 MfS-Offiziere. Sie waren für die wichtigen Bau- und Industriebetriebe wie die zuletzt mehr als 300 zentral- und bezirksgeleiteten Kombinate sowie für die Sicherungsschwerpunkte Landwirtschaft, (Außen-)Handel, Finanzen, Wissenschaft, Technik und Verteidigung zuständig. Auch die Bearbeitung der zuständigen staatlichen Verwaltungsstellen fiel in ihre Verantwortung. Einrichtungen von herausgehobener wirtschaftlicher Bedeutung fielen in die Zuständigkeit eigens eingerichteter Operativgruppen oder Objektdienststellen, weniger wichtige Einrichtungen in die der Kreisdienststellen. Die Stasi-Offiziere arbeiteten vor allem, aber bei Weitem nicht nur, hinter den geheimpolizeilichen Kulissen. So galt beispielsweise laut einer Dienstanweisung aus dem Jahr 1982, dass die Stasi-Offiziere das »vertrauensvolle politisch-operative Zusammenwirken mit den zuständigen Ministern, Generaldirektoren, Direktoren und Leitern« pflegen sollten.3 1  Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 55; Abele: Kernkraft, S. 9. 2  Stichwort »Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft/HA XVIII)«. In: Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2012, S. 142–145. 3  Vgl. Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit v. 8.2.1950, abgedruckt in: Roger Engelmann, Frank Joestel (Bearb.): Grundsatzdokumente des MfS (BStU, MfS-Handbuch; Teil V/5). Berlin 2010, S. 21 sowie Maria Haendcke-Hoppe-Arndt: Die Hauptabteilung XVIII. Volkswirtschaft (BStU, MfS-Handbuch; Teil III/10). Berlin 1997, S. 13, 31 u. 103 f.; Hertle; Gilles: Stasi in der Produktion, S. 118–137, hier bes. 118 f. Franz-Otto Gilles,

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Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

Mit der Überwachung und Kontrolle der Wirtschaft sollte die Stasi letztlich die Erfüllung der Pläne sichern. Das umfasste das Verhindern und Aufdecken von Schlampereien, Bränden, Havarien und Störungen (stets unter dem Verdacht möglicher »Sabotage«), das Vorgehen gegen Spionage und Kriminalität, die politische Überwachung der Arbeiter und Angestellten, die Kontrolle des Geheimnisschutzes sowie eine fortlaufende Informations- und Berichterstattung an die Führungen von SED und staatlicher Verwaltung. In den 1970er- und 1980er-Jahren kamen ständig neue Aufgaben hinzu wie Sicherheitsüberprüfungen (SÜ) von Arbeitern und Angestellten, die Überwachung und Kontrolle von Dienstreisenden (aus der und in die DDR), Ausreiseantragstellern und ausländischen Werktätigen, die Sicherung von Westimporten sowie gemeinsam mit dem Auslandsgeheimdienst Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) das Umgehen von westlichen Embargovorschriften. Die große Zunahme ihrer Aufgaben sowie die schiere Masse der zu bewältigenden Informationen führten spätestens Mitte der 1980er-Jahre zu Überlastungstendenzen und Kritik seitens der Stasi-Offiziere vor allem in den örtlichen Diensteinheiten. Dort arbeitete mit knapp 13 Prozent zwar nur ein Bruchteil der Stasi-Offiziere, die jedoch den Großteil der operativen Arbeit stemmten und mehr als die Hälfte aller Informanten führten. Eine ganz ähnliche Einschätzung zu Aufgabenfülle und Überlastungstendenzen dürfte für die Objektdienststellen gegolten haben.4 Mancher in der DDR nahm die Stasi bisweilen als kompetenten und einflussreichen Krisenmanager bzw. als »Rettungsanker« oder »Schmiermittel« der krisengeschüttelten Wirtschaft wahr. Vom einfachen Arbeiter bis hin zum Generaldirektor traute man ihr zu oder meinte man, sie nutzen zu können, bei Produktionsstörungen, ungünstigen Strukturen, wirklichkeitsfremden politischen Vorgaben, Personalmangel, fehlendem Material oder veralteten Fabrikmaschinen Abhilfe zu schaffen oder wenigstens die entscheidenden Stellen darüber in Kenntnis zu setzen. Aus der Rückschau betrachtet stellt sich diese zeitgenössisch vermutete »Regulierungsfunktion« als Fehlannahme heraus. Die Staatssicherheit hatte zwar von vielem Kenntnis und informierte die SED-Führung und staatliche Leiter darüber, allerdings bleiben der Wert und die Verwertung der StasiHans-Hermann Hertle: Überwiegend negativ. Das Ministerium für Staatssicherheit in der Volkswirtschaft dargestellt am Beispiel der Struktur und Arbeitsweise der Objektdienststellen in den Chemiekombinaten des Bezirks Halle. Berlin 1994, S. 6 f.; Jens Gieseke: Die Stasi 1945–1990. München 2011, S. 141; ders.: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 319 u. 396. Stichworte »Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft/HA XVIII)« und »Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund/HA XX)«. In: Das MfS-Lexikon, S. 142–145. Zit. nach: Hertle; Gilles: Stasi in der Produktion, S. 121. 4  Jens Gieseke: Die DDR-Staatssicherheit. Schild und Schwert der Partei. Bonn 2001, S. 90.; ders.: Die Stasi, S. 136 f.; Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 18 f. u. 33. Stellvertretend zu den ausufernden Aufgaben und den Arbeitsmethoden der Linie XVIII der Staatssicherheit vgl. Dienstanweisung Nr. 1/82 zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR v. 30.3.1982; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 5491, Bl. 1–52.

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Informationen durch ihre Empfänger letztlich offen. Unabhängig vom Sammeln und Weiterleiten großer Informationsmassen konnte die Staatssicherheit keine unmittelbaren politischen Entscheidungen treffen, um Veränderungen herbeizuführen. Hinzu kam »eine eindeutige Überforderung im Abwehrkampf gegen den eigentlichen und nahezu übermächtigen Feind, nämlich die Mangel- und Kommandowirtschaft«.5 In Bereichen, die die Stasi besonders intensiv bearbeitete, lassen sich sogar wirtschaftliche Nachteile durch ihr Wirken beobachten. Massenhafte Sicherheitsüberprüfungen und Kontrollen des Geheimnisschutzes konnten Personalveränderungen, Einschränkungen bei Dienstreisen sowie bei West-Kontakten nach sich ziehen. Das wirkte besonders in Bereichen der Hochtechnologie schnell als Hemmschuh und Innovationsbremse. Wie ausgeprägt das Missverhältnis von politisch überformten Schutzabsichten und Nachteilen für die ostdeutsche Wirtschaft war, ist schwer zu benennen. Alleine der Umstand, dass ein solches Missverhältnis bestand, belegt jedoch die Widersprüchlichkeit im Wirken der ostdeutschen Geheimpolizei. Gleichwohl nahm die Stasi in der späten DDR bisweilen eine »Ventilfunktion« ein, weil mancher annahm, hier könnten Frust, Sorgen oder Verzweiflung angesprochen werden. Unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt solcher individueller Wahrnehmungen blieb die Stasi bis zuletzt ein geheimpolizeiliches Instrument zur Sicherung der SED-Herrschaft. Für die Überwachung und Kontrolle der Wirtschaft führten die Stasi-Offiziere der Linie XVIII inoffizielle Mitarbeiter und beteiligten sich an der Verfolgung von Ausreiseantragstellern, Menschen mit Westkontakten, Nichtwählern oder politisch Andersdenkenden. Die Geheimpolizei nahm nachhaltigen und oftmals nachteiligen Einfluss auf viele ostdeutsche Biografien, ohne dass die Betroffenen selbst davon wussten, geschweige denn dagegen vorgehen konnten. Die Staatssicherheit selbst sah die Überwachung und Kontrolle der Wirtschaft nicht verinselt, sondern mit Politik und Gesellschaft eng verwoben. Schon deshalb scheint die Vorstellung eines »guten Kerns« innerhalb der Stasi irreführend.6 5  Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 34 f.; dies.: Stasi in der Produktion, S. 131. 6  Haendcke-Hoppe-Arndt: Volkswirtschaft, S. 3–10, 36, 40, 80–84, 94 u. 121 ff.; Gieseke: Schild und Schwert, S. 90; ders.: Die Stasi, S. 141–146; Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 3 f., 39 u. 42 f.; dies.: Stasi in der Produktion, S. 135–137; Walter Süß: Vorwort. In: Reinhard Buthmann: Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms. Berlin 1997, S. 7–9 sowie ders.: Kadersicherung, S. 12 f. u. 127.; ders.: Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des MfS in Wissenschaft und Forschung der DDR. Berlin 2000, S. 7–9 u. 130–147. Roland Wiedmann: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989 (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2011, S. 172; ders.: Die Diensteinheiten des MfS 1950–1989. Eine organisatorische Übersicht. Berlin 2012, S. 309–314 sowie Stichwort »Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft/HA XVIII)«. In: Das MfS-Lexikon, S. 142 f. Vgl. in der Richtlinie Nr. 1/69 zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik v. 25.8.1969: »Die operative Sicherung der Volkswirtschaft der DDR ist die zentrale Aufgabe der Linie XVIII des MfS. Da das ökonomische System des Sozialismus alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens berührt und

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Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

Eigenes Referat für die Kernenergiewirtschaft Die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft war von Beginn an Arbeitsgegenstand der Staatssicherheit. Bereits Mitte der 1950er-Jahre gab es eine selbstständige Abteilung VI, in deren Zuständigkeit mit der Flugzeugindustrie, der Kernenergie­ wirtschaft und der Verteidigungsindustrie drei Industriezweige fielen, denen die SED-Führung großes Zukunftspotenzial beimaß. Als sich abzeichnete, dass sowohl in der Flugzeugindustrie als auch in der Kernenergiewirtschaft die großen Pläne nicht in Erfüllung gingen, wurde die Abteilung Anfang der 1960er-Jahre aufgelöst und ihre Tätigkeitsfelder als Abteilung für Wissenschaft, Forschung und Verteidigungsindustrie der Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft) zugeordnet. 1976 ging auch die Bearbeitung des ostdeutschen Strahlenschutzamtes SAAS in die Zuständigkeit der Hauptabteilung XVIII über. Bis in die 1980er-Jahre hinein rechnete die Stasi die Energiewirtschaft samt der Braunkohleverstromung und der Kernenergiewirtschaft gemeinsam mit beispielsweise der Mikroelektronik und der Chemieindustrie zu den Industriezweigen, die einer besonderen Überwachung und Kontrolle zu unterziehen waren. In der Ost-Berliner Hauptabteilung XVIII gab es dafür in der Fachabteilung »Grundstoffindustrie« eigens ein Referat »Kohle und Energie«.7

3.1 Von der Stasi-Operativgruppe »KKW Nord« zur StasiObjektdienststelle »Bruno Leuschner« Die Objektdienststellen als eigene Diensteinheiten der Staatssicherheit gab es erst seit dem Frühjahr 1957. Sie waren Ausdruck der Stasi-Bemühungen um eine stärkere Überwachung und Kontrolle der ostdeutschen Wirtschaft samt ihrer Arbeiter und Angestellten. Die Objektdienststellen unterschieden sich von der übrigen feingliedrigen Organisationsstruktur der Geheimpolizei, die sich auf den verschiedenen örtlichen Ebenen an Arbeitsinhalten orientierte. Die Objektdienststellen waren vielmehr auf einen örtlichen Arbeitsgegenstand ausgerichtet und vor Ort an bedeutenden Betrieben und Einrichtungen angesiedelt. Als objektbezogene Diensteinheiten hatten sie eine Querschnittsfunktion. Für den Stasi-typischen Dreiklang aus innerer Sicherung, äußerer Abwehr und operativer Vorgangsarbeit arbeiteten ihre Offiziere mit geheimen Informanten ebenso wie mit den Leitern und Führungskräften der jeweiligen Betriebe und Einrichtungen. In diesem Sinne mit ihnen als Kernstück verbunden ist, darf die Sicherung der Volkswirtschaft nicht ressortmäßig verstanden werden.« BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 2566, Bl. 1–17, hier 4. 7  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Volkswirtschaft, S. 7–9, 28, 31, 80 u. 100; Wiedmann: Organisationsstruktur, S. 172–185; ders.: Diensteinheiten, S. 310 f.; Hertle; Gilles: Stasi in der Produktion, S. 119, ebenso Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 7. Stichwort »Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft/HA XVIII)«. In: Das MfS-Lexikon, S. 142 f.

Von der Stasi-Operativgruppe zur Stasi-Objektdienststelle

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waren die Objektdienststellen so etwas wie Zweigbetriebe im Mielke-Kombinat, die weit mehr als nur die Überwachung und Kontrolle der Wirtschaft leisteten. Die Anzahl der Stasi-Objektdienststellen schwankte im Laufe der Jahre. Sowohl Neubildungen als auch Auflösungen hat es gegeben. Im Jahr 1989 existierten sieben Objektdienststellen an bedeutenden Betrieben und Einrichtungen – in den Kombinaten Schwarze Pumpe, Carl Zeiss Jena, Chemische Werke »Walter Ulbricht« Leuna, Chemische Werke Buna, Chemiekombinat Bitterfeld, Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald sowie an der Technischen Universität Dresden. Dass es nördlich von Berlin lediglich eine Objektdienststelle – im Kombinat Kernkraftwerke – gab, war Ausdruck dessen, dass der Süden der DDR in puncto Bevölkerung und Industrie eine höhere Dichte aufwies. Die große Mehrzahl aus der Perspektive der Geheimpolizei schützenswerter Betriebe und Einrichtungen befand sich dort.8 Durch seine wirtschaftliche und politische Bedeutung war das Kernkraftwerk bei Greifswald frühzeitig Arbeitsgegenstand der Stasi. Der spätere Leiter der Stasi-Operativgruppe »KKW Nord«, Werner Müller, schrieb als Motiv dafür in seiner Diplomarbeit an der Stasi-Hochschule bei Potsdam: Die ständige Steigerung der Arbeitsproduktivität und die sozialistische Wirtschaftsintegration [sind] eine entscheidende Voraussetzung für den Sieg über das kapitalistische System, für die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und den Aufbau des Kommunismus. […] Man kann auch sagen, dass zwischen Arbeitsproduktivität, Elektrifizierung und gesellschaftlichem Fortschritt ein unmittelbar gesetzmäßiger Zusammenhang besteht, den Lenin […] in dem genialen Ausspruch erfasste: ›Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.‹9

Für die Geheimpolizei schien dabei anfangs weniger das nukleare Risiko von besonderer Bedeutung zu sein als vielmehr der Umstand, dass die Sowjetunion 8  Vgl. Dienstanweisung Nr. 16/57: Maßnahmen zur Verbesserung der operativen Arbeit in den Betrieben, Ministerien und Hauptverwaltungen, Universitäten, Hochschulen und wissenschaftlichen Instituten sowie in den Objekten der Landwirtschaft v. 30.5.1957; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 2152, Bl. 1–19 sowie Richtlinie Nr. 1/69 zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik v. 25.8.1969; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 2566, Bl. 1–17; Roger Engelmann, Silke Schuman: Der Ausbau des Überwachungsstaates. Der Konflikt Ulbricht – Wollweber und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes der DDR 1957. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (1995) 2, S. 341–378; dies.: Kurs auf die entwickelte Diktatur. Walter Ulbricht, die Entmachtung Wollwebers und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes 1956/57. Berlin 1995. Zu den Objektdienststellen überblicksartig Reinhard Buthmann: Die Objektdienststellen des MfS (BStU, MfS-Handbuch; Teil II/3). Berlin 1999; Gieseke: Schild und Schwert, S. 14. Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Volkswirtschaft, S. 10 sowie Hertle; Gilles: Stasi in der Produktion, S. 121 f.; dies.: Überwiegend negativ, S. 10. 9  Werner Müller: Zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit einer Operativgruppe zur Gewährleistung der Sicherung von wachstumsbestimmenden Investitionsvorhaben. Dargestellt am Beispiel Kernkraftwerk Nord, Diplomarbeit an der Juristischen Hochschule Potsdam des MfS, 25.8.1972; BStU, MfS, JHS, MF, VVS 257/72, S. 4.

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Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

die Kernkraftwerkstechnologie lieferte. Im ostdeutschen Staat wurde das als »Ausdruck der engen wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion«10 und als »Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Integration mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern im Rahmen des RGW«11 gepriesen. Laut dem späteren Leiter der Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk, Hans-Heinrich Hanke, stand für die Geheimpolizei hier nicht weniger als »die Verteidigung der Ehre und des ökonomischen Ansehens der Sowjetunion in der DDR« auf dem Spiel.12 In diesem Sinne ging es der Stasi zunächst weniger um eine nukleare Gefahrenabwehr als vielmehr um die politische Überwachung und Kontrolle der Großbaustelle und des Kernkraftwerkes. Eine erste Erwähnung des Kernkraftwerkes am Greifswalder Bodden als Arbeitsgegenstand der Stasi stammt aus dem Jahr 1967. Unmittelbar nachdem die Arbeiten auf der Großbaustelle begonnen hatten, legte der Stasi-Offizier Gerhard Mäske bei der Stasi-Kreisdienststelle Greifswald im Oktober des Jahres einen Objektvorgang unter der Bezeichnung »KKW Nord« an. Das war die seinerzeit übliche Vorgangsart zu Einrichtungen und Betrieben, die der Überwachung und Kontrolle der Staatssicherheit unterlagen. Der gewählte Deckname für den Vorgang orientierte sich nüchtern am damaligen Namen des Kraftwerkvorhabens. Der 37-jährige Mäske leitete dann ab Oktober 1967 die bei der Greifswalder Kreisdienststelle gebildete Operativgruppe »KKW Nord«. Als Operativ­gruppenleiter unterstand er unmittelbar dem Leiter der Stasi-Kreisdienststelle. Der Kernkraftwerksbau bildete seitdem den Arbeitsschwerpunkt der Stasi im Kreis Greifswald. Schon im Frühjahr 1969 entzog man Mäske die Leitung der Operativgruppe allerdings wieder, wegen »fehlender Erfahrungen und Eigenschaften, ein Arbeitskollektiv zur Bearbeitung eines solchen komplizierten Schwerpunktes zu führen«.13 Statt seiner übernahm der gerade 32-jährige Stasi-Offizier Werner Müller im April 1969 die Federführung des Vorgangs. Mit Müller verbunden war der eigentliche Aufbau der Operativgruppe »KKW Nord« und eine zunächst bis 10  Werner Müller: Jahresarbeit im Fachbereich VII der Sektion für politisch-operative Spezialausbildung. Der planmäßige und systematische Einsatz aller Kräfte und Mittel der Operativgruppe Kernkraftwerk Nord zur Realisierung des vorhandenen Informationsbedarfs bei der Sicherung des entscheidenden Investitionsvorhabens KKW Nord v. 14.1.1972, Einleitung; BStU, MfS, JHS, MF, VVS 141/71. 11  Müller: Zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit einer Operativgruppe, S. 12. 12  Hans-Heinrich Hanke: Das zweckmäßige Vorgehen zur Realisierung von Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen der operativen Bearbeitung des politisch-operativen Schwerpunktbereiches Inbetriebnahme des 2. Blockes im Kernkraftwerk Nord Lubmin (Fachschulabschlussarbeit an der Juristischen Hochschule Potsdam des MfS) v. 22.11.1974; BStU, MfS, JHS, MF, VVS 418/74, S. 6. 13  Vgl. Beurteilung des Genossen Mäske, Gerhard v. 26.10.1970; BStU, MfS, BV Rostock, KS II 157/84, Bl. 68 f., hier 68 sowie Erkenntnisse aus dem Erfahrungsaustausch mit dem KDLeiter Greifswald, Gen. Major Thiele und dem Operativgruppenleiter KKW Nord, Gen. Hptm. Müller am 10. November 1973 v. 27.12.1973; BStU, MfS, BV Magdeburg, Stellv. Operativ, Nr. 2, Bl. 160–163.

Von der Stasi-Operativgruppe zur Stasi-Objektdienststelle

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Mitte der 1970er-Jahre anhaltende Kontinuität in deren Leitung. Anfang der 1970er-Jahre gehörten zu der Operativgruppe neben Müller fünf weitere Stasi-­ Offiziere. Zu ihren Aufgaben zählten der Aufbau eines Informanten-Netzes, die operative Vorgangsarbeit sowie die Berichterstattung und Zusammenarbeit mit der örtlichen SED-Führung und der staatlichen Leitung auf der Großbaustelle. Die Arbeit der Geheimpolizei erfolgte dabei durchaus im Austausch mit sowjetischen Kernkraftwerks-Fachleuten und Geheimpolizisten. So weilte Werner Müller als Leiter der Operativgruppe unmittelbar vor der Inbetriebnahme des ersten Reaktors bei Greifswald im Sommer 1973 in Nowo-Woronesh. Dort entstand in der Sowjetunion mit geringem Vorlauf ein typengleiches Kernkraftwerk. Kritische Selbsteinschätzungen der Geheimpolizei zur Arbeit der Operativgruppe »KKW Nord« sind vor allem für deren Gründungsjahre unübersehbar. Etwa, dass die Kompliziertheit des neuen Arbeitsgegenstandes unterschätzt worden sei. Im Zusammenhang mit der Inbetriebnahme des ersten Reaktors im Dezember 1973 erfolgte ein deutlicher Wandel in der Beurteilung der zurückliegenden Arbeit. Verbunden war das mit einer Flut staatlicher Auszeichnungen. So konnte sich Werner Müller als Leiter der Stasi-Operativgruppe »KKW Nord« über die Auszeichnung mit der »Verdienstmedaille der DDR« freuen. In der Begründung dazu heftete sich die Stasi gleichsam selbst ans Revers: »Durch die zielgerichtet geführte politisch-operative Sicherungsarbeit hat der Leiter der Operativgruppe […] wesentlichen Anteil an der termin- und qualitätsgerechten Inbetriebnahme des ersten Blockes des Kernkraftwerkes.« Und die Operativgruppe »KKW Nord« insgesamt erhielt Anfang 1974 aus gleichem Anlass den »Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland in Silber«.14 Derweil übernahm nach der Beförderung von Werner Müller zum stellvertretenden Leiter der Kreisdienststelle Greifswald im September 1974 der Stasi-Offizier Hans-Heinrich Hanke die Leitung der Operativgruppe »KKW Nord«. Bis Ende der 1970er-Jahre wuchs diese auf sieben Stasi-Offiziere an.15

14  Vgl. Vorgangsheft Nr. 473 (Oltn. Mäske, BV Rostock, KD Greifswald); BStU, MfS, BV Rostock, o. Sig., o. Pag. und Vorgangsheft Nr. 507 (Werner Müller, BV Rostock, KD Greifswald); ebenda. Vgl. Beurteilung des Genossen Müller, Werner v. 23.3.1971; BStU, MfS, HA KuSch, KS 24996/90, Bl. 71 f. Vorschlag zur Auszeichnung v. 30.3.1973; ebenda, Bl. 76 f. Vorschlag zur Auszeichnung mit der Verdienstmedaille der NVA in Silber v. 4.7.1973; ebenda, Bl. 78 f. Vorschlag zur Auszeichnung mit der Verdienstmedaille der DDR v. 18.12.1973; ebenda, Bl. 80 f., hier 81; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 15, 22 sowie Stichwort »Objektvorgang«. In: Das MfS-Lexikon, S. 248. 15  Vorschlag zur Aufnahme in die Kaderreserve des Genossen Oberleutnant Hanke, HansHeinrich v. 24.11.1975; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 132, Bl. 92–94; Beurteilung des Genossen Hauptmann Hanke, Hans-Heinrich v. 28.3.1978; ebenda, Bl. 99–101. Aufstellung über OD/OG im Sicherungsbereich Kohle/Energie v. 25.8.1976; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 28703, Bl. 27. Bisweilen ist Ende 1973 bereits von einer 11-köpfigen Operativgruppe KKW-Nord die Rede. Vgl. Erkenntnisse aus dem Erfahrungsaustausch mit dem KD-Leiter Greifswald, Gen.

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Ende April 1981 erhielt der Leiter der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock, Generalmajor Rudolf Mittag, von der Ost-Berliner Stasi-Zentrale die mündliche Vorabinformation über eine Neuordnung der Geheimpolizeistrukturen im Ostseebezirk. Mit dem Befehl Nr. 6/81 gab Stasi-Minister Erich Mielke die Bildung der Objektdienststelle Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald vor. Auf zwei DIN-A4-Seiten führte Mielke die Bildung der Diensteinheit im Kernkraftwerkskombinat aus, das erst wenige Monate zuvor im Oktober 1981 entstanden war. Laut Mielkes Befehl bildete die wirtschaftliche Bedeutung des Kernkraftwerkes den Hintergrund dafür, dessen geheimpolizeiliche Überwachung und Kontrolle zu erhöhen mit dem Ziel, die »allseitige […] und umfassende […] politisch-operative […] Sicherung dieses Schwerpunktbereiches« zu gewährleisten.16 Zum 1. Mai 1981 wurde dafür aus der Operativgruppe »KKW Nord« der Stasi-Kreisdienststelle Greifswald eine eigenständige Diensteinheit gebildet. Damit war die Objektdienststelle im Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald zugleich die letzte gegründete Stasi-Diensteinheit dieser Art überhaupt. Sie unterstand unmittelbar dem Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung Rostock, Oberst Artur Amthor. Von nun an befassten sich hier 14 Stasi-Offiziere mit dem Kernkraftwerk. Leiter der Objektdienststelle wurde der bisherige Leiter der Operativgruppe »KKW Nord« und damalige Hauptmann Hans-Heinrich Hanke.17 Anfangs nutzte die Stasi auf dem Gelände des Kernkraftwerkes Arbeitsräume im zentralen Verwaltungsgebäude. In Anspielung auf die dortige Lage sprachen die Arbeiter und Angestellten bisweilen von der »ersten Etage«, wenn sie die Stasi meinten. Mit Gründung der Objektdienststelle im Frühjahr 1981 stand fest, dass die Geheimpolizei in dem Gebäude des damaligen Ambulanzzuges »Wilhelm Pieck« untergebracht wird. Die medizinische Einrichtung befand sich nahe der Arbeiterunterkunft »Leuna-Lager«, nord-westlich auf dem weitläufigen Betriebsgelände. Anfang 1984 schloss die Stasi-Bezirksverwaltung Rostock mit dem Generaldirektor des Kombinates Kernkraftwerke dazu einen Vertrag, die ehemalige medizinische Einrichtung als Objektdienststelle nutzen zu dürfen. Dort verfügte die Stasi über knapp 30 Zimmer und Kellerräume. Der Vertrag war für die Geheimpolizei ein gutes Geschäft. Die Nutzung des Gebäudes war für sie kostenfrei, selbst für laufende Kosten zur Instandhaltung, Telefonie sowie Major Thiele und dem Operativgruppenleiter KKW Nord, Gen. Hptm. Müller am 10.11.1973 v. 27.12.1973; BStU, MfS, BV Magdeburg, Stellv. Operativ, Nr. 2, Bl. 160–163, hier 161. 16  Befehl Nr. 6/81 v. 28.4.1981; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 7393, Bl. 2 f., hier 2. Vgl. auch Auszug aus dem Befehl Nr. 6/81 v. 28.4.1981; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 7394, Bl. 1. 17  Schreiben v. 30.4.1981; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 7393, Bl. 1; Schreiben v. 12.6.1981; ebenda, Bl. 4; Schreiben HA Kader und Schulung, Abt. Kader 9 v. 11.5.1981; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 132, Bl. 112. Kaderakte Amthor, Artur; BStU, MfS, BV Rostock, KS II 285/90. Auch Artur Amthor: Ruhe in Rostock? Vonwegen. Ein Oberst a. D. berichtet. Berlin 2009, S. 103 f.

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Strom und Wasser kam das Kernkraftwerk auf. Darüber hinaus behielt die Stasi-Objektdienststelle auch im zentralen Verwaltungsgebäude des Kernkraftwerkskombinates Arbeitsräume für die Arbeit mit ihren Informanten. Im Frühjahr 1985 richtete sie dort auf den Namen des Generaldirektors des Kombinates eine konspirative Wohnung (KW) mit dem Decknamen »Ruder« ein. Dahinter verbarg sich ein Zimmer in eben jener ersten Etage, wo schon die Operativgruppe »KKW Nord« bis Anfang der 1980er-Jahre gearbeitet hatte.18

Abb. 1: In Nachbarschaft von Betriebsschutz-Kommando und Gewerkschaftskasse: Lageskizze zum Stasi-Treffort »Ruder« im KKW-Verwaltungsgebäude

18  Vgl. Protokoll v. 30.11.1981; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 87, Bl. 17; Nutzungsvertrag v. 24.2.1984; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 170, Bl. 3 f. Vermerk Oberstleutnant Heimbach, Leiter der Kreisdienststelle Greifswald. In: Abschlussbericht zur OPK »Stammtisch« v. 2.3.1981; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/823/81, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Vorschlag zur Registrierung der KW »Ruder« v. 15.5.1985; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4695/91, Bl. 10 f.; Zwischenbericht OPK »Berater« v. 25.5.1981; BStU, MfS, KD Greifswald, Nr.  420, Bl. 2 f., hier 3 sowie Manfred Haferburg: Wohn-Haft. Königswinter b. Bonn 2013, S. 192 u. 197–200. Bericht der Arbeitsgruppe KKW des Untersuchungsausschusses über die Untersuchungen der Dokumente der Objektdienststelle des MfS im KKW. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses der Stadt Greifswald. Greifswald März 1990, S. 164–166, hier 165.

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3.2 Tätigkeitsfelder der Dienststelle Den Arbeitsgegenstand der Stasi-Objektdienststelle im Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« bildeten der Greifswalder Stammbetrieb des Kombinates mit den laufenden Reaktoren 1 bis 4 sowie die angrenzende Großbaustelle des Kombinates Kraftwerksanlagenbau Berlin (KKAB) zu den Reaktoren 5 bis 8. Das parallele Errichten, Inbetriebnehmen und Betreiben der acht Reaktoren am Greifswalder Bodden war eine zum Alltag gewordene Extremsituation, an der die Stasi ihre Arbeit ausrichtete. Darüber hinaus gehörten die Gemeinde Lubmin und die örtliche Staatsgrenze an der Ostsee gen Polen zum Verantwortungsbereich der Stasi-Diensteinheit. Nicht in ihre Zuständigkeit fielen dagegen die übrigen Betriebsteile des Kernkraftwerkskombinates. Das Kernkraftwerk Rheinsberg beispielsweise wurde entsprechend seiner örtlichen Lage durch die Stasi-Kreisdienststelle Neuruppin im Bezirk Potsdam überwacht. Im Bezirk Magdeburg war eine Mitte der 1970er-Jahre gegründete Operativgruppe bei der Stasi-Kreisdienststelle Stendal für die Großbaustelle zum Kernkraftwerk Stendal und die Stasi-Kreisdienststelle Haldensleben für das Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben (ERAM) zuständig.19 Die besondere wirtschaftliche und politische Bedeutung des Kernkraftwerkskombinates als großer Stromproduzent mit nuklearem Risiko ist nur eine unvollständige Erklärung für die Bildung der Stasi-Objektdienststelle hier im Frühjahr 1981. Die Bildung der Objektdienststelle war auch Ausdruck eines allgemeinen Trends in der ostdeutschen Geheimpolizei in den 1980er-Jahren. Entgegen dem stalinistischen Terror der Gründungsjahre rückten seit Mitte der 1970er-Jahre zunehmend »defensive Stabilisierungsstrategien«20 in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Über die Wirtschaft als ein Haupttätigkeitsfeld hinaus verbanden sich für die Staatssicherheit damit zahlreiche Herausforderungen in den Bereichen Politik und Gesellschaft. Zur Arbeit der Stasi-Offiziere im Kernkraftwerk gehörten 19  Vgl. Stude: Rheinsberg, S. 40–42 sowie Jörg Stoye: Operativgruppe Kernkraftwerk. Die Stasi und die Probleme beim Bau des KKW III Stendal. In: Horch und Guck (2012) 76, S. 10–14, hier 11. Dort sind die Ausführungen zu einem »Greifswalder KKW III« und auch einer »MfSOperativgruppe KKW III Greifswald« ungenau. Vorschlag zur Aufnahme in die Kaderreserve als Referatsleiter Genosse Leutnant Dreier, Claus v. 2.5.1985; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 2583, Bl. 97–100, hier 98. Müller: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 94; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 16; Konzeption zur Durchführung einer Arbeitsberatung über die politisch-operative Sicherung des beschleunigten Ausbaues und der Nutzung der kernenergetischen Basis in der DDR v. 11.2.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19692, Bl. 18–27, bes. 24 f.; Konzeption zur politisch-operativen Sicherung des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 15.5.1981; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 203, Bd. 2, Bl. 218–235, hier 231. 20  So charakterisiert Roger Engelmann den Funktionswandel der Staatssicherheit. Zit. nach: Jens Gieseke: Staatssicherheit und Gesellschaft. Plädoyer für einen Brückenschlag. In: ders. (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 7–20, hier 9.

Tätigkeitsfelder der Dienststelle

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dementsprechend die Überwachung und Kontrolle des Personals, die allgemeine Anlagensicherheit und die nukleare Sicherheit, das Untersuchen von Betriebsunfällen, die wirtschaftliche und politische Sicherung der Großbaustelle und des Kraftwerksbetriebes, die Abwehr bzw. die Organisation und Durchführung von Spionage sowie die Bearbeitung normaler Kriminaldelikte. Mit diesem großen Tätigkeitsfeld einher ging im Kleinen, was im Großen ohnehin typisch war: das strukturelle Wachstum der Staatssicherheit zu einer Großbürokratie. Die Bildung der Objektdienststelle im Kernkraftwerkskombinat stand beispielhaft für diese Entwicklung. Während die Geheimpolizei den von ihr gepflegten Macht-Nimbus damit nach außen unterstrich, schlugen die Stasi-Offiziere intern – zumindest Anfang der 1970er-Jahre – andere Töne an. Der Leiter der Operativgruppe »KKW Nord« Werner Müller betonte seinerzeit die Grenzen der Stasi: Es ist jedes Wunschdenken in der operativen Arbeit zu vermeiden und von den realen Möglichkeiten und zur Verfügung stehenden Kräften auszugehen […] Es ist nicht möglich, dass das MfS alle Einfluss- und Störmöglichkeiten beim Bau eines derartig komplizierten Investitionsvorhabens mit unseren zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden absichert.21

Gleichwohl betrieb die Geheimpolizei in der Folge die von der SED-Führung ausgegebene grundsätzliche Zielvorgabe, eine politisch und wirtschaftlich »vorbeugende schadensabwendende Arbeit« leisten zu wollen.22 Anfang der 1970er-Jahre standen die Errichtung und Inbetriebnahme der KKW-Ausbaustufe Nord I mit den Reaktoren 1 und 2 im Mittelpunkt der Geheimpolizeiarbeit. Die Tätigkeit der Operativgruppe »KKW Nord« orientierte sich damals an mehreren Schwerpunkten. Diese umfassten das Aufspüren vermeintlicher Feinde, das Verhindern solcher Rechtsverletzungen wie Grenzübertritte, staatsfeindliche Hetze, Spionage und Geheimnisverrat sowie Terror und Sabotage, das Überwachen der laufenden Errichtungs- und Inbetriebnahme­ arbeiten aber auch von Verstößen gegen sozialistische Moralvorstellungen sowie die Politik von Partei und Staat. Das waren ganz typische Tätigkeitsfelder der Stasi, denen sich die Geheimpolizei im Kernkraftwerk und auf der angrenzenden Großbaustelle widmete. Die Stasi war zudem bemüht, das Auftreten einzelner oder gar die Gruppenbildung unliebsamer Personen insbesondere in wichtigeren Bau-, Montage- sowie Betriebsbereichen zu verhindern. Die Geheimpolizei bezog dafür über den eigentlichen Arbeitsplatz hinausgehend die Wohnlager auf der Großbaustelle, die Wohngebiete in Greifswald sowie die örtlichen Kultur- und Freizeiteinrichtungen in ihre Arbeit ein. Besonderes Augenmerk legte sie auf die 21  Müller: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 48. 22  Vgl. Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 435–447, hier 435.

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Zusammenstellung des Leitpersonals, der Geheimnisträger und der Reisekader. Hinzu kam die Vorgabe, Schadensfälle wie Brände und Havarien gar nicht erst entstehen zu lassen. Dafür sollte ein Informations- und Berichtswesen über Mängel und Missstände an die SED-Führung und die staatliche Leitung dienen.23 In den 1980er-Jahren formulierte der Leiter der Stasi-Objektdienststelle Hanke drei hauptsächliche Arbeitsziele: die Sicherung der Stromproduktion, die Überwachung der Inbetriebnahme weiterer Reaktoren und die vorbeugende, also schadensverhütende Tätigkeit. Um in ihrem Sinne erfolgreich zu sein, ging die Stasi im Kernkraftwerkskombinat ihren in der ostdeutschen Wirtschaft typischen Aufgaben nach. Dazu gehörten das Aufdecken vermeintlicher Pläne und Aktivitäten feindlicher Geheimdienste, das Überwachen des Betriebes mit seinen Arbeitern und Angestellten, das Betreiben von Geheimnisschutz und Spionageabwehr in der Produktion und im Forschungsbereich, die Überprüfung von Geheimnisträgern und Reisekadern, das Verhindern einer politischen Opposition sowie Ordnung und Unfallschutz im Betrieb zu erhöhen. Zu diesem ohnehin breit angelegten Aufgabenfeld hinzu kam die Gewährleistung der nuklearen Sicherheit, was der Stasi-Tätigkeit im Kernkraftwerkskombinat eine besondere Brisanz verlieh.24 Anfang der 1980er-Jahre rückte die nukleare Sicherheit deutlich mehr in den Arbeitsmittelpunkt der Stasi. Zu einem neuen Arbeitsschwerpunkt der Geheimpolizei entwickelte sich bis Ende der 1980er-Jahre die Überwachung der zunehmenden West-Kontakte sowie die Absicherung von West-Importen.25

23  Vgl. Arbeitsplan der Kreisdienststelle Greifswald für das Jahr 1970 v. 10.1.1970; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 79, T. II, Bl. 244–287, hier 245. 24  Vgl. Konzeption zur politisch-operativen Sicherung des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 15.5.1981; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 203, Bd. 2, Bl. 218–235, hier 222 sowie Konzeption zur politisch-operativen Sicherung des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin bis zur Inbetriebnahme des KKW-Blockes 8 im Jahre 1992 v. 12.10.1988; ebenda, Bl. 20–36, hier 24 f. 25  Müller: Einsatz aller Kräfte und Mittel, S. 3–7; ders.: Organisierung der politischoperativen Arbeit, S. 10–13, 26–28, 40–42, 83–87; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 7–16; Nobert Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren für die Erarbeitung langfristiger Führungs- und Entwicklungskonzeptionen und sich daraus ergebende Schlussfolgerungen für den zielgerichteten Einsatz der IM/GMS zur Aufdeckung feindlicher Aktivitäten und anderer politisch-operativ bedeutsamer Handlungen. Untersucht im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald (Diplomarbeit an der Juristischen Hochschule des MfS Potsdam) v. 15.1.1983; BStU, MfS, JHS, MF, VVS 292/83, S. 28–31. Arbeitsplan der Kreisdienststelle Greifswald für das Jahr 1969 v. 20.1.1969; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 80, T. I, Bl. 199–238, hier 201 f.; Jahresplan der Kreisdienststelle Greifswald für das Jahr 1972 v. 28.1.1972; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 76, T. III, Bl. 600–690, hier 613 u. 619. Jahresarbeitsplan 1989 des Leiters der Bezirksverwaltung Rostock v. 22.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 6, Bl. 35–102, hier 48. Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 435–447, hier 435 u. 439.

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3.3 Zuordnung, Struktur und Ausstattung Mit Bildung der Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerkskombinat fiel diese im Frühjahr 1981 aus dem Zuständigkeitsbereich der Stasi-Kreisdienststelle Greifswald heraus. Die Objektdienststelle war – wie die übrigen Diensteinheiten dieser Art auch – unmittelbar der örtlichen Stasi-Bezirksverwaltung unterstellt. In diesem Fall war das die Stasi-Bezirksverwaltung Rostock. Zuständig für die Planung und Koordinierung der geheimpolizeilichen Arbeit war der Stellvertreter Operativ der Stasi-Bezirksverwaltung. Die fachliche Anleitung behielt die OstBerliner Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft). In diesem strukturellen Feld aus Ost-Berliner Zentrale – Bezirksverwaltung Rostock – Objektdienststelle Kernkraftwerkskombinat bewegte sich die Überwachung und Kontrolle des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« bis Ende 1989. Hinzu kam eine punktuelle Zusammenarbeit der Objektdienststelle mit anderen Stasi-Dienst­ einheiten zu besonderen Ereignissen oder Anlässen. Dazu gehörten allen voran die Kreisdienststellen Greifswald und Neuruppin im Bezirk Potsdam, später die Operativgruppe Kernkraftwerk Stendal im Bezirk Magdeburg sowie der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) des Auslandsgeheimdienstes HV A.26 Die Objektdienststelle KKW war anfangs in verschiedene Arbeitsgruppen gegliedert. Nach einer Umstrukturierung im August 1984 bestand sie bis zuletzt aus den drei Referaten Auswertung/Information (Referat A/I), Kernkraftwerk (Referat 1) und Großbaustelle (Referat 2). Unterhalb der Referatsebene bestanden Sachgebiete, denen konkrete Einsatzbereiche wie Brände und Störungen, Sicherheitsüber­ prüfungen und Ermittlungen oder die Gemeinde Lubmin und die Ostseegrenze zugeordnet waren. Darüber hinaus galten die Überwachung und Kontrolle der verschiedenen Arbeitsbereiche im Kernkraftwerk und der angrenzenden Großbaustelle samt der Betriebsberufsschule, der Betriebssportgemeinschaft sowie des Betriebsgesundheitswesens als generelle Aufgabe der Stasi-Offiziere. Ähnlich wie alle Stasi-Objektdienststellen verfügte die Geheimpolizei im Kernkraftwerkskombinat über eine entwickelte Infrastruktur samt Sekretariat, Kraftfahrer, Funker, 26  Vgl. Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 33; Hess: Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 48, o. Tit., 3.9.1971; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 28703, Bl. 6–10, hier 6. Erkenntnisse aus dem Erfahrungsaustausch mit dem KD-Leiter Greifswald, Gen. Major Thiele und dem Operativgruppenleiter KKW Nord, Gen. Hptm. Müller am 10. November 1973 v. 27.12.1973; BStU, MfS, BV Magdeburg, Stellv. Operativ, Nr. 2, Bl. 160–163, hier 160. Konzeption zur Durchführung einer Arbeitsberatung über die politisch-operative Sicherung des beschleunigten Ausbaues und der Nutzung der kernenergetischen Basis in der DDR v. 11.2.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19692, Bl. 18–27, bes. 24 f.; Konzeption zur politisch-operativen Sicherung des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 15.5.1981; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 203, Bd. 2, Bl. 218–235, hier 229–231. Zur analogen Einbindung der OD Carl Zeiss Jena und der Objektdienststellen generell in die strukturelle Organisation der Staatssicherheit vgl. Buthmann: Kadersicherung, S. 33; ders.: Objektdienststellen, S. 11.

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Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

Waffenkammer und Wache. Die Stasi im Kernkraftwerk wartete darüber hinaus mit dem Komfort einer Sauna, einem Verwahrraum für bis zu vier Personen und einem Kellerschutzbau samt Leitstand für einen nuklearen Störfall auf. Jeder der Stasi-Offiziere verfügte über eine Makarow-Pistole und ein KalaschnikowMaschinengewehr. Zur Ausrüstung der Objektdienststelle gehörten darüber hinaus Schlagstöcke, Reizgas und Rauchgranaten.27

3.4 Die Stasi-Offiziere Von 14 Stasi-Offizieren im Frühjahr 1981 wuchs der hauptamtliche Personalbestand der Objektdienststelle KKW bis Mitte der 1980er-Jahre auf 24 Stasi-Offiziere an. Die Objektdienststelle hielt diesen Stand mit leichter Personalfluktuation bis 1989 bei. Das Referat Auswertung und Information war mit zwei, später drei Stasi-Offizieren das kleinste. Im Referat 1 (Kernkraftwerk) arbeiteten sechs hauptamtliche Mitarbeiter, im Referat 2 (Großbaustelle) vier Stasi-Offiziere. Damit war die Stasi-Objektdienststelle des Kernkraftwerkskombinates die kleinste. Die übrigen Objektdienststellen erreichten mit 30 bis 40 Hauptamtlichen sonst wenigstens die Mitarbeiterstärke einer mittelgroßen Kreisdienststelle.28 27  Vgl. Telefonverzeichnis Objektdienststelle, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 93, Bl. 65 f., o. Tit., o. D.; ebenda, Bl. 3; Telefonverzeichnis Objektdienststelle, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 58, Bl. 9 f.; Telefonverzeichnis Objektdienststelle, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 50, Bd. 2, Bl. 130 f. sowie Vorschlag zur Beförderung zum Hauptmann des Oberleutnants Meinke, Karl-Heinz; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 291, Bl. 61 f.; Auskunftsbericht über den Stand der Vorbereitung BV, KD/OD auf Abwehr von Demonstrativhandlungen und Provokationen v. 2.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 1107, Bl. 2–9; Beurteilung des Genossen Oberleutnant Büchel, Claus v. 25.2.1985; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 1153, Bl. 70–73, hier 70 sowie Vorschlag zur Beförderung zum Leutnant des Unterleutnants Roll, Gerd-Rüdiger v. 15.5.1986; BStU, MfS, KS 22662/90, Bl. 356 f., hier 356. Zur Struktur vgl. Bericht der Arbeitsgruppe KKW des Untersuchungsausschusses über die Untersuchungen der Dokumente der Objektdienststelle des MfS im KKW. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 164–166, hier 164 f. 28  Telefonverzeichnisse Objektdienststelle, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 93, Bl. 65–67; Telefonverzeichnis Objektdienststelle, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 50, Bd. 2, Bl. 130 f. sowie Vorschlag zum Einsatz eines operativen Mitarbeiters als Auswerter/Analytiker im Referat Auswertung/Information in der OD KKW v. 15.8.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 2593, Bl. 91 f.; Beurteilung des Genossen Oberleutnant Büchel, Claus v. 25.2.1985; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 1153, Bl. 70–73, hier 70; Beurteilung über den Genossen Hauptmann Hess, Norbert v. 16.8.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 1030, Bl. 133–135. Dazu und zum Überlieferungsbestand der OD KKW beim BStU vgl. Katharina Knebel (Bearb.): Aktenverzeichnis zur Objektdienststelle Kernkraftwerk Greifswald in der Bezirksverwaltung Rostock des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Rostock 2010, hier bes. Vorbemerkung, S. III. Vgl. Buthmann: Objektdienststellen, S. 7 f.; Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 11. Vgl. auch Bericht der Arbeitsgruppe KKW des Untersuchungsausschusses über die Untersuchungen der Dokumente der Objektdienststelle

Die Stasi-Offiziere

OD

KKW

Buna

Leuna

Planstellen Ist

26

42

24

39

43

44

Bitter­ feld 36

Schwarze Pumpe 31

Zeiss Jena 53

TU Dresden 30

41

33

31

56

27

Tab. 3: Hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi-Objektdienststellen, September 198929

Das hauptamtliche Personal der Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerkskombinat ging dabei nicht in Gänze einer geheimpolizeilichen Arbeit im engeren Sinne nach. Von den 24 Stasi-Offizieren im Jahr 1989 arbeiteten lediglich 13 als operative Mitarbeiter, die bis zu 30 und mehr Informanten – im Extremfall laut Aktenlage bis zu 44 inoffizielle Mitarbeiter (IM) – führten und operative Vorgänge (OV) bearbeiteten. Zur Objektdienststelle des Kernkraftwerkes gehörten darüber hinaus bis zu drei Schreibkräfte, mehrere Kraftfahrer und eine drei- bis sechsköpfige Wachmannschaft. Wobei eine Tätigkeit bei der Wache als pflichtgemäßer Armeedienst nicht selten den Einstieg in die hauptamtliche Tätigkeit als Stasi-Offizier bedeutete und das Wachpersonal von vornherein unter diesem Gesichtspunkt rekrutiert wurde. Ebenfalls kam es vor, dass inoffizielle Mitarbeiter – zuvor beispielsweise im Kernkraftwerk platziert – in den hauptamtlichen Dienst übernommen wurden. Gerne griff die Stasi für ihre Personalgewinnung auf Fachleute aus dem Kernkraftwerk oder von der Großbaustelle zurück. Unter den 13 hauptamtlichen Mitarbeitern, die im Jahr 1989 mit operativer Arbeit betraut waren, befanden sich sieben ehemalige Angehörige des Kernkraftwerkes bzw. der Großbaustelle. Darunter waren ein ehemaliger Strahlenschutzbeauftragter, ein BMSR-Schichtleiter, zwei Maschinisten für Kernenergieanlagen und ein Instandhaltungsmeister. Sie brachten kraftwerksspezifisches Fachwissen sowie örtliche, strukturelle und personelle Kenntnisse aus den Betrieben mit. Die Kehrseite dieser Vorgehensweise für die Geheimpolizei war, dass zumindest ehemalige Kollegen wussten, dass die nunmehrigen Stasi-Offiziere ihren Arbeitgeber gewechselt hatten. Damit war die Staatssicherheit im Kernkraftwerk und auf der Großbaustelle nicht nur nebulös präsent, die Geheimpolizei hatte hier ein konkretes, wiederzuerkennendes Gesicht. Dass die Stasi im Kernkraftwerkskombinat angesichts des speziellen Arbeitsgegenstandes auf technische Kenntnisse setzte, zeigte auch der Ausbildungshintergrund ihrer hauptamtlichen Mitarbeiter. Zu den 13 operativen Mitarbeitern im Jahr 1989 gehörten sieben Ingenieure und sechs Installateure, Maschinisten, Baufachardes MfS im KKW. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 164–166. Hier ist von 25 Planstellen und 23 besetzten Stellen die Rede. 29  Vgl. Buthmann: Kadersicherung, S. 39; ders.: Objektdienststellen, S. 7 f. u. 19; FranzOtto Gilles und Hans-Hermann Hertle nennen leicht abweichende Zahlen, für die OD Buna 40, Leuna 43 und Bitterfeld 33. Vgl. dies.: Überwiegend negativ, S. 11 sowie dies.: Stasi in der Produktion, S. 122.

44

Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

beiter bzw. Geologiefacharbeiter. Gegebenenfalls nutzte die Geheimpolizei auch die Aus- und Weiterbildungsangebote des Kernkraftwerkskombinates, um die eigenen Offiziere mit entsprechendem Fachwissen auszustatten.30 Auffällig ist der geringe Anteil von drei Frauen unter den Stasi-Offizieren. Für die Personalzusammensetzung auch in den anderen Objektdienststellen und der Staatssicherheit insgesamt war ein solcher »Männerverein« typisch. Auch dass die drei weiblichen Stasi-Offiziere als Schreibkräfte bzw. im Referat Auswertung/Information arbeiteten und keiner operativen Arbeit mit Informanten nachgingen, passte sich in das generelle Personaltableau der Geheimpolizei ein. Allen hauptamtlichen Mitarbeitern der Objektdienststelle gemein war ihre SEDMitgliedschaft. Das Durchschnittsalter war mit knapp 34 Jahren relativ niedrig, obwohl die Chefebene aus Leiter (48 Jahre) und dessen Stellvertreter (50 Jahre) dieses deutlich nach oben anhob.31 Der Leiter Hans-Heinrich Hanke war bei der Bildung der Stasi-Objektdienststelle im Mai 1981 als erster Leiter im militärischen Rang eines Hauptmanns 39 Jahre alt. Als 19-Jähriger war er der SED beigetreten. Nach einem Achte-Klasse-Abschluss erlernte er in Greifswald zunächst den Beruf eines Gas- und Wasserinstallateurs, 30  Vgl. Vorschlag zur Aufnahme in die Kaderreserve des Genossen Oberleutnant Pohlers, Gerhard v. 18.7.1979; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 2088, Bl. 80–82; Vorschlag zur Ernennung zum Unterleutnant des Ofw Dreier, Claus v. 28.4.1982; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 2583, Bl. 83 f.; Beurteilung Gen. Oberleutnant Baenz, Dieter v. 30.3.1984; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 1806, Bl. 68–71, hier 68. Vgl. Information zur Bearbeitung eines Kadervorganges der OD KKW v. 17.10.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 1120, Bl. 293–295. Ein Beispiel für eine Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter – nicht im KKW – vor der hauptamtlichen Übernahme durch die Staatssicherheit war Klaus Rediek, 1989 zuletzt Major und stellvertretender Leiter der OD KKW. Vgl. Auskunft, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 1120, Bl. 7–15 sowie Einstellungsvorschlag v. 14.8.1968; ebenda, Bl. 29–39. Ein Beispiel für eine Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter – im KKW – vor der hauptamtlichen Übernahme durch die Staatssicherheit war Heinz Domaschke, 1989 zuletzt Hauptmann und Referatsleiter A/I der OD KKW. Vgl. Einstellungsvorschlag Domaschke, Heinz v. 4.2.1981; BStU, MfS, BV Rostock, KS II 149/90, Bl. 12–21. Vgl. Einstellungsvorschlag Buck, Helmut v. 23.5.1981; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 2593, Bl. 18–29, hier 28. Vorschlag zur Aufnahme der Bearbeitung als Kader Kortmeyer, Jens v. 1.3.1978; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 776, Bl. 40–43, hier 40; Beurteilung Genosse Hauptmann Beckmann, Dieter v. 25.6.1985; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 823, Bl. 108–111. Teilnahmebescheinigung v. 25.9.1987; ebenda, Bl. 113. Zit. in: Beurteilung über den Genossen Hauptmann Beckmann, Dieter v. 4.5.1988; ebenda, Bl. 114–116, hier 115. 31  Buthmann: Objektdienststellen, S. 7 f. Zu den hauptamtlichen Mitarbeitern der Objektdienststelle KKW vgl. Telefonverzeichnis Objektdienststelle, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 93, Bl. 67 sowie die Kaderunterlagen der hier vermerkten 24 Stasi-Offiziere im Zentralarchiv und im Archiv der Außenstelle Rostock des BStU.

Die Stasi-Offiziere

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bevor er 1966 in den Dienst der Stasi eintrat. Hier arbeitete er sich an der Kreisdienststelle Greifswald vom Hilfssachbearbeiter bis zum Operativgruppenleiter »KKW Nord« hoch. Seit 1970 war sein Arbeitsschwerpunkt das Kernkraftwerk. In einem Arbeitszeugnis hieß es: Genosse Leutnant Hanke besitzt keine besondere fachliche Qualifikation. Er verfügt aufgrund seiner Zielstrebigkeit, seines guten Allgemeinwissens und seines guten politischen Bildungsstandes über alle Voraussetzungen einer weiteren Qualifikation. Aufgrund seiner guten tschekistischen Fähigkeiten wurde der Genosse Leutnant Hanke als stellv. Operativgruppenleiter Kernkraftwerk Nord eingesetzt. Diese Aufgaben erfüllt er zur Zufriedenheit.32

Danach musste man in dem jungen Stasi-Offizier wohl eher ein mögliches Talent als einen gestandenen Geheimpolizisten sehen. Aber offensichtlich erfüllte Hanke die von der Stasi in ihn gesetzten Erwartungen. Teilweise führte er mehr als 30 Informanten, baute verschiedene IM-Netze auf, bearbeitete operative Vorgänge, aus denen in den 1970er-Jahren mehrere Ermittlungsverfahren mit Haftstrafen hervorgingen, pflegte Kontakte zu örtlichen SED-Funktionären, staatlichen Leitern sowie sowjetischen Fachleuten im Kernkraftwerk und blieb – im Sinne der Stasi – politisch zuverlässig. An der Juristischen Hochschule der Staats­ sicherheit bei Potsdam erreichte Hanke im Fernstudium 1983 einen Abschluss als Diplomjurist. Und bis zur Auflösung im Dezember 1989 blieb er der Leiter der Objektdienststelle, dann im Rang eines Oberstleutnants. Nach beinahe einem Vierteljahrhundert blickte Hanke bei seiner Entlassung Ende Januar 1990 auf eine beachtliche Stasi-Karriere zurück. Sein beruflicher Erfolg war eng verbunden mit der SED-Diktatur und brachte ihm zuletzt ein monatliches Einkommen von 1 600 Mark. Im Vergleich dazu verdienten im Kombinat Kernkraftwerke Anfang der 1980er-Jahre ein Meister für Instandhaltung knapp 1 000 Mark und ein Oberschichtleiter in der Zwölf-Stunden-Schicht mit Verantwortung für mehr als 150 Arbeiter 1 400 Mark.33

32  Beurteilung Hanke, Hans-Heinrich v. 11.5.1971; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 132, Bl. 79–81, hier 81. 33  Kartei Hans-Heinrich Hanke; BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM. Vgl. Vorschlag zur Beförderung v. 4.3.1973; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 132, Bl. 84 f.; Beurteilung des Genossen Oberleutnant Hanke, Hans-Heinrich v. 14.3.1974; ebenda, Bl. 86 f.; Vorschlag zur Aufnahme in die Kaderreserve des Genossen Oberleutnant Hanke, Hans-Heinrich v. 24.11.1975; ebenda, Bl. 92–94; Beurteilung Major Hanke, Hans-Heinrich v. 28.12.1984; ebenda, Bl. 121–125. Auch Auskunft, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, Dos Nr. 7615/92, Bl. 3–12; Vorschlag zum Einsatz des Genossen Hanke, Hans-Heinrich v. 4.5.1981; ebenda, Bl. 13–15. Vgl. Einstellungsvorschlag Buck, Helmut v. 23.5.1981; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 2593, Bl. 18–29, hier 18 sowie Einstellungsvorschlag Lückert, Klaus-Peter v. 30.9.1976; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 2027, Bl. 16–23, hier 16 und Einstellungsvorschlag Kortmeyer, Jens v. 15.10.1979; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 776, Bl. 19–29, hier 19; Haferburg: Wohn-Haft, S. 147.

46

Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

Der Einsatz von Hans-Heinrich Hanke als Leiter der Objektdienststelle war dabei anfangs keinesfalls geplant. Zunächst zielten die Personalplanungen der Stasi auf Hankes früheren Vorgesetzten ab, auf den bereits erwähnten Werner Müller. Müller war vor Hanke Leiter der Operativgruppe »KKW Nord«, bevor er Mitte der 1970er-Jahre zum stellvertretenden Kreisdienststellenleiter avancierte. Er war nur fünf Jahre älter als Hanke und hatte 1959 mit gerade 23 Jahren seinen Dienst bei der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock angetreten. Vom Hilfssachbearbeiter war er bis Mitte der 1960er-Jahre zum Referatsleiter der Abteilung XVIII (Volkswirtschaft) aufgestiegen. Als Leiter der Operativgruppe »KKW Nord« kam Müller im Frühjahr 1969 von Rostock nach Greifswald. Mit seiner Ausbildung zum Werkzeugmacher und Maschinenbauingenieur sowie einer zusätzlichen Ausbildung in den Fächern Mathematik, Chemie und Physik brachte er grundlegenden Fachverstand zu einem Kraftwerk mit. Zum Stolperstein für seine weitere Karriere wurde jedoch eine strafrechtliche Verurteilung in seinem familiären Umfeld wegen Diebstahls unmittelbar vor der Bildung der Objektdienststelle. Deshalb und wegen der befürchteten öffentlichen Reaktionen darauf betrachtete die Stasi den Einsatz von Müller im Kernkraftwerk als unmöglich. Auch seine zahlreichen Auszeichnungen – zuletzt 1980 mit dem Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland in Bronze – waren nun Makulatur.34

3.5 Die Informanten Die inoffiziellen Mitarbeiter Ihre inoffiziellen Mitarbeiter betrachtete die Stasi als »Hauptmethode« für die Informationsbeschaffung sowie die Überwachung und Kontrolle. Das galt für die Geheimpolizei insgesamt ebenso wie für deren Tätigkeit im Kernkraftwerk bei Greifswald. Der frühere Stellvertreter Operativ der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock vermerkte dazu: »Die inoffiziellen Mitarbeiter sind Auge, Ohr und verlängerter Arm der Geheimdienste.«35 Ebenso wie die SED-Führung vorgab: »Wo ein Genosse ist, da ist die Partei«, galt für die Geheimpolizei: Wo ein IM ist, da ist die Stasi. Im Umkehrschluss bedeutete das: Ohne ihre Informanten ging für die Stasi nichts. Entsprechend galt die Vorgabe des Leiters der Operativgruppe »KKW Nord«: »Die vorhandenen IM/GMS [Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit] sind zielstrebig unter Beachtung ihrer Möglichkeiten im Objekt, 34  Kartei Werner Müller; BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM. Vgl. auch Kartei HansHeinrich Hanke; BStU, BV Rostock, Schreiben der MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Abt. Kader und Schulung v. 6.5.1981; BStU, MfS, Diszi 1098/92, Bl. 54 f.; Beurteilung Müller, Werner v. 5.5.1975; BStU, MfS, HA KuSch, KS 24996/90, Bl. 82–84; Vorschlag zur Auszeichnung mit dem Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland in Bronze v. 24.9.1979; ebenda, Bl. 95 f. 35  Amthor: Ruhe in Rostock?, S. 105.

Die Informanten

47

Wohn-, Freizeit- und Interessenbereich zur Gewinnung von Informationen […] einzusetzen.«36 Genauso wenig wie sich der Einsatz der Informanten auf den Betriebsbereich beschränkte, berichteten die Informanten der Stasi ausschließlich über fachliche Dinge. Oftmals gaben sie private, teilweise intime Details weiter. Zur Anzahl der inoffiziellen Mitarbeiter im Kombinat Kernkraftwerke existieren zuverlässige Angaben. Mitte der 1970er-Jahre führte die Stasi-Operativgruppe »KKW Nord« bereits mehr als 200 Informanten in den verschiedenen Kategorien. Bis Ende der 1980er-Jahre stieg diese Zahl bei einer gewissen Fluktuation noch einmal leicht. Wie für die Stasi insgesamt, gilt jedoch auch hier, dass die reine Anzahl dieser Informanten keinen Rückschluss auf deren tatsächlichen Nutzen für die Geheimpolizei erlaubt. Auch im Kernkraftwerkskombinat beurteilte die Geheimpolizei ihre Informanten bisweilen kritisch. Anfang der 1970er-Jahre hieß es, die IM lieferten viel Allgemeines aber wenig Konkretes. Dabei waren die Stasi-Offiziere seinerzeit besonders auf das wirtschaftliche und technische Expertenwissen mancher ihrer Informanten angewiesen, um das nukleare Pioniervorhaben am Greifswalder Bodden fachlich durchdringen zu können.37 Mitte der 1980er-Jahre beklagte die Stasi-Bezirksverwaltung Rostock dann, dass die Auswertung der Informanten-Berichte in der Objektdienststelle nicht vorschriftsmäßig innerhalb von 24 Stunden vorgenommen werde, sondern im Schnitt zehn Tage dauere. Damit waren die Berichte nicht immer aktuell und für die bezirksweite Auswertung weitgehend wertlos. Die Rostocker Stasi-Bezirksverwaltung bemängelte damals zugleich die ungenügende Auftragserteilung und Abschöpfung der Informanten durch die Stasi-Offiziere, andererseits fielen vorhandene Informationen unbeachtet unter den Tisch.38

Jahr September 1974

Gesamt

IMS

213

108

IMV (seit 1979 IMB) 25

IME

FIM

IMK

GMS

3

5

20

52

Tab. 4: Inoffizielle Mitarbeiter der Operativgruppe »KKW Nord«, 197439

36  Zitat: Müller: Einsatz aller Kräfte und Mittel, S. 9; vgl. auch ders.: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 30. 37  Müller: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 59 f. 38  Bericht über die erfolgte Anleitung und Kontrolle der Arbeitsgruppe Auswertung/Information der OD KKW in der Zeit vom 23. bis 24. Mai 1984 v. 29.5.1984; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 19852, Bl. 5–15, hier 6 f., 9 f. u. 17; Buthmann: Objektdienststellen, S. 12. 39  Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 22.

Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

48

Jahr

Gesamt

IMS

IMB

IME

FIM

IMK

GMS

31.12.1984

218

129

0

6

11

13

59

31.12.1985

230

141

0

8

10

15

56

31.12.1986

238

142

0

9

12

16

59

31.12.1987

224

136

0

9

13

17

49

31.12.1988

230

141

1

15

11

14

48

01.12.1989

234

146

1

15

10

14

48

Tab. 5: Inoffizielle Mitarbeiter der Objektdienststelle KKW, 1984–198940

Hinsichtlich ihrer Informanten-Arbeit forderte die Staatssicherheit der Umstand besonders heraus, dass sie auf der Großbaustelle und im Kernkraftwerk praktisch bei Null anfing. Hinzu kam der geheimpolizeilich schwierige Arbeitsgegenstand einer sich über mehr als 20 Jahre entwickelnden Großbaustelle mit wandelnden Schwerpunkten und Personal aus teilweise mehr als 100 DDR-Betrieben. Die Fluktuation unter den bis zu 12 000 Bau- und Montagearbeitern war hoch, oft kamen sie von außerhalb. Besonderes Interesse zeigte die Stasi an Informanten in der mittleren Leitungsebene. Bei Bauleitern, Meistern, Brigadieren, Inspektoren oder Werkstattleitern nahm sie eine weniger hohe Fluktuation sowie überdurchschnittliche Einblicke und Möglichkeiten der Einflussnahme an. In einzelnen Baustellenbereichen verfügte die Staatssicherheit nur über wenige und manchmal über keinen einzigen IM unter der Arbeiterschaft. Auch aus den Kraftwerks­ bereichen Elektro- und BMSR-Technik sowie der Forschung und Entwicklung klagte die Geheimpolizei Mitte der 1970er-Jahre über zu wenige Informanten. Auch Anfang der 1980er-Jahre hieß es von den Stasi-Offizieren vor Ort, »dass in stärkerem Maße […] IM in Schlüsselpositionen und Experten-IM zu schaffen

40  Zahlen in Helmut Müller-Enbergs (unter Mitarb. v. Susanne Muhle): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 3: Statistiken. Berlin 2008, S. 834. Ein Ablieferungsverzeichnis für die Diensteinheiten der MfS-Bezirksverwaltung Rostock, nachdem 1991 die Ende 1989 noch offenen Informanten-Vorgänge verzeichnet wurden, liefert für die Stasi-Objektdienststelle Kombinat Kernkraftwerke ähnliche Zahlenangaben: IMS 150, IMB 1, IME 14, FIM 8, IMK 37, GMS 45. Vgl. Ablieferungsverzeichnis; BStU, MfS, BV Rostock, o. Sig., Bl. 54–71. Ein Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald ging im Frühjahr 1990 bereits von 150 inoffiziellen Mitarbeitern und knapp 50 gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit aus. Vgl. Bericht der Arbeitsgruppe KKW des Untersuchungsausschusses über die Untersuchungen der Dokumente der Objektdienststelle des MfS im KKW. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 164–166, hier 164. Vgl. auch IM-Erfassungslisten der IMführenden Mitarbeiter der Dienststelle; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 305, Bl. 1–17.

Die Informanten

49

sind«.41 Das mögen zum Teil typische Bestrebungen des Stasi-Apparates nach stärkerem eigenem Wachstum gewesen sein, aber durchaus auch ernstzunehmende Hinweise auf eine tatsächlich ungenügende Situation bezüglich ihrer Informanten. Das Leitungspersonal als Informanten Um die Lücken innerhalb ihres IM-Netzes möglichst klein zu halten, griffen die Stasi-Offiziere auf weitere Informanten zurück. Dazu gehörten auch inoffizielle Mitarbeiter der Volkspolizei (VP) sowie Informanten, die nicht als IM geführt wurden: Angehörige des Betriebsschutzes, der Volkspolizei, der Feuerwehr, Mitglieder der SED-Betriebsparteileitung, der Leitungen von FDJ und FDGB sowie Mitarbeiter der staatlichen Verwaltung, Leitungspersonal im Kernkraftwerkskombinat und Betriebsschulleiter trugen der Stasi wie selbstverständlich Informationen zu und pflegten mit ihr einen regelmäßigen, teilweise täglichen Meinungsaustausch im Rahmen von »Gesprächen unter vier Augen«. All diese Informanten tauchen in keiner IM-Statistik auf, gleichwohl unterstützten sie die Arbeit der Geheimpolizei. Für diese Vervollständigung ihres Überwachungsund Kontrollsystems entwickelte die Staatssicherheit eigens das Konzept des sogenannten »politisch-operativen Zusammenwirkens« (POZW). Dieses gipfelte in persönlichen Gesprächen des Leiters der Stasi-Objektdienststelle mit dem Generaldirektor des Kombinates Kernkraftwerke.42

41  Müller: Einsatz aller Kräfte und Mittel, S. 9–11, 14 f.; ders.: Organisierung der politischoperativen Arbeit, S. 8–11, 45–47, 50–55, 70 f., 76; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 7, 11, 23; Hess: Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 33. 42  Beispielgebend: Diktat Leiter der MfS-Objektdienststelle (Arbeitsplan des Leiters der OD KKW November 1987) v. 4.11.1987; BStU, MfS, BV Rostock, Ka Nr. 170 sowie Amthor: Ruhe in Rostock?, S. 110; Hürtgen: »Stasi in die Produktion«, S. 295–317, hier 301–303; Müller: Einsatz aller Kräfte und Mittel, S. 9–11; ders.: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 45–47, 70 f., 76; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 7, 35 f.; Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 42. Vgl. Stichwort »Zusammenwirken, politisch-operatives (POZW)«. In: Das MfS-Lexikon, S. 393; Information über den Stand des Bau- und Montagegeschehens auf der Großbaustelle KKW Nord III v. 27.3.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 260, T. I, Bl. 104–109, hier 106. Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 435–447, hier 435. Vgl. Aktennotiz, Gespräch mit (…) am 26.7.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/1435/84, Bd. 1, Bl. 279 f.; Information v. 27.4.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/1463/89, Bd. 1, Bl. 42–45; Abschlussbericht zur OPK »Stratege« v. 31.7.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/2228/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie).

50

Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

Inoffizielle Mitarbeiter zum Führen von Informanten Zu ihrer Entlastung und zum Zwecke der Geheimhaltung der Zusammenarbeit mit ihren Informanten benutzten die Stasi-Offiziere auch inoffizielle Mitarbeiter, die selbst IM führten (FIM). Mit dem Aufbau ganzer FIM-Gruppen verband die Geheimpolizei die Hoffnung, einzelne Betriebsbereiche möglichst effizient und flächendeckend zu überwachen. Als besonders geeignet für Führungs-IM betrachtete die Stasi Personen, die sich vergleichsweise frei im Kernkraftwerk und auf der Großbaustelle bewegen konnten. Das versprach Flexibilität in der zeitlichen und örtlichen Treffgestaltung. Günstig erschienen der Geheimpolizei zudem Personen, die sowohl in ihrer Freizeit als auch während der Arbeitszeit der Geheimpolizeiarbeit nachgehen konnten. Neben Berichten zur betrieblichen Situation stand im Tätigkeitsmittelpunkt der FIM und ihrer Informanten die geheimpolizeiliche Personenaufklärung nach dem ebenso klassenkämpferischen wie tschekistischen Motto »Wer ist Wer?«. Angestrebt war dabei, dass ein Führungs-IM bis zu zehn weitere Informanten anleitete und steuerte. Unmittelbar nach der Inbetriebnahme der Ausbaustufe Nord I mit ihren Reaktoren 1 und 2 verfügte die Geheimpolizei Mitte der 1970er-Jahre über wenigstens vier FIM-Gruppen in den verschiedenen Bereichen des Kernkraftwerkes und der Großbaustelle. Zeit ihres Bestehens unterhielt die Stasi im Kernkraftwerkskombinat nicht weniger als 27 FIM-Gruppen unterschiedlicher Größe und Dauer. Deren konspirative Treffen fanden auch im Kernkraftwerk statt. Der FIM »Neumann« beispielsweise traf sich seit Ende der 1970er-Jahre mit sechs ihm zugeordneten Informanten in dem ungenutzten Büroraum eines Nebengebäudes auf dem Betriebsgelände. Abgesichert wurde der geheime Treffort mit dem sinnigen Decknamen »Isotop« über den betrieblichen Inspektionsleiter, der seinerseits als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) für die Stasi arbeitete.43

43  Buthmann: Objektdienststellen, S. 5–7; Müller: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 48 u. 60–63; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 24 u. 28 f. sowie Einschätzung der inoffiziell geleisteten Arbeit des FIM »Conrad Schubert« v. 29.11.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AIM »Conrad Schubert« I/9571/81, T. I, Bd. 1, Bl. 111 f.; Vorschlag zur Schaffung einer IMK(W) v. 25.2.1977; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/6405/88, T. I, Bd. 1, Bl. 7 f. sowie Aktenvermerk v. 14.4.1977; ebenda, Bl. 13.

Die Informanten

51

Abb. 2 u. 3: Lageskizzen zum geheimen Stasi-Treff »Isotop« in einem Nebengebäude auf dem Kraftwerksgelände zwischen Verwaltungsgebäude, Werkküche und Kraftwerksanlagen

52

Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

Deckname FIM

Einsatz­ bereich

Berufstätigkeit

»Fritz«

Großbaustelle Großbaustelle Ortschaft Lubmin Großbaustelle/ KKW

Sicherheitsinspektor

1:2

1968–1973

Bauleiter

1:2

1969–1973

ABV

1:2

1971–1974

MA Jugendpolitik/Kaderabt., Beauftr. für ÖA, Büroleiter, GD KKWKomb., Vors. BGL Hauptdispatcher

1:10

1971–1989

1:10

1971–1989

AL Instandhaltung Abteilung Berufsverkehr

1:5 1:8

1972–1979 1972–1989

MA Direktorat Sicherheit, Beauftr. ZV Obermeister Elektrotechnik MA Dir. für Kader und Sicherheit, Beauftr. d. Baustellendirektors für ZV Schichtleiter BMSR-Technik Instandhaltung MA für Geheimnisschutz, MA physischer Schutz Betriebsschutzkommando (Leiter) Diensthabender Ing. Leiter Vormontage

1:4

1974–1989

1:2

1975–1978

1:10

1975–1981

1:4

1976–1984

1:4 1:7

1976–1986 1976–1989

1:4

1977–1988

1:3 1:4

1978–1979 1978–1984

1:3

1978–1985

1:4 1:5

1979–1989 1980–1985

1:5

1981–1982

»Brigitte Seiler« »Max« »Klaus Meier« (später »Franz Müller«)

»Bauer«

»Schweizer«

Großbaustelle KKW Großbaustelle KKW

»Blatt«

KKW

»Conrad Schubert«

Großbaustelle

»Angler«

KKW

»Bernhard« »Neumann«

KKW KKW

»Pentona«

KKW

»Richard« »Christoph Schach«

KKW Großbaustelle KKW

»Falke« »Förster«

»Gustav Schur«

»Günter« »Peter Schmidt« »Atzler«

KKW Großbaustelle KKW

Bereich Betriebssicherheit, MA für Geheimnisschutz BMSR-Obermeister AL Objektsicherheit, Beauftr. ZV Oberschichtleiter/Diensthabender Ing., stellv. SED-Parteisekretär GO KKW-Komb. (1982)

Stärke Zeitraum (max.)

Die Informanten

Deckname FIM

Einsatz­ bereich

Berufstätigkeit

»Gustav Meier« (als HFIM geführt)

Großbaustelle

»Horst Brauer« »Fredy Witt« »Dieter Rose« »Pilot«

KKW KKW KKW Großbaustelle Großbaustelle KKW

Inspektion, Inspektionsbeauftr., Leiter FDJ-Lager »F. E. Dzierzynski« (Stasi-Legende) Dreher Kaderinstrukteur Meister Instandhaltung MA HA Betriebssicherheit, Sicherheitsinspektor Inbetriebnahme

»Otto Blume« »Kurt«

Fernmeldewesen

53 Stärke Zeitraum (max.) 1:29 1981–1989

1:10 1:6 1:4 1:5

1984–1989 1985–1989 1986–1988 1986–1989

k. A.

1986–1989

1:3

1987–1989

Tab. 6: Von der Stasi geführte FIM-Gruppen im Kernkraftwerk und auf der Großbaustelle, 1968–198944

Die Sicherheitsbeauftragten als Offiziere im besonderen Einsatz Um die von ihr stets befürchtete Sabotage und Spionage zu verhindern, aber auch um Geheimnisschutz, Ordnung, Sauberkeit, Sicherheit und Disziplin in der ostdeutschen Wirtschaft durchzusetzen, installierte die Stasi seit Mitte der 1960er-Jahre in wichtigen Betrieben und Einrichtungen ein spezielles Instrument: die sogenannten Sicherheitsbeauftragten (SB). Später galten sie der Stasi als »untrennbarer Bestandteil der politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft«.45 Nach außen unterstanden die mehreren Hundert Sicherheitsbeauftragten der Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion beim DDR-Ministerrat. Tatsächlich waren die Sicherheitsbeauftragten ab Ende der 1960er-Jahre in der Regel Offiziere im besonderen Einsatz, eine Mischform aus inoffiziellem und hauptamtlichem Mitarbeiter der Staatssicherheit. Sie erhielten zumindest einen Teil ihres Gehaltes und ihrer Arbeitsanweisungen von der Geheimpolizei, steuerten jedoch keine Informanten und führten keine operativen Vorgänge.46 44  Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 29 sowie Einschätzung der inoffiziell geleisteten Arbeit des FIM »Conrad Schubert« v. 29.11.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AIM »Conrad Schubert« I/9571/81, T. I, Bd. 1, Bl. 111 f. 45  Vgl. Die Arbeit des MfS mit Sicherheitsbeauftragten (Auszüge aus der 2. DB zur Dienstanweisung 1/82 vom 30.3.1982, VVS-008 MfS-Nr. 6/83); zit. nach: Thomas Ammer, HansJoachim Memmler (Hg.): Staatssicherheit in Rostock. Zielgruppen, Methoden, Auflösung. Köln 1991, S. 87–90, hier 87. 46  Vgl. Verfügung Nr. 136/66 des Vorsitzenden des Ministerrates, Aufbau eines Systems der Sicherheitsbeauftragten in der Industrie und im Bauwesen v. 14.7.1966; BStU, MfS, BdL/Dok

54

Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

Noch vor Inbetriebnahme des ersten Reaktors arbeitete die Staatssicherheit im Kernkraftwerk, damals noch als Operativgruppe »KKW Nord« der StasiKreisdienststelle Greifswald, mit zwei Sicherheitsbeauftragten. Einer war im Bereich des Kraftwerkes, der andere auf der angrenzenden Großbaustelle tätig. Während seit dem Frühjahr 1971 zunächst nur einer von beiden als OibE arbeitete, waren Ende der 1980er-Jahre gleich vier OibE für die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk registriert. Offiziell arbeiteten sie allesamt in den Inspektionen – im Kernkraftwerkskombinat, in dessen Stammbetrieb Kernkraftwerk Greifswald und im Kraftwerksanlagenbaukombinat. Verglichen mit dem relativ geringen hauptamtlichen Personalbestand waren hier die meisten OibE aller Stasi-Objektdienststellen überhaupt tätig.47 Das Besondere an den Sicherheitsbeauftragten war ihre janusköpfige Einbindung. Als Legende waren sie innerhalb der staatlichen Strukturen unmittelbar der Kraftwerksleitung zugeordnet und traten dort beispielsweise als Leiter der Inspektion im Kernkraftwerkskombinat auf. Gleichzeitig arbeiteten sie insgeheim nach Anleitung des Leiters der Stasi-Operativgruppe »KKW Nord« bzw. seit 1981 des Leiters der Stasi-Objektdienststelle und sollten die Geheimpolizei direkt in ihrer Arbeit unterstützen. Trotzdem waren die Sicherheitsbeauftragten den Arbeitern und Angestellten im Kernkraftwerk und auf der Großbaustelle durchaus als Mitarbeiter mit einer besonderen Tätigkeit bekannt, obwohl niemand außer ihnen und der Stasi dazu Genaues wusste. Allein das ungefähre Wissen der Arbeiter und Angestellten reichte aber aus, dass die Stasi selbst den Sicherheitsbeauftragten nur begrenzte geheimpolizeiliche Einsatzmöglichkeiten zumaß.48 Schon vor ihrem Einsatz im Kernkraftwerk bzw. auf der Großbaustelle waren alle Offiziere im besonderen Einsatz für die Staatssicherheit tätig. Über viele Jahre hinweg als hauptamtliche Mitarbeiter, Führungs-IM oder wenigstens kurzzeitig als Informanten verfügten sie bereits über Einblicke in die Arbeit der Geheimpolizei. Und aus deren Sicht hatten sie sich offenkundig bewährt.49 Zwei der insgesamt Nr. 2564, Bl. 2–5 sowie Verfügung Nr. 229/82 des Vorsitzenden des Ministerrates v. 28.12.1982; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 5499, Bl. 2–8; Ordnung Nr. 6/86 über die Arbeit mit Offizieren im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit, OibE-Ordnung v. 17.3.1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8187, Bl. 1–23. Auch Gieseke: Schild und Schwert, S. 35. 47  Buthmann: Objektdienststellen, S. 15; Müller: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 65; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 22–24 u. 38. 48  Vgl. Mündliche Info IMS »K. Klotsche« v. 13.5.1985; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. II, Bd. 2, Bl. 196; Konzeption zur politisch-operativen Sicherung des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 15.5.1981; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 203, Bd. 2, Bl. 218–235, hier 232 f.; Müller: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 66–69; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 24. 49  Vgl. Kaderkartei und Vorschlag zur Einstellung als »Offizier im besonderen Einsatz« (OibE/A), Rainer Vtelensky v. 23.7.1970; BStU, MfS, BV Rostock, KS II 251/90, Bl. 10–17 sowie BStU, MfS, BV Rostock, OibE 617/93, T. II, Bd. 1 und BStU, MfS, BV Rostock, AIM

Informationen und Berichte als Arbeitsalltag

55

fünf OibE führte auch die Auslandsspionage der Staatssicherheit, die Hauptverwaltung Aufklärung, als Informanten. Einen OibE nutzte die Staatssicherheit zudem für das Betreiben eines konspirativen Treffortes auf dem Betriebsgelände des Kraftwerkes. Typisch für die OibE war, dass ihre Berufsausbildungen und -erfahrungen in der Regel ein hohes Maß an Fachkenntnis erwarten ließen. Sie waren ausgebildete Maschinenbau- bzw. Elektroingenieure oder Juristen und hatten zuvor mitunter als diensthabender Ingenieur bzw. wissenschaftliche Mitarbeiter der Kombinatsleitung gearbeitet. Drei von insgesamt fünf nahmen eine geheimpolizeiliche Tätigkeit in dem Betrieb auf, in dem sie bereits vorher gearbeitet hatten.

3.6 Informationen und Berichte als Arbeitsalltag Eine der hauptsächlichen Stasi-Tätigkeiten war die Information der SED-Führung und der staatlichen Verwaltung über das, was aus der Perspektive der Herrschenden sicherheitsrelevant war. Das konnten politische oder wirtschaftliche Einzel­ereignisse oder Entwicklungen sein. In der Ost-Berliner Stasi-Zentrale gab es dafür eigens eine Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG). Ihre Informationen und Berichte sollten verhindern, dass SED-Führung, DDRRegierung und Geheimpolizei wie beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953 noch einmal von den Ereignissen überrascht würden. Die Einschätzung der Historikerin Daniela Münkel zu den zentralen Stasi-Berichten besaß auch für die örtliche bzw. betriebliche Ebene Gültigkeit: Die Berichte […] offenbaren den spezifischen Blick der Stasi auf und in die DDR: Hinweise auf vermeintliches oder wirkliches oppositionelles Verhalten sind dort ebenso zu finden wie Problemlagen in Wirtschaft und Versorgung sowie Statistiken zu Devisenumtausch, Ausreise- und Fluchtfällen. Scheinbar Triviales steht hier neben den größeren und kleineren ›Schwierigkeiten‹, die sich bei der Etablierung und Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft und dem Aufbau des ›real-existierenden Sozialismus‹ ergaben. Es entfaltet sich ein breitgefächertes Spektrum, eine Art Tiefenbohrung in die DDR-Gesellschaft, geprägt von der geheimdienstlichen Sicht, die vor allem darauf

I/6405/88, T. I, Bde. 1 u. 2. Vgl. Kaderkartei und Kaderakte Werner Kerlisch; BStU, MfS, BV Rostock, KS II 237/90 sowie BStU, MfS, BV Rostock, OibE I/616/93, T. II, Bd. 1. Vgl. Kaderkartei und Kaderakte Dietrich Koch; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. KuSch Nr. 2551 und Einstellungsvorschlag Koch, Dietrich v. 5.1.1981; ebenda, Bl. 25–33 sowie Vorschlag zur Aufnahme der Bearbeitung als Kader Koch, Dietrich v. 8.7.1980; ebenda, Bl. 409–412 und AIM »Conrad Schubert«; BStU, MfS, BV Rostock, I/9571/81. Vgl. Kaderkartei und Kaderakte Peter Beier; BStU, MfS, BV Rostock, KS II 233/90 sowie BStU, MfS, BV Rostock, OibE I/615/93, T. II, Bd. 1 und BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/8594/79, T. I u. T. II, Bde. 1 u. 2. Vgl. Kaderkartei und Kaderakte Artur Staigies; BStU, MfS, BV Rostock, KS II 246/90 sowie BStU, MfS, BV Rostock, OibE I/4782/91, T. II, Bd. 1.

56

Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

bedacht war, politisch abweichendes Verhalten und sicherheitsrelevante Probleme aufzudecken und zu neutralisieren.50

Aus dem Kernkraftwerk und von der angrenzenden Großbaustelle berichtete die Stasi turnusmäßig einmal im Monat der Rostocker Stasi-Bezirksverwaltung und der Ost-Berliner Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft) zur politischen und wirtschaftlichen Lage. Über die Rostocker Bezirksverwaltung gingen die Berichte an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock. Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Greifswald und der vom SED-Zentralkomitee eingesetzte Parteiorganisator im Kernkraftwerkskombinat erhielten sie in Kopie ebenfalls zur Kenntnis. Als besonders wichtig eingestufte Informationen gingen zudem an die Ost-Berliner Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe. Zusätzlich gab der Leiter der Stasi-Kreisdienststelle Greifswald bzw. später der Leiter der Objektdienststelle im Kernkraftwerk dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Greifswald und den staatlichen Leitern des Kernkraftwerkskombinates schriftliche und mündliche Einzelinformationen. Über ihre eigentlichen Inhalte hinaus sind die Stasi-Informationen in verschiedener Hinsicht aufschlussreich. Zum einen sind sie in ihrer überwiegenden Zahl »Negativ-Berichte«. Als geheimpolizeiliches Korrektiv zur betrieblichen Berichterstattung auf der Ebene der staatlichen Leiter, der SED-Betriebsparteiorganisationen oder auch der Massenorganisationen ging es der Stasi nicht um den Rapport erfüllter Pläne oder sonstige Erfolgsmeldungen. Ihre Aufgabe war vielmehr, politische und wirtschaftliche Mängel und Defizite gegenüber der SED-Führung und der staatlichen Leitung anzumelden. Daher resultiert aus diesen Stasi-Informationen in der Tendenz ein eher negativ überzeichnetes Bild. Zum anderen geben sie Aufschluss zum eigenen Anspruch, aber auch zu den Grenzen der Möglichkeiten der Geheimpolizei. Aus ihnen lässt sich herauslesen, wie weit der Anspruch, alles wissen und alles kontrollieren zu wollen, in der Praxis umgesetzt werden konnte. Zugleich ist jeder einzelne Bericht über Mängel, Störungen oder abweichendes Verhalten im Kernkraftwerk auch ein Beleg für die Illusionen der geheimpolizeilichen Allmachtsphantasien. Denn Ziel der Stasi war ja, politische und wirtschaftliche Verwerfungen erst gar nicht entstehen zu lassen.51 50  Daniela Münkel: Das Berichtswesen der Staatssicherheit 1953 bis 1989. In: dies. (Hg.): Staatssicherheit. Ein Lesebuch zur DDR-Geheimpolizei. Berlin 2015, S. 94–101, hier 95. 51  Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 39; Jahresarbeitsplan 1989 des Leiters der Bezirksverwaltung Rostock v. 22.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 6, Bl. 35–102, hier 49 sowie Abschrift Information Nr. 6 v. 23.3.1973; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 345; Information über Probleme im KKW »Bruno Leuschner« und auf der Großbaustelle des KKW Nord v. 1.6.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. 1, T. I, Bl. 165–169; Information über die Ursachen und begünstigenden Bedingungen zu den Betriebsstörungen vom 9.8.1981 und 10.8.1981 im Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 12.8.1981; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 38–43; Information über die gegenwärtige Lage in der Arbeitsgruppe »Meinungsstreit« an der BBS des VE Kombinates

Informationen und Berichte als Arbeitsalltag

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Was konkret war Gegenstand der Informationen und Berichte der Staatssicherheit im Kernkraftwerk? Von Beginn an berichtete sie über eingetretene Rückstände, Komplikationen und Mängel in der Errichtung des Kernkraftwerkes am Greifswalder Bodden. Oftmals waren das strukturelle Missstände wie mangelnde Zusammenarbeit zwischen den Betrieben, fehlerhaftes, zu spät geliefertes oder ganz ausbleibendes Bau- und Montagematerial aus der DDR, der Sowjetunion oder anderen Ländern (darunter auch der Bundesrepublik), Leitungsmängel, Arbeitsbummelei, Mangel an Fachpersonal oder ungenügende Ordnung, Sauberkeit, Sicherheit und Disziplin. Mit Inbetriebnahme der ersten Reaktoren kamen Informationen zum Anlagenzustand, Störungen, Erfüllung der Planvorgaben, den jährlichen Anstrengungen zur Winterfestmachung, den mit der hohen Personalfluktuation verbundenen Schwierigkeiten sowie zur Stimmung des Betriebspersonals hinzu. In den 1980er-Jahren rückte dann der Stand der Arbeiten an den Blöcken 5 bis 8 zunehmend in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Politische Themen, über die die Geheimpolizei informierte, waren vermeintliche »Erscheinungen feindlicher Tätigkeit«, Meldungen zu privaten West-Kontakten, der zunehmenden Zahl ausländischer Arbeitskräfte, Reaktionen der Arbeiter und Angestellten auf Ereignisse, angefangen von neuen Arbeitszeitenregelungen bis hin zu internationalen Geschehnissen wie der Staatskrise in Polen Anfang der 1980er-Jahre. In vielem war das Berichtswesen der Stasi aus dem Kernkraftwerk typisch für andere DDR-Betriebe und Einrichtungen. Eine Besonderheit waren sicherlich die große Bedeutung der nuklearen Sicherheit, die unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen beim Ausfall der Stromproduktion oder auch die große örtliche Konzentration mehrerer Tausend Arbeiter und Angestellten.52 Was die Stasi mit ihren Informationen und Berichten tatsächlich bewirkte, bleibt offen. Bis zuletzt mahnte sie gegenüber den Empfängern in SED und staatlicher Leitung immer wieder Mängel in deren »politisch-ideologischer Arbeit« an. Im Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 20.4.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 465 f.; Information über mündliche Informationen an leitende Partei- und Staatsfunktionäre v. 20.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 281, T. I, Bl. 197. 52  Vgl. Information über die gegenwärtige Lage und Situation im Kernkraftwerk Nord v. 7.5.1973; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 446–452; Information zum Stand der Vorbereitung zur Aufnahme des stabilen Dauerbetriebes des KKW »Bruno Leuschner« – Block A v. 1.7.1974; ebenda, Bl. 350–355; Information über einige Probleme und die Situation im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald, Werk I v. 30.9.1975; ebenda, Bl. 263–272; Information über die gegenwärtige Lage und Situation im KKW Nord Lubmin v. 25.6.1975; ebenda, Bl. 278–282. Vgl. Bericht über die Lage und Situation beim Investitionsvorhaben Kernkraftwerk Nord im Rahmen der sozialistischen Integration v. 19.3.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 300 f.; Information über den Stand der Wintervorbereitung im VEB KKW »Bruno Leuschner« Greifswald und VEB Bau- und Montagekombinat Kohle und Energie v. 31.10.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 136–139; Information über das Stör- und Havariegeschehen 1980 im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 8.12.1980; ebenda, Bl. 51–55; Information über den Stand des Bau- und Montagegeschehens auf der Großbaustelle KKW Nord III v. 27.3.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 260, T. I, Bl. 104–109.

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Die Stasi und die Kernenergiewirtschaft

Kraftwerk selbst weiche man unterhalb der oberen Leitungsebene davor aus und »verstecke« sich hinter fachlicher Arbeit. In den Dienstberatungen hätten politische und ideologische Fragen eine untergeordnete Bedeutung gehabt. Eingeforderte Rechenschaftslegungen zu sogenannten Brigadeprogrammen kommentierte die untere Leitungsebene der Arbeitskollektive bisweilen lakonisch: »Wenn der rote Wisch sein muss, machen wir ihn eben.« Unterstützt wurde dies – zumindest Mitte der 1970er-Jahre – von einem hohen Anteil Nicht-SED-Mitglieder bis hin zum mittleren Leitungspersonal und der nachhinkenden Arbeit der SEDBetriebsparteiorganisation im Kraftwerk. Die geheimpolizeiliche Forderung, den politischen Druck auf die Arbeiter und Angestellten zu erhöhen, lief zunehmend ins Leere. Nur noch grotesk war der Ratschlag der Staatssicherheit im Oktober 1989, die erzielten Wirtschaftserfolge im Kernkraftwerk für eine »offensive Diskussion mit den Werktätigen« zu nutzen – denn die offizielle Inbetriebnahme des seit Jahren in Bau befindlichen Reaktor 5 anlässlich des 40. DDR-Jahrestages war gerade erst gescheitert.53

53  Vgl. Information über Probleme bei der Durchführung des Probebetriebes und Vorbereitung des Dauerbetriebes des KKW »Bruno Leuschner« Greifswald, Block A v. 26.4.1974; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 369–377, hier 377; Information über einige Probleme und die Situation im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald, Werk I v. 30.9.1975; ebenda, Bl. 263–272, hier 269 f.; Information über die Lage und Information im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald, VEB Nachrichtenelektronik Greifswald und FLI Riems v. 3.6.1977; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 215–219, hier 216 f. Zit. in: Information über die politische und ökonomische Lage und Situation im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« und auf der Großbaustelle der DSF des Kernkraftwerkes Nord v. 23.2.1978; ebenda, Bl. 163–170, hier 167. Vgl. Information über Stimmungen, Meinungen der Beschäftigten auf der Großbaustelle der DSF sowie im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« zu einigen Problemen der Ordnung, Sicherheit und Disziplin und zu den Fragen der Fernwärmeauskopplung v. 24.1.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 259, T. II, Bl. 545–548, hier 546; Information über Störungen im Betrieb des Blockes 1 des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald v. 6.10.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 260, T. I, Bl. 374–376; Bericht über Tendenzen der politischideologischen Situation unter den Beschäftigten im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord (…) v. 18.1.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 482–487, hier 486; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 21.3.1989; ebenda, Bl. 467–480, hier 474; Probleme im Rahmen des Einsatzes, der Wirksamkeit und des Nutzens von zerstörungsfreier Werkstoffprüftechnik im Kombinat KKW »Bruno Leuschner« und dabei sich abzeichnende ideologische Unklarheiten in der HA Werkstoffprüfung v. 2.5.1989; ebenda, Bl. 462–464; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« und der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 9.10.1989; ebenda, Bl. 414–417, hier 417.

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3.7 Operative Personenkontrollen und Operative Vorgänge Die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk bearbeitete zwischen 1981 und 1989 insgesamt 13 operative Vorgänge. Pro Jahr legten die Stasi-Offiziere bis zu drei solcher Vorgänge an. Deren Bearbeitung konnte sich im Extremfall bis zu fünf Jahre hinziehen. Die Motivation der Geheimpolizei für Ihr Aktivwerden war dabei deutlich politisch geprägt. Unter Hinzuziehung von teilweise mehreren Strafrechtsparagrafen kam der § 213 (ungesetzlicher Grenzübertritt) fünf Mal und damit am häufigsten zur Anwendung. Hinzu kamen DDR-typische politische Strafrechtsdelikte wie Menschenhandel, Spionage bzw. Landesverrat, Beeinträchtigung der staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit, landesverräterische Agententätigkeit oder ungesetzliche Verbindungsaufnahme. Strafrechtliche Grundlagen mit einem wirtschaftlichen Hintergrund wie fahrlässige Wirtschaftsschäden, Geheimnisverrat oder Vertrauensmissbrauch bemühte die Stasi in gerade einmal vier Fällen. Sehr viel öfter als operative Vorgänge legte die Geheimpolizei im Kernkraftwerk operative Personenkontrollen an. In der Zeit des Bestehens der Objektdienststelle waren es insgesamt 43. Auch hier lagen beinahe ausschließlich politische Strafrechtsparagrafen zugrunde. Im letzten Jahr 1989 bearbeitete die Stasi acht solcher OPK. Die operative Personenkontrolle galt der Geheimpolizei als wichtiges Instrument zur Überprüfung, Bestätigung und Kontrolle des Personals, das für den Einsatz in herausgehobenen oder besonders sicherheitsrelevanten Kraftwerksbereichen vorgesehen war. Neben fachlichen Aspekten beinhaltete diese auch eine Überprüfung der politischen Einstellung. Auch aus laufender Beschäftigung heraus konnten Arbeiter und Angestellte einer solchen Personenkontrolle unterzogen werden. Beispiele aus dem Kernkraftwerk belegen, dass – aus heutiger Sicht – Banalitäten genügten, um ins Visier der Stasi zu geraten. So geschehen dem Justiziar des Kernkraftwerkes, weil er platte Witze über den SED-Parteiund DDR-Staatschef Erich Honecker weitererzählte. Und so geschehen dem Direktor der betrieblichen Berufsschule, weil er private West-Kontakte seiner Ehefrau nicht wie vorgeschrieben meldete. Im Ergebnis der operativen Arbeit – gleich ob operativer Vorgang oder operative Personenkontrolle – standen mehr oder weniger bindende Handlungsvorschläge zur weiteren geheimpolizeilichen, parteilichen oder staatlichen Vorgehensweise. Manchmal erfolgte die ergebnislose Einstellung des operativen Vorgangs, manchmal Anwerbungsversuche der betroffenen Person.54 54  Recherche BStU-Außenstelle Rostock sowie Nachweisbuch der Registrierung der Inoffiziellen Mitarbeiter, operativen Materialien (OAM), Vorgänge (OV) und Personenkontrollen (OPK), 1985–1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 46; et al. Müller: Einsatz aller Kräfte und Mittel, S. 7; ders.: Organisierung der politisch-operativen Arbeit, S. 16. Vgl. auch Stichworte »Operative Personenkontrolle« und »Operativer Vorgang«. In: Das MfS-Lexikon,

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3.8 Sicherheitsüberprüfungen und Sicherungsvorgang Sicherheitsüberprüfungen – bis Mitte der 1970er-Jahre operative Personenaufklärungen (OPA) genannt – nutzte die Geheimpolizei zur Überwachung und Kontrolle ganzer Personengruppen. Als Mittel der Abwehrarbeit kamen sie zur Anwendung, ohne dass ihnen ein strafrechtliches Ereignis vorausging. Mit ihrer Hilfe sollte die politische Zuverlässigkeit von Personen in herausgehobenen Bereichen des Kernkraftwerkes quasi flächendeckend geprüft werden. Als sicherheitsrelevant betrachtete die Staatssicherheit im Kernkraftwerkskombinat dabei eine Fülle von Betriebsbereichen, Tätigkeitsfeldern oder Personenmerkmalen. Dazu gehörten Kontakte gen Westen (die jeder Arbeiter und Angestellte im Kernkraftwerk ähnlich wie seine Parteizugehörigkeit oder seine gegebenenfalls vorhandene nationalsozialistische Vergangenheit in seinem Personalbogen anzugeben hatte), Spionageverdacht im Bereich Forschung und Entwicklung, Befürchtungen der Sabotage, die Einhaltung betrieblicher Sicherungskonzeptionen, die Durchsetzung der betrieblichen Personalpolitik, die rechtzeitige und möglichst fehlerfreie Errichtung und Inbetriebnahme des Kraftwerkes sowie das Gewährleisten der nuklearen Sicherheit. Ergebnis war, dass jeder (!), der sich seit Ende der 1960er-Jahre um eine Tätigkeit auf der Großbaustelle zum Kernkraftwerk bewarb, in eine Überprüfung geriet. Die Stasi selbst überprüfte alle leitenden Angestellten bis zur mittleren Leitungsebene (u. a. diensthabende Ingenieure, Blockleiter, Reaktoroperatoren, Schichtleiter etc.). Der Überprüfung der Bau- und Montagearbeiter widmete sich die Volkspolizei. Immerhin waren auf der KKW-Großbaustelle seinerzeit mehr als 1 000 Beschäftigte tätig, Anfang der 1970er-Jahre stieg die Zahl auf knapp 5 000 an. Beinahe jeder Zehnte der Überprüften wurde abgelehnt, weil er aus der Bundesrepublik (zurück)kam oder vorbestraft war.55 Gemeinsam mit der Volkspolizei beteiligte sich die Stasi an der Umsetzung der betrieblichen Personalpolitik. Zu dieser hieß es in einer Kaderrichtlinie Anfang der 1970er-Jahre kategorisch: »Alle Bewerbungen […] sind insbesondere auf ihre politische, fachliche und gesundheitliche Eignung hin zu prüfen. Vorbestrafte, Rückkehrer und Zuziehende aus der BRD, West-Berlin und dem anderen NSW [nichtsozialistischem Wirtschaftsgebiet] werden […] nicht eingestellt.«56 Dass hier die politische der fachlichen Eignung vorangestellt wurde, war kein Zufall, sondern System. Damit war ein latenter Konflikt von politisch sanktionierten S. 253 u. 255 f.; vgl. BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/1026/80 sowie BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/3341/86. 55  Vgl. Stichwort »Sicherheitsüberprüfung«. In: Das MfS-Lexikon, S. 303. Zur Rolle und Funktion der Stasi in der Personalpolitik der DDR-Wirtschaft sowie den negativen Auswirkungen vgl. Buthmann: Kadersicherung, et al. 56  Kaderrichtlinie für den VEB Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald, o. D.; zit. nach: Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 65.

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Sicherheitsbedürfnissen und fachlichen Leistungskriterien angelegt, dessen Ausgang sich nicht selten zu Ungunsten des Betriebes gestaltete. Auch Ende der 1980er-Jahre musste das Kernkraftwerkspersonal den Sicherheitsüberprüfungen der Stasi genügen. Unverändert galt, dass sicherheitspolitisch auffällige Personen weder im Kernkraftwerk noch auf der benachbarten Großbaustelle beschäftigt werden sollten. In eine Reihe von »politisch-negativen bzw. politisch-feindlichen Personen« stellte die Geheimpolizei dabei Ausreiseantragsteller, Alkoholiker und Kriminelle. Sie verweigerte alleine im ersten Halbjahr 1987 knapp 100 Personen das Arbeiten hier, auch im ersten Halbjahr 1989 lehnte die Staatssicherheit mehr als 50 Bewerber für das Kernkraftwerk oder die Großbaustelle ab. Die Ablehnung konnte Ende der 1980er-Jahre bis zu 15 Prozent aller Bewerber treffen.57 Eine wachsende Arbeitsbelastung im Rahmen der geheimpolizeilichen Sicherheitsüberprüfungen bildeten Ende der 1980er-Jahre die zunehmenden privaten Kontakte der Arbeiter und Angestellten in den Westen. Prüfte die Stasi-Objekt­ dienststelle 1986 noch weniger als 150 Reiseanträge in die Bundesrepublik, waren es 1988 bereits mehr als fünfmal so viele. Im Jahr 1989 nahm die Anzahl der privaten West-Reisen weiter zu, alleine bis zum Sommer auf knapp 1 000. Die Zahl der abgelehnten Reiseanträge stagnierte bei knapp zehn pro Jahr. Die Kontakte von Geheimnisträgern und leitenden Angestellten in die Bundesrepublik bemühte sich die Stasi dabei gezielt gering zu halten. Ausgerechnet politische und wirtschaftliche Leistungsträger wurden damit hinsichtlich der zunehmenden Reisegenehmigungen strukturell benachteiligt.58 57  Vgl. Richtlinie Nr. 1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen v. 17.11.1982; BStU, MfS, SdM, Nr. 2667, Bl. 429–467, hier 455 sowie Arbeitsplan der Kreisdienststelle Greifswald für das Jahr 1969 v. 20.1.1969; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 80, T. I, Bl. 199–238, hier 201. Jahresplan der Kreisdienststelle Greifswald für das Jahr 1972 v. 28.1.1972; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 76, T. III, Bl. 600–690, hier 613; Mündliche Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung v. 4.6.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 844–848, hier 845; Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 435–447, hier 437. Information zum Vorschlag für die Überprüfung des Auftrages an das Amt für Nationale Sicherheit zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen zu Beschäftigten in Kernkraftwerken u. a. nuklearen Bereichen durch den Ministerrat der DDR v. 27.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 105, Bl. 4–8, hier 4; Erkenntnisse aus dem Erfahrungsaustausch mit dem KD-Leiter Greifswald, Gen. Major Thiele und dem Operativgruppenleiter KKW Nord, Gen. Hptm. Müller am 10. November 1973 v. 27.12.1973; BStU, MfS, BV Magdeburg, Stellv. Operativ, Nr. 2, Bl. 160–163, hier 162; Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 124. Auch Bericht der Arbeitsgruppe KKW des Untersuchungsausschusses über die Untersuchungen der Dokumente der Objektdienststelle des MfS im KKW. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 164–166, hier 166. 58  Vgl. Information zu politisch-operativen Auswirkungen des privaten Reiseverkehrs in das NSA v. 20.10.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 281, T. II, Bl. 404–407; Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 80–87, hier 83. Politisch-operative Lageeinschätzung zu

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Ebenfalls überprüft wurden Dienstreisende, Geheimnisträger oder auch für Leitungsfunktionen vorgesehenes Personal des Kombinates sowie der SEDBetriebsparteiorganisation. Dabei waren Dienstreisen in den Westen bis Anfang der 1970er-Jahre grundsätzlich untersagt. In der Folge der deutsch-deutschen Annäherung und dem Inkrafttreten des Grundlagenvertrages im Sommer 1973 wandelte sich die Situation ähnlich wie bei den Privatreisenden bis Ende der 1980er-Jahre auch hier. Mit der wachsenden Bedeutung des Imports von WestTechnik nahm auch die Anzahl der Dienstreisen dorthin zu. Die Stasi musste nun ihre Zustimmung geben, wenn Fachkräfte des Kernkraftwerkskombinates in der Bundesrepublik oder England an High-Tech-Systemen zur Materialprüfung und Strahlenüberwachung sowie an Computertechnik geschult wurden.59 Der Überprüfungslust der Staatssicherheit entging man auch dann nicht, wenn man schlechter Arbeit oder eines »unmoralischen Lebenswandels« verdächtig war. Zwei Drittel ihrer Informanten im Kernkraftwerk und auf der Großbaustelle nutzte die Stasi für ihre geheimen personenbezogenen Überprüfungen, von denen die Betroffenen auch im Nachgang keine Kenntnis erhielten. Das Ergebnis einer Sicherheitsüberprüfung war offen und konnte ganz unterschiedlich ausfallen: Sie konnte für den Einzelnen folgenlos bleiben oder aber parteiliche und berufliche Sanktionen bis hin zum Arbeitsplatzwechsel nach sich ziehen, aus ihr konnte auch eine weitergehende Überwachung und Kontrolle oder aber der Versuch einer Anwerbung als Informant folgen.60 Ähnlich den Sicherheitsüberprüfungen nutzte die Stasi Sicherungsvorgänge (SV) zur personenbezogenen Überwachung und Kontrolle. Einen Sicherungsvorgang legte die zuständige Stasi-Diensteinheit zu einem von ihr bearbeiteten Betrieb oder einer Einrichtung an. In seinem Rahmen wurden bis zu mehrere Hundert Personen nach verschiedenen Kategorien überprüft und Informationen zu ihnen in einer Speicherkartei hinterlegt. Die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk legte unmittelbar nach ihrer Gründung einen solchen Sicherungsvorgang an. Zuletzt waren hier mehrere Hundert Personen nach verschiedensten Kategorien registriert – angefangen von Ausreiseantragstellern, Ausländern, Geheimnisträgern, Leitungspersonal, Dienstreisenden, Übersiedlern bis hin zu »vorbeugend zu sichernden Personen«. Auch die Fußballmannschaft der Betriebssportgemeinschaft (BSG) des Kernkraftwerkes, Inhaber der begehrten Segelerlaubnis auf der Ostsee oder Jagdwaffenbesitzer hatte die Geheimpolizei überblicksartig erfasst. Bei den Fußballern befürchtete sie Ende der 1980er-Jahre, diese könnten ein den Kernkraftwerken (KKW) in der Deutschen Demokratischen Republik v. 15.9.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21634, Bl. 86–103, hier 97 f. 59  Vgl. Entscheidungsvorschlag v. 20.2.1987; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 181, Bl. 22–24; Entscheidungsvorschlag v. 3.11.1987; ebenda, Bl. 46–49; Entscheidungsvorschlag v. 21.7.1988; ebenda, Bl. 85–87; Entscheidungsvorschlag NSW-Reisekader v. 28.8.1989; ebenda, Bl. 117–121. 60  Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 7–14, 18 f., 23, 36.

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Freundschaftsspiel gegen die Greifswalder Partnerstadt Osnabrück zur Flucht in die Bundesrepublik nutzen. Segelsportler erhielten keine Segel-Erlaubnis für die Ostsee, wenn die Stasi bei ihnen Fluchtgefahr witterte.61 Fraglich bleibt, in welchem Maße die Staatssicherheit ihren allumfassenden Anspruch der Überwachung und Kontrolle tatsächlich durchsetzen konnte. Allein die schiere Masse Tausender Arbeiter und Angestellter setzte den Überprüfungen Grenzen. So waren in der zentralen Personenkartei (Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei (VSH)) der Objektdienststelle Mitte der 1980er-Jahre knapp 7 000 Personen hinterlegt. Erschwerend hinzu kam für die Staatssicherheit die zunehmende Zahl ausländischer – zuletzt auch westlicher – Arbeitskräfte. Ende der 1980er-Jahre arbeiteten auf der Großbaustelle mehr als 4 000 Ausländer aus Polen (2 900), Ungarn (480), der Sowjetunion (240), Jugoslawien (200) und der Tschechoslowakei (85) sowie aus Vietnam (100), Kuba (5) und Mosambik (80).62

3.9 Zur Wahrnehmung der Geheimpolizei im Kraftwerk Während die operative Arbeit der Staatssicherheit konspirativ, also im Verborgenen stattfinden sollte, war die Geheimpolizei im Kernkraftwerkskombinat doch wahrnehmbar. Ihre Präsenz im Kernkraftwerk und auf der Großbaustelle am Greifswalder Bodden war unter den Arbeitern und Angestellten kein Geheimnis. Die Stasi selbst machte keinen Hehl daraus, sondern pflegte vielmehr den Nimbus ihrer vermeintlichen Allgegenwärtigkeit und Allmacht. Alleine schon das ungefähre Wissen um die Präsenz der Stasi besaß tatsächlich einen psychologischen Effekt. Stasi-Offiziere, die zuvor im Kernkraftwerk arbeiteten, waren wenigstens ihren ehemaligen Kollegen bekannt. Man sah die Stasi-Offiziere im Betrieb, ohne dass die Arbeiter und Angestellten ihren näheren Kontakt suchten. Und 61  Vgl. Ordnung über die Erfassung von Personen in der Abteilung XII auf der Grundlage von Sicherungsvorgängen v. 1.6.1976; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 5529, Bl. 1–7; Sicherungsvorgang; BStU, MfS, BV Rostock, I/755/81 sowie Sicherungsvorgangskartei; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 1, Bde. 1 u. 2 sowie Vorschlag zum Anlegen einer operativen Sicherheitsüberprüfung v. 2.2.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 11, Bl. 161. Auch Stichwort »Sicherungsvorgang«. In: Das MfS-Lexikon, S. 303 f. 62  Mündliche Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung v. 4.6.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 844–848, hier 845; Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 80–87, hier 84. Ausführungen zu den erreichten Ergebnissen bei der politisch-operativen Sicherung der Vorbereitung und Inbetriebnahme des KKW-Blockes 5 und Folgeblöcke im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 23.8.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 1, Bl. 81–86, hier 84; Beratung zum Stand der pol.-op. Sicherung KKW N III i. B. Bl. 5 v. 23.8.1988; ebenda, Bd. 2, Bl. 360–365, hier 360; Bericht über die erfolgte Anleitung und Kontrolle der Arbeitsgruppe Auswertung/Information der OD KKW in der Zeit vom 23. bis 24. Mai 1984 v. 29.5.1984; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 19852, Bl. 5–15, hier 13.

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auch der Umstand, dass die Leiter der betrieblichen Inspektion bzw. die Sicherheitsbeauftragten für die Stasi arbeiteten, war mitunter bekannt – freilich nicht, dass sie dies als Offiziere im besonderen Einsatz taten und welches Ausmaß ihre Geheimpolizeiarbeit tatsächlich hatte.63 Die Stasi-Offiziere der Objektdienststelle selbst betrieben eine vielgestaltige Öffentlichkeitsarbeit im Kernkraftwerk. Dazu gehörten Vorträge zu Themen wie »Zur subversiven Tätigkeit des Klassenfeindes und einigen Wirkungserscheinungen der politisch-ideologischen Diversion«, Filmvorführungen, ein Traditionskabinett samt Ausstellung unter dem Titel »Im Dienste des Friedens. Wir erfüllen das Vermächtnis der Kämpfer an der unsichtbaren Front« oder auch die Benennung verschiedener Schichtkollektive im Kraftwerk nach Geheimpolizei-Ikonen wie Richard Sorge oder Felix Dzierzynski.

Abb. 4: Die Stasi arbeitete nicht nur im Geheimen. Sie betrieb auch »Öffentlichkeitsarbeit« gegenüber den Arbeitern und Angestellten – hier in Form einer Ausstellung zu ihrer Tätigkeit.

63  Vgl. Hans-Joachim Hübler: Die Sicherheit ist heute weg. In: Dirk Mellies, Frank Möller (Hg.): Greifswald 1989. Zeitzeugen erinnern sich. Marburg 2009, S. 155–163, hier 156 f. Zur Präsenz der Stasi im Kernkraftwerk vgl. Haferburg: Wohn-Haft, S. 192, 197–200 u. 256.

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Abb. 5: Ausstellungseröffnung durch den Leiter der Stasi-Objektdienststelle HansHeinrich Hanke (li.), re. der Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates Reiner Lehmann, dazwischen der Sekretär der SED-Betriebsparteiorganisation Stefan Michalski

Abb. 6: Die Ausstellung sollte die Stasi gegenüber der Belegschaft in ein gutes Licht rücken.

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Im Frühjahr 1986 nahm beispielsweise die B-Schicht des Reaktors 5 den zurückliegenden XI. SED-Parteitag zum Anlass, einen Wettbewerb zur Inbetriebnahme des Reaktors 5 ins Leben zu rufen. An dessen Ende sollte im September des folgenden Jahres der Arbeitsbereich zum Doppeljubiläum des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution und des 110. Geburtstages des Gründungsvaters der sowjetischen Geheimpolizei, Felix Dzierzynski, nach diesem benannt werden. Das war ernsthaft als Auszeichnung gedacht und wurde aufwendig geplant. Von ihrer sozialen und politischen Zusammensetzung her unterschied sich die B-Schicht dabei keinesfalls von vergleichbaren Arbeitskollektiven im Kernkraftwerk: Sie umfasste insgesamt 44 Männer und Frauen in den Bereichen Blockleitung, Maschinisten des 1. Kreislaufes (nuklearer Teil) und des 2. Kreislaufes (konventioneller Teil), Elektriker sowie Mechaniker. Gerade einmal ein Viertel von ihnen war SED-Mitglied – vor allem das Blockleitpersonal –, dagegen waren fast alle in der Massenorganisation Deutsch-Sowjetische-Freundschaft (DSF) und in der Einheitsgewerkschaft Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) organisiert. Das Durchschnittsalter der B-Schicht war gering und lag unter 27 Jahren. Die B-Schicht hob sich von ähnlichen Kollektiven wohl vor allem dadurch ab, dass hier mit Günter Fuchs ein Träger der hohen staatlichen Auszeichnung »KarlMarx-Orden« und der einzige Kandidat des SED-Zentralkomitees im gesamten Kernkraftwerkskombinat überhaupt arbeitete.64 Gemeinsam inszenierten Kombinatsleitung, SED-Betriebsparteiorganisation und die Stasi die Namensverleihung »Felix Edmundowitsch Dzierzynski« an die B-Schicht bis ins Groteske. So erschienen in der SED-Betriebszeitung Kernkraftwerker vermeintliche Erfolgsmeldungen von der Dauerbaustelle am Reaktor 5. Und der frühere westdeutsche Stasi-Spion Johannes Koppe wurde im Mai 1987 als »Ehrenmitglied« in die B-Schicht aufgenommen. Koppe war eine schillernde Persönlichkeit und hatte unter dem Decknamen »Tessen« gemeinsam mit seiner Frau Hannelore alias »Tessina« der Stasi von Hamburg aus über die westdeutsche Kernenergiewirtschaft berichtet. Im Zuge des West-Übertritts des Stasi-Offiziers Werner Stiller Anfang 1979 flüchtete das Ehepaar Koppe Hals über Kopf in die DDR und lebte hier in Ost-Berlin. Johannes Koppe wurde später als Fachmann für die Energiewirtschaft in einem Ost-Berliner Betrieb für Kraftwerksausrüstungen untergebracht. Die Stasi vertraute dem Ehepaar Koppe derweil keinesfalls vorbehaltlos. Aus Angst, sie könnten westliche Doppelagenten sein, überwachte sie die beiden zwischenzeitlich in einem Sonderoperativvorgang (SOV) durch die Hauptabteilung II (Spionageabwehr).

64  Vgl. Antrag zur Durchführung einer Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit entsprechend der DA 1/85 des Leiters der BV v. 27.11.1985; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 70, Bl. 2; Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeit im Jahre 1985, o. D.; ebenda, Bl. 3; Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 37.

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Abb. 7 a: Zur Öffentlichkeitsarbeit der Stasi gehörte im Kernkraftwerk auch das Auftreten ehemaliger Auslandsspione – hier Johannes Koppe alias »Tessen« (4. v. re.). Gemeinsam mit seiner Frau hatte Koppe bis zu seiner Enttarnung Mitte der 1970er-Jahre über die Kernenergiewirtschaft in der Bundesrepublik berichtet. Links neben ihm der Leiter der Stasi-Objektdienststelle Hans-Heinrich Hanke

Abb. 7 b: Als »kulturelles Rahmenprogramm« für die Erlangung des Beinamens »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« veranstalteten die B-Schicht von Reaktor 5 und die Stasi u. a. Gesprächsrunden mit dem ehemaligen Stasi-Spion Koppe. Am querstehenden Tisch sitzen links Hans-Heinrich Hanke, Leiter der Stasi-Objekt­ dienststelle, in der Mitte Johannes Koppe alias »Tessen« und rechts daneben dessen Frau alias »Tessina«.

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Abb. 8: Anlässlich der Verleihung des Beinamens »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« im September 1987 freut sich der Leiter der B-Schicht des Reaktors 5, Horst Bohn, über eine Büste des sowjetischen Tschekisten aus den Händen des Leiters der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock, Rudolf Mittag. Der Leiter der Objektdienststelle Hans-Heinrich Hanke reicht einen Strauß roter Nelken. Zur Rechten Mittags Stefan Michalski (SED-Betriebsparteisekretär), zur Linken Günter Fuchs (Mitglied der B-Schicht und Kandidat des SED-Zentralkomitees)

Weil es in ihre Selbstinszenierung passte, nutzte die Staatssicherheit das Ehepaar zugleich für ihre Öffentlichkeitsarbeit. So bereisten die beiden »Kundschafter des Friedens«, wie die Stasi ihre Auslands-Informanten lobpreiste, als deren Markenbotschafter die DDR und den sozialistischen Teil der Welt.65 65  Die Stasi legte im November 1954 eine Erfassungskartei zu Johannes Koppe an. Unter der Vorgangsnummer der Hauptabteilung XV 16054/60 führte sie ihn mit dem Decknamen »Tessen« als Informanten. Die Archivierung ihres Informanten tätigte die HV A unter der Archivnummer AIM 6747/89. Vgl. F-16-Karteikarte/HV A; BStU, AR 2, Kopie v. 12.6.2015 sowie F-22-Karteikarte/HV A; BStU, AR 2, Kopie v. 12.6.2015. Zum SOV vgl. F-404-Karteikarte v. 15.1.1984; BStU, MfS, HA II, Abt. 1-Dok, Kopie v. 15.6.2015; Auskunftsbericht zum IM »Tessen« v. 7.12.1981; BStU, MfS, HA II, Nr. 3547, Bl. 7–14; Vorschlag zur Einstellung der operativen Bearbeitung des SOV »Tessen« – »Tessina« v. 24.10.1983; BStU, MfS, HA II, Nr. 39033, Bl. 1–3; SOV »Tessen«/»Tessina«, ZMA 1917; BStU, MfS, HA II, Nr. 36718. Zu Johannes und Hannelore Koppe sind verschiedenartige Veröffentlichungen erschienen, u. a. Johannes Koppe alias »Tessen« (1954–1979): Der Atomenergie-Verfechter über Blockgrenzen hinweg. In: Helmut Stubbe da Luz (Hg.): Heldenhafte »Tschekisten«? »Kundschafter des Friedens«? Hamburger Politiker als DDR-Spione im Kalten Krieg (Begleitband zur Ausstellung Hamburger Politiker als DDR-Spione im Kalten Krieg in der Bibliothek der Helmut-Schmidt-Universität). Hamburg 2015, S. 353–383. Ich danke Georg Herbstritt für diesen Hinweis. Uwe Markus: Kerngeschäft. Das Doppelleben des Atomspions Dr. Johannes Koppe. Berlin 2012 und Johannes Koppe: Ich war

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Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Inbetriebnahme des Reaktors 5 stetig verzögerte, wurde der B-Schicht Mitte September 1987 ihr zweifelhafter Ehrenname verliehen. Während eines barocken Festaktes auf dem Kraftwerksgelände intonierte das Soldatenorchester des Stasi-Wachregiments »Feliks Dzierzynski« unter anderem den »Dzierzynski-Marsch«. Der eigens angereiste Leiter der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock, Generalmajor Rudolf Mittag, meinte in seiner Ansprache: »Freund wie Feind sollen wissen, dass zwischen den Werktätigen in Stadt und Land und dem Ministerium für Staatssicherheit ein enges Vertrauensverhältnis und Kampfbündnis bestehen.« [sic!]66 Das war ein von der Stasi gepflegtes Bild, dem im September 1987 wohl kaum jemand öffentlich zu widersprechen wagte. Noch im Mai 1989 gingen die B-Schicht »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« und die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk eine Partnerschaft zur »Wahrung, Pflege und Weiterführung der revolutionären Traditionen der Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstandskampfes« ein. Nur wenige Monate später zerfiel das vermeintliche Bündnis im Ergebnis der Friedlichen Revolution innerhalb kürzester Zeit.67 Botschaftsflüchtling. In: Horst Müller, Manfred Süß, Horst Vogel (Hg.): Die Industriespionage der DDR. Die Wissenschaftlich-Technische Aufklärung der HV A. Berlin 2008, S. 184–189. 66  Rede zur Verleihung des Ehrennamens Feliks Edmundowitsch Dzierzynski an die B-Schicht des Bereiches Erzeugung im VEB KKW »Bruno Leuschner« Greifswald am 16.9.1987 (sic!); BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 19, Bl. 144–162, hier 161. Ähnlich in Rede zur Verleihung des Ehrennamens Feliks Edmundowitsch Dzierzynski an die B-Schicht des Bereiches Erzeugung im VEB KKW »Bruno Leuschner« Greifswald am 16.9.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 340, Bl. 32–42, hier 42. 67  Kampfprogramm der B-Schicht des Bereiches Erzeugung Block 5 bis 8 zur Erringung des Ehrennamens »F. E. Dzierzynski« v. 30.4.1986; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 3, Bl. 10 f. Personelle Zusammensetzung der B-Schicht P2, die um den Ehrennamen »F. E. Dziersynski« [sic!] kämpft v. 12.11.1986; ebenda, Bl. 12–15; Schreiben v. 2.5.1986; ebenda, Bl. 9; Horst Bohn: Die B-Schicht von P2 im Kampf um die Verleihung des Ehrennamens »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« v. 31.8.1987; ebenda, Bl. 19–21; Konzeption zur Verleihung des Ehrennamens »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« v. 6.7.1987; ebenda, Bl. 25–27; Antrag auf Verleihung des Ehrennamens »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« an das Kollektiv der B-Schicht des Bereiches Erzeugung, Block 5 bis 8 (…) v. 12.8.1986; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 70, Bl. 23–25; Berichterstattung zur Öffentlichkeitsarbeit gemäß DA 2/84 v. 29.6.1987; ebenda, Bl. 55 f.; Schreiben v. 2.5.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 340, Bl. 6; Kampfprogramm (…) v. 30.4.1986; ebenda, Bl. 7; Schreiben v. 12.8.1986; ebenda, Bl. 10–12; Schreiben v. 27.1.1987; ebenda, Bl. 14. Günter Fuchs: Wir wollen unseren Auftrag erfüllen, Kernkraftwerker, Nr. 8 v. 24.4.1987. In: ebenda, Bl. 17; Horst Bohn: Erste Bewährungsprobe bestanden, Kernkraftwerker, Nr. 12 v. 19.6.1987. In: ebenda, Bl. 19 f. Berichterstattung zur Öffentlichkeitsarbeit gemäß DA 2/84 v.  29.6.1987; ebenda, Bl. 21 f.; Konzeption zur Verleihung des Ehrennamens »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« v. 6.7.1987; ebenda, Bl. 23–25; B-Schicht, Block 5 bis 8, erhält Ehrennamen, Kernkraftwerker, Nr. 18 v. 11.9.1987. In: ebenda, Bl. 45; F. E. Dzierzysnki – ein Name, der verpflichtet, Kernkraftwerker, Nr. 19 v. 25.9.1987. In: ebenda, Bl. 49; Einschätzung zur Durchführung der Maßnahmen »Im Dienste des Friedens« im Verantwortungsbereich der OD KKW v. 11.11.1987; ebenda, Bl  61–63; Partnerschaftsvereinbarung v. 5.5.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 7, Bl. 2–5.

4. Das Kernkraftwerk Greifswald Nach der Errichtung eines ersten kleinen Kernkraftwerkes bei Rheinsberg beschritt die DDR mit der Errichtung des Kernkraftwerkes bei Greifswald Ende der 1960erJahre erneut anspruchsvolles Neuland. Erstmals widmete sich der ostdeutsche Staat der Errichtung einer nuklearen Anlage solch großer Dimension und ging damit den Weg zur »eigentliche[n] Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung«. Das Vorhaben bei Greifswald stellte den großindustriellen Einstieg in die Kernenergiewirtschaft dar.1 Dafür griff die DDR auf den vollständigen, schlüsselfertigen Import sowjetischer Kernkraftwerke zurück. Die Sowjetunion stellte das technische Design, die Hauptausrüstungen (Reaktordruckgefäß, Turboaggregat, Dampferzeuger, Hauptumwälzpumpen, Hauptumwälzleitungen) zur Verfügung und verantwortete die Inbetriebnahme des Kraftwerkes. Die DDR übernahm die bautechnische Vorbereitung und Ausführung, lieferte Lüftungs- und Steuerungstechnik, Armaturen, Pumpen, Hebezeuge und Nebenanlagen. Letztlich teilten sich die Anteile an der Errichtung in knapp zwei Drittel sowjetische und ein Drittel ostdeutsche Leistungen auf. Die Entscheidung für den Import sowjetischer Hauptausrüstungen, die vor dem Hintergrund eingeschränkter wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Möglichkeiten in der DDR fiel, stellte eine Zäsur für die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft dar. Die Aussicht auf eine zügige Errichtung und Inbetriebnahme nährte anfangs Hoffnungen, später stellte sich der Verzicht auf kerntechnische Eigenentwicklungen aber als großes Manko heraus. Dessen ungeachtet war das Vorhaben für die DDR wie auch für die Sowjetunion eine Premiere und damit ein politisches und wirtschaftliches Aushängeschild. Zuvor war der sowjetische Reaktortyp noch nie ins Ausland exportiert worden. Später entstanden 16 solcher Kraftwerksblöcke auch in den RGW-Staaten Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei sowie in Finnland. Die nukleare Anlage am Greifswalder Bodden mit ihren acht geplanten Reaktoren blieb der größte Kernkraftwerks-Export der Sowjetunion und war auch im internationalen Vergleich ein riesiges Vorhaben.2 1  Vgl. Wolfgang Mitzinger: Die Zusammenarbeit mit der UdSSR und den anderen Mitgliedsländern des RGW sichert die Entwicklung der Kernenergetik in der DDR. In: Kernenergie (1976) 5, S. 147–152, hier 150. 2  Burghard Weiss: Kernforschung und Kerntechnik in der DDR. In: Dieter Hoffmann, Kristie Macrakis (Hg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 297–315, hier 309. Per Högselius: Die deutsch-deutsche Geschichte des Kernkraftwerkes Greifswald. Atomenergie zwischen Ost und West. Berlin 2005, S. 9; Energiewerke Nord GmbH (Hg.): Die Chronik des Kernkraftwerkes Greifswald 1967–1990. Rubenow 1997, S. 7; Köhler: Kraftwerksanlagenbau, S. 126; Liewer; Abele; Barkleit: Einleitung, S. 15; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 55;

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Welch großes Unternehmen der Kernkraftwerksbau in der Lubminer Heide war, verdeutlichen schon die Beschäftigtenzahlen. Bei Inbetriebnahme des ersten Reaktors Ende 1973 waren knapp 1 000 Arbeiter und Angestellte im Kernkraftwerk tätig; hinzu kamen knapp 6 000 auf der angrenzenden Großbaustelle. Für den Betrieb der Reaktoren 1 bis 4 und die Errichtung und Inbetriebnahme der noch ausstehenden Reaktoren 5 bis 8 zählten die Kombinate Kernkraftwerke bzw. Kraftwerksanlagenbau 1989 zuletzt knapp 4 800 bzw. fast 11 000 Arbeiter und Angestellte aus mehr als 90 (!) Betrieben. Neben ostdeutschen Arbeitskräften waren hier Ende der 1980er-Jahre mehr als 3 000 Arbeiter aus verschiedenen RGW-Ländern tätig. Im Zeichen der formelhaft beschworenen »sozialistischen Integration« gehörten dazu neben sowjetischen Facharbeitern vor allem solche aus Polen, Ungarn, Jugoslawien oder der Tschechoslowakei. In ihrer Zahl und ihrer Leistungsfähigkeit weniger ins Gewicht fielen Gastarbeiter aus Vietnam, Mosambik oder Kuba. Im Frühjahr 1989 urteilte die Stasi zu Letzteren: »Die Effektivität beim Einsatz vietnamesischer und mocambiquanischer Arbeitskräfte auf der Baustelle KKW Nord ist politisch nicht vertretbar. Die Arbeitskräfte sind für ihren Einsatz auf der KKW-Baustelle ungeeignet.«3 Die angestrebte internationale Kooperation im Rahmen des RGW und der Facharbeitermangel in der DDR waren dabei zwei Seiten einer Medaille. Für die Stasi bedeuteten die ausländischen Arbeiter auf der Großbaustelle eine weitere Überwachungs- und Kontrollaufgabe. Mit ihnen verband die Geheimpolizei Phänomene des Schwarzhandels, gewalttätige Auseinandersetzungen ebenso wie indirekte Westkontakte sowie Hamstereinkäufe bei einer ohnehin krisengeschüttelten ostdeutschen Versorgungslage. Die völlig unzureichende gesellschaftliche und kulturelle Integration der ausländischen Arbeitskräfte, ihre zum Teil abgelegene Unterbringung und extreme Arbeitszeiten von bis zu zwölf Stunden täglich schufen Konflikte innerhalb der Gastarbeiterschaft sowie zwischen ihr und den Einheimischen.4 Abele: Kernkraft, S. 27, 39 u. 45 f.; Schönherr: Greifswald, S. 227 u. 284 f.; Barkleit: »Überholen ohne einzuholen«, S. 49; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 37. Vgl. Information Nr. 5/89, Auskunftsangaben zur Prognose und Beurteilung der Folgen nuklearer Unfälle in Kernanlagen mit möglichen sofortigen Auswirkungen für das Hoheitsgebiet der DDR, Auskunftsangaben Kernanlagen; BStU, MfS, Wachregiment, Nr. 10314, Bl. 1–10, hier 6; Müller: Zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit einer Operativgruppe, S. 23. 3  Operative Information über das Verhalten vietnamesischer und mocambiquanischer Arbeitskräfte im Bereich der AWU Heringsdorf v. 26.5.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 108, Bl. 44–46, hier 45. 4  Vgl. Reichert: Kernenergiewirtschaft, S. 308; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 35 f.; Grundorganisation der SED der Großbaustelle der DSF KKW Nord (Hg.): Betriebsgeschichte, o. Pag.; Bericht über die Lage und Situation beim Investitionsvorhaben Kernkraftwerk Nord im Rahmen der sozialistischen Integration v. 19.3.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 300–311, hier 303; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situa­ tion im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 21.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 467–480, hier 476–478; Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im

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Eine erste vertragliche Grundlage für das Kernkraftwerk bei Greifswald bildete ein ostdeutsch-sowjetisches Regierungsabkommen vom 14. Juli 1965. Ganz allgemein sicherte die Sowjetunion darin Hilfe beim Ausbau der Kernenergiewirtschaft mit 440-Megawatt-Reaktoren und in einem Gesamtumfang von zunächst 2 000 Megawatt zu. Am 3. August 1967 beschloss der DDR-Ministerrat im Nachgang eines entsprechenden Beschlusses des VII. SED-Parteitages vom April 1967 den Beginn der Arbeiten am Kernkraftwerk Nord bei Greifswald. Kurz zuvor hatte der Ministerrat den Standort des neuen Kernkraftwerkes bei Greifswald beschlossen. Zunächst vereinbarten die Sowjetunion und die DDR die Errichtung des Doppelblocks Nord I mit zwei 440-Megawatt-Reaktoren. In einem Folgeabkommen vom 20. Dezember 1969 vereinbarten die Vertragspartner den Ausbau der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft bis zum Jahr 1980 auf 5 000 Megawatt. Dafür sollte bei Greifswald der Doppelblock Nord II mit nochmals zwei Reaktoren entstehen. Am 27. April 1973 beschloss das SED-Politbüro schließlich mit Bezug auf den grundlegenden Kernenergievertrag vom Juli 1965 die Errichtung der Baustufen Nord III und Nord IV mit den Reaktoren 5 bis 8 bis zum Jahr 1981. Mit Fertigstellung aller vier Ausbaustufen sollte bei Greifswald mit acht Reaktoren und einer Gesamtleistung von 3 520 Megawatt einer der leistungsstärksten Kernkraftwerkskomplexe Europas entstehen. Welche Unwägbarkeiten die DDR-Seite dafür in Kauf zu nehmen bereit war, zeigt der Umstand, dass Verträge abgeschlossen wurden, noch bevor die Sowjetunion den zu liefernden Reaktortyp selbst erstmals 1971 ans Netz gebracht hatte. Bis dahin existierten keinerlei Erfahrungen zu den Kosten, dem Betrieb sowie der nuklearen Sicherheit. Und tatsächlich bestand die sowjetische Seite später für die Greifswalder Ausbaustufen Nord III und Nord IV auf der Errichtung neuerer Reaktoren anstatt der ursprünglich geplant. Das hatte eine Verwerfung der ursprünglichen Pläne zur Folge. Die Arbeiten an den Reaktoren 5 bis 8 mussten zwischenzeitlich eingestellt werden. Erst im April 1976 stimmte das SEDPolitbüro den neuen Reaktoren zu. Neben technologischen Anpassungen bestand eine wesentliche Änderung darin, dass sich über den ostdeutschen Anteil hinaus auch die Zulieferungen aus den RGW-Ländern Bulgarien, Tschechoslowakei, Polen und Ungarn erhöhten.5 VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.4.1989 ebenda, Bl. 448–459, hier 454; Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); ebenda, Bl. 435–447, hier 438 f.; Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 80–87, hier 84. O. Tit., 24.2.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 3940, Bl. 21 f. 5  Köhler: Kraftwerksanlagenbau, S. 123–125; Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 42; Stinglwagner: Die Energiewirtschaft, S. 64; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Die Energiepolitik, S. 46; Müller: Kernenergie, S. 128, 189 f., 197 u. 205–207; Liewers; Abele; Barkleit: Einleitung, S. 13; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 56 f. Alexander Schönherr führt aus, zwischen der

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Standort am Greifswalder Bodden Über Jahre hinweg wurden insgesamt 42 potenzielle Standorte in der DDR – 16 von ihnen an der Ostseeküste – für das Kernkraftwerk ausgeleuchtet. Zuletzt verblieben Mönkebude beim Stettiner Haff zwischen Ueckermünde und Anklam sowie die Lubminer Heide am Greifswalder Bodden als Alternativen. Schließlich wurde der Standort des Kernkraftwerkes Nord, wie die nukleare Anlage zunächst nüchtern hieß, zwischen den beiden Kreisstädten Greifswald und Wolgast – 20 bzw. 12 Kilometer entfernt – auf einer Landspitze zwischen dem Greifswalder Bodden und der Peenemündung in der Lubminer Heide festgelegt. Die Wirtschaftsplaner führten hinsichtlich der Standortwahl das Argument ins Feld, das zu errichtende Kernkraftwerk gleiche über den Ostsee-Bezirk Rostock hinaus im gesamten Norden der DDR den Mangel an Kohle und Kraftwerken aus. Weil konventionelle Kraftwerke wegen der langen Kohle-Transportwege im Norden der DDR unrentabel waren, so die Idee der Planer, sollte hier Kernenergie die Energieversorgung sicherstellen. Außerdem dachte man an eine damit einhergehende Industrialisierung des bis dahin wirtschaftlich kaum entwickelten Nordens. Hinzu kam ein Nachteil der Kernkraftwerke, der beim gewählten Standort wegfiel: In der Lubminer Heide musste kein landwirtschaftlich wertvoller Boden für die nukleare Anlage geopfert werden. Die technischen Planer fanden am Greifswalder Bodden zudem ausreichend Kühlwasser, geeigneten Baugrund und ein mildes Klima. Günstig schien die Küstenlage des Standortes, weil sowjetische Ausrüstungen hier über die Ostsee angeliefert werden konnten. Auch Sicherheitsgründe spielten für die Standortwahl eine Rolle: Der Ostsee-Bezirk Rostock war vergleichsweise dünn besiedelt und von den örtlich vorherrschenden Südwest- bzw. Westwinden erhoffte man sich bei einem nuklearen Störfall das Abtreiben der Strahlenwolke auf die offene See. Als Kühlwasser für das Kraftwerk wurde der Peenemündung über einen Einlaufkanal Brack-Wasser mit geringem Salzgehalt (0,7 %) entnommen, den Turbinen zugeleitet und um etwa 10 Grad Celsius erwärmt über einen Auslaufkanal in den Greifswalder Bodden abgeleitet. Die warme Abwasserfahne ragte bis zu 2 ½ Kilometer in den Greifswalder Bodden hinein. In den 1980er-Jahren wurde sie zur Forellenzucht genutzt. Offensichtlich sah man die Erwärmung der Boddengewässer und deren Folgen für die Umwelt unkritisch. Bei der Vorstellung des Projekts gegenüber den Greifswalder Stadtverordneten Ende 1967 stellte der damalige Technische Direktor des Kernkraftwerkes Rheinsberg, Hans Busch, das sogar als positiv heraus. Unverblümt führte er aus, dass sich die Warmwasserfahne über den gesamten Greifswalder Bodden bis hin zur Insel Rügen legen könne. DDR und der Sowjetunion sei bereits am 14.7.1965 die Errichtung von acht 440-Megawatt-­ Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 3 520 Megawatt vereinbart worden. Vgl. Schönherr: Greifswald, S. 222–225 u. 305.

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Dies wäre, so Busch, nicht nur vorteilhaft wegen des wärmeren Badewassers, sondern biete auch günstige Voraussetzungen für die industrielle Fischzucht.6 Der staatlich genehmigte Wert für die Erwärmung der Boddengewässer betrug ein Grad Celsius. Veröffentlichungen geben an, dass in der Betriebsphase zwischen 1973 und 1990 die Abwässer des Kraftwerkes den Greifswalder Bodden um bis zu 3 Grad erwärmten. Hinzu kam, dass der Nährstoffeintrag aus der PeeneMündung Einfluss auf das Ökosystem hatte. Öl und Radioaktivität wurden ebenfalls über die Abwässer des Kernkraftwerkes abgegeben. Auch die Abluftkamine – die hoch aufragenden Schornsteine, die die Silhouette des Kernkraftwerkes weit über den Greifswalder Bodden prägten – gaben im Normalbetrieb ständig Radioaktivität ab (Jod, Edelgase, Aerosole). Ein ostdeutscher Fachmann verwies darauf, dass höchstens bis zu einem Drittel der dafür geltenden Grenzwerte in Anspruch genommen worden sei. Auch für den Kraftwerksbetrieb selbst zeigten sich Nachteile der Entscheidung, Brackwasser über einen offenen Einlaufkanal als Kühlwasser zu nutzen. Der Einbruch von salzhaltigem Wasser führte zu teuren Korrosionsschäden an Rohrleitungen und Anlagen des Kraftwerkes. Wegen seiner Freiluftbauweise war bei längeren Frostperioden von weniger als 15 Grad Celsius unter Null durch Eisbildung eine ausreichende Wasserzufuhr gefährdet. Damit war die Wetterunabhängigkeit des Kernkraftwerkes als ein angenommener Vorteil infrage gestellt.7

6  Vgl. Bericht »Wie wird das Kernkraftwerk Nord arbeiten und welche Funktionen wird es erfüllen?« v. 22.11.1967; Stadtarchiv Greifswald, Rep. 7.7.1, Nr. 199, Bl. 26–28, hier 28. 7  Richard Fischer: Standort und territoriale Einordnung des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald. In: Kernenergie (1974) 7, S. 189–191; Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 41 f.; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 46; Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 71; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 35; Müller: Kernenergie, S. 190–209; Schönherr: Greifswald, S. 222, 238 u. 286–290; Gesamtdeutsches Institut (Hg.): Energiewirtschaft, S. 90–94; Reichert: Kernenergiewirtschaft, S. 303 f.; Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 18 f.; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 17–19 u. 122; Stichwort »Kernenergie«. In: Ökonomisches Lexikon. Berlin 1979, Bd. H–P, S. 207 f.; Energiewerke Nord GmbH (Hg.): Die Chronik, S. 10. Vgl. Kontrollbericht Nr. 8 der Ständigen Kontrollgruppe Anlagensicherheit v. 8.7.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21007, Bl. 150–168, hier 158; Information über Probleme der »Seewasserkorrosion« in Anlagenteilen des VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 20.10.1977; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 192–195; Information über Probleme im KKW »Bruno Leuschner« und auf der Großbaustelle des KKW Nord v. 1.6.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. 1, T. I, Bl. 165–169; Information über einige Probleme und die Situation im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald, Werk I v. 30.9.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 263–272, hier 267.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Abb. 9: Lageplan des Kernkraftwerks Greifswald; Stand der ersten Ausbaustufe

Legende 1 Inst. Werkstätten 2 Betonstahlbearbeit. Halle 3 NAN (Nachauftragsnehmer)-Baracke 4 Mischplatz 5 Werkstatt Bau 6 GAN (Generalauftragsnehmer)-Halle 7 Stahlbau

8 Korrosionsschutz 9 Rohrleitungstechnik 10 Freilager 11 Maschinentechnik 12 Gar-Küche 13 BMSR-Halle 14 Druckluftstation

Das Kernkraftwerk Greifswald

16 Heizhaus 17 Sozialgebäude 18 Verwaltungsgebäude 19 Küche 20 Ferm.-Sich.-Gebäude (vermutl. Fernmelde- und Sicherheitsgebäude) 21 Spezialgebäude 22 Maschinenhaus 23 Apparatehaus 24 Notstrom

25 Druckluft 26 Laborgebäude 27 Chem. Wasseraufbereitung 28 Schmierstoffe 29 Gasversorgung Ge Generator R Reaktor Tu Turbine (V)ZBE (Verwaltung) Zentrale Bau­ stelleneinrichtung

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Das Kernkraftwerk Greifswald

4.1 Funktionsweise und Leistung Geplant war die Errichtung von insgesamt vier Baustufen am Greifswalder Bodden mit jeweils einem Doppelblock, der zwei sowjetische Druckwasserreaktoren mit einer Leistung von je 440 Megawatt unterbrachte. Nord I und Nord II wurden mit WWER-230-Reaktoren ausgestattet, Nord III und Nord IV sollten die zwischenzeitlich entwickelten WWER-213-Reaktoren erhalten. Jedem der insgesamt acht Reaktoren waren zwei 220-Megawatt-Turboaggregate zugeordnet, sodass der Kernkraftwerkskomplex bei seiner geplanten Fertigstellung im Jahr 1981 3 520 Megawatt Strom hätte produzieren können. Bis Mitte der 1970er-Jahre ging man davon aus, pro Reaktor mehr als 200 000 Privathaushalte bzw. mehr als die drei Nordbezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg zusammen versorgen zu können. Pro Tag konnte ein Doppelblock Strom im Wert von einer Million Mark produzieren. Schenkt man den staatlichen Berechnungen Glauben, hätten als Äquivalent für einen Doppelblock täglich 700 Waggonladungen Rohbraunkohle verheizt werden müssen. Als Kehrseite dieser enormen Konzentration an Kraftwerkskapazität drohte bei einem Ausfall allerdings großer wirtschaftlicher Schaden. Die Doppelblöcke der vier aufeinanderfolgenden Ausbaustufen waren aus Sicherheitsgründen räumlich voneinander getrennt. Die Unterbringung der Turboaggregate erfolgte dagegen in einem durchgehenden Maschinenhaus. Mit seiner Fertigstellung entstand ein mehr als einen Kilometer langes Gebäude, in dem insgesamt 16 Turboaggregate aus Turbine und Generator untergebracht waren. Die technische Funktionsweise des Kernkraftwerkes bei Greifswald bestand wie in jedem Kernkraftwerk aus mehreren Kreisläufen. Im ersten, nuklearen Kreislauf beförderten große Hauptumwälzpumpen das Kühlwasser mit 265 Grad Celsius in den Reaktor, dort umströmte das Wasser 312 Arbeits- und 37 Regelkassetten und erwärmte sich bis zum Austritt aus dem Druckgefäß auf 295 Grad Celsius. Über sechs Rohrschleifen gelangte das erhitzte Wasser aus dem Reaktor zu den Dampferzeugern, die als nukleare Barriere zwischen dem ersten und zweiten Kreislauf funktionierten. In den Dampferzeugern durchströmte das erhitzte Wasser eine Vielzahl von Rohrbündeln. Über einen Wärmeaustausch entstand auf der Gegenseite der Dampferzeuger sauberer, von radioaktiven Bestandteilen freier Wasserdampf, der ähnlich wie in einem konventionellen Kraftwerk im zweiten Kreislauf durch zwei Turbinen lief und die stromerzeugenden Generatoren antrieb. Ein dritter Kreislauf – im Kernkraftwerk Greifswald das Brackwasser aus der Peene-Mündung – kühlte das Turboaggregat aus Turbine und Generator. Gefahren – also überwacht und gesteuert – wurde das Kernkraftwerk von der Blockwarte. Die Strahlenschutzüberwachung erfolgte von einer eigenen Dosime­ triewarte. Der Wirkungsgrad der Greifswalder WWER-230-Reaktoren der Blöcke 1 bis 4 lag bei 30 Prozent. Aus der im Reaktor freigesetzten Wärmeenergie von 1 375 Megawatt konnte durch das beschriebene Verfahren knapp ein Drittel, also

Funktionsweise und Leistung

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rund 440 Megawatt elektrischer Strom gewonnen werden. Rund 7 Prozent des erzeugten Stroms verbrauchte das Kernkraftwerk als Eigenbedarf, beispielsweise zum Antrieb der großen Hauptumwälzpumpen im ersten Kreislauf.8

Abb. 10: Blick auf die Baustelle der ersten Ausbaustufen Nord I und Nord II, links das entstehende Reaktorgebäude, rechts schließt sich der Rohbau des Maschinenhauses an.

8  K. Gorski, M. Ivanov: Das Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald. In: Kernenergie (1974) 7, S. 200–222; Richard Fischer, Arnulf Geisthardt: Strom aus dem Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald. In: die Technik (1974) 5, S. 293–297; Schönherr: Greifswald, S. 226 f.; Gesamtdeutsches Institut (Hg.): Energiewirtschaft, S. 90; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 121; Ministerrat der DDR (Hg.): Nationaler Bericht, S. 15; VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« (Hg.): Kernenergie, S. 4 u. 7–12. Vgl. auch Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 5–7 u. 59–61. Auszüge aus der Intensivierungskonzeption 1981–1985 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« v. 30.10.1981. In: Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 59–82, hier 65. Vgl. auch Struktur des Kreises Greifswald v. 25.4.1967; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 249, Bl. 34–44.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Abb. 11: Am Baustellenrand der Einlaufkanal, über den das Kühlwasser von der Peene-Mündung zum Kraftwerk gelangte.

Abb. 12: Das Maschinenhaus der Ausbaustufen Nord I und II mit den Turbo­ aggregaten im fortgeschrittenen Montagezustand. Die ersten beiden Ausbaustufen des Kernkraftwerkes wurden als »Zentrales Jugendobjekt« der FDJ geführt. Politische Propaganda am Arbeitsplatz in Form von Transparenten sollte die Arbeitsmotivation fördern.

Funktionsweise und Leistung

Abb. 13: Die sowjetischen Reaktordruckgefäße gelangten über den Überseehafen Rostock auf die Baustelle des Kernkraftwerkes bei Greifswald.

Abb. 14: Die einsatzfertigen Brennstoffkassetten samt aufbereitetem Uran, in frischem Zustand ungefährlich, bezog die DDR aus der Sowjetunion. Jede Brennstoffkassette war mehr als 3 m lang und wog 220 kg. Die ausgebrannten, radioaktiven Kassetten, die auch Plutonium enthielten, gingen in die Sowjetuntion zurück.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Abb. 15: Einheben eines der knapp 12 m hohen und 200 t schweren Reaktordruckgefäße

Funktionsweise und Leistung

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Abb. 16: Vorbereitung des Druckgefäßes von Reaktor 1 zur Erstbeladung mit Kernbrennstoff. Knapp 42 t Urandioxid aufgeteilt auf 312 Brennstoffkassetten nahm der Reaktor auf.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Brennstoff für den ostdeutschen Staat Die Sowjetunion sagte der DDR auch die Lieferung des Kernbrennstoffs in Form von fertigen Brennstoffkassetten zu. Jeder Greifswalder Reaktor benötigte für seinen Betrieb immerhin 42 Tonnen aufbereiteten Urans. Davon musste jährlich rund ein Drittel gegen frischen Brennstoff ausgetauscht werden. Zu Beginn der 1980er-Jahre veranschlagte man für die vollständige Brennstoffbeladung eines Reaktors knapp 100 Millionen Mark. Schon 1982 zeichnete sich mit 230 Millionen Mark eine deutliche Verteuerung der sowjetischen Brennstoffkassetten ab, die auch in den folgenden Jahren anhielt und zweistellige Steigerungsraten erreichte. Die frischen Brennstoffkassetten bezog die DDR mit dem Zug über den Landweg durch Polen nach Greifswald. In den 1980er-Jahren gelangten diese auch auf dem günstigeren Schiffsweg über die Ostsee von Riga nach Rostock bzw. mit dem Flugzeug in die DDR. Der abgebrannte Brennstoff ging auf dem Schienenweg von Greifswald über Polen zurück in die Sowjetunion. Das genaue Ziel dort galt als geheim, weil die Sowjetunion bei Kenntnissen über ihre Zwischenlager- und Aufbereitungskapazitäten indirekte Rückschlüsse des Westens auf die Größe ihres Atomwaffenarsenals fürchtete. Der erste Rücktransport abgebrannter Brennstoffkassetten aus der DDR fand Mitte Oktober 1978 statt. Damals wurden 3 000 Kilogramm abgebranntes Uran plus 20 Kilogramm Plutonium in einem Spezialcontainer in die Sowjetunion überführt. Es war das erste Mal überhaupt, dass eine solch große Menge hochradioaktiven Materials in der DDR transportiert wurde. Noch in den 1970erJahren gab es Unstimmigkeiten über die Entsorgung des abgebrannten Brennstoffs. Die Sowjetunion forderte alsbald ein Abklingen des verbrauchten Brennstoffes von wenigstens fünf Jahren in einem Unterwasserbecken vor Ort. Zeitweise war damit der Betrieb des Greifswalder Kernkraftwerkes infrage gestellt, weil die Zwischenlagermöglichkeiten hier erschöpft und Brennstoffumladungen daher unmöglich waren. Für die sowjetische Abkehr vom vereinbarten Drei-JahresRhythmus des Transportes abgebrannter Brennstoffkassetten gab es verschiedene Gründe. So war der sowjetische Bedarf an Plutonium (pro Jahr entstanden in jedem Greifswalder Reaktor beim Abbrand des Urans in den Brennstoffkassetten mehrere Kilogramm Plutonium) für deren Atomwaffenprogramm zum damaligen Zeitpunkt offenbar gedeckt. Außerdem verzögerte sich die industrielle Nutzung des Plutoniums in sowjetischen Kernkraftwerken vom Typ der »Schnellen Brüter«, sodass Engpässe bei Zwischenlagerung und Aufbereitung der verbrauchten Brennstoffkassetten entstanden. Hinzu kamen außenpolitische Verwerfungen: Die Sowjetunion drängte auf eine Ausweichroute über die Tschechoslowakei wegen der instabilen Lage in Polen, wo Anfang der 1980er-Jahre das Kriegsrecht galt. Dass der Transportweg durch Polen damals tatsächlich unsicher war, zeigt eine Information der Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk vom Sommer 1983. Demnach war der zurückliegende Transport abgebrannten Brennstoffs durch

Funktionsweise und Leistung

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die Volksrepublik von verschiedenen Störfällen begleitet. Die Bremsschläuche des genutzten Eisenbahnwaggons wurden durchtrennt, seine Bremsbeläge manipuliert und auch die hoch-radioaktive Fracht war nicht fachgerecht bearbeitet worden. Der laxe Umgang mit Brennstoffkassetten war jedoch keinesfalls auf die polnische Seite begrenzt. Auch auf DDR-Seite kam es bisweilen zu Schludrigkeiten und verantwortungslosem Handeln. Beim Antransport der frischen Brennstoffkassetten im Rostocker Überseehafen beobachtete das ostdeutsche Strahlenschutzamt im April 1987 beispielsweise, dass der teure Rohstoff weder korrekt deklariert noch vorschriftsmäßig beaufsichtigt worden war. Ein eigens vom Kernkraftwerk Greifswald abgestellter Mitarbeiter kümmerte sich stattdessen um seinen mühsam beschafften und gemeinsam mit dem Brennstoff aus der Sowjetunion eingetroffenen Bootsmotor.9

9  Vgl. Auszüge aus der Intensivierungskonzeption 1981–1985 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« v. 30.10.1981. In: Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 59–82, hier 64. IM-Bericht zur Versorgungssituation mit Kernbrennstoffen v. 9.11.1981; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 8722, Bl. 15; Information über objektive Mängel im VEB KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 24.5.1976; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 236–238, hier 237 f.; Staatliches Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz, Hauptabteilung Nukleare Sicherheit, Kontrollbericht Monat Mai 1983 v. 3.6.1983; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20588, Bl. 49–51; IM-Bericht v. 15.6.1981; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 8722, Bl. 9; Ergänzung zur Information über Probleme beim Transport von Kernbrennstoffen aus der UdSSR vom 16.6.1981 v. 13.7.1981; ebenda, Bl. 11; Information über den 1. Rücktransport von ausgebranntem Kernbrennstoff aus dem Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald in die UdSSR v. 12.10.1978; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 11500, Bl. 85 f.; Bericht zum Informationsbedarf vom 17.5.1986, o. D. (1986); BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19281, Bl. 43–51, hier 46 f.; Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 103; Information über den Stand der Verwirklichung von Maßnahmen des physischen Schutzes von Kernmaterial und Kernanlagen in ausgewählten, sicherheitspolitisch bedeutsamen Objekten der Volkswirtschaft der DDR v. 15.2.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 18887, Bl. 12–30, hier 20 f.; Aktenvermerk v. 4.1.1977; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 2872, Bl. 12 f.; Information der OD KKW über Vorkommnisse bei Rücktransport ausgebrannter Arbeitskassetten des KKW »Bruno Leuschner« v. 13.7.1983; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20588, Bl. 81 f.; Information zu Verstößen bei dem Transport frischer Brennstoffkassetten (BSK) für das KKW Greifswald am 1.4.1987 v. 22.4.1987; ebenda, Bl. 85 f.; Schreiben Rabold an das VE Kombinat Kernkraftwerke, Generaldirektor Lehmann, o. D.; ebenda, Bl. 90–92; Leiterinformation Nr. 3, Situation beim Rücktransport der ausgebrannten Arbeitskassetten aus dem Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 22.6.1983; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 67, Bl. 17 f.; Grüllich: Die Kernbrennstoffversorgung des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald. In: Kernenergie (1974) 7, S. 234–236; Ministerrat der DDR (Hg.): Nationaler Bericht, S. 16 f. u. 42 sowie Hanke: Sicherheitsüberprüfungen, S. 60 f.; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 59–61. Vgl. auch die Aussagen des Generaldirektors des Kernkraftwerkskombinates am Zentralen Runden Tisch. Protokoll 10. Sitzung v. 29.1.1990. In: Uwe Thaysen (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Bd. III. Wiesbaden 2000, S. 549–619, hier 568 f.

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4.2 Die Sicherheitsphilosophie Die sowjetische Sicherheitsphilosophie im Kernkraftwerksbau, die auch für die DDR relevant war, unterschied sich grundsätzlich von der westlichen. Die Sowjetunion setzte auf vergleichsweise große technische Auslegungsreserven wie großzügig ausgelegte Dampferzeuger mit entsprechend viel Kühlwasservolumen, eine geringere Leistungsdichte der Spaltzone in den Reaktordruckgefäßen und die Verwendung zäher Rohrmaterialien in den Kühlkreisläufen, die das Entdecken von Undichtigkeiten vor dem Eintritt eines großen Bruchs ermöglichen sollten. Dem Reaktordruckgefäß selbst und der daran anschließenden Hauptumwälzleitung unterstellte man schlicht, dass ein »Versagen […] ausgeschlossen« sei.10 Für das Auffangen schlagartig austretender Radioaktivität im Störfall (im theoretischen Modellfall ging man von einem Dampf-Luft-Gemisch aus) existierte ein Druckraum-System, das sich nach Erreichen seiner begrenzten Kapazität über Klappen nach außen öffnete. Nach Ablass des gefährlichen Überdrucks sollten die Klappen selbsttätig schließen. Auf grundlegende westliche Sicherheitsmerkmale wie ein gasdichtes und druckfestes Containment sowie Mehrfachauslegungen und räumliche Trennungen von Steuerungs- und Sicherungseinrichtungen verzichtete man wegen der Verteuerung und des Verkomplizierens der nuklearen Anlagen. Insbesondere das Fehlen einer kugelförmigen äußeren Gebäudehülle aus Stahlbeton als Containment um den Reaktor herum war augenfällig. Damit besaßen die Reaktoren weniger Schutz vor äußeren Einwirkungen wie beim Absturz eines Flugzeuges oder bei Waffengewalt, ebenso war das Zurückhalten von Radioaktivität im Störfall weniger sicher. Das war für den Standort Lubmin deshalb ein besonderes Kriterium, weil nur 8 Kilometer entfernt in Peenemünde ein Militärflugplatz lag. Für die Genehmigung des Standortes mussten die Startund Landebahn dort eigens verlegt werden. Eine Flugverbotszone 2 Kilometer um das Kraftwerk herum sollte zusätzlichen Schutz bieten. Mehrmals jedoch kam es zu Verletzungen dieser Flugverbotszone. Im Frühjahr 1989 verflog sich beispielsweise ein NVA-Jagdflieger in weniger als 300 Metern Höhe in das Sperrgebiet. Eine NVA-interne Untersuchungskommission sprach den beteiligten Offizieren Verweise aus. Gegenüber dem Kernkraftwerk wurde der Vorfall heruntergespielt.11 Weitere Sicherheitsmakel an der nuklearen Anlage waren fehlende Trennungen und Mehrfachauslegungen der Sicherheitssysteme, ein fehlendes ausreichendes Notkühlsystem (bspw. war ein doppelendiger Bruch der Hauptkühlleitung nicht beherrschbar) sowie der fehlende Schutz vor den Folgen von Naturkatastrophen 10  Schönherr: Greifswald, S. 227. 11  Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hg.): Kernenergiepolitik, S. 24; Abele: Kernkraft, S. 73; Karl Rambusch, W. Strehober: Errichtung und Inbetriebnahme des 1. Blockes des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald. In: Kernenergie (1974) 7, S. 222–230, hier 222; Chiffriertelegramm v. 2.3.1989; BStU, MfS, HA I, Nr. 51, Bl. 269; Untersuchungsbericht, o. D.; ebenda, Bl. 273–278.

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wie Erdbeben. So kam auch das ostdeutsche Strahlenschutzamt Anfang der 1970er-Jahre mit Blick auf das fehlende Containment insgeheim zu dem Urteil: »Eine solche sicherheitstechnische Konzeption schließt die Errichtung dieses KKW-Typs in der Nähe dichtbesiedelter Städte aus.«12 Freilich waren sowjetischen und ostdeutschen Fachleuten die bestehenden technologischen Defizite bekannt. Ein ostdeutscher Ingenieur erinnerte sich nach 1990: Dabei war es bereits Ende der sechziger Jahre […] allen mit der Kernenergie befassten Ingenieuren bekannt, dass dieses Projekt im Hinblick auf die nukleare Sicherheit bei Weitem nicht dem internationalen Standard entsprach. […] Im sogenannten Projektzustand, ohne Nachbesserungen, hätte man unserer Meinung nach die Reaktorblöcke in Mitteleuropa nicht betreiben sollen.13

Demnach bot die Sowjetunion der DDR Mitte der 1960er-Jahre Kernkraftwerke an, über die die internationale Entwicklung bereits hinweggegangen war. Während die Kernenergetik damals weltweit als Zukunftstechnologie galt, waren die sowjetischen Reaktoren für die DDR »Vergangenheitsreaktoren«.14

4.3 Die Schutzgebietserklärung Als der Technische Direktor des Kernkraftwerkes Rheinsberg, Hans Busch, im November 1967 den Greifswalder Stadtverordneten über das vor ihrer Haustür geplante Kernkraftwerk berichtete, hielt er mit Ausführungen zum Strahlenschutz nicht hinterm Berg. Busch schwärmte über das erste ostdeutsche Kernkraftwerk bei Rheinsberg. Dortige Schutzzonen mit einem 3-Kilometer-Radius bräuchte es nicht mehr. Schon um das Greifswalder Kernkraftwerk herum solle nur noch eine Schutzzone mit wenig mehr als einem Kilometer entstehen und künftig würden die Kernkraftwerke in unmittelbarer Stadtnähe errichtet. Der begeisterte Ingenieur bemühte sich, der örtlichen Bevölkerung Sicherheit zu vermitteln. So sagte Busch gegenüber den Greifswalder Stadtverordneten: Der erste Kreislauf ist mit einem Druckraumsystem umgeben und wird […] nicht herauskönnen. Eine Möglichkeit, den Reaktor zu zerschlagen, ist im ersten und zweiten Kreislauf nicht möglich. […] Das ist technisch einfach nicht möglich. Somit sind wir in dieser Richtung, dass die beiden Kühlwasserzyklen ausfallen können, doch sehr, sehr sicher. Eine solche Möglichkeit ist einfach undenkbar […].15 12  Müller: Kernenergie, S. 134. 13  Nagel: Atomingenieur, S. 47 f. u. 65. 14  Zu den äquivalenten Begriffen »Gegenwartsreaktor« und »Zukunftsreaktor« vgl. Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 152 u. 185. 15  Vgl. Bericht »Wie wird das Kernkraftwerk Nord arbeiten und welche Funktionen wird es erfüllen?« v. 22.11.1967, Stadtarchiv Greifswald, Rep. 7.7.1, Nr. 199, Bl. 26–29, hier 29.

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Erst später ging man im Kernkraftwerk Greifswald dazu über, insgeheim die Möglichkeit eines großen nuklearen Störfalls und dessen katastrophale Folgen theoretisch zu untersuchen. Wenige Monate vor der Inbetriebnahme wurde um die Greifswalder Anlage herum im Mai 1973 ein Schutzgebiet eingerichtet. Das ostdeutsche Strahlenschutzamt SZS legte dem DDR-Ministerrat dazu einen Entwurf mit Minimalforderungen vor. Einschätzungen und Besprechungen von Stasi-Offizieren mit Mitarbeitern des Strahlenschutzamtes im Vorfeld des Beschlusses förderten zutage, dass die sowjetischen Fachleute anfangs ein Schutzgebiet mit 5-Kilometer-Radius verlangten. Die tatsächliche Schutzgebietserklärung schrieb jedoch zwei kleinere Zonen um das Kernkraftwerk herum aus. Die engere Zone I beschrieb das Gebiet 1 ½ Kilometer um das Werk herum, die angrenzende Zone II umfasste 3 Kilometer. In der Zone I galten das Wohnen und längerer Aufenthalt als verboten, wozu auch der zeitweilige Aufenthalt zum Campen oder in Wochenendhäusern zählte. Der Durchgangsverkehr und kürzerer Aufenthalt sollten hier eingeschränkt werden, für alle übrigen – auch landwirtschaftlichen – Nutzungen eine Genehmigung erforderlich sein. Für die fortlaufende Strahlenüberwachung der Zone I sollte das Kernkraftwerk zuständig sein, das außerdem alle hier registrierten Personen in seine Katastrophenpläne aufzunehmen hatte. Im inneren Schutzgebiet lagen ein Familienhaus, ein Kinderferienlager, ein Betriebsferienheim, eine Zeltjugendherberge, ein Campingplatz und eine Bungalowsiedlung. Alle diese Einrichtungen waren von den staatlichen Umsiedlungsvorgaben betroffen. Kopfzerbrechen bereiteten der ostdeutschen Geheimpolizei dabei die Reaktionen der Betroffenen und der Bevölkerung wegen der kurzfristigen Umsetzung. Pikant war zudem, dass auch ein großes Arbeiterwohnlager in der Zone I lag. Für die Zone II des Strahlenschutzgebietes galten weniger strenge Regelungen. Hier sollte der Bevölkerungszuzug kontrolliert werden, seine Strahlenüberwachung oblag ebenfalls dem Kernkraftwerk, die Katastrophenschutzplanung jedoch nicht.16 Kurz vor der Inbetriebnahme von Reaktor 5 trat im Frühjahr 1989 eine überarbeitete Schutzgebietserklärung in Kraft. Eine wichtige Neuerung stellte die Einrichtung eines sogenannten »Gebiets mit einer Informationspflicht« dar. Als eine Reaktion auf den Super-GAU in Tschernobyl erstreckte sich diese erweiterte Zone in einem Radius von 30 Kilometern um das Kernkraftwerk herum. Das

16  Vgl. Schutzgebietserklärung für das Kernkraftwerk Nord v. 9.5.1973; BStU, MfS, SdM, Nr. 1334, Bl. 113–118; Schutzgebiet zum VEB Kernkraftwerk Nord/Lubmin/Greifswald gemäß Atomenergiegesetz und Strahlenschutzanordnung der DDR v. 4.4.1973; ebenda, Bl. 123–125; Stellungnahme zum Entwurf für die Errichtung eines Schutzgebietes für das Kernkraftwerk Nord v. 23.2.1973; ebenda, Bl. 134; Georg Sitzlack, W. Schimmel: Nukleare Sicherheit des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald. In: Kernenergie (1974) 7, Bl. 230–232; Müller: Kernenergie, S. 140 u. 196; Schönherr: Greifswald, S. 224; Nagel: Atomingenieur, S. 71 f.

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Kraftwerk war hier zur Strahlenüberwachung und bei einem nuklearen Störfall zur Information der betroffenen Gemeinden verpflichtet.17

Abb. 17: Lageskizze des KKW am Greifswalder Bodden mit seinem Schutzgebiet. Die engere Zone I umfasste einen 1 ½-Kilometer-Radius. In ihr waren längerer Aufenthalt oder dauerhaftes Wohnen verboten. Trotzdem hat es hier ein Arbeiterwohnlager und ein FDJ-Ferienlager gegeben.

Exkurs: Ein Stasi-Ferienlager im Strahlenschutzgebiet Am Greifswalder Bodden gelegen, betrieb die Stasi in unmittelbarer Nähe zum Kernkraftwerk das FDJ-Ferien- und -Erholungslager »Felix Edmundowitsch Dzierzynski«. Schon alleine die Lage des Zeltlagers in der inneren Zone I des Strahlenschutzgebietes mutete bizarr an. Die Kinder von Stasi-Offizieren verbrachten ihre Sommerferien hier an der Ostsee in einem Gebiet, in dem aus Strahlenschutzgründen ansonsten der Aufenthalt eingeschränkt und das Wohnen verboten waren. Im Falle eines nuklearen Störfalls verfügten die Kinder nicht 17  Schutzgebietserklärung für das Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 3.2.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 65, Bl. 21–31; Schreiben Georg Sitzlack v. 5.10.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21370, Bl. 43 u. 49–58.

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über den einfachsten Schutz, nämlich die Unterbringung in Kellern oder in festen Gebäuden und die Versorgung mit Jod-Tabletten zum Schutz der strahlenanfälligen Schilddrüse. Auch in die Notfall- und Evakuierungspläne des Kernkraftwerkes war das Lager nicht eingebunden. Zum geheimen Skandal wurde diese Situation Ende der 1980er-Jahre. In einem Schreiben an Erich Mielke persönlich empörte sich der Präsident des ostdeutschen Strahlenschutzamtes SAAS, Georg Sitzlack, im Oktober 1987, dass die Stasi mit dem Lager gegen die Auflagen einer in den 1970er-Jahren erteilten Genehmigung verstoße. Das Strahlenschutzamt hatte seinerzeit die festen Gebäude einer ehemaligen Zelt-Jugendherberge zur Nutzung freigegeben. Diese war 1976 wegen der Inbetriebnahme des Kernkraftwerks geschlossen worden. Das Kombinat Kraftwerksanlagenbau als Eigentümer hatte das Gelände dann der Stasi zur Nutzung überlassen. Von einer Erweiterung des Lagers auf 400 Plätze sowie der Unterbringung von Jugendlichen hier in Zelten hatte das SAAS in Ost-Berlin bis 1987 keinerlei Kenntnis. Der SAAS-Präsident trug dem Stasi-Minister deshalb vor: »Die vorgefundene Situation ist mit den gesetzlichen […] Bedingungen, die auf den Schutz von Personen in der unmittelbaren Umgebung des Kernkraftwerkes gerichtet sind, unvereinbar. […] Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Nutzung des Lagers längerfristig zu beenden ist.«18 Nach dem Sommer 1994 sollte daher Schluss sein mit den Sommerferien im Schatten des Kernkraftwerkes. Neben seiner Lage hinterm Kernkraftwerk war auch das fest durchgeplante Programm des Stasi-Lagers speziell. Ostseeromantik, Zeltplatzatmosphäre, Neptunfest, Disko und Live-Konzerte von DDR-weit beliebten Bands wie Silly gehörten dazu ebenso wie Fahnen-Appelle, Gelöbnisse, Märsche, Arbeitseinsätze für das Kernkraftwerk sowie eine allgegenwärtige SED- und Stasi-Propaganda. Fester Bestandteil des Lagers war u. a. der »Tag der Tscheka«. Neben Gesprächen mit Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, ehemaligen Stasi-Spionen oder hauptamtlichen Stasi-Offizieren wurden die Jugendlichen hier an Waffentechnik herangeführt.19

18  Schreiben v. 12.10.1987; BStU, MfS, VRD, Nr. 4646, Bl. 2–4. 19  Vgl. Ehrenbuch des FDJ-Ferien- und Erholungslagers »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski«, o. D.; BStU, MfS, VRD, Nr. 8110; Konzeption zur inhaltlichen Gestaltung des Lagers für Erholung und Arbeit, KKW Nord Lubmin, 1983, o. D.; BStU, MfS, VRD, Nr. 6465, Bl. 2–20; Konzeption zur inhaltlichen Gestaltung des Aufenthaltes von Kindern polnischer Tschekisten im FDJ-Lager für Erholung und Arbeit, KKW Nord, Lubmin v. 10.5.1985; BStU, MfS, VRD, Nr. 6467, Bl. 43–47; Rahmenveranstaltungsplan Ferienlager KKW Lubmin, Durchgang III, o. D.; ebenda, Bl. 133; Tagesablauf für Teilnehmer, o. D.; ebenda, Bl. 196 f.

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Abb. 18: Am Greifswalder Bodden, inmitten der Zone I des Strahlenschutzgebietes unterhielt die Stasi das FDJ-Ferien- und Erholungslager »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski«. Das ostdeutsche Strahlenschutzamt hatte von diesem Verstoß gegen die Vorschriften bis 1987 keine Kenntnis.

Abb. 19: Zum Lagerprogramm gehörte unter anderem das Waffentraining mit Kindern und Jugendlichen am »Tag der Tscheka«.

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Für die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk hatte das FDJ-Lager »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« noch einen ganz anderen Nutzen. Das Hauptgebäude der ehemaligen Jugendherberge in dem abseits gelegenen Waldstück nutzte die Geheimpolizei ab 1977 als konspirativen Treffort mit dem Decknamen »Feliks«. Geheime Treffen mit bis zu zwölf inoffiziellen Mitarbeitern wollte sie hier abhalten. Und mit dem Leiter des FDJ-Lagers alias dem HFIM »Gustav Meier« pflegte die Staatssicherheit ab dem Frühjahr 1981 ein Scheinarbeitsverhältnis, um damit die Tätigkeit eines ihrer Top-Informanten zu verschleiern. Aus Sicht der Stasi war das praktisch. Denn »Gustav Meier« konnte sich vor dem Hintergrund seiner Legende relativ frei bewegen, seine offizielle Arbeit auf die Stasi-Tätigkeit ausrichten und das Hauptgebäude des FDJ-Lagers nutzen, um sich hier mit seinen Informanten zu treffen. Mehr als 20 Stasi-Informanten (IMS und GMS) gehörten zu seinem Netzwerk. Seit Ende der 1960er-Jahre bis zum Frühjahr 1981 hatte »Gustav Meier« als staatlicher Inspektionsbeauftragter auf der Großbaustelle und später im Kernkraftwerk gearbeitet. Schon als Inspektionsbeauftragter war er inoffiziell für die Stasi tätig. Die Geheimpolizei schöpfte ihn ab hinsichtlich Verstößen und Mängeln auf der Großbaustelle, der Einhaltung des Geheimnisschutzes und der Personalpolitik, Westkontakten der Arbeiter und Angestellten sowie deren Stimmungen und Meinungen gegenüber politischen und wirtschaftlichen Themen. Mitte der 1970er-Jahre plante die damalige Stasi-Operativgruppe »KKW Nord«, ihn als Mitarbeiter der Inspektion zum Offizier im besonderen Einsatz zu machen. Mit der Inbetriebnahme der Reaktoren 1 und 2 und dem bevorstehenden Abschluss weiterer Ausbaustufen stieg seinerzeit der Stellenwert des Kernkraftwerkes für die ostdeutsche Energiewirtschaft deutlich. Die Übernahme von »Gustav Meier« in den hauptamtlichen Dienst der Geheimpolizei scheiterte jedoch am Einspruch der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock. Zu groß schienen dem dortigen Leiter der Abteilung Kader und Schulung die Verwicklungen von »Gustav Meier« im Nationalsozialismus gewesen zu sein. Als er im Frühjahr 1981 dann seine Position als Inspektionsbeauftragter auf der Großbaustelle des Kernkraftwerkes aufgab, sah die Stasi ihre Chance gekommen, ihn als HFIM einzustellen.20 20  Vgl. Beschluss v. 17.6.1977; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4583/91, T. I, Bd. 1, Bl. 4 f.; Beschluss v. 23.9.1983; ebenda, Bl. 7 f.; Vorschlag zur Werbung einer IMK (KW) v. 14.6.1977; ebenda, Bl. 16–18; Einschätzung des Gen. Sarnowski, Günter, Inspektionsbeauftragter, v. 27.11.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AIM 4529/91, T. I, Bd. 1, Bl. 94–97; Begründung für die Auszeichnung des Genossen Günther (sic!); Sarnowski mit dem Ehrentitel »Aktivist der sozialistischen Arbeit« v. 29.5.1978; ebenda, Bl. 103 f.; Abschlussbeurteilung des Genossen Sarnowski, Günter, Mitarbeiter der Inspektion des VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau/ Kernkraftwerk Nord v. 29.4.1981; ebenda, Bl. 107 f.; Einschätzung des Genossen Günter Sarnowski v. 30.9.1976; ebenda, Bl. 122 f.; Ermittlungsbericht v. 5.4.1976; ebenda, Bl. 164–171; Bericht über die Notwendigkeit des Einsatzes eines Offiziers im besonderen Einsatz (OibE) beim Generalauftragnehmer KKW Nord Lubmin v. 25.5.1976; ebenda, Bl. 249 f.; Einstellungsvorschlag v. 21.9.1976; ebenda, Bl. 254–264; Vorschlag zum Einsatz eines OibE – Abwehr v. 5.10.1976;

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4.4 Bau und Inbetriebnahme – Erfolge und Rückschläge Als Investitionsauftraggeber für die Errichtung des Kernkraftwerkes bei Greifswald trat ab Oktober 1967 der VEB Kernkraftwerk Rheinsberg auf. Ihm war zudem die Aufbauleitung des Kernkraftwerkes Nord zugeordnet. Im September 1968 entstand dann das Kernkraftwerk Nord als eigenständiger Betriebsteil. Mit fortschreitender Bauzeit und zunehmenden Arbeiten vor Ort wurde zum Januar 1971 der VEB Kernkraftwerke Greifswald-Rheinsberg, später der VEB Kernkraftwerk Greifswald mit Sitz in Lubmin gegründet. Als Generalauftragnehmer für die Projektierung, Errichtung und Inbetriebnahme der Anlage trat der VEB Kernkraftwerksbau und nach dessen Umstrukturierung ab April 1969 das Kombinat Kraftwerksanlagenbau Berlin auf. Gemeinsam mit weiteren Kombinats­ betrieben als Hauptauftragnehmer übernahm das Kombinat den Bau und die Montage. Nach erfolgreichem Probebetrieb ging das Kernkraftwerk dann an den VEB Kernkraftwerk Greifswald und ab 1980 an das VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald als Betreiber über. Die parallelen Strukturen von Auftraggeber, Auftragnehmer und Betreiber bewirkten, dass am Standort des Kernkraftwerkes bei Greifswald bis zuletzt zwei riesige Betriebe nebeneinander tätig waren: das eigentliche VE Kombinat Kernkraftwerke und auf der unmittelbar angrenzenden Großbaustelle das VE Kombinat Kraftwerksanlagenbau Berlin. Komplizierter wurde der Kraftwerksbau noch dadurch, dass der Konstrukteur im Auftrag des Generalauftragnehmers die Sowjetunion war, Hauptausrüstungen und Projektierungsunterlagen in russischer Sprache von dort kamen. Auf der Großbaustelle selbst war eine Vielzahl von Firmen als Haupt- und Nachauftragnehmer mit mehreren Tausend Arbeitskräften aus der DDR und dem Ausland zu koordinieren. Für die Tätigkeit der Staatssicherheit bedeutete das Geflecht einer Vielzahl von Betrieben sowie sich fortwährend wandelnder Strukturen, Zuständigkeiten und fluktuierenden Personals denkbar ungünstige Voraussetzungen. Die Stasi-Offiziere mussten die örtlichen Begebenheiten ständig aufs Neue erkennen und durchdringen. Ihr angestrebtes Informanten-Netzwerk erreichte Anfang der 1970er-Jahre keine Stabilität, sondern befand sich in einem »permanenten ebenda, Bl. 290–293; Aktenvermerk v. 26.10.1976; ebenda, Bl. 294 ff.; Hauptauftrag für den HFIM »Gustav Meier« v. 6.2.1985; ebenda, Bd. 2, Bl. 378 f.; Vorschlag zum Einsatz des Sicherheitsbeauftragten im Kombinat Kraftwerksanlagenbau Berlin, Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin als hauptamtlicher IM und Herauslösung aus der jetzigen Funktion v. 12.2.1981; ebenda, Bd. 3, Bl. 3–10; Anlage zum Einsatz des hauptamtlichen inoffiziellen Mitarbeiters »Gustav Meier« v. 12.3.1981; ebenda, Bl. 19–22; Operative Möglichkeiten des IME »Gustav Meier«, o. D.; ebenda, Bl. 70–75; Beschluss v. 12.3.1981; ebenda, Bd. 4, Bl. 1; Aktenvermerk v. 20.9.1989; ebenda, Bl. 20. Abschlussvereinbarung v. 24.8.1989; ebenda, Bl. 21 f.; Zusatz zur Vereinbarung zum legendierten Arbeitsrechtsverhältnis des Genossen v. 26.1.1984; BStU, MfS, VRD, Nr. 6466, Bl. 3.

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Aufbau«.21 Ungeklärt blieb die Zuständigkeit für die Anwerbung ins Auge gefasster Informanten, die als auswärtige Arbeitskräfte auf der Großbaustelle tätig waren, entweder durch die Stasi vor Ort oder in ihren Heimatorten. Das Heranführen Tausender Arbeitskräfte als staatliche Hau-Ruck-Aktionen, um die Termine für die Inbetriebnahme doch noch zu halten, gestaltete sich zu einer weiteren Herausforderung für die Geheimpolizei.22 Die offizielle Inbetriebnahme des ersten Reaktors von Nord I erfolgte vergleichsweise rasch nach einer Bauzeit von knapp vier Jahren. Das war nur etwas länger als planmäßig vorgegeben. Nach Aufschluss der Baustelle begannen die Arbeiten an den Hauptanlagen (Reaktorgebäude und Maschinenhaus) Ende 1969; im November 1971 traf das erste Reaktordruckgefäß aus dem damaligen Leningrad (heute Sankt Petersburg) über den Rostocker Überseehafen per Schwerlasttransport auf der Baustelle ein; am 3. Dezember 1973 wurde der Reaktor 1 erstmals kritisch. Am 17. Dezember 1973 nahm Willi Stoph die offizielle Netzschaltung vor. Die Inbetriebnahme war ein Achtungserfolg. Noch im Mai 1973 hatte der sowjetische Chefprojektant keine Garantie dafür übernehmen wollen, ihm zufolge war bis dahin kein einziges Baustellenobjekt fertiggestellt. Entgegen der von sowjetischer Seite geforderten »klinischen Sauberkeit« sei der Zustand der Baustelle mangelhaft gewesen, die ostdeutsche Seite hätte Hinweise und Vorschläge der sowjetischen Fachleute unzureichend berücksichtigt. Bei der Errichtung hätte es Mängel gegeben und zu allem Überfluss musste kurzfristig ein Dampferzeuger wegen Korrosionsschäden ausgewechselt werden. Dass Willi Stoph den ersten Greifswalder Reaktor offiziell in Betrieb nahm, kam nicht von ungefähr. Stoph war mit der Vielzahl von Ämtern und Funktionen, die er im Laufe seiner politischen Karriere innehatte (Mitglied des SEDPolitbüros, Minister des Innern, Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates, Minister für Nationale Verteidigung, Vorsitzender des Ministerrates), eng mit dem Aufbau der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft verbunden. Anlässlich der offiziellen Inbetriebnahme des ersten Reaktors wurde dem Kernkraftwerk den Riten der sozialistischen Ehrenbekundung entsprechend der Name des langjährigen SED-Politbüromitglieds, Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission und stellvertretenden Ministerrats-Vorsitzenden Bruno Leuschner verliehen. Leuschner war bereits im Jahr 1965 verstorben. Dass ein Ministerratsbeschluss vom Dezember 1962 die Kernforschung und Kerntechnik organisatorisch der Staatlichen Plankommission zuordnete, war Grund genug, dass der offizielle 21  Müller: Der planmäßige und systematische Einsatz, S. 14. 22  Müller: Kernenergie, S. 38 u. 197–199; Köhler: Geschichte KKAB, S. 126 f.; Hentschel: Rheinsberg, S. 176 f. u. 213; Schönherr: Greifswald, S. 230–233; Ministerrat der DDR (Hg.): Nationaler Bericht, S. 17; Karl Rambusch: Entwicklung der Kernforschung und Kerntechnik in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Kernenergie (1985) 5, S. 209 f.; Müller: Der planmäßige und systematische Einsatz, S. 2 f., 14 f.; ders.: Zur Organisierung der politischoperativen Arbeit einer Operativgruppe, S. 8–11.

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Abb. 20: Momentaufnahme in der Blockwarte des Reaktors 1 – unmittelbar bevor dieser am 3. Dezember 1973 um 2.02 Uhr erstmals kritisch wird und in ihm eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion zur Spaltung des Uranisotops 235 entsteht.

Abb. 21: Die offizielle Inbetriebnahme des Reaktors 1 am 17. Dezember 1973 durch Willi Stoph, Mitglied des SED-Politbüros und Vorsitzender des DDR-Ministerrates (neben den Mikrofonen). Neben Stoph stehen Karl Rambusch (Direktor Bereich Kernkraftwerke im Kombinat Kraftwerksanlagenbau) und Harry Tisch (Kandidat des SED-Politbüros und 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock).

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Name des Kernkraftwerkes am Greifswalder Bodden ab Dezember 1973 »VEB Kernkraftwerk ›Bruno Leuschner‹ Greifswald« lautete. Werkdirektor war seinerzeit Richard Fischer.23 Die aufwendige politische Inszenierung des Kernkraftwerkes war Ausdruck von dessen wirtschaftlicher Bedeutung. Hier kam eine Technologie zum Einsatz, von der man annahm, sie würde dem ostdeutschen Staat über Jahrzehnte die ausreichende Verfügbarkeit elektrischen Stroms gewährleisten. Zu seiner politischen Aufwertung gehörten auch die Einordnung der verschiedenen Ausbaustufen zunächst als »Zentrales Jugendobjekt der FDJ« und später als »Großbaustelle

Abb. 22: Nach seiner Machtübernahme besuchte der SED-Partei- und DDR-Staatschef Erich Honecker im Juli 1972 noch vor der Inbetriebnahme des Reaktors 1 die Großbaustelle »Zentrales Jugendobjekt der FDJ KKW Nord«. 23  Vgl. Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 34 u. 54; Abele: Kernkraft, S. 15; Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 42; Schönherr: Greifswald, S. 235 ff u. 241; Hampe: Kerntechnik, S. 29 f.; Müller: Kernenergie, S. 144–146 u. 196 f.; Stude: Rheinsberg, S. 15; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 26, 34 f. u. 121; Gesamtdeutsches Institut (Hg.): Energiewirtschaft, S. 91; Karl Rambusch; W. Strehober: Errichtung und Inbetriebnahme des 1. Blockes des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald. In: Kernenergie (1974) 7, S. 222–230; Grundorganisation der SED der Großbaustelle der DSF KKW Nord (Hg.): Beiträge zur Betriebsgeschichte. 20 Jahre VEB Bau- und Montagekombinat Kohle und Energie, Kombinatsbetrieb Industriebau Lubmin, Greifswald 1988, o. Pag. Vgl. Information über die gegenwärtige Lage und Situation im Kernkraftwerk Nord v. 7.5.1973; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 446–452, hier 448–450; Zwischenbericht zum OV »Chlorid« v. 13.12.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1245/83, Bd. 1, Bl. 22–30.

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der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft« sowie zahlreiche Besuche ostdeutscher Prominenter.24 Im Juli 1974 ging der Reaktor 1 in den Dauerbetrieb. Die Geheimpolizei notierte seinerzeit, dass mehrere Hundert »Restmängel« im Umfang mehrerer Millionen Mark bestanden. Sie erschwerten nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern gefährdeten auch den sicheren Betrieb. Der inoffizielle Mitarbeiter »Jüngst« berichtete seinem Stasi-Offizier über die damalige Stimmung aus der Inbetriebnahmeleitung: »Block 1 wurde unter dem Ausnahmezustand gebaut. […] Die Kollegen, die sich das haben gefallenlassen, haben nicht die Einsicht, dass das jetzt so weitergeht und sie keinen normalen Arbeitsablauf haben.«25 Das Kraftwerkspersonal verfügte über hohes theoretisches Fachwissen, jedoch kaum über praktische Erfahrungen an der nuklearen Anlage, da der Probebetrieb einzelner Hauptanlagen zusammengestrichen wurde und dieser Reaktortyp überhaupt ostdeutsches Neuland war. Zudem waren Korrekturen der Schaltbilder noch nicht in die Betriebshandbücher für das Anlagenpersonal übernommen worden, die Anlage musste daher teilweise »blind« gefahren werden. Die Staatssicherheit berichtete damals: »Die gegenwärtige Lage im KKW Nord gibt Anlass zu ernster Besorgnis. Eine Reihe von Vorkommnissen und Havarien der letzten Zeit lassen deutlich erkennen, dass die technischen und leitungsmäßigen Prozesse im Werk nicht beherrscht werden.«26 Dennoch oder gerade deshalb übte man staatlicherseits großen Druck aus, das Kraftwerk möglichst rasch fertigzustellen. Seitens der Stasi hieß es dazu: »Von allen Beschäftigten des VEB KKW ›Bruno Leuschner‹ Greifswald muss erkannt werden, dass die termin- und qualitätsgerechte Aufnahme des Dauerbetriebes ein Politikum im Rahmen der sozialistischen ökonomischen Integration mit der UdSSR und anderen sozialistischen Staaten darstellt.«27 Als Folge der Inbetriebnahme des nur bedingt fertiggestellten Reaktors 1 registrierte die Stasi bis Jahresende 1974 mehr als 100 Störfälle, die zum teilweisen oder vollständigen Produktionsausfall führten.28 Am 23. Dezember 1974 folgte die Inbetriebnahme von Reaktor 2. Die Ausbaustufe Nord I war damit verwirklicht. Gerade mit Blick auf den ersten Greifswalder 24  Vgl. Von »Max braucht Wasser« bis Kraft aus Atomen. In: neues leben (1974) 7, S. 20–25. Für den Hinweis danke ich Ilko-Sascha Kowalczuk. Grundorganisation der SED der Großbaustelle der DSF KKW Nord (Hg.): Betriebsgeschichte, o. Pag. 25  Information zur allgemeinen Arbeit in der Abteilung v. 22.10.1974; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/3099/85, T. II, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie). 26  Vgl. Information über die gegenwärtige Lage bei der Inbetriebnahme des Blockes A des KKW-N v. 1.4.1974; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 387–392, hier 387. 27  Vgl. Information über Probleme bei der Durchführung des Probebetriebes und Vorbereitung des Dauerbetriebes des KKW »Bruno Leuschner« Greifswald, Block A v. 26.4.1974; ebenda, Bl. 369–377, hier 377. 28  Vgl. Information über das Störgeschehen sowie den Strahlen-, Gesundheits-, Arbeits- und Brandschutz im KKW »Bruno Leuschner«, Greifswald v. 24.1.1975; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 68, Bl. 3–8, hier 5.

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Reaktor muss jedoch der Begriff »Dauerbetrieb« relativiert werden. Die Anforderungen des neuartigen Kraftwerkes an das Betreiberpersonal sowie verschiedene Störfälle (Frühjahr 1975 defekte Brennstoffkassetten, Dezember 1975 Brand im Maschinenhaus, September 1982 Dampferzeugerdefekte), die aufwendige Umladung des Brennstoffes sowie notwendige Überprüfungs- und Instandhaltungsarbeiten hatten einen Ausfall der Verfügbarkeit des Kernkraftwerkes von etwa einem Drittel zur Folge. Entsprechend verlautete wenige Monate nach der Inbetriebnahme des Reaktors 1 von der Staatssicherheit im Oktober 1974: »Während der zur Zeit herrschenden schwierigen Situation in der Energiewirtschaft war der Block A zweimal im Monat Oktober durch Störungen nicht wie geplant am Netz. Damit trug das KKW zur Verschlechterung der allgemeinen Energielage bei.«29 Bis dahin hatte die Stasi im Kernkraftwerk für das Jahr 1974 bereits rund 290 unplanmäßige Ereignisse als Störungen vermerkt. Sie alle hatten offenbar zu keiner unmittelbaren nuklearen Gefährdung geführt. Gleichwohl macht nachdenklich, dass Maschinisten ohne Zulassungsprüfungen Blockausfälle verursachten oder im Reaktordruckgefäß zwei mehrere Millimeter tiefe Risse ausgeschliffen werden mussten, sich die Wände des Einlaufkanals wiederholt als instabil zeigten, die Sicherheitsventile im ersten Kreislauf als ungeeignet erkannt wurden oder das Reaktorgebäude samt Reaktor 1 um mehr als das Doppelte des zulässigen Wertes abgesackt war (um 1,32 Millimeter gegenüber 0,5 Millimeter). In Absprache mit der Sowjetunion legte man kurzerhand eine neue Neigungsgrenze von 1,5 Millimetern fest. Das löste das Problem natürlich nicht und bei fortschreitender Neigung fürchtete man ernsthafte Schwierigkeiten (Funktionsstörungen der Arbeits- und Regelkassetten) und das zwangsweise Stilllegen des Reaktors.30 29  Vgl. Information über die gegenwärtige Lage und Situation im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 25.10.1974; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 319–321, hier 319. 30  Vgl. Wesentliche Störungen im VEB KKW »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Baustelle KKW Nord v. 24.10.1974; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 323–336; Abschrift Risse im Reaktordruckgefäß 2 des Kernkraftwerkes Nord I v. 18.10.1974; ebenda, Bl. 322; Information Nr. 6 v. 23.3.1973 (Abschrift); ebenda, Bl. 345; Information über einige Probleme und die Situation im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald, Werk I v. 30.9.1975; ebenda, Bl. 263–272, hier 266; Bericht über technische Mängel im KKW »Bruno Leuschner«, die den stabilen Dauerbetrieb gefährden können v. 18.12.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AU 390/77, Bd. 1, Bl. 103–108; Stellungnahme zum Zwischenbericht der BVfS Rostock, Abt. IX vom 22. Dez. 1975 über die bisherigen Untersuchungsergebnisse zum Brand am 7. Dez. 1975 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 16.1.1976; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21108, Bl. 16–19; Zusammenstellung operativ bedeutsamer Schwachstellen, ihre Bewertung und ihr derzeitiger Bearbeitungsstand v. 20.10.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4530/91, T. II, Bd. 2, Bl. 302–314. Analyse sicherheitsrelevanter Schwachstellen der nuklearen und Anlagensicherheit beim Betrieb der Blöcke des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald und Schlussfolgerungen für die weitere Arbeit der OD KKW im Rahmen der vorbeugend schadensabwendenden Tätigkeit v. 20.10.1983; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 10,

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Schon im Frühjahr 1975 kam es zu einem ersten größeren nuklearen Störfall. Verschiedene Arbeits- und Regelkassetten, die zur Steuerung der Kettenreaktion im Reaktor dienten, wiesen Defekte auf und gaben unkontrolliert radioaktives Material in den ersten Kreislauf frei. Die Kassetten mussten aufwendig aus dem Reaktor geborgen werden und die Reaktoren konnten erst im September bzw. Oktober 1975 nach mehr als 100 bzw. 200 Tagen Stillstand wieder angefahren werden. Alexander Schönherr, zwischen 1971 und 1982 Technischer Direktor und Hauptingenieur des Kernkraftwerkes, urteilte dazu im Rückblick: »Für die Energiewirtschaft der DDR war die Außerbetriebnahme […] ein herber Rückschlag.«31 Bei den Bergungsarbeiten an den geöffneten Reaktoren betrachteten sowohl ostdeutsche als auch sowjetische Fachleute die Strahlenschutzvorschriften nicht selten als lästig und unverbindlich. Kontamination wurde im Kraftwerk verschleppt, nahe den Reaktoren wurden später immer wieder hoch radioaktive Brennelementeteilchen der zerstörten Kassetten entdeckt. Ein laxer Umgang mit dem ersten nuklearen Zwischenfall war auch, dass man am Reaktor 2 im Frühjahr 1975 zunächst das Überschreiten der Grenzwerte von Radioaktivitätsauswürfen über den Schornstein um mehr als das Fünffache und das messbare Ansteigen der Radioaktivität im Umkreis bis zu einem Kilometer duldete – ein Gebiet, das damals Kraftwerk, Großbaustelle und Arbeiterwohnlager mit mehreren Tausend Menschen war. Ein leitender Ingenieur alias IM »Richard« berichtete der Stasi dazu: »Gesundheitlich ist das unbedenklich, kann aber propagandistisch so ausgeschlachtet werden, dass Unruhen in der Bevölkerung und in den Nachbarländern auftreten können.«32 Dieser erste größere nukleare Störfall am Greifswalder Bodden wurde sofort zur geheimen Verschlusssache erklärt, der Reaktorsaal zum Sperrbereich gemacht sowie knapp 200 eingeweihte Arbeiter und Angestellte zur Verschwiegenheit verpflichtet. Den Grund dafür formulierte der Stasi-Informant »Richard« so: »Der Schaden ist insbesondere auf politischem Gebiet und dem kommerziellen Einsatz der 440-MW-Druckwasserreaktoren zu befürchten.«33 Die Geheimpolizei Bl. 99–117; Bericht über die Ergebnisse der Arbeiten an den Dampferzeugern des Blockes 1 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 22.10.1982 (Abschrift); BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1245/83, Bd. 1, Bl. 209–219. 31  Schönherr: Greifswald, S. 243–251. 32  Vgl. Zur gegenwärtigen Situation im Revisionsvorhaben v. 8.7.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/8594/79, T. II, Bd. 1, Bl. 231–233 sowie Information zum SU-Spezialisten (…) v. 8.7.1975; ebenda, Bl. 237; Vorkommnis Brennstoff lose und unkontrolliert im Reaktorsaal v. 30.7.1975; ebenda, Bl. 247 f. Zum Problem der hochaktiven Teilchen im Reaktorsaal v. 14.8.1975 ebenda, Bl. 255 f. Technische Mängel, die den Dauerbetrieb gefährden v. 11.9.1975; ebenda, Bl. 263 f.; Zit.: Ergänzungen zum Bericht über die Situation am Block 2 v. 15.5.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/8594/79, T. II, Bd. 1, Bl. 222 f., hier 222. 33  Vgl. Gegenwärtige Situation am Block 1 v. 7.5.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/8594/79, T. II, Bd. 1, Bl. 212–216; auch Mdl: Information zum Blockstillstand v. 16.5.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/3099/85, T. II, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie).

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selbst fürchtete darüber hinaus »Fehlerdiskussionen« zur Qualität der sowjetischen Anlage. In einer geheimen Information, die bis hinauf zu Stasi-Minister Erich Mielke ging, hielt die Geheimpolizei zu dem Störfall fest: »Von Anfang an wurde streng darauf geachtet, dass die Schadensart und Schadensursache im politischen und ökonomischen Interesse der UdSSR und der DDR geheimgehalten werden, zumal hier Probleme der nuklearen Sicherheit eine Rolle spielten.«34 Trotz aller Anstrengungen hatte die Stasi die sprichwörtliche Rechnung jedoch ohne den Wirt gemacht und das Ganze entglitt ihrer Kontrolle. Sowjetische Fachleute selbst hatten sich zu dem grundsätzlichen technologischen Problem der defekten Arbeits- und Regelkassetten mit kanadischen Kollegen ausgetauscht. Im Rahmen einer IAEO-Beratung sprachen die Kanadier im Frühjahr 1977 daraufhin einen erstaunten Vertreter des ostdeutschen Strahlenschutzamtes SAAS auf das Problem an. Peinlich war, dass dieser offenbar keinerlei Kenntnis davon hatte.35 Großbrand im Maschinenhaus Nur kurze Zeit später folgte ein weiterer und der wohl schwerste nukleare Störfall in der Geschichte des Kernkraftwerkes. In den späten Vormittagsstunden des 7. Dezembers 1975, kurz nach 11.00 Uhr brach im Maschinenhaus ein Kabelbrand aus. Knapp zweieinhalb Stunden später hatte die herbeigeeilte Feuerwehr den Brand gelöscht. Dennoch war ein unmittelbarer Sachschaden von knapp 3 Millionen Mark entstanden. Das erst zwei Jahre zuvor feierlich in Betrieb genommene Kernkraftwerk fiel komplett aus, damit verbunden war ein Ausfall der Energieproduktion in Größenordnungen von mehr als einer Million Mark pro Tag. Der schwerer beschädigte Reaktor 1 konnte erst Ende Januar 1976 wieder ans Netz gehen, der Reaktor 2 schon wenige Wochen nach dem Störfall. Auslöser war die Fahrlässigkeit eines damals 27 Jahre jungen Elektromonteurs. Was war geschehen? Der Elektromonteur hatte einer Kollegin Schalthandlungen im Maschinenhaus demonstrieren wollen, nutzte dafür aber nicht das vorgeschriebene Spezialwerkzeug, sondern lediglich eine einfache Flachzange. Durch sein laxes Hantieren verursachte er einen Kurzschluss, aus dem sich im Keller des Maschinenhauses ein riesiger Kabelbrand entwickelte. Nicht weniger als 130 Kilometer Kabel gerieten in Brand. Am Reaktor 1 fielen praktisch die gesamte 34  Information über Probleme der Informationspolitik und des Geheimnisschutzes im Zusammenhang mit Störungen an Kernreaktoren des Typs WWER-440 v. 18.7.1977; BStU, MfS, Sekr. Mittig, Nr. 141, Bl. 432–435, hier 433. 35  Information über die gegenwärtige ökonomische Lage im Kernkraftwerk Nord Greifswald v. 27.5.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 283–289, hier 287; Information über Probleme der Informationspolitik und des Geheimnisschutzes im Zusammenhang mit Störungen an Kernreaktoren des Typs WWER-440 v. 18.7.1977; BStU, MfS, Sekr. Mittig, Nr. 141, Bl. 432–435, hier 433.

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Blockwarte sowie die Kühlwasserpumpen und andere Havarieschutzsysteme (Borsäureeinspeisung) aus. Eine Störfallautomatik fuhr den Reaktor automatisch ab. Unter dem Personal herrschte derweil große Aufregung und Durcheinander, denn ohne eine Abführung der Restwärme aus dem abgefahrenen Reaktor drohte eine nukleare Katastrophe. Das Kraftwerkspersonal konnte nicht verhindern, dass der Druck im Reaktor 1 durch Überhitzung bis in die Nachmittagsstunden so stark anstieg, dass Sicherheitsventile Wasserdampf mit radioaktiven Teilchen aus dem ersten Kreislauf abgaben. Ein Sicherheitsventil verklemmte dabei und der Druck bzw. der Kühlwasserstand im geöffneten ersten Kreislauf sank nun bedrohlich. Nur durch Zuschlagen mit einem Hammer konnte das verklemmte Ventil wieder geschlossen werden. Laut verschiedener Stasi-Berichte hatte der sowjetische Hersteller bereits mehrere Jahre vor dem Zwischenfall das Kraftwerk über die fehlerhaften Sicherheitsventile informiert und deren Austausch durch westdeutsche Ventile empfohlen. Schließlich verhinderte die Wiederinbetriebnahme der Kühlwasserpumpen über eine improvisierte Notstromversorgung bis zum Abend die Reaktorüberhitzung. Nach Einschätzung der ostdeutschen Geheimpolizei entging das Kernkraftwerk am Greifswalder Bodden damals nur knapp einer nuklearen Katastrophe, wie sie sich dann in ähnlicher Weise im Frühjahr 1979 im US-amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg ereignen sollte. Nach einem unkontrollierten Kühlwasserverlust kam es dort zu einer Reaktorüberhitzung und teilweisen Kernschmelze. Bis Tschernobyl galt das Unglück von Three Mile Island als der folgenschwerste Störfall in einem Kernkraftwerk. In Greifswald trug im Dezember 1975 auch das sowjetische Anlagendesign dazu bei, dass es zu keiner Katastrophe kam. Wegen der großzügigen Kühlwassermengen reagierte der Reaktor träge und überhitzte daher langsamer.36 36  Vgl. Haftbeschluss v. 8.12.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AU 390/77, Bd. 1, Bl. 7; Bericht über den gegenwärtigen Stand der Untersuchungen zum Brand vom 7.12.1975 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 10.12.1975; ebenda, Bl. 81–84; Bericht über den Brand im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald am 7.12.1975 v. 8.12.1975; ebenda, Bl. 74–77; Bericht über den gegenwärtigen Stand der Untersuchungen zum Brand vom 7.12.1975 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 10.12.1975; ebenda, Bl. 81–84; Maßnahmeplan zur Weiterführung der Untersuchungen im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald im Zusammenhang mit dem Brand vom 7.12.1975 v. 10.12.1975; ebenda, Bl. 177–182; Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls (…) v. 22.12.1975; ebenda, Bl. 25 f.; Erstmeldung Nr. 98/75 v. 9.12.1975; ebenda, Bl. 54 f.; Bericht über den Brand im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald am 7.12.1975 v. 8.12.1975; ebenda, Bl. 74–77; Bericht über den gegenwärtigen Stand der Untersuchungen zum Brand vom 7.12.1975 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 10.12.1975; ebenda, Bl. 81–84; Vernehmungsprotokoll des Zeugen K., K.-D. v. 13.1.1976; ebenda, GA, Bd. 5, Bl. 76–78; Vernehmungsprotokoll des Zeugen W., M. v. 13.1.1976; ebenda, Bl. 83–85 sowie Information v. 19. April 1979; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 201, Bl. 198–202. Zum Ablauf des Störfalls auch Schönherr: Greifswald, S. 252–255; Information v. 19.4.1979; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 201, Bl. 198–202; vgl. auch »Eine Stilllegung ist möglich.« DDR-Atomexperte Helmut Rabold über Risiken im KKW Greifswald. In: Der Spiegel v. 5.2.1990, Heft 6, S. 114–118, hier 115.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Abb. 23: In den Mittagsstunden des 7. Dezembers 1975 dringt Rauch aus dem KKW. Die Stasi untersuchte den Kabelbrand im Maschinenhaus und seine Schäden detailliert – verhindern können hatte sie ihn allerdings nicht.

Abb. 24: Stasi-Aufnahmen zu den Brandschäden im Maschinenhaus sowie den ausgebrannten Kabeltrassen dort

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Der Brand im Kernkraftwerk besaß durch die entstandenen Schäden, den Ausfall der Energieproduktion und die zwischenzeitlich drohende nukleare Katastrophe solch enorme Brisanz, dass die Stasi-Bezirksverwaltung Rostock tags darauf die laufenden Ermittlungen der Kriminalpolizei an sich zog. Der Staatssekretär im Ministerium für Kohle und Energie, Wolfgang Mitzinger, eilte als Krisenmanager ins Kernkraftwerk. Es folgten ausufernde Ermittlungen, Verhöre und technische Untersuchungen durch die Staatssicherheit, die Volkspolizei, das Staatliche Amt für Technische Überprüfung (SATÜ) sowie Kommissionen der Vereinigung volkseigener Betriebe (VVB) Kraftwerke und des Ministeriums für Kohle und Energie. Gegen den Elektromonteur, der den Brand verursacht hatte, wurde zwei Tage nach dem Unglück Haftbefehl erlassen. Zu diesem Zeitpunkt saß er bereits in der Rostocker Stasi-Untersuchungshaftanstalt. Hier wurde er mehrmals stundenlang und bis tief in die Nacht hinein verhört. Zudem setzte die Staatssicherheit einen Mitgefangenen als Informanten auf ihn an. Knapp zwei Wochen nach dem Brand kam der Verursacher kurz vor Weihnachten 1975 aus der Untersuchungshaft frei. Um ihn »unter operativer Kontrolle« zu halten, plante die Stasi den Einsatz inoffizieller Mitarbeiter an seinem Arbeitsplatz und in seinem Wohnbereich. Zu seiner Stasi-Untersuchungshaft musste sich der Elektromonteur zum Schweigen verpflichten.37 Aufschlussreich für die Zustände im Kernkraftwerk waren nicht nur das persönliche Fehlverhalten eines Einzelnen, sondern auch die technischen Begleitumstände, die den Kabelbrand am 7. Dezember 1975 begünstigten. Die StasiErmittlungen förderten verschiedene Mängel zutage, die jeder für sich genommen brisant waren. So hielt sich das Kernkraftwerkspersonal oftmals nicht an die geltenden Arbeitsvorschriften. Weil Spezialwerkzeug des Öfteren unbrauchbar war, improvisierten die Arbeiter auf höchst gefährliche Art und Weise. Das Verhalten des Elektromonteurs war kein Einzelfall, hatte jedoch besonders verheerende Folgen. Hinzu kam, dass Schutzeinrichtungen funktionslos blieben, die ein derart krasses Auswachsen des Unfalls hätten verhindern sollen. Denn nach Auslösen des Kurzschlusses durch den Elektromonteur versagte die Schutzaus37  Vgl. Übernahmeprotokoll v. 8.12.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AU 390/77, Bd. 1, Bl. 14; Überführungsbericht v. 9.12.1975, Bl. 16; Einlieferungsanzeige v. 8.12.1975; ebenda, Bl. 17 f.; Haftbefehl v. 9.12.1975; ebenda, Bl. 20; Konzeption zur Haftentlassung und Wiedereingliederung des Beschuldigten (…) v. 22.12.1975; BStU, MfS, BV Rostock; ebenda, Bl. 22–24; Verpflichtung v. 22.12.1975; ebenda, Bl. 31; Vernehmungsprotokoll v. 7.12.1975; ebenda, Bl. 202–207; Vernehmungsprotokoll v. 9.12.1975; ebenda, Bl. 212–219; Vernehmungsprotokoll v. 9.12.1975; ebenda, Bl. 220–223; Vernehmungsprotokoll v. 16.12.1975; ebenda, Bl. 224–226a; Vernehmungsprotokoll v. 19.12.1975; ebenda, Bl. 244–246 sowie Bericht v. 17.12.1975; BStU, MfS, BV Rostock, Allg. P. 471/85, o. Pag. (Rückkopie); Bericht über den gegenwärtigen Stand der Untersuchungen zum Brand vom 7.12.1975 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 10.12.1975; ebenda, Bl. 81–84 sowie Attestierungsblatt zur Prämierung v. 28.1.1976; BStU, MfS, HA KuSch, KS 24996/90, Bl. 87 f.

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lösung eines Transformators, weil eine winzige Diode falsch eingebaut war. Nur deshalb hatte sich der riesige Kabelbrand erst entwickeln können. Das war ein ebenso heikles wie entscheidendes Detail, weil diese technische Variante einer Schutzauslösung auf die DDR zurückging und in der Sowjetunion eben wegen ihrer Unzuverlässigkeit verboten war. Die Stasi ging mit Bezug auf eine Unter­ suchungskommission des Kernkraftwerkes davon aus, dass der Brandschaden bei Funktionieren der Schutzeinrichtung statt knapp 3 Millionen Mark lediglich rund 25 000 Mark betragen hätte. Im Umkehrschluss konnte der Elektromonteur nicht für den entstandenen Millionenschaden verantwortlich gemacht werden. Wegen fahrlässiger Brandstiftung wurde er im Frühjahr 1976 zu einer Haftstrafe auf Bewährung, einem Schadensersatz in Höhe von knapp 400 Mark an das Kernkraftwerk, dem Entzug seiner Schaltberechtigung für ein Jahr und seiner »Bewährung am Arbeitsplatz« verurteilt. Hinter vorgehaltener Hand galten derweil bei manchem leitenden Kraftwerksangestellten als Ursachen für den Brand die schlechte Arbeitseinstellung mancher Kollegen, deren fehlende innere Bindung zum volkseigenen Kernkraftwerk, ihre ungenügende fachliche Betreuung sowie das gleichmacherische Prämiensystem im Betrieb mit ausbleibenden Kürzungen selbst bei krassen Verfehlungen. Das klang nach einer gefährlichen Ursachenverkettung mit katastrophalen Folgen, deren Wiederholung nicht ausgeschlossen schien.38 Und tatsächlich kam es nur kurze Zeit später wegen Fahrlässigkeiten des Kraftwerkspersonals im Sommer 1976 erneut beinahe zu einer Katastrophe. Ausgangspunkt war diesmal eine defekte Armatur im ersten Kreislauf am Reaktor 2. Die diensthabende Reaktoroperateurin gab eine Freimeldung an ein Reparaturteam heraus, die ungenau und missverständlich formuliert war. Die beauftragten Handwerker ihrerseits erweiterten die Freimeldung ohne Rücksprache eigenmächtig auf einen Bereich, durch den Rohrleitungen des ersten Kreislaufes liefen. Irrtümlich gingen sie davon aus, der Reaktor sei abgefahren, der erste Kreislauf drucklos und frei von radioaktivem Kühlwasser. Das aber war eine folgenschwere Fehleinschätzung. Erst in letzter Sekunde stoppte ein Meister die bereits begon38  Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls (…) v. 22.12.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AU 390/77, Bd. 1, Bl. 25 f.; auch Bericht über den gegenwärtigen Stand der Untersuchungen zum Brand vom 7.12.1975 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 10.12.1975; ebenda, Bl. 81–84; Zwischenbericht über die bisherigen Untersuchungsergebnisse zum Brand vom 7.12.1975 v. 22.12.1975; ebenda, Bl. 85–90 sowie Schreiben v. 14.1.1976; ebenda, GA ASt, Bd. 7, Bl. 4; Urteil v. 20.4.1976; ebenda, Bl. 79–86. Schlussbericht v. 5.2.1976; ebenda, Bl. 137–143; Protokoll über die Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte in das Untersuchungsverfahren v. 23.1.1976; ebenda, GA, Bd. 4, Bl. 263–267; auch Stellungnahme zum Zwischenbericht der BVfS Rostock, Abt. IX vom 22. Dez. 1975 über die bisherigen Untersuchungsergebnisse zum Brand am 7. Dez. 1975 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 16.1.1976; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21108, Bl. 16–19; Einschätzung der politisch-ideologischen Arbeit der gesellschaftlichen Organe und der staatlichen Leitung in der Schicht A v. 7.4.1976; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/8594/79, T. II, Bd. 2, Bl. 16–24.

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nenen Reparaturarbeiten am ersten Kreislauf. Die Stasi urteilte später über den Beinahe-Unfall: »Durch die bereits begonnene Demontage […] wurde das Leben der beteiligten Reparaturschlosser sowie weiterer, im Druckraumsystem des ersten Kreislaufes arbeitender Kollegen auf das Äußerste gefährdet.« Das unkontrollierte Austreten und Verdampfen des 260 Grad Celsius heißen Kühlwassers aus dem ersten Kreislauf hätte katastrophale Folgen gehabt, so der Stasi-Bericht weiter: Das hätte den sofortigen Tod aller im Druckraumsystem des ersten Kreislaufes befindlichen Personen bedeutet. Da das Druckraumsystem außerdem wegen weiterer Reparaturarbeiten […] geöffnet war, wäre eine nukleare Havarie mit zur Zeit nicht absehbaren Folgen entstanden. Der Betrieb des KKW wäre auf Wochen unterbrochen worden und radioaktive Medien wären in größerer Menge ausgetreten.39

Die Stasi im Kernkraftwerk selbst erfuhr von dem Vorfall tags darauf über den betrieblichen Inspektionsbeauftragten alias OibE »Rainer«. Der Leiter der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock, Oberst Rudolf Mittag, ließ eine Kommission der Abteilung IX (Untersuchungsorgan) bilden. Sie sollte die genauen Umstände des Vorfalls aufklären, wobei die Vorgabe stand: »Die Untersuchungen sind so zu führen, dass keine Beunruhigung eintritt.«40 Die Stasi kam zunächst zu der besorgniserregenden Einschätzung, dass der Vorfall Ausdruck mangelnder Arbeitsorganisation und solches Fehlverhalten kein Einzelfall im Kernkraftwerk war. Die zuständige Reaktoroperateurin gab in einer Stasi-Befragung später zu ihren ungenauen Reparaturanweisungen die ebenso bezeichnende wie verstörende Auskunft: »Wir hatten beim Blockanfahren Verzug und es sollte schnellgehen.«41 Auch ihr gerade einmal 24-jähriger Vorgesetzter bestätigte den großen Arbeitsdruck als Grund für das schlampige Arbeiten und begründete bei seiner StasiBefragung seine Kontrollpflichtverletzung mit Überlastung: »weil viel Arbeit im Zusammenhang mit dem Reaktor und Versuchen anlagen«. [sic!]42 Es folgten typische Empfehlungen der Geheimpolizei: die Verbesserung der politischen Arbeit im Kernkraftwerk; die Erhöhung von Ordnung, Disziplin und Sicherheit sowie eine strengere Leitung gegenüber dem Betrieb und im Kernkraftwerk selbst. Bezeichnend war, dass die Stasi zur Effektivität ihrer eigenen zurückliegenden Arbeit eingestand: »Ausgehend von der gegenwärtigen Lage und Situation im

39  Vgl. Information über ein besonderes Vorkommnis im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« v. 28.8.1976; BStU, MfS, BV Rostock, Allg. P. 405/78, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie). Ebenso BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 64, Bl. 30–33, hier 32. 40  Fernschreiben v. 31.8.1976; BStU, MfS, BV Rostock, Allg. P. 405/78, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie). 41  Befragungsprotokoll der K., K. v. 1.9.1976; ebenda, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie). 42  Befragungsprotokoll des K., V. v. 2.9.1976; ebenda, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie).

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KKW ›Bruno Leuschner‹ muss eingeschätzt werden, dass in verschiedenen Fällen keine Auswirkungen der gegebenen Informationen zu verzeichnen waren.«43 Auch sonst blieb die Wirksamkeit der Stasi begrenzt. So hieß es selbst mehrere Jahre nach dem Kabelbrand vom Dezember 1975 in einem Bericht des ostdeutschen Strahlenschutzamtes vom März 1980: Die Blöcke 1 bis 4 des KKW Nord gehören zu der Gruppe von KKW, die in einer Zeit entworfen und gebaut wurden, in der man die Notwendigkeit eines gut organisierten Brandschutzes in KKW noch nicht in vollem Maße erkannt hatte. Aus diesem Grunde ist in diesen KKW der Brandschutz nicht nur zu kurz gekommen, sondern es fanden aus heutiger Sicht auch falsche Konstruktionsprinzipien Anwendung. […] In einigen Bereichen bestehen zurzeit immer noch signifikante Unterschiede zwischen der Praxis in der DDR und den internationalen Forderungen.44

Die bleibenden Mängel an der nuklearen Anlage dürfen jedoch den Blick darauf nicht verstellen, dass das Kombinat Kernkraftwerke gemeinsam mit der Feuerwehr, dem Staatlichen Amt für Technische Überwachung und auch der Staatssicherheit Bemühungen für einen besseren Brandschutz unternahmen. Am Reaktor 2 gehörten dazu bis Mitte der 1980er-Jahre die getrennte Verlegung von Kabeln, die Mehrfachauslegung von Kabeln für Steuereinrichtungen, der Einbau einer Sprinkleranlage sowie Abschottungen von Wanddurchführungen. Unter dem Eindruck begrenzter Möglichkeiten sowie ihrer Nachprojektierung waren diese Bemühungen jedoch nur mehr oder weniger erfolgreich und trugen mitunter improvisierenden Charakter.45

43  Vgl. Einschätzung der Ursachen einer Gefährdung des VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald am 26.8.1976 und weiterer Vorkommnisse in diesem Betrieb v. 3.9.1976; BStU, MfS, BV Rostock, Allg. P. 405/78, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Bericht über die Ursachen einer Gefährdung im Druckraumsystem des 1. Kreislaufes des Blockes 2 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« am 26.8.1976 und weiterer Vorkommnisse seit dem 7.12.1975 in diesem Betrieb v. 7.9.1976; ebenda; Zit.: Auswertung der bisherigen Informationstätigkeit zu Fragen der Leitungstätigkeit und zu Problemen des Stör- und Havariegeschehens im KKW »Bruno Leuschner« v. 1.9.1976; ebenda; Information über bisherige Ergebnisse der Untersuchung der Ursachen einer Betriebsgefährdung und über weitere Vorkommnisse im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« v. 15.9.1976; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 2624, Bl. 67–79. 44  Staatliches Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (Hg.): Gewährleistung des Brandschutzes in den KKW der DDR, März 1980; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13700, Bl. 166–190, hier 187 f. 45  Vgl. Abschlussbericht zur Durchführung von Kontrollmaßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung von Bränden in KKW-Kabelanlagen v. 4.6.1984; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 202, T. II, Bl. 364–369.

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Abb. 25 u. 26: Durch das Verschmieren der Wanddurchführungen mit Gips (Bild li.) sollte ein höherer Brandschutz im Kabelkeller des Maschinenhauses erreicht werden. Rechts die ursprüngliche Abschottung mittels Kamalitwolle und Glagitplatten

Abb. 27: Improvisation als Brandschutz im Kernkraftwerk: Das Notstromkabel für den Reaktor 2 wurde Mitte der 1980er-Jahre mit einem Gipsmantel versehen und in einem mit Sand befüllten Stahlblech von den übrigen Kabeln getrennt.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

4.5 Verwerfungen in den 1970er-Jahren Die Arbeiten an der Ausbaustufe Nord II begannen unterdessen 1972 und sollten bis 1978 abgeschlossen sein. Rasch zeichnete sich ab, dass die Pläne überzogen waren. Die Sowjetunion sagte die Lieferung der Reaktordruckgefäße 3 und 4 erst für 1976 bzw. 1977 zu, das war ein Jahr später als geplant. Dramatisch berichtete die Stasi der Greifswalder SED-Führung zu den sowjetischen Schwierigkeiten im Frühjahr 1975: Trotz großer eigener Probleme haben sich die sowjetischen Vertragspartner immer bemüht, dafür zu sorgen, dass die Ausrüstungslieferungen noch so zeitig auf der Großbaustelle eintrafen, dass die Staatsplantermine gehalten […] werden konnten. Gegenwärtig ist jedoch der Zustand eingetreten, dass die Ausrüstungen für die Hauptanlagen für KKW Nord II gegenüber den bisherigen Vertragsterminen um sieben bis zwölf Monate später eintreffen werden […].46

Die Lieferung der Reaktordruckgefäße verschob sich noch mehrmals nach hinten. Wegen einer von der Sowjetunion ebenfalls zu spät gelieferten Umlademaschine wurde improvisiert und die Brennstoffkassetten im September 1977 mittels eines Kranes in den Reaktor 3 eingesetzt. Tatsächlich gingen die Greifswalder Reaktoren 3 und 4 im Mai 1978 und im Oktober 1979 ans Netz – letzterer zum 30. Jahrestag der DDR. Mehr als 10 Prozent der ostdeutschen Stromproduktion lieferte die Kernenergie von der Ostsee seitdem. Angesichts solcher Fakten gibt es Anhaltspunkte, das Ende der 1970er-Jahre als »die ›beste Zeit‹ der Kernenergiewirtschaft in der DDR« zu bezeichnen.47 Bis Anfang der 1980er-Jahre bescheinigten auch westdeutsche Beobachter der DDR-Kernenergiewirtschaft im internationalen Vergleich einen »relativ hohen Stellenwert«.48 Mit kritischem Blick wird jedoch deutlich, dass auch diese »beste Zeit« voller unbewältigter Herausforderungen und unerfüllter Hoffnungen war. Während die Errichtungszeit der ersten beiden Reaktoren vergleichsweise kurz war und sich an den Plänen orientierte, betrug sie beim vierten Reaktor durch Verzögerungen 46  Vgl. Bericht über die Lage und Situation beim Investitionsvorhaben Kernkraftwerk Nord im Rahmen der sozialistischen Integration v. 19.3.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 300–311, hier 302. 47  Reichert: Kernenergiewirtschaft, S. 303. 48  Vgl. Information über die politische und ökonomische Lage und Situation im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« und auf der Großbaustelle der DSF des Kernkraftwerkes Nord v. 23.2.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 163–170, hier 168; Information über den Stand der Versorgungssicherheit mit Elektroenergie im VEB KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 24.8.1977; ebenda, Bl. 200–207, hier 204. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Energiepolitik, S. 39; Kahlert: Kernenergiepolitik, S. 42; Müller: Kernenergie, S. 199; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 59; Schönherr: Greifswald, S. 227 u. 236; Abele: Kernkraft, S. 45; Nagel: Atomingenieur, S. 79; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 121; Zit.: Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 67.

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schon beinahe sieben Jahre. Gründe dafür waren unter anderem neue sowjetische Richtlinien, ein überarbeitetes Sicherheitskonzept, aber auch der Abzug von Arbeitskräften von der Großbaustelle bei Greifswald zum Kohlekraftwerk Boxberg oder für den Bau einer sowjetischen Erdgastrasse. Solche Nachteile konnten nicht ausgeglichen werden, auch nicht durch neue Methoden wie der Stahlzellenverbundbauweise, die bei der Ausbaustufe Nord II erstmals zum Einsatz kam. Von aufwendigen Bewehrungs- und Schalungsarbeiten wurde die Baustelle entlastet, indem nun vorgefertigte Stahlzellen aus Blech und Bewehrungseisen verbaut wurden. Mit der neuen Bauweise verbunden waren Hoffnungen, 10 Prozent Stahl einzusparen, die Arbeitsproduktivität um mehr als 40 Prozent zu erhöhen und dadurch Arbeitskräfte einzusparen. Gleichzeitig blieb die Errichtung und der Betrieb der Reaktoren 1 bis 4 eine permanente Anstrengung mit fehlendem Fachpersonal, ausbleibendem Material und Ausrüstungen, geänderten Projektausführungen sowie auftretenden Schwachstellen und Mängeln. Dazu passte eine Äußerung des Abteilungsleiters für Reaktortechnik im Kernkraftwerk alias IM »Berg« gegenüber seinem Stasi-Offizier vom November 1976 zu einer vorausgegangenen SED-internen Information. Der stellvertretende Sekretär der SED-Betriebsparteiorganisation hätte hinter verschlossenen Türen verlauten lassen, »dass die sowjetische Seite die Ausrüstung […] in den Blöcken 1 bis 4 […] nicht verkaufen wollte, da sie noch keine absolute technische Perfektion nachweist. Die Blöcke sind nur auf Drängen der DDR-Seite von der sowjetischen Seite geliefert worden.«49 Und dazu passte das Aufbrausen des Greifswalder Hauptingenieurs in einer Beratung gegenüber den sowjetischen Fachleuten Mitte der 1970er-Jahre: »Ich habe immer gedacht, wir haben ein Kraftwerk von euch gekauft, das wir betreiben können und nicht instandsetzen müssen.«50 Und dazu passte auch, dass der Reaktor 3 kurz vor seiner Übernahme in den Dauerbetrieb ausfiel. Während des Probebetriebs zu Jahresbeginn 1978 wurden dort schwere Schäden an den Dampferzeugern (Spannungsrisskorrosion an den Kollektoren) entdeckt. Durch die Häufung von Störungen meinte die Geheimpolizei bereits Anfang des Jahres, das Kernkraftwerk werde die vorgegebene Stromproduktion 1978 nicht leisten können. Die Arbeiter und Angestellten empfanden den Betriebsalltag wegen der andauernden Zwischenfälle oftmals als Belastung. Im Hinblick auf fortlaufende Schäden an Pumpen, Turbinen, Dampferzeugern oder den Regelkassetten im Reaktor hieß es nur wenige Jahre nach der Inbetriebnahme: »Das Schlimmste ist jedoch, dass auch künftig nicht mit einem normalen Betriebsablauf gerechnet

49  Bericht zur Situation am Block 2 im KKW »B. Leuschner« v. 16.11.1976; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4530/91, T. II, Bd. 2, Bl. 20–22, hier 21. 50  Information über Äußerungen leitender Kader im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald zur sowjetischen Technik v. 13.10.1976; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 64, Bl. 34–36, hier 35.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

werden kann […], weil es kaum noch etwas an dem Kraftwerk gibt, was noch keinen Knacks hat.«51 Unplanmäßige Ereignisse (gesamt) Störungen Unplanmäßiger Arbeitsausfall (GWh) Brände Unfälle

1978 234 114 1 162,4 4 55

1979 272 145 1 058,6 5 43

1980 275 148 1 009,9 1 109

Tab. 7: Störungen im Kernkraftwerk Greifswald 1978–1980 laut Stasi.52 Die Zahlen für 1980 mit Stand von Ende November.

Narren außer Kontrolle Die Tätigkeit der Geheimpolizei im Kernkraftwerk beschränkte sich nicht nur auf typische Felder im Bereich der Wirtschaft. So rückte auch der 1971 gegründete »Faschingsclub Kernenergie Greifswald« in das Visier der Staatssicherheit. Dieser Umstand steht beispielhaft dafür, dass sich die Geheimpolizei mühte, die Arbeiter und Angestellten im Kernkraftwerkskombinat weit über die Betriebsgrenzen und die Arbeitszeit hinaus politisch zu überwachen und zu kontrollieren. Und dieses steht beispielhaft dafür, wie rasch die Stasi an die Grenzen ihrer vorgeblichen Allmacht geriet. Der Faschingsclub mit seinem Schlachtruf »Greif Helau« erfreute sich einer großen Beliebtheit. Als Schirmherr traten der Werkdirektor, später der Generaldirektor des Kombinates auf. Mitte der 1980er-Jahre stellte das Kernkraftwerk mehrere Zehntausend Mark aus seinem fast 7 Millionen Mark umfassenden Kultur- und Sozialfonds zur Finanzierung des Faschings im Greifswalder Kulturhaus zur Verfügung. Der Kernkraftwerks-Fasching bot über karnevalistischen Tanz und Unterhaltung hinaus Raum, unter dem freilich begrenzten Schutz der Narrenkappe Kritik an Politik, Wirtschaft und Gesell51  Vgl. Anlage zur Information vom 15.1.1978, Situation am Block 3 des KKW Nord, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 179; Information über die politische und ökonomische Lage und Situation im VEB KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 15.1.1978; ebenda, Bl. 181–184, hier 181; Information über die ökonomische Lage und Situation bei der Realisierung des Baues des Kernkraftwerkes Nord v. 1.6.1976; ebenda, Bl. 226–231; Information über Mängel an den Dampferzeugern des Blockes 3 des VEB Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« v. 27.3.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. 1, T. II, Bl. 279–282; Zit.: Information über Äußerungen leitender Kader im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald zur sowjetischen Technik v. 13.10.1976; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 64, Bl. 34–36, hier 36; Grundorganisation der SED der Großbaustelle der DSF KKW Nord (Hg.): Betriebsgeschichte, o. Pag. 52  Vgl. Information über das Stör- und Havariegeschehen 1980 im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 8.12.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 51–55, hier 52 f.

Verwerfungen in den 1970er-Jahren

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schaft zu formulieren. SED und FDJ wurden hier kurzerhand zu Luzifer und Mephisto umbenannt, der deutsch-sowjetische Freundschaftsgruß »Druschba – Freundschaft« zu »Furchtbar – Dröhnschaft« umgedeutet, wegen eingeführter Benzinlimits wünschten launige Beiträge Pferde herbei oder sie ließen das Essen der Betriebskantine hochleben. Zum Politikum wurde das närrische Treiben immer dann, wenn es die SEDFührung oder gar die Sowjetunion vermeintlich oder tatsächlich verulkte. Etwa wenn beim Western-Fasching von Indianern als den »Roten Brüdern« die Rede war oder wenn auf mutmaßlich ausschweifende sowjetische Trinksitten angespielt wurde. Wegen Letzterem berichtete im Frühjahr 1986 gar der Leiter der StasiBezirksverwaltung Rostock, Rudolf Mittag, an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock, Ernst Timm. Was im Greifswalder Kulturhaus SED-Mitglieder und Parteilose gemeinsam als harmlosen Faschingsscherz feierten, veranlasste den Rostocker Stasi-Chef zu folgendem politischen Rat: »Nach meiner Auffassung ist der gesamte Vorgang eine grobe politische Instinktlosigkeit. Darüber sollte in der Zentralen Parteileitung des VE Kombinates KKW ›Bruno Leuschner‹ eine gründliche Auseinandersetzung geführt werden.«53 Stein des Anstoßes waren Beschwerden sowjetischer Gäste darüber, dass während des Faschingsprogramms zwei Sowjetbürger mit den Namen »Promillowa« und »Destillow« als mit Orden schwer behangene Alkoholiker dargestellt wurden. Der Leiter der Inspektion des Kernkraftwerkes und OibE »Rainer« urteilte gegenüber der Objektdienststelle dazu später: »Es wird eingeschätzt, dass die Programmgestalter in der Ausgestaltung dieser Programmnummer doch zu viele eigene, teilweise politisch bzw. ideologisch unreife Aktivitäten einbauten und während der Programmausgestaltung nicht ausreichend kontrolliert wurden.«54 Der Stasi-Objektdienststelle blieb im Nachgang nur mehr die typische Kritik und Selbstkritik: Der SED-Einfluss innerhalb des Faschingsclubs sei trotz der sieben Genossen im Elferrat zu klein, es fehle eine effektive Kontrolle des Faschingsprogramms und – aus der Sicht der Stasi besonders bitter – die Durchsetzung des Elferrates mit ihren Informanten sei ungenügend.55 53  Information über ein Vorkommnis im Zusammenhang mit einer Faschingsveranstaltung im VE Kombinat KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 1.3.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 260, T. I, Bl. 56–58, hier 58; ebenso BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 171, T. III, Bl. 341–343, hier 343. 54  Information v. 27.2.1986; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 67, Bl. 52–54, hier 53 f.; Vereinbarung über die Durchführung der Betriebsfaschingsveranstaltungen 1986 v. 31.10.1985; ebenda, Bl. 32–36; Herbert Lafery: Aus der Gründerzeit des berühmten FCK-G v. 19.10.2000, http://fckg.de/start/index.php/de/verein/9-gruenderzeit, abgerufen am 22.02.2018; ders.: 1971 in Greifswald, o. D., http://fckg.de/start/index.php/de/verein/12-1971-in-greifswald, abgerufen am 22.02.2018. Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 91–99 u. 115 f.; Interview Regina Czerwinski. In: Quartiersbüro Schönwalde II (Hg.): 40 Jahre, S. 43–45. 55  Ergänzung zur Information (…) v. 6.3.1986; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 67, Bl. 84–88.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

4.6 Herausforderungen in den 1980er-Jahren Laut Beschluss des SED-Zentralkomitees vom Mai 1980 wurde zum 1. September 1980 das Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald gebildet. Als Generaldirektor wurde der bisherige Kraftwerksdirektor Richard Fischer eingesetzt. Zum Kombinat mit Stammbetrieb in Greifswald gehörten von nun an die Betriebsteile Kernkraftwerk Rheinsberg, die Baustelle zum Kernkraftwerk Stendal, das Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben, ein Forschungsbereich in Ost-Berlin und später das Institut für Energetik Leipzig und ein Forschungsbereich in Dresden. Alle künftigen DDR-Kernkraftwerke, beispielsweise ein in der Nähe von Dessau im Bezirk Halle geplantes, sollten ebenfalls dem Kernkraftwerkskombinat zugeordnet werden.56 Vor dem Hintergrund des störanfälligen Kernkraftwerkes, des schleppenden Fortgangs auf der Großbaustelle sowie einsetzenden Einsparungen und Kürzungen rief die Organisations- und Strukturveränderung unterschiedliche Reaktionen unter den Arbeitern und Angestellten hervor. So wusste die Stasi im Frühjahr 1981: »Die mit der Bildung des Kombinates […] entstandenen höheren Anforderungen an die Leitungstätigkeit konnten bisher noch nicht abgedeckt werden. […] In allen Kollektiven gibt es negative Stimmungen zu den eigenen und zentralen staatlichen Leitungen.«57 Offenbar war die Situation im Kernkraftwerk unmittelbar nach der Kombinatsbildung miserabel. Zum Jahresende 1980 verfehlten die Reaktoren 1 bis 4 dann die Produktionspläne. Gründe dafür waren eine steigende Anzahl von Störungen, nicht ausreichende Reparaturen, zunehmende Stillstandszeiten und Störungen beim Wiederanfahren der Reaktoren. Das ging Hand in Hand mit der Tendenz, beim Betrieb des Kernkraftwerkes zunehmend Kosten einzusparen. Durch Rekonstruktionsmaßnahmen sollten ein vorgesehener Austausch der Steuerungs- und Schutzantriebe der Regelkassetten in den Reaktoren verhindert und knapp 50 Millionen Mark eingespart werden, die Stillstandszeiten für Wartung und Reparaturen um mehr als 10 Prozent gekürzt werden, der Wirkungsgrad und die Brennstoffausnutzung deutlich erhöht sowie die Eigenleistungen des Kombinates auf 10 Millionen Mark mehr als verdreifacht werden.

56  Vgl. Konzeption zur politisch-operativen Sicherung des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 15.5.1981; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 203, Bd. 2, Bl. 218–235, hier 220. 57  Information über die Wirksamkeit der Kombinatsbildung v. 28.4.1981; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 2–4, hier 3.

Herausforderungen in den 1980er-Jahren

Abb. 28: Blick in den Reaktorsaal mit dem Reaktor unter einer Schutzhaube in den 1980er-Jahren. Der Reaktor produzierte eine Wärmeleistung von 1 375 MW, die über den Primärkreislauf abgeführt und in den Dampf­erzeugern auf den zweiten Kühlkreislauf mit angeschlossenen Turbinen und Generatoren übertragen wurde.

Abb. 29: Das Maschinenhaus mit den Turboaggregaten aus Turbine und strom­ erzeugendem Generator in den 1980er-Jahren. An jeden Reaktor waren zwei Aggregate mit einer Leistung von jeweils 220 MW angeschlossen. Etwas mehr als 7 % des produzierten Stroms verbrauchte das Kraftwerk selbst, z. B. für die riesigen Hauptumwälzpumpen. Der Wirkungsgrad betrug insgesamt knapp 30 %.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Abb. 30: Von der Dosimetriewarte erfolgte die Strahlenschutzüberwachung des Kernkraftwerkes.

Abb. 31: Von der Blockwarte wurde der Kraftwerksbetrieb überwacht und gesteuert.

Herausforderungen in den 1980er-Jahren

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Abb. 32: Montagearbeiten zu den Blockwarten der Ausbaustufen Nord I und Nord II. Von hier wurde der Kraftwerksbetrieb später überwacht und gesteuert.

Abb. 33: Über den Einlaufkanal mit Einlaufbauwerk durchfloss das Kühlwasser aus der Peene-Mündung die Turbinenkondensatoren und strömte um 10 °C erhitzt über den Auslaufkanal in den Greifswalder Bodden. Erhöhungen der Wassertemperatur und Nährstoffeintrag aus der Peene-Mündung beeinflussten das Gewässer des Greifswalder Boddens. Zwischenzeitlich nutzte man das erwärmte Wasser dieses dritten Kühlkreislaufes zur industriellen Fischzucht.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Abb. 34: Der Eingangsbereich des Kernkraftwerkes Greifswald mit dem Verwaltungsgebäude und den Reaktorgebäuden der Ausbaustufen Nord I und Nord II. Im Vordergrund der Bahnhof der Betriebsbahn zwischen Greifswald und Kraftwerk

Abb. 35: Blick über das Betriebsgelände. Im Hintergrund die beiden Doppelblöcke der Ausbaustufen Nord I und Nord II samt Abluftkaminen. Im Vordergrund das Reaktorgebäude von Nord III nach einem neueren Typenprojekt im Bauzustand. Bis zuletzt lagen hier Kernkraftwerk und Großbaustelle dicht nebeneinander.

Herausforderungen in den 1980er-Jahren

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Typisch für die ostdeutsche Wirtschaft waren Pläne, im Kernkraftwerk Energieträger wie Heizöl und Braunkohlebriketts in hohen Größenordnungen einzusparen. Anfang 1981 ging das so weit, dass alle Dienstreisen vom betrieblichen Fuhrpark auf den Schienenweg verlegt wurden. Das wiederum machte die Dienstreisenden des Kernkraftwerkes, die in der Branche einer vermeintlichen Zukunftstechnologie arbeiteten, mit den Niederungen der ostdeutschen Eisenbahn vertraut. Dort wurden sie mit überfüllten, schmutzigen, ungeheizten und unpünktlichen Personenzügen konfrontiert. Gespart werden musste im Kernkraftwerkskombinat Anfang der 1980er-Jahre auch, weil Lieferungen sowjetischer Arbeitshilfsmittel ausfielen. Das begann mit ausbleibenden Atemschutzmasken für den aktiven Teil des Kraftwerkes, den sogenannten »Lepestok«. Die Sowjetunion sah sich außerstande, den vereinbarten Liefervertrag zu erfüllen. Im Frühjahr 1980 erhielten die Arbeiter im Kernkraftwerk darum nicht mehr täglich, sondern nur noch wöchentlich eine der Einweg-Atemschutzmasken. Die Verhandlungen mit der Bundesrepublik zum Import eines Ersatzproduktes liefen noch, die DDR selbst verfügte über keine Fertigungsmöglichkeiten. Als Kostenfalle erwies sich derweil der gewählte Kraftwerksstandort an der Ostsee. Das salzhaltige Brackwasser des Greifswalder Boddens verursachte enorme Schäden an Rohrleitungen und Anlagen; alleine deren Eindämmung verursachte Millionenkosten.58 Nur zwei Jahre nach Bildung des Kombinates berief der Minister für Kohle und Energie, Wolfgang Mitzinger, im November 1982 dann fast das gesamte Führungspersonal samt Generaldirektor, Hauptingenieur, Produktionsdirektor und Leiter der Hauptinspektion für Arbeits-, Produktions- und Atomsicherheit ab. Nachfolger von Fischer wurde zum 24. November 1982 Reiner Lehmann (bis dahin Direktor des Energiekombinates in Ost-Berlin). Noch im Sommer 1982 war Lehmann in die Kader-Nomenklatur des DDR-Ministerrates aufgenommen worden. Hier sollte er zum Stellvertreter des Ministers für Kohle und Energie aufgebaut werden. Stellvertreter von Lehmann und damit verantwortlich für die Stromproduktion in Greifswald wurde Wolfgang Brune. Brune war zuvor bereits als Reaktoroperator sowie Direktor des Kernkraftwerkes Rheinsberg tätig. 58  Vgl. Information über das Stör- und Havariegeschehen 1980 im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 8.12.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 51–55 sowie Information über derzeitige Mängel und Missstände bei der Vorbereitung und Durchführung von General­ instandhaltungen im Stammbetrieb Greifswald des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« v. 17.11.1980; ebenda, Bl. 56–60; Information über einige politische Diskussionen im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 11.2.1981; ebenda, Bl. 15–17, hier 16 f.; Aktenvermerk Treff mit dem IME »Erich« am 15.4.1983 v. 15.4.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/667/84, T. II, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Auszüge aus der Intensivierungskonzeption 1981–1985 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« v. 30.10.1981. In: Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 59–82, hier 68–73 sowie Auszüge aus der Führungskonzeption des Generaldirektors des Kombinates Kernkraftwerke »B. Leuschner« für das Jahr 1982 v. 30.3.1982. In: Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 83–95, hier 85 f. u. 91; Schönherr: Greifswald, S. 295.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Auslöser für den einschneidenden Personalwechsel samt Strukturumbau waren schwere Defekte an den Dampferzeugern des Reaktors 1.59 Als Verbindung des ersten mit dem zweiten Kreislauf sollten die Dampferzeuger gleichzeitig als nukleare Barriere wirken. In ihnen durchströmte das erhitzte Wasser des ersten Kreislaufes Tausende Röhren, auf deren Gegenseite im zweiten Kreislauf sauberer Wasserdampf entstand. Dieser von radioaktiven Teilchen freie Wasserdampf trieb das stromerzeugende Turboaggregat aus Turbine und Generator an. Nach einer längeren Generalinstandhaltung des Reaktors 1 im Sommer 1982 stellte man bei seiner Wiederinbetriebnahme Anfang September eine erhöhte Radioaktivität im zweiten Kreislauf fest, die über dem 15-Fachen des zulässigen Wertes lag. Der Reaktor musste umgehend abgefahren werden. Als Ursache des nuklearen Störfalls machte man mehr als 100 undichte Dampferzeuger-Rohre aus. Laut dem Kernkraftwerk-Kritiker Sebastian Pflugbeil hätte der gleichzeitige Bruch vierer solcher Rohre zu einem unbeherrschbaren nuklearen Störfall geführt. Mehrere hochrangige Kommissionen ostdeutscher und sowjetischer Fachleute erarbeiteten ein klares Schadensbild samt Ursachen und Auswirkungen: Kupferund Chloridanteile im zweiten Kreislauf bildeten an den Dampferzeuger-Rohren starke Schmutzablagerungen, das geschah über Jahre hinweg und wurde durch Nichtbeachten der chemischen Zusammensetzung des Kühlwassers noch befördert. Durch das Vorhandensein von Sauerstoff während der Stillstände kam es an den Dampferzeuger-Rohren zu Korrosion (Lochfraßkorrosion). Unter dem hohen Druck und der großen Wärme im Leistungsbetrieb wuchs sich die Korrosion aus (Spannungsrisskorrosion). Damit war die nukleare Barriere zwischen dem ersten und dem zweiten Kreislauf undicht und Radioaktivität wanderte vom ersten in den zweiten Kreislauf des Kraftwerkes über. Deutlich unterschieden sich die ostdeutschen und sowjetischen Fachleute in der Bewertung der Schadensursachen. Die ostdeutsche Seite verwies auf das Nichteinhalten von Betriebsvorschriften und Fehler darin, die störanfällige sowjetische Anlage und fehlende Messtechnik zur Schadenserkennung. Dagegen hob die sowjetische Seite Fehler des ostdeutschen Kraftwerkspersonals hervor. Hinter vorgehaltener Hand hieß es im Kernkraftwerk, die sowjetische Seite meine, »dass die Leitung im KKW Lubmin die schlechteste aller bestehenden KKW ist«.60 Selbst der sowjetische Botschafter schrieb an den SED-Partei- und

59  Vgl. Auskunftsbericht zum Kadervorschlag GVS »B-persönlich« v. 13.4.1987; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 183, Bl. 6–9; Niederschrift über ein Gespräch mit dem Genossen Dr. Lehmann am 20.7.1982, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, ZMA, Nr. 9, Bl. 93 f. Vgl. Berufung, o. D.; ebenda, Bl. 104; Abberufung v. 23.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/667/84, T. I, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Müller: Kernenergie, S. 144–146 u. 196 f.; Stude: Rheinsberg, S. 15; Schönherr: Greifswald, S. 236 f. u. 241; Gesamtdeutsches Institut (Hg.): Energiewirtschaft, S. 91; Abele: Kernkraft, S. 15 u. 75–77; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 62 f. 60  Bericht v. 2.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1245/83, Bd. 1, Bl. 81.

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Abb. 36: Das Modellfoto zeigt den Dampferzeuger, von dem 6 Stück am Reaktor 1 verbaut waren. Mithilfe von mehr als 5 000 Röhren sollte das Wasser des ersten Kreislaufes in sauberen Wasserdampf des zweiten Kreislaufes umgewandelt werden.

Abb. 37: Blick in das Innere eines Dampferzeugers. Die Rohrbündel bildeten die nukleare Barriere zwischen dem ersten und dem zweiten Kreislauf.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Abb. 38: Detailaufnahme der Röhren mit Schadstoffbelägen. Diese bauten sich wegen der ungünstigen chemischen Zusammensetzung des Kühlwassers und dem Eindringen von Sauerstoff in die Dampferzeuger über Jahre auf.

Abb. 39: Die mikroskopische Aufnahme zeigt Lochfraß- und Spannungsrisskorrosion, die die Rohre in den Dampferzeugern und damit die nukleare Barriere beschädigten.

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DDR-Staatschef Erich Honecker als Reaktion auf die Untersuchungsergebnisse: »[…] betreffen die Empfehlungen der sowjetischen Experten nicht nur die wasserchemische Fahrweise der Dampferzeuger, […] sondern auch Probleme der Verbesserung der Leitung der Produktion und der Erhöhung der Betriebskultur im gesamten KKW«.61 Das Betonen der Verantwortung des jeweils anderen für den entstandenen Schaden hatte politische und wirtschaftliche Gründe. Die Stasi kam zu dem salomonischen und in der Sache wohl zutreffendem Urteil: »[…], dass objektive Ursachen durch Mängel in der Leitungstätigkeit begünstigt wurden und es damit zu hohen materiellen Schäden kam«.62 Der Schadensmechanismus begrenzte sich dabei nicht nur auf einen Reaktor, sondern betraf prinzipiell alle Greifswalder Reaktoren. Bezeichnend war, dass das Ausmaß und die Konsequenz der Schäden die verantwortlichen Fachleute im Kombinat Kernkraftwerke derart überraschten. Auch wegen ostdeutscher Abschottungstendenzen hatte man offensichtlich internationale Erkenntnisse verschlafen, wonach die Dampferzeuger in Kernkraftwerken weltweit ein technologisches Problem darstellten. Das begann schon mit dem schweren Zugang zu Fachliteratur aus der Bundesrepublik, die in einer Bibliothek des Kernkraftwerkes zwar vorhanden, aber nicht frei zugänglich war.63 61  Niederschrift v. 3.11.1982; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19777, Bl. 211–215, hier 214. 62  Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 11. 63  Vgl. Pflugbeil: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 8; S. Köhler: Korrosionsprobleme im Sekundärkreislauf des WWER-440. In: Kernenergie (1990) 4, S. 161–165. Ausführlich Schönherr: Greifswald, S. 258–263 sowie Abschlussbericht der überbetrieblichen Untersuchungskommission zu den Schäden an Nadelrohren von Dampferzeugern des Blockes 1 KKW »Bruno Leuschner« v. 24.9.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1245/83, Bd. 1, Bl. 194–208; Bericht über die Ergebnisse der Arbeiten an den Dampferzeugern des Blockes 1 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 22.10.1982 (Abschrift); ebenda, Bl. 209–219; Protokoll zu den Untersuchungen und zu den weiteren Arbeiten an den Dampferzeugern des Blockes 1 KKW »Bruno Leuschner«, o. D. (Oktober 1982); ebenda, Bl. 221–230; Information über eine Störung am Block 1 im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Stammbetrieb Greifswald v. 14.9.1982; ebenda, Bl. 273 f.; Bericht des Ministers für Kohle und Energie über die Ursachen für die Verstöße gegen die Anlagensicherheit im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« und Maßnahmen zur Gewährleistung der vollen Anlagensicherheit sowie zur Inbetriebnahme des Blockes 1, Anlage zur Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED v. 5.11.1982; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20002, Bl. 51–60; Protokoll über die Untersuchung der Schäden an den Dampferzeugern des Blockes 1 des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« und über die notwendigen Maßnahmen zur Gewährleistung des weiteren sicheren Betriebes des Blockes, Anlage zur Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED v. 5.11.1982; ebenda, Bl. 61–75; Gutachten über technische Ursachen des Schadens an den Dampferzeugerrohren des Blockes 1 des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« v. 22.12.1982; BStU, MfS, HA IX, Nr. 16800, Bl. 54–62; Vernehmungsprotokoll des Zeugen Rockstroh, Bernd v. 16.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 2, Bl. 181–186 sowie Befragungsprotokoll S., A. v. 3.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/2228/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Befragungsprotokoll des Verdächtigen S., A. v. 2.12.1982; ebenda; Befragungsprotokoll Schreiter, Wolfdietrich v. 25.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/667/84, T. I, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Befragungsprotokoll Glasner, Peter v. 8.12.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4686/91, T. I, Bd. 1, Bl. 114–129.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Auf die ohnehin schwächelnde ostdeutsche Energiewirtschaft schlug der Ausfall des Greifswalder 440-Megawatt-Reaktors voll durch. Die Stasi ging davon aus, dass sich der Fehlbedarf an Elektroenergie im Winterhalbjahr 1982/83 DDR-weit nun auf insgesamt 610 Megawatt erhöhte. Die Geheimpolizei schlussfolgerte: »Für eine stabile Elektroenergieversorgung im Winter 1982/83 bestehen trotz erzielter Fortschritte noch erhebliche Unsicherheit und Gefahren.«64 Der Ausfall der eigenen Stromproduktion zwang den ostdeutschen Staat zu teuren Energieimporten aus dem Westen. Bis zur Wiederinbetriebnahme des Reaktors 1 am 20. Dezember 1982 entstand in Greifswald laut Stasi-Angaben alleine ein Produktionsausfall in Höhe von 65 Millionen Mark. Verschiedene Vorlagen für das SED-Politbüro erwarteten sogar Ausfälle von deutlich mehr als 100 Millionen Mark. Hinzu kam die Ungewissheit, ob und zu welchen Kosten der Reaktor 1 wieder in Betrieb gehen könne bzw. ob weitere Greifswalder Reaktoren abgeschaltet werden müssten. Für den Reparatur-Stillstand des Reaktors 1 im folgenden Jahr ging man staatlicherseits von über 83 Millionen Mark Produktionsausfall aus, für den Fall eines notwendigen Dampferzeuger-Austauschs veranschlagte man Importe aus der Sowjetunion in Höhe von 18 Millionen Rubel. Ein Stasi-Offizier der Objektdienststelle Kernkraftwerk bezifferte den Gesamtschaden der defekten Dampferzeuger am Reaktor 1 Anfang 1983 sogar auf eine knappe Viertelmilliarde Mark. Das Ausmaß des nuklearen Störfalls rief Anfang November 1982 auch das SED-Politbüro und den DDR-Ministerrat auf den Plan. Im Hintergrund nahm sich derweil die Staatssicherheit der Sache an.65

64  Information Nr. 588/82 über einige Probleme im Zusammenhang mit der Sicherung der Energieversorgung im Winterhalbjahr 1982/83 v. 15.11.1982; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 3249, Bl. 1–11. 65  Abschlussbericht zum OV »Chlorid« v. 31.3.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1245/83, Bd. 1, Bl. 163–173, hier 163; Bericht über die bisherigen Untersuchungsergebnisse des am 15.11.1982 eingeleiteten Ermittlungsverfahrens (…) v. 14.12.1982; ebenda, Bl. 308–323; Bericht des Ministers für Kohle und Energie über die Ursachen für die Verstöße gegen die Anlagensicherheit im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« und Maßnahmen zur Gewährleistung der vollen Anlagensicherheit sowie zur Inbetriebnahme des Blockes 1, Anlage zur Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED v. 5.11.1982; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20002, Bl. 51–60; Bericht der Arbeitsgruppe der Abteilung Grundstoffindustrie des ZK der SED zur Verantwortung der staatlichen Leitung und der Wirksamkeit der Parteiorganisation zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner«, Anlage zur Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED v. 5.11.1982; ebenda, Bl. 84–106; Hess: Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 21; Alexander Schönherr nennt eine Verringerung der Verfügbarkeit des Reaktors 1 um 28 %. Vgl. Schönherr: Greifswald, S. 243.

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Der Operative Vorgang »Chlorid« Unmittelbar bevor die SED-Führung und die DDR-Regierung den nuklearen Störfall behandelten, legte die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk dazu den operativen Vorgang »Chlorid« an. Die Stasi ermittelte zunächst gegen zwei leitende Angestellte – den Hauptingenieur und den Abteilungsleiter Chemie – wegen des Verdachts der fahrlässigen Schädigung der Wirtschaft. Nach der Behandlung des nuklearen Störfalls durch das SED-Politbüro erteilte StasiMinister Erich Mielke Mitte November 1982 persönlich den Auftrag zu einer tiefgründigen Untersuchung der Situation im Kombinat. Daraufhin wurde eine 14-köpfige (!) Arbeitsgruppe aus Offizieren der Stasi-Objektdienststelle sowie der Abteilungen XVIII (Volkswirtschaft) und IX (Untersuchungsorgan) der StasiBezirksverwaltung Rostock gebildet. Deren Aufgabe war, gemeinsam mit der Ost-Berliner Stasi-Zentrale den nuklearen Störfall aufzuarbeiten, den künftigen Kraftwerksbetrieb sicherzustellen, aber auch die zurückliegende Tätigkeit der Staatssicherheit im Kernkraftwerk auf den Prüfstein zu stellen. Das machte deutlich: Dass die Stasi die langjährige Schadensentwicklung an den Dampferzeugern bis zum nuklearen Störfall im September 1982 weder hatte erkennen noch verhindern können, war eine schwere Niederlage für die Geheimpolizei. Die schickte sich nunmehr an, innerhalb des Kernkraftwerkes einen »Feind« als den Schuldigen auszumachen. Sie dehnte ihre Untersuchung auf zehn (!) leitende Angestellte des Kernkraftwerkskombinates aus. Unter ihnen befanden sich neben dem Generaldirektor auch der Produktionsdirektor sowie der Leiter der Hauptinspektion für Arbeits-, Produktions- und Atomsicherheit. Die Geheimpolizei leitete jetzt zudem ein formales strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen »Unbekannt« ein.66 Nach fünfmonatigen Ermittlungen samt Befragungen, Verhören, geheimen Abhörmaßnahmen und dem Einsatz inoffizieller Mitarbeiter kam die StasiObjektdienststelle im Frühjahr 1983 zu keinem eindeutigen Ergebnis. Im Rahmen des operativen Vorgangs »Chlorid« gelang ihr der Nachweis strafrechtlich relevanter Schädigungen der Wirtschaft oder »feindlicher Aktivitäten« nicht. Sie kam jedoch auch nicht umhin, folgenschwere Versäumnisse, Fehler und Pflichtverletzungen sowie Unzulänglichkeiten in der Leitungsstruktur und der Arbeitsorganisation im Kernkraftwerk festzustellen. Die Stasi berichtete über eine »ständige 66  Vgl. Eröffnungsbericht zum OV »Chlorid« v. 2.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1245/83, Bd. 1, Bl. 5–8; Operativplan zum OV »Chlorid« v. 1.11.1982; ebenda, Bl. 9–12; Maßnahmeplan v. 12.11.1982; ebenda, Bl. 17–20; Zwischenbericht zum OV »Chlorid« v. 13.12.1982; ebenda, Bl. 22–30; Erstmeldung EV-MfS v. 16.11.1982; ebenda, Bl. 43–45; Information über die bisherigen Untersuchungsergebnisse zur Ursache und den Umständen des Ausfalls des 440-kW-Blockes 1 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 18.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 37, Bd. 2, Bl. 33–37; Bericht v. 23.12.1982; BStU, MfS, HA IX, Nr. 16800, Bl. 35–39.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Verletzung sozialistischer Leitungsprinzipien« und eine »Gewöhnung an Verstöße«. Als besonders brisant trat zutage, dass Fachleute und der Hauptkonstrukteur aus der Sowjetunion bereits 1976 besorgt auf die schadhaften Ablagerungen in den Greifswalder Dampferzeugern hingewiesen hatten. Selbst die eigenen Technischen Jahresberichte erwähnten Hinweise auf die Schäden. Aber im Kernkraftwerkskombinat folgte offenbar keine Reaktion darauf. Hinzu kam ein jahrelanger Ausfall von Messtechnik zur Überwachung der Wasserchemie in den Dampf­ erzeugern. Der Generaldirektor, der Hauptingenieur, der Produktionsleiter sowie der Leiter der Hauptinspektion für Arbeits-, Produktions- und Atomsicherheit des Greifswalder Stammbetriebes waren unterdessen auf eine zentrale Entscheidung hin bereits Monate vor Abschluss des operativen Vorgangs ihrer Funktionen entbunden worden. Für das Handeln der Geheimpolizei im Zusammenhang mit dem nuklearen Störfall bleibt letztlich die Feststellung entscheidend: Ihre geheime Kritik am Leitungspersonal und an den Betriebsstrukturen im Kernkraftwerk war zugleich eine nicht beabsichtigte Selbstkritik. Die Stasi hatte auf ihrem ureigenen Tätigkeitsfeld – der Überwachung und Kontrolle des Personals zur Gewährleistung der nuklearen Sicherheit – über Jahre hinweg versagt und den nuklearen Störfall samt Millionenschaden nicht erkannt geschweige denn verhindert.67 Neben den personellen Konsequenzen in der Kombinatsleitung blieb der nukleare Störfall vom September 1982 auch innerhalb der SED nicht folgenlos. Die mittlerweile Geschassten erhielten zusätzlich zu ihren beruflichen Versetzungen als Parteistrafen »Rügen« und »strenge Rügen« ausgesprochen.68 Und die Geheimpolizei selbst verlor aufgrund der Personalveränderungen im Zuge des nuklearen Störfalls einen wichtigen Informanten. Denn bis dahin hatte sie mit dem Leiter der Hauptinspektion für Arbeits-, Produktions- und Atomsicherheit als IM »Erich« zusammengearbeitet. Über die ohnehin bestehende offizielle Zusammenarbeit hinausgehend berichtete »Erich« der Stasi seit Anfang der 1970erJahre zunächst als Direktor für Betriebssicherheit zu Personen und Sachfragen,

67  Abschlussbericht zum OV »Chlorid« v. 31.3.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1245/83, Bd. 1, Bl. 163–173; Schreiben v. 16.11.1976; ebenda, Bl. 191; Zit.: Bericht über die bisherigen Untersuchungsergebnisse des am 15.11.1982 eingeleiteten Ermittlungsverfahrens (…) v. 14.12.1982; ebenda, Bl. 308–323, hier 315; Beschluss v. 3.5.1983; ebenda, Bl. 184 sowie Information über die Ergebnisse der Untersuchung aus dem am 15.11.1982 wegen des außerplanmäßigen Stillstandes des Blockes 1 im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald (KKW) gegen – Unbekannt – eingeleiteten Ermittlungsverfahrens v. 22.12.1982; BStU, MfS, HA IX, Nr. 16800, Bl. 45–53; Information über die Auswertung der Untersuchungsergebnisse über die Ursachen, Umstände und Verantwortlichkeiten für den am 8.9.1982 erfolgten außerplanmäßigen Stillstand des Blockes 1 im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald, Stammbetrieb v. 7.4.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 259, T. II, Bl. 554–562; Befragungsprotokoll v. 4.11.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4659/91, T. I, Bd. 1, Bl. 60–65, hier 65. 68  Vgl. Aktennotiz v. 22.12.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1245/83, Bd. 1, Bl. 61.

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beteiligte sich aktiv an der Tätigkeit der Geheimpolizei im Kernkraftwerk, deckte und verschleierte sie.69 Die Stimmung der Arbeiter und Angestellten des Kernkraftwerkes erhielt einen weiteren Dämpfer. Nach dem nuklearen Störfall verlautete aus der Belegschaft: »Unter den Angehörigen der Schicht macht sich Resignation bemerkbar. […] Im Prinzip weiß keiner etwas Genaues.«70 Bis Mitte November 1982 spitzte sich die Stimmung weiter zu und es hieß: »Die Situation […] ist zur Zeit sehr bedrückend. […] Aus dem Stammbetrieb weiß keiner offiziell, wie es weitergeht.«71 Die Stasi musste aus dem Kernkraftwerk verständnislose Diskussionen darüber zur Kenntnis nehmen, dass die Gefahr eines solch schweren Schadens jahrelang unerkannt blieb. Für Gesprächsstoff sorgte auch die Absetzung des Generaldirektors, dem man staatlicherseits damit die Hauptschuld zuschob. Zudem regte sich Kritik an dem Zustand der Betriebsvorschriften, die durch zahlreiche Ausnahmegenehmigungen, Anweisungen und Änderungen zusehends unüberschaubar geworden waren. Dennoch standen die Arbeiter und Angestellten zu »ihrem« Kraftwerk. Aus den verschiedenen Arbeitsbereichen verlautete in diesem Sinne auch: »Es sind nicht nur die Genossen, die bereit sind mitzuhelfen, um diese schwierige Phase zu meistern.«72 Einsicht in das nukleare Risiko Zeit seines Bestehens bewarb das ostdeutsche Strahlenschutzamt gegenüber der DDR-Bevölkerung die nukleare Sicherheit der dortigen Kernkraftwerke. Unter anderem verwies das Strahlenschutzamt dafür auf das DDR-Atomenergiegesetz vom Frühjahr 1962, wo es hieß: »Bei der Anwendung der Atomenergie sind alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz von Leib und Gesundheit der in Kernforschung und Kerntechnik Beschäftigten sowie der Allgemeinheit zu treffen.«73 69  Vgl. Beschluss v. 20.3.1974; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/667/84, T. I, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Vorschlag zur Gewinnung eines IMS v. 20.3.1974; ebenda sowie Auskunftsbericht v. 8.8.1974; ebenda; Vorschlag zur Auszeichnung des IME »Erich« (…) mit der »Verdienstmedaille« der NVA in Bronze v. 31.5.1977; ebenda; Bestandsaufnahme IME »Erich« v. 27.9.1978; ebenda; Auskunftsbericht v. 18.11.1982; ebenda; Abschlussbericht zum IME »Erich« v. 12.1.1984; ebenda. 70  Bericht v. 16.9.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1245/83, Bd. 1, Bl. 64 f., hier 65. 71  Information v. 16.11.1982; ebenda, Bd. 1, Bl. 95. 72  Stimmungen, Probleme und Reaktionen zu den Ereignissen im Block I v. 11.11.1982; BStU, MfS, AIM I/411/83, T. II, Bd. 1, Bl. 32–34, hier 34. Vgl. Information über Stimmungen, Meinungen der Beschäftigten auf der Großbaustelle der DSF sowie im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« zu einigen Problemen der Ordnung, Sicherheit und Disziplin und zu den Fragen der Fernwärmeauskopplung v. 24.1.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 259, T. II, Bl. 545–548, hier 546. 73  Zit. nach: Georg Sitzlack, H. Scheel: Atomsicherheit und Strahlenschutz in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Kernenergie (1976) 5, S. 152–155, hier 152.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Jenseits solch nüchterner Gesetzestexte verlautbarte vom Strahlenschutzamt Mitte der 1970er-Jahre in den Farben der SED-Sprache: »Atomsicherheit und Strahlenschutz bilden einen wesentlichen Bestandteil der von Partei- und Staatsführung konsequent verfolgten Politik, mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie einen Beitrag zu Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der ganzen Welt zu leisten.«74 Und Ende der 1970er-Jahre war in einem DDR-Nachschlagewerk zu lesen: »Sicherheit und Strahlenschutz sind bei Kernkraftwerken von Anfang an oberstes Gebot.« Die von der Internationalen Atomenergieorganisation vorgegebenen Strahlenschutzwerte würden von den ostdeutschen Kraftwerken demnach deutlich unterboten, und für die nukleare Sicherheit würden beinah Dreiviertel ihrer veranschlagten Errichtungskosten eingesetzt.75 Klar ist, dass die SED-Führung ähnlich wie Politiker anderer Länder mit einer Kernenergiewirtschaft die Bedeutung der nuklearen Sicherheit zunehmend erkannte. Die Gründe dafür waren zurückliegende Störfälle in den Kernkraftwerken Calder Hall im englischen Sellafield 1957, im US-amerikanischen Harrisburg, als es im dortigen Kernkraftwerk Three Mile Island am 28. März 1979 zu einer Kernschmelze kam, und zuletzt der Super-GAU im sowjetischen Tschernobyl am 26. April 1986. Hinzu kamen eigene Betriebserfahrungen und Störfälle im Greifswalder Kernkraftwerk wie die zerstörten Brennstoffkassetten im Frühjahr 1975, der Kabelbrand vom Dezember 1975, die nukleare Gefährdung bei Reparaturarbeiten 1976 oder die im September 1982 erkannten Schäden an den Dampferzeugern. Staatlicherseits schenkte man der nuklearen Sicherheit nun deutlich größere Bedeutung als noch Anfang der 1970er-Jahre – freilich geschah das hinter verschlossenen Türen und ohne die Bevölkerung über das bestehende Risiko aufzuklären. Von der Inbetriebnahme des ersten Reaktors im Dezember 1973 bis zur Stilllegung des Kernkraftwerkes am Greifswalder Bodden im Dezember 1990 galt hinsichtlich der nuklearen Sicherheit folgende Stasi-Einschätzung aus den 1970er-Jahren: »Unter Berücksichtigung des Geheimnisschutzes wurden die Vorkommnisse nur in einem begrenzten und dafür zuständigen Kreis ausgewertet.«76 Sämtliche Fragen rund um die nukleare Sicherheit und Störfälle blieben in der DDR Geheimsache. Als ideologisches Totschlagargument galt wenigstens bis zum Super-GAU in Tschernobyl, Kritik an der sowjetischen Technik werde schon alleine aus politischen Gründen nicht geübt. Dabei hat es unterhalb der nuklearen Schwelle eine Vielzahl von Störfällen gegeben, über die die Stasi regelmäßig berichtete.77 74  Vgl. ebenda, S. 155. 75  Stichwort »Kernenergie«. In: Ökonomisches Lexikon, S. 207 f., Zit. 207. 76  Vgl. Information über das Störgeschehen sowie den Strahlen-, Gesundheits-, Arbeits- und Brandschutz im VEB KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 24.1.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. II, Bl. 313–317, hier 315. 77  In diesem Sinne meinte der damalige Hauptingenieur des Kombinates Kernkraftwerke im November 1982 nach einem schweren nuklearen Störfall in einer Befragung gegenüber

Herausforderungen in den 1980er-Jahren

Rapportpflichtige Störungen Verstöße gegen den Brandschutz Arbeitsunfälle Außergewöhnliches Ereignis (Stufe 2) Verstöße gegen den Strahlenschutz Diebstahl sozialistischen Eigentums Anzahl der Fehlschichten

I. Quartal 1988 (insgesamt 466) 4 86 39 1 4 1 68

127 I. Quartal 1989 (insgesamt 672) 6 108 46 4 17 4 216

Tab. 8: Abweichungen von Normen und Regeln« im Kernkraftwerk Greifswald laut Stasi, erste Quartale 1988 und 1989 (Auswahl)78

Spätestens in der Folge des schweren Störfalls im US-amerikanischen Three Mile Island vom Frühjahr 1979 ging man im Kernkraftwerk bei Greifswald erstmals daran, die Möglichkeit und die Folgen eines »größten anzunehmenden Unfalls« (GAU) zu betrachten: Größere Leckagen im ersten Kreislauf nahe dem Reaktor beispielsweise an den Hauptumwälzleitungen berücksichtigte das technische Projekt des Kraftwerkes nicht – das hieß, dass das Kernkraftwerk einen solchen Störfall nicht beherrschte. Die ostdeutschen Fachleute gingen in ihren Untersuchungen nun davon aus, dass im Ernstfall innerhalb kürzester Zeit große Mengen an Radioaktivität freigesetzt und die Brennstoffkassetten im Reaktordruckgefäß schmelzen würden. Im Umfeld von bis zu 6 Kilometern bestünden je nach Windrichtung und -stärke kaum Überlebenschancen, noch in 50 Kilometer Entfernung käme es zu deutlichen Strahlenbelastungen. Von der Operativgruppe »KKW Nord« der Stasi-Kreisdienststelle Greifswald hieß es in diesem Zusammenhang zu den damaligen Katastrophenplänen durchaus beunruhigend: »Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung sind noch völlig ungeklärt. […] Diese Probleme können mit den Möglichkeiten des Territoriums bzw. des Kernkraftwerkes allein nicht gelöst werden.«79 Im Bereich des Katastroder Stasi: »Solche Schreiben sind immer VD [Vertrauliche Dienstsache], wenn sie Probleme betreffen, die die Sicherheit der Anlage betreffen. Wenn hier etwas passiert, tritt Aktivität nach außen, […]. Das ist von schwerwiegenden Auswirkungen und politischer Bedeutung.« Vgl. Befragungsprotokoll S., A. v. 3.11.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/2228/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hg.): Kernenergiepolitik, S. 10; Köhler: Kraftwerksanlagenbau, S. 149–151; Schönherr: Greifswald, S. 277; Abele: Kernkraft, S. 73. 78  Vgl. Information über ausgewählte Probleme bei der Gewährleistung einer stabilen Fahrweise der Blöcke 1–4 im VE Kombinat KKW »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald im Zeitraum Januar bis Mai 1989 v. 30.5.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 73–76. 79  Information v. 19.4.1979; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 201, Bl. 198–202, hier 201 f.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

phenschutzes herrschten Ende der 1970er-Jahre zum Teil unhaltbare Zustände. So verfügten die Zivilverteidigungseinheiten der Großbaustelle zu den Reaktoren 5 bis 8 damals über keinerlei Spezialausrüstungen wie Strahlenschutzkleidung oder Strahlenmessgeräte. Gerade die Zivilverteidigung sollte jedoch unmittelbar nach einem Störfall wichtige Aufgaben übernehmen.80 Nach den im Jahr 1982 entdeckten schweren Dampferzeugerdefekten rückte die nukleare Sicherheit im Kernkraftwerkskombinat noch einmal stärker in den Mittelpunkt der MfS-Tätigkeit. So meinte ein Stasi-Offizier der mittlerweile gegründeten Objektdienststelle Anfang 1983: »Zwischen Produktion und der Sicherheit muss eine untrennbare Einheit bestehen. Deshalb ist es notwendig, dass gerade Probleme der nuklearen Sicherheit, des Strahlenschutzes und des physischen Schutzes im Mittelpunkt […] stehen […].«81 Der Stasi-Offizier stellte erschrocken fest, dass Anfang der 1980er-Jahre in den Wirtschaftsplänen des Kernkraftwerkskombinates die Konsumgüterproduktion von Backhauben, Schraubendrehern oder Wandlampen einen höheren Stellenwert einnahm als die nukleare Sicherheit. Die Geheimpolizei reagierte auf die erkannte Schwachstelle, indem sie die Kombinatsleitung samt Generaldirektor, Fach- und Betriebsdirektoren sowie Abteilungsleiter stärker in den Fokus ihrer Arbeit rückte. Bis zum Herbst 1983 entstand innerhalb der Stasi-Objektdienststelle zudem eine 19-seitige Analyse, in der die Geheimpolizei als Reaktion auf die schweren Dampferzeugerschäden von 1982 sämtliche erkannte Schwachstellen der nuklearen Sicherheit zusammentrug. Für einen nuklearen Störfall räumten die Stasi-Offiziere sowohl die Möglichkeit technischer Defekte als auch menschlicher Fehlhandlungen ein. Mit Blick auf die rasante Entwicklung der Kerntechnologie in den zurückliegenden Jahren stellten sie grundsätzliche Nachteile des Greifswalder Kernkraftwerkes fest. Die Geheimpolizei konstatierte sowohl eine geringe Leistungsfähigkeit als auch eine fehlende Zuverlässigkeit der vorhandenen Sicherheitssysteme. Bei einem nuklearen Störfall konnte Radioaktivität schlecht zurückgehalten werden. Und gegen äußere Einwirkungen wie Erdbeben, Flugzeugabstürze oder Explosionen war das Kernkraftwerk wenig geschützt. Zu den erkannten Schwachstellen gehörten die Korrosion der Reaktordruckgefäße 1 und 2 im Stutzenbereich mit Unterschreiten der vorgegebenen Mindestwanddicke, ein unbekannter Versprödungsgrad der Reaktordruckgefäße durch die Kernspaltungsprozesse, unvollständig funktionierende Sicherheitsventile im ersten Kühlkreislauf, anfällige Dampferzeuger, unzureichende und unzuverlässige Notkühlsysteme der Spaltzone (Havariebor­ 80  Vgl. Ergänzung zur Information vom 19.4.1979 v. 25.4.1979; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 201, Bl. 203 f.; Vorlage über den Stand und die Aufgaben der Zivilverteidigung (ZV) im KKAB, BT Lubmin v. 27.3.1978; BStU, MfS, AIM I/9571/81, T. II, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie). 81  Hess: Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 16; Information über Probleme im KKW »Bruno Leuschner« und auf der Großbaustelle des KKW Nord v. 1.6.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. 1, T. I, Bl. 165–169.

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system) sowie Sprinkleranlagen, fehlende Messeinrichtungen zu der Radioaktivitätsabgabe an die Umwelt, eine unsichere Notstromversorgung (fehlende Mehrfachauslegung und Abschottung), zu schwache Notstromdieselgeneratoren bei einem Totalspannungsausfall, eine fortlaufende und nicht messbare Absenkung des Apparatehauses samt Neigung des Reaktors 1, zu lange Einfahrzeiten der Arbeits- und Regelkassetten im Notfall in den Reaktor sowie das Fehlen einer Ersatzblockwarte zum Abfahren der Reaktoren im Störfall. Solche und weitere Schwachstellen waren zuvor in Form einer »Vertraulichen Verschlusssache« durch die Leitung des Kernkraftwerkskombinates zusammengetragen worden. Als Reaktion darauf entstand nicht einmal zehn Jahre nach Inbetriebnahme des ersten Reaktors ein umfangreiches Rekonstruktionsprogramm. Mit hohem personellem, materiellem und finanziellem Aufwand hoffte man, damit das in den 1960er-Jahren entworfene Sicherheitsniveau erhalten und die erkannten Schwächen abstellen zu können. Den Stand der in Bau befindlichen Reaktoren 5 bis 8 oder gar den internationalen Standard erreichte man damit nicht. In den kommenden Jahren sollten nach Vorstellung der Kombinatsleitung mehrere Hundert Millionen Mark in das Kernkraftwerk gesteckt werden, um die Anlage für einen Betrieb bis in die 1990er-Jahre fit zu machen. Völlig unklar war im Herbst 1983 dabei, wie das Vorhaben in die zentrale Planwirtschaft eingeordnet und realisiert werden sollte.82

4.7 Tschernobyl als Zäsur und Katalysator Im November 1983 informierte der Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates Reiner Lehmann die Mitglieder der Kreiseinsatzleitung Greifswald über die Szenarien eines nuklearen Ernstfalls. Die hatte man im Kombinat mittlerweile 82  Vgl. Hess: Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 22 sowie Auszüge aus der Führungskonzeption des Generaldirektors des Kombinates Kernkraftwerke »B. Leuschner« für das Jahr 1982 v. 30.3.1982. In: Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 83–95, hier 89. Vgl. auch Bericht zum Informationsbedarf vom 17.5.1986, o. D. (1986); BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19281, Bl. 43–51, hier 44. Analyse sicherheitsrelevanter Schwachstellen der nuklearen und Anlagensicherheit beim Betrieb der Blöcke des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald und Schlussfolgerungen für die weitere Arbeit der OD KKW im Rahmen der vorbeugenden schadensabwendenden Tätigkeit v. 20.10.1983; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 10, Bl. 99–117. Analyse und Schlussfolgerungen sicherheitsrelevanter Schwachstellen beim Betrieb der Blöcke des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald, o. D. (1983); BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 168, Bl. 1–12; Konzeption zur Rekonstruktion der 440-MWBlöcke des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald zur Erhöhung ihres Sicherheitsniveaus einschließlich des physischen Schutzes und der Vervollkommnung der Havarievorsorge, o. D.; ebenda, Bl. 13–22; Analyse sicherheitsrelevanter Schwachstellen der nuklearen und Anlagensicherheit beim Betrieb der Blöcke des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald und Schlussfolgerungen für die weitere Arbeit der OD KKW im Rahmen der vorbeugend schadensabwendenden Tätigkeit v. 24.2.1984; ebenda, Bl. 27–43.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

hochgerechnet. Hinter verschlossenen Türen wurden dem örtlichen Führungsstab, unter ihnen der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, der Leiter der Stasi-Kreisdienst­ stelle und der Leiter des Volkspolizeikreisamtes, drastische Voraussagen präsentiert. Die Fachleute des Kernkraftwerks hatten verschiedene Störfälle angenommen und unter dem Decknamen »Heidewind« entsprechende Katastrophenpläne entworfen. Diese Pläne orientierten sich je nach Schweregrad des Störfalls auf das Betriebsgelände, die Umgebung 10 Kilometer um das Kraftwerk herum und gegebenenfalls darüber hinaus. Als schwerster möglicher Störfall galt ein Leck im ersten Kühlkreislauf (dem nuklearen Anlagenteil) verbunden mit der Freisetzung von Kernbrennstoff. Je nach Wetterlage resultierten daraus erhebliche Strahlenbelastungen für Mensch und Natur weit über die unmittelbare Kraftwerksumgebung hinaus. Entfernung vom Kern­ kraftwerk

1 Kilometer 5 Kilometer 10 Kilometer 20 Kilometer

Strahlenbelastung (Normalwetterlage, Windgeschwindig­ keit 6 m/s) 600 rem 50 rem 20 rem 7 rem

Strahlenbelastung (Hochdruck­ wetterlage, Windgeschwindig­ keit 6 m/s) 4 000 rem 600 rem 300 rem 200 rem

Strahlenbelastung (Hochdruck­ wetterlage, Windgeschwindig­ keit 1 m/s) 24 000 rem 3 600 rem 1 800 rem 1 200 rem

Tab. 9: Prognose des Kernkraftwerkskombinates zu den Folgen eines nuklearen Störfalls in Greifswald, November 198383

Ihre Brisanz erhielten diese Zahlen vor dem Hintergrund, dass eine leichte Strahlenerkrankung bereits ab 50 rem angenommen wurde. Ab 350 rem rechneten die Fachleute des Kernkraftwerkes mit schweren Strahlenerkrankungen und dem Tod der Hälfte der betroffenen Menschen, ab 600 rem gingen sie vom Tod aller Betroffenen aus. Die Städte Wolgast und Greifswald lagen nur 12 bzw. 20 Kilometer vom Ort eines möglichen Störfalls entfernt. Die Vorbereitung des Kernkraftwerkes auf die durchgespielten Havarieszenarien beschränkten sich auf die Installation von Lautsprechern für die Alarmierung der Öffentlichkeit sowie die Verteilung von Kaliumjodid-Tabletten an die Zivilverteidigung in Wolgast und Greifswald sowie die Gemeinden 10 Kilometer um das Kernkraftwerk herum. Letztlich standen im November 1983 zwei bemerkenswerte Aussagen der Fachleute 83  Vgl. Arbeitsmaterial zum Stand der Bekämpfung einer möglichen schweren nuklearen Havarie im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« (Vortrag des Generaldirektors vor der KEL Greifswald am 17.11.1983), o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 65, Bl. 68–82, hier 71. Ebenso BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 328, Bl. 1–15, hier 4.

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des Kernkraftwerkes vor der Greifswalder Kreiseinsatzleitung im Mittelpunkt: Sie räumten die Möglichkeit einer schweren nuklearen Havarie am Greifswalder Bodden ein, von einer Aufklärung der Öffentlichkeit darüber rieten sie jedoch ab. Selbst das Verteilen der Tabletten zur Jod-Prophylaxe der Schilddrüse geschah im Geheimen, um Unsicherheit und Unruhe unter der Bevölkerung zu vermeiden.84 Überlegungen und Gedankenspiele zu den Auswirkungen und dem Vorgehen bei einem nuklearen Störfall hat es im Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« also bereits vor der Katastrophe in Tschernobyl gegeben. Auslöser dafür waren schwere internationale Störfälle sowie eigene Erfahrungen. Gleichwohl bildete Tschernobyl eine Zäsur, wirkte der Super-GAU in der Sowjetunion als Katalysator für den Umgang mit den Herausforderungen eines nuklearen Störfalls. Anfang 1987 war es erneut der Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates Reiner Lehmann, der diesmal DDR-Ministern Auskunft über die nukleare Sicherheit und die Havariepläne im Kernkraftwerk Greifswald gab. Sein Bericht galt als »Vertrauliche Verschlusssache« und landete auch auf dem Tisch der Staatssicherheit. Hinter verschlossenen Türen und im internen Kreis sprach Lehmann hier wiederholt über das nukleare Risiko. Eine nukleare Katastrophe am Greifswalder Bodden drohte seinen Worten zufolge durch drei Szenarien: Gewalt von außen (Sabotage, Flugzeugabsturz, Bombenabwurf), Ausfall der Reaktorkühlung samt Überhitzung oder durch eine unkontrollierte Leistungserhöhung samt Überhitzung des Reaktors. Die Sicherheit im Greifswalder Kernkraftwerk litt seinerzeit grundsätzlich darunter, dass die technische Auslegung unterhalb des internatio­ nalen Standards lag. Nach Lehmanns Worten hatten auch die Investitionen in Sicherheit und Schutz seit 1982 in Höhe von immerhin rund 100 Millionen Mark, der Import von West-Rechentechnik und -Umgebungsüberwachung daran nichts ändern können. Ein vertretbares Risiko meinte man jedoch durch die hohe Qualifizierung und strenge Disziplinierung des Personals sowie eine Erweiterung der Anlagenüberwachung, ihrer Rekonstruktion und Modernisierung sowie einer stärkeren wissenschaftlichen Tätigkeit erzielen zu können. Nach Tschernobyl wurden die bestehenden »Heidewind«-Störfallmodelle durch Evakuierungspläne ergänzt, Havarietrainings durchgeführt und die Bedeutung für eine Verteilung der Kaliumjodid-Tabletten über den 10-Kilometer-Radius um das Kernkraftwerk hinaus erkannt. Außerdem richtete man in der Stadt Greifswald einen HavarieFührungspunkt für den Operativstab des Generaldirektors des Kombinates ein. Als Schwachstellen der damaligen Havariepläne benannte Lehmann das Fehlen eines strahlensicheren Führungspunktes auf dem Kraftwerksgelände 84  Arbeitsmaterial zum Stand der Bekämpfung einer möglichen schweren nuklearen Havarie im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« (Vortrag vor KEL Greifswald am 17.11.1983), o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 65, Bl. 68–82. Ebenso BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 328, Bl. 1–15. Zum »Heidewind«-Szenario vgl. auch Sebastian Pflugbeil. In: ders.: Die Umweltzerstörung und die ökologischen Folgen, S. 569 f.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

selbst, fehlende Lautsprecher zur Information der Bevölkerung und Lücken im Alarmierungsplan von Führungspersonal und Fachleuten beispielsweise wegen fehlender Telefonanschlüsse im neuen Greifswalder »Ostseeviertel«. Das Problem der fehlenden Telefonanschlüsse behandelte die Bezirkseinsatzleitung Rostock als regionaler Krisenstab noch im Herbst 1989! Zudem war die Erweiterung der 10-Kilometer-Zone um das Kernkraftwerk herum für den Havarieschutz auf 30 Kilometer erst in Vorbereitung. Auch die damaligen Evakuierungspläne erschienen wenig plausibel. Selbst bei einem schweren nuklearen Störfall gedachte man die bis zu 9 000 Arbeiter und Angestellten einer Normalschicht mit der Betriebsbahn, mit Autos und per Fußmarsch aus dem Kernkraftwerk und von der Großbaustelle zu evakuieren. Für die nahegelegene Kreisstadt Greifswald veranschlagte man dabei gerade einmal etwas mehr als 200 Krankenhausbetten, die im Notfall bereitstünden. Zu den Arbeitern von der Großbaustelle – unter ihnen mehrere Tausend ausländische Arbeitskräfte – hieß es auch in der Ost-Berliner Stasi-Zentrale, weder Zuständigkeit noch Organisation ihrer Evakuierung im nuklearen Ernstfall seien geklärt.85 Die Ursache einer nuklearen Katastrophe musste bei all dem gar nicht innerhalb des Kernkraftwerkes selbst liegen, etwa in Form von menschlichen Fehlern oder technischem Versagen. Durch seine Bauweise ohne schützende Stahl-Betonhülle als Containment war das Kernkraftwerk äußerer Gewalteinwirkung praktisch schutzlos ausgeliefert. Berechnungen des Kernkraftwerkes vom Oktober 1987 ergaben, dass bereits eine knappe halbe Stunde nach Waffeneinwirkung auf das Reaktorgebäude und schweren Schäden am nuklearen Teil des Kernkraftwerkes die Hälfte des Kernbrennstoffes geschmolzen sei und sich nach etwas mehr als einer Stunde der überreagierende Reaktorkern durch das Reaktordruckgefäß fresse. Innerhalb weniger Stunden wäre dann selbst in 50 Kilometer Entfernung eine erhebliche Strahlenbelastung die Folge. Kurz und knapp hieß es in der geheimen Studie der Fachleute aus dem Kombinat: »Es bestätigt sich damit eine Grundaussage, dass durch konventionelle Waffeneinwirkungen auf ein Kernkraftwerk eine nukleare Havarie mit schwerwiegenden Folgen möglich ist.«86 85  Vgl. Auskunftsbericht des Generaldirektors des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald zu Fragen der nuklearen Sicherheit und der Havarievorsorge (…) v. 14.1.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7896, Bl. 1–48. Ebenso BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 263, Bl. 162–195; auch Plan des Schutzes bei Eintritt außergewöhnlicher Ereignisse und nuklearem Unfall im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 26, Bl. 20–33. Zu ersten Schlussfolgerungen von Experten des SAAS aus der Havarie im KKW Tschernobyl für den Schutz der Bevölkerung im Territorium vor den Folgen schwerer nuklearer Havarien in der DDR v. 7.6.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13701, Bl. 128 f.; Protokoll 4/89 der Sitzung der Bezirkseinsatzleitung Rostock vom 18.9.1989, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 969, Bl. 1–5, hier 4. 86  Einschätzung der Auswirkungen konventioneller Waffen auf das Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald mit dem Reaktortyp WWER-440/W-230 v. 15.10.1987; BStU, MfS, Abt. BCD, Nr. 3249, Bl. 217–223. Dazu und zur nuklearen Sicherheit und Havarievorsorge im

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Abb. 40: Nach Tschernobyl informierte der Generaldirektor des Kombinates Kernkraftwerke Reiner Lehmann Anfang 1987 hinter verschlossenen Türen über das nukleare Risiko. Je nach Windrichtung und -stärke hätte ein Super-GAU Strahlenschäden bis in die Bundesrepublik, Schweden oder Polen verursacht. Kombinat Kernkraftwerke vgl. auch Auskunftsbericht des Generaldirektors des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« zu Fragen der nuklearen Sicherheit und der Havarievorsorge (…) v. 3.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 263, Bl. 197–226; ebenso BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 82–111.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Auch über die örtlichen Strahlenschutzübungen nach dem Super-GAU von Tschernobyl im Frühjahr 1986 zeichneten die geheimen Berichte der StasiObjektdienststelle im Kernkraftwerk ein zwiespältiges Bild. Auch aus ihnen ging hervor, dass die Verantwortlichen in der DDR das nukleare Risiko zunehmend ernst nahmen. Andererseits lag es in der Natur der Stasi-Berichte, dass sie bestehende Missstände und Unzulänglichkeiten betonten. Im Zusammenhang mit den Katastrophenplanungen zu nuklearen Havarien hatte das seine eigene Brisanz. So hieß es aus einer Beratung des Leiters der DDR-Zivilverteidigung, Generalleutnant Fritz Peter, mit dem Rat des Bezirkes Rostock im Sommer 1986: Erst mit der Katastrophe in Tschernobyl sei klar geworden, dass eine Ausweitung der Katastrophenpläne um das Kernkraftwerk am Greifswalder Bodden von bisher 10 auf nunmehr 30 Kilometer nötig sei, im nuklearen Ernstfall übernehme eine Regierungskommission die zentrale Leitung und Koordinierung. Die Entwicklung funktionierender Strahlenschutzfilter für die zum Einsatz kommenden Rettungskräfte stehe noch aus und auch Strahlenschutzräume nahe dem Kernkraftwerk müssten erst noch errichtet werden. An anderer Stelle machte der Leiter der Zivilverteidigung geltend, insbesondere die Evakuierung von mehr als 10 000 Sommerurlaubern aus dem 10-Kilometer-Umkreis um das Kernkraftwerk herum bereite Kopfzerbrechen. Und hinter verschlossenen Türen sprach er im inneren Zirkel der Macht das aus, was sich der ein oder andere in der DDR insgeheim dachte: »Um es ohne Umschweife zu sagen, für die Beherrschung einer ähnlich gelagerten nuklearen Havarie wie in Tschernobyl reichen die Potenzen der DDR nicht aus.«87 Vor allem in den kleineren Ortschaften in unmittelbarer Nähe des Kernkraftwerkes schien absolutes Unwissen über das Vorgehen im nuklearen Ernstfall zu herrschen. So hielt ein Stasi-Offizier der Objektdienststelle im Kernkraftwerk von einem Treff mit dem Bürgermeister der Gemeinde Lubmin alias IM »Klaus Voß« nach der Katastrophe in Tschernobyl im Frühjahr 1986 fest: »Tatsache ist, dass der Bürgermeister ein versiegeltes Dokument der ZV [Zivilverteidigung] hat, aber über den Inhalt keine Kenntnisse hat. Nach seiner eigenen Aussage ist er nicht in der Lage, im Falle einer KKW-Havarie Handlungen zum Schutz der Bewohner des Ortes Lubmin einzuleiten.«88 Auch von einem nuklearen Havarietraining des 87  Vgl. Information über die am 30.6.1986 im Rat des Bezirke Rostock stattgefundene Beratung (…) v. 8.7.1986; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 65, Bl. 194 f. Ebenso der 1. Stellvertreter des Leiters der Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft), Oberst Gerhard Böhm (SED). In: Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 132. Zit.: Vortrag des Leiters der Zivilverteidigung der DDR zum Thema: »Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus der Bekämpfung der Folgen der Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl« v. 3.4.1987; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 263, Bl. 228–268, hier 245 u. 247. 88  Vgl. Information v. 7.5.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/312/89, T. II, Bd. 2, o. Pag. (Rückkopie).

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Rates des Bezirkes Rostock gemeinsam mit den Kreisen Greifswald und Wolgast sowie der Stadt Greifswald unter dem Decknamen »Heidesand« gab es Ende 1987 Informationen zu einer ganzen Reihe ungelöster Probleme. Dazu gehörten die Evakuierung der Bevölkerung, die rasche Verteilung von Kaliumjodidtabletten, die medizinische Versorgung von Strahlenkranken, das Bewachen der Evakuierungsräume, die Versorgung zurückbleibender Tierbestände und die Bereitstellung sauberer Nahrung sowie Kleidung. Auch das folgende nukleare Havarietraining im Frühjahr 1988 offenbarte noch immer Lücken. An ihm nahmen neben Vertretern des SED-Zentralkomitees, des ostdeutschen Strahlenschutzamtes und der Zivilverteidigung auch Angehörige von nicht weniger als sieben DDR-Ministerien teil. Nach der Übung bemängelte die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk gegenüber der Rostocker Stasi-Bezirksverwaltung ungeklärte Zuständigkeiten zwischen dem Rat des Kreises und dem Rat der Stadt Greifswald, unrealistische Evakuierungspläne sowie ungenügende Strahlenmesstechnik. Wenn beispielsweise die Heranführung dieser Technik bis zu neun Stunden dauern sollte, kam man angesichts der großen Bedeutung von schnellen Entscheidungen und Maßnahmen bei einer nuklearen Katastrophe nicht umhin, die vorherrschenden Zustände als ungenügend einzuschätzen.89 Der Super-GAU in der Sowjetunion In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 kam es im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU. Es war der bis dahin schwerste nukleare Störfall in der industriellen Nutzung der Kernenergie. Ein technischer Versuch am Reaktor 4 während des Leistungsbetriebes geriet außer Kontrolle. Angestellte des Kernkraftwerkes hatten dafür Sicherungssysteme umgangen und außer Kraft gesetzt. Technische Eigenheiten des Unglücksreaktors führten zu einem unkontrollierbaren Leistungsanstieg. Der Reaktor explodierte, das Reaktor­ gebäude glich einem Trümmerfeld. Tonnen von radioaktivem Material wurden freigesetzt. Die Hitze des ausgelösten Brandes trug radioaktive Teilchen in große atmosphärische Höhen. Im Ergebnis der Katastrophe, die alle Vorstellungen und 89  Information zum Stabstraining »Heidesand 87« des Vorsitzenden des Rates des Kreises Greifswald zum Schutz der Bevölkerung und des Territoriums vor den Auswirkungen eines nuklearen Unfalls im KKW »Bruno Leuschner« Lubmin am 27.11.1987 v. 20.1.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 65, Bl. 83–85. Einschätzung über den Verlauf der Kommandostabsübung der Zivilverteidigung (…) zum nuklearen Unfallschutz im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald – Heidesand v. 13.4.1988; ebenda, Bl. 64–67; Auswertebericht über die Kommandostabsübung »Heidesand« im Bezirk Rostock vom 25. bis 26.3.1988, o. D.; BStU, MfS, HA VII, Nr. 130, Bl. 252–259; Plan der Durchführung der Kommandostabsübung mit den Kreisen Greifswald, Wolgast und Greifswald-Stadt zum Schutz der Bevölkerung und des Territoriums vor den Auswirkungen eines nuklearen Unfalls im KKW »Bruno Leuschner« – Heidesand v. 15.2.1988; BStU, MfS, OD KKW, Nr. 313, Bl. 19–36.

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Szenarien eines »größten anzunehmenden Unfalls« (GAU) überstieg, entstand der Begriff »Super-GAU«. Die Katastrophe forderte 31 unmittelbare Todesopfer, Zehntausende strahlengeschädigte Menschen – Katastrophenhelfer und Unbeteiligte – fielen ihr später zum Opfer. Im Umkreis von 30 Kilometern mussten fast 80 Ortschaften und knapp 350 000 Menschen ausgesiedelt werden, allein 50 000 aus dem nahegelegenen Städtchen Prypjat. Wochenlang trieben wechselnde Winde die Radioaktivität weit über die Sowjetunion hinaus nach Europa, Asien und bis nach Nordamerika. Je nach Wetterlage wusch Regen die Radioaktivität aus der Luft aus, und es entstanden regional sehr unterschiedliche Strahlenbelastungen. Die Sowjetunion hielt die Katastrophe geheim, bis zwei Tage später in Schweden erhöhte Radioaktivität gemessen wurde und die Skandinavier die Internationale Atomenergieorganisation einschalteten. Spätestens mit Tschernobyl verlor die industrielle Nutzung der Kernenergie ihre Unschuld, ihren Nimbus als saubere Zukunftslösung der Energiefrage.90 Drei Tage nach der Katastrophe veröffentlichte die SED-Tageszeitung Neues Deutschland im mittleren Teil versteckt erstmals eine kurze Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS zum Super-GAU in Tschernobyl.91 Die Katastrophe hatte für die DDR eigenartige Konsequenzen. Weil sie jenseits des ostdeutschen Staates geschehen war, gestaltete sich das Krisenmanagement für diesen besonders schwierig. Ideologisch war der Propaganda-Spruch »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« hinsichtlich der Kernenergiewirtschaft zur Groteske verkommen. Wirtschaftlich und gesellschaftlich ging es für die DDR über ein kurzfristiges Krisenmanagement in der Lebensmittelindustrie, strahlenanfälligen Industriezweigen oder der Bevölkerungsreaktionen auf die westdeutsche Medienberichterstattung hinaus darum, die eigene Kernenergiepolitik abzusichern. Die staatliche Reaktion auf den Super-GAU veranschaulichte ein launiger Kommentar des SED-Partei- und DDR-Staatschefs Erich Honecker, im Interview mit einer schwedischen Tageszeitung erklärte er: »Wir hatten rund um die Uhr die Messwerte kontrolliert, […] aber es gab keine Gefahren. Unser Gemüse und Salat konnte verkauft werden, und das wird ja immer gewaschen. Zu Hause waren wir sechs Kinder, und unsere Mutter hat immer den Salat gewaschen.«92 Die SED-Führung desinformierte und verharmloste die Katastrophe.

90  Zu Tschernobyl vgl. Sebastian Stude: Tschernobyl und die Stasi. In: Deutschland Archiv v. 21.4.2016, www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/225219/tschernobylund-die-stasi?rl=0.9800594910079516, abgerufen am 22.02.2018; ders.: Das geheime Risiko. Das Kernkraftwerk Greifswald, Tschernobyl und das Ministerium für Staatssicherheit. In: Zeitgeschichte regional (2016) 1, S. 30–41; Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. München 2015; Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, bes. S. 228 f., 244 ff. u. 309; Arndt: Tschernobyl; Karlsch: Uran für Moskau, S. 188–191; auch Abele: Kernkraft, S. 97–100. 91  Vgl. Neues Deutschland v. 29.4.1986, S. 5. 92  Interview Erich Honeckers für Dagens Nyheter. In: Neues Deutschland v. 25.6.1986, S. 3.

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Genau wie die SED-Führung wurde auch die Stasi von der nuklearen Katastrophe überrascht. Die sowjetische Seite hatte die ostdeutsche Geheimpolizei darüber im Unklaren gelassen. Über einen Mitarbeiter des ostdeutschen Strahlenschutzamtes bei der IAEO in Wien hatte man erst unmittelbar vor den ersten sowjetischen Veröffentlichungen von einem nuklearen Störfall erfahren. Nach Bekanntwerden der Katastrophe konzentrierte sich die Stasi in ihrer Tätigkeit zunächst auf zwei Aspekte: die Beobachtung der radioaktiven Belastung in der DDR und das Sammeln von Bevölkerungsreaktionen auf den Super-GAU. Später rückten die nukleare Sicherheit der ostdeutschen Kernkraftwerke, Störfallplanungen samt Havarietraining und das Verhindern einer politischen Anti-Kernkraftwerks­ bewegung in den Mittelpunkt der Stasi-Tätigkeit. Was berichtete die Stasi im Frühjahr 1986 über die Reaktionen der DDR-­ Bevölkerung? Eine Woche nach Bekanntwerden der Katastrophe entstand ein fünfseitiger Bericht für die Ost-Berliner Stasi-Führung um Erich Mielke. Dieser gab Auskunft über die große emotionale Betroffenheit der Menschen. Für die Geheimpolizei jedoch von größerer Bedeutung war die Tatsache, dass sich die DDR-Bürger oft über westdeutsche Medien informierten – nicht wenige aber offensichtlich auch der DDR-Informationspolitik Glauben schenkten. In Letzterer hieß es verkürzt: In den ostdeutschen Kernkraftwerken drohe aufgrund eines anderen Reaktortyps kein Super-GAU und auf die industrielle Nutzung der Kernenergie könne nicht verzichtet werden. Doch die Stasi-Führung musste im Frühjahr 1986 kritische Stimmen zur Kenntnis nehmen. So gab es ausgerechnet auf den Baustellen zu den Kernkraftwerken in Stendal und Greifswald Un­sicherheit hinsichtlich möglicher Folgen eines nuklearen Störfalls. Arbeiter und Angestellte dort zeigten sich ahnungslos, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten hätten. Und ausgerechnet an der Greifswalder Universität zweifelten ChemieStudenten die ostdeutschen Radioaktivitätsmessungen und die veröffentlichten Opferzahlen an und vermuteten schwere Spätfolgen.93 Gerade die staatliche Geheimhaltungspolitik zu Tschernobyl und zur Kernenergiewirtschaft insgesamt führte im Bezirk Rostock, wo das Kombinat Kernkraftwerke lag, ähnlich wie in der gesamten DDR mitunter zu Unsicherheit und beförderte das Entstehen von Gerüchten. Halbwissen und Halbwahrheiten, Fakten und rationaler Menschenverstand gerieten durcheinander. Durch die Geheimhaltung entstand also das, was SED-Führung, staatliche Verwaltung und Stasi eigentlich zu verhindern bemüht waren. So berichtete der Werkstattleiter eines großen Rostocker Hotels alias IM »Meister« seinem Stasi-Offizier, im Herbst 1986 wären aus Angst vor Strahlenschäden weniger Pilzsammler in den 93  Vgl. Zusammenfassender Bericht über die Strahlensituation auf dem Territorium der DDR infolge der Havarie in Tschernobyl v. 29.5.1986; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 263, Bl. 293–296; Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl/UdSSR v. 6.5.1986; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4208, Bl. 1–6.

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Wäldern unterwegs und es gäbe Versorgungsschwierigkeiten mit Zement, weil aus Sicherheitsgründen eine Betonmauer um das Kernkraftwerk bei Greifswald errichtet werde. Tatsächlich existierte an der Grenze des Kraftwerksgeländes eine mehr als 12 Kilometer lange Mauer aus Betonelementen. Ob diese die Schuld an möglichen Versorgungsengpässen mit Zement trug, bleibt dahingestellt. Allein das Gerücht dazu stand sinnbildlich für die Wirtschaftskrise in der späten DDR, als kurzfristige oder größere Vorhaben sofort Löcher an anderer Stelle rissen.94 Eine leitende Angestellte der Rostocker Universität berichtete der Geheimpolizei als IM »Elisabeth«, dass unter ihren Arbeitskollegen Unsicherheit über einen möglichen Störfall im Greifswalder Kernkraftwerk herrsche. Vor dem Hintergrund der Ost-West-Konfrontation während des Kalten Krieges sei zudem die Frage aufgeworfen worden: »Gab es einen Handlanger der CIA bei der Havarie?«95 Und ein Mitarbeiter des Rostocker Fernmeldeamtes alias IM »Blitz« informierte die Stasi über ungeklärte Krankheitsbilder bei Kindern in der Region, die ratlose Ärzte als Folge der Reaktorkatastrophe betrachteten. Solche Auskünfte landeten in den unterschiedlichsten Versionen und Ausschmückungen bei der Stasi, sie gingen oftmals auf vages Hörensagen zurück. Eine größere Bedeutung für die Geheimpolizei dürften Auffassungen besessen haben, wie sie der IM »Blitz« seinem Stasi-Offizier zur staatlichen Informationspolitik nach Tschernobyl übermittelte: »Fast alle sagen, dass der Westen es übertrieben und dramatisiert habe […]. Aber ebenso schlecht ist, dass wir völlig im Unklaren gelassen wurden und man es heruntergespielt habe. Danach braucht man ja kaum noch Angst vor einer Atombombe haben.«96 Auch unter den Arbeitern und Angestellten des Kernkraftwerkskombinates herrschte große Betroffenheit über die Katastrophe in Tschernobyl. In den Wochen danach kam es im größeren und kleineren Kreis immer wieder zu besorgten Gesprächen und leidenschaftlichen Diskussionen. Die Argumente und Meinungen bewegten sich dabei zwischen der frühzeitigen, freien und kritischen Berichterstattung der Bundesrepublik einerseits sowie der zögerlichen, staatlichen und gelenkten Informationspolitik in der DDR andererseits. Aus westdeutschen Nachrichten speisten sich Skepsis und Kritik. Einher mit der Rezeption von ostdeutschem Rundfunk und Presse gingen Zuversicht im Hinblick auf die Bewältigung der Katastrophe und Vertrauen in die Kernenergiewirtschaft. Ausgewiesene Fachleute zogen sich oftmals auf die zweifellos richtige Feststellung zurück, der in Tschernobyl havarierte Reaktor sei anderer Bauart als die am 94  Information v. 5.9.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/31/93, T. II, Bd. 2, Bl. 95–97 sowie Stand und Probleme des Schutzes und der Sicherung der Kernanlagen der DDR (Abschrift) v. 16.11.1988; BStU, MfS, HA VII, Nr. 3940, Bl. 2–5. 95  Information v. 20.5.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/101/91, T. II, Bd. 2, Bl. 44–47, hier 46. 96  Vgl. Atomkraftwerksunfall in der UdSSR v. 24.7.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/395/93, T. II, Bd. 4, Bl. 454.

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Greifswalder Bodden. Die für die Katastrophe maßgeblichen Ursachen wie menschliche Fehlhandlungen und technisches Versagen ignorierten sie damit freilich. Auf die eigene Anlage bezogen äußerten Arbeiter und Angestellte vereinzelt Zweifel an den vermuteten Havarieplänen. Darüber und über die möglichen Folgen eines nuklearen Störfalls herrschte oftmals völlige Ahnungslosigkeit. Der Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates gab seinem Leitungspersonal Agitationsmaterial für ein im staatlichen Sinne einheitliches Auftreten gegenüber den Arbeitern und Angestellten vor. Dies schien seinen Zweck insofern zu erfüllen, als die Stasi in der zweiten Jahreshälfte 1986 aus dem Kernkraftwerk schon nicht mehr über Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Katastrophe in Tschernobyl berichtete. Der Geheimpolizei zufolge waren dort keine grundsätzlichen Zweifel an der sowjetischen Technik entstanden, die ostdeutsche Berichterstattung sei als sachlich, die westdeutsche dagegen als »antisozialistische und antisowjetische Hysterie« empfunden worden.97 Dessen ungeachtet galt: Schon vor dem Super-GAU in Tschernobyl waren unter den Arbeitern und Angestellten des Kernkraftwerkes Zweifel und Skepsis gegenüber der SED und dem Staat gewachsen. So trauten sie ihren Ohren nicht, als es vom XI. SED-Parteitag Mitte April 1986 hieß, alle Parteibeschlüsse seien erfüllt. Dass beispielsweise der Greifswalder Reaktor 5 anders als darin vorgegeben noch immer nicht am Netz war, wussten sie aus eigener Erfahrung. Durchaus sinnbildlich für die Krise der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft im Frühjahr 1986 war, dass zum Zeitpunkt der nuklearen Katastrophe in der Sowjetunion die Reaktoren 5 bis 8 noch immer eine Großbaustelle bildeten und der Reaktor 2 wegen Reparaturen monatelang außer Betrieb war. Als er Ende Juni 1986 wieder angefahren werden sollte, verhinderten Bedienungsfehler, Montagefehler, Materialmängel und mehrere Störungen bis in den August hinein einen normalen Betrieb. Zugleich stellte die Werksleitung im Sommer 1986 Sanierungsarbeiten an den Reaktordruckgefäßen 2 und 3 hintan, um die zentral vorgegebene Stromproduktion planmäßig zu erfüllen. Es war keinesfalls eine Seltenheit, dass die Kraftwerksleitung nach Abwägung der nuklearen Sicherheit Stillstände und Reparaturen aufschob, um die vorgegebenen Wirtschaftspläne zu erfüllen. Als im 97  Bericht über Stimmungen und Meinungen zur KKW-Havarie in der Sowjetunion v. 13.6.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1727/88, Bd. 4, Bl. 249; Stimmungen/Reaktionen zur Havarie KKW Tschernobyl v. 6.5.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. II, Bd. 3, Bl. 69; Information zu Stimmungen und Meinungen auf den KKW-Baustellen v. 30.4.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21879, Bl. 2 f.; Information über Reaktionen von Werktätigen im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald, sowie auf der Großbaustelle der »DSF« zur Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl/UdSSR v. 9.5.1986; ebenda, Bl. 13 f.; Information über eingeleitete Maßnahmen im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord in Auswertung der Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl v. 25.11.1986; BStU, MfS, BV Magdeburg, Stellv. Operativ, Nr. 7, Bl. 157–160; Bericht zum Informationsbedarf vom 17.5.1986, o. D. (1986); BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19281, Bl. 43–51, hier 49 f.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

September 1986 dann der Reaktor 1 durch einen Bedienungsfehler ausfiel, kam die Stasi zu dem harschen Urteil: Im Kernkraftwerk arbeite auch Personal mit »unzureichendem Qualifizierungs- und Wissensstand«, was sich in der »Nichtbeherrschung der Regimeverhältnisse« ausdrücke. Verstöße gegen Sicherheit, Ordnung und Betriebsvorschriften würden geduldet. Besonders brisant war die Einschätzung der Geheimpolizei, der Grundsatz »Sicherheit vor Produktion« werde nicht immer durchgesetzt.98 Und es war kein Zufall, dass ebenfalls auf den September 1986 eine harsche Einschätzung der betrieblichen Inspektion zum Anlagenzustand und dem Betriebs­ personal im Kernkraftwerkskombinat datiert. Als »Vertrauliche Dienstsache« bemängelte sie mit deutlichen Worten die vielen Dutzend Ausnahmeregelungen und Zusatzbestimmungen, die den Arbeitsalltag im Kernkraftwerk enorm erschwerten. Ungeklärte Organisationsfragen, fehlende Technik und ausbleibendes Material behinderten die aufwendigen Generalinstandsetzungen. Als Folge mussten unter anderem Schadensbefunde an Rohrleitungen unbearbeitet bleiben. Diese hatten zwar möglicherweise keinen unmittelbaren Einfluss auf die nukleare Sicherheit, in jedem Fall aber auf die Verfügbarkeit des Kraftwerkes. Das galt auch für fehlende Ersatzteile, die bei entsprechenden Störfällen unausweichlich den Ausfall des Kraftwerkes nach sich ziehen würden. In Einzelfällen stellte die staatliche Inspektion erschreckende Wissenslücken bei den Reaktoroperatoren fest. Mangels Fachpersonal blieben jedoch auch die Reaktoroperatoren mit schlechteren Leistungen unverzichtbar. Zu den zurückliegenden Störfällen meinte die Inspektion, »Sorglosigkeit« und »Gewöhnung an Pflichtverletzungen« des Bedien­ personals hätten diese begünstigt. Bereits vor dem folgenden Winter, für den der Strom vom Greifswalder Bodden fest eingeplant war, standen die Arbeiter und Angestellten im Dauerstress. Die schonungslose Kritik der Stasi und der betrieblichen Inspektion war Ausdruck von zweierlei: Der gewachsenen Bedeutung, der man der nuklearen Sicherheit innerhalb des Kernkraftwerkskombinates nach dem Super-GAU in Tschernobyl beimaß, und den bereits zuvor bestehenden Schwachstellen hinsichtlich Anlage und Personal im Kernkraftwerk. Verantwortlich für die Kritik zeichneten der Leiter der Inspektion im Kernkraftwerkskombinat alias 98  Vgl. Information über Reaktionen der Bevölkerung auf den XI. Parteitag der SED v. 20.4.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 260, T. I, Bl. 152–159, hier 155; Information über einige Probleme bei der Gewährleistung einer stabilen Verfügbarkeit der Blöcke 1–4 im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald sowie damit im Zusammenhang stehende Fragen der Leitungstätigkeit v. 22.8.1986; ebenda, Bl. 310–314; Information über Störungen im Betrieb des Blockes 1 des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald v. 6.10.1986; ebenda, Bl. 374–376; Information über ausgewählte Probleme bei der Gewährleistung einer stabilen Fahrweise der Blöcke 1–4 im VE Kombinat KKW »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald im Zeitraum Januar bis Mai 1989 v. 30.5.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 73–76; Information zum Stand der Umsetzung der Maßnahmen zur Durchführung des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED vom 22.11.1989 (…) v. 28.6.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 432–434, hier 434.

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OibE »Rainer« und der Leiter der Inspektion im Greifswalder Stammbetrieb alias OibE »Peter«.99 Staatlicherseits sorgte die Kritik der Inspektion für Aufsehen und durch das Ministerium für Kohle und Energie wurde eine Großinspektion des Kernkraftwerkes angesetzt. In deren Vorfeld wandte sich der Generaldirektor des Kombinates, Reiner Lehmann, mit Worten an den Minister für Kohle und Energie, Wolfgang Mitzinger, die vielsagend für den Zustand der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft Mitte der 1980er-Jahre waren: »Einige Probleme kann ich allein mit den Mitteln des Kombinates nicht vollständig lösen – das betrifft vor allem Probleme der Zuführung qualifizierter Kader und von Absolventen […] sowie die materielle Sicherung von Instandhaltung und Rekonstruktion, hier bitte ich weiterhin um ihre Unterstützung.«100 Der Generaldirektor wusste wohl nicht, dass auch der Minister nicht helfen konnte. Die Töpfe der ostdeutschen Wirtschaft waren leer. Klar war, dass sich ab Mitte der 1980er-Jahre die Situation in der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft zuspitzte. Elektrischer Strom wurde zunehmend dringend gebraucht. Die strategische Bedeutung der Kernenergie stieg. Dem standen ungelöste Herausforderungen beim Betreiben und Errichten der Kernkraftwerke und steigende internationale Sicherheitsanforderungen gegenüber. Um die Kernenergiepolitik der SED-Führung unter den zunehmend ungünstigen Rahmenbedingungen abzusichern, schrieb sich die Stasi nunmehr »die Einheit von Feindbekämpfung, vorbeugender und schadensabwendender Arbeit und Unterstützung bzw. Stabilisierung volkswirtschaftlicher und wissenschaftlichtechnischer Prozesse und Vorhaben« auf ihre Fahnen. Der allgemeine Trend, dass sich die Geheimpolizei bis in die späte DDR hinein immer mehr Aufgabenbereichen widmete und daraus resultierend Überlastungstendenzen innerhalb des Mielke-­Kombinates unübersehbar waren, brach sich auch in der Kernenergiewirtschaft Bahn. Die Staatssicherheit betrachtete in Reaktion auf Tschernobyl die technische Anlagensicherheit, den Ausbau der Kernkraftwerkskapazitäten, die Kontrolle und Überwachung der Arbeiter und Angestellten, die Abwehr von Terrorismus, die nukleare Sicherheit oder auch die internationale Kooperation im Rahmen des RGW als ihre Tätigkeitsfelder. Vor der ostdeutschen Geheimpolizei lag dabei ein dürftig bestelltes Feld. Den Worten des Stellvertreters des Leiters der Ost-Berliner Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft), Oberst Gerhard Böhm, im Frühjahr 1987 zufolge war die Situation im ostdeutschen Kernkraftwerksbau geprägt von einer im internationalen Vergleich unzureichenden Entwicklung, einer schlechten und weiter sinkenden Leistungsfähigkeit der beteiligten Kombinate und 99  Vgl. Information zu ausgewählten Problemen bei der Gewährleistung einer sicheren und stabilen Energie- und Wärmeversorgung im Winterhalbjahr 1986/87 durch das Kombinat Kernkraftwerke v. 30.9.1986; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 212, Bl. 82–92. 100  Vgl. Schreiben v. 22.10.1986; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 212, Bl. 93–99, hier 94.

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Betriebe, Fachkräftemangel, niedriger Auslastung der regulären Arbeitszeit von bis zu 25 Prozent sowie Qualitätsmängeln.101 In diese negative Bestandsaufnahme passte sich ein, was die Stasi der Greifswalder SED-Führung über die Stimmung unter den Arbeitern und Angestellten im Kernkraftwerk und der benachbarten Großbaustelle im folgenden Sommer berichtete: »Zu den Problemen der Arbeitsund Lebensbedingungen sowie der Planerfüllung ist teilweise Resignation zu verzeichnen, da die Meinung vertreten wird, es ändert sich sowieso nichts.«102 Derweil gab die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk nach der Katastrophe von Tschernobyl ihren inoffiziellen Mitarbeitern vor, mehr als bisher Informationen, Analysen und Einschätzungen zum technischen Zustand und Schwachstellen der nuklearen Anlage sowie dem Verhalten des Leit- und Bedien­ personals während des Leistungsbetriebes und bei technischen Versuchen zu liefern. Da grundlegende materielle oder technische Veränderungen zur Erhöhung der nuklearen Sicherheit bestenfalls mittelfristig zu erreichen waren, konzen­ trierte sich die Geheimpolizei auf den Faktor »Mensch«. Durch Disziplinierung, Überwachung und Kontrolle war das vergleichsweise kostengünstig und rasch möglich. Und dieses Vorgehen erschien auch unter politischen Gesichtspunkten opportun, weil es die sowjetische Technologie eventueller Kritik entzog. Außerdem ging die Geheimpolizei daran, ihre eigene Einsatzfähigkeit im nuklearen Ernstfall zu überprüfen. Wie unvorbereitet die Stasi-Objektdienststelle darauf bis dahin gewesen ist, zeigt die Tatsache, dass Alarmierungs-, Havarie- und Evakuierungspläne zunächst erarbeitet werden mussten. Auch ein vorhandener Schutzkeller in der Objektdienststelle musste nachgerüstet werden. Dort sollten gemeinsam mit dem Leiter der Stasi-Objektdienststelle und dessen Führungsstab bis zu 60 Personen mehrere Tage Schutz finden. Dafür allerdings musste die vorhandene Lüftungsanlage nachgerüstet werden, denn diese war nicht für eine radioaktive Belastung ausgelegt.103 101  Konzeption zur Durchführung einer Arbeitsberatung über die politisch-operative Sicherung des beschleunigten Ausbaues und der Nutzung der kernenergetischen Basis in der DDR v. 11.2.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19692, Bl. 18–27, bes. 18 f.; Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 111. 102  Mündliche Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung v. 4.6.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 844–848, hier 848. 103  Vgl. Hauptauftrag für IME »Georg« in Auswertung erster Ergebnisse der Havarie von Tschernobyl im Rahmen der vorbeugend-schadensabwendenden Tätigkeit zur Gewährleistung eines stabilen Dauerbetriebes der Bl. 1–4 des KKW »Bruno Leuschner« Greifswald unter ständiger Gewährleistung der nuklearen und Anlagensicherheit v. 16.7.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4646/91, T. I, Bd. 1, Bl. 153 f. Auch Hauptauftrag für den GMS »Schlüssel« in Auswertung erster Ergebnisse der Havarie von Tschernobyl im Rahmen der vorbeugend-schadensabwendenden Tätigkeit zur Gewährleistung eines stabilen Dauerbetriebes der Bl. 1–4 des KKW »Bruno Leuschner« Greifswald unter ständiger Gewährleistung der nuklearen und Anlagensicherheit v. 16.7.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4626/91, T. I, Bd. 1, Bl. 80 f.; Information über eingeleitete Maßnahmen im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« und auf der Großbaustelle der

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Vom sowjetischen Bruderorgan erhielt die Staatssicherheit im Frühjahr 1986 derweil Anfragen zur Stimmung und Situation unter den sowjetischen Fachleuten auf der Großbaustelle. Zugleich warnte der KGB, dass westliche Geheimdienste aktiv wären, um Kernkraftwerke sowjetischer Bauart auszuspähen. Dahinter vermutete man Störaktionen und den Versuch, Informationen zur Desavouierung der sowjetischen Technologie zusammenzutragen. Im Sommer 1987 gelangten dann Ratschläge aus Moskau zum richtigen Verhalten beim Eintritt eines nuklearen Störfalls nach Ost-Berlin. Die wurden auch in der Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerkskombinat zur Arbeitsgrundlage. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Tschernobyl gab der KGB die geheimen Empfehlungen, technischen Versuchen in Kernkraftwerken eine höhere Aufmerksamkeit zu schenken, die nukleare Sicherheit nicht den Wirtschaftsplänen zu opfern und die Arbeit mit den Informanten zu verbessern. Für den Katastrophenfall legte die sowjetische Geheimpolizei ein mehrseitiges »Merkblatt« bei. Darin aufgeführt waren banale Ernährungs- und Verhaltenstipps, mit denen die Überlebenschancen in radioaktiv verseuchten Zonen steigen sollten. Das reichte von der Empfehlung des Verzehrs von in Salz eingelegtem Meerrettich und Speiserüben bis hin zum Rauchverbot, vom Hinweis häufigen Waschens bis zum Tragen sauberer, staubfreier Kleidung.104

4.8 Protest gegen Kernkraftwerke Eine politisch wirksame Anti-Kernkraftwerksbewegung hat es bis in die späte DDR hinein anders als in der Bundesrepublik nicht gegeben. Das hatte einfache Gründe: Die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft war fester Bestandteil der SEDPolitik. Wer diese infrage stellte oder gar dagegen opponierte, lief unmittelbar Gefahr, persönliche und berufliche Nachteile zu erfahren oder auch ins Visier der Stasi zu geraten. Kernkraftwerke zumal sowjetischer Bauart galten im ostdeutschen Staat als moderne, sichere und saubere Energielieferanten. Politiker und Fachleute DSF KKW Nord in Auswertung der Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl v. 25.11.1986; BStU, MfS, BV Magdeburg, Stellv. Operativ, Nr. 7, Bl. 157–160; Weisung Nr. KKW 3/86 zur Durchsetzung der operativen Empfehlungen der sowjetischen Seite vom 6.8.1986 zur Verbesserung des Betriebes von Kernkraftwerken v. 27.8.1986; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 318, Bl. 1–4; Bericht zum Schutzbau der OD Kombinat »Bruno Leuschner« Greifswald v. 26.3.1987; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 169, Bl. 7–10; Zuarbeit zum Maßnahmeplan zur Vorbereitung der Evakuierung der OD KKW v. 25.8.1986; ebenda, Bl. 1 f.; Maßnahmen zur Vorbereitung der Evakuierung der Objektdienststelle KKW v. 10.10.1986; ebenda, Bl. 3–6; auch Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 65 f. 104  O. Tit., 16.5.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20569, Bl. 27 f.; Vervollkommnung der Abwehrarbeit in den Objekten der Kernenergetik im Zusammenhang mit der Havarie im KKW Tschernobyl v. 23.6.1987; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 26, Bl. 42–52; ebenso BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 203, Bd. 2, Bl. 187–197; ebenso BStU, MfS, BV Magdeburg, Stellv. Operativ, Nr. 7, Bl. 1–11.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

vermittelten dieses Bild, und der große Teil der Bevölkerung nahm es unkritisch an. Angesichts der alltäglichen Erfahrung mit den Folgen der Braunkohleverstromung blieb das nukleare Risiko für viele Ostdeutsche eher abstrakt und vertretbar. Mit dem Super-GAU im sowjetischen Tschernobyl vom Frühjahr 1986 begann sich diese Lage vorsichtig zu verschieben. Die Schriftstellerin Christa Wolf brachte die damals ausgelöste Sinnkrise in ihrer gesellschaftskritischen StörfallErzählung auf den Punkt: »Der strahlende Himmel. Das kann man nun auch nicht mehr denken.«105 Die Anti-Kernkraftwerksbewegung in der Bundesrepublik seit Ende der 1970er-Jahre nahmen die ostdeutschen Fachleute derweil durchaus zur Kenntnis. Die offizielle Position zu dieser war unter anderem in der Fachzeitschrift Kernenergie nachzulesen. Dort hieß es, die Anti-Kernkraftwerksbewegung sei Ausdruck der »ideologischen Krisensituation des Gesamtsystems« im Westen und auf den Osten nicht übertragbar.106 Der Historiker Ulrich Mählert verortet den sowjetischen Super-GAU in der DDR-Geschichte folgendermaßen: »Die Verharmlosung der Atomkatastrophe von Tschernobyl und ihrer Auswirkungen durch die DDR-Medien im Frühjahr 1986 führte den Menschen – mit oder ohne Parteibuch – die Verlogenheit der SED-Informationspolitik eindringlich vor Augen.«107 Zu ergänzen bliebe, dass die ostdeutsche Bevölkerung ganz unterschiedlich auf die staatliche Informationspolitik reagierte. Mancher schlug bei dem urplötzlich reichhaltigen Angebot an Obst und Gemüse im Frühjahr 1986 zu. Die meisten jedoch übten Zurückhaltung. So beobachtete die Stasi in den Wochen und Tagen nach Tschernobyl vielerorts übervolle Verkaufsregale. In der krisengeschüttelten ostdeutschen Wirtschaft Mitte der 1980er-Jahre war das ein unübersehbares Kuriosum. Das ungewöhnlich gute Verkaufsangebot erfüllte die Kundenwünsche jedoch nicht. Denn die Ostdeutschen hatten sich oftmals über westdeutsche Medien die Empfehlung geholt, auf frisches Obst und Gemüse sowie auf Milch zu verzichten. Diejenigen, die dennoch der verharmlosenden ostdeutschen Informationspolitik Glauben schenkten, taten das aus politischem Gehorsam, aus dem psychologisch erklärbaren Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit oder schlichtweg aus Naivität. Für die Opposition in der DDR war Tschernobyl dagegen ein Ereignis, vor dessen Hintergrund die verschiedenen Friedens-, Menschenrechts- und Umwelt­ gruppen gemeinsame, zum Teil die deutsch-deutsche Grenze überschreitende Aktio­nen und Veranstaltungen organisierten. Dazu gehörten der Appell »Tschernobyl wirkt überall« an den DDR-Ministerrat mit 141 Unterstützerunterschriften oder das 3. Berliner Ökologieseminar unter der Überschrift »Atomkraft und Alternativenergien« in der Ost-Berliner Zionsgemeinde, zu dem knapp 100 Teilnehmer 105  Wolf: Störfall, S. 30. 106  Vgl. Rockstroh: Zum Stand und zu einigen Tendenzen beim großindustriellen Einsatz der Kernenergie, S. 37–43, hier 40. 107  Mählert: Kleine Geschichte, S. 150.

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aus 36 Öko-Gruppen kamen. Das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg mit Michael Beleites und Sebastian Pflugbeil profilierte sich fortan als ostdeutscher Kritiker der Kernenergiewirtschaft. Im Appell »Tschernobyl wirkt überall« hieß es unter anderem: Die Reaktorhavarie in Tschernobyl hat bei uns Unsicherheit und das Gefühl der Bedrohung ausgelöst. […] Doch nicht nur die Bedrohung durch havarierte Kernkraftwerke ist augenscheinlich geworden, sondern ebenso die Auswirkungen einer verantwortungslosen und gesellschaftsgefährdenden Informationspolitik in Ost und West. Hier wurde entmündigt, desinformiert und verunsichert […].

Die Stasi-Bezirksverwaltung Rostock meinte dazu mit Rückgriff auf ein Schreiben des Mielke-Stellvertreters Rudi Mittig in ihrer menschenverachtenden Militärsprache: »Zum Vorgehen feindlich-negativer Kräfte der politischen Untergrundtätigkeit in der DDR liegen Hinweise vor, die Kernreaktorhavarie in Tschernobyl zum Anlass zu nehmen, um ihre provokativen Forderungen erneut öffentlichkeitswirksam darzustellen, sich damit aufzuwerten […].«108 Die Stasi beobachtete nach der nuklearen Katastrophe in Tschernobyl zunehmende Aktivitäten der unabhängigen Umweltgruppen bei der evangelischen Kirche. Sie fürchtete das Entstehen einer breiten Protestbewegung gegen die Kernenergiepolitik der SED und die ostdeutschen Kernkraftwerke. Innerhalb der Geheimpolizei galt deshalb die deutliche Ansage, »die im Innern der DDR agierenden Ökologiegruppen […] mit operativen und auch offiziell staatlichen Maßnahmen z. B. durch Zersetzung oder Überzeugung wirkungslos zu machen und eine politisch kluge Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen«.109

108  Vgl. Schreiben v. 13.6.1986; BStU, MfS, AGM, Nr. 253, Bl. 115–124 sowie Schreiben v. 24.6.1986; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. VI, Nr. 1274, Bl. 709–716; Zit.: ebenda, Bl. 712. 109  Vgl. Information zu Erscheinungen des Rückgangs beim Abkauf von Frühgemüse und Frischmilch durch die Bevölkerung v. 8.5.1986; BStU, MfS, HA VII, Nr. 1333, Bl. 242–244; Information über die Entwicklung und den Stand der Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte unter Ausnutzung der Kernreaktorhavarie in Tschernobyl für die Schaffung einer »Antikernkraftbewegung in der DDR« v. 19.11.1986; BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 6400, Bl. 1–6; Zit.: Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 135 f.; Sebastian Pflugbeil: Tschernobyl und die DDR. Zwischen staatlicher Leugnung und Bürgerbewegung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung Sachsen-Anhalt (Hg.): Tschernobyl und die DDR. Fakten und Verschleierungen – Auswirkungen bis heute? Magdeburg 2003, S. 24–35, hier 24 f.; Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Bonn 2000, S. 626–628; Kowalczuk: Endspiel, S. 125 f., 237 u. 287–289; ders.: Für ein freies Land, S. 273 ff.; Abele: Kernkraft, S. 100–103; Karlsch: Uran für Moskau, S. 191–194.

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Abb. 41: Lokaler Protest: Die Ärztin Erika Drees engagierte sich gegen das Kernkraftwerk bei Stendal. Zum 3. Jahrestag des Super-GAU in Tschernobyl brachte sie diese Postkarte 1989 in Umlauf, die auf den gescheiterten Turmbau zu Babel anspielt. Die Stasi verfolgte die Gegnerin der industriellen Nutzung der Kernenergie und spätere Mitgründerin des Neuen Forums in den 1980er-Jahren im Operativen Vorgang »Neurologe«.

Weder in der Kreisstadt Greifswald noch in der Gemeinde Lubmin beobachtete die Stasi nach Tschernobyl offene Diskussionen oder gar öffentlichen Protest zum nahe gelegenen Kernkraftwerk. Zwar gab es auch hier Schwierigkeiten im Gemüseverkauf, Chemie-Studenten der Greifswalder Universität zweifelten die veröffentlichte Ungefährlichkeit der Strahlensituation an und bisweilen kamen Fragen nach bestehenden Havarieplänen und der nuklearen Sicherheit auf. Insgesamt jedoch schien die staatliche Informationspolitik hier zu verfangen. Eine kleine

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Abb. 42: Protest aus Ost-Berlin: Die Umweltbibliothek in der Ost-Berliner Zions-Gemeinde entwickelte sich seit ihrer Gründung im September 1986 zu einem Zentrum der unabhängigen Umweltbewegung in der DDR. Der Stoff-Aufnäher entstand in deren Umfeld und ist im Original im Stasi-Unterlagen-Archiv überliefert.

Bleistiftkritzelei, die staatliche Sicherheitskräfte mehr als zwei Jahre nach dem Super-GAU am Lubminer Bahnhof entdeckten, hatte eher den Charakter eines Lausbuben-Streiches. An einem Wartehäuschen stand kaum leserlich geschrieben: »Heute Tschernobyl, morgen Lubmin – danach ist Krieg und keiner geht hin.«110 Auch der Schriftzug »Kernkraft – nein danke!« im Sommer 1989 auf dem Gelände des Kraftwerkes blieb ein freilich spektakulärer Einzelfall.111 Sehr viel häufiger registrierte die Stasi damals beispielsweise rechtsradikale oder ausländerfeindliche Schmierereien auf dem Kraftwerksgelände. In das Bild, dass es nach Tschernobyl keinen wirksamen Anti-Kernkraftwerksprotest aus dem Ostsee-Bezirk Rostock heraus gegeben hat, passte sich ein, dass es ausländische Aktivisten waren, die im Mai 1986 mit einer Protestaktion die Aufmerksamkeit der örtlichen Sicher110  Bericht zur Schmiererei am Bahnhof Lubmin Seebad v. 20.9.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 268, Bl. 71 f. 111  Vgl. Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 80–87, hier 82.

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heitsorgane erregten. Die Stasi beobachtete damals fünf Dänen, unter ihnen zwei Journalisten, beim Verteilen von Flugblättern in der Bezirksstadt Rostock. Ihre Botschaft lautete: »Denken Sie an Tschernobyl! Was kommt nächst, Greifswald?? Eine Gruppe aus Dänemark.« [sic!] Tatsächlich wäre Dänemark als nördlicher Nachbar der DDR von einem nuklearen Störfall am Greifswalder Bodden in besonderer Form betroffen gewesen. Die Stasi ließ die Aktivisten durch die Volkspolizei verhaften, zog ihre Flugblätter und Fotoaufnahmen ein und wies sie tags darauf nach Dänemark aus. Der Vorgang galt als politisch so brisant, dass über den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock hinaus auch Stasi-Minister Erich Mielke samt seiner Stellvertreter informiert wurde.112 Obwohl es nach Tschernobyl im Bezirk Rostock und in der Region Greifswald keinen öffentlichen Protest gegen die Nutzung der Kernenergie gab, beschäftigten sich hier Menschen kritisch mit dem Thema. Sie kamen oftmals aus dem Umfeld der evangelischen Kirche. Bereits Anfang 1986 gründete sich der Ökologiekreis der Evangelischen Landeskirche Greifswald (ELKG) und nahm sich solcher Themen wie Strahlenschutz als Tätigkeitsfeld der Zivilverteidigung, Theologie im Atomzeitalter oder Umweltschäden im Umfeld des Kernkraftwerkes an. Schon im September 1986 veranstaltete der Pfarrer der Greifswalder St. Mariengemeinde Reinhard Glöckner einen Abend unter dem Motto »Das KKW – unser Nachbar«. Vor knapp 30 Gästen verwies Glöckner auf die gestiegene gesellschaftliche Verantwortung, die die vergleichsweise junge Kerntechnologie mit sich brachte. Diese Verantwortung setze eine bessere Information der Bürger voraus, so der Pfarrer. Die anschließende Gesprächsrunde zeigte, weshalb sich Partei und Staat vor einer öffentlichen Debatte zur Kernenergie scheuten. Kritische Stimmen verwiesen auf die im Vergleich zum Westen zurückgebliebene ostdeutsche Kernenergiewirtschaft und die vom nahen Kernkraftwerk ausgehende Gefahr. Über Kritik an der ostdeutschen Informations- und Bildungspolitik führte das schließlich zu grundsätzlichen Forderungen wie einer Verjüngung des Personals in der DDR-Regierung.113 Im Herbst 1986 musste die Stasi zur Kenntnis nehmen, dass die nukleare Sicherheit des Kernkraftwerkes bei Greifswald und die ethische Verantwortung bei der Nutzung der Kernenergie während der Synode der Evangelischen 112  Vgl. Problem- und Arbeitskartei, 1988/89; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 24, Bl. 97 f.; Information zu staatsfeindlichen Schmierereien auf der H.-Toilette Sanilab II v. 14.6.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 187, Bl. 82; Bericht zum Informationsbedarf vom 17.5.1986, o. D. (1986); BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19281, Bl. 43–51, hier 51. Vgl. Information v. 7.5.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/312/89, T. II, Bd. 2, o. Pag. (Rückkopie;) Rapport Nr. 145/86 v. 26.5.1986; BStU, MfS, BV Rostock, HA VII, Nr. 7239, Bl. 137–142. 113  Information über Reaktionen kirchlich-klerikaler Kreise im Zusammenhang mit einer bedeutsamen Veranstaltung der Kirchgemeinde St. Marien Greifswald v. 8.10.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AOV I/1191/89, Bd. 2, Bl. 35–37; Information zur Tätigkeit des Ökologiearbeitskreises der Evangelischen Landeskirche Greifswald (ELKG) v. 12.5.1987; ebenda, Bl. 115–117.

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Landeskirche Greifswald behandelt wurden. Auch während der Kreissynode in der Stadt Greifswald Anfang 1987 kam das Thema wiederholt zur Sprache. Die Kirchenmitglieder anerkannten einerseits die vorsichtigen staatlichen Schritte einer Öffentlichkeitsarbeit. Sie forderten jedoch auch selbstbewusst: Mehr öffentliche Information! Zum energiebewussten Denken erziehen! […] Bei dem Unglück von Tschernobyl sind im Umkreis von 30 Kilometern lebensgefährliche Radioaktivitäten aufgetreten. Greifswald liegt nur 20 Kilometer vom KKW entfernt. Wie sieht es mit den Sicherheitsmaßnahmen bei einer Havarie aus? […] Diskussion über Alternativenergien ankurbeln!

Die Kirchenmitglieder beschlossen, über den Kreiskirchenrat das Gespräch mit der staatlichen Verwaltung zu suchen. Tatsächlich kam ein solches im Mai 1987 mit dem stellvertretenden Greifswalder Bürgermeister für Inneres zustande. Insbesondere hinsichtlich der eingeforderten größeren Offenheit und Öffentlichkeit rund um die Kernenergie blieb es hier jedoch bei unterschiedlichen Auffassungen. Auch von der Greifswalder Friedensdekade im November 1988 berichtete die Geheimpolizei zu Forderungen nach mehr erneuerbaren Energiequellen und einer besseren Information zu den Risiken des nahen Kernkraftwerkes.114 Ebenfalls christlich motiviert war ein »Rundtischgespräch«, das der Greifswalder CDU-Kreisverband im Sommer 1988 gegenüber dem Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates initiierte. Nach Abstimmung der Stasi-­Objektdienststelle im Kernkraftwerk, der SED-Kreisleitung und der Abteilung Inneres des Rates der Stadt Greifswald fand das mehrstündige Gespräch beim CDU-Kreisverband statt. Daran nahmen 15 CDU-Mitglieder teil, vier sowjetische Fachleute von der Großbaustelle und der Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit des Kombinates Kernkraftwerke. Letzterer informierte als inoffizieller Mitarbeiter »Konrad Bauer« die Geheimpolizei über den Inhalt der Gesprächsrunde. Ihm zufolge tat sich der CDU-Kreissekretär am Anfang durch Loyalitätsbekundungen gegenüber der SED-Diktatur hervor. Einfache CDU-Mitglieder, die zum Teil im Kernkraftwerk arbeiteten, stellten kritische Fragen zur nuklearen Sicherheit, den möglichen Folgen eines Flugzeugabsturzes auf das Kraftwerk, Vorkehrungen als Reaktion auf Tschernobyl, Umweltbelastungen und Strahlenschutz für das Kraftwerkspersonal oder dem Umgang mit abgebrannten Brennstoffkassetten. Die Antworten auf die gestellten Fragen hatten mit der Wirklichkeit kaum etwas 114  Vgl. Information über den Verlauf und die Ergebnisse der 2. Ordentlichen Tagung der VIII. Synode der Evangelischen Landeskirche Greifswald (ELKG) v. 5.11.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 260, T. I, Bl. 391–395, hier 394. Aus der Debatte in der Kreis­ synode 24.1.1987, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 230, Bl. 50 f.; Schreiben v. 23.2.1987 (Durchschrift); ebenda, Bl. 47; Aktennotiz v. 5.6.1987; ebenda, Bl. 48 f. Ebenso BStU, MfS, BV Rostock, AOV I/1191/89, Bd. 2, Bl. 104 f.; Information über die am 10., 12. und 14.11.1988 im Rahmen der Friedensdekade 1988 in Greifswald durchgeführten Veranstaltungen v. 16.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 281, T. I, Bl. 255–259, hier 258.

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gemein, was die CDU-Mitglieder seinerzeit freilich nicht prüfen konnten. Zur nuklearen Sicherheit führten die sowjetischen Fachleute aus, diese werde durch hohe Materialqualität und Qualifikation des Personals gewährleistet. Ein Überfliegen des Kernkraftwerkes sei verboten, sowieso sei der Reaktor selbst bei einem Flugzeugabsturz sicher. Oder: Die Umweltbelastung durch Braunkohle- und Chemiebetriebe sei allemal größer. Dem Beauftragten für die Öffentlichkeitsarbeit des Kernkraftwerkskombinates alias IM »Konrad Bauer« war dabei wichtig, dass über das Rundtischgespräch keine Meldung in der CDU-eigenen Zeitung Der Demokrat erscheine.115 Ähnlich wie beim Rundtischgespräch der CDU agierte die Stasi-Objektdienststelle auch bei späteren öffentlichen Veranstaltungen, die die Nutzung der Kernenergie kritisch behandelten. Wichtig war der Geheimpolizei die Kenntnis über solche Veranstaltungen, um sie beispielsweise durch den Einsatz instruierter Informanten überwachen und gegebenenfalls in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Das galt etwa für eine Gesprächsveranstaltung in Lobbe (Rügen) Anfang 1989 zum Thema »Für eine umweltfreundliche Energiewirtschaft«. Und das galt für die nur einen Tag später stattfindende Veranstaltung »Kernenergie in der DDR« im Rahmen der kirchlichen Veranstaltungsreihe Frieden konkret in der Kreisstadt Greifswald, einem jährlichen Treffen unabhängiger Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen. An beiden Veranstaltungen nahm der Kernkraftwerks-Kritiker Sebastian Pflugbeil teil. Während der Greifswalder Veranstaltung stand nach Absprache mit dem stellvertretenden Greifswalder Bürgermeister für Inneres und dem Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates eigens dessen Stellvertreter, Wolfgang Brune, Rede und Antwort. In einer späteren Auswertung der Veranstaltung, die auch auf dem Tisch der Stasi landete, stellte Brune ein großes und unbefriedigtes Interesse der Teilnehmer zu den Problemen der Kernenergiewirtschaft fest. Im Sommer 1989 schaffte es dann eine kleine Ausstellung eines Rostocker Ökologiekreises unter der Überschrift »Atomenergie. Nicht nur ökonomische, sondern auch politische Fragen. Geht jeden an« in den Greifswalder Dom. Der war nach einer aufwendigen Restaurierung nur kurz zuvor im Beisein des SED-Partei- und DDR-Staatschefs Erich Honecker und westdeutscher Prominenz pompös wiedereröffnet worden.116 Die Stasi bescheinigte der Ausstellung prompt einen »eindeutig verleumderischen und diffamierenden Inhalt«. Über den Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates und den stellvertretenden Bürgermeister für Inneres wurde Druck 115  Vgl. Schreiben v. 30.5.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 67, Bl. 149; Information des IMS »Konrad Bauer« zum Rundtischgespräch mit sowjetischen Energiespezialisten durch den Kreisverband der CDU Greifswald v. 4.7.1988; ebenda, Bl. 150; Information über das Rundtischgespräch mit den sowjetischen Spezialisten beim erweiterten Kreissekretariat des Kreisverbandes Greifswald der CDU v. 28.6.1988; ebenda, Bl. 151–153. 116  Zur Wiedereinweihung des Greifswalder Doms vgl. Neues Deutschland v. 12.6.1989, Titelseite.

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auf die Greifswalder Kirchenleitung zum Abbau der Ausstellung ausgeübt. Die Kirchenleitung gab diesem Druck nach.117 Hinzu kamen Aktionen von Kirchenmitgliedern, die sie unter die Überschrift des Konziliaren Prozesses »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« stellten und als kleinen, praktischen Umweltschutz vor Ort begriffen. Dieser behandelte örtliche Umweltsünden, die es im realen Sozialismus der späten DDR in einer großen Vielzahl gab. Der Ökologie-Kreis der Evangelischen Gemeinde Greifswald mit dem Stadtjugendwart Bernd Schröder widmete sich beispielsweise dem katastrophalen Zustand der Kläranlage der Stadt Greifswald in der wenige Kilometer entfernten Ortschaft Wampen. Die Abwasseranlage am Greifswalder Bodden stammte noch aus dem Jahr 1913 und wurde Ende der 1950er-Jahre letztmalig ausgebaut, jedoch war sie durch das spätere Wachstum der Stadt und den zunehmenden Pro-Kopf-Wasserverbrauch in den 1980er-Jahren weit überlastet. Aus den Klärbecken floss eine teils ungeklärte Brühe in den Bodden und gefährdete dessen biologisches Gleichgewicht. Das war mit Auge und Nase für jedermann wahrnehmbar. Als die Greifswalder Kirchenjugend die staatlichen Stellen mit dem unhaltbaren Zustand konfrontieren wollte, wurde das Ende 1987 zum Politikum. Gleiches galt, als Mitglieder des Ökologie-Kreises im Frühjahr 1987 bei der städtischen Verwaltung zur Rechtmäßigkeit des Abrisses von Baudenkmälern in der Greifswalder Altstadt vorsprachen oder ihre Hilfe für die Pflege städtischer Grünanlagen anboten. Angesichts solchen Engagements standen die großen und vermeintlich unantastbaren Themenfelder der SED-Politik, zu denen die Kernenergie gehörte, zunächst hintan.118 117  Operativinformation v. 28.2.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 206; Bericht IMS »Ralf Schneider« v. 28.2.1989; ebenda, Bl. 207–209; Operativinformation v. 28.2.1989; ebenda, Bl. 210; Kurzbericht über ein Forum zum Thema Kernenergie in der DDR im Rahmen der kirchlichen Veranstaltung »Frieden konkret« am 25.2.1989 v. 27.2.1989; ebenda, Bl. 211 f.; Information zu einer öffentlichen Veranstaltung zu Fragen der Energiewirtschaft in Lobbe/Rügen v. 2.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 594, Bl. 203 f.; Information über eine Ausstellung zum Thema »Atomenergie« im Greifswalder Dom v. 22.8.1989; ebenda, Bl. 68; Information über eine Ausstellung zum Thema »Atomenergie« v. 24.8.1989; ebenda, Bl. 67; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 421–428, hier 423; Information über die Durchführung des sogenannten Friedensseminars »Konkret für den Frieden VII« vom 24. bis 26. Februar 1989 in Greifswald v. 4.3.1989; BStU, MfS, HA XX, ZMA, Nr. 1999 (4), Bl. 47–57, hier 49 u. 52; Information über das sogenannte Friedensseminar »Konkret für den Frieden VII« vom 24. bis 26. Februar 1989 in Greifswald v. 27.2.1989; ebenda, Bl. 58–76, hier 63 f. u. 68 f. Auch Christian Halbrock: »Freiheit heißt, die Angst verlieren«. Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock. Göttingen 2015, S. 391 f. 118  Vgl. Information über Aktivitäten eines kirchlichen Ökologiearbeitskreises und zum Zustand der Kläranlage Wampen des VEB Wasserversorgung/Abwasserbehandlung Rostock, Betriebsteil 4 Greifswald v. 4.12.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 659–661; Information über die Forcierung der kirchlichen Jugendarbeit im Kirchenkreis Greifswald-Stadt

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4.9 Zunehmende Bauzeiten und Kostenexplosion Derweil plante man Mitte der 1970er-Jahre eine Fertigstellung der Ausbaustufen Nord I bis Nord IV mit ihren acht Reaktoren bis Mitte der 1980er-Jahre (Reaktoren 5/6/7/8 – Inbetriebnahme 1983/1985/1986/1987). Die Arbeiten an der Ausbaustufe Nord III begannen jedoch verspätet erst 1977. Die Gründe dafür waren materielle, finanzielle und personelle Engpässe sowie Erfahrungen im Kernkraftwerksbetrieb und mit der nuklearen Sicherheit, die Berücksichtigung finden sollten. Nachdem der Ausbau Mitte der 1970er-Jahre schon einmal aufgeschoben worden war, kam er Anfang der 1980er-Jahre am Reaktor 5 bei bereits eingesetztem Reaktordruckgefäß praktisch zum Erliegen. Eine chaotische Informationspolitik seitens SED, staatlicher Ministerien und der Kombinatsleitung führte ab Mitte der 1970er-Jahre zu Gerüchten, der Kraftwerksbau werde aus Sicherheitsgründen, wegen ungenügender technologischer Lösungen oder fehlender wirtschaftlicher Möglichkeiten fallen gelassen. Auf der Großbaustelle, in der Gemeinde Lubmin oder in der Kreisstadt Greifswald kursierten Geschichten vom Hörensagen, in denen von einer Vielzahl toter Vögel im Greifswalder Bodden, Protest vom Ostsee-Anrainer Schweden oder Lieferschwierigkeiten der Sowjetunion die Rede war. Deshalb würden staatlicherseits, so die Geschichten, Beschränkungen des örtlichen Tourismus oder der Import von Kernkraftwerken aus Schweden und Japan geprüft. Vonseiten der SED begegnete man dem mit dem vagen Hinweis, dass sowjetische Entwicklungen bevorstünden, die es abzuwarten gelte. Dem ostdeutschen »Atom-Spion« Klaus Fuchs gelang seinerzeit das rhetorische Kunststück, die gegenüber dem Westen zusehends zurückfallende ostdeutsche Kernenergiewirtschaft als die eigentlich stärkere Industrie umzudeuten. Im Gegensatz zur atemlosen Hatz in den kapitalistischen Ländern leiste man sich im Osten eine »gewisse Zurückhaltung«, um gewonnene Betriebserfahrungen in die nukleare Sicherheit zu investieren. Das war allenfalls die halbe Wahrheit und lediglich insofern nicht gänzlich falsch, wenn man unter dieser »Zurückhaltung« die Krise der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft verstand, die zugleich eine Krise der Kernenergiewirtschaft im gesamten RGW war.119 Tatsächlich bestand die Sowjetunion seinerzeit auf der Errichtung weiterentwickelter Reaktoren für die Blöcke 5 bis 8, der das SED-Politbüro im Frühjahr 1976 zustimmte. Die Umsetzung des völlig neuen Projektes verzögerte sich jedoch v. 7.4.1987; ebenda, Bl. 815–817; auch Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 44–46. 119  Vgl. Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 42; Reichert: Kernenergiewirtschaft, S. 310 f.; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 122; Klaus Fuchs: Über die Zuverlässigkeit von Kernkraftwerken. In: Kernenergie (1984) 2, S. 69–74; Information über die Situation im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 30.4.1976; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 241–246; Information über Stimmungen im KKW Nord v. 30.4.1976; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 68, Bl. 157–161.

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fortlaufend. Schon zu Jahresbeginn 1978 vermerkte die ostdeutsche Geheimpolizei: »Zum Ablauf des KKW Nord III/IV gibt es gegenwärtig […] große Probleme.«120 Vom mittleren leitenden Personal auf der Großbaustelle hielt die Geheimpolizei Mitte 1980 zum Reaktor 5 die weitverbreitete Meinung fest: »Alle erkennen, dass der Staatsplantermin 1983 unter den jetzigen Bedingungen nicht gehalten werden kann. Es getraut sich aber keiner, die Wahrheit zu sagen.«121 Im Jahr der ursprünglich einmal geplanten Inbetriebnahme 1983 wusste die Stasi zu berichten, dass auch der neue Termin 1985 nicht zu halten sei und sich auch die Inbetriebnahme der folgenden Blöcke weiter verschiebe. Unter Abteilungsleitern des Kraftwerkes hieß es mit Blick auf die geduldige Eigenschaft von Papier zu immer neuen Plankorrekturen resignierend: »Es wird mal wieder Papier gemacht, um den Forderungen von Oben Genüge zu tun.«122 Und den Generaldirektor des Kombinates Kernkraftwerke Reiner Lehmann kann man wohl kaum als mutig bezeichnen, wenn er im Frühjahr 1986 vorgab, gegenüber der zuständigen staatlichen Regierungskommission offen darzulegen, dass der Reaktor 5 bis zum kommenden Jahr nicht in Betrieb gehen würde. Denn jenseits der zentralen Bürostuben muss das offenkundig gewesen sein. Mut – allerdings in problematischer Hinsicht – bewies dagegen der verantwortliche Vorhabendirektor für die Inbetriebnahme des Reaktors 5 Helmut Adam, als er im Sommer 1988 eine Kürzung der Anlagenprüfung von 60 auf 22 Arbeitstage anwies. Die mehr als 10 000 vor Inbetriebnahme notwendigen Prüfschritte sollten dafür auf den nuklearen Teil der Anlage konzentriert werden. Die Stasi schreckte damals der Umstand auf, dass weder die Schaltbilder noch die Bedienungsvorschriften für den neuen Reaktor vollständig vorlagen. Beides stellte keinesfalls eine Lappalie dar, sondern beeinträchtigte die Inbetriebnahme sowie das Anlernen des Leitungs- und Bedienpersonals. In der Folge entwickelten sich große Hektik und Betriebsamkeit, um unter dem großen Zeitdruck die benötigten Unterlagen zu vervollständigen, zu aktualisieren und vom Russischen ins Deutsche zu übersetzen. Noch im Oktober 1988 soll der Stellvertreter des Generaldirektors des Kernkraftwerkskombinates Wolfgang Brune laut der Stasi geäußert haben: »Die technische Dokumentation ist in einem katastrophalen Zustande. Es existieren keine verbindlichen Schaltpläne.«123 Dass ungeachtet der lückenhaften Anlagen120  Information über die politische und ökonomische Lage und Situation auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 15.1.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 172–178, hier 174. 121  Information über einige politisch-ideologische und ökonomische Probleme auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord und im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald v. 30.9.1980; ebenda, Bl. 61–64, hier 62. 122  Information über den Realisierungsstand der Bauvorhaben des KKW Nord III/IV v. 9.4.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 259, T. II, Bl. 563–566; Zit.: Mündlicher Bericht IMS »K. Klotsche« v. 19.10.1984; BStU, MfS, BV Rostock, AIM »Kurt Klotsche« 4637/91, T. II, Bd. 2, Bl. 104. 123  Notiz v. 3.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 391 f.

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dokumentation bereits die Brennstoffbeladung des Reaktors 5 geplant war, war einer von mehreren Gründen für eine aufsehenerregende Kollektiveingabe der dortigen A-Schicht an den DDR-Staatsrat im Oktober 1988.124 Interessanterweise hing auch die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin bis zuletzt völlig unrealistischen Inbetriebnahmeterminen nach. Während die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk durchaus wirklichkeitsnah über das nicht enden wollende Fiasko der Großbaustelle berichtete, machte der Stellvertreter des Leiters der Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft), Oberst Gerhard Böhm, noch im Frühjahr 1987 im Rahmen einer Beratung die irrwitzige Aussage, die Greifswalder Reaktoren 5/6/7/8 würden 1988/89/90/91 den Dauerbetrieb aufnehmen. Hier wusste offensichtlich die Ost-Berliner Zentrale nicht, was für die StasiObjektdienststelle im Kernkraftwerk eine Binsenweisheit war. Engpässe, Fehler und Zehntausende nachträgliche Änderungen im Projekt und beim Material, bei Ausrüstungen und Arbeitskräften sowie Missmanagement und Montagemängel waren Gründe, weshalb die Rückstände stetig zunahmen und die zentralen Pläne Makulatur wurden. Hinzu kamen die Erfahrungen aus den schweren nuklearen Unfällen im US-amerikanischen Harrisburg und vor allem im sowjetischen Tschernobyl, die man für die Greifswalder Reaktoren 5 bis 8 zu berücksichtigen suchte. All das führte zu immer neuen Verschiebungen und dazu, dass man noch Ende 1988 im SED-Zentralkomitee eine »mangelhafte technologische Durchdringung« für den unfertigen Reaktor 5 verantwortlich machte.125 Das alles hatte freilich wirtschaftliche Konsequenzen. Wegen der ausbleibenden Inbetriebnahme des Reaktors 5 gab es keine Grundlage, die im Kernkraftwerk zwischen 1980 und 1985 geplante Produktionssteigerung von 972 Millionen Mark auf 1,12 Milliarden Mark und die Gewinnsteigerung von 543 Millionen Mark auf 620 Millionen Mark zu erreichen. Ähnlich wie das Kernkraftwerkskombinat ging im Sommer 1989 auch die Stasi davon aus, dass mit der verzögerten Inbetriebnahme des Reaktors 5 Monat für Monat ein Ausfall der Stromproduktion in Höhe von 200 Millionen Mark einherging. Nach mittlerweile zwölf Jahren Planung und Bau ging der Reaktor 5 im Frühjahr 1989 sechs Jahre später als 124  Vgl. Mündliche Info IMS »K. Klotsche« v. 10.6.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AIM »Kurt Klotsche« 4637/91, T. II, Bd. 4, Bl. 302 f.; Information zu bestehenden Problemen bei der termin- und qualitätsgerechten Bereitstellung von Bedienungsvorschriften für die Inbetriebnahme des Blockes 5 des KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 17.5.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 2, Bl. 107–110. 125  Vgl. Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 102; Information über einige Probleme beim Bau der Blöcke 5 und 6 im KKW Nord III Lubmin v. 17.9.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 260, T. I, Bl. 324–327; Berichterstattung Leiter OD vor Leiter BV am 9.3.1989 in der OD KKW v. 8.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 151–159, hier 151. Schreiben v. 11.10.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 285, Bl. 78; Zit.: Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED v. 15.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 346–360, hier 353.

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geplant in den Probebetrieb. Wegen eines Störfalls sperrte das ostdeutsche Strahlenschutzamt den Reaktor Ende November 1989, bis dahin hatte er nur eine geringe Menge Strom in das öffentliche Verbundnetz abgegeben. In den regulären Dauerbetrieb ging der Reaktor 5 niemals. Der DDR gelang es in ihrem letzten Jahrzehnt nicht, über die vier Reaktoren der ersten beiden Ausbaustufen hinaus, einen weiteren Reaktor bei Greifswald in Betrieb zu nehmen. Gegenüber Ländern wie der Bundesrepublik, Frankreich oder Schweden nahm der Rückstand zur installierten Kernenergie-Leistung deutlich zu. Zuletzt lieferte das Kernkraftwerk bei Greifswald zwischen 10 und 12 Prozent der gesamten ostdeutschen Energie. Im deutsch-deutschen Vergleich schnitt die Bundesrepublik erheblich anders ab. Dort erzeugten die Kernkraftwerke seinerzeit knapp ein Drittel des gesamten elektrischen Stroms.126 Die Tatsache, dass der Kraftwerkskomplex in der Lubminer Heide zwischen Greifswald und Wolgast unvollendet blieb, war ein Ausdruck fortwährender, wiederkehrender sowie neuer Schwierigkeiten bei seiner Konstruktion und Bauausführung. Ursache war einerseits die anspruchsvolle Materie des Kernkraftwerksbaus an sich, die bei der Errichtung und Inbetriebnahme des Reaktors 5 als Prototyp noch einmal voll durchschlug. Erschwerend wirkten darüber hinaus der große Mangel an Quantität und Qualität des Bau- und Ausrüstungsmaterials, Personalengpässe sowie Projektänderungen, Nichterfüllung und Schummelei hinsichtlich der vorgegebenen Pläne. Eine zunehmende Anzahl an Störungen, fehlende Ordnung und Sicherheit, aufkommende Resignation und Gleichgültigkeit sowie Personalabwanderung und fehlendes Fachpersonal beeinflussten sich fortlaufend gegenseitig. Im Frühjahr 1983 – dem Jahr der zwischenzeitlich geplanten Inbetriebnahme – berichtete die Geheimpolizei von der Großbaustelle zu den Reaktoren 5 bis 8 beispielsweise über Hunderte fehlende Armaturen, austenitische (rostfreie) Spezialrohre in ungenügender Qualität, fehlendes Importrohr und Isoliermaterial in erheblichen Größenordnungen, nicht vorhergesehene Instandsetzungen an den Ausbaustufen Nord I und II, die den Fortgang bei Nord III beeinträchtigten, erhöhte Sicherheitsvorgaben, die längere Errichtungszeiten nach sich zogen oder auch über zu spät freigegebene Devisen und sich damit verzögernde West-Importe. Zu solchen großen Schwierigkeiten kamen kleinere 126  Stinglwagner: Energiewirtschaft, S. 68; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 66; Schönherr: Greifswald, S. 236; Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 42 u. 47; Müller: Kernenergie, S. 205–207; Liewers; Abele; Barkleit: Einleitung, S. 13; Abele: Kernkraft, S. 63 f.; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 54 u. 70 sowie Interview Hans-Joachim Hübler: Die Sicherheit ist heute weg. In: Mellies; Möller: Greifswald 1989, S. 155–163, hier 158. Auszüge aus der Intensivierungskonzeption 1981–1985 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« v. 30.10.1981. In: Hess: Die Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 59–82, hier 62; Information zur operativen Lage bei der Inbetriebsetzung und beim Probebetrieb des Blockes 5 im Kernkraftwerk Greifswald/Bezirk Rostock v. 8.8.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 24436, Bl. 71–78, hier 76.

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hinzu, die in ihrer Vielzahl zu den Verzögerungen beitrugen: Arbeitsbummelei, Alkoholkonsum und Diebstahl auf der Großbaustelle oder eine unzureichende Versorgung der Bauarbeiter und Monteure mit Verpflegung und Wohnraum.127 Die anwachsenden Bau- und Inbetriebnahmezeiten führten zu einer Steigerung der Errichtungskosten. Anfangs waren Investitionen für die ersten beiden Reaktoren der Ausbaustufe Nord I in Höhe von 1,55 Milliarden Mark geplant. Für die Ausbaustufe Nord II mit den folgenden zwei Reaktoren waren 1,8 Milliarden Mark veranschlagt. Welche Dimensionen das waren, zeigte die Einordnung des Greifswalder Bürgermeisters im November 1967 gegenüber seinen Stadtverordneten, das Vorhaben sei als seinerzeit größte Investition im Bezirk Rostock doppelt so kostspielig wie der Rostocker Überseehafen gewesen. Und kurz vor der Inbetriebnahme des ersten Reaktors galt das Kernkraftwerk Anfang der 1970er-Jahre der Stasi als das größte laufende Vorhaben der ostdeutschen Energie­ wirtschaft mit einem täglichen Kostenvolumen von 3 Millionen Mark – das hätte jährlichen Kosten von etwas mehr als einer Milliarde Mark entsprochen.128 Während sich die tatsächlichen Kosten für Nord I mit 1,6 Milliarden Mark noch gut an den Vorgaben orientierten, betrugen sie für Nord II bereits 2,1 Milliarden Mark. Die Kosten für die Langzeitbaustellen Nord III und Nord IV mit den Reaktoren 5 bis 8 liefen dann völlig aus dem Ruder. Die Leitung des Kombinates Kernkraftwerke gab im Frühjahr 1987 eine Kostensteigerung von 7 Milliarden Mark auf 11 Milliarden Mark an. Die Ost-Berliner Stasi-Zentrale ging von der gleichen Kostensteigerung aus. Im Januar 1990 bezifferte der Staatssekretär der Staatlichen Plankommission die Kosten für die Reaktoren 5 bis 8 am Zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin schließlich auf 14,4 Milliarden Mark. Damit hatte 127  Vgl. Information über Ursachen und begünstigende Bedingungen von Störungen und anderen außerplanmäßigen Ereignissen im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« v. 30.10.1979; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 104–107; Information über unplanmäßiges Abschalten des Blockes 4 während des 72-h-Nachweisbetriebes v. 29.10.1979; ebenda, Bl. 109–111; Information über den Realisierungsstand der Bauvorhaben des KKW Nord III/IV v. 9.4.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 259, T. II, Bl. 563–566, hier 565 f.; Information über auftretende Korrosion an Rohrleitungen im Montageumfang IKR, Block 5 v. 21.3.1983; ebenda, Bl. 549–555; Information über den Stand des Bau- und Montagegeschehens auf der Großbaustelle KKW Nord III v. 27.3.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 260, T. I, Bl. 104–109, hier 104 f.; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 21.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 467–480, hier 468–472; Information über den Realisierungsstand der Bauvorhaben des KKW Nord III/IV v. 9.4.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 259, T. II, Bl. 563–566, hier 565; Köhler: Kraftwerksanlagenbau, S. 124–133 u. 154; Schönherr: Greifswald, S. 236; Horlamus: Kernenergie­w irtschaft, S. 43; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 66 f. 128  Vgl. Referat »Welche Aufgaben ergeben sich für die Stadtverordnetenversammlung und ihre Organe bei der Ausarbeitung der Perspektivkonzeption für die Stadt Greifswald?« v. 22.11.1967; Stadtarchiv Greifswald, Rep. 7.7.1, Nr. 199, Bl. 40; Müller: Zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit einer Operativgruppe, S. 22.

Zunehmende Bauzeiten und Kostenexplosion

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Abb. 43: Die Stasi dokumentierte geleerte Schnapsflaschen der Marken »Goldsiegel« und »Stammtisch« auf der Baustelle zum Reaktor 5.

sich die Errichtung pro Reaktor von 800 Millionen Mark auf 3,6 Milliarden Mark verteuert!129

129  Vgl. Vorhabenpläne KKW Nord III/IV, KKW Stendal und Reko Nord I/II v. 24.3.1987; BStU, MfS, BV Magdeburg, Stellv. Op., Nr. 7, Bl. 137–142; Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 96; Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.4.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 448–459, hier 452. Die Bezirksplankommission Rostock ging im Sommer 1967 von Kosten für die Errichtung der Baustufe Nord I in Höhe von 1,1 Mrd. MDN aus. Vgl. Technisch-ökonomische Konzeption der Stadtentwicklung Greifswald v. 30.6.1967; Stadtarchiv Greifswald, Rep. 7.4, Nr. 87, S. 12; Protokoll 5. Sitzung v. 3.1.1990. In: Thaysen (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch, Bd. II, S. 257–307, hier 279; Reichert: Kernenergiewirtschaft, S. 304–307.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

4.10 Die Krise als Untersuchungsgegenstand der Stasi Das Verfehlen der zentralen Pläne bewirkte, dass sich die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk der Großbaustelle in besonderer Art und Weise annahm. Im Frühjahr 1985 legte sie zu der offensichtlichen Krise den operativen Vorgang »Qualität« an. In ihm ermittelte sie gegen »Unbekannt« wegen des Verdachts des Vertrauensmissbrauchs und der vorsätzlichen Schädigung der Wirtschaft. Ausgangspunkt der Ermittlungen waren Erkenntnisse zu Verstößen gegen sowjetische Vorgaben für Lagerung, Transport und Verarbeitung von austenitischem (rostfreien) Material. Bei Schweißarbeiten an dem teuren Material war es zu erheblichen Fehlerquoten samt umfangreichen Nacharbeiten an sensiblen Abschnitten (beispielsweise Hauptumwälzleitung im ersten Kreislauf) gekommen. Die Verarbeitungsfehler beeinflussten die nukleare Sicherheit, ihre Ausbesserung war zeitaufwendig und teuer. An einem einzelnen Baustellenabschnitt (Nasskondensation) waren Schweißnähte von mehr als 3 Kilometern Länge zu überarbeiten. Laut Stasi-Angaben beanspruchte allein das 64 000 zusätzliche Arbeitsstunden, der wirtschaftliche Schaden lag bei 2 Millionen Mark. Als Ursachen für das Missachten der sowjetischen Vorgaben galten der Geheimpolizei eine schlechte Personalpolitik in den zurückliegenden Jahren und unerfahrenes Personal auf der Großbaustelle. Zugleich musste sie Ursachen zur Kenntnis nehmen wie das Fehlen von Schweißfachleuten, Schweißtechnik und technischen Unterlagen. Dabei war die geheimpolizeiliche Begründung ihrer Tätigkeit »zur vorbeugenden Qualitätssicherung« der Reaktoren 5 bis 8 insofern hanebüchen, als der Schaden längst eingetreten und die strukturellen Gründe für sein massives Auswachsen längst geschaffen waren.130 Gleichwohl zeigte sich wiederholt, dass die Stasi die große Bedeutung der nuklearen Sicherheit bereits vor Tschernobyl zunehmend erkannte. So hieß es im geheimen Eröffnungsbericht des OV »Qualität« in typischer Stasi-Sprache: Durch die politisch-operative Arbeit […] sind Voraussetzungen für die Gewährleistung der nuklearen und Anlagensicherheit während des Betriebes der KKW-Blöcke 5 bis 8 zu schaffen, um rechtzeitig vorbeugende schadensabwendende Maßnahmen im Bauund Montageprozess einleiten und realisieren zu können. […] Die qualitätsgerechte Errichtung eines KKW [...] ist eine unerlässliche Voraussetzung für den sicheren Betrieb, insbesondere der nuklearen Anlagen. Auftretende Havarien in diesen Bereichen können hohe materielle Schäden und politische Konsequenzen zur Folge haben.131

130  Einschätzung zum Eröffnungsbericht des Operativvorganges »Qualität« v. 1.4.1985; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 1, Bl. 6. 131  Beschluss über das Anlegen eines Operativen Vorgangs v. 20.3.1985; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 1, Bl. 2; Eröffnungsbericht Operativvorgang »Qualität« v. 19.3.1985; ebenda, Bl. 7–12, hier 8–11.

Die Krise als Untersuchungsgegenstand der Stasi

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Auch wenn die Geheimpolizei wiederholt »allgemein vorhandene Unordnung und ungenügende Wirksamkeit der Führungs- und Leitungsprozesse«132 innerhalb des Kombinates Kraftwerksanlagenbau auf der Großbaustelle, also örtliche Missstände, konzedierte, kam sie doch nicht umhin, die dortigen Schwierigkeiten und Leistungsausfälle als grundsätzliche Missstände der ostdeutschen Kernenergie­ wirtschaft insgesamt zu erkennen. Ein Jahr nach Beginn ihrer Ermittlungen vermerkte sie im Mai 1986 unmittelbar nach dem Super-GAU in Tschernobyl, es seien vor allem zentrale Entscheidungen und Maßnahmen für das Erreichen der notwendigen Qualität im DDR-Kernkraftwerksbau vonnöten. War die Stasi gewohnt, einzelne Personen oder Personengruppen als verantwortliche Schuldträger zu bestimmen, lag der Fall hier anders. Denn hier war sie mit einem strukturellen Problem konfrontiert, auf das die Akteure vor Ort und auch sie selbst kaum Einfluss nehmen konnten. Hinter verschlossenen Türen redeten die Stasi-Offiziere dazu Tacheles. Von einer Dienstberatung mit Offizieren aus der Stasi-Zentrale vermerkte die Objektdienststelle im Kernkraftwerk: »Bestätigt wurde, dass die DDR-Industrie ungenügend auf die KKW-gerechte Produktion eingestellt ist.«133 Die Informationen der Stasi-Objektdienststelle an die Rostocker Stasi-Bezirksverwaltung, die SED-Bezirksleitung, den Generaldirektor des Kraftwerksanlagenbaukombinates oder den stellvertretenden Minister für Schwer­ maschinen- und Anlagenbau hatten darauf, wenn überhaupt, nur indirekten Einfluss. Wozu also waren die Berichte der Geheimpolizei nütze?134 Hinsichtlich gravierender Verstöße der beteiligten Ministerien, Kombinate und Betriebe auf der Großbaustelle – gleich, ob als Folge von Schluderei, mangelnden Fähigkeiten oder Möglichkeiten – konnte die Geheimpolizei mit den von ihr installierten Offizieren im besonderen Einsatz innerhalb der Inspektion beim Ministerrat, mit inoffiziellen Mitarbeitern und anderen Informanten, durch initiierte Wechsel des Leitungspersonals oder mit geheimen Abhörmaßnahmen nur sehr begrenzten Einfluss nehmen. Daher machte sich die Stasi daran, ein allgemeingültiges Regelwerk zu schaffen, um das Qualitätsniveau im ostdeutschen Kernkraftwerksbau kurzfristig zu heben. Erneut wurde damit der kurzsichtige Ansatz deutlich, grundlegende wirtschaftliche und technische Investitionen oder Innovationen durch eine vergleichsweise schnelle und kostengünstige organisatorische Lösung über den Faktor »Mensch« ersetzen zu wollen. Für die Erarbeitung eines solchen Regelwerkes bediente sich die Stasi unter anderem der KernenergieFachleute unter ihren Informanten. Und schenkt man der Berichterstattung der Geheimpolizei Glauben, flossen ihre konzeptionellen Ideen dazu in einen 132  Zwischenbericht Operativvorgang »Qualität« v. 14.10.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 17–20, hier 19. 133  Vermerk zum OV »Qualität« v. 21.6.1988; ebenda, Bd. 2, Bl. 312 f. 134  Aktenvermerk zu vorbeugenden schadensabwendenden Aktivitäten OV »Qualität« v. 12.5.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 1, Bl. 22 f.; Zwischenbericht Operativvorgang »Qualität« v. 20.5.1986; ebenda, Bl. 24–27.

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Ministerratsbeschluss zur Sicherheit für DDR-Kernkraftwerke vom November 1986 ein. Dieser Beschluss spiegelte das Wissen der SED- und DDR-Führung um die Bedeutung der nuklearen Sicherheit und die nicht ausreichenden Fähigkeiten der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft dazu wider. In ihm hieß es unter anderem: Die Auswertung der Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl unterstreicht die Notwendigkeit, höchste Qualitätsanforderungen an die Errichtung neuer Kernkraftwerke zu stellen. Das erfordert den Einsatz leistungsstarker und hochqualifizierter Kapazitäten des Anlagenbaus und des Bauwesens. Die gegenwärtig für die Kernkraftwerksvorhaben eingesetzten Kapazitäten der DDR reichen dazu nicht aus.135

Auch wenn die Staatssicherheit mit der zweifelsohne richtig erkannten Bedeutung der nuklearen Sicherheit auf die politische Führung Einfluss nahm, konnte sie damit nicht wirklich zur Überwindung der strukturellen Krise des ostdeutschen Kernkraftwerksbaus beitragen. Vielmehr musste sie im Rahmen ihres operativen Vorganges »Qualität« hinnehmen, dass für die angestrebte »KKW-Qualität« bei Bau und Montage schlichtweg qualifizierte Arbeitskräfte, leistungsfähige Technik und vollständige Projektunterlagen fehlten. Das Fehlen von Qualität und Quantität beeinflussten sich dabei gegenseitig. Zahlreiche ungelöste Fragen entwickelten sich nach Auskunft der Stasi-Informanten zu »Kardinalproblemen«. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wuchsen sich die ohnehin gravierenden Terminverschiebungen zur Errichtung der Reaktoren 5 bis 8 zu kaum zu bewältigenden Herausforderungen aus. Die Sowjetunion als Kraftwerkslieferant konzentrierte sich mittlerweile auf weiterentwickelte KKW-Typen. Die große Zahl ungelöster Greifswalder Projektfragen zog daher oftmals zeitaufwendige und kostspielige Einzel­lösungen nach sich. Die Stasi ging im Sommer 1988 von beinahe 15 000 Projekt­ä nderungen bei Bau, Ausrüstung, Stromtechnik sowie den Mess-, Steuerungs- und Regelungsanlagen aus. Die Großbaustelle verschliss innerhalb weniger Jahre eine Vielzahl von Leitungsmitarbeitern, wobei die Geheimpolizei insbesondere auf der mittleren Ebene ungenügende Qualifikationen zum Kernkraftwerksbau auszumachen glaubte. Armaturen und Ventile aus DDR-Fertigung entsprachen nicht den Anforderungen und mussten durch West-Importe ersetzt werden. Lüfter, Motoren und Spezialkabel aus der Sowjetunion mussten bereits vor ihrem Einbau repariert oder ganz ersetzt werden. Absurde Aufholkonzeptionen waren wertlos und konnten bei genauer Betrachtungsweise nicht einmal auf dem Papier funktionieren. In der Folge behinderten sich Bau- und Montagebetriebe gegenseitig in ihrer Arbeit 135  Zwischenbericht OV »Qualität« v. 25.5.1987; ebenda, Bl. 28–30. Unterstützungsersuchen zum OV »Qualität« der OD KKW Lubmin v. 18.9.1986; ebenda, Bd. 2, Bl. 61–65; Zit. in: Aktenvermerk zum OV »Qualität« v. 21.1.1987; ebenda, Bl. 280–284, hier 282; Gesprächsgrundlage für die Darstellung des Sachstandes zum OV »Qualität« zur Zusammenarbeit mit dem MfS, HA XVIII/3 v. 6.4.1988; ebenda, Bl. 299–301.

Die Krise als Untersuchungsgegenstand der Stasi

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oder schufen neue Baustellen. Durch massive Schwerstbetonwände mussten im Nachhinein Hunderte Durchbohrungen eingebracht werden, Rohrleitungen aus Austenit wurden durch nachfolgende Schweiß- und Maurerarbeiten beschädigt, Ausrüstungen mussten wieder zurückgebaut werden, Zulieferfirmen sollten ihre ohnehin nicht erbrachten Leistungen in den kommenden Jahren verdreifachen. Anlagentechnik wie Dampferzeuger oder Schaltschränke wurde, weil sie nicht verbaut werden konnte, unsachgemäß zwischengelagert. Bereits installierte, aber noch nicht in Betrieb genommene Anlagentechnik drohte derweil zu verschleißen. Rohrleitungen bis hin zum ersten Kreislauf samt Reaktordruckgefäß verdreckten, spannungslose Elektrotechnik korrodierte im Laufe der Jahre. Vermeintlich fertiggestellte Dächer des Maschinenhauses waren undicht, Betonfundamente für schwere Maschinentechnik fehlerhaft.136 Die ergebnislosen Anstrengungen zur Fertigstellung von Reaktor 5 bewirkten zwischenzeitlich eine Demoralisierung der Arbeiter und eine Vernachlässigung der Arbeiten an den übrigen Reaktoren. Weil dort nach überholten Projektunterlagen gearbeitet wurde, in denen zahlreiche Änderungen fehlten, schätzte ein Informant gegenüber seinem Stasi-Offizier Anfang 1989 ein: Aufgrund fehlender Projekte wäre für den weiteren Bau der Blöcke 6 bis 8 ein Baustopp seitens der TÜ [Technischen Überprüfung] gerechtfertigt. Im Interesse einer weiteren vernünftigen Zusammenarbeit mit dem GAN [Generalauftragnehmer] wurde das dazu vorbereitete Schreiben nicht als offizielles Schreiben, ohne Unterschrift, an den GAN übergeben mit dem Hinweis, eine 14-tägige Frist zuzubilligen.137

Mit einem solcherweise unterlassenem Baustopp der Reaktoren 6 bis 8 wäre zum Skandal geworden, was Kritiker der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft als grundsätzlichen Mangel vorhielten: Die fehlende institutionelle Trennschärfe zwischen staatlichem Kontrollorgan und staatlichem Kraftwerksbauer und -betreiber untergrub die staatliche Überwachung und Kontrolle der nuklearen Sicherheit. Im Frühjahr 1989 spitzte sich die Lage auf der Großbaustelle noch einmal zu und es war nicht mehr ausgeschlossen, dass der bereits mit Brennstoff beladene Reaktor 5 wieder aufwendig entladen werden musste.138 136  Information über die Qualitätskonferenz auf der Baustelle am 2.7.1985 v. 9.7.1985; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 2, Bl. 28–30, hier 28. 137  Mündlicher Bericht v. 19.1.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 1, Bl. 269–271. 138  Zwischenbericht zum Bearbeitungskomplex – Projekte – des OV »Qualität« v. 18.9.1987; ebenda, Bl. 31–34; Zwischenbericht zum OV »Qualität« Bearbeitungskomplex LTU v. 22.9.1987; ebenda, Bl. 38–41; Zur Qualitätssicherung bei der Realisierung der Kernkraftwerksvorhaben v. 17.8.1988; ebenda, Bl. 75–80; Information zu Inbetriebnahmeprozessen am KKW Block 5 im KKW »Nord« v. 16.2.1989; ebenda, Bl. 94 f.; Bewertung der Situation im Verantwortungsbereich bezüglich technischer und technologischer Bedingungen für die Bereitstellung der für den Bau und Montageablauf Bl. 5 und 6 notwendigen Projektierungsunterlagen (Bearbeitungskomplex OV »Qualität«) v. 22.8.1986; ebenda, Bl. 110 f.; Bericht IMS »Oskar Hönel« v. 14.3.1985; ebenda,

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Der operative Vorgang »Qualität« gehörte zu den umfangreichsten Ermittlungen des MfS im Kernkraftwerkskombinat. Objektdienststelle, Bezirksverwaltung und Ost-Berliner Zentrale arbeiteten in seinem Rahmen Hand in Hand. Zugleich kooperierte das Stasi-Ministerium hier mit der staatlichen Inspektion – angefangen von den innerbetrieblichen der Kombinate Kernkraftwerke und Kraftwerksanlagenbau bis hinauf zur Arbeitsgemeinschaft Organisation und Inspektion beim DDR-Ministerrat. Nach viereinhalb Jahren schloss die Geheimpolizei den Vorgang im Spätsommer 1989 ab. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die ungelösten Probleme bei der Errichtung der Reaktoren 5 bis 8 sowie der daraus resultierende Millionenschaden für die DDR-Wirtschaft nicht an einzelnen Personen festzumachen waren. Vielmehr stellte die Situation auf der Großbaustelle ein Abbild der strukturellen, personellen und technologischen Krise in der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft dar. Auch dass die Geheimpolizei offenbar einem allgemeingültigen Regelwerk des Ministerrates vom November 1986 zur Qualitätssicherung im DDR-Kernkraftwerksbau zugearbeitet hatte, stellte sich in der Praxis als Flop heraus. Das papierne Regelwerk konnte schlicht und ergreifend nicht durchgesetzt werden, so die Stasi im Sommer 1989 selbst. Dazu fehlte es an Mitteln, Personal sowie nicht zuletzt am Willen der kontrollierenden und zu kontrollierenden Einrichtungen. Es gehört zu den Eigenheiten des planmäßigen Berichtswesens in der späten DDR, dass die Stasi-Offiziere im Kernkraftwerk dessen ungeachtet abschließend festhielten: »Zusammenfassend wird der OV ›Qualität‹ als erfolgreiche politisch-operative Einflussnahme des MfS auf volkswirtschaftlich bedeutsame Prozesse für die Nutzung der Kernenergie als Schlüsseltechnologie zur Elektroenergie- und Wärmeerzeugung eingeschätzt.«139 Auch dass der Reaktor 5 seinerzeit noch immer nicht in Betrieb war, konnte die Geheimpolizei von einer solchen Einschätzung nicht abbringen. Bl. 194–196; Mündlicher Bericht IMS »Wilms« v. 11.5.1989; ebenda, Bl. 282–284; Einschätzung zum Stand der Qualitätssicherung bei den Bau- und Montageprozessen am Block 5, KKW Nord v. 19.4.1985; ebenda, Bd. 2, Bl. 4 f.; Bericht zum Stand der Qualitätssicherung bei der Errichtung der Blöcke 5–8 des KKW Greifswald und beim KKW Stendal v. 15.6.1985; ebenda, Bl. 11–17. Ergänzung zum Bericht vom 15.6.1985 über den Stand der Qualitätssicherung bei der Errichtung der Blöcke 5 bis 8 des KKW Greifswald und beim KKW Stendal v. 15.7.1985; ebenda, Bl. 18–27; Analyse über die Gewährleistung einer einheitlichen Qualitätssicherung in Prozessen der Vorbereitung, Bau, Montage und Inbetriebsetzung von KKW-Anlagen v. 6.6.1988; ebenda, Bl. 109–120; Information zur politisch-operativen Sicherung der Inbetriebsetzung des Blockes 5 im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« unter Beachtung der nachfolgenden im Bau befindlichen Kernkraftwerksblöcke in den Kernkraftwerken (KKW) Greifswald und Stendal v. 28.9.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19344, Bl. 95–100; Information zum erreichten Stand bei der Vorbereitung und Realisierung der Kernkraftwerksvorhaben v. 3.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 285, Bl. 59–65; Information v. 30.1.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 4, Bl. 81 f. 139  Beschluss über die Archivierung des Vorganges v. 18.9.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 1, Bl. 3; Zit. in: Abschlussbericht Operativvorgang »Qualität« v. 29.8.1989; ebenda, Bd. 2, Bl. 399–406, hier 404 f.; Berichterstattung Leiter OD vor Leiter BV am 9.3.1989 in der OD KKW v. 8.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 151–159, hier 153.

Instandsetzung oder Stilllegung

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Abb. 44: Schlechte Organisation und fehlende Lagerkapazitäten waren die Gründe dafür, dass Rohrleitungen – darunter teures austenitisches Material – vor dem Einbau ungeschützt im Freien lagen. Der Stasi blieb lediglich die Dokumentation, Abhilfe konnte sie nicht schaffen.

4.11 Instandsetzung oder Stilllegung Schon Mitte der 1980er-Jahre hatte sich das ostdeutsche Strahlenschutzamt gegenüber der SED-Partei- und der DDR-Staatsführung kritisch über die Sicherheit der ostdeutschen Kernkraftwerke geäußert. Im Frühjahr 1986, unmittelbar nach der Katastrophe in Tschernobyl, und erneut im Sommer 1989 verwies das SAAS in geheimen Gutachten gemeinsam mit dem Ministerium für Kohle und Energie zu den Greifswalder Reaktoren 1 bis 4 darauf, dass die sowjetische Technologie aus den 1960er-Jahren angesichts der rasanten Entwicklungen nicht mehr zeitgemäß war. Das Strahlenschutzamt kritisierte vor allem das leistungsschwache Notkühlsystem, das Fehlen eines Containments, das unzureichende Notstromsystem, die fehlende räumliche Trennung der Sicherungs- und Steuerungssysteme sowie den geringen Automatisierungsgrad der Kraftwerkssteuerung. Ungünstige Werkstoffe, Konstruktionsfehler und Bedienungsfehler verursachten mehrfach schwere Schäden an wichtigen Ausrüstungen (Dampferzeuger, Druckhalter, Reaktordruckgefäß). Nur mit großem personellen, organisatorischen und materiellen Aufwand konnte der Kraftwerksbetrieb aufrechterhalten werden. Das ostdeutsche Strahlenschutzamt kam letztlich jedoch zu dem Schluss: »[…], dass nukleare Sicherheit und Strahlenschutz beim Betrieb der Kernkraftwerke im erforderlichen Umfang gewährleistet waren und sind«. Dieses Urteil war nicht frei von politischem Druck, die Energieversorgung in der DDR aufrechterhalten zu müssen. Und dieses Urteil war wenigstens zum Teil auch Selbstzeugnis der eigenen Tätigkeit, andernfalls hätte das SAAS das Kernkraftwerk (bereits) für den Leistungsbetrieb sperren müssen. Im Frühjahr 1989 betonte das Strahlen-

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schutzamt aber auch: »Zur Vermeidung einer sicherheitstechnisch bedingten vorzeitigen Außerbetriebnahme der Blöcke in der DDR ist ihre Rekonstruktion unverzichtbar.«140 Hierfür war die sowjetische Unterstützung ebenso notwendig wie ungewiss. Auch gegenüber seinem sowjetischen Amtskollegen schlug der Präsident des ostdeutschen Strahlenschutzamtes, Georg Sitzlack, deutliche Töne an. Entgegen anderslautender Beschlüsse des SED-Politbüros und des DDR-­ Ministerrats sprach er sich ihm gegenüber im Sommer 1989 für eine Stilllegung der Greifswalder Reaktoren 1 bis 4 aus.141 Die Staatssicherheit selbst ging im Sommer 1988 davon aus, dass über die Reaktoren 1 bis 4 hinaus auch die neueren Reaktoren 5 bis 8 zum Erreichen des internationalen Sicherheitsstandards noch vor ihrer Inbetriebnahme nachgerüstet werden müssten. Besondere Schwachstellen machte die Geheimpolizei an der Automatisierungs- und Überwachungstechnik sowie speziellen Anlagenteilen (schnellschließenden Armaturen) aus. In gemeinsamen Beratungen sprach der damalige Generaldirektor Reiner Lehmann im Sommer 1988 gegenüber StasiOffizieren davon, der technische Stand der Reaktoren 5 bis 8 sei gegenüber dem »Weltniveau« nicht ausreichend, der Reaktor 5 werde »mit moralisch z. T. verschlissenen Anlagen in Betrieb genommen«.142 Demnach waren die neueren Reaktoren veraltet, noch ehe sie in Betrieb genommen werden sollten. Auch im folgenden Frühjahr 1989 zeichnete das MfS kein verheißungsvolles Bild von den Greifswalder Reaktoren 1 bis 4. Weltweit waren seinerzeit vom gleichen Typ nur noch vier weitere Reaktoren in Betrieb. Selbst die Sowjetunion rückte von diesem Reaktortyp zugunsten neuerer Entwicklungen ab. Im Gegensatz dazu gab es in der DDR Bestrebungen zu einer Rekonstruktion der Reaktoren 1 bis 4 bis zur Jahrtausendwende, um damit ein eigens definiertes Mindestmaß an nuklearer Sicherheit zu gewährleisten. Für eine Rekonstruktion veranschlagte man Kosten pro Reaktor in Höhe von einer halben Milliarde Mark plus ein Jahr Stillstand samt mehr als 600 Millionen Mark Produktionsausfall. Für die Reaktoren 1 bis 4 standen damit insgesamt rund 4,5 Milliarden Mark Rekonstruktionskosten zu Buche. Für eine Angleichung der Greifswalder Reaktoren 1 bis 4 an den seinerzeitigen internationalen Sicherheitsstandard wurden pro Reaktor sogar 140  Kontrollbericht Nr. 14 der Ständigen Kontrollgruppe Anlagensicherheit v. 5.5.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 18440, Bl. 5–23, hier 10. 141  Vgl. Gutachten über die Sicherheit der Kernkraftwerke der DDR – KKW »Bruno Leuschner« Greifswald Blöcke 1–4 und KKW Rheinsberg v. 20.5.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20569, Bl. 70–100; Schreiben Günther Kleiber an Gerhard Schürer v. 30.6.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21322, Bl. 202–204, hier 204 sowie Schreiben Wolfgang Mitzinger an Willi Stoph v. 27.6.1989; ebenda, Bl. 206–209; auch Abele: Kernkraft, S. 89. 142  Ausführungen zu den erreichten Ergebnissen bei der politisch-operativen Sicherung der Vorbereitung und Inbetriebnahme des KKW-Blockes 5 und Folgeblöcke im KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 23.8.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 1, Bl. 81–86, hier 83; Ausführungen Generaldirektor Dr. Lehmann. In: Beratung zum Stand der pol.-op. Sicherung KKW N III i. B. Bl. 5 v. 23.8.1988; ebenda, Bd. 2, Bl. 360–365, hier 362.

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mehr als 2 Milliarden Mark Kosten plus einem Stillstand von bis zu drei Jahren vorausgesagt. Schon für das Minimalprogramm einer Rekonstruktion zeichneten sich jedoch alleine deshalb Schwierigkeiten ab, weil die benötigten Importe aus der Sowjetunion völlig offen und Verträge dazu nicht in Sicht waren. Von ihren Verhandlungen in Moskau berichtete eine hochrangige DDR-Delegation im Frühjahr 1989 alarmiert über die Situation in der sowjetischen Kernenergiewirtschaft: »Die […] Probleme besitzen außerordentlich große Tragweite bei der Realisierung der Elektroenergieversorgung der DDR.«143 Als Alternative für eine Rekonstruktion der Reaktoren 1 bis 4 nannten ostdeutsche Fachleute bereits im Frühjahr 1989 deren Stilllegung bis zum Jahr 2000. Auch der Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates machte in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre deutlich, dass sich die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft nicht mehr nur der Errichtung, dem Betrieb und der Rekonstruktion von Kernkraftwerken widmen dürfe. Vielmehr müsse man sich auch mit dem Stilllegen von Kernkraftwerken befassen. Für die unumgängliche Rekonstruktion der Reaktoren 1 bis 4 veranschlagte auch Lehmann enorme Kosten, die die Errichtungskosten teilweise überschritten. Der Generaldirektor erachtete eine Rekonstruktion der Reaktoren 1 bis 4 dann als sinnvoll, wenn dadurch ihre Sicherheit auf das internationale Niveau gehoben und ihre Laufzeit auf bis zu 50 Jahre verlängert werde. Ob gewollt oder nicht, kam ein solches Plädoyer für eine deutliche Laufzeitverlängerung wegen der hohen Rekonstruktionskosten einer indirekten Fürsprache zur Stilllegung der Reaktoren 1 bis 4 gleich.144 Verbunden mit dem Import sowjetischer Kernkraftwerke waren ostdeutsche Bestrebungen, die wirtschaftlichen Beziehungen und damit die Abhängigkeiten vom Westen möglichst gering zu halten. Dahinter verbarg sich die Hoffnung, westliche Störeinflüsse fernhalten zu können. Diesen Verdacht der Stasi zogen westdeutsche Firmen Anfang der 1970er-Jahre schon deshalb auf sich, als sie über jugoslawische Unternehmen signalisierten, bei Leistungsausfällen oder 143  Information über Verhandlungen mit der UdSSR zum Betrieb und der Errichtung von Kernkraftwerken in der DDR v. 19.5.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 24436, Bl. 64–67, hier 66. 144  Vgl. Information zur vorgesehenen Rekonstruktion der Blöcke 1 bis 4 im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Kernkraftwerk Nord v. 17.4.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20569, Bl. 264–269; ebenso BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13135, T. 2, Bl. 435–458; Information zu Fragen in der Zusammenarbeit UdSSR/DDR bei der vorgesehenen Rekon­ struktion der Blöcke 1 bis 4 im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Kernkraftwerk Nord v. 27.4.1989; ebenda, Bl. 467–470; Information zu Fragen in der Zusammenarbeit UdSSR/DDR bei der vorgesehenen Rekonstruktion der Blöcke 1 bis 4 im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Kernkraftwerk Nord v. 28.4.1989; BStU, MfS, SdM, Nr. 56, Bl. 22–25; Reiner Lehmann: Sicherheit der Kernkraftwerke – unser gemeinsames Anliegen. In: Kernenergie (1989) 10, S. 405–408, hier 407; ders.; Klaus-Dieter Schulz: Ausgewählte Probleme zur Gewährleistung und Erhöhung der nuklearen Sicherheit in den Kernkraftwerken der DDR. In: Kernenergie (1990) 3, S. 108–114, hier 111; Müller: Kernenergie, S. 149 f.

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Schwierigkeiten des Kraftwerksbaus aushelfen zu können. Die Stasi sah darin Anhaltspunkte, der Westen könne den nuklearen Kraftwerkskomplex am Greifswalder Bodden zunächst vorsätzlich sabotieren, um dann gegebenenfalls mit eigenen Firmen einzuspringen und durch diese wiederum den Fortgang des Kraftwerksbaus ungünstig zu beeinflussen. Ihre Abgrenzungspolitik gegenüber dem Westen konnte die DDR von Beginn an nicht voll durchsetzen. Verschiedene am Kraftwerksbau beteiligte Montagebetriebe bezogen Materiallieferungen aus dem Westen. Dort, wo Ost-West-Kontakte zustandekamen, wurden sie zum Gegenstand der geheimpolizeilichen Überwachung. Mit dem peniblen Durchsetzen von Geheimnisschutz und Personalüberprüfungen mühte sich die Staatssicherheit zugleich, den Abfluss technologischen Knowhows und das Abwandern von Fachkräften in den Westen zu verhindern. In den 1980erJahren wandelte sich die Situation grundlegend. Die DDR war jetzt auf den Import westlicher Ausrüstungsteile, ganzer Systeme zur Materialprüfung und zur Strahlenüberwachung – kurzum zum Betreiben des Kernkraftwerkes im Allgemeinen und zur Gewährleistung der höchstmöglichen nuklearen Sicherheit im Besonderen – angewiesen. Mitte der 1980er-Jahre mühte sich der ostdeutsche Staat noch nach Kräften, der vermeintlichen Abhängigkeitsfalle westlicher Technologie zu entrinnen, wobei westliche Technologie vor allem Importe aus der Bundesrepublik meinte.145 So war die DDR im Zusammenhang mit den schweren Dampferzeuger-­ Defekten des Reaktors 1 im Jahr 1982 nicht umhingekommen, 1984 für knapp 7 Millionen Valuta-Mark ein modernes Material-Prüfsystem (Dampferzeuger-Kollektor-Manipulator, DEKMAN) der westdeutschen Siemens-Tochter Kraftwerk Union (KWU) einzukaufen. Das war nötig, um die störanfälligen Dampferzeuger an allen Reaktoren auf Schäden zu untersuchen. Gleichzeitig bemühte man sich auf ostdeutscher Seite, den West-Import im Rahmen eines umfassenden Entwicklungsprogramms alsbald durch einen Nachbau abzulösen und ein eigenes Reaktorprüfsystem zu entwickeln. Als Arbeitstitel und Deckname zugleich galt dafür das Kürzel »COMOS« (collector monitoring system). Im Idealfall, so die geheimen Pläne, sollte der Nachbau der teuren West-Technik durch deren vielfältigen Einsatzmöglichkeiten zu einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte werden. Selbst den späteren Export des Nachbaus in andere RGW-Länder sahen die kühnen Pläne dazu vor. Die Federführung für das Vorhaben hatte das Kernkraftwerkskombinat inne. An dem Projekt arbeiteten fast 200 Arbeitskräfte solch renommierter Einrichtungen wie des Zentralinstituts für Kernforschung Rossendorf, des Kombinats Kraftwerksanlagenbau Berlin, des Kombinats Robotron Dresden, der Ingenieurhochschule Zittau und der Technischen Hochschule Magdeburg. Aufgabe des MfS bei all dem war, das Entwicklungsprogramm – das 145  Müller: Zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit einer Operativgruppe, S. 28 f. u. 34 f.

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im Grunde eine staatlich organisierte Industriespionage und Plagiatsanstrengung war – abzusichern und geheimzuhalten sowie die daran beteiligten Wissenschaftler und Ingenieure zu überwachen. Die Leitung übernahm die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk, die dafür im Frühjahr 1985 den Operativen Vorgang (OV) »COMOS« anlegte. Anderthalb Jahre später kam die Staatssicherheit zu einer recht eigenwilligen Einschätzung ihrer zurückliegenden Tätigkeit. Trotz Einflussnahme und Einsatz eines Offiziers im besonderen Einsatz innerhalb der Inspektion des Kombinates Kernkraftwerke zur Geheimhaltung des Unternehmens war der Nachbau des Prüfsystems dem Westen nicht verborgen geblieben. Die KWU registrierte die ostdeutschen Bemühungen wohl, reagierte darauf, so zumindest die Stasi-Berichte, jedoch gelassen: Ein Nachbau der Technologie wäre ebenso kompliziert wie langwierig. Selbst für den Fall, dass er gelänge, wäre die technische Entwicklung dann vorangeschritten und das Prüfsystem überholt. Mit Hinblick auf ihre Kernaufgabe, die Geheimhaltung des Vorhabens durchzusetzen, gestand die ostdeutsche Geheimpolizei freimütig ihr Scheitern ein. Ganz im Stile der planwirtschaftlichen Berichterstattung im realen Sozialismus schrieb sie im Abschlussbericht des Operativen Vorgangs »COMOS« dennoch: »Die zusammenfassende Bewertung aller erzielten Teilergebnisse ergibt, dass die Zielstellung des OV in ihrem Grundanliegen erreicht wurde.«146 Derweil litt die Entwicklung des ostdeutschen Prüfsystems COMOS neben den DDR-typischen wirtschaftlichen Mängeln gerade unter der strengen Geheimhaltung. Aus Sicherheitsgründen durften sich die beteiligten Wissenschaftler und Ingenieure nicht mit Fachkollegen austauschen, der Nachbau musste teilweise alleine anhand von Zeichnungen erfolgen und ein Zugang zum westdeutschen Original war nur eingeschränkt möglich. Noch im Sommer 1988 verlautete innerhalb der Stasi, dass der Nachbau des westdeutschen Prüfsystems DEKMAN trotz aller Anstrengungen noch nicht gelungen war. Ende 1988 hieß es: »Mit der Entwicklung des COMOS wurden Maßnahmen zur vollständigen Importablösung realisiert. Trotz noch bestehender Probleme, insbesondere Rechnereinsatz, ist der COMOS unter Berücksichtigung aller Randprobleme als Spitzenleistung einzuschätzen.«147 Im Frühjahr 1989 berichtete die Stasi dann deutlich nüchterner zur ostdeutschen und westdeutschen Prüftechnik im Kernkraftwerk. Alle Prüfsysteme brächten wegen personeller, organisatorischer und technischer Schwierigkeiten nicht den erhofften Nutzen und befänden sich in einem »instabilen Zustand«. Das Bedienpersonal sei von Lustlosigkeit, Gleichgültigkeit, Unordnung und mangelnder Qualifikation gekennzeichnet. Teure Ersatzteile für die importierte 146  Abschlussbericht zum OV »Comos« v. 17.10.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3202/86, Bd. 1, Bl. 275–289, hier 288. 147  Bericht zur NSW-Importtätigkeit durch das VE Kombinat KKW »Bruno Leuschner« Greifswald sowie Betrieben der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 23.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 35, Bl. 47–55, hier 47. Laut Alexander Schönherr kam das Prüfsystem COMOS erstmals 1987 zum Einsatz. Vgl. Schönherr: Greifswald, S. 275.

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West-Technik seien gestohlen worden. Gegenüber der ostdeutschen Eigenentwicklung COMOS herrschte Zurückhaltung, weil sie langsamer als das westdeutsche System DEKMAN arbeitete. Damit steht COMOS letztlich als Beispiel für das ressourcenaufwendige Beschaffen leistungsfähiger West-Technologie, auf die die DDR-Wirtschaft zunehmend angewiesen war. Die West-Technologie brachte dabei jedoch keinesfalls zwangsläufig den angestrebten Nutzen.148 Bereits 1987 hatte für die Prüfung der Greifswalder Reaktordruckgefäße das Prüfsystem REDMAN der Siemens-Tochter KWU für mehr als 12 Millionen DM importiert werden müssen. Zuvor informierte die Sowjetunion Ende 1984 darüber, dass die Reaktordruckgefäße durch die Kernspaltungsprozesse deutlich schneller versprödeten als angenommen, dadurch die Gefahr ihres Berstens zunahm. Das Berst-Risiko bestand insbesondere bei starken thermischen Schwankungen, wie sie bei einer Reaktor-Notkühlung während eines Störfalls auftreten. Damit war nicht nur die Nutzungsdauer der Reaktoren von 25 Jahren infrage gestellt, vielmehr stand die unmittelbare Stilllegung der Reaktoren 1 bis 4 im Raum. Am heikelsten stellte sich die Situation am Reaktor 1 heraus. Die ostdeutschen Fachleute gingen im Oktober 1985 davon aus, dass aufgrund des hohen Versprödungsgrades dort die nukleare Sicherheit bei einer ganzen Reihe von Störfällen 148  Vgl. Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Comos« v. 14.3.1985; BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3202/86, Bd. 1, Bl. 271–274; Abschlussbericht zum OV »Comos« v. 17.10.1986; ebenda, Bl. 275–289; Operativplan zum OV »Comos« v. 14.3.1985; ebenda, Bl. 3–5. Aufstellung aller am Forschungsvorhaben beteiligten Kombinate, Betriebe und wissenschaftliche (sic!) Einrichtungen sowie die für die Sicherung verantwortliche DE des MfS v. 5.3.1985; ebenda, Bl. 7; Sicherheitskonzeption zur Gewährleistung des Geheimnisschutzes und von Ordnung und Sicherheit bei der Bearbeitung des Staatsplanthemas Wissenschaft und Technik »Entwicklung und Fertigung von Ersatz- und Verschleißteilen für das importierte Dampferzeugerprüfsystem sowie Entwicklung eines Prüfsystems für die Dampferzeuger der Reaktoranlage WWER-440« v. 8.1.1985; ebenda, Bl. 31–39; Fallmeldung, o. D. (1985); ebenda, Bl. 129–132; Information des IMS »Baum« v. 13.3.1986; ebenda, Bl. 236; Auskunftsbericht über den Import von Prüftechnik für die zerstörungsfreie Werkstoffprüfung von KKW-Hauptausrüstungen aus der BRD v. 22.6.1984; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 25194, Bl. 253–270; Probleme im Rahmen des Einsatzes, der Wirksamkeit und des Nutzens von zerstörungsfreier Werkstoffprüftechnik im Kombinat KKW »Bruno Leuschner« und dabei sich abzeichnende ideologische Unklarheiten in der HA Werkstoffprüfung v. 2.5.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 462–464; Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.4.1989; ebenda, Bl. 448–459, hier 450; Dokumentensammelkartei F 405; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 24, Bl. 131; Schönherr: Greifswald, S. 258–263. Zum Interessenkonflikt innovativer Wissenschaft und Geheimpolizei vgl. Georg Herbstritt, Elke Stadelmann-Wenz: Westarbeit. In: Münkel (Hg.): Staatssicherheit, S. 139–149, hier 143; Barkleit: »Überholen ohne einzuholen«, S. 50; zur Effektivitätslücke von Industriespionage und deren Anwendung in der DDR-Wirtschaft vgl. Kristie Macrakis: Das Ringen um wissenschaftlich-technischen Höchststand. Spionage und Technologietransfer in der DDR. In: Hoffmann; Macrakis (Hg.): Naturwissenschaft und Technik, S. 59–88, hier 59–60; Hubertus Knabe: West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von »Aufklärung« und »Abwehr«. Berlin 1999, S. 106.

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nicht gewährleistet sei. Laut Berechnungen hätte ein vorhandener 3 Millimeter tiefer Riss der Innen-Oberfläche in bestimmten Störfallsituationen das Reaktordruckgefäß zum Bersten bringen können. Das ostdeutsche Strahlenschutzamt hielt im Sommer 1986 in einem Gutachten als »Geheime Verschlusssache« fest, dass die Reaktorversprödung »eine schwerwiegende Beeinträchtigung der nuklearen Sicherheit« war.149 Vom Netz genommen wurden die Greifswalder Reaktoren laut der Stasi jedoch dennoch nicht, da sie für die Stromversorgung der DDR unverzichtbar waren. Hinter vorgehaltener Hand sprachen Fachleute gar von einem »im Hintergrund stehenden Klein-Tschernobyl«.150 Das mag zugespitzt gewesen sein, möglicherweise um mehr Ressourcen für das Thema und den Import westlicher Prüftechnik durchzusetzen. Doch solche Aussagen belegten, dass eine eingehende Untersuchung des Zustandes der Reaktordruckgefäße unausweichlich, leistungsfähige Technik dafür in der DDR und den übrigen Ostblock-Staaten jedoch nicht vorhanden war. Die westdeutsche Abhängigkeitsfalle schien damit zunehmend Wirklichkeit zu werden. Der Leiter der Stasi-Objektdienstelle HansHeinrich Hanke meinte dazu: Aufgrund der in den letzten drei Jahren verstärkten NSW-Importtätigkeit bieten sich umfangreiche Möglichkeiten zur ökonomischen Störtätigkeit des Gegners. Das KKW wird immer mehr zur Kooperation und [zu] vertraglicher Bindung gedrängt, viele Leiter können sich dem ›Sog‹ nicht entziehen, weil die eigene Leistungsfähigkeit […] nicht ausreicht. Meines Erachtens wird hier nach einem langfristigen Konzept eine durchgehende Abhängigkeit des Kombinates Kernkraftwerke von NSW-Firmen, insbesondere der ABB und der Siemens/KWU geschaffen.151 149  Kontrollbericht Nr. 8 der Ständigen Kontrollgruppe Anlagensicherheit v. 8.7.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21007, Bl. 150–168, hier 152. Vgl. auch Abele: Kernkraft, S. 77 f. 150  Vgl. Information zu Aspekten der Gewährleistung der Reaktorsicherheit im VEB K KKW »Bruno Leuschner« Greifswald (sic!), o. D. (1986); BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20569, Bl. 66–67, hier 66. 151  Vgl. Information über die angebliche Gefährdung der Betriebssicherheit des KKW Nord (…) v. 5.8.1985; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/3202/86, Bd. 1, Bl. 161–165; Schreiben v. 6.5.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 9334, Bl. 1; Sicherheitspolitischer Aspekt zum erfolgten Import von NSW-Technik, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 207, Bl. 39 f. Zit.: Information über NSW-Importe durch das VE Kombinat KKW »Bruno Leuschner« v. 16.8.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 35, Bl. 24–27, hier 26; Zusammenstellung operativ bedeutsamer Schwachstellen, ihre Bewertung und ihr derzeitiger Bearbeitungsstand v. 20.10.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4530/91, T. II, Bd. 2, Bl. 302–314 sowie Analyse sicherheitsrelevanter Schwachstellen der nuklearen und Anlagensicherheit beim Betrieb der Blöcke des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner« Greifswald und Schlussfolgerungen für die weitere Arbeit der OD KKW im Rahmen der vorbeugend schadensabwendenden Tätigkeit v. 20.10.1983; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 10, Bl. 99–117; Information über den Einsatz zerstörungsfreier Prüftechnik in Kernkraftwerken v. 12.2.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4584/91, T. II, Bd. 1, Bl. 144 f. Vor dem Import der westdeutschen Reaktorprüftechnik kam zumindest teilweise das Ultraschallprüfgerät »REAKTORTEST« aus der Tschechoslowakei zum Einsatz. Vgl. Schönherr: Greifswald, S. 265 f. Das Gerät war ein tschechischer Import aus Schweden. Dazu und zur Behandlung der Reaktorversprödung durch das SED-Politbüro vgl. Vorlage für

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Bis Ende der 1980er-Jahre verkehrten sich die anfänglichen Autarkiebestrebungen der ostdeutschen Seite gegenüber dem Westen ins Gegenteil. Für den Import von nichtrostenden Rohren und Blechen, Kabeln, Bohrtechnik, leistungsfähigen Armaturen, Hebewerkzeugen, moderner Prüf- und Überwachungstechnik sowie Computer- und Kommunikationstechnik aber auch vergleichsweise einfachem Bauzubehör war die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft jetzt auf Firmen aus Österreich, der Schweiz, Italien, Frankreich und allen voran der Bundesrepublik angewiesen. Begünstigt wurde diese Entwicklung unter anderem durch ein deutsch-deutsches Wissenschaftsabkommen aus dem Jahr 1987. Und die Staatssicherheit glaubte seinerzeit zu wissen, dass sich die westdeutsche Kernenergie­ wirtschaft an die Bundesregierung gewandt habe, um bestehende Hindernisse wie Handelsembargos gegenüber der DDR abzubauen. Man muss der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft letztlich wohl zugutehalten, dass sie sich im Sinne der nuklearen Sicherheit auf diese Entwicklung einließ. Anders als die Stasi setzten die Arbeiter und Angestellten des Kernkraftwerkes am Greifswalder Bodden ohnehin statt auf schwerfällige Eigenentwicklungen vorzugsweise auf die komfortable und leistungsfähige West-Technik.152 das Politbüro des Zentralkomitees der SED, Information über Vorschläge der sowjetischen Seite zur Gewährleistung der projektierten Betriebszeit der Reaktordruckgefäße des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner«, o. D. (Mai 1985); BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21221, Bl. 9–15, hier 13; auch Schreiben des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR (Entwurf ), o. D.; ebenda, Bl. 19 f.; Information zur Sicherheit der Reaktordruckgefäße im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner«, Greifswald/Rostock v. 18.10.1985; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21542, Bl. 103–106; Information zu Stand und Ergebnissen der politisch-operativen Sicherung der Kernkraftwerke in der DDR (KKW) v. 28.10.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 20708, Bl. 1–13, hier 2 f. 152  Vgl. Information über auftretende Korrosion an Rohrleitungen im Montageumfang IKR, Block 5 v. 21.3.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 259, T. II, Bl. 549–553, hier 550 u. 552; Information über Importvereinbarungen und Realisierung durch BT Lubmin, GAN des VEB Bergmann Borsig KKAB v. 17.8.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 35, Bl. 21–23; ebenso BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 2, Bl. 380–382; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 21.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 467–480, hier 474 u. 478; Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.4.1989; ebenda, Bl. 448–459, hier 449. Bericht zur NSW-Importtätigkeit durch das VE Kombinat KKW »Bruno Leuschner« Greifswald sowie Betrieben der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 23.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 35, Bl. 47–55; ebenso BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 285, Bl. 31–39; Referat des Gen. Oberst Böhm (1. stellv. Leiter der HA XVIII) v. 7.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21278, Bl. 92–149, hier 141 f.; Information über Verhandlungen mit dem Präsidenten der Außenhandelsorganisation Atomenergoexport, Genossen Gulko, am 20.1.1989 in Moskau, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 4–10; Ausführungen Generaldirektor Dr. Lehmann. In: Beratung zum Stand der pol.-op. Sicherung KKW N III i. B. Bl. 5 v. 23.8.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 2, Bl. 360–365, hier 362; Berichterstattung Leiter OD vor Leiter BV am 9.3.1989 in der OD KKW v. 8.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 151–159, hier 158; Information zu Fragen in der

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4.12 Der Westen im Visier der Stasi Für die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerkskombinat bedeuteten die zunehmenden West-Geschäfte ein weiteres Tätigkeitsfeld. Das fand seinen Ausdruck darin, dass die Geheimpolizei Anfang 1989 erstmals eine Konzeption zur Überwachung und Kontrolle der West-Importe entwarf. Ein zuständiger Stasi-Offizier wurde benannt, eine Materialablage für Dossiers zu westdeutschen Firmen und Personen eingerichtet und der geheimpolizeiliche Informationsbedarf festgelegt. Demnach interessierte sich die Stasi für beinahe alles, was im Zusammenhang mit den West-Importen stand. Dazu gehörten die Notwendigkeit der geplanten Anschaffungen und die aus ihnen resultierenden Abhängigkeiten, die Sicherung des Geheimnisschutzes, die Übersicht zu West-Firmen auf dem Betriebsgelände, Informationen zu Firmen und Personen, die heimliche Beschaffung technischer Unterlagen oder auch die West-Kontakte von Arbeitern und Angestellten im Kernkraftwerk und auf der Großbaustelle. Schon im Sommer 1989 kam die Stasi-Objektdienststelle zu der Einschätzung, dass sie mit der Fülle dieser Aufgaben überfordert war.153 Die ostdeutsche Geheimpolizei zählte im September 1989 nicht weniger als 35 West-Firmen, zu denen das Kombinat Kernkraftwerke geschäftliche Beziehungen unterhielt, allen voran Unternehmen aus der Bundesrepublik. Insbesondere bei der Siemens-Tochter KWU meinte die Stasi Bestrebungen ausgemacht zu haben, sich in der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft und darüber hinaus auf dem östlichen RGW-Markt etablieren zu wollen. Als Motiv dafür sah sie wirtschaftliche Schwierigkeiten der Siemens-Tochter. Denn im Westen herrsche eine spürbare Zurückhaltung gegenüber dem Neubau von Kernkraftwerken. Die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft griff 1989 bereits für Werkstoffprüftechnik und Strahlen-­ Überwachungssysteme auf das Knowhow von Siemens zurück. Während der Leipziger Messe im Frühjahr 1989 kam es zu weiteren Verhandlungen zwischen der DDR und den Firmen Siemens aus der Bundesrepublik und Asea Brown Boveri aus der Schweiz. Die DDR verhandelte mit ihnen über ein Geschäft zur Zusammenarbeit UdSSR/DDR bei der vorgesehenen Rekonstruktion der Blöcke 1 bis 4 im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Kernkraftwerk Nord v. 27.4.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 13135, T. 2, Bl. 467–470; Politisch-operative Lageeinschätzung zu den Kernkraftwerken (KKW) in der Deutschen Demokratischen Republik v. 15.9.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 2019, Bl. 1–17, hier 2 u. 6; Information über Verhandlungen mit der UdSSR zum Betrieb und der Errichtung von Kernkraftwerken in der DDR v. 19.5.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 24436, Bl. 64–67. 153  Konzeption zur politisch-operativen Sicherung von NSW-Importen und Aktivitäten im Rahmen der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit Staaten des NSW im Verantwortungsbereich der OD KKW (…) v. 21.1.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 35, Bl. 1–4; ebenso BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 232–235. Vgl. Einschätzung des erreichten Standes zur politisch-operativen Sicherung von NSW-Importen und Aktivitäten im Rahmen der WTZ v. 3.7.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 35, Bl. 56–59.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Modernisierung der Leitstandtechnik der Greifswalder Reaktoren 1 bis 4. Weit mehr als 100 Millionen Valuta-Mark – der OibE »Peter« berichtete von bis zu 180 Millionen DM – sollte der bis dahin größte West-Import umfassen. Angedacht war ein Vertragsabschluss noch 1989. Unter bestimmten Voraussetzungen stellten die Siemens-Manager in diesem Zusammenhang auch eine Lieferung von Computertechnik in Aussicht, die durch westliche Embargobestimmungen ausgeschlossen schien. Die Kombinatsleitung unter dem Generaldirektor Reiner Lehmann schien solchen Import-Vorhaben und der Kooperation mit dem Westen merklich aufgeschlossener gegenüberzustehen als die staatlichen Sicherheitsorgane. So wurde der Firma Siemens entgegen dem Willen des Leiters der betrieblichen Inspektion alias OibE »Rainer« das Gesamtschaltbild des Kernkraftwerkes zur Verfügung gestellt. Das westdeutsche Unternehmen verfügte damit über detaillierte technische Einblicke. Im Sommer 1988 entwarf Lehmann zudem Gedanken, die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft aus dem sowjetischen Einflussbereich herauszuführen und für Kooperationen mit westlichen Ländern wie der Bundesrepublik, Schweden, der Schweiz, Frankreich, Japan oder der USA zu öffnen. Darunter fiel auch die Errichtung ganzer Kernkraftwerke, die die DDR nach dem Vorbild eines ähnlichen Vorhabens zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik durch Stromlieferungen hätte finanzieren sollen. Tatsächlich strebte Siemens im Frühjahr 1989 ein Geschäft zur Errichtung von Kernkraftwerken in der DDR an. Unbenommen der Möglichkeit seiner Verwirklichung musste der Vorschlag für die ostdeutsche Seite ebenso reizvoll wie deprimierend klingen: Bei einem Einsatz von lediglich 2 500 Arbeitskräften veranschlagte Siemens pro 1 300-Megawatt-Reaktor eine Bauzeit von weniger als drei Jahren. Hinsichtlich Leistungsfähigkeit und Errichtungsaufwand wäre die West-Firma dem ostdeutschen Kernkraftwerksbau damit haushoch überlegen gewesen.154 Der Geheimpolizei ging es Ende der 1980er-Jahre nicht mehr um das Verhindern, sondern vielmehr um die Überwachung der zunehmenden West-Kontakte. Ein Beispiel war der Aufbau einer computergestützten Umgebungsüberwachung für den Strahlenschutz um das Kernkraftwerk herum. Das ostdeutsche Strahlenschutzamt SAAS hatte die Anlage durchgesetzt, über den österreichischen Ableger der Siemens-Tochter KWU sollte sie ab dem Frühjahr 1988 in anderthalb Jahren für mehr als 130 Millionen Schilling errichtet sein. Der Leiter der Inspektion 154  Politisch-operative Lageeinschätzung zu den Kernkraftwerken (KKW) in der Deutschen Demokratischen Republik v. 15.9.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21634, Bl. 86–103, hier 87, 91, 95–97 u. 100–103; Bericht zu Verhaltensweisen des Gen. Dr. sc. techn. Lehmann v. 3.7.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 35, Bl. 94 f.; Information v. 17.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 27, Bl. 77–79; Information v. 17.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 1–3; Reiner Lehmann: Persönlicher Standpunkt zur weiteren Entwicklung der Kernenergie in der DDR, o. D. (1988); BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 285, Bl. 21–25, hier 23 u. 25.

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des Kernkraftwerkes alias OibE »Rainer« nahm von Beginn an Einfluss auf die Geheimhaltung der Kooperation. Entsprechend seiner wirtschaftlichen Inte­ ressen hatte das westdeutsche Unternehmen beispielsweise eine scheinbar harmlose Pressemitteilung zu dem gemeinsamen Vorhaben entworfen, die eher einer Werbeannonce glich. Der Inspektionsleiter des Kernkraftwerkes bei Greifswald sprach sich jedoch – wohl aus politischen Gründen – rundweg gegen irgendeine Veröffentlichung der Ost-West-Kooperation aus. Die Abkehr von der sowjetischen und der ostdeutschen Technik als Eingeständnis von deren technologischer Rückständigkeit sollte nicht noch öffentlich beworben werden. Zugleich lag es im Interesse der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft, das nukleare Risiko gegenüber der Bevölkerung geheim zu halten. Dem widersprach das Bewerben der westlichen Umgebungsüberwachung.155 Das MfS bemühte sich nicht nur, sich auf die entstandene Situation einzustellen, sondern diese auch in ihrem Interesse auszunutzen. So betrieb die ostdeutsche Geheimpolizei auf verschiedenen Wegen Industriespionage beim Klassenfeind. Mithilfe inoffizieller Mitarbeiter unter den Westreisenden überwachte sie diese einerseits. Zugleich nutzte sie ihre Informanten, um insgeheim westliches Knowhow für die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft zusammenzutragen und westliche Geschäftspartner auszuspähen.156 Der Weg von »Kurt Klotsche« in den Westen Der Fall des Informanten der Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerkskombinat »Kurt Klotsche« vereinte die verschiedenen Ziele der Geheimpolizei: Überwachung der West-Dienstreisenden, Ausspähen der westlichen Geschäftspartner und Ziehen eines maximalen Nutzens aus der westlichen Technologie bei Begrenzung der künftigen Abhängigkeit des ostdeutschen Staates. Hinter dem Decknamen »Kurt Klotsche« verbarg sich der Abteilungsleiter Werkstofftechnik des Kombinates Kraftwerksanlagenbau auf der Großbaustelle zu den Reaktoren 5 bis 8. Vom Heizungsinstallateur mit einem Achte-Klasse-Abschluss entwickelte er sich durch den Besuch der Abendschule, mehrere Studiengänge und Zusatzausbildungen zu einem Fachmann für die aufwendige Schweißtechnik in Kernkraftwerken und die zerstörungsfreie Prüfung von Reaktordruckgefäßen mittels Ultraschalltechnik. 155  Vgl. Siemens Presseinformation, Entwurf v. 4.3.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 174, Bl. 1 sowie Standpunkt zu Veröffentlichungswünschen der Fa. Siemens AG zur Lieferung der Anlagen zur Umgebungsüberwachung von KKW in der DDR v. 11.3.1988; ebenda, Bl. 2; Information über NSW-Importe durch das VE Kombinat KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 16.8.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 35, Bl. 24–27, hier 25; Bericht zur NSWImporttätigkeit durch das VE Kombinat KKW »Bruno Leuschner« Greifswald sowie Betrieben der Großbaustelle der DSF KKW Nord Lubmin v. 23.11.1988; ebenda, Bl. 47–55, hier 47. 156  Hess: Verantwortung der Kombinatsdirektoren, S. 44.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Anfang der 1970er-Jahre kam er als Schweißingenieur auf die Großbaustelle am Greifswalder Bodden und war hier verantwortlich für sämtliche Schweißarbeiten. 1975 übernahm er den Aufbau und anschließend die Leitung der Abteilung Werkstofftechnik – ein Arbeitsbereich, der mit der zerstörungsfreien Prüfung von Schweißnähten und Kraftwerkskomponenten zunehmend an Bedeutung für den einwandfreien Bau und das sichere Betreiben der nuklearen Anlage gewann. »Kurt Klotsche« war ehrgeizig und hatte in jungen Jahren bereits eine beachtliche berufliche Karriere gemacht. Als passives LDPD-Mitglied fiel er jedoch schon formal nicht als besonders linientreu auf. Und mit bissigen Kommentaren und Kritik an der Arbeit sowjetischer Gastarbeiter und sowjetischen Materiallieferungen eckte er Anfang der 1970er-Jahre bisweilen auf der Kraftwerksbaustelle an. Zwischenzeitlich galt innerhalb der Stasi darum die Vorgabe: »Es ist zu prüfen, ob aus Sicherheitsgründen eine Umsetzung […] von der Baustelle möglich ist.« Allein wegen seiner fachlichen Fähigkeiten erfolgte zunächst aber im Sinne eines letzten Warnschusses eine durch die Stasi initiierte Maßregelung über den damaligen Direktor sowie den Kaderleiter der Großbaustelle. Der Leiter der Stasi-Operativgruppe »KKW Nord« Hans-Heinrich Hanke persönlich hatte darauf gegenüber dem Baustellen­ direktor gedrungen. Ende der 1970er-Jahre weckte der Schweißingenieur und Abteilungsleiter wiederholt das Interesse der Geheimpolizei, als er sich für den Import westdeutscher Ultraschalltechnik engagierte, die dafür übliche restriktive bürokratische Vorgehensweise umging und technische Daten zu den Greifswalder Reaktoren in die Bundesrepublik übermittelte. Auch damals hieß es in einem Stasi-Vermerk »Wenn keine operativ bedeutsamen und strafrechtlich relevanten Fakten bekannt werden, Herauslösung anstreben.«157 Aber auch in diesem Fall kam es zunächst zu keinen ernsthaften Folgen.158 Mit seinen fachlichen Fähigkeiten und seiner betrieblichen Stellung besetzte »Kurt Klotsche« eine strategische Position auf der Großbaustelle. Er besaß weitreichenden Einblick in den Anlagenzustand und war maßgeblich am Import westdeutscher Ultraschallprüfgeräte samt Computertechnik beteiligt. Die wurde sowohl auf der Großbaustelle als auch im Kernkraftwerk selbst zunehmend zu 157  Maßnahmeplan zum OAM v. 8.11.1979, BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 2, Bl. 68 f., hier 69. 158  Einschätzung OPA v. 3.5.1974; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 2, Bl. 58. Auch Aktenvermerk v. 16.6.1975; ebenda, Bl. 65; Aktenvermerk v. 13.11.1975; ebenda, Bl. 66; Übersichtsbogen zur operativen Personenaufklärung Rockstroh, Bernd v. 16.1.1974; ebenda, T. I, Bd. 1, Bl. 103 f.; Bericht (Abschrift) v. 21.2.1974; ebenda, Bl. 111; Einschätzung v. 13.3.1974; ebenda, Bl. 112 f.; Abschlussbericht SÜ Rockstroh, Bernd v. 13.11.1975; ebenda, Bl. 119–122; Operatives Ausgangsmaterial v. 31.8.1979; ebenda, Bl. 136; Zwischenbericht zur OAM Rockstroh v. 31.1.1980; ebenda, Bl. 137–139; Auftrag zur Erfassung in SV [Sicherungsvorgang], o. D.; ebenda, Bd. 2, Bl. 18; Begründung zum Antrag Bestätigung als Reisekader für Kollegen Bernd Rockstroh v. 9.9.1971; ebenda, Bl. 48; Schreiben v. 8.6.1979; ebenda, Bl. 82 f.; Mitteilung v. 12.7.1979; ebenda, Bl. 89.

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aufwendigen Materialprüfungen eingesetzt, beispielsweise an den Dampferzeugern und den Reaktordruckgefäßen. Solche Materialprüfungen waren zwingender Bestandteil der gesetzlich vorgeschriebenen Gewährleistung der nuklearen Sicherheit. Im Ostblock war die dafür erforderliche Technik jedoch nicht vorhanden. »Kurt Klotsche« hielt mit seiner Meinung dazu nicht hinterm Berg. So berichtete ein Stasi-Informant Anfang 1980 über ihn: »Offen vertritt er [Klotsche] die Meinung, dass er für seine Arbeit Geräte aus dem NSW [nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet] brauche, da diese besser seien. Seine Haltung zu unserem Staat macht er unter anderem auch davon abhängig, wie ihm solche Geräte zur Verfügung gestellt werden.«159 Das klang nach einem gefährlichen Arrangement mit der SED-Diktatur: Hohe Arbeitsleistung und politische Unterordnung als Preis für gute Arbeitsbedingungen und berufliche Selbstverwirklichung. Und tatsächlich bildete zumindest aus der Perspektive der Stasi sein fachlicher Ehrgeiz ein wichtiges Motiv, weshalb sich der Schweißingenieur und Abteilungsleiter kurz darauf auf eine IM-Tätigkeit einließ. Hans-Heinrich Hanke hielt dazu fest: »Der IMS ›Kurt Klotsche‹ wurde […] auf der Basis der Freiwilligkeit und der Deckung persönlicher fachspezifischer Interessen geworben.«160 Einfluss auf seine Arbeit nahm die Stasi angefangen von der Zulassung als West-Dienstreisender bis hin zur Realisierung des Imports von West-Technik. Der berufliche Ehrgeiz ihres Informanten stellte sich für die Stasi als Fluch und Segen zugleich heraus. Das galt insbesondere dann, wenn er auch gegenüber der Geheimpolizei seinen fachlichen Interessen den Vorrang gegenüber deren politischen Absichten gab. Etwa, wenn er ohne Absprache und jenseits des realsozialistischen Regelwerks persönliche Kontakte zu seinen westdeutschen Geschäftspartnern suchte, um rasch leistungsfähige Prüftechnik zu beschaffen. Andererseits gehörte es zu den beruflichen Pflichten von »Kurt Klotsche«, die nukleare Sicherheit im Kernkraftwerk am Greifswalder Bodden gewährleisten zu helfen. Es ist im Rückblick eine kaum zu beantwortende Frage, wie weit man sich dafür mit der SED-Diktatur und deren Geheimpolizei einlassen durfte.161 159  Information zu Koll. Bernd Rockstroh v. 13.4.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 1, Bl. 152 f. 160  Ergänzung der Ziel- und Aufgabenstellung zur qualitativen und quantitativen Stärkung der inoffiziellen Basis der OD KKW 1/82 v. 3.3.1982; ebenda, Bd. 1, Bl. 173–175, hier 173. 161  Vgl. Personalbogen Rockstroh, Bernd v. 16.4.1980; ebenda, Bd. 1, Bl. 2–5; Lebenslauf v. 16.4.1980; ebenda, Bl. 6 f. Einschätzung für den Kollegen Rockstroh, Bernd (…) v. 9.9.1980; ebenda, Bl. 15 f.; Einschätzung des Kollegen Bernd Rockstroh (…) für den Antrag als Reisekader v. 22.4.1982; ebenda, Bl. 18–20; Mündlicher Bericht IMS »M. Heinrich« v. 28.3.1979; ebenda, Bl. 128 f.; Bericht v. 6.7.1981; ebenda, Bl. 167 f.; Einsatz- und Entwicklungskonzeption v. 28.7.1984; ebenda, Bl. 221 f.; Ergänzungsmitteilung zum Bericht über den Einsatz von Ultraschall-Prüfgeräten aus der BRD zur zerstörungsfreien Werkstoffprüfung in den Kernkraftwerken v. 24.12.1980; ebenda, Bd. 2, Bl. 192 f.; Personeneinschätzung v. 1.4.1986; ebenda, Bd. 3, Bl. 149–151; Schreiben NSW-Import v. 2.2.1988; ebenda, Bd. 4, Bl. 236; Zwischenbericht OV »Qualität« v. 25.5.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/1526/89, Bd. 1, Bl. 28–30.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

Im Herbst 1980 warb die Stasi ihn als Informanten an. Zunächst gehörte »Kurt Klotsche« zur großen Masse der Stasi-Informanten im Kernkraftwerk. Die Stasi ließ ihn über seine ost- und westdeutschen Kollegen und Geschäftspartner gleichermaßen berichten, wollte über ihn die Prüfarbeiten an den Kraftwerks­ blöcken sowie die West-Importe dafür absichern. Zugleich lieferte er eine große Zahl detaillierter Schilderungen über Schlamperei und Unordnung auf der Baustelle, langwierige Auseinandersetzungen über die Qualität der sowjetischen Importe sowie ungelöste technische Probleme. Darüber hinaus gehörte »Kurt Klotsche« seit 1981 einem Netz von Auswertern an, das der Sektor Wissenschaft und Technik der Stasi-Auslandsspionage HV A über das Kernkraftwerk und die Großbaustelle gelegt hatte. Der SWT galt als »Beschaffungsorgan« der ostdeutschen Wirtschaftsspionage. Mit seiner Hilfe wollte die DDR von den Errungenschaften des Westens profitieren, um diesen – so die verquere Logik – mit dessen eigenen Mitteln zu überholen. Zudem analysierten und bewerteten ausgewählte Fachleute im Auftrag des SWT technische, wirtschaftliche, politische und juristische Informationen, die die Geheimpolizei außerhalb der DDR – oftmals in der Bundesrepublik – erarbeitet hatte. Nicht zwangsläufig hatten die Auswerter Kenntnis von der Herkunft dieser Materialien. Zuletzt waren innerhalb des Kernkraftwerkskombinates auf diesem Wege 80 Auswerter für die HV A tätig, davon 27 im Greifswalder Stammbetrieb. Als HV-A-Auswerter führte die Stasi hier unter anderem den Generaldirektor Reiner Lehmann, dessen Stellvertreter Wolfgang Brune und weitere leitende Angestellte. Zentral geleitet wurde das Auswerter-Netz innerhalb des Kernkraftwerkskombinates vom Offizier im besonderen Einsatz »Beier«, der ab Mitte der 1980er-Jahre als Sicherheitsbeauftragter bzw. Inspektionsbeauftragter im Kernkraftwerk Greifswald tätig war.162 Im Frühjahr 1982 fassten die Stasi-Offiziere im Kernkraftwerk den Plan, ihren Informanten »Kurt Klotsche« zu einem inoffiziellen Mitarbeiter zu entwickeln, der 162  Vgl. Verpflichtungserklärung v. 17.10.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 1, Bl. 22. Personeneinschätzung Rockstroh, Berndt [sic!] v. 5.6.1981; ebenda, Bl. 163–166; Einsatz- und Entwicklungskonzeption v. 19.2.1981; ebenda, Bl. 216–220; Antrag zur Wiederholungs-Bestätigung als Auswerter für wissenschaftlich-technische Unterlagen (…) v. 19.8.1987; ebenda, Bl. 287; Beschluss v. 20.10.1980; ebenda, Bd. 2, Bl. 8 f.; Vorschlag zur Werbung des IM-Kandidaten »Ferrit« v. 9.10.1980; ebenda, Bl. 132–137; Bericht über die Werbung des IMKandidaten »Ferrit« v. 17.10.1980; ebenda, Bl. 138 f.; Antrag zur Wiederholungs-Bestätigung als Auswerter für wissenschaftlich-technische Unterlagen (…) v. 23.9.1989; ebenda, Bd. 3, Bl. 222 sowie Karteikarte F 16 Rockstroh, Bernd; BStU, MfS, BV Rostock und Karteikarte F 22 Rockstroh, Bernd; BStU, MfS, BV Rostock, Objektanalyse, o. D. (1988); BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 72, Bl. 1–14 sowie Kaderkartei Beier, Peter; BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM. VSH-Kartei OD KKW (Beier, Peter); BStU, MfS, BV Rostock. Zur Arbeit des Sektors Wissenschaft und Technik der HV A vgl. Harry Herrmann, Klaus Rösener: Die Auswertung wissenschaftlich-technischer Informationen. In: Müller; Süß; Vogel (Hg.): Die Industriespionage der DDR, S. 143–151. Macrakis: Das Ringen, S. 63, 70–72 u. 88; Knabe: West-Arbeit des MfS, S. 87 u. 137; Horst Vogel: Die Bedeutung der Wissenschaftlich-Technischen Aufklärung der DDR. In: Müller; Süß; Vogel (Hg.): Industriespionage, S. 11–30, hier 21 f.; Wolf: Spionagechef, S. 302.

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Abb. 45 u. 46: Als Abteilungsleiter Werkstofftechnik auf der Großbaustelle war der IM »Kurt Klotsche« u. a. zuständig für die Prüfung und Abnahme der Reaktoren 5 bis 8. Im Frühjahr 1987 informierte er die Stasi über das Auffinden von Fremdkörpern (Steine, Flaschen und ganze Pakete von Schweißelektroden) in den Rohrleitungen zu den Dampferzeugern am Reaktor 5.

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Das Kernkraftwerk Greifswald

auch in der Bundesrepublik und gegen westdeutsche Geschäftspartner zum Einsatz kommen sollte (IMB). Seine beruflichen Kontakte zu westdeutschen Firmen und der zunehmende Import von deren Prüftechnik bildeten den Hintergrund dafür. Ultraschalltechnik des mittelständischen Unternehmens Krautkrämer war bereits nach Greifswald geliefert worden, mit der Siemens-Tochter KWU liefen Verhandlungen zum Import einer umfangreichen Anlage (Zentralmastmanipulator) für die Prüfung der ostdeutschen Reaktordruckgefäße. Dieses Vorhaben war ebenso politisch brisant wie wirtschaftlich bedeutend. Einerseits musste der Zustand der DDR-Reaktoren mit modernster West-Technik geprüft werden, andererseits sollten nicht mehr sensible Informationen über die sowjetische Technologie als zwingend notwendig in den Westen gelangen. Das gestaltete sich als schwieriger Balanceakt, weil die Prüftechnik auf die zu prüfenden Materialien abzustimmen war. Zudem galt weiterhin die Vorgabe, die DDR-Kernenergiewirtschaft vor einer zwingenden Abhängigkeit vom Westen zu bewahren – idealerweise durch Eigenentwicklungen nach Vorbild der leistungsfähigen West-Technik. Um diese Ziele umzusetzen, bediente sich die Stasi ihres Informanten »Kurt Klotsche«. Durch ihn saß sie bei Verhandlungen mit den westdeutschen Geschäftspartnern mit am Tisch, wollte mit seiner Hilfe die ostdeutschen Kollegen aber auch ihn selbst unter Kontrolle halten und erhielt durch ihn Einblicke in die Struktur, den aktuellen Stand und Entwicklungen der westdeutsche Kernenergiewirtschaft. Schließlich nutzte die Stasi »Kurt Klotsche«, um Aktivitäten oder Angehörige westlicher Geheimdienste aufzudecken aber auch, um potenzielle westdeutsche Informanten für den Auslandsgeheimdienst HV A auszuspähen. Im Sommer 1988 stuften die Stasi-Offiziere »Kurt Klotsche« schließlich als IMB ein. Es war der einzige ihrer mehr als 200 Informanten im Kernkraftwerk in dieser speziellen IM-Kategorie. Noch im gleichen Jahr erhielt er für seine Stasi-Tätigkeit die »Verdienstmedaille der NVA in Bronze«. Bis in den November 1989 hinein arbeitete »Kurt Klotsche« aktiv mit der ostdeutschen Geheimpolizei zusammen. Nach 1990 machte der frühere Stasi-­ Informant berufliche Karriere in der Bundesrepublik. Als Fachmann für zerstörungsfreie Materialprüfungen schaffte er es bis zum Leiter des Geschäftsbereiches Bahn/Schiene im Fraunhofer-Institut für Zerstörungsfreie Prüfverfahren (IZFP) in Saarbrücken.163 163  Vgl. Einschätzung des Kollegen Bernd Rockstroh (…) für den Antrag als Reisekader v. 22.4.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 1, Bl. 18–20; Ergänzung der Ziel- und Aufgabenstellung zur qualitativen und quantitativen Stärkung der inoffiziellen Basis der OD KKW 1/82 v. 3.3.1982; ebenda, Bl. 173–175. Zwischeneinschätzung zur Entwicklung des IMS »Kurt Klotsche« zum IMB v. 27.6.1983; ebenda, Bl. 248 f.; Schulung des IMS »Kurt Klotsche« zur zu erwartenden Störtätigkeit durch NSW-Firmen in der DDR v. 19.3.1982; ebenda, Bl. 252 f.; Einsatz- und Entwicklungskonzeption zum Reisekader-IM v. 28.7.1982; ebenda, Bl. 263–266; Vorschlag zur Umregistrierung des IMS »Kurt Klotsche« zum IMB v. 1.6.1988; ebenda, Bl. 288–290; Auskunft zur Wiederbestätigung des NSW-Reisekaders Rockstroh, Bernd

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Das Beispiel des Informanten »Kurt Klotsche« zeigt: Auch westliche Firmen und deren Angehörige mussten damit rechnen, in das Visier der Stasi zu geraten. Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit arbeitete »Kurt Klotsche« unter anderem mit dem Geschäftsmann einer westdeutschen Firma zusammen. Das mittelständische Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen war spezialisiert auf die Herstellung von Ultraschalltechnik für das zerstörungsfreie Prüfen von Werkstoffen, das Kombinat Kernkraftwerke unterhielt seit Ende der 1970er-Jahre geschäftliche Beziehungen zu ihm. Eben jener westdeutsche Geschäftsmann erweckte bei der Stasi den Verdacht, Spionage zu betreiben und als Informant eines westlichen Geheimdienstes zu arbeiten. Denn sein ostdeutscher Partner alias IM »Kurt Klotsche« vermutete das, nachdem ihn bei einer Geschäftsreise in die Bundesrepublik im Frühjahr 1986 vermeintliche Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) auf ostdeutsche Sicherheitsvorschriften und ungelöste Materialprobleme in der Kernenergiewirtschaft weltweit (Versprödung der Reaktordruckgefäße) angesprochen hatten. Wegen des Super-GAUs in Tschernobyl kurz zuvor hätte man in dem Ganzen einen Informationsaustausch unter Fachleuten sehen können, zumal sich der ostdeutsche Kernenergiefachmann gegenüber der Stasi an folgende Aussagen seiner westdeutschen Kollegen erinnerte: »Zusammenarbeit in Mitteleuropa wäre wünschenswert, da ein ähnlicher Fall wie Tschernobyl in der BRD oder der DDR das Ende der Kernenergie auf absehbare Zeit sein könnte.«164 Die Stasi jedoch hatte keinen Sinn für eine solche deutsch-deutsche Allianz unter Kernenergetikern. Vor dem Hintergrund ihres Freund-Feind-Denkens und wegen der konkreten Begleitumstände des Gespräches witterte sie vielmehr einen geheimdienstlichen Hintergrund des westdeutschen Geschäftsmanns sowie dessen Arbeitgebers. Unter den Schlagworten »Kontaktversuche«, »Abschöpfung« und »Vorbereitungen für feindlich subversive Handlungen« reagierte die Geheimpolizei reflexartig auf die zaghaften Gesprächsavancen des Westens. Ihren Verdacht sah die Stasi durch spätere Fragen des westdeutschen Geschäftsmanns zur Struktur der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft, des Betriebsregimes im Kernkraftwerkskombinat und der verwendeten Materialprüftechnik innerhalb des RGW bestätigt. Zumal auch das bulgarische »Bruderorgan« gegen dieselbe Person wegen deren vermeintlicher Arbeit für einen westlichen Geheimdienst v. 7.2.1986; ebenda, Bd. 2, Bl. 14 f.; Einsatz- und Entwicklungskonzeption zum Reisekader-IM v. 11.2.1986; ebenda, Bd. 3, Bl. 18–22; Vorschlag zur Auszeichnung mit der Verdienstmedaille der NVA in Bronze v. 27.4.1988; ebenda, Bl. 179 f.; Aktenvermerk über einen gemeinsamen Treff mit dem IMS »K. Klotsche« und MA der HVA SWT/13 in Berlin v. 23.9.1986; ebenda, T. II, Bd. 3, Bl. 149–151; Einsatz IMS »K. Klotsche« BRD v. 1.4.1987; ebenda, Bd. 4, Bl. 53 f.; Treff bericht v. 6.11.1989; ebenda, Bd. 5, Bl. 248 und 147. Sitzung des AK Dresden am 26. September 2008. Prüfungen und experimentelle Untersuchungen im Schienenfahrzeugbau. In: Zf P-Zeitung, Nr. 112, Dezember 2008, S. 6 f. 164  Ergänzung zur Information vom 10.6.1986 v. 23.12.1986; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 4, Bl. 73–75.

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ermittelte. Die Stasi legte zu dem westdeutschen Geschäftsmann daraufhin im Frühjahr 1987 zunächst eine operative Personenkontrolle und im Sommer 1988 einen verschärften operativen Vorgang mit den Decknamen »Krämer« an. Vermutlich ohne dass er es ahnte, drohten dem bundesdeutschen Bürger nach DDR-Strafrecht nun bis zu zwölf Jahre Haft. Unter Federführung der StasiObjektdienststelle im Kernkraftwerk setzte die ostdeutsche Geheimpolizei fortan wenigstens zwei inoffizielle Mitarbeiter auf den Geschäftsmann an, darunter den IM »Kurt Klotsche«, der zu Fachtagungen und Geschäftsverhandlungen in die Bundesrepublik reiste oder nach Greifswald einlud und seinen westdeutschen Geschäftspartner nach Vorgabe der Stasi ködern und aushorchen sollte. Die Stasi durchsuchte insgeheim die Unterkunft des Geschäftsmanns, wenn er zu Dienstreisen in Greifswald war, hörte diese per Raumüberwachung ab und kontrollierte seinen Postverkehr aus und in die DDR. Über die Stasi-Objektdienststelle hinaus waren an seiner Überwachung und Kontrolle die Bezirksverwaltung Rostock, die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin sowie der Auslandsgeheimdienst HV A beteiligt.165 Nach mehr als zwei Jahren kamen die Stasi-Offiziere im Kernkraftwerk nicht über die Erkenntnis hinaus: »Im Rahmen der OV-Bearbeitung konnten noch keine eindeutigen Beweise für den begründeten Verdacht einer nachrichtendienstlichen Tätigkeit des [...] herausgearbeitet werden.«166 Und aus der OstBerliner Stasi-Zentrale kam im Sommer 1989 eine Unbedenklichkeitserklärung zu dem westdeutschen Unternehmen. Dieses sei bereits seit Ende der 1960er-Jahre in zahlreichen Bereichen der DDR-Wirtschaft aktiv, liefere stets einwandfreie Qualität und sei bis dahin keinerlei geheimdienstlicher Tätigkeit verdächtig geworden. Ein besonderes Interesse unterstellte die Staatssicherheit den westlichen Geheimdiensten insbesondere am Sicherheitsniveau der sowjetischen Kraftwerkstechnologie in der DDR im Zusammenhang mit dem Super-GAU in Tschernobyl. Aufschlussreich ist, dass die Stasi selbst mit Blick auf die Situation im Kombinat Kernkraftwerke (Großbaustelle zu den Reaktoren 5 bis 8, Dampf­erzeugerschäden 1982 und Versprödung der Reaktordruckgefäße 1 bis 4) zu dem Schluss kam: »Ein Abfließen derartiger Informationen kann zu negativen Auswirkungen auf die Innenpolitik der DDR und zur Diffamierung sowjetischer Kernkraftwerkstechnik führen. Dadurch können Schäden im internationalen Handel für die UdSSR eintreten und Vorteile für die NSW-Firmen erreicht werden.«167 Mit anderen Worten ging es der Stasi an dieser Stelle um nicht mehr und nicht weniger,

165  Leiterinformation Nr. 1 v. 23.1.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, Bd. o. Nr., Bl. 45.; Leiterinformation Nr. 1 v. 23.1.1987; ebenda, T. I, Bd. 4, Bl. 77. 166  Zwischenbericht zum OV »Krämer« v. 8.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AOP I/4728/91, Bd. 1, Bl. 172–175, hier 173. 167  Einleitungsbericht zur OPK »Krämer« v. 3.3.1987; ebenda, Bd. 1, Bl. 20–23, hier 21.

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als gegenüber dem Westen die Krise zu vertuschen, in der sich die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft Mitte der 1980er-Jahre befand.168

168  Eröffnungsbericht zum Anlegen des OV »Krämer« v. 6.6.1988; ebenda, Bd. 1, Bl. 5–10; Operativplan zum OV »Krämer« v. 6.6.1988; ebenda, Bl. 11 f.; Stellungnahme zur Anlegung des OV »Krämer« der OD KKW v. 10.6.1988; ebenda, Bl. 13; Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle »Krämer« v. 27.4.1987; ebenda, Bl. 15; Einleitungsbericht zur OPK »Krämer« v. 3.3.1987; ebenda, Bl. 20–23; Maßnahmeplan zur OPK »Krämer« v. 25.2.1987; ebenda, Bl. 24–26. Weitere Maßnahmen zum OPK »Krämer« v. 29.6.1987 ebenda, Bl. 27. Mündl. Info IMS K. Klotsche v. 10.6.1986; ebenda, Bl. 43 f.; Auskünfte zum Reisekader Rockstroh, Bernd lt. Informationsbedarf vom 28.11.1986 v. 15.12.1986; ebenda, Bl. 47–49; Antrag zur Realisierung einer konspirativen Durchsuchung OPK »Krämer« v. 1.6.1988; ebenda, Bl. 96 f.; Bericht über die realisierte konspirative Durchsuchung der Wohnunterkunft von (…) v. 6.7.1988; ebenda, Bl. 98–100; Zusammenfassung und Bewertung operativer Erkenntnisse zur BRD-Firma Krautkrämer GmbH & Co (KK) v. 23.8.1989; ebenda, Bl. 197–199; Aktenvermerk zur Rücksprache beim Leiter Abt. XVIII, Oberst Riedel zum RK [Reisekader – d. Verfasser] Rockstroh, KKW Greifswald v. 20.2.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AIM »Kurt Klotsche« 4637/91, Bd. o. Nr., Bl. 42; Information über (…), Übersetzung aus dem Bulgarischen v. 5.12.1986; ebenda, Bl. 62 f.; Stellungnahme zur Einleitung einer OPK zum NSW-Vertreter Krämer/OD KKW v. 2.4.1987; ebenda, Bl. 64; Plan zur Sicherung der Maßnahme der Abt. VIII im Objekt »Krämer« v. 12.8.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4637/91, T. I, Bd. 1, Bl. 281–283; Antrag auf Durchführung einer konspirativen Wohnungsdurchsuchung am 20.8.1987 v. 14.8.1987; ebenda, Bl. 284 f.; Vorschlag zum Einsatz des IMS »Kurt Klotsche« (…) in Richtung Blickfeldarbeit v. 25.11.1987; ebenda, Bd. 4, Bl. 1–5; Bericht über die durchgeführte konspirative Durchsuchung der Wohnunterkunft von (…) v. 21.9.1987; ebenda, Bd. 4, Bl. 43 f.; Ergänzung zur Information vom 10.6.1986 v. 23.12.1986; ebenda, Bl. 73–75. Mündliche Information IMS »K. Klotsche« v. 10.6.1986; ebenda, T. II, Bd. 3, Bl. 96 f.

5. Die Friedliche Revolution 1989/90 In den 1980er-Jahren baute sich DDR-weit in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine Krise auf. Diese Krise nahm in Greifswald eine spezifische Ausprägung an und brach sich allen voran in der Versorgung, im Städtebau und in der Wirtschaft insgesamt Bahn. Die Reaktoren 1 bis 4 des Kernkraftwerkes Greifswald mussten aufwendig überwacht und instandgehalten werden, die Bauarbeiten der Reaktoren 5 bis 8 zogen sich quälend hin. Auch in anderen örtlichen Betrieben und Einrichtungen wuchs sich die Krise aus. Im VEB Nachrichtenelektronik Greifswald gab es große Probleme in der Materialzulieferung und der Produktionsqualität sowie Millionenausfälle im Export gen Sowjetunion und in den Westen. Die Arbeit im renommierten Friedrich-Löffler-Institut auf der nahen Insel Riems litt unter verschlissenen Anlagen und Gebäuden, Fachleute sagten den Totalausfall voraus. Die Greifswalder Universitätsklinik war eine marode Dauerbaustelle, Teilbereiche bewegten sich wegen schlechter hygienischer Bedingungen am Rande der Zwangsschließung, es fehlte an Ärzten, medizinischem Hilfspersonal, Medikamenten und Verbandsmaterialien. Von den Angestellten des örtlichen Gesundheitswesens wusste die Stasi zu berichten: »Wenn in den Zeitungen ständig mitgeteilt wird, dass die medizinische Betreuung der Bevölkerung gewährleistet ist, dann entspricht das nicht der Wahrheit.«1 Gesprächsthema Nummer eins war die von den Greifswaldern als miserabel empfundene örtliche Versorgung mit solch einfachen Waren wie Fleisch, Wurst, Käse, Obst, Gemüse, Kosmetika bis hin zu Kleidung, Wohnungsausstattungen, teuren Konsumgütern (Tiefkühlschränke, Farbfernseher, Pkw) sowie Ersatzteilen in den Betrieben oder für den Privatgebrauch. Der städtische Schlachthof musste schließen, die Versorgungsprobleme mit Fleisch- und Wurstwaren verschärften sich. Auch die Backwarenproduktion erfolgte unter denkbar schlechten Bedingungen. Mitte der 1980er-Jahre stürzte in einer Bäckerei die Decke ein, ihre eigentlich überfällige Schließung unterblieb jedoch. Für die Sicherstellung der örtlichen Versorgung bestanden keine Reserven. Die Greifswalder reagierten auf diese Situation mit Einkaufsfahrten in die knapp 70 Kilometer entfernte Bezirksstadt Neubrandenburg oder noch weiter nach Ost-Berlin. Wer es organisieren konnte, ging während seiner Arbeitszeit zum Einkauf in die Stadt. Bisweilen stellte man sich auf den bloßen Verdacht hin in eine Einkaufsschlange in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu erstehen. Es war eine typische Selbstwahrnehmung der Greifswalder, die in vielen Städten und Ortschaften der DDR anzutreffen war, dass 1  Vgl. Information über die Lage im Territorium in der Zeit vom 2.11. bis 27.11.1987 v. 27.11.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 690–699, hier 696.

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man sich im Vergleich zu benachbarten Landkreisen als schlechter versorgt ansah. Als Erklärung dafür zog man in der Universitäts- und Hansestadt am Greifswalder Bodden heran, dass bei der zentralen Versorgungsplanung nur von den gemeldeten Hauptwohnsitzen ausgegangen werde und die Nebenwohnsitze Tausender Arbeiter und Studenten unterschlagen würden. Auch das Einkaufsverhalten ausländischer Gastarbeiter – beispielsweise polnischer Fachleute der Großbaustelle des Kernkraftwerkes – galt den Greifswaldern als schlüssige Begründung für die alltäglichen Versorgungsengpässe. Der Selbstwahrnehmung des örtlichen Mangels entgegen stand folgende Annahme des SED-Zentralkomitees vom November 1988: »Die Stadt Greifswald ist entsprechend ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung mit den erforderlichen Warenfonds eingeordnet. Bei einer Vielzahl der Waren liegen sie über dem Durchschnitt des Bezirkes, […] ohne dass damit eine volle Bedarfsdeckung gesichert wird.«2 Vermutlich war schlicht und ergreifend ein Mix aus Fehlplanung und Mangelwirtschaft für die Greifswalder Situation verantwortlich. Im Gegensatz dazu hieß es von den Greifswaldern zu ihren zunehmenden privaten Besuchsreisen in die Bundesrepublik: »Das Warenangebot in den Geschäften ist beeindruckend und überwältigend.«3 Wie andernorts im ostdeutschen Staat nahmen Unzufriedenheit und manchmal auch Resignation in Greifswald zu. Das betraf in der späten DDR nicht nur jene, die der SED-Herrschaft kritischer gegenüberstanden als andere oder sich gar der Opposition zurechneten. Als Ausdruck der großen Krise reichte die Unzufriedenheit im Jahr 1989 bis weit in die SED-Mitgliederschaft hinein. Im Unterschied zu den staatlich unabhängigen Menschenrechts-, Friedens- und Umweltgruppen gingen von dort aber keinerlei Reformbemühungen und schon gar 2  Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED v. 15.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 346–360, hier 356. 3  Vgl. Information v. 4.2.1986; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 331, Bl. 29; Information über die Reaktion der Bevölkerung auf Versorgungsfragen v. 5.11.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 715–721; Information über einige Erscheinungen und Reaktionen der Bevölkerung, die die Lage im Territorium kennzeichnen v. 13.8.1987; ebenda, Bl. 751–755; Information über die Reaktion der Bevölkerung auf Probleme im Zusammenhang mit dem örtlichen Baugeschehen v. 16.3.1987; ebenda, Bl. 822–824; Zit.: Information über die Lage im Territorium in der Zeit vom 2.11. bis 27.11.1987 v. 27.11.1987; ebenda, Bl. 690–699, hier 697. Fast wortwörtlich auch in Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 80–87, hier 83; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, Bl. 421–428, hier 424; Information Nr. 81/88 über Stimmungen und Meinungen von Werktätigen und Angehörigen der Technischen Intelligenz der Zentralen Baustelleneinrichtung des KKW Nord (…) v. 30.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 318–320 sowie Mellies; Möller: Greifswald 1989, S. 15. Eine drastische Schilderung liefert Helge Matthiesen: Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990. Düsseldorf 2000, S. 672 f.

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keine Revolutionsbestrebungen aus. Beispielhaft für solche Unzufriedenheit, die nicht zwangsläufig in ein politisch oppositionelles Handeln mündete, berichtete die Stasi im Frühjahr 1989 nach den gefälschten Kommunalwahlen aus Greifswald: »Nach der Wahl wurden verstärkt Zweifel an der Richtigkeit der veröffentlichten Zahlen unter allen Bevölkerungskreisen festgestellt, ohne dass sich daraus aber feindlich-negative Haltungen ergaben. Einzelne kirchlich gebundene Kräfte und AstA [Antragsteller auf ständige Ausreise – d. Verf.] versuchten intensiv, Wahlmanipulierungen [sic!] nachzuweisen.«4 Wer mit offenen Augen und klarem Verstand in der späten DDR lebte, für den war die allgegenwärtige Krise greifbar. Die Konsequenzen, die die Menschen in der DDR daraus für ihr Handeln zogen, waren allerdings höchst unterschiedlich.

5.1 Ausreise und Flucht als Ausdruck und Ursache der Krise Ausreise und Flucht aus der DDR waren Ausdruck und eine Ursache der gesellschaftlichen Krise im ostdeutschen Staat zugleich, sie bildeten einen »Seismografen der politischen Verhältnisse«.5 Zwischen 1949 und 1989 entschieden sich rund 4 Millionen Menschen zum Verlassen ihrer Heimat, weil sie aus politischen oder persönlichen Gründen nicht mehr in der SED-Diktatur leben wollten bzw. konnten. Ihre zahlenmäßigen Spitzen erreichten Ausreise und Flucht in den Krisenjahren 1953 und 1989/90. Seit der Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961 war die Trennung der beiden deutschen Staaten nahezu lückenlos. Ein Fluchtversuch aus der DDR ging jetzt in jedem Falle mit Todesgefahr einher. Zwischen 1961 und 1989 bezahlten alleine an der Berliner Mauer mindestens 136 Menschen den Fluchtversuch in die Bundesrepublik mit ihrem Leben. Für die übrige Landes- und Seegrenze der DDR gehen Schätzungen von bis zu 800 weiteren Todesopfern aus. Weniger gefährlich, aber von quälender bürokratischer Willkür begleitet, war das Stellen eines Ausreiseantrages in die Bundesrepublik. Mitte der 1980er-Jahre warteten mehr als 30 000 Ostdeutsche auf die Genehmigung ihrer Ausreise. Bis Ende des Jahrzehnts stieg die Zahl auf mehr als 100 000 Ausreiseantragsteller an. Als im Spätsommer 1989 die Grenzanlagen zwischen Ungarn und Österreich fielen, entstand im Eisernen Vorhang zwischen Ost und West unversehens eine Lücke. Dies nutzten immer mehr Einwohner der

4  Berichterstattung beim Leiter der BV v. 21.7.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 71, Bl. 3–6, hier 5. 5  Bettina Effner, Helge Heidemeyer: Flucht im geteilten Deutschland. Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. In: dies. (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland. Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Berlin 2005, S. 11–25, hier 12.

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DDR, um in den Westen zu gelangen. Die SED-Führung verlor die Kontrolle über die einsetzende Fluchtwelle oftmals junger Familien samt ihrer Kinder.6 Im Kreis Greifswald registrierte die Staatssicherheit Ende 1987 104 Anträge mit insgesamt 245 Ausreiseantragstellern. Die übergroße Anzahl von ihnen kam aus der Kreisstadt. Bis Ende 1988 stieg die Zahl der Anträge auf 126 und betraf 321 Personen. Für das Kernkraftwerk selbst ging die Staatssicherheit im Spätsommer 1989 von lediglich zwei Ausreiseantragstellern aus. Bis dahin hatten wenigstens vier leitende Kader von der Großbaustelle private Reisen zum Verbleib in der Bundesrepublik genutzt. Allein zwischen August und Anfang Oktober 1989 kamen der Geheimpolizei zufolge noch einmal 22 Flüchtlinge hinzu. Beispielhaft für die Motive, die eigene Heimat zu verlassen, formulierte ein junges Greifswalder Ehepaar in seinem Ausreiseantrag schon im Sommer 1983: Die persönlichen Bedürfnisse der Menschen stehen hier total im Hintergrund, alles soll sich der großen Masse unterordnen. […] Auf allen Gebieten ist es so ungeheuer wichtig, entweder Beziehungen, Geld oder Westverwandte […] zu haben. Wenn man dann noch Mitglied der SED ist, dann stehen einem alle Wege offen. […] Sind die Menschen in unserem Lande Menschen zweiter Klasse? Sind sie unmündig, sodass sie eingesperrt sein müssen, dass man aufpassen muss, dass sie nicht weglaufen? […] Wir wollen nicht 70 Jahre alt werden und nichts erlebt haben. […] Sehr oft haben wir uns gefragt, wie viele wirkliche Kommunisten es wohl noch hier gibt. Wie viele machen das nur, um mit dem Arsch an die Wand zu kommen. […] So viel Heuchelei auf einmal, das kann man nicht mehr aushalten.7

Aus Furcht vor einem öffentlichen Protest der jungen Familie und deren Kontaktaufnahme in die Bundesrepublik legte die Staatssicherheit eine Operative Personenkontrolle an. Weil der Ehemann als Maurer auf der Großbaustelle des Kernkraftwerkes arbeitete, übernahm die dortige Stasi-Objektdienststelle die Federführung. Es folgten Vorladungen und Aussprachen der örtlichen Verwaltung und im Betrieb, stundenlange Stasi-Verhöre und schließlich ein Gerichtsverfahren mit der Verurteilung der Ausreiseantragsteller zu einem Jahr und zehn Monaten Haft.8 6  Vgl. Effner; Heidemeyer: Flucht, S. 15 sowie dies.: Die Flucht in Zahlen. In: dies. (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland, S. 27–31; Maria Nooke, Hans-Hermann Hertle (Hg.): Die Todesopfer am Außenring der Berliner Mauer 1961–1989. Potsdam 2013, S. 8; Maria Nooke: Erfolgreiche und gescheiterte Fluchten. In: Andreas H. Apelt (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf. (Aus-)Wege aus der DDR. Halle (Saale) 2011, S. 15–30, hier 29; Klaus Schroeder: Ursachen, Wirkungen und Folgen der Ausreisebewegung. In: ebenda, S. 46–68, hier 58 u. 63; Mählert: Kleine Geschichte, S. 131 f., 156 u. 158 f. 7  Vgl. Antrag auf Ausreise aus der DDR v. 25.7.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/2199/84, o. Pag. (Rückkopie). 8  Vgl. Information über die Lage im Territorium in der Zeit vom 2.11. bis 27.11.1987 v. 27.11.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 690–699, hier 692; Information über aktuelle Erscheinungen im Zusammenhang mit Übersiedlungsersuchenden und die

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Im Spätsommer 1989 waren es zunehmend nicht mehr nur Menschen am Rande der DDR-Gesellschaft, die den ostdeutschen Staat verlassen wollten. Als Ausdruck ihrer tiefen Krise fanden sich unter den Ausreiseantragstellern auch solche, die kurz zuvor noch überzeugte SED-Mitglieder waren. Beispielhaft dafür stand ein 26 Jahre junger Projektant des Kernkraftwerkes. Nach immerhin achtjähriger Mitgliedschaft schrieb er im Juli 1989 zu seinem Parteiaustritt: […], dass ich System und Menschen überschätzt habe. Die SED-Führung hält an der Gesellschaftsform einer überalterten unflexiblen Diktatur fest. […] Getreu dem Sprichwort handelnd ›Vom Wahrsagen kann man wohl leben auf dieser Welt – aber nicht vom Wahrheit sagen‹, wurde in jüngerer Vergangenheit z. B. öffentlich geäußert, die Lebensqualität des Durchschnitts-DDR-Bürgers übertreffe die der Mehrheit der Bundesbürger und die Mark der DDR sei auch mehr wert als die D-Mark.9

Wenige Tage später stellte das ehemalige SED-Mitglied einen Ausreiseantrag. Die harsche Reaktion der SED auf seinen erklärten Parteiaustritt hatte den letzten Ausschlag für seinen Wunsch gegeben, die DDR gen Kanada zu verlassen. Daraufhin übernahm die Stasi-Objektdienststelle die Überwachung des bis dahin alles andere als politisch auffälligen Projektanten, um seine mögliche Flucht oder öffentlichen Protest zu verhindern.10 SED und Staat beurteilten den Weggang von Arbeitern und Angestellten des Kernkraftwerkes in die Bundesrepublik – gleich ob als Ausreiseantragsteller oder Flüchtling – unter zwei Gesichtspunkten. Das Kraftwerk verlor gut ausgebildete Fachleute mit Spezialkenntnissen über die nukleare Anlage. Damit verbunden war der unkontrollierte Abfluss von Kenntnissen über Technologie, BetriebsWirksamkeit der gesellschaftlichen Front zur Zurückdrängung auf Ersuchen von Übersiedlung v. 17.10.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 281, T. I, Bl. 288–293, hier 289; Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 435–447, hier 441 f. Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« und der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 9.10.1989; ebenda, Bl. 414–417, hier 415; Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 1–14, hier 9; Politisch-operative Lageeinschätzung zu den Kernkraftwerken (KKW) in der Deutschen Demokratischen Republik v. 15.9.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21634, Bl. 86–103, hier 97 f.; Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle »Maurer« v. 16.1.1984; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/2199/84, o. Pag. (Rückkopie) sowie Einleitungsbericht zur OPK »Maurer« v. 16.1.1984; ebenda; Befragungsprotokoll v. 27.1.1984; ebenda; Vernehmungsprotokoll v. 9.2.1984; ebenda; Vernehmungsprotokoll v. 10.2.1984; ebenda; Vernehmungsprotokoll v. 24.2.1984; ebenda; Vernehmungsprotokoll v. 13.3.1984; ebenda; Schlussbericht v. 22.3.1984; ebenda sowie Abschlussbericht zur OPK »Maurer« v. 12.6.1984; ebenda. 9  Begründung meines Austrittes aus der SED v. 24.7.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 108, Bl. 20 f., hier 20. 10  Vgl. Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR und Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR v. 1.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 108, Bl. 22; Operativinformation v. 10.9.1989; ebenda, Bl. 18 f.

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strukturen und Wirtschaftsstrategien bis hin zu geheimen Verschlusssachen, Störfällen und Mängeln des Kernkraftwerkes. Während Ersteres angesichts des Fachkräftemangels in der DDR einen wirtschaftlichen Schaden nach sich zog, blieb Letzteres vor allem eine politische Blamage der ostdeutschen und der sowjetischen Kraftwerkstechnik gegenüber dem Westen. Ausreiseantragsteller wurden darum gar nicht erst eingestellt oder gezielt aus dem Kernkraftwerk und von der Großbaustelle entlassen. So geschah es dem langjährigen Leiter der Abteilung Programmierung im Kernkraftwerk. Weil er im Sommer 1984 einen Ausreiseantrag stellte, um sich der Pflege seiner Schwiegereltern in der Bundesrepublik zu widmen, startete die Stasi-Objektdienststelle seine Überwachung. Seine zurückliegende berufliche Tätigkeit ermöglichte dem Informatiker einen umfassenden Einblick in die Kosten, die Leistung, die Störfälle, die Instandsetzungen und die Betriebsstrategie der nuklearen Anlage. Gemeinsam mit seinen betrieblichen Vorgesetzten organisierte die Geheimpolizei die sofortige Umsetzung des Computerfachmanns in einen weniger bedeutenden Arbeitsbereich. Dort sollte ihn sein direkter Vorgesetzter alias IM »Dietmar Schettler« im Sinne der Stasi kontrollieren. 1987 musste der so Kaltgestellte das Kernkraftwerk ganz verlassen. Und die Geheimpolizei erließ insgeheim eine zweijährige Karenzzeit, vor deren Ablauf seine Ausreise nicht bewilligt werden durfte.11 Für Partei und Staat unberechenbarer als Ausreiseantragsteller waren Flucht­ willige, die ihre Absicht bis zuletzt geheim hielten. Zwei Beispiele belegen, dass sich die Situation im Kernkraftwerk ähnlich wie in der gesamten DDR bis zum Herbst 1989 zuspitzte. Die Stasi-Objektdienststelle reagierte darauf typischerweise mit repressiven Methoden, erlitt aber zusehends einen Kontrollverlust. Im ersten Fall plante eine junge Krankenschwester der Betriebsklinik im Kernkraftwerk gemeinsam mit ihrem Ehemann und einem befreundeten Ehepaar im September 1989, eine Ungarnreise für die Flucht in den Westen zu nutzen. Für die Betriebs­ klinik wäre ihr Weggang nicht zuletzt deshalb ein herber Verlust gewesen, weil die Krankenschwester neben dem Chefarzt als Einzige über eine Fachausbildung für Endoskopie verfügte. Als die Stasi durch die Denunziation einer Arbeitskollegin von dem Vorhaben erfuhr, leitete sie eine operative Personenkontrolle ein »zur vorbeugenden Verhinderung einer Straftat«. Der jungen Krankenschwester 11  Vgl. Politisch-operative Lageeinschätzung zu den Kernkraftwerken (KKW) in der Deutschen Demokratischen Republik v. 15.9.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21634, Bl. 86–103, hier 97 f.; Einleitungsbericht zur OPK »Pfleger« v. 13.8.1985; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/569/87, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie). Maßnahmeplan zur OPK »Pfleger« v. 14.8.1985; ebenda; Bericht IME »Condor« Zusammenfassende Darstellung des Problems des Ersuchens auf Übersiedlung in die BRD v. 6.9.1984; ebenda; Absprache mit Gen. Dietrich und Gen. Weller zum ÜSE (…) v. 17.10.1984; ebenda; Auskunftsbericht v. 7.11.1984; ebenda; Aktennotiz lt. Vorgabe zum Kollegen (…) v. 19.11.1984; ebenda; Wissensumfang des Koll. (…) zur KKW-spezifischen Problematik v. 2.6.1986; ebenda. Umgang mit Vertraulichen Dienstsachen durch den Koll. (…) v. 9.6.1986; ebenda; Abschlussbericht zur OPK »Pfleger« v. 2.11.1986; ebenda.

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drohte nach DDR-Strafrecht damit eine bis zu achtjährige Gefängnisstrafe. Für sie und die übrigen drei Beteiligten folgten der Entzug ihrer Personalausweise auf dem Volkspolizeikreisamt Greifswald, mehrstündige Stasi-Verhöre und Maßregelungen am Arbeitsplatz durch ihre Vorgesetzten. Die Geheimpolizei betrachtete ihr konzertiertes Vorgehen als Erfolg, weil sie meinte, im Vorfeld des 40. DDR-Jahrestages einen Fluchtversuch durchkreuzt zu haben. Erst nachdem mit der Öffnung der Berliner Mauer und der deutsch-deutschen Grenze neue politische Fakten geschaffen waren, beendete die Stasi-Objektdienststelle Mitte November 1989 den Vorgang. Dass sie diesen jedoch mit einer zehnjährigen Aufbewahrungsfrist versah, spricht Bände zur inneren Haltung der Stasi-Offiziere gegenüber der Friedlichen Revolution und ihren eigenen Zukunftsvisionen.12 Ein zweiter Fall betraf den langjährigen Leiter der Abteilung Konstruktion im Kernkraftwerk. Er nutzte eine Dienstreise in die Tschechoslowakei, um sich Anfang Oktober 1989 in die Bundesrepublik abzusetzen. Für die Stasi war das am Vorabend des DDR-Jahrestages in mehrfacher Hinsicht eine Pleite. Sie hatte die Flucht trotz ihres engmaschigen Überwachungssystems nicht verhindern können. Und der geflüchtete Kernenergiefachmann besaß detaillierte Einblicke in das größte Kernkraftwerk der DDR – darunter Dienstgeheimnisse zur technologischen Konstruktion, Störfällen sowie zur Entwicklung von Ersatzteilen und Prüfsystemen.13 Besonders brisant für die Stasi war, wenn Arbeiter und Angestellte des Kernkraftwerkes der DDR den Rücken kehrten, die zugleich als ihre Informanten arbeiteten. Über Verluste für die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft hinaus bedeutete das für die Stasi einen ideologischen Schaden. Zugleich musste sie befürchten, dass Auskünfte über ihre Arbeitsmethoden in den Westen gelangten. Deshalb entfaltete die Geheimpolizei ausufernde Aktivitäten, als sich ein Prüf­ ingenieur der Großbaustelle zu den Reaktoren 5 bis 8 alias IM »Jörg Läufer« im 12  Vgl. Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle »Olympus« v. 11.9.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/2177/89, Bd. 1, Bl. 3 f.; Einleitungsbericht zur OPK »Olympus« v. 8.9.1989; ebenda, Bl. 5–9; Abschlussbericht zur OPK »Olympus« v. 3.11.1989; ebenda, Bl. 10–12; Vorschlag zur Durchführung von operativen und strafprozessualen Maßnahmen (…) v. 20.9.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AU I/2158/89, Bd. 1, Bl. 25 f.; Befragungsprotokoll der B., K. v. 21.9.1989; ebenda, GA, Bd. 2, Bl. 22–27. 13  Mündliche Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung v. 4.6.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 844–848, hier 846; Bericht über Tendenzen der politisch-ideologischen Situation unter den Beschäftigten im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord (…) v. 18.1.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 482–487, hier 487; Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); ebenda, Bl. 435–447, hier 441. Information zum ungesetzlichen Verlassen v. 3.10.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 281, T. II, Bl. 408–410 sowie Information zum ungesetzlichen Verlassen der DDR durch einen Leitungskader im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 13.10.1989; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 24436, Bl. 91–94.

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Sommer 1982 über Schweden in die Bundesrepublik absetzte. Der promovierte Diplomphysiker arbeitete bereits seit dem Studium Mitte der 1960er-Jahre für die Stasi, seit Ende der 1970er-Jahre berichtete er von der Großbaustelle. Ende August 1982 erreichte die Stasi im Kernkraftwerk dann die Nachricht, dass sich ihr Informant im Rahmen einer Segelreise nach Schweden abgesetzt hatte. Von dort aus gelangte er in die Bundesrepublik. Über den Umstand hinausgehend, dass der Prüfingenieur Einblicke in das sicherheitstechnische Projekt der Greifswalder Reaktoren, die sowjetischen Importleistungen, Qualitätsmängel und Störfälle an den Hauptanlagen sowie die Instandhaltungsarbeiten hatte, verfügte er aus seiner IM-Tätigkeit zumindest über eine ungefähre Vorstellung über die Arbeit der ostdeutschen Geheimpolizei. Diese hatte ihn für mehrere operative Vorgänge eingesetzt, in mehrere konspirative Trefforte eingeführt und mit einem Führungs-IM zusammengebracht. Zudem hatte der IM »Jörg Läufer« mehrere hauptamtliche Stasi-Offiziere persönlich kennengelernt. Nun sah sich die Stasi von ihrem Informanten blamabel getäuscht. Nach Zusicherung von Straffreiheit und mithilfe seiner Familienangehörigen gelang es der Geheimpolizei, ihn zur Rückkehr in die DDR zu überreden. Bei einem letzten geheimen Treffen mit zwei Offizieren der Stasi-Objektdienststelle Ende Oktober 1982 bewertete der IM »Jörg Läufer« seine bis dahin 17-jährige Stasi-Tätigkeit sichtlich niedergeschlagen so: »Das war mein größter Fehler.«14 Die im Jahr 1965 gegebene schriftliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der Stasi widerrief er. Seine Rückkehr in die DDR bereute er nach kurzer Zeit.15

14  Bericht über eine Aussprache mit (…) zur Entpflichtung des (…) von der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS v. 27.10.1981; BStU, MfS, BV Rostock, AIM 48/83, T. I, Bd. 1, Bl. 180 f., hier 180; auch Bericht über eine Aussprache mit (…) zur Entpflichtung des (…) von der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS v. 27.10.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 1435/84, Bd. 1, Bl. 205 f. 15  Vgl. Auskunftsbericht v. 8.9.1973; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/48/83, T. I, Bd. 1, Bl. 9–17; Schriftliche Verpflichtung v. 23.6.1965; ebenda, Bl. 23; Entpflichtung v. 26.10.1982; ebenda, Bl. 24; Beschluss v. 28.10.1978; ebenda, Bl. 131 f.; Vorschlag zur Umregistrierung des IMV »Jörg Läufer« zum IMS v. 29.5.1980; ebenda, Bl. 138. Auskunftsbericht zum ungesetzlichen Grenzübertritt in Visby/Gotland/Schweden v. 29.8.1982; ebenda, Bl. 163–167; Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Ruder« v. 10.9.1982; ebenda, Bl. 168–173; Einschätzung zum IMS »Jörg Läufer« v. 30.8.1982; ebenda, Bl. 174–176 sowie Schreiben v. 17.9.1982; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/1435/84, Bd. 1, Bl. 21. Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Ruder« v. 10.9.1982; ebenda, Bl. 41–46; Konzeption zu Rückgewinnungs- und Rückführungsmaßnahmen v. 10.9.1982; ebenda, Bl. 50–52; Bericht über die Aussprache mit (…) zum ungesetzlichen Verlassen der DDR v. 6.10.1982; ebenda, Bl. 171–175; Vorschlag zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen (…) v. 27.10.1982; ebenda, Bl. 197–199; Entpflichtung v. 26.10.1982 (Abschrift); ebenda, Bl. 207; Aktennotiz, Gespräch mit (…) am 26.7.1983; ebenda, Bl. 279 f.; Abschlussbericht zum OV »Ruder« v. 28.2.1984; ebenda, Bl. 364–368.

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Der Fall Haferburg Einer derjenigen im Kernkraftwerk am Greifswalder Bodden, die sich wegen eines schier unauflösbaren inneren Konflikts mit SED und Staat für einen Weggang aus der DDR entschieden, war Manfred Haferburg. Haferburg studierte bis 1971 an der Technischen Universität Dresden Wärmetechnik und spezialisierte sich auf Kernenergetik. Anschließend ging er nach Greifswald, wurde Reaktoroberoperator und Blockleiter. Erstmals Anstoß nahm die Stasi an dem damals gerade 25 Jahre jungen Ingenieur im Frühjahr 1973. Damals unterzog sie ihn einer Operativen Personenaufklärung, weil er mit Inbetriebnahme des Reaktors 1 im Dezember 1973 an diesem arbeiten sollte. Es folgte die für Beschäftigte der ostdeutschen Kernkraftwerke übliche geheimpolizeiliche Durchleuchtung: die Überprüfung in Archiven und Karteien der Geheimpolizei, der Volkspolizei, die Kontrolle der privaten Post, das Auswerten der betrieblichen Kaderakte sowie Informanten-Berichte und Ermittlungen zum beruflichen und privaten Umfeld. Schon damals bewegte sich Haferburg wohl am Rande dessen, was die Stasi als zumutbar betrachtete. Ein Informant meinte über ihn zu wissen: »Die politische Einstellung des M. ist nicht negativ, aber sie ist auch nicht überragend positiv.« Manfred Haferburg konzentrierte sich auf seine fachliche Arbeit und ging der Politik so weit als möglich aus dem Weg. Allein ein solches Verhalten entsprach nicht den Vorstellungen von Partei und Staat, die ein offenes Bekenntnis zur SED-Diktatur erwarteten.16 Im Mai 1976 geriet Manfred Haferburg dann dezidiert ins Visier der Geheimpolizei. Seinerzeit arbeitete er im Schichtbetrieb als Blockleiter am Reaktor 1 und war für eine Beförderung zum diensthabenden Ingenieur vorgesehen. Jedoch berichtete einer seiner Vorgesetzten als Inoffizieller Mitarbeiter »Richard« der Geheimpolizei, Haferburg hätte während der Arbeit zu Beat-Musik getanzt. Der Leiter der Stasi-Operativgruppe »KKW Nord«, Werner Müller, vermerkte dazu barsch: »Wir brauchen politisch und fachlich gute Diplomingenieure und keine ›Tänzer‹ auf der Blockwarte. Einsatz ablehnen.« Mit zwei knappen Sätzen schien die berufliche Karriere von Haferburg damit besiegelt – ganz im Widerspruch zu den Interessen des Kernkraftwerkes. Nicht zuletzt wegen der angespannten Personalsituation war man sich dort sicher, in Haferburg einen fähigen dienst­ habenden Ingenieur gefunden zu haben. Die von der Stasi betriebene Degradierung trat darum zunächst nicht ein. Tatsächlich war Manfred Haferburg ab 1976 diensthabender Ingenieur und ab 1978 Schichtleiter, damit arbeitete er nun in einer mittleren Leitungsposition mit Personalverantwortung. Im Betrieb genoss 16  Vgl. Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle v. 18.4.1973; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/968/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Maßnahmeplan zur Bearbeitung des Haferburg, M. im Rahmen der OPA v. 18.4.1973; ebenda; Abschlussbericht zur OPA Haferburg, Manfred v. 16.1.1974; ebenda; Treff bericht IMS »Jüngst« v. 2.10.1981; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/3099/85, T. II, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Zit.: Mündlicher Bericht des IMS »Zenker« v. 18.4.1973; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/968/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie).

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seine gute Arbeit Anerkennung, Zulassungsprüfungen legte er als einer der Besten ab, in schwierigen Situationen zeigte er hohen Einsatz. Er erhielt unter anderem gemeinsam mit seinen Kollegen die hohe staatliche Auszeichnung »Banner der Arbeit«. In der Freizeit segelte Haferburg in der Betriebssportgemeinschaft und engagierte sich im Elferrat des Faschingsvereins des Kernkraftwerkes. Bis Anfang der 1980er-Jahre verweigerte er sich aber mehreren Werbungsversuchen zur SED-Mitgliedschaft. Und er brachte auch den Mut auf, der Geheimpolizei zu widerstehen. Die wollte ihn seit Ende 1979 als Informanten unter dem Leitungspersonal der Reaktoren 1 bis 4 anwerben. Haferburg war stolz auf das, was er bis dahin beruflich erreicht hatte. Er wusste aber auch, dass ihm seine unpolitische Einstellung schnell Nachteile einbringen konnte.17 Zum Verhängnis wurde Manfred Haferburg schließlich, dass er im Herbst 1980 gegenüber einem vermeintlichen Freund die vergeblichen Kontaktversuche der Stasi-Offiziere offenbarte. Ihnen gegenüber hatte sich Haferburg geweigert, Informationen über Arbeitskollegen zu liefern. Der vermeintliche Freund, IM »Förster«, trug Haferburgs Offenbarung an die Geheimpolizei weiter. Der Denunziant versah das mit Hinweisen, Haferburg sei der Musik von Wolfgang Biermann zugeneigt, betrachte die damaligen Ereignisse in Polen als Aufbegehren des Volkes gegen die Diktatur und nur private Gründe würden ihn von einem Ausreiseantrag gen Westen abhalten. Das Ganze gipfelte in der Aussage: »Es gibt eigentlich nichts im Staat, was er akzeptiert. Er schimpft und hetzt und wettert gegen alles.«18 Deutlicher konnte man kaum ans Messer der Geheimpolizei geliefert werden. Es irritiert deshalb, wenn der IM »Förster« gegenüber der Geheimpolizei im gleichen Atemzug feststellt: »Ich möchte also den Manfred Haferburg als meinen Freund bezeichnen.«19 Die Stasi verfügte nun über ein ganzes Bündel an Gründen, um entsprechend ihrem simplifizierenden Freund-Feind-Denkens aktiv zu werden. Sie eröffnete Ende 1980 eine operative Personenkontrolle, in der Manfred Haferburg ein Vergehen nach § 213 des DDR-Strafgesetzbuches nachgewiesen werden sollte. Der Paragraf ahndete den sogenannten ungesetzlichen Grenzübertritt, also die Flucht aus der DDR. Schon Vorbereitung und Versuch konnten mit bis zu acht Jahren Haft bestraft werden. Mindestens drei inoffizielle Mitarbeiter aus seinem Arbeits- und Freizeitbereich setzte die Stasi auf Haferburg an. Schon vor dem Ausgang der geheimpolizeilichen

17  Zit.: Information zur Person Haferburg v. 11.5.1976; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/8594/79, T. II, Bd. 2, Bl. 31 sowie Vorlage v. 19.2.1975; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/968/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Begründung der Notwendigkeit und Zielstellung v. 28.11.1979; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/61/81, T. I, Bd. 1, Bl. 10 f.; Beschluss v. 19.2.1980; ebenda, Bl. 23 f.; Haferburg: Wohn-Haft, S. 195–200. 18  Information des IM »Förster« zu Manfred Haferburg v. 2.12.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/968/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie). 19  Information des IM »Förster« zu Manfred Haferburg v. 2.12.1980; ebenda.

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Abb. 47: Manfred Haferburg (im Pkw) auf einem verdeckt aufgenommenen Foto der Staatssicherheit

Ermittlungen stand deren Ziel fest. In einer Aktennotiz hieß es dazu: »Werden keine strafrechtlich relevanten Hinweise erarbeitet, ist H. aus seiner Funktion herauszulösen.«20 Mehr als zwei Jahre setzte die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk ihren Apparat aus hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern gegen Manfred Haferburg ein. Sie bespitzelte ihn und seine Familie am Arbeitsplatz und in der Freizeit, Stasi-Offiziere der Rostocker Bezirksverwaltung observierten ihn tagelang rund um die Uhr. Im Frühjahr 1983 schloss die Geheimpolizei die Überwachung mit der Erkenntnis ab, dass kein strafrechtliches Verhalten nachzuweisen sei. Auch sie bescheinigte Haferburg eine gute fachliche Arbeit. Aber ihr folgenschwerer Vorwurf lautete, seine politische Einstellung werde der einer mittleren Leitungsfunktion in einem DDR-Kernkraftwerk nicht gerecht. An ihrem bereits zuvor gefällten Urteil hielt die Stasi darum fest und vermerkte: 20  Zit.: Eröffnungsbericht zur OPK »Silo« v. 18.11.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/968/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); auch in Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle »Silo« v. 20.9.1981; ebenda; Beurteilung des Kollegen Haferburg, Manfred, Blockleiter v. 31.1.1975; ebenda; Bericht IM »Berger« Kollege Haferburg (…) v. 2.6.1980; ebenda; Einschätzung des Kollegen Haferburg v. 22.2.1982; ebenda; Information des IM »Förster« über Haferburg, Manfred v. 9.10.1980; ebenda; Information des IM »Förster« v. 26.11.1980; ebenda.

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Aufgrund seiner negativen politischen Einstellung zu unserem Staat wurde über die staatliche Leitung des VE Kombinats KKW ›Bruno Leuschner‹ Greifswald die Herauslösung des H. aus seiner Funktion als diensthabender Ingenieur veranlasst. Der H. wurde als Springer eingesetzt und somit seine politisch-ideologische Einflussnahme als staatlicher Leiter auf ein Kollektiv eingeschränkt. Da dem H. keine feindlich negativen Handlungen nachgewiesen werden konnten, er aber eine fachliche Kapazität ist, werden die eingeleiteten Maßnahmen als ausreichend angesehen.21

Auch wenn Haferburg spürte, dass der Druck auf ihn im Betrieb größer wurde, hatte er von dem geheimen Vorgehen der Stasi keine Kenntnis – etwa, warum er ab 1981 keine Segelerlaubnis mehr für die Ostsee und das küstennahe Gewässer bekam. Der Inspektionsleiter des Kernkraftwerkes, der als Offizier im besonderen Einsatz »Rainer« für die Stasi arbeitete, entzog Haferburg schließlich ohne Begründung die Berechtigung zur Arbeit mit sogenannten Verschlusssachen. Damit konnte er praktisch nicht mehr als diensthabender Ingenieur und Oberschichtleiter arbeiten.22 Unabhängig davon ließen Störfälle mit schweren Personenschäden Manfred Haferburg zusehends an dem Kernkraftwerk bei Greifswald und dessen Leitung zweifeln. Das Stillhalten und das Schweigen mit Rücksicht auf Karriere und Familie sowie später die berufliche Degradierung trotz aller gezeigter Leistungen stürzten ihn in Selbstzweifel. Freunde und Bekannte begannen ihn zu meiden. Nach anfänglicher Niedergeschlagenheit richtete sich Haferburg in seiner neuen Situation ein. Bis Ende 1988 reifte in ihm jedoch die Idee, seine Heimat zu verlassen. Nach wie vor war er unzufrieden mit der politischen Situation im ostdeutschen Staat. Seine private und berufliche Situation bewirkte ein Übriges. Mittlerweile war er im Kernkraftwerk als Ausbilder eingesetzt, hatte sich hier immerhin wieder eine Leitungsposition erarbeitet und war häufig auf Dienstreisen in der Tschechoslowakei. Im folgenden Sommer sollte es dann soweit sein. Sein Plan schien erfolgversprechend: Ausgestattet mit einem verfälschten niederländischen Reisepass wollte er den Eisernen Vorhang unerkannt mit dem Schnellzug Prag – München von der Tschechoslowakei aus in Richtung Bundesrepublik überwinden. An der westdeutschen Grenze scheiterte die List jedoch und anstatt in der Freiheit landete Haferburg im Juli 1989 in tschechoslowakischer Untersuchungshaft. Zwei Monate später wurde er im September 1989 an die Staatssicherheit in Ost-Berlin ausgeliefert. Unmittelbar vor dem 40. Jahrestag der DDR erwartete Haferburg nun ein Ermittlungsverfahren wegen versuchter Flucht und die Stasi21  Vgl. Abschlussbericht OPK »Silo« v. 9.3.1983; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/968/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie). 22  Vgl. Operativplan zur OPK »Silo« v. 15.12.1980; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/968/83, Bd. 1, o. Pag. (Rückkopie); Aktenvermerk zur OPK »Silo« v. 27.1.1981; ebenda; Abschrift, Bericht »Paul« v. 22.6.1980; ebenda; Beobachtungsbericht v. 13.4.1981; ebenda; Karteikarte Form 401 v. 2.1.1981; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, ZMA, Nr. 3511, Bl. 1 f.; Haferburg: Wohn-Haft, S. 256.

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Untersuchungshaft. Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes musste er im Haftkrankenhaus behandelt werden. Seit seiner Inhaftierung hatte er 10 Kilogramm Gewicht verloren. Dennoch verhörten ihn regelmäßig zwei Stasi-­ Offiziere. Als er sich einigermaßen stabilisiert hatte und erfuhr, dass die Ausreise der DDR-Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau in die Bundesrepublik mittlerweile genehmigt war, kündigte er aus Protest gegen seine fortdauernde Haft einen Hungerstreik an. Erst am 30. Oktober entließ die Stasi Manfred Haferburg nach einer Generalamnestie des DDR-Staatsrates aus der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. Als Manfred Haferburg Anfang November 1989 nach Greifswald zurückkam, war die Stadt nicht mehr dieselbe wie bei seinem Weggang im Sommer. Wie in der gesamten DDR hatten sich hier mittlerweile eine öffentliche Protestbewegung und Dialogveranstaltungen gegen die SED-Diktatur etabliert. Kurz vor der Öffnung der Berliner Mauer war die Friedliche Revolution an einem Höhepunkt angelangt. In dieser Situation schien Haferburg zu belegen, was viele Greifswalder bis dahin höchstens vom Hörensagen kannten. Der abgemagerte, ergraute und verängstigte Haferburg stand als leibhaftiges Sinnbild für die Untaten der SED-Diktatur. Sein schlechter Gesundheitszustand erschütterte seine Arbeitskollegen, mehrere SED-Mitglieder sahen darin den ausschlaggebenden Grund, ihre langjährige Parteimitgliedschaft aufzukündigen.23 Die Geschichte von Manfred Haferburg ist ein Beispiel, wie die Staatssicherheit ihre politischen Interessen im Zweifel den fachlichen Fähigkeiten der Arbeiter und Angestellten im Kernkraftwerk voranstellte. Den Preis dafür hatten das Kernkraftwerk, das einen Fachmann verlor, und vor allem Manfred Haferburg selbst zu zahlen. Sein Leben betrachtete die Geheimpolizei bis 1989 als ihren Spielball – als »Menschenexperiment«.24 Letztlich verlor aber auch die Staatssicherheit. Mit ihrer Überwachung, Kontrolle und Verfolgung hatte sie die Fluchtabsichten von Haferburg erst heranreifen lassen, und zugleich konnte sie diese nicht unterbinden. Vielmehr führten die von der Stasi eingeleiteten privaten und beruflichen Misserfolge dazu, dass Haferburg sich zunehmend von der DDR abwendete. Nach 1990 machte der Kernenergiefachmann berufliche Karriere 23  Vgl. Haferburg: Wohn-Haft, S. 155, 253, 257, 264, 289, 438 u. 455; Anlage o. Anschreiben X/6995/89 v. 21.7.1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 10653, Bl. 3; Übersetzung Botschaft Prag v. 1.8.1989; ebenda, Bl. 4 f.; Erstmeldung HA IX/9 v. 14.9.1989; ebenda, Bl. 7 f.; Haftbefehl v. 14.9.1989; BStU, MfS, HKH, Nr. 10865/89, Bl. 22; Entlassungsschein, o. D.; ebenda, Bl. 2 f.; Entlassungsverfügung Nr. 107816 v. 30.10.1989; ebenda, Bl. 4; Krankenblatt, Zentraler Medizinischer Dienst, Abteilung Haftkrankenhaus v. 31.10.1989; ebenda, Bl. 39–41; Aufnahmeuntersuchung v. 13.9.1989; ebenda, Bl. 42 f.; Beschuldigtenkartei Manfred Haferburg; BStU, MfS, HA IX, Rapport Nr. 202/89 v. 21.7.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 207, Bl. 274; Tendenzen zur Lageentwicklung auf dem Gebiet der Stimmungen/Meinungen/ Reaktio­nen v. 10.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 106 f.; ebenso BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 39, Bl. 58–60. 24  Haferburg: Wohn-Haft, S. 517.

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im Westen. Mehr als zwei Jahrzehnte später beschrieb er das widersprüchliche Wirken der Stasi in seiner Biografie so: »Ihr habt ein ›feindlich negatives Element‹ erst geschaffen und dann flugs wieder vernichtet.«25 Über den Fall von Manfred Haferburg hinaus gibt es zahlreiche weitere Beispiele, wie die Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerk Greifswald in den 1980er-Jahren Ausreiseantragsteller und Beschäftigte mit vermeintlichen oder tatsächlichen Fluchtabsichten verfolgte. Der Erfolg der Geheimpolizei – gemessen an den politischen Vorgaben der SED-Führung – war unterschiedlich, für die Betroffenen hatte er in jedem Falle weitreichende Konsequenzen.

5.2 Unzufriedenheit: Die Kollektiveingabe der A-Schicht Ausreise und Flucht aus der DDR zielten auf eine Überwindung der SED-­ Diktatur durch deren Verlassen ab. Mit der individuellen Entscheidung für diese Handlungsstrategie stellte man sich bewusst gegen den Staat bzw. außerhalb des Staates. Eine staatlich sanktionierte Möglichkeit, seine Unzufriedenheit in der DDR zu formulieren, war das Einreichen einer Eingabe. Anders als Flucht oder Ausreise zielte ein solches Handeln auf Veränderungen innerhalb des ostdeutschen Staates ab. Wie sehr sich die Unzufriedenheit in der Stadt Greifswald seit Mitte der 1970er-Jahre entwickelte, veranschaulicht die stetige Zunahme der Eingaben, die die Greifswalder an die städtische Verwaltung richteten. Das gilt unbeschadet einer anzunehmenden Dunkelziffer derjenigen, die aus Resignation oder Zweifeln an der Lösung ihres Problems eine Eingabe schon gar nicht mehr in Erwägung zogen. Allein für den Bereich des Greifswalder Oberbürgermeisters verdreifachte sich die Zahl dieser staatlich eingeräumten Beschwerdemöglichkeit auf mehr als Tausend Eingaben pro Jahr. In den Jahren der Kommunalwahlen 1979, 1984 und 1989 sowie der Volkskammerwahl 1986 wuchs die Zahl der eingereichten Beschwerden deutlich an, denn eine im Umfeld der DDR-Wahl geäußerte Beschwerde übte besonderen Druck auf die Verwaltung aus. Im Jahr der finalen Krise der DDR erreichte die Anzahl der Eingaben der Greifswalder ihren absoluten Höhepunkt. Im Jahr 1988 – dem letzten Jahr vor der Friedlichen Revolution – machten den übergroßen Teil aller 558 Eingaben an den Greifswalder Oberbürgermeister die Bereiche Wohnungspolitik (49) und Stadtbauamt (22) aus. Die übrigen Beschwerden bezogen sich vor allem auf das Verkehrs- und Nachrichtenwesen (30, Zustand der Straßen und Wege sowie Telefonanschlüsse), die öffentliche Versorgungswirtschaft (21) sowie den Handel und die Versorgung (19). Erst danach folgte der Bereich Umwelt, Wasserwirtschaft und Erholung (19).26 25  Ebenda, S. 519 f. 26  Vgl. Analyse v. 9.7.1990; Stadtarchiv Greifswald, VA 206, o. Pag.; Eingabenanalyse II. Halbjahr 1988 v. 5.1.1989; Stadtarchiv Greifswald, VA 619, o. Pag sowie Information über die Reaktion

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Größeres Aufsehen als die vielen Hundert Eingaben, die an den Greifswalder Bürgermeister gerichtet waren, erregte eine einzelne Eingabe von der Großbaustelle des Kernkraftwerkes zu den Reaktoren 5 bis 8. Ende Oktober 1988 war es hier wieder einmal soweit: Die SED-Betriebsparteiorganisation veranstaltete eine Delegiertenkonferenz. Lange im Vorfeld war die Parteiveranstaltung geplant, wie üblich choreografiert und alle Reden geschrieben. Überschattet wurde diese Konferenz dann aber von einem unvorhergesehenen Ereignis. Eine Gruppe aus SED-Mitgliedern und Parteilosen von der Kraftwerksbaustelle verfasste ein scharfes Protestschreiben. Die A-Schicht der seit Jahren in Bau befindlichen Eingaben 1200 1000 800 600 400 200 0 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

Tab. 10: Eingaben an den Rat der Stadt Greifswald, Sekretariat Oberbürgermeister, 1977–198927

Reaktoren 5 bis 8 wandte sich am 28. Oktober 1988 mit einer Kollektiveingabe an die formal höchste staatliche Institution in der DDR, den Staatsrat in OstBerlin. Mit 13 Ingenieuren, sieben Meistern, 30 Maschinisten und dem übrigen Anlagenpersonal hatte sich das künftige Betriebspersonal für den Reaktor 5 dem mehrseitigen Schreiben vollständig angeschlossen. Eine Minderheit unter den Protestierenden bildeten die 21 SED-Mitglieder, die beim Zustandekommen der Kollektiveingabe jedoch eine entscheidende Rolle spielten. Monate schon hatte die A-Schicht über die schleppende Errichtung des Reaktors 5 und die Versorgungssituation in Greifswald diskutiert. Wochen feilte sie an ihrem Protestschreiben; schließlich war die endgültige Fassung gefunden. Schon die ersten Sätze der Eingabe deuteten an, was hier versucht wurde: der Bevölkerung auf Versorgungsfragen v. 5.11.1987; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. III, Bl. 715–721, hier 717. 27  Vgl. Analyse v. 9.7.1990; Stadtarchiv Greifswald, VA 206, o. Pag.

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Wir, die Kollegen und Genossen der A-Schicht des Kernkraftwerkes ›Bruno Leuschner‹ Block 5–8, wenden uns mit diesem Brief an den Staatsrat der DDR, um einige Gedanken zu den uns bewegenden innenpolitischen Problemen zu äußern. Gleichzeitig bitten wir um Antwort auf die durch uns nicht klärbaren Fragen.28

Hier wurde ein politisch heikles Thema angesprochen, Kritik und Ratlosigkeit gingen dabei Hand in Hand mit Offenheit und dem erklärten Willen, an Veränderungen mitwirken zu wollen. Es folgte eine Beschreibung der miserablen Zustände in Greifswald, auf der Großbaustelle des Kernkraftwerkes aber auch der ostdeutschen Gesellschaft insgesamt. Entgegen anderslautender Erfolgsmeldungen in den DDR-Medien fehle es an Konsumgütern und Lebensmitteln, die Inbetriebnahme des Reaktors 5 verzögere sich fortlaufend wegen technischer und organisatorischer Mängel, die DDR-Wirtschaft sei ineffektiv und ineffizient. Die massive Subventionspolitik für Kinderkleidung, Grundnahrungsmittel oder Mieten als ein Kernstück der von Erich Honecker propagierten »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« wurde ebenso hinterfragt wie das Lohnsystem, das sich mit seinen willkürlichen Prämien oftmals kaum an den tatsächlichen Arbeitsleistungen orientierte. Während man mit westdeutscher Mark im Intershop ähnlich gut wie in der Bundesrepublik einkaufen könne, müsse man mit der erarbeiteten Ost-Mark in der Kaufhalle oftmals vergebens anstehen. Das alles führte, so die A-Schicht im Oktober 1988, zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit in der DDR, die mit dem von Partei und Staat propagierten Sozialismus kaum etwas gemeinsam hatte. Demnach lebe man im ostdeutschen Staat schlechter von seiner eigenen Arbeit, als wenn man über Beziehungen oder besser noch über West-Geld verfüge. Wie sehr die SED-Führung mittlerweile jenseits örtlicher Realitäten schlafwandelte, zeigte der vergebliche Weckruf aus Greifswald ein Jahr vor der Friedlichen Revolution 1989: »Die […] dargelegten Fragen erreichen teilweise eine Brisanz, die zu schneller Lösung drängt.«29 Parteilose und SED-Mitglieder gemeinsam nutzten die Eingabe als Möglichkeit, ihre wachsende Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Das war kein Protest, der auf eine Überwindung der SED-Diktatur und schon gar nicht auf ein Ende der DDR abzielte. Denn die A-Schicht schrieb auch: Wir wissen, dass wir an einem der Brennpunkte unserer Volkswirtschaft arbeiten und sind bereit, mit hohen Leistungen unseren konkreten Beitrag zu leisten. Eine notwendige Voraussetzung dafür ist jedoch völlige ideologische Klarheit. Um unsere Partei- und Staatspolitik auch in ihrer Gesamtheit zu verstehen, benötigen wir Antwort auf die oben genannten Fragen.30

28  Schreiben v. 27.10.1988; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 15904, Bl. 12–15, hier 12. 29  Schreiben v. 27.10.1988, ebenda; Bl. 12–15, hier 15. 30  Ebenda.

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Abb. 48: Das Wohnungsproblem blieb in Greifswald bis 1989 ungelöst. Vor allem das altstädtische Zentrum mit seiner historischen Bausubstanz litt unter einer Städtebau- und Wohnungspolitik, die auf die Massenproduktion von Neubauwohnungen nach industrieller Plattenbauweise setzte. So bildeten Wohnen und Stadtgestaltung in Greifswald wichtige Themenfelder der Friedlichen Revolution.

Das war auch kein Protest, der geradlinig in die Friedliche Revolution 1989 mündete, zumal er in der gewählten Form und von den handelnden Akteuren her anders angelegt war. Aber es war ein Protest, der bereits ein Jahr vorher entscheidende Elemente der finalen Krise des ostdeutschen Staates enthielt. Das galt für seine Ursachen: Unzufriedenheit mit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation. Und das galt für seinen Adressaten: die SED-Führung. Anders jedoch als die öffentliche Protestbewegung im Herbst 1989 wählte die A-Schicht als Protestform eine Eingabe. Offenbar setzten ihre Angehörigen auf Veränderungen in der DDR durch die damals Herrschenden und traute diesen auch den Willen und die Fähigkeiten dafür zu. Für die Greifswalder Ereignisse 1989/90 entwickelte sich die Kollektiveingabe der A-Schicht vom Oktober 1988 in verschiedener Hinsicht zu einer wichtigen Erfahrung. Sie zeigte, dass Reformforderungen an der SED-Diktatur scheiterten. Und sie lebte ein Protestverhalten vor, hinter das es nicht mehr zurückging.31 31  Information über ein Schreiben des Kollektivs der A-Schicht Block 5–8 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald, an den Staatsrat der DDR mit Fragestellungen zu politisch-bedeutsamen Problemen v. 1.11.1989; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 15904, Bl. 16–19; Information über die Bearbeitung des Briefes des Kollektives der Schicht A, Block 5–8 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald, vom 27.10.1988 an den Staatsrat der DDR v. 7.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII,

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Im Kernkraftwerk, auf der Großbaustelle und in der Stadt Greifswald selbst war die Kollektiveingabe, wenn auch nicht immer im konkreten Wortlaut, so doch rasch weitläufig bekannt und Gesprächsthema. Der Leiter der StasiBezirksverwaltung Rostock, Generalmajor Rudolf Mittag, gestand wenige Wochen nach ihrem Entstehen gegenüber der Ost-Berliner Stasi-Zentrale ein, »dass sich eine nicht mehr kontrollierbar hohe Anzahl von Exemplaren dieses Schreibens im Umlauf befand bzw. befindet. […] Ferner sind weitere Kopien auf Wärme­ kopiergeräten, durch Xerografie, mit Schreibmaschinen und auch handschriftlich hergestellt worden.«32 Der Inhalt der Eingabe stieß jenseits von Partei- und Betriebszugehörigkeit vielfach auf Zustimmung und Sympathie. Das erhöhte den Druck auf die SED-Führung und die Stasi und stand im Widerspruch zu deren Anliegen, die Verbreitung der Eingabe zu verhindern und ihre Zurücknahme durch die A-Schicht zu erreichen. Das Gegenteil war der Fall. Wegen einer undurchsichtigen Informationslage machten Gerüchte die Runde. Es hieß, wegen der schlechten Versorgungssituation sei im Kernkraftwerk Streik gewesen, der Vorsitzende des DDR-Ministerrates Willi Stoph sei persönlich auf der Großbaustelle gewesen, um zu schlichten, die Eingabenschreiber säßen in Stasi-Verhören fest oder SED-Funktionäre der A-Schicht und darüber hinaus wären abgesetzt worden. Nicht nur unter einfachen SEDMitgliedern erregte das harte Vorgehen von SED, Staat und Kraftwerksleitung Verunsicherung und bisweilen Unwillen. Anstatt disziplinierender Aussprachen hatte man konstruktive Gespräche mit der A-Schicht zur Lösung ihrer aufgeworfenen Fragen erwartet. Und überhaupt: Wie etwa hätten sich die SED-Mitglieder, wie von ihrer Parteiführung verlangt, mit der erklärten Geheimsache offensiv auseinandersetzen sollen? Von der Parteibasis, die gegen die Kollektiveingabe in Stellung gebracht werden sollte, hieß es: »Wenn wir diskutieren sollen, müssen wir auch die konkreten Argumente kennen!«33 Andererseits klang große Frustration durch, wenn es selbst aus den örtlichen SED-Betriebsparteiorganisationen hieß: »Man kann nicht verstehen, dass es immer erst zu Eingaben kommen muss, bevor etwas verändert wird.«34 Die Erwartungshaltungen der Greifswalder gegenüber der Eingabe waren derweil durchaus unterschiedlich. Während die einen auf eine Verbesserung der örtlichen Versorgung hofften, waren andere angesichts Nr. 227, Bl. 447–452. Volker Höffer: Greifswald als Teil der Bewegung im Herbst 1989 in der DDR. Vortrag auf der Tagung »25 Jahre Friedliche Revolution in Greifswald« v. 4.12.2014 (Manuskript, 12 S.), S. 3. 32  Information über Untersuchungen zur Verbreitung der Staatsratseingabe der Schicht A, Block 5, des VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« v. 27.12.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21139, Bl. 38–40. 33  Bericht über Tendenzen der politisch-ideologischen Situation unter den Beschäftigten im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord (…) v. 18.1.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 482–487, hier 484; ebenso BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 340–345, hier 342. 34  Information v. 13.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 331, Bl. 100.

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ihrer Kenntnis über leere Warenlager und fehlende Arbeitskräfte zurückhaltender. Tatsächlich konnten beispielsweise die Greifswalder Kaufhallen seinerzeit allen Anstrengungen zum Trotz teilweise nur mit einem Drittel der bestellten Fleisch- und Wurstwaren beliefert werden. Zumindest kurzzeitig wurden der Kollektiveingabe von dem ein oder anderen aber eine positive Wirkung sowie spürbare Veränderungen zugeschrieben.35 Die nachhaltige Wirkung der Kollektiveingabe der A-Schicht an den DDR-­ Staatsrat kam zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass sie selbst noch im Revolutions­ herbst 1989 eine Rolle spielte – in den Dialogveranstaltungen vor Ort aber auch in der überregionalen Tageszeitung Neues Deutschland. Im »Zentralorgan der SED« war wenige Tage nach der Öffnung der Berliner Mauer Mitte November 1989 zu lesen, das SED-Zentralkomitee hätte jetzt die Kollektiveingabe vom Oktober des Vorjahres als voll berechtigt anerkannt und die vorausgegangene diskriminierende Einschätzung der subalternen SED-Führung aufgehoben. Wie auch sonst während des Revolutionsherbstes 1989 hinkten die zentralen Beschlüsse damit einmal mehr den örtlichen Realitäten hinterher. In gewisser Weise aber war das die dialektische Umkehr der Ahnungslosigkeit der A-Schicht vom Oktober 1988. Die Kernkraftwerker hatten keinerlei Vorstellung über die tatsächliche katastrophale Situation in der DDR-Wirtschaft. Genau wie ihre Kollektiveingabe damals ging deren Anerkennung durch das SED-Zentralkomitee Mitte November 1989 an der Wirklichkeit vorbei.36 35  Vgl. Information, Stimmungen/Meinungen im VEB GHG WtB Greifswald v. 8.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 331, Bl. 96 f. sowie Information zu Reaktionen der Bevölkerung v. 19.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 52, Bl. 11 f.; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 21.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 467–480, hier 479; Informationen über aktuelle Tendenzen in den Meinungsäußerungen von Teilen der Bevölkerung zu Problemen der gesellschaftlichen Entwicklung im Territorium v. 11.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 281, T. I, Bl. 268–272, hier 269; Information über Reaktionen von Werktätigen des VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« und von Einwohnern Greifswalds v. 11.11.1988; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17256, Bl. 24 f.; CFs 92 v. 17.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 404–410, hier 408; Hinweise über Verlesen bzw. Verbreiten der Eingabe der Schicht A Bl. 5–8, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 101 f.; IM-­ Bericht v. 16.12.1988; ebenda, Bl. 127; IM-Bericht v. 24.11.1988; ebenda, Bl. 145; Bericht zur Stimmung/Reaktion v. 2.12.1988; ebenda, Bl. 315–317. Ifo zur Stimmung/Reaktion aus den Freizeitbereichen/Wohngebieten Greifswald zur Versorgung der Stadt Greifswald v. 10.11.1988; ebenda, Bl. 341 f., hier 341; Information zur Reaktion der Bevölkerung v. 10.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 362, Bl. 394–396; Information über Reaktionen der Bevölkerung v. 11.11.1988; ebenda, Bl. 397–400; Aufstellung über die Informationstätigkeit der OD KKW im Zeitraum 1.1.–18.11.1988 zu Problemen, die im Brief der Schicht A an den Staatsrat der DDR genannt sind v. 18.11.1988; ebenda, Bl. 1–11, hier 11. 36  Bericht Rechtsdiskussion am 26.10.1989 in der Mensa v. 26.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 100, Bl. 2–9, hier 8; VPKA Greifswald (Kriminalpolizei), Protokoll über die in der Mensa durchgeführten Gespräche und Dialoge v. 26.10.1989; ebenda, Bl. 22 f.,

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Einen Tag nach Versand an den DDR-Staatsrat informierte derweil die A-Schicht auch die SED-Betriebsparteileitung und den Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates über ihr Protestschreiben. Hier sollte bewusst mit offenen Karten gespielt und dem Totschlagargument vorgebeugt werden, man betreibe »parteischädigendes Verhalten«. Das galt auch, weil das Ganze eine Vorgeschichte hatte: Die SED-Mitglieder hatten schon seit Monaten in ihrer Abteilungsparteiorganisation (APO) ergebnislos über die schlechte örtliche Versorgungslage diskutiert. Ihre kritischen Fragen konnten Vertreter höherer Parteiebenen und der örtlichen Verwaltung nicht beantworten. Drei junge SED-Mitglieder formulierten schließlich die Eingabe und die parteilosen Kollegen schlossen sich an. Ende Oktober 1988 zeigte sich noch einmal, wie geschickt der Zeitpunkt des Protestschreibens unmittelbar vor der anstehenden SED-Delegiertenkonferenz gewählt war. Über den vom SED-Zentralkomitee im Kombinat Kernkraftwerke eingesetzten Parteiorganisator landete das Protestschreiben damals unmittelbar beim ebenfalls anwesenden 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Greifswald, dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Rostock und weiteren ranghohen Vertretern des SED-Zentralkomitees und der DDR-Regierung. Für die örtliche SEDFührung, die die wirtschaftliche Situation politisch zu verantworten hatte, war das Schreiben ein Schlag ins Gesicht. Im Rahmen der Parteiarbeit folgten unzählige Sitzungen und Gespräche, die darauf abzielten, von jedem einzelnen Schichtangehörigen eine Distanzierung von der Kollektiveingabe einzufordern. Der SED-Parteiorganisator des Zentralkomitees im Kernkraftwerk scheiterte damit zunächst auf ganzer Linie. Stattdessen sah er sich Forderungen nach politischen Reformen ähnlich denen in der Sowjetunion gegenüber. Über eine konzertierte SED-Aktion im Kernkraftwerkskombinat, im Kreis Greifswald und im Bezirk Rostock gelang es der Partei schließlich zumindest oberflächlich betrachtet, in die »politische Offensive« zu kommen. Die A-Schicht nahm Abstand von der Eingabe, um sich weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen. Dazu trug letzten Endes ausgerechnet die Veröffentlichung des Protestschreibens in der westdeutschen Zeitschrift Der Spiegel bei. Die A-Schicht fühlte sich von der nicht abgesprochenen und zugespitzten Berichterstattung dort missverstanden. Die Unzufriedenheit der Arbeiter und Angestellten im Kernkraftwerk jedoch blieb unverändert. Hinzu kamen nun Unsicherheit und Frust gegenüber der Parteiführung, die auf die wohlgemeinte Kritik nicht einging. Wie reformunfähig die SED-Führung tatsächlich reagierte, zeigten Äußerungen des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Greifswald. Während einer außerordentlichen Sitzung der SED-Führung des Kernkraftwerkskombinates Mitte November 1988 verstieg hier 23; Information über den Verlauf der in Greifswald am 9.11.1989 stattgefundenen Dialoggespräche v. 9.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 100, Bl. 66–68, hier 68 sowie Neues Deutschland v. 15.11.1989, S. 2; Lagebewertung auf dem Gebiet der Stimmungen/ Meinungen/Reaktionen v. 9.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 221 f.

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er sich zu der Aussage, »dass eine politische Plattform sichtbar geworden ist, die in konspirativer Arbeit geschaffen wurde. Im Brief ging es um Positionen zur Aufforderung zum Verlassen des bewährten Kurses der Wirtschafts- und Sozialpolitik unserer Partei, um ein Hinwenden zur Linie des Gegners.« Und der Wirtschaftssekretär der SED-Bezirksleitung Rostock sprach bei der gleichen Gelegenheit von der A-Schicht als »Feinde«. Dem Ansehen der SED-Führung im Kernkraftwerk war eine solche Haltung allemal abträglich. Bis in die betrieblichen Leitungsetagen hinein herrschte hier eher Verständnis für das Protestschreiben. Auch die Urheber der Kollektiveingabe selbst zeigten sich missverstanden vom harten Vorgehen des SED-Apparates.37 Dabei nahmen SED, Staat und die Leitung des Kombinates Kernkraftwerke die Kollektiveingabe vom Oktober 1988 durchaus ernst. Hintergrund war einerseits die große politische und wirtschaftliche Bedeutung des Energieproduzenten, andererseits erregte das organisierte Auftreten von SED-Mitgliedern und Parteilosen als gemeinsame Protestgruppe Aufmerksamkeit und Misstrauen. Dass die staatlichen Befürchtungen vor einer Ausweitung der Protestaktion nicht unbegründet waren, zeigte eine weitere Eingabe zur miserablen örtlichen Versorgung, die der Einzelhandel der Ortschaft Riems nur wenige Tage später Anfang November 1988 unter anderem an die SED-Kreisleitung Greifswald richtete und die im Schaukasten der örtlichen Kaufhalle öffentlich aushing. Und innerhalb des Rates des Kreises kursierte damals ein Gedicht unter dem Titel »Der sozialistische Handel«, in dem es unter Anspielung auf die schlechte örtliche Versorgungslage an den SED-Partei- und DDR-Staatschef Erich Honecker hieß: »Ach lieber Erich, sei unser Gast Und gib uns die Hälfte von dem, was du hast. […] Auf der Straße große Löcher, in den Läden leere Fächer, zu Ostern keine Geschenke, zu Pfingsten keine Getränke, keine Schlüpfer, keine Zwiebeln, uns allen wird speiübel, 37  Vgl. 2. Information zum Brief des Kollektivs der A-Schicht Block 5–8 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald, an den Staatsrat der DDR v. 3.11.1988; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 15904, Bl. 7–11, hier 7; CFs 9 v. 2.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 369–372; CFs 151 v. 31.10.1988; ebenda, Bl. 378–380; Zit.: CFs 92 v. 17.11.1988; ebenda, Bl. 404–410, hier 405; CFs 2046 v. 28.12.1988; ebenda, Bl. 437–441; Information zur Arbeit mit der Staatsratseingabe der A-Schicht, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 158–162; CFs 1001 v. 1.11.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21139, Bl. 5–7; CFs 1129, o. D.; ebenda, Bl. 8–11; Information zur Auswertung der Veröffentlichung des Briefes der A-Schicht im »Spiegel« vor der A-Schicht v. 27.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 79 f.; Bericht zur Stimmung/Reaktion v. 18.11.1988; ebenda, Bl. 328–340, hier 333–335.

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zu Weihnachten keinen Bom, zu Sylvester keinen Strom, in der BRD keine Bekannten, im Ausland keine Verwandten, aus dem Westen kein Paket, und da fragst du, wie es uns geht?«38

Politische Brisanz erhielt die Kollektiveingabe von der Großbaustelle zudem, weil die westdeutsche Zeitschrift Der Spiegel sie Mitte Dezember 1988 leicht gekürzt abdruckte. Die Zeitschrift versah das Beschwerdeschreiben mit dem Kommentar, die SED-Führung gerate nun nicht mehr nur seitens der unabhängigen Oppositionsgruppen und der evangelischen Kirche, sondern zunehmend auch – ähnlich wie zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 – seitens der ostdeutschen Arbeiterschaft unter Druck. Für SED und Staatssicherheit war das durchaus schmerzhaft und ein besonderer politischer Tabubruch, erreichte das Protestschreiben nun doch einen ungleich größeren Adressatenkreis in Ost und West, wurde in einen besonderen politischen Zusammenhang gestellt und entzog sich der Kontrolle der SED-Diktatur.39 Partei und Staat reagierten auf die Kollektiveingabe letztlich mit einer doppelten Strategie. Einerseits bemühten sie sich, dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es folgte die Bildung von Arbeitsgruppen des SED-Zentralkomitees, der SED-Bezirksleitung Rostock, der SED-Betriebsparteileitung und der staatlichen Kraftwerksleitung. Typisch innerhalb der SED war dabei der Vorwurf gegenüber der nächst unteren Parteiebene, in der »politisch-ideologischen Arbeit« versagt zu haben. In Einzelgesprächen wurden die Eingabenschreiber zur Rede gestellt. Durch den Leiter der Inspektion des Kernkraftwerkes alias OibE »Rainer« saß die Stasi bei diesen Gesprächen mit am Tisch. Mithilfe der staatlichen Verwaltung und der Kombinatsleitung sollten zugleich die Ursachen des Protestes nach den vorhandenen Möglichkeiten behoben werden. Aus der SED-Bezirksleitung Rostock verlautete dazu, der SED-Parteichef Erich Honecker persönlich habe angewiesen, über Nacht die Verkaufsregale in der Stadt Greifswald aufzufüllen. Nur waren entgegen der zentralen Vorgaben die örtlichen Möglichkeiten dazu stark begrenzt. Die SED-Bezirksleitung Rostock jedenfalls kam bald darauf zu der Einschätzung, dass die Engpässe bei Fleisch- und Wurstwaren, Backwaren 38  Information über Reaktionen der Bevölkerung v. 11.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 362, Bl. 397–400, hier 399. 39  Der Spiegel, Nr. 51 v. 19.12.1988, S. 26 f., hier 26; Information über erste Ergebnisse der Untersuchung zur Veröffentlichung der Staatsratseingabe der Schicht A, Block 5 des VEK KKW »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald in der BRD-Zeitschrift »Der Spiegel«, Nr. 51 v. 23.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 422–430; Information über die von der BL der Partei eingeleiteten Maßnahmen und ihre Wirksamkeit zur Verbesserung der Versorgung im Territorium v. 4.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 362, Bl. 364–368.

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oder Kosmetikartikeln in Greifswald nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit zentraler Unterstützung gelöst werden könnten. Tatsächlich landeten in den Greifswalder Verkaufseinrichtungen seinerzeit ungeachtet von Sonderschichten des örtlichen Schlachthofes nur die Hälfte und teilweise sogar nur ein Drittel der benötigten Fleisch- und Wurstwaren. Die Einwohner erzählten sich hinter vorgehaltener Hand derweil, für kurzzeitige Verbesserungen seien bereits die Lagerreserven der Weihnachtsversorgung aufgezehrt worden. Das kurze Strohfeuer einer besseren Warenbelieferung nannten sie nicht unpassend »Woche der Versorgung«.40 Und die Stasi berichtete aus Greifswald: Durch einen IM in Schlüsselposition wird eingeschätzt, dass die aufgeworfenen Versorgungsprobleme nicht in vollem Umfang und vor allen Dingen nicht nachhaltig gelöst werden können, weil der dazu erforderliche Warenfond nicht zur Verfügung steht. Die Lager im VEB Fleischwirtschaft sowie der GHG WtB [Großhandelsgesellschaft Waren des täglichen Bedarfs] (ausgenommen eine Reserve für KKW) sind leer. Wenn keine weiteren Warenzuführungen nach Greifswald erfolgen, kann nach Meinung des IM die bisherige Besserung in der Versorgung nicht aufrechterhalten werden.41

Nachdem sich das Sekretariat des SED-Zentralkomitees, das SED-Politbüro, der DDR-Ministerrat und eine SED-Parteiaktivtagung im Kernkraftwerk mit der Kollektiveingabe befasst hatten, legte auch der Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates Maßnahmen zur Verbesserung der Situation vor. Das Papier war oberflächlich betrachtet durchaus ambitioniert, es las sich letztlich aber wie ein wirklichkeitsfremder Wunschzettel. Es drang auf eine bessere Kommunikation und Organisation im Kernkraftwerk, machte aber zugleich auch schärfere politische Vorgaben für das mittlere und höhere Betriebspersonal. Frei nach der Devise »Zuckerbrot und Peitsche« sollten die Fertigstellung der Betriebspoliklinik und die Renovierung der Betriebsküche »Struck« vorangetrieben, die Einrichtung eines Dienstleistungsgeschäftes sowie eines Friseursalons auf dem Kraftwerks­ gelände geprüft, das Greifswalder Kreiskulturhaus bis Ende 1988 als Klubhaus der Energiearbeiter übernommen, in Greifswald-Schönwalde eine Industriewaren­ verkaufsstelle und in Greifswald-Eldena 50 zusätzliche Wohnhäuser errichtet werden. Wie die anspruchsvollen Wünsche erfüllt werden sollten, erläuterte der Generaldirektor des Kombinates freilich nicht.42 40  Information über Reaktionen der Bevölkerung v. 11.11.1988; BStU, MfS, KD Greifswald, Nr. 362, Bl. 397–400, hier 397. 41  Information zur Reaktion der Bevölkerung zur Versorgungssituation in der Stadt Greifswald und auf der Insel Riems nach den eingeleiteten Maßnahmen im Zusammenhang mit der Eingabe der A-Schicht des KKW v. 9.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 362, Bl. 387–393, hier 389. 42  Vgl. Information über die Bearbeitung des Briefes des Kollektives der Schicht A, Block 5–8 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald, vom

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Die bloßgestellte Stasi Gemessen an ihrem eigenen Anspruch waren die Ereignisse rund um die Kollektiv­ eingabe der A-Schicht eine Blamage für die Stasi. Und das auch, weil sie die inszenierte Partnerschaft der Geheimpolizei mit der B-Schicht der Reaktoren 5 bis 8 als bedeutungslos bloßstellte. Das galt insbesondere deshalb, weil sich die Geheimpolizei einer vorbeugenden Arbeit verschrieben hatte. Die vorgeblich Allmächtige und Allwissende hatte jedoch im Vorfeld weder vom Zustandekommen des Protestschreibens gewusst, geschweige denn dieses verhindern können. Erst durch ihren IM »Klaus Meier« erfuhr sie von dessen Existenz. Der langjährige Informant leitete seinerzeit das Büro des Generaldirektors des Kernkraftwerkskombinates und gab der Staatssicherheit eine Kopie der Kollektiveingabe weiter, die dort am 28. Oktober 1988 einging. Einen Tag nachdem das Protestschreiben auch bei der Zentralen Parteileitung der SED im Kombinat Eingang fand, setzte die Stasi ihr Informations- und Berichtswesen in Gang. Erst vier Tage später informierte die Stasi-Bezirksverwaltung Rostock den bis dahin ahnungslosen 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock und tags darauf den stellvertretenden Stasi-Minister Generalleutnant Wolfgang Schwanitz in Ost-Berlin. Als das Schreiben bereits in Umlauf war, musste die Staatssicherheit hinnehmen, über die Angehörigen der A-Schicht kaum etwas zu wissen und unter ihnen über keinen einzigen Informanten zu verfügen. Das erklärte im Nachhinein den »weißen Fleck« in dieser Sache. Dennoch wies die Geheimpolizei bis hinauf zum SED-Politbüro sämtliche Verantwortung für den Coup von sich und verwies dafür auf ihre zurückliegenden Informationen. Beispielsweise hatte die Objektdienststelle im Kernkraftwerk im zurückliegenden Jahr 1988 dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Greifswald und der SED-Führung im Kernkraftwerk fortlaufend mündlich oder schriftlich zur schwierigen wirtschaftlichen Situation 27.10.1988 an den Staatsrat der DDR v. 7.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 447–452, hier 450; Bericht, Brief der Schicht A Block 5–8 des KKW »Bruno Leuschner« v. 3.11.1988, 19 Uhr; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 166–168; Schlussfolgerungen und Maßnahmen des Generaldirektors des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« zur Gewährleistung der Einheit von politischer und ökonomischer Leitung sowie zur weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen des KKW Greifswald v. 22.12.1988; ebenda, Bl. 29–36; Ifo zur Stimmung/Reaktion aus den Freizeit­ bereichen/Wohngebieten Greifswald zur Versorgung der Stadt Greifswald v. 10.11.1988; ebenda, Bl. 341 f., hier 341; Information über die von der BL der Partei eingeleiteten Maßnahmen und ihre Wirksamkeit zur Verbesserung der Versorgung im Territorium v. 4.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 362, Bl. 364–368; Zit.: Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED v. 15.11.1988; ebenda, Bl. 346–360; Vorlage für das Politbüro des ZK der SED v. 15.11.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21310, Bl. 112–126. Zur Reaktion der SED auf die Kollektiveingabe vgl. Bericht über die Sichtung der Unterlagen der Grundorganisationsleitung der SED auf der Großbaustelle des KKW Nord und der Leitung der Betriebsparteiorganisation im Stammbetrieb des VE Kombinates KKW »Bruno Leuschner« Greifswald. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 154–163, hier 160–163.

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berichtet. Diese Berichte waren jedoch nur routinemäßige Rituale, spürbare Konsequenzen ließen sich im Rückblick aus ihnen nicht erkennen. Ihr Ignorieren machte die Stasi-Berichte im Grunde wertlos. Im Nachhinein bemühte sich das MfS, wenigstens das Zustandekommen der Kollektiveingabe, die vermeintlichen Rädelsführer und deren Motive zu rekonstruieren. Es überprüfte jeden einzelnen Angehörigen der A-Schicht in seinen Informationsspeichern und denen der Volkspolizei, leitete Sicherheitsüberprüfungen zu den Schichtangehörigen ein, setzte wenigstens sechs inoffizielle Mitarbeiter sowie den Leiter der Inspektion im Kernkraftwerk alias OibE »Rainer« auf den Sachverhalt an. Zuletzt meinte die Geheimpolizei zu wissen, dass vor Ort tatsächlich massive Mängel existierten und dass der Kollektiveingabe »keine feindlich-negative Motivation« zugrunde lag. Damit enthoben sich die StasiOffiziere zugleich ihrer politischen Verantwortung, einen vermeintlichen Feind nicht erkannt zu haben. Der »Schwarze Peter« war damit endgültig der SED im Bezirk Rostock, dem Kreis Greifswald und dem Kernkraftwerkskombinat zugeschoben.43 Protest unter Zuhilfenahme einer Kollektiveingabe war im Oktober 1988 keinesfalls neu im Kernkraftwerk. Bereits im Sommer 1978 verfassten Arbeiter der Großbaustelle zu den Reaktoren 5 bis 8 zwei Kollektiveingaben als Reaktion 43  Vgl. Information zum Artikel in der OZ vom 28.11.1989 über die A-Schicht der Blöcke 5–8 des KKW »B. Leuschner« v. 28.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 91, Bl. 1–4; Polit.-op. Erkenntnisse im Zusammenhang mit dem Brief v. 21.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 84 f.; Reservisteneinschätzung Überhorst, Jürgen v. 27.10.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4551/91, T. I, Bd. 1, Bl. 248; Information über ein Schreiben des Kollektivs der A-Schicht Block 5–8 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald, an den Staatsrat der DDR mit Fragestellungen zu politisch bedeutsamen Problemen v. 1.11.1989; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 15904, Bl. 16–19; Information zum Brief des Kollektivs der A-Schicht Block 5–8 des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald, an den Staatsrat der DDR v. 3.11.1988; ebenda, Bl. 7–11, hier 9; Information über einen von Beschäftigten des Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« an den Staatsrat der DDR gerichteten Brief mit politisch bedeutsamem Inhalt v. 1.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 282, Bl. 1–6; Cfs 9 v. 2.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 227, Bl. 369–372; Maßnahmeplan zur Aufklärung der politisch-ideologischen Gesamtsituation in der Schicht A/Bl. 5–8 sowie zur Herausarbeitung der Initiatoren des Briefes an den Staatsrat der DDR v. 2.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 74, Bl. 11–13; Ergänzung zum Cfs 144 vom 28.10.1988 v. 1.11.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21139, Bl. 5–7; Stellungnahme zur Vorlage für das Politbüro des ZK der SED »Information über die Bearbeitung der Eingabe des Kollektivs der Schicht A, Block 5 bis 8, des VE Kombinates Kernkraftwerke ›Bruno Leuschner‹, Stammbetrieb Greifswald, vom 27. Oktober 1988 an den Staatsrat der DDR« v. 21.11.1988; ebenda, Bl. 32 f.; Information zur Stellungnahme zur Vorlage für das Politbüro des ZK der SED v. 21.11.1988; ebenda, Bl. 36 f.; Stellungnahme zur Vorlage für das Politbüro des ZK der SED v. 21.11.1988; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21310, Bl. 127 f.; Aufstellung über die Informationstätigkeit der OD KKW im Zeitraum 1.1.–18.11.1988 zu Problemen, die im Brief der Schicht A an den Staatsrat der DDR genannt sind v. 18.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 1–11.

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auf die Einführung neuer Arbeitszeiten durch den DDR-Ministerrat. Dieser Protest passte sich ein in die seit Frühjahr 1978 herrschende Unzufriedenheit der Arbeiter auf der Großbaustelle zu den neuen Schichtregelungen, gleich ob sie SED-Mitglieder waren oder nicht. Unwillen erregten die neuen Arbeitszeiten, weil sie während der Woche verkürzte Arbeitszeiten, dafür aber weniger lange Wochenenden vorsahen. Für die Mehrzahl der Arbeiter war das wegen langer Anfahrtswege quer durch die DDR bis an den Greifswalder Bodden eine spürbare Verschlechterung. Ein später Arbeitsbeginn ab 9.00 Uhr und der damit verbundene Verzicht auf einen freien Tag war ihnen nicht vermittelbar. Als typisches Ergebnis eines bürokratisch entworfenen Plans war zudem versäumt worden, den Verkehrstakt des örtlichen Betriebsverkehrs aus Bahn und Bus an die neuen Arbeitszeiten anzupassen. Die Schmähkritik eines Elektromonteurs, die auf der Baustelle im Sommer 1978 die Runde machte, brachte die Meinung vieler auf den Punkt: »Zum Schluss kann ich dazu nur sagen: ›Nach bestem Wissen und Gewissen hat man ohne uns zu fragen, uns gewaltig angesch…‹.«44 Auch vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 beobachtete die Stasi solches Protestverhalten der Arbeiter beunruhigt und berichtete darüber dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock, Ernst Timm. Auf der Großbaustelle selbst störten die neuen Arbeitszeiten das Herausbilden fester Betriebsmannschaften, weil Arbeiter nun die Schichtarbeit verließen oder dem heimatfernen Arbeitsplatz ganz den Rücken kehrten. Ende der 1970er-Jahre meinte die Geheimpolizei zunächst, der Situation Herr werden zu können und berichtete an die SED: »Diese Eingaben wurden durch ideologische Auseinandersetzungen und durch Baustellenverbot für einige Kollegen […] zurückgedrängt.«45 Wegen anhaltender Unzufriedenheit unter den Arbeitern und der Drohung ganzer Brigaden mit einer Kündigung, erfolgte im Frühjahr 1979 staatlicherseits dann jedoch das Einlenken. Zumindest einzelne Baustellenbereiche kehrten wieder zum ursprünglichen Arbeitsrhythmus mit neun Arbeitstagen á zwölf Stunden und fünf freien Tagen zurück.46 44  Information über Probleme und Diskussionen auf der Großbaustelle KKW Nord im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Maßnahmen zum Beschluss des Präsidiums des Ministerrates vom 9.2.1978 v. 18.4.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. 1, T. II, Bl. 238–246, hier 246; Bericht über Probleme und Diskussionen auf der Großbaustelle KKW Nord im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Maßnahmen zum Beschluss des Präsidiums des Ministerrates vom 9.2.1978 v. 14.4.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 587, Bl. 32–38, hier 38. 45  Information über den Stand der Einführung und Durchsetzung des PMR-Beschlusses in einigen Betrieben auf der Großbaustelle der DSF des KKW Nord v. 26.7.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 145–148, hier 146. 46  Vgl. Information über Diskussionen und Meinungen zur Arbeitszeitregelung auf der Baustelle KKW Nord v. 6.4.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 159–162; Information über Probleme im KKW »Bruno Leuschner« und auf der Großbaustelle des KKW Nord v. 1.6.1978; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. 1, T. I, Bl. 165–169, hier 167 f.;

Unzufriedenheit: Die Kollektiveingabe der A-Schicht

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Unsicherheit und Misstrauen der SED und der Stasi gegenüber den Arbeitern und Angestellten blieben jedoch bestehen. Als Anfang der 1980er-Jahre im nahegelegenen Polen eine politische Krise ausbrach, ließ sich die örtliche SED-Führung von der Geheimpolizei über die Reaktionen darauf im Kernkraftwerk berichten. Sie musste damals zur Kenntnis nehmen, dass hier insbesondere Jugendliche eine Einmischung der Sowjetunion und des östlichen Militärbündnisses in Polen ablehnten. Größere Selbstbestimmung der Arbeiter sowie eine Verbesserung der Lebensbedingungen galten ihnen als rechtmäßige Anliegen. Das konnte bis hin zu kritischen Vergleichen mit der eingeschränkten eigenen Reisefreiheit und Privilegien führender DDR-Politiker oder gar offener Sympathie für die Streikenden in Polen führen. Bei den fast 3 000 polnischen Arbeitern auf der Großbaustelle Ende der 1980er-Jahre beobachtete die Stasi dann misstrauisch deren Zustimmung zur Oppositionsbewegung Solidarność. Als im Frühjahr 1989 anlässlich der Wahlen im nahegelegenen Nachbarland mehrere SolidarnośćPlakate auf der Großbaustelle auftauchten, fürchtete die Geheimpolizei Unruhen unter den Arbeitern und ein Übergreifen der polnischen Reformbewegung auf den ostdeutschen Staat. Die SED-Kreisleitung Greifswald ordnete darum ein Entfernen solcher Plakate an. Entgegen der Befürchtungen, dass die polnischen Arbeiter auf der Großbaustelle politische Unruhen auslösen könnten, berichtete die Stasi auch noch im Revolutionsherbst 1989 über ein eher unpolitisches Verhalten der Gastarbeiter: »Die polnischen Werktätigen insgesamt wollen nicht an Demonstrationen teilnehmen, da sie befürchten, ins Heimatland zurückgeschickt zu werden. Sie verfolgen persönliche Interessen und wollen in der DDR viel Geld verdienen […].«47 Auch als die sowjetische Zeitschrift Sputnik aus dem DDR-Presseversand genommen wurde, beobachtete die Stasi daraufhin misstrauisch die Reaktion der Arbeiter und Angestellten im Kernkraftwerk. Das Verbot der sowjetischen Zeitschrift wurde vielerorts kritisch gesehen und als Absage der SED-Führung an die Reformbemühungen in der Sowjetunion verstanden. Im Kernkraftwerk am Greifswalder Bodden kamen zwei Besonderheiten hinzu. Angesichts der importierten Technologie wurde die ostdeutsch-sowjetische Freundschaft hier noch demonstrativ inszeniert. Dem widersprach das Sputnik-Verbot deutlich. Und zugleich standen Kernkraftwerk und Großbaustelle Ende 1988 unter dem Eindruck der Information über festgestellte Schmierereien auf der Großbaustelle KKW Nord Lubmin, die sich gegen den Schichtzyklus beim Metallleichtbaukombinat, VEB Industriemontagen Leipzig, richteten v. 18.5.1979; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21464, Bl. 24–27. 47  Information über einige politische Diskussionen im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 11.2.1981; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 178, T. I, Bl. 15–17, hier 16; Cfs Nr. 138 v. 30.5.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 108, Bl. 42 f.; Zit.: Berichterstattung zur Entwicklung der Lage auf dem Gebiet der Stimmung/Meinungen/ Reaktionen der Bevölkerung, o. D. (Oktober 1989); BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 39, Bl. 52–54, hier 54.

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damaligen Kollektiveingabe der A-Schicht. Entsprechend beobachtete die Stasi ratlose und auch aufgebrachte Reaktionen wie »Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr, sind wir denn völlig unmündig?« oder »Das Verbot sozialistischer Literatur durch die DDR gibt dem Gegner im Westen und den bereits unzufriedenen Kollegen eine gute Diskussionsgrundlage.«48 An einem Zeitungskiosk auf dem Kraftwerksgelände war der Schriftzug zu lesen: »Pressefreiheit für Sputnik«.49 Und auch aus SED-Grundorganisationen erfolgte der ungläubige Ruf nach einer Erklärung des Ganzen durch die Parteizentrale. Das Verhalten der Arbeiter und Angestellten des Kernkraftwerkes gegenüber diesem neuerlichen Fehlgriff der SED-Führung ähnelte damit den DDR-weiten Reaktionen.50

5.3 Polemik an der Berufsschule: »Der Sozialismus siegt« Über die Unzufriedenheit unter den Angehörigen des Kombinates Kernkraftwerke und die bröckelnde Fassade des realen Sozialismus in der späten DDR gibt auch das Verhalten eines Teils der Lehrlinge an der betrieblichen Berufsschule Auskunft. Dort erhielten seinerzeit knapp 850 Jugendliche eine Ausbildung. Auch hier spielten die sowjetische Reformpolitik, Eingaben und anderes Protestverhalten Ende der 1980er-Jahre eine zunehmende Rolle. Verschiedene Ereignisse ragten dabei heraus, die die SED-Führung und die Staatssicherheit in Atem hielten. In den Morgenstunden des 2. Februars 1988, einem Dienstag, herrschte frisches, nasskaltes Ostsee-Wetter in Greifswald. Der Wind wehte heftig und es nieselte leicht. Die Einwohner der Universitäts- und Hansestadt konnten an diesem ungemütlichen Morgen an der Hauswand einer zentralgelegenen Buchhandlung auf dem ockerfarbenen Wandputz in großen Buchstaben lesen »Der Sozialismus siegt!«. Aus dem DDR-Alltag war der Satz als leere Phrase bekannt. Aber damals, im Morgengrauen des Februars 1988 war etwas anders. In der Form eines Graffito bestand der 3 mal 5 Meter große handgemalte Schriftzug aus schwarzen, teils weiß ausgemalten Buchstaben. Blumen und Herzen ersetzten die i-Punkte. Schnell musste dem Betrachter klar werden: Auf Kosten der bemalten Hauswand nahm hier jemand die SED und den ostdeutschen Staat auf den Arm. Die staatlichen Sicherheitskräfte wussten auch schon, wer sich hinter der Satire verbarg. Sie hatten in der Nacht zwei Lehrlinge und einen jungen Arbeiter des Kernkraftwerkes auf frischer Tat ertappt. 48  Bericht zur Stimmung/Reaktion v. 2.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 315–317, hier 317. 49  Vgl. Problem- und Arbeitskartei, 1988/89; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 24, Bl. 98. 50  Information Nr. 81/88 über Stimmungen und Meinungen von Werktätigen und Angehörigen der Technischen Intelligenz der Zentralen Baustelleneinrichtung des KKW Nord (…) v. 30.11.1988; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 41, Bl. 318–320, hier 319.

Polemik an der Berufsschule: »Der Sozialismus siegt«

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Abb. 49: Schriftzug vom Februar 1988 im Greifswalder Stadtzentrum, Straße der Freundschaft/Ecke Knopfstraße

Im Sommer des gleichen Jahres entwickelte eine Gruppe von Lehrlingen das Vorhaben, an der Berufsschule des Kernkraftwerkes eine Arbeitsgruppe »Neues Denken« innerhalb der staatlichen Jugendorganisation FDJ ins Leben zu rufen. Der Name spielte auf die Reformbemühungen des sowjetischen KPdSUPartei- und Staatschefs Michail Gorbatschow an. Und die Arbeitsgruppe sollte den Kraftwerks-Lehrlingen ein Gesprächsforum zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen bieten. Dafür sollte sie in Eigenregie und basis­ demokratisch, unabhängig von der FDJ-Leitung organisiert sein. Staatlicherseits stand man dem Vorhaben darum und wegen des vorläufigen Arbeitsprogramms kritisch gegenüber. Denn darin hieß es: »Die AG-Mitglieder beschränken ihr Wirken nicht nur auf den Bereich der AG, sondern versuchen auch Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld zu erreichen oder in Gang zu setzen.«51 Entgegen der erstarrten politischen und gesellschaftlichen Situation in der späten DDR erweckte das den aufrührerischen Anschein von Engagement und Veränderung. Die SED und die staatliche Schulleitung konnten die Bildung der Arbeitsgruppe nicht verhindern, machten jedoch ihre als eher nüchtern befundene Bezeichnung »Meinungsstreit« zur Vorgabe. Im Interesse der staatlichen Kontrolle wurde als Betreuer zudem ein FDJ-Funktionär abgestellt, der bezeichnenderweise jedoch kurz darauf ausfiel. 51  Abschrift, Arbeitsprogramm für die AG »Neues Denken?« v. 9.9.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/1463/89, Bd. 1, Bl. 62 f., hier 63.

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Über einen inneren Kreis von Engagierten hinaus konnte die Arbeitsgruppe »Meinungsstreit« nach kurzer Zeit immerhin mehr als 30 Mitglieder vorweisen. Endgültig zum Politikum wurde die Gesprächsrunde der Jugendlichen, als aus ihr heraus Ende 1988 eine Eingabe gegen das Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik geplant war. Die Jugendlichen hatten das staatliche Vorgehen treffend als Misstrauensbeweis von Partei und Staat gegenüber den eigenen Bürgern erkannt. Darum wollten sie sich in ihrer Eingabe für politische Reformen in der DDR analog zu denen in der Sowjetunion aussprechen. Weil die Stasi sowie die Leitungen von Berufsschule, SED und FDJ darin den öffentlichen Protest einer großen Gruppe befürchteten, hintertrieben sie die Sputnik-Eingabe noch vor ihrem Entstehen. Als Ausgangspunkt für das sanfte Aufbegehren an der Berufsschule des Kernkraftwerkes gegen Partei und Staat glaubte die Staatssicherheit eine kleine Gruppe von Lehrlingen ausgemacht zu haben. Dass sich einige von ihnen im Umfeld der evangelischen Jugendarbeit der Stadt Greifswald bewegten, passte in das von Feindbildern geprägte Weltbild der Stasi-Offiziere. Tatsächlich bot die evangelische Jugendarbeit unter dem Stadtjugendpfarrer Bernd Schröder seinerzeit verschiedene Arbeitskreise zu »Frieden und Gerechtigkeit« sowie einen Ökologie-­K reis an. Und dass einige Jugendliche die basisdemokratischen Strukturen von dort auf die Arbeitsgruppe »Neues Denken« bzw. »Meinungsstreit« in der Berufsschule des Kernkraftwerkes übertragen wollten, war kein Zufall. Bis zu dem Vorwurf der Geheimpolizei, die betroffenen Lehrlinge würden »politische Untergrundtätigkeit« betreiben, war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Aus dieser Logik heraus unterstellte die Stasi im Kernkraftwerk Ende 1988 einigen Berufsschülern, »Polemik« gegen die Politik von Partei und Staat zu betreiben. Fünf von ihnen stellte sie bis zu deren Berufsschulabschluss im Sommer 1989 unter geheimpolizeiliche Verfolgung, um eine befürchtete »öffentliche Herabwürdigung« – so der Straftatbestand in der DDR, auf den bis zu drei Jahre Haft drohten – zu verhindern. Später hielten sich die Stasi-Offiziere selbst zugute: »Durch das rechtzeitige Erkennen und Reagieren im Zusammenwirken mit den Partei-, staatlichen und gesellschaftlichen Kräften konnten ideologische Auswirkungen verhindert und letztendlich die Gruppe in ihrer Wirkung zersetzt werden.«52 Bis in die OstBerliner Stasi-Zentrale gingen die Berichte dazu. Ein Verständnis für den Drang der jungen Menschen nach politischen Reformen im ostdeutschen Staat konnten die Stasi-Offiziere nicht ansatzweise entwickeln.53 52  Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 30, Bl. 80–87, hier 82. 53  Vgl. Einleitungsbericht zur OPK »Polemik« v. 26.12.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/1463/89, Bd. 1, Bl. 4–11; Eröffnungsbericht zum operativen Ausgangsmaterial »Polemik« v. 10.10.1988; ebenda, Bl. 26–30; Ereignisortuntersuchungsprotokoll v. 2.2.1988; ebenda, Bl. 51–62; Information Stand Aktivitäten Arbeitsgruppe »Meinungsstreit« v. 20.9.1988; ebenda,

Polemik an der Berufsschule: »Der Sozialismus siegt«

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Die Geschehnisse an der Berufsschule passten sich ein in eine Atmosphäre unter den Jugendlichen im Kombinat Kernkraftwerke, die zunehmend von Unzufriedenheit und Desinteresse geprägt war. Während die Staatssicherheit eine Abwendung einzelner Jugendlicher von SED und FDJ beobachtete, verzeichnete sie zugleich deren zunehmendes Interesse an Veranstaltungen der evangelischen Kirche. Unzufriedenheit erzeugten unter den Greifswalder Jugendlichen das schlechte Angebot moderner Unterhaltungselektronik oder Kleidung, ein un­ attraktives örtliches Kulturangebot sowie eine schlechte Jugendarbeit der FDJ und ein verstaubtes DDR-Medienprogramm.54 Die Ereignisse rund um die Kollektiveingabe der A-Schicht oder auch an der Berufsschule des Kernkraftwerkes belegen die Ungenauigkeit solcher Annahmen, »der Norden« der DDR habe die Friedliche Revolution zunächst verschlafen.55 Das ist auch angesichts anderer Fakten eine zumindest ungenaue Einschätzung. Bl. 66; Information über die Bildung der Arbeitsgruppe »Meinungsstreit« an der BBS des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 29.11.1988; ebenda, Bl. 80–84; Operativinformation zur beabsichtigten Eingabe einiger Mitglieder der Arbeitsgruppe »Meinungsstreit« der Betriebsberufsschule KKW »B.L.« Greifswald v. 23.12.1988; ebenda, Bl. 90–91a; Absprache mit dem BBS-Direktor Gen. Paul v. 5.1.1989; ebenda, Bl. 96–98; Ergänzungsbericht zur OPK »Polemik« v. 8.1.1989; ebenda, Bl. 122 f. 54  Vgl. Information zur Stimmung/Reaktionen und daraus resultierenden Haltungen unter den Jugendlichen des VE K KKW »B. Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.6.1988; BStU, MfS, BV Rostock, AOPK I/1463/89, Bd. 1, Bl. 32–35; Zu Stimmung/Reaktion unter Jugendlichen an der BBS KKW v. 9.7.1988; ebenda, Bl. 36; Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle »Polemik« v. 27.12.1988; ebenda, Bl. 231 f.; Abschlussbericht OPK »Polemik« v. 25.7.1989; ebenda, Bl. 234–239; Information über die gegenwärtige Lage in der Arbeitsgruppe »Meinungsstreit« an der BBS des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 20.4.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 465 f.; Information über einige politisch negative Erscheinungen an der Betriebsberufsschule des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 9.2.1989; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17256, Bl. 14–16 sowie Information über einige politisch negative Entwicklungstendenzen an der Betriebsberufsschule des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald v. 2.2.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 108, Bl. 116–121; Operativinformation zur Verhinderung des Wirksamwerdens einer Eingabe von einigen Mitgliedern der Arbeitsgruppe »Meinungsstreit« der BBS des VE K KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 11.1.1989; ebenda, Bl. 124; Abschrift, Eingabe v. 5.1.1989; ebenda, Bl. 127 f. 55  Matthiesen: Greifswald, S. 677. Ähnlich ungenau zu den Ereignissen 1989/90 der vormalige Greifswalder Superintendent Heinrich Wackwitz: »Im Norden der DDR kam alles etwas später.« Vgl. Wie hat es angefangen mit den Friedensgebeten 1989 in Greifswald? Aufgezeichnet nach seiner Erinnerung 10 Jahre danach von Superintendent i. R. Heinrich Wackwitz, http:// greifswald-1989-90.de/?page_id=86, abgerufen am 23.2.2018. Dazu vgl. auch Hinweis von Walter Süß, der Bismarck’sche Aphorismus, in Mecklenburg passiere alles – eingeschlossen den Weltuntergang – hundert Jahre später, träfe hier nicht zu. Ders.: Vorbemerkung. In: Volker Höffer: »Der Gegner hat Kraft«. MfS und SED im Bezirk Rostock (BStU, BF informiert; 20). Berlin 1997, S. 3 f., hier 3. Zur Friedlichen Revolution in den drei Nordbezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg vgl. Kai Langer: »Ihr sollt wissen, dass der Norden nicht schläft (…)«. Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR. Bremen 1999.

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Mit dem Studentenpfarrer Arndt Noack gehörte im Juli 1989 ein Greifswalder zu den drei Unterzeichnern der Gründungsinitiative für eine Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP). Und am 16. Oktober 1989 wurde mit der Greifswalder SDP der erste SDP-Ortsverein in den Nord-Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg (heute Mecklenburg-Vorpommern) gegründet. Greifswald war im Revolutionsherbst 1989 noch vor der Bezirksstadt Rostock die Stadt des ersten öffentlichen Protestes und der ersten Dialog-Veranstaltung im Ostseebezirk Rostock. Schon am Abend des 23. Novembers fand hier aus einer Dialog-Veranstaltung heraus eine erste spontane Begehung der Diensträume der Geheimpolizei zum Stopp der Aktenvernichtung statt. Eine DDR-weite Lichterkette am 3. Dezember 1989 ging auf eine Greifswalder Initiative zurück. Und mit der endgültigen Besetzung der Geheimpolizei am 4. Dezember 1989 verschlief die Universitäts- und Hansestadt diesen DDR-weiten Fixpunkt der Friedlichen Revolution keinesfalls. Die friedlichen Revolutionäre handelten hier koordiniert und zeitgleich mit den vorausgegangenen ersten Besetzungen in der Kreisstadt Rathenow, in den Bezirksstädten Erfurt, Rostock sowie andernorts in der DDR, wo es an diesem Tag zu den ersten Besetzungen kam. Und die friedlichen Revolutionäre in Greifswald gingen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie auch die Aktensicherung bei der SED-Kreisleitung und beim Rat der Stadt anstrengten. Auch mit der Gründung eines Untersuchungsausschusses am 5./6. Dezember – dessen Einsetzung Hinrich Kuessner als Mitglied des Neuen Forums bereits am 22. November öffentlich gefordert hatte – beschritt die Stadt Greifswald den Weg von der Überwindung hin zur Aufarbeitung der SED-Diktatur frühzeitig. Das alles macht Greifswald keinesfalls zu einem Vorreiter oder zu einem Sonderfall der Ereignisse 1989/90. Die Greifswalder Ereignisse belegen schlicht und ergreifend, dass sich die vielschichtige historische Wirklichkeit der simplifizierenden Deutung, »der Norden« habe geschlafen, entzieht.56 Ähnlich wie in der DDR insgesamt mündete die aufgestaute gesellschaftliche Unzufriedenheit im Herbst 1989 in der Hanse- und Universitätsstadt Greifswald in eine öffentlichen Protestbewegung, die Friedliche Revolution. Die verlief in Greifswald wenige Tage zeitversetzt ähnlich den DDR-weiten Ereignissen 1989/90. Als politische Opposition zu den Parteien des sogenannten Demokratischen Blocks (SED, CDU, DBD, LDPD, NDPD) und den Massenorganisationen 56  Vgl. Gieseke: Schild und Schwert, S. 98; ders.: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990. München 2006, S. 260; ders.: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 480; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 340; Höffer: Greifswald, S. 6–8; Walter Süß: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S. 613–615; Höffer: »Der Gegner hat Kraft«, S. 6; Amthor: Ruhe in Rostock?, S. 226 u. 230; Mellies; Möller: Greifswald 1989, S. 8 f.; Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, et al. Vgl. 10 Jahre SPD in Greifswald, http://greifswald-1989-90.de/?page_ id=86, abgerufen am 23.2.2018 sowie Hinrich Kuessner: Die Neugründung der Sozialdemokratischen Partei im Norden; ebenda.

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unter SED-Führung gründeten sich bis Anfang Oktober 1989 die neuen politischen Gruppierungen Neues Forum und Sozialdemokratische Partei (SDP), Mitte November folgte auch die Gründung des Demokratischen Aufbruchs. Die Staatssicherheit reagierte darauf mit einer verschärften Verfolgung durch ihren geheimpolizeilichen Unterdrückungs- und Verfolgungsapparat. Inoffizielle Mitarbeiter (IM) berichteten aus dem Umfeld der Opposition, Telefone wurden abgehört, öffentliche Plätze videoüberwacht, operative Personenkontrollen und weitergehende operative Vorgänge eingeleitet.57

5.4 Friedensgottesdienste und Protestbewegung Am frühen Abend des 18. Oktobers 1989, dem Mittwoch des Rücktritts von Erich Honecker und der Inthronisierung von Egon Krenz als SED-Parteichef, fand der erste Friedensgottesdienst der Friedlichen Revolution im Greifswalder Dom St. Nikolai statt und hier stellte sich auch die DDR-weite Reformbewegung Neues Forum der Greifswalder Öffentlichkeit vor. Die Gründer des Neuen Forums engagierten sich im Herbst 1989 gegen die SED-Diktatur, jedoch keinesfalls gegen die Existenz der DDR. Im Verständnis der SED-Führung und der Stasi waren sie damit politische Feinde – ein Umstand, der die öffentliche Zustimmung für die Reformbewegung im Herbst 1989 eher beförderte, als dass er dieser schadete. In Greifswald warb das Neue Forum Mitte Oktober 1989 mit folgenden Worten für seine Unterstützung: »Die gesellschaftliche Situation in der DDR erfordert einen umfassenden und effektiven Dialog aller Bürger. […] Im NEUEN FORUM sollen gesellschaftliche Modelle für die DDR erarbeitet und Antworten auf offene Fragen gesucht werden. Es geht uns um die Erlangung einer breiten Akzeptanz der sozialistischen Gesellschaft.« Auf welch breiten Zuspruch das Neue Forum stieß, belegen die Stasi-Unterlagen. Unter den knapp 160 Mitgliedern des Neuen Forums in Greifswald Anfang November 1989 machten die Stasi-Offiziere Kirchen­ angestellte, Mediziner, Universitätsangehörige, Ingenieure (mehrere von ihnen aus dem Kernkraftwerk), Lehrer, Künstler, Studenten und einfache Arbeiter aus.58 57  Vgl. Schreiben Hinrich Kuessner an Hans-Jochen Tschiche v. 29.9.1989, http://greifswald-1989-90.de/?page_id=94, abgerufen am 23.2.2018 sowie Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen v. 24.7.1989; ebenda; Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 24; Höffer: Greifswald, S. 4; Lagefilm, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 129, Bl. 79; Bericht zur Durchführung der OPK »Pate«, Reg. Nr. VIII/1725/84, des Gen. Oltn. Migge der KD Greifswald v. 15.12.1987; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 218, Bl. 1–4, hier 1 sowie Eröffnungsbericht zum OV »Pate« v. 21.2.1989; ebenda, Bl. 21–29. 58  Zit.: Schreiben an den Rat der Stadt Greifswald, Abt. Innere Angelegenheiten v. 25.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 219, Bl. 25–28, hier 25; Tit., o. D. (MfS-Protokoll­ abschrift der Dialogveranstaltung am 19.10.1989); BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 100, Bl. 24–36, hier 35; Tabellarische Aufstellung, o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald,

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Im Anschluss an das Friedensgebet vom 18. Oktober kam in Greifswald spontan eine Demonstration mit rund 800 Teilnehmern zustande. Einige von ihnen trugen Kerzen als Zeichen ihrer Friedfertigkeit. Sprechchöre forderten »Wir sind das Volk«, »Reisefreiheit«, »Demokratie, jetzt oder nie«, »Neues Forum«, »Wir bleiben hier« und ermunterten zum Protest: »Schließt euch an« oder »Fernseher aus, raus aus dem Haus«. Auch Sprechchöre wie »DDR – Mein Vaterland« und »Was wollen wir – Perestroika hier« brachten die Reformforderungen der Teilnehmer zum Ausdruck. Vor dem Gebäude der Stasi-Kreisdienststelle erscholl aus dem Protestzug »Stasi in die Produktion«. Andere sangen das mit der deutsch-nationalen Freiheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert verbundene Lied »Die Gedanken sind frei« und das nicht nur in der Kirche bekannte »dona nobis pacem« (gib uns Frieden). Die Staatssicherheit glaubte damals erkannt zu haben, dass sich an diesem Abend insbesondere Greifswalder Studenten als demonstrationsfreudig zeigten. Zugleich musste die Geheimpolizei mehrere Pleiten ihrer Beobachtungsbemühungen hinnehmen. Den Einsatz ihrer Fototechnik zur Dokumentation der Demonstrationsteilnehmer verhinderten die Lichtverhältnisse der einbrechenden Herbstnacht. Die Funktechnik zur schnellen Informationsübermittlung funktionierte nicht wie vorgesehen und das Ausweichen auf öffentliche Telefonzellen in der Greifswalder Altstadt scheiterte daran, dass diese größtenteils defekt waren. Der 18. Oktober 1989 war der Auftakt der öffentlichen Protestbewegung in Greifswald und in den großen Städten des Bezirkes Rostock überhaupt. Diese nahm in der Folge ähnlich dem Leipziger Vorbild der »Montags-Demonstrationen« oder den am folgenden Tag einsetzenden »Donnerstags-Demonstrationen« in der Bezirksstadt Rostock die Form allwöchentlicher »Mittwochs-Demonstrationen« an.59 Nr. 219, Bl. 82–88 sowie Für die mündliche Auswertung zum »Neuen Forum« in Ergänzung der schriftlichen Information v. 3.11.1989; ebenda, Bl. 30. 59  Vgl. Wie hat es angefangen mit den Friedensgebeten 1989 in Greifswald? Aufgezeichnet nach seiner Erinnerung 10 Jahre danach von Superintendent i. R. Heinrich Wackwitz, http:// greifswald-1989-90.de/?page_id=86, abgerufen am 23.2.2018. Festvortrag des Ehrensenators Dr. Reinhard Glöckner: Die Wende in Greifswald. Aus meinem Erleben und in meiner Sicht im Frühjahr 1993. In: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.): Verleihung der Ehrensenatorwürde an Dr. Reinhard Glöckner, Greifswalder Universitätsreden, Nr. 68, S. 17–42, hier 25 f.; Hans-Jürgen Zobel: Laudatio auf Herrn Dr. Reinhard Glöckner. In: ebenda, S. 6–15, hier 8 f.; Christiane Baumann: Greifswald. Dom und Stadt im Jahr 1989/90. Schwerin 2010, S. 56–59; Hans Georg Thümmel: Greifswald. Geschichte und Geschichten. Die Stadt, ihre Kirchen und ihre Universität. Paderborn 2011, S. 252–254. Zu den Rostocker Ereignissen der friedlichen Revolution 1989 vgl. Einleitung. In: Ammer; Memmler (Hg.): Staatssicherheit in Rostock, S. 5–10; Halbrock: Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR, S. 157–159; o. Tit., 18.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 141, Bl. 20 f.; Information v. 18.10.1989; ebenda, Bl. 22; Eindrücke, Beobachtungen, Feststellungen zur Demonstration v. 18.10.1989; ebenda, Bl. 28–34; Bericht zum Sicherungseinsatz Demon­strationszug v. 18.10.1989; ebenda, Bl. 35–39; Lageentwicklung Demonstration am 18.10.1989 – Greifswald v. 18.10.1989; ebenda, Bl. 41–47; Information über den Verlauf eines Friedensgebetes im Greifswalder Dom und anschließender

Friedensgottesdienste und Protestbewegung

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Die altstädtischen Kirchengebäude des Doms St. Nikolai und der Jacobikirche dienten als Orte der Friedensgottesdienste als ein Schutzraum, in dem die Greifswalder im wahrsten Sinne des Wortes ihre Stimme gegen die SED-Diktatur fanden. Zugleich waren die Kirchen Ausgangspunkte der öffentlichen Protestbewegung. Schon die zweite Demonstration am 25. Oktober 1989 führte auch in die Greifswalder Neustadt nach Schönwalde. Auf dem Höhepunkt des öffentlichen Protestes zogen am 1. November bis zu 8 000 Demonstranten mit Kerzen, Protestlosungen tragend und laut skandierend an den Gebäuden der SED-Kreisleitung und des Volkspolizeikreisamtes (VPKA) als den örtlichen Machtzentren vorüber. An der Spitze des Protestzuges prangte ein Transparent mit der Aufschrift »DDR – Dialog – Demokratie – Reformen«. DDR-weite Protestforderungen wurden in Greifswald durch örtliche ergänzt: »Neues Forum zulassen!«, »Freie Wahlen«, »Stoppt die Kahlschlagsanierung unserer Stadt«, »Ziviler Ersatzdienst«, »Egon reiß' die Mauer ein – die Volkswirtschaft braucht jeden Stein«, »Demokratie – jetzt oder nie«, später »Stasi weg, hat kein‘ Zweck«. Die so angesprochene Staatssicherheit beobachtete: »Bei Parolen gegen das MfS war die größte Beteiligung und teilweise Euphorie festzustellen.« Und zu dem Demonstrationsruf »Stasi in die Volkswirtschaft« musste die Geheimpolizei bei ihren Beobachtungen zur Kenntnis nehmen »[…] hier waren sich alle einig.« Hinsichtlich der Teilnehmer vermerkte die so Gescholtene insgeheim, dass neben den anfangs jüngeren Studenten nun auch zunehmend Greifswalder mittleren Alters und Ehepaare an dem Protestmarsch teilnahmen. Zu diesem Zeitpunkt, einem ersten Höhepunkt der öffentlichen Protestbewegung, als die Ablösung der altersstarren SED-Führung und Reformen in einer sozialistischen DDR leitende Forderungen waren, konnten sich auch einzelne SED-Mitglieder am Protest beteiligen. Wie fließend die Grenzen zwischen den Anhängern der neuen Opposition und manchen SEDMitgliedern in Greifswald bisweilen waren, zeigte der durchaus kuriose Umstand, dass der Gründungsaufruf des Neuen Forums auf einem Kopiergerät der örtlichen SED-Universitätsparteileitung vervielfältigt wurde.60 Demonstration v. 19.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 594, Bl. 20–22; Info zur Demonstration v. 18.10.1989; ebenda, Bl. 49; Information über Organisatoren demonstrativer gegen Staat und Gesellschaft gerichteter Handlungen bzw. oppositioneller Sammlungsbewegungen im Bezirk v. 23.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 278, Bl. 50–61, hier 58 f. 60  Vgl. Information zur Demonstration im Anschluss an das »Friedensgebet« im Dom v. 26.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 141, Bl. 6–8; Bericht Demo v. 1.11.1989; ebenda, Bl. 131; Information über den Verlauf des »Friedensgebetes« und der Demonstration am 1. November 1989 in Greifswald; ebenda, Bl. 199–202, hier 200; Lagefilm (Demo am 1.11.1989), o. D.; ebenda, Bl. 132–135; Ergänzungsinformation über das Friedensgebet und die Demonstration am 1.11.1989 in Greifswald v. 2.11.1989; ebenda, Bl. 191–197; Information über den Verlauf des »Friedensgebetes« und der Demonstration am 1. November 1989 in Greifswald; ebenda, Bl. 199–202. Auch Chiffriertes Fernschreiben der KD Greifswald, Leiter an die BV Rostock, Leiter v. 1.11.1989, zit. nach: http://greifswald-1989-90.de/?page_id=94, abgerufen am 23.2.2018; Baumann: Dom und Stadt im Jahr 1989/90, S. 61.

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Im Vorfeld der Demonstration am 1. November 1989 hatte sich derweil die SED-Kreisleitung bemüht, loyale SED-Mitglieder zu mobilisieren. Sie sollten die begrenzten Plätze in den Kirchen besetzen, das Bild der Demonstration mitprägen und im Sinne der örtlichen SED-Führung auftreten. Im Kernkraftwerkskombinat reagierten ganze SED-Abteilungsparteiorganisationen (APO) ablehnend auf dieses Ansinnen. Die Parteimitglieder hier zeigten sich unwillens, für die örtliche SED-Führung »die Kastanien aus dem Feuer zu reißen« oder sie lehnten es ab, »dass die Kreisleitungs-Mitglieder hinter zugezogenen Gardinen hocken und die anderen Genossen laufen lassen«.61 Ähnlich wie im gesamten ostdeutschen Staat wollte die Greifswalder SED-­ Führung den öffentlichen Protest ab der zweiten Oktoberhälfte 1989 in geschlossene Dialogveranstaltungen kanalisieren. Das war immerhin eine Abkehr von der offenen Konfrontation. Ähnlich wie in der gesamten DDR auch, misslang es den Herrschenden in Greifswald jedoch, damit die Kontrolle zurückzuerlangen. Denn die friedlichen Revolutionäre setzten auf öffentlichen Protest und Dialog. Die Greifswalder Dialogveranstaltungen begannen einen Tag nach der ersten Demonstration des Revolutionsherbstes am 19. Oktober 1989, einem Donnerstag, in der zentral gelegenen Studenten-Mensa und haben sich als »Mensa-Gespräche« in das lokale Revolutions-Gedächtnis eingeprägt. Für sie galt die griffige Formel »Heiß waren die Diskussionen und viele Stimmen meldeten sich.«62 Immerhin: Der gesamte Rat der Stadt Greifswald stellte sich zum Auftakt dem Streitgespräch, der Oberbürgermeister Udo Wellner kam eigens aus dem Urlaub herbeigeeilt. Die mit bis zu mehr als 1 000 Menschen überfüllte Veranstaltung am 19. Oktober dokumentierte den Mut und das Selbstbewusstsein der Greifswalder Bürger und der neuen Opposition sowie den Machtverfall der Greifswalder SED-Führung und ihrer Stützen in Verwaltung und im Sicherheitsapparat. Diese hatten ihren Herrschaftsanspruch zunächst keinesfalls aufgegeben. Die Staatssicherheit beispielsweise agierte in althergebrachter Weise, indem sie die Friedensgottesdienste und Demonstrationen ausspähte oder auch die erste Greifswalder Dialogveranstaltung insgeheim aufzeichnete. Geradezu sinnbildlich für den einsetzenden örtlichen Machtverfall der SED-Diktatur stand, dass die Stasi nur einen Teil der Veranstaltung auf Tonband aufzeichnen konnte, weil die dazu genutzte Technik dann zur Übertragung für die Zuhörer gebraucht wurde, die vor der überfüllten Studenten-Mensa ausharrten.63 61  Vgl. Bericht zu Entwicklung der Lage auf dem Gebiet der Stimmungen/Meinungen/ Reaktionen v. 1.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bl. 286–289, hier 287. 62  Festvortrag des Ehrensenators Dr. Reinhard Glöckner: Die Wende in Greifswald, S. 26. 63  Vgl. Höffer: »Der Gegner hat Kraft«, S. 25; Baumann: Dom und Stadt im Jahr 1989/90, S. 58 f.; Einsatzkonzeption für die politisch-operativen Sicherungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Friedensgebet der Evangelischen Kirche am 1.11.1989 v. 31.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 141, Bl. 3–5; o. Tit., o. D.; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald Nr. 100, Bl. 24–36.

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Auch die folgende Dialogveranstaltung in der Mensa am 26. Oktober 1989 unter der Überschrift »Fragen der sozialistischen Demokratie« beobachtete die Staatssicherheit penibel. Ein sechsseitiger geheimpolizeilicher Lagefilm schilderte detailliert Teilnehmerzahl, Zeitraum, Wortmeldungen, Gesprächsinhalte und Stimmungen. Zu Veranstaltungsbeginn registrierte die Stasi knapp 1 400 Menschen in der Mensa. Durchaus DDR-typisch waren die behandelten Themen Versorgung, Städtebau, Freizügigkeit, Meinungsfreiheit, Demokratie, Bildungswesen, Neues Forum, Wahlen sowie die Kritik am SED-Führungsanspruch, den örtlichen Funktionären der Blockparteien und Massenorganisationen sowie der Tätigkeit der Staatssicherheit. Nach fast vier Stunden Dialog beobachtete die Stasi erleichtert das Ende der Veranstaltung, ohne dass sich im Anschluss an diesem Abend ein öffentlicher Protest auf den Greifswalder Straßen formierte.64 Angesichts des miserablen baulichen Zustands der Altstadt, des zerbröselnden politischen Führungsanspruchs, in Anbetracht von Vorhaltungen wegen Amtsmissbrauchs und Privilegien und wegen der anwachsenden Forderung nach Reisefreiheit herrschten in der örtlichen SED-Führung und Verwaltung zunehmend Lähmung und Resignation. Die dritte Dialogveranstaltung am Abend des 9. Novembers 1989 behandelte unter anderem ein vorgelegtes neues DDR-Reisegesetz. Mitten in die Veranstaltung hinein platzte die Nachricht über die Öffnung der Berliner Mauer.

5.5 Die »Wende in der Wende« und das Ende der Staatssicherheit Mit der unverhofften und unkontrollierten Öffnung der deutsch-deutschen Grenze kam es zur »Wende in der Wende«. Die öffentliche Protestbewegung im ostdeutschen Staat erreichte eine neue Dynamik und verfolgte neue Ziele. Die von der SED-Führung eingeplante Ventilwirkung zur Eindämmung der öffentlichen Protestbewegung kam durch den einsetzenden West-Tourismus der DDR-Bevölkerung tatsächlich zustande. Nach Öffnung der Grenze gingen die Teilnehmerzahlen der Demonstrationen überall im ostdeutschen Staat zurück. Das Greifswalder Volkspolizeikreisamt meldete am 11. November 1989 keine 48 Stunden nach der Öffnung der Berliner Mauer der örtlichen Stasi-Kreisdienststelle, dass bereits mehr als 5 000 (!) Einwohner der Hanse- und Universitätsstadt sich ein Visum zum Auskosten der neuen Reisefreiheit abgeholt hätten. Die vom neuen SED-Partei64  Lagefilm. Mensa – Fragen der sozialistischen Demokratie v. 26.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 208, Bl. 1–6; Bericht Rechtsdiskussion am 26.10.1989 in der Mensa v. 26.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 100, Bl. 2–9. Zur staatlichen Beobachtung und Überwachung der Friedlichen Revolution 1989 anzumerken bliebe, dass sich – kaum kritisiert oder infrage gestellt – die Volkspolizei daran beteiligte. Vgl. zum Beispiel VPKA Greifswald (Kriminalpolizei), Protokoll über die in der Mensa durchgeführten Gespräche und Dialoge v. 26.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 100, Bl. 22 f.

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und DDR-Staatschef Egon Krenz ausgerufene »Wende«-­Politik zur Erneuerung der SED-Diktatur scheiterte jedoch nicht zuletzt an den Eindrücken von der bunten und wohlhabenden Bundesrepublik, mit denen die Menschen zurück in ihr krisengeschütteltes Land kamen. In der Folge ging die Friedliche Revolution über die Einheitssozialisten hinweg und forderte nun das Ende der SED-Diktatur in der DDR und den Beitritt des ostdeutschen Staates zur Bundesrepublik. In der Kreisstadt Greifswald nahmen an den kommenden Demonstrationen deutlich weniger Menschen teil. Parallel zu den sinkenden Teilnehmerzahlen verschärften sich die Protestforderungen. Die Geheimpolizei beobachtete in Greifswald nun solche Forderungen wie: »SED – das tut weh!«, »Stasi unter Volkskontrolle«, »Stasi in die Volkswirtschaft«, »Aufklärung aller Verbrechen der Staatssicherheit« oder »Deutschland – einig Vaterland«. Mit Anspielung auf den zusehends populären Bundeskanzler Helmut Kohl skandierten die Demonstranten in Greifswald auch schlicht und einfach: »Helmut, Helmut«.65 Ein Versuch der Greifswalder SED-Mitglieder, die politische Offensive wiederzuerlangen, schlug vor diesem Hintergrund fehl. Die großen SED-Betriebspartei­ organisationen im Kernkraftwerk, auf der angrenzenden Großbaustelle und im VEB Nachrichtenelektronik Greifswald hatten für den 12. November 1989 zu einer Kundgebung eingeladen. Lediglich knapp 500 Anhänger folgten dem Aufruf. Vor dem Gebäude der SED-Kreisleitung forderten sie den Rücktritt der SED-Führungen im Kreis Greifswald und im Bezirk Rostock sowie die Rehabilitierung der Eingabenschreiber der A-Schicht vom Oktober 1988. Immerhin zwangen die Demonstranten das Sekretariat der Greifswalder SED-Kreisleitung zum Rücktritt. Aber auch das konnte die Austrittswelle aus der Greifswalder SED nicht mehr stoppen. Der örtliche Zerfall der Machtstrukturen passte sich in die DDR-weiten Ereignisse ein. Die subalternen SED-Politbüromitglieder waren zurückgetreten, am 1. Dezember strich die Volkskammer den SEDFührungsanspruch aus der DDR-Verfassung und bereits mehr als ein Viertel der mehr als 2 Millionen SED-Mitglieder und -Kandidaten hatten der Einheitspartei den Rücken gekehrt.66 65  Zur auf den westdeutschen Staat orientierten »Wende in der Wende« vgl. Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Frankfurt/M. 1992, S. 318 ff.; Hartmut Zwahr: Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR. Göttingen 1993, S. 136 ff.; Stefan Bollinger: 1989 – Eine abgebrochene Revolution. Verbaute Wege nicht nur zu einer besseren DDR? Berlin 1999, S. 105 ff.; Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 520 f. Zu den Ereignissen der friedlichen Revolution im Bezirk Rostock und den ganz ähnlichen DDR-weiten Phasen Höffer: »Der Gegner hat Kraft«, S. 10; Lagefilm v. 12.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 208, Bl. 22; Information über den Verlauf des Friedensgebetes und der Demonstration v. 22.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 411, Bl. 31–34 sowie Information über das »Friedensgebet« und die genehmigte Demonstration am 29.11.1989 v. 29.11.1989; ebenda, Bl. 42–44. 66  Vgl. Information über Reaktionen der Bevölkerung v. 24.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 84, Bl. 90–92; Information über den Verlauf einer Manifestation der Kreis-

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Am 23. November 1989 fand in Greifswald eine Dialogveranstaltung ausschließlich zum Thema »Staatssicherheit« statt. Das »Schild und Schwert der Partei« – noch kurz zuvor allmächtig erscheinend – galt nun nicht mehr als unantastbar. Die ostdeutsche Geheimpolizei rückte selbst in den Fokus der Revolutionäre. Nur wenige Tage zuvor hatte der gerade zurückgetretene Stasi-Minister, Armeegeneral Erich Mielke, sich selbst und die ostdeutsche Geheimpolizei am 13. November vor der Volkskammer blamiert. Sein wirrer Auftritt, in dem er die Tätigkeit der Geheimpolizei zu rechtfertigen versuchte, gipfelte unter dem Gelächter der Anwesenden in den Worten: »Ich liebe doch alle Menschen.«67 Am 18. November folgte Wolfgang Schwanitz als Nachfolger auf Mielke, um die Geheimpolizei unter dem neuen Namen »Amt für Nationale Sicherheit« (AfNS) und mit neuer Sicherheitsdoktrin durch die Friedliche Revolution zu bringen. Vor diesem Hintergrund stellten sich der Leiter des nunmehrigen Bezirksamtes für Nationale Sicherheit (BAfNS) Rostock, Generalleutnant Rudolf Mittag, und der Leiter des nunmehrigen Kreisamtes für Nationale Sicherheit (KAfNS) Greifswald, Oberstleutnant Peter Erfurth, am 23. November 1989 in Greifswald der Öffentlichkeit. Ihre vagen Auskünfte zu Strukturen, Mitarbeitern, Informanten und Arbeitsweise fügten sich ein in eine seit Novemberbeginn laufende Öffentlichkeitskampagne der Geheimpolizei im Bezirk Rostock. Dazu gehörte auch ein Interview von Mittag in der SED-eigenen Tageszeitung Ostsee-Zeitung. Dementgegen standen Erlebnisberichte, wie Greifswalder Studenten von der Stasi zur inoffiziellen Mitarbeit gedrängt wurden. Schließlich wurde aus der hitzigen Dialogveranstaltung mit knapp 1 500 Teilnehmern heraus eine Gruppe bestimmt, die noch am gleichen Abend unter Anwesenheit der lokalen Presse die Kellerräume der Geheimpolizei in der Domstraße 7 besichtigte.68 In der Zeitung war zu dieser Sensation später zu lesen: »Um Mitternacht im ›Stasi‹-Keller«. Den unmittelbaren Anlass zu der Begehung gaben Vermutungen, parteiorganisation am 12.11.1989 vor der SED-Kreisleitung Greifswald v. 12.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 411, Bl. 12 f.; Mählert: Kleine Geschichte, S. 169. 67  Vgl. Protokoll der 11. Tagung der Volkskammer der DDR am 13. November 1989, zit. nach: www.chronik-der-mauer.de/material/180401/rede-von-stasi-minister-erich-mielke-in-derddr-volkskammer-13-november-1989, abgerufen am 23.2.2018. 68  Kowalczuk: Stasi konkret, S. 336; Walter Süß: Politische Taktik und institutioneller Zerfall. MfS und SED in der Schlussphase des Regimes. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 249–269, hier 266 f. Als Überblick zum Ende der Staatssicherheit vgl. Walter Süß: Endphase des MfS. In: Münkel (Hg.): Staatssicherheit, S. 167–173, hier bes. 171 f. Detailliert ders.: Staatssicherheit am Ende, et al. Zum Amt für Nationale Sicherheit vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 484–494 sowie Stichwörter »Amt für Nationale Sicherheit (AfNS)« bzw. »Wolfgang Schwanitz«. In: Das MfS-Lexikon, S. 37–39 bzw. 292 f. Zur Öffentlichkeitsarbeit der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock in eigener Sache unter dem Leiter der Bezirksverwaltung, Rudolf Mittag, und dessen 1. Stellvertreter, Artur Amthor, vgl. Höffer: »Der Gegner hat Kraft«, S. 53–55 sowie Kowalczuk: Endspiel, S. 507.

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die Geheimpolizei würde entgegen anderslautenden Beteuerungen weiterhin aktiv sein, Akten vernichten und in ihren Kellerräumen hätten Verhöre und Misshandlungen stattgefunden. Im Keller der Domstraße 7 fanden die friedlichen Revolutionäre an jenem Abend Kohlen, eine Sauna und das alte Stasi-Haustürschild. Letzteres hatten die Geheimpolizei-Offiziere nach der Umbenennung zum Amt für Nationale Sicherheit in der Nacht zum 19. November 1989 still und heimlich in einem verstohlenen Akt der Selbsthäutung abgenommen. Die zur Vernichtung vorbereiteten Akten – so es sie denn gegeben hat – sind den Inspekteuren vorenthalten worden. DDR-weit war es wenige Tage zuvor am 19. November im sachsen-anhaltischen Naumburg zu einem ersten Gespräch zwischen einem Leiter des Kreisamtes für Nationale Sicherheit und Demonstranten gekommen. In der Bezirksstadt Rostock fand mehrere Tage später am 28. November eine erste Begehung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit statt. Bis Mitte November 1989 war die Geheimpolizei in Greifswald derweil zunehmend zur Eigensicherung übergegangen, freilich ohne zunächst ihren geheimpolizeilichen Anspruch aufzugeben, die friedlichen Revolutionäre weiterhin auszuspähen.69 Am frühen Nachmittag des 4. Dezembers 1989 besetzten bzw. begingen die friedlichen Revolutionäre auf Initiative des Neuen Forums erneut das Gebäude der Staatssicherheit in der Domstraße 7. Die Aktion erfolgte gemeinsam mit den DDR-weiten Besetzungen in Kreis- und Bezirksstädten wie Rathenow, Erfurt und Rostock. Ziel war der Vernichtungsstopp von Stasi-Unterlagen. Die Begehung in Greifswald erfolgte mit einem Durchsuchungsbefehl des Kreisstaatsanwaltes, unter Schutz der Volkspolizei und mit Kenntnis des Greifswalder SED-Oberbürgermeisters. Unter dem Slogan »Volkssiegel auf Panzerschränke des STASI und der SED« wurden zudem in der örtlichen SED-Kreisleitung und im Rat der Stadt Greifswald Panzerschränke versiegelt. Die vorausgegangene Androhung eines Generalstreiks hatte ihre politische Wirkung nicht verfehlt, rund 200 Greifswalder erzwangen schließlich die Begehung und Versiegelung der einst allmächtig erschienenen Geheimpolizei. Im MfS-Gebäude wurden mehrere Wachen eingesetzt, um das Vernichten und den Abtransport von Akten zu verhindern. Zeitzeugen erinnerten sich später, dass dessen ungeachtet beispielsweise im Keller der Geheimpolizei weiterhin Papier verbrannt worden sei. Schon Wochen zuvor hatte Erich Mielke am 6. November 1989 vor dem Hintergrund der DDR-weiten Ereignisse und der an Fahrt gewinnenden Revo69  Vgl. o. Tit., o. D. In: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 130, Bl. 94; Lagefilm v. 19.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 208, Bl. 29; Einsatzkonzeption – Sicherung 15.11.1989 v. 15.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 141, Bl. 170–172 sowie Einsatzkonzeption – Sicherung am 29.11.1989 v. 28.11.1989; ebenda, Bl. 174–176; Festvortrag des Ehrensenators Dr. Reinhard Glöckner. In: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.): Verleihung der Ehrensenatorwürde, S. 33–35; Einleitung. In: Ammer; Memmler (Hg.): Staatssicherheit in Rostock, S. 5 sowie Kowalczuk: Endspiel, S. 506; Baumann: Dom und Stadt im Jahr 1989/90, S. 66.

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Abb. 50: Das Gebäude der Stasi-Kreisdienststelle Greifswald in der Domstraße 7

lution die Vernichtung und Auslagerung von dienstlichen Bestimmungen und operativen Akten aus den örtlichen Kreis- und Objektdienststellen in die StasiBezirksverwaltungen befohlen. Sein Nachfolger Wolfgang Schwanitz erweiterte die anlaufende Aktenvernichtung am 22. November mit einer Anweisung zur Vernichtung sämtlicher Unterlagen, die für die künftige Arbeit nicht mehr gebraucht würden. Die ostdeutsche Geheimpolizei bemühte sich um die Geheimhaltung und Verschleierung ihrer bisherigen Arbeitsmethoden und ihrer angehäuften Informationen. Denn einerseits hatte sie mit ihrer geheimen Tätigkeit nicht selten gegen geltendes DDR-Recht verstoßen, vor allem aber sollten die Altlasten in Form von Papier, Tonband, Filmmaterial oder Computerdaten dem Wandel und Neustart der Geheimpolizei nicht im Wege stehen. Unter Preisgabe eines Großteils ihres Herrschaftswissens wollte sie ihre nackte Existenz retten. Auf der Grundlage einer neuen Sicherheitsdoktrin strebte die umbenannte Stasi den Umbau ihres Apparates und die Fortführung ihrer Arbeit an. Ein Strukturumbau sah die Verringerung des Mitarbeiterbestandes auf weniger als die Hälfte und die Auflösung der Kreisdienststellen vor. Entgegen der eigentlichen Zielstellung wurden die Aktenvernichtungen der Stasi mit dem Öffentlichwerden zu einer wichtigen Triebfeder für die DDRweite Besetzung von Diensteinheiten der Geheimpolizei ab dem 4. Dezember. Wie erfolgreich diese Besetzungen waren, ist für Greifswald wie für die DDR insgesamt umstritten. Klar ist aber, dass Anfang Dezember 1989 damit ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur vollständigen Entmachtung des vormals gefürchteten Sicherheitsapparates gelang. Weil sich Ähnliches wie in Greifswald

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zur gleichen Zeit in der gesamten DDR ereignete, traten die Mitglieder des AfNS-Kollegiums, dem höchsten Leitungsgremium der Geheimpolizei, am 4. Dezember 1989 geschlossen zurück. Aufgrund vehementer Forderungen der friedlichen Revolutionäre verlangte der Zentrale Runde Tisch in Ost-Berlin am 7. Dezember gegenüber dem DDR-Ministerrat die Auflösung der Staatssicherheit. Am 14. Dezember 1989 verabschiedete der Ministerrat einen entsprechenden Beschluss über die Bildung eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes als Nachfolgeeinrichtung mit noch 10 000 bzw. 4 000 Mitarbeitern. Der ostdeutschen Bevölkerung wurde das als ein Modell präsentiert, das sich an den Geheimdienststrukturen der Bundesrepublik orientiere. Dem anhaltenden politischen Druck musste der amtierende Ministerpräsident Hans Modrow schließlich nachgeben, und am 13. Januar 1990 beschloss der Ministerrat die ersatzlose Auflösung der SED-Geheimpolizei.70

5.6 Das Kraftwerk – Ort der Revolution? Die Kernkraftwerker – Revolutionäre? Zu Jahresbeginn 1989 glaubten die Stasi-Offiziere der Objektdienststelle im Kernkraftwerk zu wissen, was die Arbeiter und Angestellten im Werk umtrieb. Wenn sie auch den SED-Führungsanspruch nicht offen infrage stellten, so diskutierten und kritisierten sie bisweilen doch die Politik der Partei. Diskutiert wurde über große Themen wie die sogenannte »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« oder internationale Entwicklungen in den östlichen Ländern. Sympathien für die sowjetischen Reformbemühungen unter den Schlagworten »Perestroika« und »Glasnost« standen hier neben Besorgnis und Unsicherheit angesichts der unklaren Entwicklungen in Polen oder Ungarn. Andererseits boten die alltäglichen Schwierigkeiten vor Ort, die wiederholt nicht erfüllten Pläne und Beschlüsse von 70  Roger Engelmann: Sicherung und Öffnung der Stasi-Akten. In: Münkel (Hg.): Staatssicherheit, S. 176–183, hier 176 f.; Hinrich Kuessner: Der 4. Dezember 1989. Oder ein Tag im Hause der Staatssicherheit in Greifswald. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, o. Pag. sowie Bericht der Arbeitsgruppe KKW des Untersuchungsausschusses über die Untersuchungen der Dokumente der Objektdienststelle des MfS im KKW. In: ebenda, S. 164–166; Festvortrag des Ehrensenators Dr. Reinhard Glöckner. In: Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald (Hg.): Verleihung der Ehrensenatorwürde, S. 35; Höffer: Greifswald, S. 10; Baumann: Dom und Stadt im Jahr 1989/90, S. 65; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 260; ders.: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 480. Zur Aktenvernichtung vgl. Süß: Staatssicherheit am Ende, S. 554–560, 613–615, 658 u. 671. Dazu und auch, dass die meisten Besetzungen der Staatssicherheits-Diensteinheiten ähnlich wie in Greifswald eher Begehungen, Versiegelungen und Kontrollen waren vgl. Kowalczuk: Stasi konkret, S. 337–342; ders.: Endspiel, S. 508–513 u. 516 f. Vgl. Stichwort »Amt für Nationale Sicherheit«. In: Das MfS-Lexikon, S. 37–39 sowie Stichwort »Auflösung des MfS 1989/90«; ebenda, S. 44–47. Zu den Rostocker Ereignissen vgl. Einleitung. In: Ammer; Memmler (Hg.): Staatssicherheit in Rostock, S. 5–10.

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Partei und Staat zur Inbetriebnahme des Reaktors 5 oder auch die aufsehen­ erregende Eingabe von der Großbaustelle an den DDR-Staatsrat vom Oktober 1988 vielfältigen Gesprächsstoff. Davon ausgehend machte die Staatssicherheit im Frühjahr 1989 »ideologische Unklarheiten« im Kernkraftwerk und auf der Großbaustelle aus. Zwischen den Zeilen solch routinemäßiger Meldungen, dass »die überwiegende Mehrheit der leitenden Kader, Angestellten und Arbeiter hinter den Beschlüssen von Partei und Regierung«71 stünden, war auch zu lesen, dass eine wahrnehmbare Minderheit anderer Meinung als die SED-Führung war. Bis zum Sommer 1989 wurde diese Minderheit größer, unter der die Geheimpolizei »Auswirkungen der politisch-ideologischen Diversion«72 auszumachen glaubte. Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989 nahmen die Diskussionen zur politischen und wirtschaftlichen Krise in der DDR und der ausufernden Fluchtwelle in die Bundesrepublik zu. Die Arbeiter und Angestellten im Kernkraftwerkskombinat holten sich ihre Informationen und Argumente dazu Abend für Abend aus Radio und Fernsehen der Bundesrepublik. Trotz seines staatlichen Verbots – oder gerade deswegen – sympathisierten manche mit dem im September 1989 gegründeten Neuen Forum. Gründe, an dem Stasi-Bericht gegenüber der SED-Kreisleitung Greifswald »[…], dass die staatliche Sicherheit im Verantwortungsbereich der OD KKW gewährleistet ist«, zu zweifeln, hat es bis zum Herbst 1989 aber wohl nicht gegeben. Untrügliches Indiz zu den örtlichen Machtverhältnissen am Vorabend der Friedlichen Revolution schienen schon alleine die SED-Mitgliederzahlen zu sein. So vereinte die SED-Betriebsparteiorganisation des Kernkraftwerkes fast 1 400 und die der angrenzenden Großbaustelle knapp 770 Mitglieder. Die übrigen vier Blockparteien CDU, NDPD, LDPD und DBD kamen zusammen auf wenige Hundert Mitglieder.73 71  Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 21.3.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 467–480, hier 468; Information über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.4.1989; ebenda, Bl. 448–458, hier 449. 72  Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und auf der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 28.8.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 421–428, hier 422 u. 427 f. 73  Bericht über Tendenzen der politisch-ideologischen Situation unter den Beschäftigten im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald und der Großbaustelle der DSF KKW Nord (…) v. 18.1.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 482–487; Berichterstattung vor dem Sekretariat der SED-Kreisleitung, o. D. (1989); ebenda, Bl. 435–447, hier 447; Parteiinformation über einige Tendenzen der politisch-ideologischen Situation im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« und der Großbaustelle der DSF KKW Nord v. 9.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. II, Bl. 414–417; Bericht über die Sichtung der Unterlagen der Grundorganisationsleitung der SED auf der Großbaustelle des KKW Nord und der Leitung der Betriebsparteiorganisation im Stammbetrieb des VE Kombi-

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Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989 reagierten die Stasi und die SED im Kernkraftwerkskombinat dennoch gereizt. Denunzia­ tionen, die sich später als Ente erwiesen, genügten, damit Einzelne und ganze Schichtkollektive als vermeintliche Sympathisanten des Neues Forums oder Störer der Staatsfeierlichkeiten ins Visier der Geheimpolizei gerieten. Die Kombinatsleitung ihrerseits setzte weiter die staatlichen Rituale samt Festveranstaltungen und Auszeichnungen um. Die Arbeiter und Angestellten kommentierten das mitunter mit Bemerkungen wie: »Es gibt ja wohl gegenwärtig größere und wichtigere Probleme.«74 Dazu zählten sie die Ausreisewelle gen Westen, die Botschaftsbesetzung von DDR-Bürgern in Prag, die Grenzschließung gen Tschechoslowakei sowie die Leipziger Montags-Demonstrationen und die Dresdner Krawalle Anfang Oktober 1989. Oftmals verstanden die Arbeiter und Angestellten das als Kritik an der Informationspolitik, der Wirtschaftskrise, fehlender Reisefreiheit und der greisen SED-Führung – jedoch keinesfalls als Forderung nach einem Ende der DDR. Die Hoffnung auf eine Reform des ostdeutschen Staates verbunden mit vagen Sozialismusvorstellungen waren Anfang Oktober 1989 unter SED-Mitgliedern und Parteilosen im Kernkraftwerkskombinat weit verbreitet. Sehr rasch und in großer Deutlichkeit verlautete dann allerdings auch, »dass auch der Sozia­lismus in der DDR nicht das Attraktivitätsniveau wie der Imperialismus in der BRD hat«.75 Wegen ausbleibender zentraler Informationen und Anweisungen verhielten sich sowohl die Kombinatsleitung als auch die SEDBetriebsparteiorganisation derweil wie gelähmt, erste SED-Mitglieder kehrten der Partei den Rücken. Auch die Zuschaltung des Reaktors 5 am 10. Oktober 1989 mit einem knappen Drittel seiner Leistungsauslegung an das DDR-weite Stromnetz führte zu keinem Stimmungswandel.76 Vielmehr erfasste wenige Tage nach dem 40. Jahrestag der DDR eine große Dynamik das Kernkraftwerkskombinat. Die Stasi-Berichte zum Verlassen des ostdeutschen Staates nahmen zu, an Wandzeitungen im Betrieb erschienen unabhängige Beiträge, das Neue Forum und Forderungen nach demokratischen Reformen waren in aller Munde. Aus dieser Zeit datiert ein Bericht der StasiObjektdienststelle vom 12. Oktober 1989, in dem es hieß: nates KKW »Bruno Leuschner« Greifswald. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 154–163, hier 155. Zu den Mitgliederzahlen der Parteien Anfang der 1970er-Jahre (bei knapp 7 700 Beschäftigten 1 500 SED, 17 CDU, 49 NDPD, 21 LDPD, 10 DBD) vgl. Aufklärungsbericht v. 29.6.1972; BStU, MfS, BV Rostock, BV Leiter, Nr. 234, Bl. 34–39, hier 35; Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 22. 74  Berichterstattung Aktion »Jubiläum 40« v. 6.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 39, Bl. 4–8, hier 5. 75  Berichterstattung zur Aktion »Jubiläum 40« v. 7.10.1989; ebenda, Bl. 10–13, hier 11. 76  Vgl. CFs 143 v. 29.9.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 108, Bl. 16 f.; CFs 12 v. 3.10.1989; ebenda, Bl. 12–15; Bewertung der politisch-operativen Lage entsprechend des Informationsbedarfes »Jubiläum 40« v. 10.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 39, Bl. 14–17.

Das Kraftwerk – Ort der Revolution? Die Kernkraftwerker – Revolutionäre?

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Es wird festgestellt, dass täglich weitere Sympathisanten ›N.F.‹ [Neues Forum] ermittelt werden, sodass mit Wahrscheinlichkeitswert die Aussage getroffen werden kann: Viele Beschäftigte des KKW ›B.L.‹ [Bruno Leuschner] und der Großbaustelle greifen die Gedanken des ›N.F.‹ auf. Die Mehrheit der bisher bekannten Sympathisanten handelt nicht in feindlich-negativer Absicht.77

Bemerkenswert war der Bericht weniger deswegen, weil er die DDR-weiten Entwicklungen auch für das Kernkraftwerk beschrieb, sondern aus einem anderen Grund. Die Führungen von SED und Stasi stigmatisierten das Neue Forum und seine Anhänger seinerzeit kategorisch als politische Feinde – die Stasi im Kernkraftwerkskombinat nahm das offenbar anders wahr. Die Teilnahme von Arbeitern und Angestellten des Kernkraftwerkes an den Demonstrationen in der Kreisstadt Greifswald scheint bis Ende Oktober 1989 relativ gering gewesen zu sein. Im Mittelpunkt ihres Handelns stand vielmehr das Bemühen, den Kraftwerksbetrieb aufrechtzuerhalten und auf den kommenden Winter vorzubereiten. Gleichwohl entwickelte sich in der zweiten Oktoberhälfte innerhalb des Kraftwerkes verbreitet das Gefühl »Im KKW schläft man weiter.« Forderungen gegenüber der Betriebsleitung wurden laut, ein Gesprächsforum zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen einzurichten. Erste Stimmen für eine Trennung der verfilzten Partei-, Gewerkschafts- und Betriebsstrukturen sowie eine Zulassung des Neuen Forums ertönten. Ein offener Brief aus dem Arbeitsbereich Instandhaltung an die Betriebsgewerkschaftsleitung und die Kombinatsleitung stand in vielem beispielhaft für die damaligen Forderungen im Kernkraftwerk. Dieser erhob Demokratieforderungen an die Adresse der SED und der betrieblichen Massenorganisationen wie FDGB, FDJ und DSF. Seine Verfasser stellten den SED-Führungsanspruch infrage und forderten, die von der Partei herausgegebene Betriebszeitung Kernkraftwerker in ein unabhängiges Blatt umzugestalten, die Kollektiveingabe der A-Schicht vom Vorjahr sollte endlich im Wortlaut öffentlich gemacht und ihre Unterzeichner rehabilitiert werden, das Neue Forum sowie die übrigen neuen politischen Bewegungen und Parteien sollten zugelassen und eine freie Medienberichterstattung ermöglicht werden. Zudem sollte die betriebliche Ferienplatzvergabe von der Einheitsgewerkschaft FDGB losgelöst werden. Bezeichnenderweise richtete sich der offene Brief an die Kombinatsleitung und die Gewerkschaft und nicht an die Einheitssozialisten. Die Partei geriet auch im Kernkraftwerk zusehends ins politische Abseits.78 77  Vgl. Bericht zur Lage im Verantwortungsbereich der OD KKW und zur Entwicklung der Lage auf dem Gebiet der St./Mei./Re. der Bevölkerung v. 12.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 39, Bl. 29 f., hier 30. 78  Vgl. Berichterstattung zur Entwicklung der Lage auf dem Gebiet der Stimmung/ Meinungen/Reaktionen der Bevölkerung, o. D. (Oktober 1989); BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 39, Bl. 52–54; Bericht zur Entwicklung der Lage auf dem Gebiet der Stimmungen/ Meinungen/Reaktionen v. 1.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 1, Bl. 286–289.

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Auch die Leitung des Kernkraftwerkskombinates war im Oktober 1989 zusehends orientierungslos und ein Abbild dessen, dass die SED-Führung angefangen von Ost-Berlin bis in den eigenen Betrieb von den Ereignissen getrieben wurde. Ausgehend von den sich überschlagenden Ereignissen stellte man dort die rhetorische Frage »Woran soll man noch glauben?«. Forderungen nach Personalveränderungen und Reformen im Parteiapparat kamen auf. Im Kraftwerk selbst war sich die Kombinatsleitung mit den übrigen Arbeitern und Angestellten einig, dass der Parteiorganisator des SED-Zentralkomitees im Betrieb blass blieb. Wenige Wochen später brach der Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates mit den zentralistischen Strukturen. Weil er sich seitens der DDR-Regierung, des zuständigen Ministeriums für Kohle und Energie und der SED-Bezirksleitung Rostock im Stich gelassen fühlte, kündigte er unmittelbar nach der Öffnung der Berliner Mauer im November 1989 an, von nun an eigenständige Entscheidungen treffen zu wollen.79 Anfang November 1989 erreichte die mittlerweile eingeleitete staatliche Dialogpolitik auch das Kernkraftwerk. Am Abend des 2. Novembers fand eine mehr als vier Stunden dauernde Diskussionsrunde mit mehreren Hundert Betriebsangehörigen statt. Die SED-Betriebsparteileitung und die Kraftwerksleitung, allen voran der Generaldirektor des Kombinates, standen Rede und Antwort. Zur damaligen Stimmung beobachtete die Stasi: »Die Veranstaltung verlief in einer stimmungsgeladenen aber sachlichen Atmosphäre. Es gab keine kontroversen Meinungsverschiedenheiten. Ebenfalls gab es keine negativen Äußerungen zur Partei und keine Meinungen/Haltungen zu den Sicherheitsorganen.«80 Fragen, die den Arbeitern und Angestellten unter den Nägeln brannten, waren die wirtschaftliche Situation des Kraftwerkes, die Effektivität der Kombinatsleitung sowie die unklare Situation rund um die Inbetriebnahme des Reaktors 5. In das Zentrum der Kritik rückten die SED-Betriebsparteileitung in Person des ZKParteiorganisators und des damaligen ZK-Kandidaten. Dass die SED-Führung und die staatliche Betriebsleitung mit der Dialog-Politik im Kernkraftwerk das Ziel verfolgten, dem zunehmenden Protest die Spitze zu brechen und diesen zu befrieden, zeigt ein geheimer Vermerk der Staatssicherheit: »Zuverlässige IMs der OD KKW bewerten diese Veranstaltung als einen Erfolg und ein beruhigendes Element in der Dialogführung.«81

79  Vgl. Bericht zur Entwicklung der Lage auf dem Gebiet der St./Mei./Re. v. 17.10.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 39, Bl. 35 f.; Tendenzen zur Lageentwicklung auf dem Gebiet der Stimmung, Meinung, Reaktion v. 10.11.1989; ebenda, Bl. 58–60. 80  Bericht zur Lage auf dem Gebiet der Stimmungen/Meinungen/Reaktionen der Bevölkerung im VB der OD KKW v. 3.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 1, Bl. 112– 114, hier 112. 81  Bericht zur Lage auf dem Gebiet der Stimmungen/Meinungen/Reaktionen der Bevölkerung im VB der OD KKW v. 3.11.1989; ebenda, Bd. 1, Bl. 112–114, hier 114.

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Wenige Tage darauf berichtete die Stasi-Objektdienststelle aus dem Kernkraftwerk an die Rostocker Stasi-Bezirksverwaltung, eine SED-Parteiversammlung im Betrieb sei »ohne Vorkommnis« verlaufen. Dazu gehörten nun Vorschläge und Ideen, die nur wenige Wochen zuvor zweifellos eine geheimpolizeiliche Verfolgung nach sich gezogen hätten. Etwa Forderungen nach einer Verkleinerung des Verwaltungsapparates im Kraftwerk und der Einrichtung eines Informa­tionszentrums in der Stadt Greifswald, um dort öffentlich über Umweltfragen diskutieren zu können. Gleichwohl waren die Einheitssozialisten unmittelbar vor der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 von zunehmenden innerparteilichen Spannungen durchzogen: Das Ringen um die politische Offensive des in der Nachfolge von Erich Honecker eingesetzten SED-Parteichefs Egon Krenz fand durchaus Unterstützung – zugleich genoss die örtliche SED-Führung in Person des ZKParteiorganisators im Kernkraftwerk oder des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Greifswald keinerlei Vertrauen; die Haltungen zum Neuen Forum schwankten zwischen Zustimmung und Ablehnung. Wie sehr die SED im Kernkraftwerk bereits an Anziehungskraft verloren hatte, zeigte der Umstand, dass aus dem Betriebsbereich der Instandhaltung mit seinen knapp 800 Angehörigen gerade einmal zwei der 30 gewählten Delegierten zu der Parteiveranstaltung erschienen waren. Vereinte die SED schon vorher lediglich eine große Minderheit der Arbeiter und Angestellten des Kernkraftwerkes, erreichte die Partei nun zunehmend weniger Betriebsangehörige. Folgerichtig musste die Stasi-Objektdienststelle nur kurz darauf am 10. November 1989 an die Stasi-Bezirksverwaltung in Rostock melden, dass der SED-Parteiorganisator des ZK und sechs weitere leitende Mitglieder der SED-Betriebsparteiorganisation im Kernkraftwerk ihrer Funktionen enthoben worden waren. Die Parteibasis begehrte unverhohlen auf und drang auf eine Neuorganisation der SED im Betrieb. Berichte über Amtsmissbrauch und Korruption bezeichneten sie als »schwere Verbrechen« und forderten personelle Konsequenzen bis hinauf in die zentrale Parteiebene.82 In der Folge der Öffnung der Berliner Mauer entwickelte sich die neue Reisefreiheit gen Westen zum Gesprächsthema Nummer eins. Auch viele Arbeiter und Angestellte des Kernkraftwerkes holten sich das ausgelobte Besuchergeld in der Bundesrepublik ab und gewannen einen Eindruck dortigen Einkaufsmöglichkeiten. Im Kernkraftwerk folgte derweil der Zerfall der SED. Mitte November 1989 hatten fünf von zehn Bereichsdirektoren ihren Parteiaustritt erklärt. Zu einer neuerlichen Parteiaktivtagung der Großbaustelle erschienen noch 85 der knapp 130 eingeladenen Genossinnen und Genossen. Sie bemühten sich derge82  Vgl. Bericht zu Tendenzen auf dem Gebiet der Stimmungen/Meinungen/Reaktionen v. 7.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 1, Bl. 46; Lagebewertung auf dem Gebiet der Stimmungen/Meinungen/Reaktionen v. 9.11.1989; ebenda, Bd. 2, Bl. 221–222; Tendenzen zur Lageentwicklung auf dem Gebiet der Stimmungen/Meinungen/Reaktionen v. 10.11.1989; ebenda, Bl. 106 f.

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stalt um einen Neuanfang, dass sie den vorbereiteten Rechenschaftsbericht der Betriebsparteileitung ablehnten und stattdessen einen neuen Leitungsstil, ehrliche Berichterstattungen, demokratische Parteiwahlen und die Nichteinmischung der Partei in betriebliche Fragen forderten. Über ihre Erneuerung hinaus ging es Ende November 1989 um die nackte Existenz der SED-Betriebsparteiorganisation im Kernkraftwerk. Immer neue Enthüllungen zu Korruption und Machtmissbrauch auf örtlicher und zentraler Ebene zogen eine Austrittswelle der Parteimitglieder nach der anderen nach sich.83

5.7 Umbau, Aktenvernichtung und Auflösung der Stasi Entsprechend der zentralen Anweisungen aus Ost-Berlin gab der Leiter der Stasi-­ Bezirksverwaltung Rostock, Generalleutnant Rudolf Mittag, seit dem 6. November 1989 mehrere Befehle zur Aktenvernichtung an die ihm unterstellten Diensteinheiten. Eine letzte, verschärfte Weisung datiert auf den 27. November 1989. Vernichtet werden sollten registrierte Vorgänge, Akten, operative Materialien, Informationen, Lageeinschätzungen, Personendossiers sowie Speicherinhalte. Ausgenommen von der Vernichtung war Material, von dem die Geheimpolizei glaubte, es für ihre künftige Arbeit nutzen zu können. Sämtliche Akten zu operativen Vorgängen, operativen Personenkontrollen und Informanten sowie Lageeinschätzungen und Analysen waren in das mittlerweile gebildete Bezirksamt nach Rostock zu verbringen. Als besonders wertvoll erachtete IM-Vorgänge und operative Vorgänge waren mit dem Vermerk »Archiv Berlin« zu kennzeichnen und damit für die zentrale Verwahrung in Ost-Berlin vorzubereiten. Dazu gehörten wichtige Informanten, die im Ausland zum Einsatz kamen oder als gewählte Abgeordnete, in der staatlichen Verwaltung und in den Parteien und Massenorganisationen arbeiteten ebenso wie Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen zu den Mitgliedern der Opposition. In den örtlichen Diensteinheiten der Geheimpolizei im Bezirk Rostock sollten nur Unterlagen verbleiben, welche die Offiziere unmittelbar für ihre Arbeit benötigten. Die Leiter der Diensteinheiten hatten die Vernichtung alles übrigen Materials in eigener Regie durchzuführen. Wichtig war bei all dem, dass die Bevölkerung davon möglichst wenig Wind bekommen sollte. Dazu wies der Rostocker Generalleutnant 83  Vgl. Information über Stimmungen, Meinungen und Reaktionen im Stammbetrieb KKW v. 20.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 67, Bl. 196; Bericht zur Stimmung/ Meinung/Reaktion v. 23.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 58 f. sowie Bericht zur Stimmung/Meinung/Reaktionen im Leitkaderbereich des VE Kombinates KKW »Bruno Leuschner« v. 22.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 74, Bl. 24–26; Berichterstattung zur Lage auf dem Gebiet der Stimmung/Meinung/Reaktionen der Bevölkerung im Verantwortungsbereich v. 9.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 20 f.; Bericht zur Lageentwicklung auf dem Gebiet der Stimmung/Meinung/Reaktionen v. 30.11.1989; ebenda, Bl. 7.

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Mittag an: »Die Vernichtung bzw. Auslagerung […] erfolgt […] unter strengster Geheimhaltung, Konspiration und Sicherheit.«84 Für die Stasi-Objektdienststelle im Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leusch­ ner« Greifswald ist eine großflächige Aktenvernichtung spätestens ab der zweiten Novemberwoche 1989 nachweisbar. Die Vernichtung von Akten und Arbeitsmaterialien durch die Geheimpolizei zog sich hier wenigstens bis zum 4. Dezember hin. Am gleichen Tag erfolgte ein zentraler Befehl zum Stopp der Aktenvernichtungen und der Abtransporte. Erst als ein Großteil der Akten vernichtet oder ausgelagert war, erfolgte am 5. Dezember 1989 die Begehung und Versiegelung der Stasi-Objektdienststelle durch zehn Angehörige des Kernkraftwerkes unter Anwesenheit des Leiters der Objektdienststelle und seiner Mitarbeiter, des Leiters des Betriebsschutzes und des Kreisstaatsanwaltes. Diese Vorgehensweise orientierte sich an den Hinweisen, die der amtierende Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit, Wolfgang Schwanitz, angesichts der DDR-weiten Besetzungen an die Diensteinheiten durchgestellt hatte. Tags darauf erfolgte am 6. Dezember 1989 auch die Versiegelung der Unterlagen der SED-Betriebsparteiorganisationen im Kernkraftwerk und einen weiteren Tag darauf die der Großbaustelle. Daran teil nahmen Vertreter des Neuen Forums, der SDP, der SED-Betriebsparteileitungen, des Betriebsschutzes und der Kreisstaatsanwalt. Bis dahin vernichteten die Offiziere der Staatssicherheit systematisch ihre Unterlagen und operativen Arbeitsmaterialien, unter anderem beinahe alle Arbeitsakten mit den Berichten der mehr als 200 inoffiziellen Mitarbeiter. Von der Spurenbeseitigung dagegen ausgeschlossen blieben die Personalakten der Informanten und deren karteimäßige Erfassung. Ebenfalls erhalten blieben die Kaderunterlagen zu den Geheimpolizei-Offizieren selbst, die im Bezirksamt Rostock und der Zentrale in Ost-Berlin lagen, deren Arbeitshefte sowie die Akten zu den operativen Vorgängen. Aus der laufenden Arbeit der Geheimpolizei im Kernkraftwerk sind im Stasi-Unterlagen-Archiv letztlich knapp sechs laufende Meter Schriftgut mit rund 300 Akteneinheiten überliefert. Diese Aktenmenge ist vergleichbar mit der solcher Kreisdienststellen wie Grimmen, Wismar und Wolgast, die sich ebenfalls im Zuständigkeitsbereich der Bezirksverwaltung Rostock befanden. Hinzu kommt eine unbekannte Menge an Material, das die Staatssicherheit bereits vor dem Herbst 1989 entsprechend ihrer Archivordnung in das Archiv überführt und gegebenenfalls vor der Kassation auf Mikrofilmen gesichert hat.85 84  Vgl. Weisung v. 27.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Leiter, Nr. 991, Bl. 1–9. Zur Stasi-Aktenvernichtung im Bezirk Rostock vgl. Höffer: »Der Gegner hat Kraft«, S. 55–57 sowie Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 3 f. Dort wird der erste Befehl zur Stasi-Aktenvernichtung im Bezirk Rostock mit 7. November 1989 angegeben. Und Süß: Staatssicherheit am Ende, S. 557. 85  Vgl. Kassationsprotokolle Oberleutnant Helmut Buck v. 18. u. 19.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 20, Bl. 39–48; Vernichtungsprotokoll v. 4.12.1989; ebenda, Bl. 38; Notiz Dienstberatung v. 9.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 50, Bd. 1, Bl. 375;

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Über das Verwischen ihrer Spuren hinaus betrieben die Offiziere der Geheimpolizei im Kernkraftwerkskombinat im Herbst 1989 die Planung ihrer Zukunft. Allen Ereignissen zum Trotz sahen sie das Ende der Staatssicherheit keineswegs zwangsläufig gekommen. Sie sahen sich in dieser Meinung allein schon durch den Glauben bestärkt, dass das Kernkraftwerk ein wichtiger Bestandteil der ostdeutschen Energiewirtschaft sei und als nukleare Anlage eines besonderen Schutzes bedürfe. Und die Zukunft des Kernkraftwerkes stellte seinerzeit zunächst kaum jemand offen infrage. Nach der Bildung des Amtes für Nationale Sicherheit Mitte November 1989 entstanden innerhalb der nunmehrigen »Dienststelle Kombinat KKW ›Bruno Leuschner‹ Greifswald« entsprechend der Vorgaben des Rostocker Bezirksamtes Vorschläge, in welcher Form die Staatssicherheit ihre Arbeit im Kernkraftwerk würde fortsetzen können. Auf den Tag genau zwei Wochen nach der Öffnung der Berliner Mauer datierte ein Strukturvorschlag vom 23. November 1989. Dieser sah vor, die Dienststelle als selbstständiges Referat innerhalb des Bezirksamtes Rostock zu erhalten. Von den bisher 24 hauptamtlichen Stellen sollten 13 bestehen bleiben. Neben dem Leiter und seinem Stellvertreter sollten dazu sechs weitere operative Mitarbeiter gehören, die Informanten führten. Die Geheimpolizei war also keinesfalls gewillt, die Arbeit mit ihren inoffiziellen Mitarbeitern einzustellen. Zu den hauptamtlichen Mitarbeitern hinzu sollten zwei Offiziere im besonderen Einsatz kommen, je ein OibE im Kernkraftwerk und einer auf der Großbaustelle. Aufgaben der Dienststelle im Kernkraftwerk sollten die Gewährleistung der nuklearen Sicherheit, der Terrorschutz sowie die Personalüberprüfung bleiben. Aus dem künftigen Zuständigkeitsbereich der Diensteinheit herausfallen sollte die Ortschaft Lubmin. Wenige Tage später entstand ein weiteres Papier, in dem die Diensteinheit ihre Überlegungen bekräftigte. Mit Verweis auf ein ähnliches Vorgehen in westlichen Ländern war darin die Sicherheitsüberprüfung des Kernkraftwerkspersonals herausgestellt. Der Haken war nur – wie die Geheimpolizisten selbst vermerkten –, dass es in der DDR keinerlei rechtliche Grundlage für ein solches Überprüfungsverfahren gab. Die Geheimpolizisten betrieben Ende November 1989 deshalb Lobbyarbeit in eigener Sache, damit der DDR-Ministerrat das ostdeutsche Atomenergiegesetz entsprechend ändere. Welche Brisanz sich hinter dem Vorstoß Bericht der Arbeitsgruppe KKW des Untersuchungsausschusses über die Untersuchungen der Dokumente der Objektdienststelle des MfS im KKW. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschlussbericht, S. 164–166 sowie Bericht über die Sichtung der Unterlagen der Grundorganisationsleitung der SED auf der Großbaustelle des KKW Nord und der Leitung der Betriebsparteiorganisation im Stammbetrieb des VE Kombinates KKW »Bruno Leuschner« Greifswald. In: ebenda, S. 154–163; Amthor: Ruhe in Rostock?, S. 230; Süß: Staatssicherheit am Ende, S. 616 ff. Baumann datiert die Begehung der Stasi-Objektdienststelle im KKW dagegen auf den 6. Dezember 1989. Vgl. Baumann: Dom und Stadt im Jahr 1989/90, S. 72 f. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Hg.): Neunter Tätigkeitsbericht. Berlin 2009, S. 120 sowie Knebel: Aktenverzeichnis.

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verbarg, zeigten die Vorstellungen zum künftigen Tätigkeitsfeld des »selbstständigen Referates Kombinat KKW ›Bruno Leuschner‹«. Dazu gehörten weiterhin die Arbeit mit den Informanten-Netzwerken der Führungs-IM, die Überwachung von privaten und beruflichen Westkontakten und auch die Kooperation mit dem DDR-Auslandsgeheimdienst. Diese Strategie, unter dem Druck der Friedlichen Revolution soviel Geheimpolizei wie nötig aufzugeben und soviel Geheimpolizei wie möglich erhalten zu wollen, lag voll auf der Linie der Ost-Berliner Zentrale und des Rostocker Bezirksamtes. So schlug der immer noch amtierende Rostocker AfNS-Chef Rudolf Mittag seinerzeit vor, im Bezirk Rostock drei der früheren zehn Stasi-Kreisdienststellen und eben die Diensteinheit im Kernkraftwerk zu erhalten.86 Das nunmehrige Amt für Nationale Sicherheit begleitete seine geheimen Pläne zum Umbau und Neubeginn mit einer Öffentlichkeits-Kampagne im Kernkraftwerk. Um die eigene Existenz zu retten, stellte die Geheimpolizei dabei die wirtschaftliche Bedeutung des Betriebes in den Vordergrund. Schon alleine aus der Existenz der nuklearen Anlage ergäbe sich das international übliche »Gebot« einer besonderen Sicherung vor Spionage, Terror oder Havarien. Als Beleg für ihre in der Vergangenheit erfolgreiche Arbeit glaubte die Staatssicherheit, mit den Operativen Vorgängen »Chlorid« und »Qualität« werben zu können. In ihnen war sie der Aufklärung großer Kraftwerksschäden nachgegangen. Der Leiter der Dienststelle Hans-Heinrich Hanke persönlich warb auf Veranstaltungen im Kernkraftwerk gegenüber Ingenieuren, Meistern und Lehrlingen für das Fortbestehen der Geheimpolizei im Betrieb. Auf solche Fragen wie: »Warum hat das MfS bestimmte Erscheinungen und Missstände geduldet und somit gedeckt?«87, konnte er freilich keine wirkliche Antwort geben. Gegenüber Feststellungen, die Staatssicherheit habe die Macht der alten SED-Führung jahrelang gestützt und die vielgerühmten Stasi-Informationen an die Partei seien letztlich unnütz gewesen, war er hilflos. Argumente, die bei der Betriebsbelegschaft aber durchaus auf offene Ohren stießen, waren das besondere Sicherheitsbedürfnis des Kernkraftwerkes 86  Vgl. Vorschlag v. 23.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 58, Bl. 29; Zuarbeit über Grundvorstellungen zur politisch-operativen Sicherung des Verantwortungsbereiches der Diensteinheit v. 22.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 20, Bl. 17–20; Vorschlag zu den Planstellen des künftigen Selbstständigen Referates Kombinat KKW »Bruno Leuschner« Greifswald v. 24.11.1989; ebenda, Bl. 21 sowie Vorschlag Struktur OD KKW (Betreiber und Baustelle) v. 24.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 546, Bl. 4; Information zum Vorschlag für die Überprüfung des Auftrages an das Amt für Nationale Sicherheit zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen zu Beschäftigten in Kernkraftwerken u. a. nuklearen Bereichen durch den Ministerrat der DDR v. 27.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 105, Bl. 4–8; Höffer: »Der Gegner hat Kraft«, S. 48–51; Süß: Staatssicherheit am Ende, S. 542 f. 87  Berichterstattung zur Lage auf dem Gebiet der Stimmung/Meinung/Reaktionen der Bevölkerung im Verantwortungsbereich v. 29.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 20 f., hier 21.

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oder das Verhindern eines vermeintlich drohenden Chaos. Eifrige Fürsprecher fand die Staatssicherheit freilich bei den Leitern der betrieblichen Inspektion, was wenig wundert, waren sie doch als Offiziere im besonderen Einsatz selbst für die Geheimpolizei tätig.88 Ab der zweiten Novemberhälfte 1989 berichtete die Staatssicherheit unter ihrer neuen Bezeichnung »Amt für Nationale Sicherheit, Dienststelle Kombinat KKW ›Bruno Leuschner‹ Greifswald« aus dem Kernkraftwerk. Die Gemütslage ihrer verbliebenen Informanten bewegte sich im Spannungsfeld zwischen Unsicherheit und Zweckoptimismus. Die einen hinterfragten Sinn und Nutzen ihrer bisherigen Tätigkeit, hatte doch die Stasi die Krise nicht verhindern können und war sogar ein Teil von ihr geworden. Andere hofften dagegen, »gemeinsam mit unserer neuen Parteiführung gegen Spekulation, Korruption und Bereicherung, aber auch gemeinsam gegen die Feinde der Republik zu kämpfen«.89 Die Zusammenarbeit mit ihren Informanten hatte die Geheimpolizei bis dahin keinesfalls aufgegeben, und so mancher von denen hielt seinerseits an der inoffiziellen Zusammenarbeit fest. Als künftige Einsatzgebiete ihrer Informanten vermerkte die Stasi noch Wochen nach der Öffnung der Berliner Mauer: die Sicherung der Wirtschaft, die nukleare Sicherheit, Spionage- und Terrorabwehr, verfassungsfeindliche Angriffe und Tendenzen, das Berichten über die Lage, Stimmungen und Reaktionen der Betriebsangehörigen sowie Rechtsradikalismus. Während Letzteres einen neuen öffentlichkeitswirksamen Schwerpunkt setzen sollte, wollte die Geheimpolizei damit zugleich den Kern ihrer bisherigen Tätigkeit bewahren. Noch am 30. November 1989 berichtete das nunmehrige Amt für Nationale Sicherheit aus dem Kernkraftwerk: »Bisher ist in den operativen Prozessen kein negativer Hinweis zu Wankelmut und Gedanken der Ablehnung der konspirativen Arbeit mit der Dienststelle KKW bekannt.«90 88  Bericht zur Lage auf dem Gebiet der Stimmung/Meinung/Reaktionen der Bevölkerung im Verantwortungsbereich der Dienststelle v. 21.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 74, Bl. 21 f.; Zuarbeit über Grundvorstellungen zur politisch-operativen Sicherung des Verantwortungsbereiches der Diensteinheit v. 22.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 20, Bl. 17–20. 89  Bericht zur Stimmung/Meinung/Reaktion im Leitkaderbereich des VEK KKW »Bruno Leuschner« v. 23.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 58 f., hier 59. 90  Vgl. Hauptauftrag für IMS »Marco« v. 29.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 28, Bl. 51 f.; Hauptauftrag für den IMS »Dietmar Schettler« v. 29.11.1989; ebenda, Bl. 53 f.; Hauptauftrag für den IMS »Hans Meier« v. 29.11.1989; ebenda, Bl. 54 f.; Hauptauftrag für den IMS »Bernd Springer« v. 29.11.1989; ebenda, Bl. 56 f.; Hauptauftrag für den FIM »Horst Brauer« v. 29.11.1989; ebenda, Bl. 58 f.; Hauptauftrag für den IMS »Robert Garbe« v. 29.11.1989; ebenda, Bl. 60 f.; Hauptauftrag für den FIM »Kurt« v. 24.11.1989; ebenda, Bl. 63; Hauptauftrag für den FIM »Günter« v. 29.11.1989; ebenda, Bl. 65; Hauptauftrag für FIM »F. Witt« v. 21.11.1989; ebenda, Bl. 68; IM-Aufstellung v. 22.11.1989; ebenda, Bl. 76–78; Zit.: Bericht zur Lageentwicklung auf dem Gebiet der Stimmung/Meinung/Reaktionen v. 30.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 7.

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Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit im Kernkraftwerk fügten sich Ende November 1989 den Fakten, die die Friedliche Revolution schuf. Einerseits revoltierten sie nicht, andererseits waren sie jedoch keinesfalls gewillt, ihre Arbeit einfach einzustellen. Letztlich mussten sie den Wandel vom »Schild und Schwert der Partei« hin zum »Machtorgan des Staates« akzeptieren. Anstatt der Erfüllung von SED-Aufträgen galt als ihre Vorgabe jetzt die »Durchsetzung des sozialistischen Rechts«. Der Leiter der Dienststelle im Kernkraftwerk, Hans-­ Heinrich Hanke, machte die taktische Vorgabe, die »notwendige Koalition mit [der] gegenwärtigen Opposition« sei eine »wichtige Basis für Erfolge«. Forschere Offiziere meinten: »Archive nutzen, um politische Gegner unmöglich zu machen (Diffamierung)«. Womöglich war die Stimmung unter den Stasi-Offizieren im Kernkraftwerk weniger niedergeschlagen als im übrigen Bezirk Rostock, weil sie im Zusammenhang mit der nuklearen Anlage als ihrem Arbeitsgegenstand mehr als andere an eine Fortexistenz glaubten.91 Jedoch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch unter den Offizieren im Kernkraftwerk Ratlosigkeit, Entmutigung bis hin zu Verzweiflung um sich griffen. So schrieb der Inspektionsbeauftragte im Kernkraftwerk alias OibE »Haff« Mitte November 1989 sichtlich erschüttert und orientierungslos an einen Offizier: Es ist für mich […] unverständlich, dass unsere Partei und Regierung es zugelassen hat, dass unsere Republik an den Rand des Abgrundes gewirtschaftet wurde. […] Wenn es auch brutal klingt, ich vertrete den Standpunkt, dass das MfS auch Anteil an der entstandenen gegenwärtigen, für unsere sozialistische Gesellschaft so kritischen Situation hat. […] Warum haben wir es zugelassen, dass unsere Partei jetzt vor einem politischen Scherbenhaufen steht und alle ehrlichen Bürger um den Bestand unserer sozialistischen Gesellschaft bangen müssen? Warum sind wir nicht rigoros als Tschekisten gegen alle (Ich betone: gegen alle!) vorgegangen, die den Bestand der sozialistischen Verhältnisse gefährdeten? […] Was haben wir mit den vielen wertvollen Informationen gemacht, die durch fleißige und verantwortungsbewusste tschekistische Tätigkeit gewonnen wurden? […] Fragen über Fragen, Genossen, die mich bewegen und auf die ich mir gegenüber zur Zeit keine Antwort weis. [sic!]92

Extremer Einzelfall waren Selbsttötungsgedanken des Referatsleiters für Auswertung und Information in der früheren Stasi-Objektdienststelle und dessen Wunsch, die Geheimpolizei zu verlassen. Die daraus resultierende Entlassung Ende November 1989 fügte sich in die ohnehin geplanten Struktur- und Personal­ veränderungen der Staatssicherheit im Bezirk Rostock ein.93 91  Protokollnotiz MV (SED-Mitgliederversammlung) v. 27.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 105, Bl. 11 f., hier 12. 92  Schreiben v. 13.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 304, Bl. 1–7. 93  Vgl. Vorschlag zur Entlassung wegen struktureller Veränderungen v. 21.11.1989; BStU, MfS, BV Rostock, KS II 149/90, Bl. 96–100. Zur Stimmung der Stasi-Offiziere im Bezirk Rostock ab Ende Oktober 1989 Höffer: »Der Gegner hat Kraft«, S. 44–46.

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Am 12. Dezember 1989, eine Woche nach der ersten Begehung ihrer Dienst­ räume, zog sich die Geheimpolizei – zumindest in räumlicher Hinsicht – endgültig aus dem Kernkraftwerk zurück. Damals übergab der Leiter der AfNS-Dienst­ einheit, Hans-Heinrich Hanke, die Arbeitsräume samt Sicherheitskabinett, Werkstatt und Garagen sowie aller verbliebenen Einrichtungsgegenstände wie Möbel, Aktenschränke, Radios, Fernseher und Kühlschränke an die Verwaltung des Kombinates. Ähnlich wie beim Vorgehen zur Aktenvernichtung, der Begehung der Objektdienststelle und der Sicherung der noch verbliebenen Akten hielt sich die Geheimpolizei im Kernkraftwerk auch bei ihrer räumlichen Auflösung an die zentralen Vorgaben aus Ost-Berlin. Der Leiter des AfNS hatte nur drei Tage zuvor befohlen, die örtlichen Diensteinheiten in den Kreisen bis zum 12. Dezember 1989 aufzulösen und die Mitarbeiter dort zu beurlauben. Und tatsächlich hieß es innerhalb der Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft) in der Ost-Berliner Zentrale an jenem Tag, dass alle ehemaligen Kreis- und Objektdienststellen aufgelöst seien. Ende Februar 1990 folgte durch das mittlerweile in Auflösung befindliche Bezirksamt für Nationale Sicherheit Rostock schließlich auch die formale Kündigung ihres Nutzungsvertrages über die Räumlichkeiten im Kombinat Kernkraftwerke. Der mittlerweile in den Rang eines Oberstleutnants aufgestiegene Hanke wurde Ende Januar 1990 aus dem Dienst der Staatssicherheit entlassen.94 Mit den Anfang Dezember 1989 sichergestellten Stasi-Unterlagen ging man in Greifswald in der Folge sehr konsequent um. Diese wurden vergleichsweise spät, nämlich im April 1990, von Greifswald in ein Objekt der ehemaligen Stasi-Bezirksverwaltung Rostock nach Waldeck gebracht. Zuvor sichtete ein Untersuchungsausschuss die Hinterlassenschaften der Geheimpolizei. Dieser Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald zur Aufdeckung von Korruption und Amtsmissbrauch wurde am 5. Dezember 1990 unmittelbar nach den Aktensicherungen vom Vortag gebildet. In ihm arbeiteten Vertreter der alten und der neuen politischen Gruppierungen, Parteien, Massenorganisationen und der Kirche. Zu den neuen politischen Kräften gehörten in Greifswald das Neue Forum, die Sozialdemokratische Partei, der Demokratische Aufbruch und die Unabhängige Studentenschaft. Der Untersuchungsausschuss umfasste die fünf Arbeitsschwerpunkte Stasi-Kreisdienststelle, SED-Kreisleitung, SEDBetriebsparteiorganisationen im KKW, Stasi-Objektdienststelle im KKW und schließlich Rat der Stadt. Damit beschritt man in Greifswald den Weg von der Überwindung der SED-Diktatur zu deren Aufarbeitung frühzeitig. Durchaus stolz darauf bemerkte ein Zeitzeuge dazu später: »DDR-weit ist die Hansestadt Greifswald der einzige Kreis gewesen, in dem die Einwohner selbst die Akten 94  Vgl. Übergabe-/Übernahmeprotokoll v. 12.12.1989; BStU, MfS, BV Rostock, RD, Nr. 374, Bd. 6, Bl. 83–120; Kündigung eines Nutzungsvertrages v. 28.2.1990; BStU, MfS, BV Rostock, RD, Nr. 330, Bd. 2, Bl. 51; Süß: Staatssicherheit am Ende, S. 661; Buthmann: Hochtechnologien, S. 48 f.; Kaderkartei Hans-Heinrich Hanke; BStU, MfS, BV Rostock.

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gesichtet hatten.«95 Am 29. März 1990 stellte der Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht vor. Mit der Mensa wurde dafür ein symbolischer Ort der Friedlichen Revolution in Greifswald gewählt. Der Abschlussbericht dokumentiert Strukturen, Mechanismen und Wirkungsweise der SED-Diktatur in der Universitäts- und Hansestadt.96

95  Festvortrag des Ehrensenators Dr. Reinhard Glöckner. In: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.): Verleihung der Ehrensenatorwürde, S. 37. 96  Vgl. Vorwort. In: Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald (Hg.): Abschluss­ bericht, o. Pag. Zu den gefälschten Kommunalwahlen ebenda, S. 19 f. u. 25. Abschlussbericht der Arbeitsgruppe »Rat der Stadt« v. 14.3.1990; ebenda, S. 167–182, hier 168; Festvortrag des Ehrensenators Dr. Reinhard Glöckner. In: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.): Verleihung der Ehrensenatorwürde, S. 36; Baumann: Dom und Stadt im Jahr 1989/90, S. 65 u. 70 f.; Höffer: Greifswald, S. 10 f.

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Abb. 51: Gemeinsames Flugblatt des Neuen Forums und der SDP in Greifswald vom November/Dezember 1989. Während der Friedlichen Revolution wandelten sich die anfänglichen Forderungen nach Reformen in der DDR hin zur Überwindung der SED-Diktatur. Ende des Jahres drohte die neue Opposition dafür auch mit Streik.

6. Das Ende Vor allem bis Ende 1989 dürften die Arbeiter und Angestellten des Kernkraftwerkes bei Greifswald gehofft haben, dass die Friedliche Revolution Zukunftschancen für ihren Betrieb mit sich brächte. Denn Strom würde ungeachtet aller politischen Wendungen gebraucht. Und der Zugang zu westlicher Technik würde nun womöglich einfacher, um das Kraftwerk zu modernisieren. Auch einer Neuordnung der Betriebsstrukturen jenseits der SED-Bürokratie und des Wirtschaftszentralismus dürfte mancher hoffnungsfroh entgegengeblickt haben. Doch es kam anders. Das ostdeutsche Strahlenschutzamt sperrte den Reaktor 5 nach einem Störfall bereits im November 1989 für den weiteren Probebetrieb. Wenige Tage nach der Öffnung der Berliner Mauer hatte der DDR-Ministerrat kurz zuvor am 13. November die Geheimhaltung von Umweltdaten aufgehoben. Mit dieser Öffnung der SED-Diktatur nach Außen und im Innern war eine neue Öffentlichkeit geschaffen. Es war deshalb kein Zufall, dass die DDRMedien noch im gleichen Monat erstmals eine Meldung über einen Störfall im Kernkraftwerk bei Greifswald veröffentlichten.1 Die entscheidenden Weichenstellungen für die Zukunft der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft fanden Anfang 1990 in einem extrem politisierten Umfeld statt. Der zeitliche Zusammenfall vom Ende der SED-Diktatur und dem Ende der industriellen Nutzung der Kernenergie mittels sowjetischer Technologie war dabei kein Zufall. Er war vielmehr Ausdruck vom Ende der strukturellen Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der SED-Diktatur. Mit dem Ende des politischen und wirtschaftlichen Zentralismus entstand eine politisch wirksame Zivilgesellschaft, die Informations- und Meinungsfreiheit einforderte. Erstmals im ostdeutschen Staat überhaupt wurde ergebnisoffen über die Nutzung der Kernenergie diskutiert. Freilich war die Anfang 1990 einsetzende Debatte interessengeleitet. Zum Teil sehr gegensätzliche politische, wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Interessen innerhalb der DDR und zwischen dem ostdeutschen und dem westdeutschen Staat trafen hier aufeinander.2 Die DDR und die Bundesrepublik vereinbarten ein gemeinsames Gutachten zur nuklearen Anlage durch die westdeutschen Prüfanstalten Gesellschaft für Reaktorsicherheit und Technischer Überwachungsverein (TÜV). Das war der Auftakt für eine »Politik der Gutachten« zur Zukunft des Kernkraftwerkes. Auch die 1  Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 34 f., 42, 45, 51 f. u. 77; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 71. 2  Nagel: Atomingenieur, S. 130 u. 132 ff.; Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 80 ff.; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 76.

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DDR-Regierung gab ein Gutachten in Auftrag. In diesem kamen sowohl die Internationale Atomenergiebehörde IAEO als auch der sowjetische Projektant zu dem Schluss, ein Weiterbetrieb sei möglich.3 Und auch der Zentrale Runde Tisch in Ost-Berlin vergab ein weiteres Gutachten. Bereits Mitte Dezember 1989 setzte die Vereinigte Linke (VL) das Thema Kernkraftwerke hier auf die Tagesordnung. Ihr Vertreter befragte die DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft zu Verhandlungen mit westdeutschen Unternehmen über den Einstieg in die ostdeutsche Kernenergiewirtschaft. Auf der folgenden Zusammenkunft Ende Dezember 1989 forderte Sebastian Pflugbeil (Neues Forum) daraufhin den Stopp möglicher Importe westdeutscher Kernkraftwerke und stattdessen die Ausarbeitung einer alternativen Energiepolitik. Mitte Januar 1990 konfrontierte die ostdeutsche Grüne Partei die DDR-Regierung am Runden Tisch mit bis dahin völlig unbeachteten Aspekten der Kernenergiewirtschaft. Dazu gehörten die Entsorgung abgebrannter Brennstoffkassetten und die Stilllegungskosten für Kernkraftwerke. Während der nachfolgenden Sitzungen des Runden Tisches Ende Januar und Anfang Februar 1990 stellte sich auch der Generaldirektor des Kernkraftwerkskombinates, Reiner Lehmann, den Fragen. Er erfuhr bei dieser Gelegenheit, dass der Runde Tisch ein durchaus unbequemes Revolutionsmöbel war. So verlangte Ulrike Poppe von der Bürgerrechtsbewegung Demokratie Jetzt mit Hinblick auf aktuelle Medienberichte Auskunft: »Wie sieht es denn tatsächlich mit der Sicherheit dieses Kernkraftwerkes aus?« Als Antwort gab der Generaldirektor der DDR-Öffentlichkeit erstmals zu Protokoll: »Es sind dies Konstruktionen aus den 1960er-Jahren, und sie entsprechen den Mindestanforderungen heutiger Kernkraftwerkstechnik. Sie bedürfen dringend der Rekonstruktion. Entsprechende Rekonstruktionsmaßnahmen sind vorbereitet.«4 Lehmann machte sich gleichwohl für einen Weiterbetrieb des Kernkraftwerkes stark und distanzierte sich bei dieser Gelegenheit von der alten SED-Energiepolitik, die er selbst bis zuletzt umgesetzt hatte. Auch die Regierung unter Hans Modrow hielt an der schrittweisen Fertigstellung der Kernkraftwerke bei Greifswald und Stendal fest. Die neuen ostdeutschen Parteien und Vereinigungen ihrerseits stellten Ende Januar 1990 am Runden Tisch einen Antrag auf die sofortige Stilllegung der Greifswalder Reaktoren 1 bis 4. Eine Entscheidung darüber vertagte der Runde Tisch zunächst und beschloss dann, die Ergebnisse der laufenden Gutachten abzuwarten.5 3  Nagel: Atomingenieur, S. 116 f.; Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 56 u. 60; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 75; Abele: Kernkraft, S. 105; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 73 f. 4  Vgl. Protokoll 10. Sitzung v. 29.1.1990. In: Thaysen (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR, Bd. III, S. 549–619, hier 562 f. 5  Vgl. Protokoll 3. Sitzung v. 22.12.1989. In: Thaysen (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch, Bd. I, S. 154–184, hier 166; Protokoll 10. Sitzung v. 29.1.1990; ebenda, Bd. III, S. 549–619, hier 559; Protokoll 11. Sitzung v. 5.2.1990; ebenda, S. 620–699, hier 684 f. u. 686 f.; Neues

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Seit Anfang Februar 1990 waren über den Zentralen Runden Tisch mehrere Vertreter der neuen Parteien und Vereinigungen an der Regierung Modrows beteiligt. Einer von ihnen war Sebastian Pflugbeil (Neues Forum) als Minister ohne eigenen Geschäftsbereich. Pflugbeil nutzte seinen Zugang zum vormaligen SED-Herrschaftswissen zur Ausarbeitung des Rund-Tisch-Gutachtens und kam zu dem Schluss, dass die Greifswalder Reaktoren 1 bis 4 wegen erheblicher Sicherheitsdefizite sofort abgeschaltet werden müssten. Als engagierter KernkraftwerksKritiker wies er auch Jahre später noch darauf hin: »Dass die DDR von einer schweren KKW-Katastrophe verschont geblieben ist, war unerhörtes Glück. […] Die Menschen in der DDR wurden belogen und hohen Risiken ausgesetzt.« Zugleich betonte er den Umstand, dass die fehlende Information der Öffentlichkeit keinesfalls nur eine Angelegenheit der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft war: »Geheimhaltung unerfreulicher Daten war kein Privileg der DDR. Wir können davon ausgehen, dass beispielsweise die AKW in den alten Bundesländern längst abgeschaltet wären, wenn einer der Umweltminister die Berichte über die Sicherheitsmängel der westdeutschen AKW an die Öffentlichkeit gebracht hätte.«6 Das Gutachten der westdeutschen GRS und des TÜV wurde im Juni 1990 veröffentlicht. Es enthielt ein zwiespältiges Ergebnis. Den älteren Greifswalder Reaktoren bescheinigte das Papier deutliche Mängel. Noch einmal war hier benannt, was die ostdeutschen Fachleute insgeheim seit Längerem wussten: die fehlende räumliche Trennung und Mehrfachauslegung der Sicherheitssysteme, das mangelhafte Notkühlsystem, die leistungsschwachen Sicherungssysteme, das Fehlen eines Containments sowie die versprödeten Reaktordruckgefäße. Aus der Perspektive der Gutachter waren auch die Messtechnik und die Anlagensteuerung unzuverlässig und nicht mehr zeitgemäß. Weniger drastisch fiel das Urteil zu den jüngeren Reaktoren aus. Die Gutachter sahen hier deutlich günstigere Möglichkeiten einer technischen Nachrüstung auf den internationalen Standard. Hinsichtlich des Greifswalder Betriebspersonals kamen sie zu einem weniger positiven Urteil. Hier stellten die Gutachter eklatante Mängel in der Betriebsführung, Eingriffe in den Reaktorschutz, unzureichende Umsetzung der Betriebserfahrungen und kein sonderlich ausgeprägtes Sicherheitsbewusstsein fest. Das gewann vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass als Teil der Greifswalder Sicherheitsphilosophie galt, bekannte technische Mängel durch gut ausgebildetes und streng diszipliniertes Personal auszugleichen.7 Forum: Anfragen an den Runden Tisch am 27.12.1989; ebenda, Bd. V, S. 39 f.; Grüne Partei: Anfragen an die Regierung v. 22.1.1990; ebenda, S. 116; Antrag v. 29.1.1990; ebenda, S. 171 sowie Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 61 f. 6  Vgl. Sebastian Pflugbeil. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kom­ mission, S. 576 f.; Zitate: ders.: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme, S. 9; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 74 u. 78; Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 83 f. 7  Nagel: Atomingenieur, S. 128 f.; Müller: Kernenergie, S. 72 f. u. 134–137; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 75; Schönherr: Greifswald, S. 302 f.; Abele: Kernkraft, S. 71 u. 105–107;

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Mit Verweis auf den unklaren Zustand der Reaktordruckgefäße empfahlen GRS und TÜV bereits in einem ersten Zwischenbericht das Abfahren der Reaktoren 2 und 3. Das erfolgte bis Ende Februar 1990. Auf der Grundlage des vollständigen Gutachtens beschloss die mittlerweile gewählte DDR-Regierung unter dem Ministerpräsidenten Lothar de Maizière auch das Abschalten der verbliebenen Reaktoren 1 und 4. Das erfolgte am 18. Dezember 1989 bzw. am 2. Juni 1990. Der neue DDR-Regierungschef bewies dabei erstaunliche Lernfähigkeit. Noch in seiner Regierungserklärung vom 19. April 1990 hatte de Maizière den Abgeordneten der ersten frei gewählten Volkskammer vorgetragen: Wir gehen davon aus, dass wir wohl auf absehbare Zeit nicht auf die Nutzung von Kernenergie verzichten können. Die Gutachten werden hier das entscheidende Wort zu sprechen haben. Wir werden nach der Entscheidungsfindung die vorhandenen Kernkraftwerke durch Rekonstruktion und Modernisierung auf international geltenden Sicherheitsstandard zu bringen haben.8

Deutlicher wurde Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung vom 4. Oktober 1990, einen Tag nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik: »Die Kernkraftwerke entsprechen in keiner Weise unseren Sicherheitsanforderungen. […] Inzwischen haben wir bereits vier der fünf Kernkraftwerke abgeschaltet. Der letzte Kernkraftwerksblock in Greifswald wird in Kürze ebenfalls vom Netz genommen werden.«9 Die Zurufe von SPD-Abgeordneten »Unsere auch nicht!« oder »Und was ist mit Stade?« deuteten bereits an, dass der Ausstieg aus der Kernenergie keinesfalls ein rein ostdeutsches Thema war. Die Medien begleiteten die Entscheidung über die Zukunft des Kernkraftwerkes bei Greifswald seit Anfang 1990 derweil mit einer im ostdeutschen Staat bis dahin nicht gekannten Pressearbeit. Die westdeutschen Medien berichteten dabei kritischer über die DDR-Kernkraftwerke als die ostdeutschen. Den Hintergrund dafür bildete unter anderem eine deutliche kritischere Haltung der bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber der industriellen Nutzung der Kernenergie. Hinzu kamen auf westdeutscher Seite »eine gewisse Überheblichkeit«,10 Bilder und Stereotypen zu minderwertiger und unsicherer Ost-Technik, die zumindest in Teilen einen realen Kern hatten. Die westdeutsche Zeitschrift Der Spiegel berichtete im Januar und Februar 1990 mehrfach über die veraltete sowjetische Technik und Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 72 f.; Horlamus: Kernenergiewirtschaft, S. 45. 8  Regierungserklärung Lothar de Maizière v. 19.4.1990. In: Regierungspressedienst der DDR, Nr. 12 v. 23.4.1990, S. 1–8, hier 4; zit. nach: www.deutsche-einheit-1990.de/wp-content/ uploads/BArch-DC20-1-3-2944_Regerkl.pdf, abgerufen am 23.2.2018. Auch Högselius: Deutschdeutsche Geschichte, S. 70–73. 9  Regierungserklärung zur Politik der ersten gesamtdeutschen Bundesregierung v. 4.10.1990, www.helmut-kohl-kas.de/index.php?menu_sel=17&menu_sel2=&menu_sel3=&menu_sel4= &msg=1374, abgerufen am 23.2.2018; auch Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 91. 10  Abele: Kernkraft, S. 105.

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zurückliegende Störfälle. Diese Berichte standen unter Schlagzeilen wie »Zeitbombe ›Tschernobyl Nord‹«, »Zeitbombe Greifswald« und »Russisches Roulette in Greifswald«.11 Auch ein Vertreter des ostdeutschen Strahlenschutzamtes kam dort zu Wort. Dieser bekräftigte die Haltung, eine Modernisierung der Reaktoren 1 bis 4 sei aufwendig, erreiche nicht das internationale Sicherheitsniveau und eine Stilllegung läge deshalb im Bereich des Möglichen. Zugespitzte Berichterstattungen wie die des Spiegels hatten unbeabsichtigte Langzeitfolgen. Denn sie provozierten Deutungen, es habe durch die westdeutsche Anti-Kernkraftwerksbewegung und die westdeutschen Energieversorgungsunternehmen einen konzertierten »Schlag gegen Lubmin« gegeben.12 Die Reaktion der Greifswalder Arbeiter und Angestellten auf die westdeutschen Medienberichte bewegte sich derweil zwischen Empörung und Hilflosigkeit. Wegen der zurückliegenden Geheimhaltung in der SED-Diktatur verfügten sie kaum über faktisches Wissen oder inhaltliche Argumente in Sachen nukleare Sicherheit. Weil ihre Lebensleistungen und Berufsbiografien zum Spielball von Politik, Wirtschaft und Medien verkamen, waren sie gemeinschaftlich emotional betroffen. Anfang Februar 1990 besuchten knapp 1 500 Besucher einen Tag der offenen Tür im Kernkraftwerk. Und einen Tag, nachdem die ungeklärte Zukunft des Betriebes Verhandlungsgegenstand am Zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin war, demonstrierten am 6. Februar 1990 in Greifswald knapp 5 000 Menschen für das Kernkraftwerk und den Erhalt der Arbeitsplätze dort. Das stand durchaus stellvertretend für die unterschiedliche gesellschaftliche Akzeptanz der Kern­ energiewirtschaft im geteilten Deutschland. Während in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren ein gesellschaftliches Bündnis aus regionalen Akteuren und Umweltschützern gegen Kernkraftwerke protestierte, demonstrierten Anfang 1990 mehrere Tausend Greifswalder für den Erhalt »ihres« Kernkraftwerkes. Es war dies ein ostdeutsches Gegenstück zu den Pro-Kernkraftwerksprotesten von Betreibern, Arbeitnehmervertretern und Gewerkschaften der westdeutschen Kernkraftwerke in den 1970er- und 1980er-Jahren.13

11  Vgl. Der Spiegel v. 22.1.1990, Heft 4/1990, S. 85–87; Der Spiegel v. 29.1.1990, Heft 5/1990, S. 30–45; Spiegel-Spezial v. 1.2.1990, Heft 2/1990, S. 74–78. 12  »Eine Stilllegung ist möglich.« DDR-Atomexperte Helmut Rabold über Risiken im KKW Greifswald. In: Der Spiegel v. 5.2.1990, Heft 6/1990, S. 114–118, hier 115 f.; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 38, 73 f. Vgl. Interview Reinhard Arenskrieger: Greifswald liegt 50 Kilometer nördlich von Dresden … In: Mellies; Möller: Greifswald 1989, S. 65–72, hier 70; Abele; Hampe: Kernenergiepolitik, S. 74. 13  Vgl. Tilo Braune in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission, S. 582. Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 74–76; Einzige Lösung – KKW dichtmachen? In: Ostsee-Zeitung v. 7.2.1990, S. 1, abgedruckt in: ebenda, S. 77. Vgl. Interview Hübler: Sicherheit, S. 161; Baumann: Dom und Stadt im Jahr 1989/90, S. 72 f.; Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 65 u. 68. Ich danke Patrick Wagner für den Hinweis auf die Pro-Kernkraftwerksdemonstrationen in der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre.

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Die Mehrzahl der Arbeiter und Angestellten des Greifswalder Kernkraftwerkes fand sich am ehesten in solchen Deutungen wieder, wie sie ein westdeutscher Fachmann noch im Jahr 2001 bemühte: »Die Blöcke 1 bis 4 des Kernkraftwerkes Greifswald weisen sehr ordentliche Betriebsergebnisse hinsichtlich ihrer durchschnittlichen Stromerzeugung und Verfügbarkeit auf, obwohl es eine hohe Zahl von Unregelmäßigkeiten gab. Die Unregelmäßigkeiten waren jedoch nur in verhältnismäßig wenigen Fällen sicherheitsrelevant.«14 Demzufolge waren es die Arbeiter, Angestellten, Ingenieure und Wissenschaftler der ostdeutschen Kernenergiewirtschaft, die die sowjetischen Kernkraftwerke bändigten. Unter oftmals schwierigen Bedingungen produzierten sie den Strom, den die DDR-Bevölkerung ganz selbstverständlich Tag für Tag verbrauchte. Anstatt der zwischenzeitlich geplanten Betriebszeit von 30 Jahren war der älteste Greifswalder Reaktor 1 lediglich 17 Jahre in Betrieb, der jüngste brachte es gerade einmal auf elf Jahre. Die Reaktoren 5 bis 8 gingen nie in den Dauerbetrieb. Das Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald wurde im Zuge der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 1. Juli 1990 und der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 zunächst in die Energiewerke Nord AG und später in die Energiewerke Nord GmbH umgewandelt. Eigentümer war die mittlerweile gegründete Treuhandanstalt. Weil Sicherheitsnachweise fehlten und sich kein Unternehmen an die Umsetzung der als möglich erachteten Modernisierung wagte, erfolgte im Februar 1991 die Stilllegung von Reaktor 5. Die EWN begründete ihren formalen Stilllegungs­ beschluss vom Juli 1991 mit ungelösten finanziellen und genehmigungsrechtlichen Problemen, die für die Behebung der technischen Sicherheitsdefizite bestanden. Der infrage gestellte ostdeutsche Konsens zur Kernenergie, die unklaren politischen Rahmenbedingungen und die unsichere Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg schreckten potenzielle Investoren ab. Zwei Drittel der bis dahin knapp 5 000 Arbeiter und Angestellten des Kernkraftwerkes waren mittlerweile in sogenannter »Kurzarbeit null«. Im Jahr 1995 begann die Stilllegung des Greifswalder Kernkraftwerkes. Die Energiewerke Nord veranschlagten dafür zwischenzeitlich 6 Milliarden DM. Im September 2016 wies eine neue Kostenkalkulation dann mehr als 6 ½ Milliarden Euro für die Stilllegung und den Abbruch der beiden ostdeutschen Kernkraftwerke Greifswald und Rheinsberg aus.15 14  Müller: Kernenergie, S. 203. Müller war zwischen 1956 und 1984 Chefredakteur der westdeutschen Zeitschrift Atomwirtschaft, zwischen 1970 und 1991 war er Mitherausgeber des Jahrbuchs der Atomwirtschaft. 15  Vgl. Information Nr. 5/89, Auskunftsangaben zur Prognose und Beurteilung der Folgen nuklearer Unfälle in Kernanlagen mit möglichen sofortigen Auswirkungen für das Hoheitsgebiet der DDR, Auskunftsangaben Kernanlagen; BStU, MfS, Wachregiment, Nr. 10314, Bl. 1–10, hier 6; Radkau; Hahn: Atomwirtschaft, S. 351; Oberdörfer; Binder: Energiegigant, S. 123 f.; Sebastian Pflugbeil in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission, S. 583 f.; Högselius: Deutsch-deutsche Geschichte, S. 91, 95–97 u. 103 f.; Müller: Kernenergie,

7. Schlussbetrachtung Die Staatssicherheit im Kernkraftwerk bei Greifswald war nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Diensteinheit unter anderen im Mielke-Kombinat. Als »Schild und Schwert der Partei« bildete ihre Aufgabe die Sicherung des Führungsanspruches und der Politik der SED. Dafür überwachte die Stasi Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im ostdeutschen Staat. Im Kernkraftwerk Greifswald kamen für die Geheimpolizei spezifische Aufgaben hinzu, die sich aus der Bedeutung der nuklearen Anlage als großer Stromproduzent ergaben. Neben der technischen Anlage kontrollierte und überwachte die Stasi die Arbeiter und Angestellten, die Wirtschaftsbeziehungen des Betriebes, dessen West-Kontakte, beteiligte sich an Industriespionage, half, das nukleare Risiko gegenüber der Bevölkerung geheim zu halten und sie verfolgte politische Querdenker, Oppositionelle sowie Ausreiseantragsteller weit über die Betriebsgrenzen hinaus. Dafür unterhielt die Geheimpolizei ein großes Netz von Informanten, häufte Informationen an und fertigte zahllose Berichte. Gemessen an ihrem eigenen Anspruch, politische und wirtschaftliche Schäden im Vorhinein verhindern zu wollen, fuhr die Stasi regelmäßig Misserfolge ein. Auch die Stasi im Kernkraftwerk bei Greifswald diente der SED-Diktatur und nicht den Menschen in ihr. Damit schien das Szenario vom »Atomstaat« (Robert Jungk)1, das in der Bundesrepublik seit Ende der 1970er-Jahre als Gleichnis für das undemokratische Zusammengehen von Überwachungsstaat und Kernenergiewirtschaft galt, in der DDR wahr geworden zu sein. Als der »Atomstaat« in den Farben der DDR 1990 unterging, offenbarte sich das doppelte Scheitern der Geheimpolizei. Sie erreichte weder ihr politisches Ziel der SED-Herrschaftssicherung, noch erfüllte sie ihre wirtschaftliche Aufgabe, Voraussetzungen für eine leistungsstarke ostdeutsche Kernenergiewirtschaft schaffen zu helfen. Das politische Scheitern der Stasi und die gegenüber dem Westen vergleichsweise leistungsschwache ostdeutsche Kernenergiewirtschaft passten sich dabei in das Gesamtbild der ostdeutschen Krise 1989/90 ein. Im Ergebnis steht die Staatssicherheit im Kernkraftwerk pars pro toto für die SED-Geheimpolizei insgesamt. Gleich einem Panoptikum im Mielke-Kombinat finden sich hier politische Aufgabenstellung, militärische Struktur sowie geheimS. 208 f.; Schönherr: Greifswald, S. 303–305; Nagel: Atomingenieur, S. 128 f.; Energiewerke Nord GmbH (Hg.): Die Chronik, S. 9; dies. (Hg.): Kernkraftwerk Greifswald. Vom Aufbau bis zur Stilllegung. Rubenow 1995, S. 13; Martina Rathke: Abriss in Lubmin – Erster Schornstein am Atommeiler fällt. In: Ostsee-Zeitung v. 23.9.2016, S. 6; Radioaktive Abfälle bis 2055 in Lubmin? v. 29.12.2016, unter: https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/ Radioaktive-Abfaelle-bis-2055-in-Lubmin,lubmin574.html, abgerufen am 23.2.2018. 1  Robert Jungk: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. München 1977.

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Schlussbetrachtung

polizeiliche Arbeit und Wirken. Bis zuletzt galt als Vorgabe der untrennbar miteinander verflochtene Zweiklang aus politischer und wirtschaftlicher Schadensabwehr. Dabei blieb die Stasi im Kernkraftwerk insbesondere auf ihrem wirtschaftlichen Tätigkeitsfeld auffällig blass. Bei Störfällen – auch bei nuklearen Störfällen – wurde sie erst im Nachhinein aktiv. Den aufwendigen Nachbau von West-Technik konnte sie nicht geheim halten. Ihr Einsatz zur Fertigstellung des Kernkraftwerkes blieb ohne Ergebnis. Durchwachsen erscheinen auch die politischen Erfolge der Geheimpolizei. Als zweifelhafte Leistung kann sie für sich in Anspruch nehmen, an der Geheimhaltung des nuklearen Risikos vor der DDRBevölkerung beteiligt gewesen zu sein. In Einzelfällen erfolgreich im Sinne ihres Auftrags war die Stasi bei der Überwachung und Verfolgung von ihr missliebigen Arbeitern und Angestellten sowie Ausreiseantragstellern. Dafür legte sie politische Maßstäbe an, die im Zweifel den wirtschaftlichen Interessen des Kernkraftwerkes zuwiderlaufen konnten. Mitunter spektakuläre Beispiele zeigen aber auch, dass die scheinbar Allmächtige im Kernkraftwerk über ein nur löchriges Informantennetz verfügte, inoffizielle Mitarbeiter sich der Zusammenarbeit entzogen oder erst gar nicht darauf einließen. In den späten 1980er-Jahren entglitten der Stasi zudem die Überwachung und Kontrolle politischen Protestverhaltens zusehends. Auf die Frage, ob die Staatssicherheit im Kernkraftwerk am Greifswalder Bodden einen großen nuklearen Störfall verhindert hat, ist vernünftigerweise nur eine indirekte Antwort möglich. Dass es an der Ostsee zu keinem Super-GAU kam, war wohl eher ein begrüßenswerter historischer Zufall und weniger das Ergebnis einer systematischen Stasi-Tätigkeit. Zwar nahm die nukleare Sicherheit einen zunehmend großen Stellenwert in ihrer Tätigkeit ein. Und alleine die örtliche Präsenz der Staatssicherheit mag auf die Arbeiter und Angestellten einen gewissen psychologischen Effekt gehabt haben, nicht durch Verstöße gegen Ordnung und Sicherheit auffallen zu wollen. Die historischen Beispiele großer nuklearer Störfälle in England, den USA, der Sowjetunion und in Japan belegen jedoch das nukleare Risiko von Kernkraftwerken unabhängig des verwendeten Reaktortyps, ihres privatwirtschaftlichen oder staatlichen Betreibers oder ihrer geheimpolizeilichen Überwachung und Kontrolle. Es gibt keinerlei Grund zu der Annahme, dass die SED-Diktatur mit der Staatssicherheit hier eine Sonderrolle eingenommen hätte.

Danksagung Die Danksagung zähle ich zu den angenehmsten Aufgaben eines Autors. Mit ihr schließt eine Vielzahl zurückliegender Arbeitsschritte ab und das zur Veröffentlichung bestimmte Manuskript hat schon deutliche Konturen angenommen. Im Rückblick fällt mir ein, dass im Anfang ein ganz anderes, schlichteres Format für die Präsentation meiner Arbeitsergebnisse angedacht gewesen ist. Dass meine Arbeit schließlich in die Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen aufgenommen wurde, dazu hat ein größerer Personenkreis seinen ganz unterschiedlichen Anteil gehabt. Bei allen daran Beteiligten möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Zuerst danke ich Peter Boeger, Gabriele Camphausen und Helge Heidemeyer: Sie ermöglichten mir den Glücksfall, im Rahmen eines zweijährigen BStU-Projekts zur Geschichte der Staatssicherheit und zum DDR-Kernkraftwerkskombinat forschen zu dürfen. Dabei ließen sie mir keinesfalls selbstverständliche Freiheiten; zugleich übten sie sanften Druck aus, pünktlich zu einem Ende zu gelangen, und bewahrten mich damit vor der fruchtlosen Verirrung in den Stasi-Quellen. Bei der Recherche, Bereitstellung und Vervielfältigung der Stasi-Akten kam ich in den Genuss von Zuarbeiten hilfsbereiter Kolleginnen und Kollegen, die es mir überhaupt erst ermöglichten, mit den Überlieferungen der ostdeutschen Geheimpolizei arbeiten zu können. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir dabei die rasche und freundliche Hilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BStU-Außenstelle in Rostock sowie der »Kopierstelle« in Berlin. Jenseits des Stasi-Unterlagenarchivs gewährte mir im Auftrag des Entsorgungswerkes für Nuklearanlagen (EWN) – dem Nachfolgeunternehmen des DDR-Kernkraftwerkskombinates – Gabriele Müller großzügigen Einblick in das örtliche Betriebsarchiv bei Lubmin. Über ihren fachlichen Auftrag hinaus versorgte sie mich gelegentlich mit Bockwurst und Obst aus der Betriebskantine und hatte so auch ihren Anteil, meinen Körper und meinen Geist zusammenzuhalten. Ähnlich unkompliziert wie die EWN öffnete das Stadtarchiv Greifswald seinen Bestand für meine Arbeit. Dem aufgeschlossenen und mutigen Umgang von Manfred Haferburg mit seiner durchlebten DDR-Geschichte verdankt das vorliegende Buch einen sehr persönlichen Akzent. Weniger aufgeschlossen und weniger mutig gab sich der frühere leitende Mitarbeiter der Stasi-Objektdienststelle im Kernkraftwerkskombinat. Seine ablehnende Haltung nach einem persönlichen Gespräch, mir die Einstellungen und Motive eines hauptamtlichen StasiMitarbeiters darzulegen, gehört zu meinen Fehlschlägen. Dem Einsammeln von Aktenwissen aus den Archiven und deren Ergänzung um Zeitzeugenerinnerungen schlossen sich kritische Analyse und das Schreiben

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Danksagung

einer »Geschichte« an. In der BStU-Abteilung Bildung und Forschung stieß ich dabei stets auf offene Türen und Ohren. Zahlreiche Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen dort erschlossen mir neue Perspektiven, Zusammenhänge und Deutungen. Nach der Fertigstellung lasen Henrik Bispinck und Ilko-Sascha Kowalczuk das Manuskript sorgfältig; als profunde Kenner der DDR-Geschichte gaben sie mir ausführliche und wertvolle Kritiken und Hinweise. Patrick Wagner von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg danke ich für seine geduldige Begleitung meines »Greifswalder Projektes« und die gleichzeitige Betreuung meines »Rheinsberger Projektes«. Er regte mich mit seinen instruktiven Anmerkungen und Kommentaren an, sprachliche und inhaltliche Zuspitzungen zu entschärfen und Ungenauigkeiten zu überdenken. Eva gelang es, mich gelegentlich von der Arbeit abzulenken, ohne dass die Arbeit darunter litt. Zum Schluss, jedoch keines­ falls als Letztes danke ich Beate Albrecht, Birgit Schmidt und Ralf Trinks für die konzentrierte und zugleich angenehme Zusammenarbeit; sie haben den Text und die Abbildungen für das vorliegende Buch in eine vortreffliche Form gebracht. Berlin-Charlottenburg im Sommer 2018

Anhang

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Zeittafel Monat/Jahr

Ereignis

6/1954

Inbetriebnahme eines ersten Kernkraftwerkes in der Sowjetunion

9.5.1966

Offizielle Inbetriebnahme des »Atomkraftwerkes I« bei Rheinsberg als erstes deutsches Kernkraftwerk

5/1967

Standortbestätigung für das Kernkraftwerk Nord in der Lubminer Heide durch den Rat des Bezirkes Rostock

10/1967

Arbeitsaufnahme der Aufbauleitung des Kernkraftwerkes in Lubmin; die Stasi-Operativgruppe »KKW Nord« bei der Kreisdienststelle Greifswald eröffnet den gleichnamigen Objektvorgang, erster Leiter der Operativgruppe ist Oberleutnant Gerhard Mäske

4/1969

Hauptmann Werner Müller übernimmt die Leitung der Stasi-Operativ­ gruppe »KKW-Nord«, sechs hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter

9/1969

Vertrag für die erste Ausbaustufe und erster Spatenstich für das Reaktor- und Maschinengebäude Nord I

1/1971

Bildung des VEB KKW Greifswald-Rheinsberg und Verlegung des Betriebs­ sitzes nach Lubmin

11/1971

Eintreffen des ersten Reaktordruckgefäßes aus der Sowjetunion im Über­ seehafen Rostock

7/1972

Besuch des SED-Chefs Erich Honecker samt einer Partei- und Regierungsdelegation auf der Großbaustelle

17.12.1973

Beginn des Probebetriebes Reaktor 1 (offizielle Inbetriebnahme) im Beisein von Willi Stoph (DDR-Staatsratsvorsitzender); Benennung in VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« Greifswald

7/1974

Übernahme Reaktor 1 in den Dauerbetrieb

9/1974

Oberleutnant Hans-Heinrich Hanke übernimmt die Leitung der StasiOperativgruppe »KKW-Nord«

4/1975

Übernahme Reaktor 2 in den Dauerbetrieb

7.12.1975

Kabelbrand im Maschinenhaus, einer der schwersten Störfälle in der Geschichte des Kernkraftwerkes

5/1978

Übernahme Reaktor 3 in den Dauerbetrieb

3/1979

Schwerer Störfall im US-amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island mit einer teilweisen Kernschmelze

Zeittafel

251

Monat/Jahr

Ereignis

10/1979

Übernahme Reaktor 4 in den Dauerbetrieb. Das Kernkraftwerk bei Greifswald kann knapp 10 Prozent des DDR-Strombedarfs decken.

1.9.1980

Bildung des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald

5/1981

Bildung der Stasi-Objektdienststelle Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald, die Leitung der Objektdienststelle übernimmt Hauptmann Hans-Heinrich Hanke, 14 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter

9/1982

Schwere Defekte an den Dampferzeugern als Wärmeaustauscher und Strahlenbarriere, Ausfall Reaktor 1

11/1982

Reorganisation der Leitungsstrukturen des Kernkraftwerkskombinates

11/1982–3/1983

Operativer Vorgang »Chlorid« der Stasi-Objektdienststelle zu den Dampferzeuger-Defekten Reaktor 1

3/1985–10/1986

Operativer Vorgang »Comos« der Stasi-Objektdienststelle zum Nachbau westdeutscher Ultraschall-Prüftechnik

3/1985–8/1989

Operativer Vorgang »Qualität« der Stasi-Objektdienststelle zur Errichtung und Inbetriebnahme von Reaktor 5

4/1986

Super-GAU im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl

9/1987

Benennung der B-Schicht von Reaktor 5 nach Felix Edmundowitsch Dzierzynski

10/1988

Kollektiveingabe der A-Schicht der Reaktoren 5 bis 8 an den DDR-Staatsrat

10/1988–7/1989

Operative Personenkontrolle »Polemik« der Stasi-Objektdienststelle zu einer Gruppe Jugendlicher an der Berufsschule des Kernkraftwerkes

3/1989

Reaktor 5 wird erstmals kritisch

4/1989

Probebetrieb Reaktor 5, knapp 5 000 Arbeiter und Angestellte im Kernkraftwerk und 10 000 Bauarbeiter und Monteure auf der Großbaustelle

18.10.1989

Erster Friedensgottesdienst samt Demonstration der Friedlichen Revolution in der Stadt Greifswald

19.10.1989

Erste Dialogveranstaltung als »Mensa-Gespräch« der Friedlichen Revolution in der Stadt Greifswald

11/1989

Betriebsversammlung und offener Brief der Kombinatsleitung im Zeichen der Friedlichen Revolution; Umbenennung des Ministeriums für Staatssicherheit

Anhang

252 Monat/Jahr

Ereignis

11/1989

in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), aus der Stasi-Objektdienststelle wird die »Dienststelle Kombinat KKW ›Bruno Leuschner‹ Greifswald«, bis dahin 24 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter und knapp 220 Informanten (IM und GMS)

24.11.1989

Störfall und Außerbetriebnahme Reaktor 5

12/1989

Inbetriebnahme einer Strahlen-Umgebungsüberwachung der westdeutschen Firma Siemens

5.12.1989

Begehung der Stasi-Objektdienststelle zum Stopp der Vernichtung von Stasi-Unterlagen

12.12.1989

Protokollarische Übergabe der Räumlichkeiten und verbliebenen Einrichtungsgegenstände der Stasi-Objektdienststelle durch Oberstleutnant HansHeinrich Hanke an das Kernkraftwerkskombinat

6/1990

Regierung Lothar de Maizière verfügt die Abschaltung der Reaktoren 1 bis 4; Einsetzen des Reaktordruckgefäßes 7

7/1990

Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR; Umwandlung des VE Kombinates Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald in die Energiewerke Nord AG (in Gründung)

9/1990

Kurzarbeit im Kernkraftwerk

17.12.1990

Abschaltung des letzten Reaktors 1 – auf den Tag 17 Jahre nach seiner offiziellen Inbetriebnahme

7/1991

Stilllegungsbeschluss der Energiewerke Nord AG

253

Abkürzungen ABB Asea Brown Boveri (Schweizer Energie- und Technikkonzern) ABV Abschnittsbevollmächtigter Af NS Amt für Nationale Sicherheit (Nachfolgeeinrichtung des MfS) AG Aktiengesellschaft AIM Archivierter IM-Vorgang AK Arbeitskreis AKG Auswertungs- und Kontrollgruppe AKK Amt für Kernforschung und Kerntechnik (DDR) AKW Atomkraftwerk AL Abteilungsleiter AOP Archivierter Operativer Vorgang APO Abteilungsparteiorganisation AstA Antragsteller auf ständige Ausreise BAf NS Bezirksamt für Nationale Sicherheit BBS Betriebsberufsschule BCD Bewaffnung und Chemischer Dienst BGL Betriebsgewerkschaftsleitung BMSR Betriebs-, Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik BRD Bundesrepublik Deutschland BSG Betriebssportgemeinschaft BStU Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik BT Betriebsteil BV Bezirksverwaltung CDU CFs CIA COMOS CSU

Christlich-Demokratische Union Chiffriertes Fernschreiben Central Intelligence Agency collector monitoring system (Reaktorprüfsystem) Christlich-Soziale Union

DA Dienstanweisung DBD Demokratische Bauernpartei Deutschlands DDR Deutsche Demokratische Republik DE Diensteinheit DEKMAN Dampferzeuger-Kollektor-Manipulator (Materialprüfsystem) DSF Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft ELKG EPkA ERAM EWG EWN

Evangelische Landeskirche Greifswald Entwicklung und Projektierung kerntechnischer Anlagen (VEB) Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Energiewerke Nord

FDGB FDJ

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend

254

Anhang

FIM Führungs-IM FZR Forschungszentrum Rossendorf GA Gefangenenakte Gerichtsakte GAN Generalauftragnehmer GAU Größter anzunehmender Unfall (Auslegungsstörfall eines Kernkraft­ werkes) GD Generaldirektor GHG Großhandelsgesellschaft GMS Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit GO Grundorganisation GRS Gesellschaft für Reaktorsicherheit (Bundesrepublik) GWh Gigawattstunde HA Hauptabteilung HFIM Hauptamtlicher Führungs-IM HV A Hauptverwaltung Aufklärung (MfS-Auslandsspionage) IAEO IM IMB

Internationale Atomenergieorganisation inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen IME Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz IMK Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens IMS Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung IMV Inoffizieller Mitarbeiter mit vertraulichen Beziehungen zur bearbeiteten Person Ing. Ingenieur IZFP Institut für Zerstörungsfreie Prüfverfahren (Saarbrücken) JHS

Juristische Hochschule (des MfS)

KAf NS Kreisamt für Nationale Sicherheit KD Kreisdienststelle KEL Kreiseinsatzleitung KGB Komitet gossudarstwennoi besopasnosti (russ.) (Sowjetischer Geheimdienst) KKAB Kombinat Kraftwerksanlagenbau Berlin KKW Kernkraftwerk KuSch Kader und Schulung (MfS) KW Konspirative Wohnung KWU Kraftwerk Union LDPD

Liberal-Demokratische Partei Deutschlands

MA Mitarbeiter MDN Mark der Deutschen Notenbank MfS Ministerium für Staatssicherheit

Abkürzungen

255

Mrd. Milliarden MW Megawatt NDPD NSA NSW NVA

Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nichtsozialistisches Ausland Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet Nationale Volksarmee

ÖA Öffentlichkeitsarbeit OAM operatives Ausgangsmaterial OD Objektdienststelle Ofw Oberfeldwebel OibE Offizier im besonderen Einsatz Oltn. Oberleutnant OPA Operative Personenaufklärung OPK Operative Personenkontrolle OV Operativer Vorgang Pkw Personenkraftwagen POZW Politisch-operatives Zusammenwirken (des MfS mit staatlichen Einrichtungen) rem roentgen equivalent in man (Dosiseinheit für ionisierende Strahlung) RGW Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe RK Reisekader SAAS Staatliches Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (DDR) SATÜ Staatliches Amt für Technische Überprüfung (DDR) SB Sicherheitsbeauftragter SDAG Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft SDP Sozialdemokratische Partei in der DDR SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SOV Sonderoperativvorgang SÜ Sicherheitsüberprüfung SV Sicherungsvorgang SWT Sektor Wissenschaft und Technik SZS Staatliche Zentrale für Strahlenschutz (DDR) TH TU TÜ TÜV

Technische Hochschule Technische Universität Technische Überprüfung Technischer Überwachungsverein (Bundesrepublik)

UdSSR UNO USA

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations Organization United States of America

VAK Versuchsatomkraftwerk VB Verantwortungsbereich VD Vertrauliche Dienstsache VE volkseigen

256

Anhang

VEB Volkseigener Betrieb VEK Volkseigenes Kombinat VKTA Verein für Kernverfahrenstechnik und Analytik Rossendorf VL Vereinigte Linke VP Volkspolizei VPKA Volkspolizeikreisamt VRD Verwaltung Rückwärtige Dienste VSH Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei VVB Vereinigung volkseigener Betriebe WtB Waren des täglichen Bedarfs WTBR Wissenschaftlich-Technisches Büro für Reaktorbau WTZ Wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit WWER Wasser-Wasser-Energie-Reaktor ZAIG Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe ZfK Zentralinstitut für Kernphysik ZMA Zentrale Materialablage ZV Zivilverteidigung

257

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Anhang

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260

Anhang

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263

Quellenverzeichnis zu den Abbildungen 1

BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/4695/91, Bl. 12

2

BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/6405/88, T. I, Bd. 1, Bl. 11

3

BStU, MfS, BV Rostock, AIM I/6405/88, T. I, Bd. 1, Bl. 10

4

BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 967, Bild 1

5

BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 967, Bild 5

6

BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 967, Bild 20

7 a

BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 942, Bild 33

7 b

BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 953, Bild 20

8

BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 986, Bild 13

9

BStU, MfS, HA XVIII Nr. 21107 Bl. 36

10

BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 43, Bl. 11

11

BStU, MfS, ZAIG, Fo Nr. 2832, Bild 10

12

BStU, MfS, ZAIG, Fo Nr. 2832, Bild 19

13

Betriebsarchiv Energiewerke Nord

14

Betriebsarchiv Energiewerke Nord

15

BStU, MfS, ZAIG, Fo Nr. 2832, Bild 14

16

Betriebsarchiv Energiewerke Nord

17

BStU, MfS, SdM, Nr. 1334, Bl. 117

18

BStU, MfS, HA XXII, Fo Nr. 301, Bild 226

19

BStU, MfS, HA XXII, Fo Nr. 355, Bild 49

20

BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 10, Bl. 10

21

BStU, MfS, ZAIG, Fo Nr. 2832, Bild 21

22

Betriebsarchiv Energiewerke Nord

23

BStU, MfS, BV Rostock, AU 390/77, Bd. 3, Bl. 4

24

BStU, MfS, BV Rostock, AU 390/77, GA, Bd. 4, Bl. 145

25, 26

BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 202, T. II, Bl. 383, Bild 1 u. Bl. 382, Bild 1

27

BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 202, T. II, Bl. 384, Bild 2

264

Anhang

28

BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 43, Bl. 21

29

BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 43, Bl. 22

30

BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 43, Bl. 23

31

BStU, MfS, HA XXII, Fo Nr. 217, Bild 11

32

BStU, MfS, ZAIG, Fo Nr. 2832, Bild 20

33

BStU, MfS, ZAIG, Fo Nr. 2832, Bild 16

34

BStU, MfS, HA XXII, Fo Nr. 217, Bild 2

35

Betriebsarchiv Energiewerke Nord

36

BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 202, T. II, Bl. 435

37

BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 202, T. II, Bl. 436, Bild 2

38

BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 202, T. II, Bl. 438, Bild 2

39

BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 202, T. II, Bl. 444, Bild 1

40

BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7896, Bl. 46

41

BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX, ZMA, Nr. 4022, Bd. 2, Bl. 104

42

BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW, Nr. 6, o. Pag

43

BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 49, Bl. 285, Bild 1

44

BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Nr. 49, Bl. 292, Bild 1

45, 46

BStU, MfS, BV Rostock, AIM „Kurt Klotsche“ 4637/91, T. II, Bd. 4, Bl. 38, Bild 1 f.

47

BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, ZMA, Nr. 3511, Bild 57_24

48

Stadtarchiv Greifswald, Fotosammlung, A I C, 1444, Foto M. Zielinski-Nauenburg

49

BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 1463/89, Bd. 1, Bl. 49, Bild 1

50

BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 875, o. Pag

51

BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 219, Bl. 97

265

Decknamenverzeichnis Alle Signaturen mit verkürzter Angabe: BStU, MfS, BV Rostock ... »Angler« (AIM I/4567/91). . . . . . . . . . . . . 52 »Atzler« (AIM I/1239/82) . . . . . . . . . . . . . 52

»Jörg Läufer« (AIM I/48/83) . . . . . . . . 189 f. »Jüngst« (AIM I/3099/85). . . . . . . . . . . . . 97

»Bauer« (AIM I/4548/91). . . . . . . . . . . . . 52 »Beier« (AIM I/4637/91). . . . . . . . . . . . . 176 »Berg« (AIM I/4530/91). . . . . . . . . . . . . . 109 »Bernhard« (AIM I/4576/91). . . . . . . . . . . 52 »Blatt« (AIM I/1799/82). . . . . . . . . . . . . . 52 »Blitz« (AIM I/395/93) . . . . . . . . . . . . . . 138 »Brigitte Seiler« (AIM I/4537/91) . . . . . . . 52

»Klaus Meier« (später »Franz Müller«). . . . . . . . 52, 206 »Klaus Voß« (AIM I/312/89). . . . . . . . . . 134 »Konrad Bauer« (AIM I/4541/91). . . . . 149 f. »Kurt« (AIM I/4730/91) . . . . . . . . . . . . . . 53 »Kurt Klotsche« (AIM I/4637/91). . 173–180

»Christoph Schach« (AIM I/4577/91) . . . 52 »Conrad Schubert« (AIM I/9571/81) . . . . 52 »Dieter Rose« (AIM I/4585/91) . . . . . . . . 53 »Dietmar Schettler« (AIM I/4557/91). . . 188 »Elisabeth« (AIM I/101/91) . . . . . . . . . . 138 »Erich« (AIM I/667/84). . . . . . . . . . . . . . 124 »Falke« (AIM I/4539/91) . . . . . . . . . . . . . 52 »Förster« (AIM I/4535/91). . . . . . . . . 52, 192 »Franz Müller« (vorher »Klaus Meier«) (AIM I/4551/91). . . . . . . . . . . . . . 52 »Fredy Witt« (AIM I/4697/91) . . . . . . . . . 53 »Fritz« (AIM I/669/84). . . . . . . . . . . . . . . 52 »Günter« (AIM I/4592/91). . . . . . . . . . . . 52 »Gustav Meier« (AIM I/4529/91) . . . . 53, 92 »Gustav Schur« (BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Stendal, Nr. 170). . . . . 52 »Haff« (OibE 4782/91; KS II 246/90) . . 235 »Horst Brauer« (AIM I/4663/91). . . . . . . . 53

»Max« (AIM I/4532/91). . . . . . . . . . . . . . 52 »Meister« (AGMS I/4653/91). . . . . . . . . . 137 »Neumann« (AIM I/4575/91). . . . . . . 50, 52 »Otto Blume« (AIM I/4587/91). . . . . . . . 53 »Pentona« (AIM I/4531/91) . . . . . . . . . . . 52 »Peter« (OibE 615/93; KS II 233/90). . . . . . . . . . . . 141, 172 »Peter Schmidt« (AIM I/4569/91). . . . . . . 52 »Pilot« (AIM I/4554/91) . . . . . . . . . . . . . . 53 »Rainer« (OibE 617/93; KS II 251/90). . 105, 111, 141, 172 f., 194, 204, 207 »Richard« (AIM I/8594/79). . . . . 52, 99, 191 »Schweizer« (AIM I/1213/89). . . . . . . . . . 52 »Tessen« (BStU, MfS, HV A, AIM 6747/89). . . . . . . . . . . . . . . . 66–68 »Tessina« (ohne Signatur). . . . . . . . . . . . . 66 f.

266

Personenverzeichnis Ackermann, Gerhard 27 Adenauer, Konrad 11 Amthor, Artur 36

Lenin, Wladimir Iljitsch Luft, Christa 240

Beleites, Michael 145 Biermann, Wolfgang 192 Bloch, Ernst 9 Böhm, Gerhard 141, 154 Bohn, Horst 68 Brune, Wolfgang 117, 150, 153, 176 Busch, Hans 74 f., 87 de Maizière, Lothar 242, 252 Domaschke, Heinz 44 Drees, Erika 146 Eisenhower, Dwight D. Erfurth, Peter 221

21

Fischer, Richard 96, 112, 117 Fuchs, Günter 66, 68 Fuchs, Klaus 152 Glöckner, Reinhard 148 Gorbatschow, Michail 211 Haferburg, Manfred 191–196 Hanke, Hans-Heinrich 34–36, 40, 44–46, 65, 67 f., 169, 174 f., 233, 235 f., 250–252 Honecker, Erich 24, 59, 96, 121, 136, 150, 203 f., 215, 229, 250 Jungk, Robert

245

Kohl, Helmut 220, 242 Koppe, Hannelore 66, 68 Koppe, Johannes 66–68 Krenz, Egon 215, 220, 229 Kuessner, Hinrich 214 Lehmann, Reiner 65, 117, 131, 133, 141, 164 f., 172, 176, 240

10, 33

Mäske, Gerhard 34, 250 Michalski, Stefan 65, 68 Mielke, Erich 36, 90, 100, 123, 137, 145, 148, 221 f., Mittag, Rudolf 36, 68 f., 105, 111, 200, 221, 230 f., 233 Mittig, Rudi 145 Mitzinger, Wolfgang 18, 103, 117, 141 Modrow, Hans 224, 240 f., Müller, Werner 33–35, 39, 46, 250 Noack, Arndt

214

Pflugbeil, Sebastian 12, 118, 145, 150, 240 f. Poppe, Ulrike 240 Rambusch, Karl 18 f., 95 Rediek, Klaus 44 Sarnowski, Günter 92 Schönherr, Alexander 73, 99, 122, 167 Schröder, Bernd 151, 212 Schwanitz, Wolfgang 206, 221, 223, 231 Sitzlack, Georg 90, 164 Stiller, Werner 66 Stoph, Willi 27, 94 f., 200, 250 Strauß, Franz Josef 11 Timm, Ernst Tisch, Harry

111, 208 95

Ulbricht, Walter Wellner, Udo Wolf, Christa Wolf, Markus

9 f., 24

218 13, 144 17

267

Angaben zum Autor Sebastian Stude, Jahrgang 1979, Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Halle und Berlin; diverse Veröffent­ lichungen, Ausstellungen und Gutachten zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte. Zwischen 2015 und 2017 Mitarbeiter des BStU, Abteilung Bildung und Forschung; Stipendiat der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit einer Promotion zur Geschichte des Kernkraftwerkes Rheinsberg bei Professor Dr. Patrick Wagner an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.