Streifzüge durch die Poesie: Von Klopstock bis Celan. Gedichte und Interpretationen 9783412212674, 9783412205331

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Streifzüge durch die Poesie: Von Klopstock bis Celan. Gedichte und Interpretationen
 9783412212674, 9783412205331

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Theo Buck Streifzüge durch die Poesie

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Theo Buck

Streifzüge durch die Poesie Von Klopstock bis Celan Gedichte und Interpretationen

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Theo Buck ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur an der RWTH Aachen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: J. Mullan, Wien Druck und Bindung: General Druck, H-Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20533-1

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Inhalt

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Vorwort

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Friedrich Gottlieb Klopstock: „Die frühen Gräber“

22

Matthias Claudius: „Der Tod und das Mädchen“

34

Johann Wolfgang Goethe: „Maifest“

46

Johann Wolfgang Goethe: „Wandrers Nachtlied“

56

Friedrich Schiller: „Am Antritt des neuen Jahrhunderts“

68

Clemens Brentano: „Abendständchen“

76

Friedrich Hölderlin: „Hälfte des Lebens“

89

Johann Wolfgang Goethe: „Selige Sehnsucht“

99

Johann Wolfgang Goethe: „Ginkgo biloba“

113

Johann Wolfgang Goethe: „Dem aufgehenden Vollmonde“

120

Eduard Mörike: „Septembermorgen“

126

Joseph von Eichendorff: „Mondnacht“

134

Eduard Mörike: „Auf eine Lampe“

146

Heinrich Heine: „Die schlesischen Weber“

160

Friedrich Nietzsche: „Vereinsamt“

171

Else Lasker-Schüler: „Weltflucht“

181

Rainer Maria Rilke: „Die Treppe der Orangerie“ Inhalt  

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191

Jakob van Hoddis: „Weltende“

201

Georg Trakl: „Menschheit“

213

Georg Trakl: „Grodek“

223

Bertolt Brecht: „Erinnerung an die Marie A.“

239

Gottfried Benn: „Einsamer nie –“

251

Exkurs: Autonomie und Gebrauchswert des Gedichts am Beispiel von Gottfried Benn („Ein Wort“) und Bertolt Brecht („Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“)

263

Paul Celan: „Todesfuge“

274

Ingeborg Bachmann: „Früher Mittag“

285

Bertolt Brecht: „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“

296

Nelly Sachs: „In der Flucht“

306

Paul Celan: „Steinschlag“

317

Personenregister

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Inhalt

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Vorwort

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arum diese „Streifzüge durch die Poesie“ ? Die Antwort lautet: Weil hinter dem direkten Wortsinn von Gedichten eine Fülle tieferer Bedeutungen liegt. Sie lassen sich nur durch genaues und geduldiges Lesen und Wiederlesen erfassen. Jeder Lesende bringt dabei selbstverständlich zunächst einmal seine eigene Sichtweise in den Vorgang des Verstehens ein. Glücklicherweise gibt es jedoch allgemeine Erfahrungswerte, die einen weithin rationalen Nachvollzug ermöglichen und damit auch die Chance des Lernens durch dem gemäße Interpretationen bieten. In dieser Weise Gedichte verständlich zu machen, ist das erklärte Ziel des Buches und der darin versammelten und zu einläßlicher Lektüre empfohlenen Deutungsvorschläge. Bewußt geschieht das in der Form unsystematischer „Streifzüge“ durch die deutschsprachige Lyrik von der Mitte des achtzehnten bis zur zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, konkret „von Klopstock bis Celan“. Die Auswahl beruht auf rein persönlichen Vorlieben. Ohne mir irgendwelche Verbindlichkeit anmaßen zu wollen, bin ich überzeugt, daß die ausgewählten Beispiele die Einarbeitung in das Lesen von Gedichten fördern können. Denn der Umgang mit ästhetisch-fiktionalen Texten stellt gegenüber einfachem Lesen einen qualitativen Sprung dar. Er geht von der landläufigen Stufe pragmatisch-gebrauchssprachlicher Kommunikation über zur besonderen Funktion und Form der Literatursprache und damit zur Teilnahme am geistig-kreativen Bereich elaborierter Sprachkunst. Mit dem literarischen Text tritt an die Stelle der auf praktisch-direkte Wirkung angelegten linearen ‚Normallektüre‘ eine veränderte und herausfordernde Darstellung gestalteter Reflexe der Wirklichkeit und auktorialer Phantasie. Das im Alltag übliche Lesen bildet insofern lediglich den unerläßlichen Vorhof zum komplexen ‚Gebäude‘ poetisch-ästhetisch vermittelter Welt- und Lebensdeutung durch das sprachliche Kunstwerk. Die sprachkünstlerische Formung verlagert den Akzent auf die Machart, also auf das ‚Wie‘ des Gestaltens. Dabei wird das ‚Was‘, nämlich die Qualität des Gehalts, als selbstverständlich vorausgesetzt. Zum Gewicht der Bedeutungsebene kommt dasjenige der Formebene. In ihr verbinden sich Gehalt, Stil und Gestalt. Vieles ist dabei zu beachten. Werkimmanente und werktranszendente Aspekte müssen ebenso berücksichtigt werden wie gestalterische Mittel als da sind: Semantik, Phonetik, Rhythmus, rhetorische Figuren, Bildebene, Klang, Aufbau. Interpunktion und Intertextualität gehören genauso dazu wie zeitliche und gesellschaftliche Aspekte der Thematik bis hin zu Entstehung und Wirkung oder zum Mit- und Gegeneinander von intuitivem und rationalem Erfassen. Vorwort  

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Mit dem letzten Punkt des ‚Erfassens‘ stoßen wir auf die entscheidende subjektive Komponente des Rezeptions- und Interpretationsvorgangs. Allemal kommt nämlich zu dem zu erkennenden ‚Objekt‘ in Gestalt des Textes das mehr oder weniger erkennende ‚Subjekt‘ des Lesers. Diese Grundsituation des Verstehens eines lyrischen Textes verweist uns zwangsläufig auf das Problem der individuellen Erkenntnisfähigkeit. Sie stößt häufig an Grenzen, so daß keine gelingende Kommunikation zustande kommen kann. Man kennt die oft zitierte Frage Georg Christoph Lichtenbergs: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ 1 Das soll heißen: Kunst stellt eben hohe Ansprüche. Ohne hierzu gleich die harte Position einnehmen zu wollen, wie sie Goethe dem kunstbedachten Herzog Alphons von Ferrara in den Mund legte – „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, / Ist ein Barbar, er sei auch wer er sei“ 2 –, muß doch gesagt werden, daß der Rezeptionsqualität des einzelnen Lesers, also letztlich seiner Erkenntnisfähigkeit ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Man sollte darum eher mit Paul Valéry davon ausgehen, daß die Poesie „unseren Geist aufruft, sie in uns wieder herzustellen“ 3. Wer auf diese Weise ‚worthörig‘ wird, gewinnt Zugang zu neuen imaginativen Welten. Das setzt jedoch ernste Arbeit und langes, allmählich sich steigerndes kritisches Verstehen voraus. Lesen, lesen und nochmals lesen, ist die Grundvoraussetzung dafür. Was hierdurch gewonnen werden kann, bringt einer der parabolisch-lehrhaften Alterssprüche Goethes ebenso einfach wie einprägsam zum Ausdruck:

Gedichte sind gemalte Fensterscheiben! Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, Da ist alles dunkel und düster; Und so sieht’s auch der Herr Philister: Der mag denn wohl verdrießlich sein Und lebenslang verdrießlich bleiben.



Kommt aber nur einmal herein! Begrüßt die heilige Kapelle; Da ist’s auf einmal farbig helle, Geschicht’ und Zierat glänzt in Schnelle, Bedeutend wirkt ein edler Schein; Dies wird euch Kindern Gottes taugen, Erbaut euch und ergetzt die Augen! 4

Solches, die Augen und alle übrigen Sinne ‚ergötzendes‘ Lesen will gelernt sein. Wer Gedichte einfach herunterliest, überliest das Entscheidende und verkennt so 8  

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Vorwort

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den vieldeutigen Beziehungsreichtum wie überhaupt die Autonomie dichterischer Texte. Die im Buch zusammengestellten Beispiele sollen dazu beitragen, die vielfältigen Verknüpfungen und die oft leisen Anspielungen eines Gedichts besser ergründen zu können. Nur auf einer solchen Grundlage läßt sich ein solides Gerüst des Verstehens herstellen, das die ästhetische Distanz künstlerischer Texte aufhebt. Als Pädagoge steckt dahinter für mich ein lebenspraktisches, emanzipatorisches Interesse. Ungescheut sei bekannt: Es geht um die beglückende Erfahrung strukturierter Erkenntnis sowie neu belebter eigener Kreativität und damit letzten Endes um humane Werte. Absichtsvoll zitierte Gottfried Benn den tiefen Satz des französischen Schriftstellers André Malraux: „Mögen die Götter am Tage des Gerichts den einstigen Formen des Lebens das Volk der Statuen gegenüberstellen! Dann wird von der Gegenwart der Götter nicht die von ihnen geschaffene Welt der Menschen Zeugnis ablegen: die Welt der Künstler wird es tun“  5. Den Zugang zu dieser „Welt der Künstler“ wollen die vorliegenden „Streifzüge durch die Poesie“ erleichtern.

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Erster Band: Sudelbücher. Hrsg. v. Wolfgang Promies. München 1968, S. 291 (Heft D, 399). Goethe, Johann Wolfgang: Torquato Tasso, V. 2848/9 (WA I.10,221). Dichter über Dichtung in Briefen, Tagebüchern und Essays. Ausgewählt und kommentiert von Walter Schmiele. Darmstadt 1955, S. 211 („Über das Wesen der Poesie“). Goethe, Johann Wolfgang: HA 1, 326 und WA I.3, 171 (‚Parabolisch‘). Das Gedicht ist um 1826 entstanden. Benn, Gottfried: GW IV, 411 f..

Vorwort  

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Friedrich Gottlieb Klopstock

„Die frühen Gräber“ (1764)

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enn mit Klopstock (1724–1803) der Anfang gemacht wird, so hat das den einfachen Grund, daß er der deutschen Sprache und Dichtung nach einer Phase langer Stagnation und Konventionalität neue Impulse und neue Würde zu geben verstand. In erster Linie waren es nämlich die von ihm eingeführten variablen Ausdrucksformen, welche die deutsche Dichtersprache vom Makel internationaler Zweitrangigkeit befreiten. Bekanntermaßen geschah das im Vergleich zu den anderen Nationen reichlich spät. Zwischen dem 16. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam die Dichtung hierzulande, abgesehen von wenigen Ausnahmen, zunächst im einförmigen Gewand des Knittelverses und danach des Alexandriners daher, wobei das Hauptmetrum der Barockzeit immerhin achtbare Gehversuche eines freieren lyrischen Sprechens erlaubte. Aber erst mit der von Klopstock erhobenen Forderung, den „genau wahren Ausdruck der Leidenschaft“ 1 sprachlich auszugestalten, kam die allfällige Erweiterung des formalen Repertoires in Gang. Er war es, der schlagartig das lästige Formkorsett, das die Dynamik deutschsprachiger Gedichte lange Zeit eingeschnürt hatte, aufsprengte. Der aus Quedlinburg stammende Dichter wollte Empfindsamkeit und Mitgefühl oder, besser gesagt, das „Gefühlsdenken“  2 des Lesepublikums wecken. Deswegen suchte er „der Leidenschaften Ausdruck, / Welcher dahin mit dem Rhythmus strömet“ 3. Um die von ihm angestrebte individuelle Anteilnahme und Gefühlserregung zu illustrieren, bediente es sich des emphatischen Zielbilds der ausgelösten „Zähre“ (Träne) einer „denkenden Freundin“ 4. Mit Recht bezeichnete ihn darum Peter Rühmkorf als einen „empfindsamen Revolutionär“ 5. Aufgabe des wahren Dichters ist, in der Sicht Klopstocks, die Gestaltung der beseelt erlebten Natur. Er hat seine Zielsetzung programmatisch wie folgt dargelegt: „Die Erhebung der Sprache, / Ihr gewählterer Schall, / Bewegterer, edlerer Gang, / Darstellung, die innerste Kraft der Dichtung“ 6. Durch die Schaffung eines derartigen Kunstidioms leistete er für die literarische Sprachpraxis, was Johann Joachim Winckelmann mit seiner von der Antike hergeleiteten erzieherischen Maxime „edler Einfalt“ und „stiller Größe“ 7 für die ästhetische Orientierung der damaligen Zeit herbeiführte. Klopstock erweckte, zunächst fast im Alleingang, den ziemlich eingeschlafenen deutschen Sprachgeist wieder zu neuem Leben. Die strengen Verfechter der Aufklärung warfen ihm deswegen mangelnde Verstandeskontrolle, Dunkelheit oder auch 10  

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Rückfall in barocken Schwulst vor. Sie verkannten den grundverschiedenen Ansatz, den Traditionsbruch und die experimentelle Kühnheit seiner Schreibweise. Einige der besten Zeitgenossen indes wußten die daraus sich entwickelnde emanzipative Stilreform sehr wohl zu würdigen. Herder beispielsweise schrieb in den „Fragmenten“: „Es ist Klopstock, der erste Dichter unseres Volks, der (…) die Deutsche Sprache seiner Zeit nothwendig für sich zu enge finden mußte: der sich also in ihr eine Schöpfersmacht anmaaßte, diese zur Bewunderung ausübte, und zu noch größerer Bewunderung nicht übertrieb: ein Genie, das auch in der Sprache eine neue Zeit anfängt“ 8. Goethe bestätigte diese höchst lobende Einschätzung im 10. Buch von „Dichtung und Wahrheit“, indem er, wohl nicht ganz ohne Selbstbezug, Klopstock literaturgeschichtlich folgendermaßen einordnete: „Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen“ 9. Seinen erheblichen, vor allem weltanschaulichen Vorbehalten zum Trotz würdigte auch Lessing die dichterische Bedeutung Klopstocks. Allerdings tat er das mit dem zwiespältigen Satz: „weil ich ihn für ein grosses Genie erkenne, bin ich gegen ihn auf meiner Hut“. Umgehend begründete er seine darin mitschwingende Reserve mit deutlich schroffer Kritik: „Und so wenig ich aus des Herrn Klopstocks Philosophie mache, eben so wenig mache ich aus seinen Liedern. Ich habe davon gesagt: ‚sie wären so voller Empfindung, daß man oft gar nichts dabey empfinde‘“ 10. Bemerkenswert bleibt, daß in den drei Äußerungen übereinstimmend die eigenschöpferische Genialität dieses Mannes hervorgehoben wird. Der junge Hölderlin setzte sogar „Klopstoksgröße“ direkt mit „Pindars Flug“ gleich11. Wie man sieht, erkannten die Dichterkollegen Bedeutung und Tragweite der gegen die nivellierenden Begrenzungen der Alltagssprache ankämpfenden poetischen Stilgestaltung und Ausdrucksautonomie Klopstocks. Es ist darum keine Übertreibung, in der von ihm durchgesetzten neuen Sprachpraxis „eine der folgenreichsten Umwälzungen in der Geschichte der deutschen Dichtersprache“ zu sehen12. Unbedingt sollte man freilich die Sprachkunst Klopstocks differenzieren. Aus dem zeitlichen Abstand von mehr als zwei Jahrhunderten rücken weite Teile seiner Dichtungen für uns in den Hintergrund. Das gilt insbesondere für die patriotischen Tiraden, die pietistischen Ergüsse und mehr noch für die ganz unerträglich pathetischen Verse im germanisch mythisierenden Bardenton13. Dem literarischen Gedächtnis haben diese Gedichte sich ohnehin nicht eingeprägt. Zutreffend bemängelte bereits Schiller im Rahmen seiner Überlegungen „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ von 1795 die generelle Tendenz Klopstocks zu einer Art „Heiligung der Poesie“ 14. Es heißt dort: „Man möchte sagen, er ziehe Allem, was er behandelt, den Körper aus, um es zu Geist zu machen“ 15. Schillers Warnung gilt mehr den je. Wer ästhetisch haltbare Qualität sucht, ist daher gut beraten, wenn er sich an „Die frühen Gräber“  

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die Wirkungskraft lyrisch umgesetzter Gefühls- und Gedankenbewegungen hält, die den Zusammenhang der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Natur thematisieren. Klopstocks Stärken liegen eindeutig im empfindsamen Bereich des „bürgerlichen Subjektivismus“ 16. Ein solches Beispiel aus der Erstausgabe der Oden von 1771, der sogenannten ‚Hamburger Ausgabe‘, soll uns nun beschäftigen: Die frühen Gräber Willkommen, o silberner Mond, Schöner, stiller Gefährt’ der Nacht! Du entfliehst? Eile nicht, bleib’, Gedankenfreund! Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin. 5

Des Maies Erwachen ist nur Schöner noch, wie die Sommernacht, Wenn ihm Thau, hell wie Licht, aus der Locke träuft, Und zu dem Hügel herauf röthlich er kömmt.

Ihr Edleren, ach, es bewächst 10 Eure Male schon ernstes Moos! – O, wie war glücklich ich, als ich noch mit euch Sahe sich röthen den Tag, schimmern die Nacht!17 Die Form der reimlosen Ode läßt den heutigen Leser an einen feierlich-getragenen, erhabenen Ausdrucksgestus denken. Geht man zurück auf die griechisch-antiken Ursprünge, so war das Wort zunächst die Bezeichnung für jegliche strophische Dichtung mit Musikbegleitung (Ode = Gesang). Daraus entwickelten sich mehrere, metrisch fest gegliederte Strophenformen, die auf dem Umweg über das Neulateinische seit dem 16. Jahrhundert auch in die deutsche Literatur Eingang gefunden haben18. Klopstock sah in der hymnischen Odenform den adäquaten Ausdrucksrahmen für die von ihm angestrebte Stilhöhe. Nicht umsonst sprach er von seinen Gedichten als den „geliebten traurigen Oden“ 19 und setzte deshalb diese lyrische Form konsequent durch. Das gelang ihm nicht zuletzt auf dem Wege der Rhythmisierung der Verse nach dem für die deutsche Sprache bestimmenden Wortakzent. Er ersetzte die langen und kurzen Silben der antiken Odenmaße im Deutschen durch betonte und unbetonte Silben20. Außerdem entwickelte er metrisch abgewandelte, neue Strophenformen und erweiterte so das begrenzte Repertoire der antiken Muster. Überkommene metrische Grundelemente der Odenmaße neu kombinierend, fand er für die lyrische Aussage der selbst komponierten Strophen 12  

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jeweils die von ihm gesuchte, frei und zugleich diszipliniert fließende Sprachmelodie. Literarhistorisch betrachtet, schlug er damit eine Bresche für die Hymnendichtung Goethes und Hölderlins. Ein Beispiel für Klopstocks Versgestaltung ist das hier zur Frage stehende Gedicht. In allen drei Strophen folgt es dem nachstehenden metrischen Schema: v–vv–vv– –v–vv–v– vv––v––v–v– – v v – v v – – v v – . 21 Wir erkennen im Strophenbau unterschiedlich gegliederte Vierzeiler. Der erste Vers besteht aus acht Silben und drei Hebungen, der zweite aus ebenfalls acht Silben, aber vier Hebungen, während der dritte und vierte Vers elf Silben und sechs, beziehungsweise fünf Hebungen aufweist. Jeder Vers hat demnach seine eigene Metrik und weicht somit hörbar von den anderen Versen ab. Strukturell setzt die erste Strophenhälfte knappe, klar umrissene Akzente, während die weiter ausschwingende zweite Hälfte einen die Reflexion stützenden Sprechgestus aufweist. Das vom Autor frei entwickelte Odenmaß moduliert, vom Einzelwort her, die jeweils einheitliche klangliche Ausgestaltung der strophischen Dreiergruppe. Um den Leser nachdrücklich auf die Bedeutung der Formlösung aufmerksam zu machen, setzte Klopstock bei seinen Neuschöpfungen in der Regel eine Wiedergabe des metrischen Schemas vor den Gedichttext. Neben dem „Inhalt“ war ihm offensichtlich die Art der „Ausführung“ ebenso wichtig22. Das 1764 entstandene Gedicht folgt auch inhaltlich exakt der triadischen Form. In den beiden ersten Strophen evoziert der Autor zwei unterschiedliche, ihn beglückende Naturerscheinungen: Mondnacht und Maienmorgen. Demgegenüber wird in der dritten Strophe die im Ansatz sinnliche Erfahrung in geistige Bewegung überführt. Die dabei mitschwingenden Erinnerungen verlagern das Gewicht der lyrischen Aussage von der stimmungsvollen Naturbetrachtung zur Besinnung auf die ihm freundschaftlich verbundenen, aber nicht mehr lebenden Menschen. So gewinnt der Text von der Komposition her eine zwingende dynamische Bewegung zum Ende hin. Von vornherein macht der Autor mit dem Titel klar, daß es sich hier nicht um eine einfache Naturode handelt, sondern um die poetische Wiedergabe der durch bestimmte Naturstimmungen ausgelösten Empfindungen und Gedanken. Erkennbar folgt er damit der von ihm für die Wirkung der „Darstellung“ aufgestellten Maxime dichterischer Gestaltung „durch die Wahl kleiner, und doch vielbestim„Die frühen Gräber“  

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mender Umstände“ 23, hier eben Mondnacht und Frühlingsmorgen. Vorbereitend wird sogleich das spannungsvolle Grundthema angeschlagen: „Die frühen Gräber“. Der mit dem Oxymoron24 zum Ausdruck gebrachte unerträgliche Gegensatz von „früh“ und „Gräbern“ stellt eine paradoxe Lebenssituation heraus. „Früh“ ist vom Kontext her ersichtlich als eine elliptische Verkürzung zu sehen, die das Selbstverständliche bewußt ausläßt, hier eben die betrübliche Tatsache der vorzeitig, mithin ungewöhnlich „früh“ Verstorbenen. Klopstock greift auf die gängige Wendung des ‚frühen Grabes‘ als Umschreibung für das Sterben in jungen Jahren zurück und unterstreicht somit klagend den allzu ‚frühen Tod‘. Die mit Recht zu erwartende Lebensfülle und das ihr entgegenstehende Faktum des Sterben-Müssens werden einander in voller Härte gegenübergestellt. Von Beginn an ist somit die finalgerichtete Bewegung dem Text auch inhaltlich eingeschrieben. Die erste Strophe lebt von der metaphorischen Anrede des personifizierten Mondes („Du“, V. 3). Er kann darum vom lyrischen Ich, hier identisch mit dem Autor25, als gleichgestimmter „Gedankenfreund“ (V. 3) apostrophiert werden. Mit dem für den Gefühlswortschatz des 18. Jahrhunderts bezeichnenden Begriff faßt der Dichter den hohen Wert des gemeinsamen Erlebens und Denkens für die menschliche Steigerung26. Von Anfang an öffnet sich dadurch die bloße Stimmungswiedergabe tieferer Reflexion. Im Licht des „silbernen Mondes“ (V. 1) geht dem Sprecher die Schönheit der nächtlichen Natur auf. Weit mehr als einen bloßen Eindruck vermittelt diese poetische Verdichtung eines harmonisch in sich ruhenden Naturausschnitts. Gleichzeitig wird der bildlich intensivierte Ausdruck zum Vehikel eines vorsichtigen Nachdenkens über die Unsicherheiten des Lebens. Denn über der beseligenden Ruhe der Mondnacht deutet sich mit dem „Gewölk“ (V. 4) eine jederzeit mögliche Störung an. Demgegenüber bildet die leidenschaftliche Begrüßung des Mondes den beruhigenden Auftakt („Willkommen“ als Initialwort, zudem gleich noch verstärkt durch die gefühlsbetonende Interjektion „o“, V. 1). Was den Mond zum derart erwünschten „Gefährten der Nacht“ (V. 2) macht, ist die von ihm ausgehende Schönheit und Stille („schön“ und „still“, V. 2). Mit den Ausrufezeichen am Ende des zweiten und dritten Verses unterstreicht Klopstock die besondere Bedeutung dieser Qualität. In ihr erkennt er ein Zeichen der Harmonie des Lebens. Allerdings fehlt der sich im Mondschein offenbarenden universalen Schönheit verläßliche Sicherheit. Im Zuge der Fortführung der Anrede erfahren wir, daß aufziehendes „Gewölk“ das silberne Licht des Mondes jederzeit beenden kann. Die unmittelbar dramatisch-dialogisch ausgeführte Befürchtung, der „Gefährte“ könnte entfliehen („Du entfliehst? Eile nicht, bleib“, V. 3), deutet die mögliche Verfinsterung des Mondlichts an. Der mit Klopstock befreundete Johann Heinrich Voß übernahm 1795 dieses Motiv in seine Idylle „Luise“ 27. Und auch in Goethes später Lyrik taucht interessanterweise das gleiche Bildmotiv auf28. Dort sind es drohende 14  

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„Wolkenmassen“. Bei Klopstock „wallt das Gewölk“ zwar auch beunruhigend in langen Wellen „hin“ (V. 4), verschwindet dann aber wieder. In beiden Fällen zieht die drohende Trübung vorüber. Das im Gedicht Klopstocks vom Sprecher erbetene Verweilen des Mondes wird ihm, zumindest für den Augenblick, gewährt. Er kann sich weiterhin der nächtlich erhellten, ebenso enthusiastisch wie elegisch erfahrenen Naturstimmung erfreuen. Doch bleibt den Versen die mögliche Gefährdung durch das „Gewölk“ als Subtext eingeschrieben29. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die in Vers 4 erfolgende Ausdehnung auf die pluralische Perspektive („Sehet“, V. 4). Denn mit diesem, den erkennenden Gesichtssinn ansprechenden Imperativ weitet sich die Kommunikationsstruktur virtuell auf jeden Leser aus. Über das Gedicht kann auch er zum „Gedankenfreund“ des Autors werden. Persönlich Erlebtes wird so vom Dichter zum Beispiel des Ganzen erhoben. Der gefühlsbestimmte Text lädt dazu ein, darüber nachzudenken, wie der Wert der Harmonie in der Natur die Endlichkeit des Menschen auszugleichen vermag. Die zweite Strophe versetzt uns in eine andere Stimmung. Nicht mehr eine unmittelbare Ansprache, wie eingangs die des Mondes, steht im Vordergrund, sondern die Entfaltung eigener Gedanken über einen belebenden Landschaftseindruck an einem Morgen im Mai. Gleich bleibt lediglich die mitschwingende Bewegung der strophischen Metrik als fester Gestaltungsrahmen. Neben die in der ersten Strophe vergegenwärtigte Mondnacht tritt nun „des Maien Erwachen“ (V. 5). Es ist wirklich ein Hinzutreten, denn noch deutlicher als dort werden die Merkmale des hymnisch beschworenen Frühlingsmorgens unmittelbar im Text vorgestellt. Während in den beiden Kurzzeilen der Strophe im Mittelpunkt der Aussage ein Vergleich mit der „Sommernacht“ (V. 6) steht, ist der Autor in den beiden längeren, stärker gewichteten Schlußversen darum bemüht, die vorgenommene Personifikation punktuell zu konkretisieren. Eindeutig sollen im Leser die skizzenhaften Umrisse einer maigestimmten Jünglingsgestalt entstehen. In dieser Absicht wird dem Erwachenden veranschaulichend der Morgentau als „aus der Locke“ tropfendes „Licht“ (V. 7) beigegeben. Ebenso umgibt die im Farbadjektiv „röthlich“ (V. 8) sich andeutende Wirkung der Morgenröte verklärend den „zu dem Hügel“ Heraufsteigenden („röthlich er kömmt, V. 8). Die Archaismen der Sprachform des 18. Jahrhunderts („träuft“, „kömmt“, später: „Male“) kommen der einfühlsamen Bildgestaltung spürbar entgegen. Aus einem gewöhnlichen Tagesanbruch im Mai wird so, ohne schwärmerische Sentimentalität, eine optisch-anschauliche Evokation der morgendlich sich entfaltenden Frühlingswelt. Ihre in sich ruhende Intensität wird noch gesteigert durch den Vergleich mit einer prächtigen „Sommernacht“ 30, die ja gemeinhin als besonders erfüllt angesehen wird. Daß der Maimorgen als noch schöner („schöner noch“, V. 6) gelten soll, bezeugt die hier als Steigerungsstufe eingesetzte Vergleichs­ ebene. Sie wird zusätzlich unterstützt durch die rhythmische Bewegung, die an „Die frühen Gräber“  

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dieser Stelle den Satzfluß über die Versgrenze hinaustreibt (Enjambement: „… ist nur / Schöner noch“, V. 5/6). Das verdeutlicht, daß es dem Dichter nicht um ausmalende Beschreibung zu tun ist, sondern um den sprachlichen Reflex des dadurch ausgelösten Glücksgefühls. All dies wirkt zusammen, um hinter der Lichtfülle des äußeren Erscheinungsbilds („hell wie Licht“, V. 7) die gleichermaßen ‚erhellte‘ innere Empfindung auszumachen, nämlich die aus der unentfremdeten Einheit von Mensch und Natur erwachsende, beseligende Entdeckung des Frühlingsmorgens mit all seinen Verheißungen. Der einfache Klang dieser Strophe darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Klopstock hier eine lyrische Begeisterung zelebriert, die erst durch die dann in der Schlußstrophe nachfolgende Erschütterung ihre tiefe Entsprechung findet. Rhythmus und Metrum stützen in ihrem intensiven Zusammenwirken den angeschlagenen hohen Ton dieser erhebenden Selbstreflexion. Jäh wechselt danach in der dritten Strophe die Stimmung. Der Autor läßt nun die ihn momentan so beglückende äußere Erscheinungswelt ganz hinter sich. Er öffnet den Zeitrahmen, indem er die erfüllten Augenblicke der „silbernen“ Mondnacht und des „röthlich“ erhellten Maienmorgens aufreißt, um an die ihm wichtigen, in die Vergangenheit zurückreichenden Erlebnisse zu erinnern. Die im Augenblick erlebten empfindsamen Stimmungen erinnern ihn daran, daß er sie in gleicher Weise zusammen mit den inzwischen verstorbenen Freunden erfahren hat. Klopstock zielt dabei, dem eigenen Programm folgend, auf die „Heraushebung der eigentlichen innersten Beschaffenheit der Sache“ 31, hier eben der geistigen Verbindung mit den abgeschiedenen Freunden. Bekanntlich liebte er es zeitlebens, einen größeren Freundeskreis um sich zu scharen und ebenso Brieffreundschaften intensiv zu pflegen32. Rühmkorf hat den Hang zu „Gesinnungszirkeln und Freundschaftsbündnissen“ mit der auffallenden Fähigkeit des Dichters erklärt, „sich der Eingemeindung in die offiziösen Prestigekreise zu entziehen“, persönlichen Umgang statt dessen „lieber in eigenen Sympathiezirkeln“ zu betreiben33. Verluste von Freunden durch den Tod konnten da nicht ausbleiben. 1754 starb der Hamburger Dichter Friedrich von Hagedorn, kaum 46 Jahre alt, und 1759 erlag der auch mit Gleim und Lessing befreundete Ewald Christian von Kleist seinen als preußischer Offizier in der Schlacht von Kunersdorf erlittenen Verletzungen. Sicherlich gilt die Ode gerade auch diesen beiden Freunden. Doch steht im Zentrum des poetischen Erinnerungsprozesses zweifellos das Andenken an die nach nur vierjähriger Ehe 1758 bei einer Geburt verstorbene Frau Klopstocks, Margareta (Meta), geborene Moller34. Indes hat der Dichter es verstanden, diese für ihn persönlich bedeutsamen Trauerfälle im Gedicht in ein generell offenes Eingedenken zu überführen. Das ist im übrigen auch der Sinn der die dritte Strophe unverkennbar prägenden dialogischen Einbeziehung der Verstorbenen. Bewußt hat Klopstock sie so angelegt, daß die Anrede ohne weiteres Eingang finden kann in das Bewußtsein der dafür empfänglichen Leser oder Hörer 16  

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(„Ihr Edleren“, V. 9; „Eure Male“, V. 10; „mit euch“, V. 11). Ihn interessierte, Kaiser hat darauf hingewiesen, „der repräsentative Mensch“ 35. Seinem Gegenstand steht er distanziert genug gegenüber, um auch den perspektivischen Wechsel vom Erlebnis zur Erinnerung im gleichen Formschema ausführen zu können. Klopstock bewegt sich gedanklich von der Nähe in die Ferne. Insgeheim verbindet er so Vergangenes mit Gegenwärtigem, wandelt Subjektives in Objektives um. Angesprochen als die „Edleren“ (V. 9), werden die nicht mehr lebenden Freunde direkt einbezogen. In der Erinnerung an sie schwingt jene „edlere Menschlichkeit“ mit, die Johann Heinrich Voß ein halbes Jahrhundert später in seinem Epigramm „Edel und adelig“ (1819) als besondere Qualität herausstellte36. Der Komparativ unterstreicht die auf humaner Überzeugungskraft beruhende Wertschätzung ausdrücklich. Um so heftiger wird der bittere Verlust solch vollkommener geistiger Übereinstimmung empfunden. Deshalb steht an dieser Stelle die den Schmerz betonende affektive Interjektion „ach“ (V. 9). Ergänzend hierzu wird in der Argumentationsfolge des Textes die durch das Hinscheiden der Freunde herbeigeführte Trennung mit dem melancholischen Bild des Todesschicksals, dem alle Menschen unterworfen sind, illustriert: „es bewächst / Eure Male schon ernstes Moos“ (V. 9/10). Die bereits mit „Moos“ bewachsenen Grabsteine („Male“) symbolisieren die Gewalt der Zeit. Das Enjambement verstärkt den Zeitsprung noch mehr, macht ihn dadurch bewußter. Durch das steigernd beigegebene Adjektiv „ernst“ und das Ausrufezeichen am Ende des zehnten Verses bekommt das Bild den besonderen Charakter liebender Trauer. Indirekt ist das zugleich eine substantielle Heraushebung der Lebensleistung derer, denen die „Male“ gesetzt wurden. Der danach eingefügte Gedankenstrich ist Zeichen tiefer Erschütterung, gemahnt ebenso an die dem Titel eingeschriebene Klage, daß wir es mit viel zu „frühen Gräbern“ zu tun haben. Doch wollte Klopstock weder ein Erlebnisgedicht noch ein Trauerpoem schreiben, sondern einen Text, dessen innerlicher Trost sich gegen die Vergänglichkeit richtet. Darum stellt er in der zweiten Strophenhälfte die Verbindung her zwischen den verstorbenen Freunden und den von ihm erfahrenen Naturstimmungen. Zum zweiten Mal im Gedicht gebraucht er den gefühlsbetonten Ausruf „o“, diesmal um den durch einen syntaktischen Zeilensprung enger zusammengeschlossenen Schlußsatz emphatisch einzuleiten. Auf die Aussage dieses Verspaars zielt die Gesamtkomposition hin: „O wie war glücklich ich, als ich noch mit euch / Sahe sich röthen den Tag, schimmern die Nacht!“ (V. 11/12). Exakt an dieser Stelle teilt sich das sprechende Ich dem Leser gleich zweifach unmittelbar mit. Das eindringlich unterstreichende Ausrufezeichen markiert den Schlußakzent des Gedichts. Danach setzt die auswertende Arbeit des Lesers ein. Er muß den Textbefund weiterdenken. Dazu folgt nun ein Vorschlag.

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Wir sehen, daß durch die lebendige Erinnerung an die herbeigerufenen toten Freunde die zunächst voneinander isolierten Eindrücke in einer anrührenden Affektbewegung zum Erlebnis glücklichen Einvernehmens werden und zwar in geistiger Gemeinschaft mit den Verstorbenen. Morgenröte und Nachtschimmer verbinden sich, über den Tod hinaus, im Zeichen zwischenmenschlicher Einvernehmens und empfindsamer Naturbegeisterung zum haltbaren lebendigen Miteinander in der Weltordnung. Diese zeitenthobene Erfahrung ist ganz frei von ausschließlich ichbezogenen Gedanken und gewinnt dadurch unversiegbare Kraft. Der Philosoph Ernst Bloch hat diese besondere Tiefenwirkung des Angedenkens bei den Überlebenden in der Sammlung „Spuren“ mit den folgenden Worten einleuchtend beschrieben: „Im Scheiden bleibt das gewesene Jetzt anders bei uns, vor allem, wenn es nicht zu Ende gelebt wurde“ 37. Dieses bei uns bleibende Andere vermag uns seelisch zu erheben. Aller Trauer und allem Schmerz zum Trotz erweitert sich – mit deutlichem Blick auf die gegenwärtige Lebenswirklichkeit – die Klopstocksche Ode dadurch insgeheim zum Fest gefühlsgewisser menschlicher Verbundenheit, gemäß der in der Ode „Der Zürchersee“ für die Freundschaft verkündeten Maxime: „So das Leben genießen, / Nicht unwürdig der Ewigkeit!“ 38 Heute werden die Gedichte Klopstocks nur noch selten gelesen. Das war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anders. Damals übten gerade Oden wie „Die frühen Gräber“ eine starke Wirkung aus. Inhaltliche Intensität und modulierte Form paßten vorzüglich zum gefühlsbestimmten Gemeinschaftsgeist kultivierter Empfindsamkeit jener Zeit. Man strebte eine „Vergegenwärtigung des idealen Selbst“ 39 an und fand sie in derartigen Versen. Deswegen ist es bezeichnend, daß Johann Heinrich Voß, wie erwähnt, in seinem bürgerlich-sentimentalen Epos „Luise“ auf den Gedichttext „Die frühen Gräber“ anspielen konnte, weil er die Vertrautheit mit dem Gedicht bei der Leserschaft voraussetzen konnte. Zudem haben die Vertonungen von Christoph Willibald Gluck und Johann Friedrich Reichardt wesentlich zur Verbreitung gerade dieser Verse beigetragen. Im öffentlichen Bewußtsein hatte der Dichter Klopstock seinerzeit einen festen Platz. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ließ jedoch das Interesse an seinem Werk nach. Schuld daran war allermeist eine verfehlte Rezeption. Wolfgang Promies hat in diesem Zusammenhang auf ein besonders symptomatisches Beispiel des Mißbrauchs im Namen ‚traditionell christlicher und allgemein-menschlicher Werte‘ aufmerksam gemacht. In einem 1798, also noch zu Lebzeiten Klopstocks erschienenen Buch berichtete der Autor Georg Wilhelm Mundt anerkennend von der unsäglichen ‚pädagogischen‘ Maßnahme eines Pfarrers namens Burgheim, der es für erstrebenswert ansah, mit den ihm anvertrauten Kindern einen Kirchhof zu besuchen, „Dämmerung, Mondschein und wehmütige Erinnerung an Frühverstorbene“ zu beschwören und „mit sanft-männlicher 18  

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Stimme“ die erste und die dritte Strophe von Klopstocks Gedicht zu intonieren40, um so die nachempfindende Rührung der Heranwachsenden auszulösen41. Das absichtliche Weglassen der zweiten Strophe sollte wohl die darin gefeierten Frühlingserwartungen und Lebensversprechungen von vornherein auszuklammern. In den Augen des Kirchenmannes gab es offenbar neben Schmerz und Tod keine Freude und kein Licht. Daß er damit den Text Klopstocks verfälschte, scheint den moralisierenden Klerikal-,Didaktiker‘ nicht weiter beschäftigt zu haben. Glücklicherweise gab es auch andere, angemessene Reaktionen. Erwähnt seien lediglich zwei Zeugnisse aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Der Romantiker Joseph von Eichendorff kommt in seiner lesenswerten „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands“ (1857) zum Ergebnis: „Das Wahrste in Klopstocks Dichtung sind seine Oden. In der Lyrik ist diese subjektive Gefühlspoesie in ihrer angeborenen Heimat, und daher fast überall hinreißend, erschütternd und erhebend“ 42. Von unserem Gedicht her kann man dem nur zustimmen. Überraschend erscheint das im Ergebnis gleichgerichtete Urteil des völlig unromantischen Schriftstellers Peter Rühmkorf. Speziell im Blick auf „Die frühen Gräber“ lobt er die „seelische Wahrheit und poetische Schönheit“ gerade dieser Ode und entzieht sie damit der unangemessenen Vereinnahmung durch „die Fürsprecher einer harmonierenden Ruhestandsliteratur“ 43. Ihm und Eichendorff folgend, kann und sollte Klopstock, dieser Wegbereiter ernstzunehmender deutscher Dichtung, gerade auch heute wieder gelesen werden. Der hierbei zu empfehlende kritische Abstand dürfte heutigen Lesern nicht schwer fallen. Das Gedicht „Die frühen Gräber“ ist ohnehin darüber erhaben.

Anmerkungen 1 2 3 4

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Klopstock, Friedrich Gottlieb: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Karl August Schleiden. München 1962, S. 1034: (Sigle: Schleiden). Kaiser, Gerhard: Klopstock. Religion und Dichtung. 2.A. Kronberg/Ts 1975, S. 105 (Sigle: Kaiser). Diese Formulierung steht im Zentrum der Ode „An Johann Heinrich Voß“ (F.G. Klopstock’s Oden und Epigramme. Leipzig o.J., S.195; Sigle: OE). In der 1747 entstandenen Ode „Der Lehrling der Griechen“ lautet der ganze Aussage zur Wirkungsabsicht des Dichters: „Ihm ist, wenn ihm das Glück, was es so selten that, / Eine denkende Freundin gibt, / Jede Zähre von ihr, die ihr sein Lied entlockt, / Künft’ger Zähren Verkünderin“ (OE, S. 8). Rühmkorf, Peter: Walther von der Vogelweide Klopstock und ich (= dnb 65). Reinbek bei Hamburg 1975, S. 79 (Sigle: Rühmkorf ). OE, S. 183 („An Freund und Feind , 1781). Winckelmann, Johann Joachim: Kleine Schriften und Briefe. Hrsg. v. Wilhelm Senff. Weimar 1960, S. 36. „Die frühen Gräber“  

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18 Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. 2, S.  42 („Über die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente“, 1768) 19 WA I.27,296. 10 Lessing, Gotthold Ephraim: Sämtliche Werke Hrsg. v. Karl Lachmann, 3.A., besorgt von Franz Muncker, Bd. 8, Stuttgart 1892,. S. 261 f. und 263 (Aus den Briefen die neueste Litteratur betreffend, Hundert und elfter Brief (12.6.1760). 11 So im frühen Gedicht „Mein Vorsatz“ (1787), V.11/12 (zit. n.: Stuttgarter HölderlinAusgabe. Hrsg. v. Friedrich Beißner. Bd. 1, Stuttgart 1946, S. 28). 12 Schneider, Karl Ludwig: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert“. 2.A. Heidelberg 1965, S. 49. Schneider übernimmt dabei die Gedanken Beißners aus den vierziger Jahren (Beißner, Friedrich: Klopstock als Erneuerer der deutschen Dichtersprache. In: Zeitschrift für Deutschkunde 56/1942, S. 235–240). 13 Friedrich Schlegel sprach mit Recht von einer „Nationalpoesie für die Dilettanten der Deutschheit“ (Schlegel, Friedrich: Prosaische Jugendschriften. Hrsg. v. Jacob Minor, Bd. 1. Wien 1882, S. 92). 14 Große, Wilhelm: Studien zu Klopstocks Poetik. München 1977, S. 107. 15 Friedrichs von Schiller sämmtliche Werke, Bd. 18. Stuttgart, Tübingen 1826, S. 275. 16 Rühmkorf, S. 97. 17 OE, S. 123. 18 Die hauptsächlichen Odenformen sind: die alkäische, die asklepiadeische und die sapphische Strophe. 19 Zit. n.: Schleiden, S. 1112 (Brief an Meta Moller v. 24.12.1751). 20 Die theoretischen Grundlagen hierzu formulierte Klopstock in der Schrift: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen (1756). 21 Für das Textverständnis erbringt es nicht viel, wenn man weiß, daß der erste Vers dominant anapästisch, der zweite halb ‚glykonisch‘, der dritte halb ‚daktylisch‘ und der vierte choriambisch gebaut ist. Es handelt sich eben um eine metrisch von Klopstock selbständig entwickelte strophische Gestaltung. 22 Vgl. hierzu das Kapitel „Inhalt und Ausführung“ in der „Gelehrtenrepublik“ (Schleiden, S. 901 f.). 23 Schleiden, S. 1035. 24 Oxymoron ist eine rhetorische Figur, bei der zwei sich widersprechende Begriffe miteinander verbunden werden. 25 Definitiv wird die personale Identität beider Instanzen erst in Vers 11 nachgewiesen. 26 Ausnahmsweise hilft hierbei das Grimmsche Wörterbuch nicht weiter. Es führt zwar unter Verweis auf das Klopstocksche Gedicht den Begriff auf, erläutert ihn jedoch nur dürftig als „freund des denkens“ und „freund des sinnenden gedankens“. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 4. Bd., 1. Abt., Erste Hälfte: Forschel – Gefolgsmann. Leipzig 1878, S.  1975. 27 Wir lesen in der dritten Idylle: „Da trat an das Fenster Amalia, blickte den Mond an / Und das Gewölk, das flüchtig mit wechselndem Glanz ihn vorüber / Wallete, jetzt ihn enthüllt’ und dunkler jetzo dahinzog“ (Voß, Johann Heinrich: Werke in einem Band. Hrsg. v. Hedwig Voegt. Berlin, Weimar 1966, S. 135; Sigle: Voß).

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28 Goethe gebraucht im Gedicht „Dem aufgehenden Vollmonde“ (1828) gleichfalls die direkte Anrede des Mondes: „Dich umfinstern Wolkenmassen, / Und nun bist du gar nicht da“ (WA I.4,108, V3/4). 29 Klopstock stellte hierzu fest: „Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher, wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehnen Götter“ (Schleiden, S. 1036 f.). 30 Bezeichnenderweise hat Klopstock eine 1766 entstandene Ode zum gleichen Thema mit der Überschrift „Die Sommernacht“ versehen (vgl. hierzu: OE, S. 127). 31 Schleiden, S. 1035. 32 Dementsprechend bildete sich um Klopstock ein erster Freundschaftsbund mit dem Prediger Johann Andreas Cramer und dessen Frau (Cramerina), Johann Arnold Ebert, dem Übersetzer von Edward Youngs „Nachtgedanken“; Karl Christian Gärtner, Christian Fürchtegott Gellert, Nikolaus Dietrich Giseke, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Ewald Christian von Kleist, Gottlieb Wilhelm Rabener, Johann Adolf Schlegel, Johann Christoph Schmidt und dessen Schwester Maria Sophia (Fanny), bald auch mit Friedrich von Hagedorn. Ein zweiter Freundeskreis entstand in der Kopenhagener Zeit mit Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff, Karl Friedrich Cramer (Sohn von Johann Andreas), Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, dem Komponisten Christoph Willibald Gluck, Friedrich Gabriel Resewitz und den Grafen Christian und Friedrich Leopold von Stolberg. In Hamburg, wo Klopstock von 1770 bis zu seinem Tode lebte, hatte er vor allem näheren Umgang mit Carl Philipp Emanuel Bach, Bernstorff, Matthias Claudius, Gerstenberg, den Geschwistern Stolberg und Johann Heinrich Voß. 33 Rühmkorf, S. 96. 34 Hinzu kam zudem noch der Tod des geliebten Vaters von Klopstock 1756. 35 Kaiser, S. 317. 36 Voß, S. 290. 37 Bloch, Ernst: Spuren. Neue erweiterte Ausgabe (= BS 54). Frankfurt/M. 1959, S. 90. 38 OE, S. 60. 39 Hurlebusch, Klaus: Friedrich Gottlieb Klopstock. In: Deutsche Dichter, Bd. 5: Aufklärung und Empfindsamkeit (= RUB 8613). Hrsg. v. Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart 1988, S. 170. 40 Promies, Wolfgang: Kinderliteratur. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution (1680–1789). Hrsg. v. Rolf Grimminger (= dtv 4345). Zweiter Teilband. München 1980, S. 828–831. Er verweist dort auf das Buch Mundts: Burgheim unter seinen Kindern. Neue Gespräche und Erzählungen für Kinder von acht bis vierzehn Jahren über Natur und Menschenleben (Zitate bei Promies: S. 829). 41 Im Buch Mundts heißt es dazu: „Die Kinder schlossen sich an einander und weinten stille Thränen, in welchen der Mond sich spiegelte“ (!) (a.a.O., Anm. 40, S. 830). 42 Eichendorff, Joseph von: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 9. Hrsg. v. Wolfram Mauser. Regensburg 1970, S. 214. 43 Rühmkorf, S. 97 und 116.

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„Der Tod und das Mädchen“ (1774)

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u denjenigen, die sich für die Dichtkunst Klopstocks von Anfang an begeisterten, gehörte auch der Mann, dessen „Abendlied“ wie nur wenige andere Gedichte volksliedartige, zeitüberdauernde Verbreitung gefunden hat – der als ‚Wandsbecker Bote‘ bekannt gewordene Schriftsteller und Zeitungsmacher1 Matthias Claudius (1740–1815). In seine im Frühjahr 1775 unter dem Pseudonym Asmus veröffentlichten Sammlung „sämtlicher Werke des Wandsbecker Boten“ 2 nahm er, in höchsten Tönen lobend, die Ode Klopstocks „Die frühen Gräber“ auf und merkte dazu sogar an: „Das wollt ich wohl gemacht haben“ 3. Diese Bekundung überrascht insofern, als zwar beide Autoren in ihrer selbstverständlich-christlichen Glaubenshaltung weithin übereinstimmen, in ihrer ästhetischen Orientierung sich jedoch diametral unterscheiden. Der Verfasser volkstümlich-einfacher Verse bewunderte an den elaborierten Oden Klopstocks ihren künstlerischen Schwung. Sie seien, so seine bildkräftige Huldigung, wie „ein kühnes Roß mit freiem Nacken“ 4. In erster Linie anerkannte er den die poetische Sprachgestaltung charakterisierenden „warmen hohen Geist“. Dabei praktizierte er selbst aber konventionelle Reimgedichte, allermeist einfache Vierheber in regelmäßiger Metrik. Klopstock war um schöpferische Innovation bemüht, stellte die dichterische Berufung in den Mittelpunkt. Claudius hingegen wollte kein ‚Dichter‘ sein, sondern strebte den, wie er sagte, „naiven launigten (launigen) Ton“ der Volkssprache an5. Ungeachtet solch extremer Gegensatzpositionen stimmen beide Schriftsteller in zwei Punkten überein. Sie repräsentieren, jeder auf seine Art, eine Dichtung, die sozialen Rang gewinnt, ohne auf die damals übliche Förderung durch die Herrschenden angewiesen sein zu wollen. Gleichfalls gemeinsam ist beiden Autoren eine wie selbstverständliche Wertschätzung von Gefühl und Gemüt. Beispielhaft repräsentieren sie jene wahre Empfindsamkeit, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit ihrer neuen Ich-Erfahrung eine emanzipative, bürgerlich bestimmte geistige und soziale Strömung auslöste. Bei dem im Vergleich zu Klopstock materiell wesentlich schlechter gestellten Claudius ging jedoch das feste, konstruktive Vertrauen in die Schöpfungsharmonie verständlicherweise immer einher mit einer tiefen Lebensmelancholie. Zurecht sprach Peter Suhrkamp ihm als Leitmotiv die „heimliche Trauer“ eines „transzendentalen Heimwehs“ 6 zu. Grundfalsch wäre es, ihn deswegen einfach als erbaulich-belehrenden 22  

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„Dichter aus frommer Berufung“ 7 einzustufen. Neben das Harmonisch-Idyllische tritt bei Claudius immer das Elegisch-Düstere, ausgelöst nicht bloß durch Existenzsorgen, sondern durch ständiges Ringen mit der Lebensangst. Nicht umsonst setzte er seiner Sammelausgabe das makabre Frontispiz mit dem Knochenmann „Freund Hain“ voran8. Ihm widmete er sein Werk mit den Worten: „Er soll als Schutzheiliger und Hausgott vorn an der Haustüre des Buchs stehen“ 9. Die merkwürdig erscheinende Widmung hatte vielfache Gründe. Von früher Jugend an sah sich Claudius gehäuften Todesfällen in der Familie und im näheren Umfeld konfrontiert. Schon 1763 übersandte er dem befreundeten Heinrich Wilhelm von Gerstenberg ein familiär gehaltenes „Wiegenlied“ mit den aufschlußreichen Begleitworten: „Das sind in einem ganzen Jahr fast alle Reime, die ich gemacht habe. (…) Hätte ich noch sonst was machen sollen, so hätte es vom Grab und von Totengräbern und Bahren und Beinhäusern (…) sein müssen, denn das ist itzo mein Feld“ 10. Danach ist es nicht weiter verwunderlich, daß an vielen Stellen des Werkes Todesgedanken thematisiert werden. Ständig lauert irgendwo das Gerippe mit der Sense. Kaum ein Jahr nach der gerade angeführten Bemerkung findet sich in einem Brief an Johann Heinrich Voß bezeichnenderweise der folgende lyrische Dialog, den Claudius dann auch alsbald im „Göttinger Musenalmanach“ und im „Wandsbecker Boten“ an die Öffentlichkeit brachte. Hier zunächst die Brieffassung: Der Tod und das Mädchen Mädchen: Vorüber, ach! vorüber Geh, wilder Knochen-Mann! Ich bin noch jung; geh lieber! Und rühre mich nicht an.

Tod: Gib Deine Hand, Du zart und schön Gebild! Bin Freund und komme nicht, zu strafen. Sei gutes Muts, ich bin nicht wild; Sollst sanft in meinen Armen schlafen! 11

Daneben gleich die als verbindlich anzusehende Buchfassung:: Der Tod und das Mädchen Das Mädchen: Vorüber! Ach, vorüber! Geh, wilder Knochenmann! Ich bin noch jung, geh Lieber! „Der Tod und das Mädchen“  

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Und rühre mich nicht an. Der Tod: Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! Bin Freund, und komme nicht, zu strafen. Sei guten Muts! Ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen Armen schlafen! 12 Auf den ersten Blick unterscheiden sich beide Fassungen allein in der Interpunktion und in stellenweise wechselnder Groß- und Kleinschreibung.. Im dritten Vers allerdings ist ein auffallender Eingriff zu vermerken: Aus dem adverbialen Synonym von ‚besser‘ („lieber“) wird durch die Großschreibung die substantivische Anrede des Todes als „Lieber“. Was es mit dieser Veränderung genau auf sich hat, ist im Rahmen der Textinterpretation zu klären. Zuvor muß aber noch eine historische Situierung des hier behandelten Themas erfolgen. Claudius stellt sich nämlich mit diesem Gedicht in eine weit zurückreichende Tradition. Bekanntermaßen sind Tod und Liebe Urthemen aller Dichtung. Das Begriffspaar ‚Liebe und Tod‘, griechisch: ‚Eros und Thanatos‘, vereinigt in sich die Grundspannung unseres Lebens. Durch die Geburt ins Leben geworfen, empfangen wir mit dem Erwachsenwerden durch Eros jenen entscheidenden Lebensantrieb, der uns eine gesteigerte Existenz beschert und zugleich den allgemeinen Lebensstrom gewährleistet. Aber neben dieser harmonisierenden Macht der Liebe ist immer auch das entfremdende Bewußtsein der Todesverfallenheit in uns. Thanatos, der Helfer des Hades, geht ohne Unterlaß unter den Menschen um. Eros vermittelt Dynamik und Energie, Thanatos hingegen befördert uns ins Reich des ewigen Schlafes. Jeder der beiden setzt auf seine Weise die Zeit außer Kraft. Bekanntlich spielt für Liebende die Zeit keine Rolle. Thanatos aber hat nicht ohne Grund ein Schwert zur Hand. Er bewirkt das endgültige Heraustreten aus der Zeit, denn mit dem Erlöschen der Lebensenergie endet unsere Bewegung auf der vorgegebenen Zeitschiene. Für unseren Zusammenhang ist nun von speziellem Interesse, daß seit dem 12. Jahrhundert in der Literatur Streitgespräche zwischen dem Tod und einem Menschen auftauchen. Zuvor gab es bereits den mittelalterlichen Volksglauben nächtlicher Tänze von Toten auf den Friedhöfen, die Lebende in ihren Reigen einbeziehen, um sie ins Totenreich hinüberzuführen. Leitbild war dabei die christliche Denkweise, daß Christus die Verstorbenen in den himmlischen Reigen aufnimmt. Die hierbei mitschwingende Verbindung von Liebe und Tod bestimmte in starkem Maß die bildlichen Darstellungen des Totentanzes. Im Verlauf des 14. Jahrhunderts breitete sich diese von Spanien und Frankreich ausgehende zyklische Gestaltung des Todesthemas auch in Mitteleuropa aus („Danza de la Muerte“, „danse macabre“ > Totentanz)13. Der Tod, in der Regel als Skelett dargestellt, fordert Vertreter aller Stände und Lebensalter zum Tanz auf und ruft sie da24  

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mit – Sinnbild für die menschliche Wanderung durch das Erdentreiben – aus dem Leben ab. Ein wesentliches Element der Totentanz-Zyklen ist das Motiv ‚Tod und Jungfrau‘. Lebenserwartung und Todesschicksal stoßen durch die Konfrontation von jugendlicher Schönheit und Vergänglichkeit besonders kraß aufeinander. Die Totentanz-Zyklen wirkten wiederum prägend auf die moralisierenden ‚Memento mori-Bilder‘ der Barockzeit ein. Nicht selten wurde damals die Allegorie der Vergänglichkeit (vanitas) personifiziert durch engelhafte Mädchengestalten. Milde Erotik durchschwingt insofern diese Bilder einer ansonsten eher düster-melancholischen Atmosphäre. Die direkt herausgestellte Konfiguration von Tod und jungem Mädchen illustriert die extremste Spannungsmöglichkeit von Schönheit und Vergehen, Leben und Tod. Im deutschen Sprachraum erscheint der personifizierte Tod häufig als ‚Freund Hein‘ (oder ‚Hain‘). Das war, in Anlehnung an die niederdeutsche Kurzform des Rufnamens Heinrich, die volkstümlich-saloppe Bezeichnung für den Tod als Schnitter mit der Sense. Claudius hat, wie bereits erwähnt, „Freund Hain“ durch die Widmung seiner sämtlichen Werke in die Literatur eingeführt14. Bezugnehmend auf Lessings wenige Jahre zuvor erschienenen Artikel „Wie die Alten den Tod gebildet“ (1769), in dem der leidenschaftliche Aufklärer an das versöhnliche Todessymbol der Griechen erinnert (in Gestalt eines geflügelten Jünglings, der mitleidvoll-trauernd mit einer gesenkten, also erloschenen Fackel neben dem Leichnam steht)15, schreibt Claudius: „s’ist das wirklich ein gutes Bild vom Hain; bin aber doch lieber beim Knochenmann geblieben. (…) Er ist auch so, dünkt mich, recht schön, und wenn man ihn lange ansieht, wird er zuletzt ganz freundlich aussehen“ 16. Claudius blickt über Sarg, Grabesdunkel und Verwesung hinaus. Das gehört zu seinem religiösen Todesbild. Ohne die Todesangst in Abrede zu stellen, verwahrt er sich gegen das christliche Todesverständnis als einer kollektiven Bestrafung der Erbsünde. Er hält jedoch den Gedanken der Einheit von Tod und ewigem Leben aufrecht und merkt deshalb an: „Der Tod ist ´n eigner Mann. Er streift den Dingen dieser Welt ihre Regenbogenhaut ab, und schließt das Auge zu Tränen und das Herz zu Nüchternheit auf ! Und es ist ein großer Gewinn, alles was man tut wie (…) unter seinen Augen zu tun“ 17. Soweit die Traditionslinien, die zur Entstehung des Gedichts beigetragen haben, das uns nun genauer beschäftigen wird. Spürbar geht es im Dialog zwischen Mädchen und Tod wirklich ‚um Leben und Tod‘. Claudius verfaßte das Gedicht in deutlicher Anknüpfung an die Traditionen des Streitgesprächs und des Totentanzes. Im Rahmen zweier Strophen entfaltet er eine leidenschaftliche lyrische Zwiesprache. Die zwei jambischen Vierzeilerstrophen in einfacher Kreuzreimanordnung (abab) unterscheiden sich nicht nur durch die Zeilenlänge, sondern vor allem durch den völlig anderen Rhythmus. Während „Der Tod und das Mädchen“  

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die Mädchenstrophe aus kurzen, unruhig erscheinenden Dreihebern mit einsilbig,stumpfen‘ Endreimen besteht („Knochenmann“, „an“), wirkt der Sprachfluß der Todesstrophe mit ihren fünf-, bzw. vierhebigen Versen18 und rhythmisch ausschwingenden, zweisilbig-,klingenden‘ Endreimen („strafen“, „schlafen“) entschieden ausgeglichener und harmonischer. Besonders auffallend ist die völlig gegensätzliche Wortwahl und Sprechweise der Dialogpartner. Nicht unwesentlich tragen dazu die zwischen Brieffassung und Buchfassung vorgenommenen Veränderungen im Text bei. Genaues Hinsehen gibt, besonders in der Mädchenstrophe, entscheidende Unterschiede zu erkennen. Gleich das erste Verspaar ist in dieser Hinsicht interessant. Wechselnde Interpunktion und eine unterschiedliche Versgestaltung führen, ungeachtet des übereinstimmenden Wortmaterials, zu einer entschieden andersgearteten syntaktischen und rhythmischen Ordnung und damit zu voneinander abweichenden Aussagen. Die anfängliche Formulierung zeigt uns eine extrem verunsicherte Sprecherin. Ihre erregten Ausrufe reißen die metrische Abfolge auf. Das räumlich aufzufassende Adverb „vorüber“ bildet in direkter Verbindung mit der schmerzliches Erstaunen artikulierenden Interjektion eine herausgehobene Aussageeinheit („Vorüber, ach!“, V. 1). Außerdem schafft das Enjambement nach der Wiederholung des Eingangsworts („vorüber / Geh“, V. 1/2) eine zweite, versübergreifende Aussageeinheit, die den ungebeten erscheinenden „wilden Knochen-Mann“ (V. 2) eindringlich dazu auffordert, die Sprechende zu verschonen. Zwei Ausrufezeichen untermauern die psychologisch bestimmte Durchbrechung der Versordnung. Ähnlich zerlegt der Bindestrich im Schlußwort dieser Sequenz („Knochen-Mann“) den Wortzusammenhang, wohl um so das Erscheinungsbild des Todes besonders scharf herauszustellen. Anders die Buchfassung. Dort wird durch die abgehobene Stellung des Initialworts („Vorüber!“, V. 1) der Redeton von vornherein klar akzentuiert. Claudius nimmt hierfür die Trennung des zweiten Versfußes in Kauf. Er betont sogar diesen Einschnitt mit dem Ausrufezeichen, um dadurch den Aufforderungscharakter noch zu verstärken. Die umverlagerte Interjektion ergänzt die Wiederholung der Aufforderung des Vers- und Gedichtanfangs („Vorüber!“ – „Ach, vorüber!“, V. 1). Mit einem zweiten Ausrufezeichen schließt der Eingangsvers jetzt mit dem Versende ab. Um so eindringlicher wirkt darum der mit schwebender Betonung einsetzende Folgevers („Geh“, V. 2), zumal auf diese Weise die Verbindung zum weiteren Satzteil unmittelbar hergestellt wird („Geh, wilder Knochenmann!“, V. 2). Aus dem verunsicherten „vorüber / geh …“ in der Brieffassung wird in der Buchfassung die überlegte Anrede des unerwünschten Gesprächspartners. Ein drittes Ausrufezeichen rundet die eindeutige Aufforderung zu gehen ab. Im neuen Kontext ist es nicht mehr nötig, die Wortbedeutung von „Knochenmann“ zu hinterfragen. Er steht der Sprecherin (wie auch dem Leser!) direkt vor Augen. 26  

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Noch folgenreicher ist die Veränderung im dritten Vers durch den Wechsel von der Klein- zur Großschreibung des Wortes „lieber“ > „Lieber“. Man kann dem Musikwissenschaftler nur zustimmen, der betonte, daß „der Entschluß zur Großschreibung nicht als philologische Marginalie abgetan werden“ darf19. Die adverbiale Bestimmung in der Erstfassung – im Sinne von ‚es ist besser, wenn du gehst‘ („geh lieber!“) – unterstreicht bloß das, was das Mädchen innerlich vorzöge: den möglichst schnellen Weggang des „Knochenmanns“. Daraus wird in der Endfassung die direkte Anrede des Todes als „Lieber“. Was zunächst als paradox erscheint, gewinnt tiefen Sinn, wenn man sich des Claudius’schen Todesbildes erinnert: „Er ist (…), dünkt mich, recht schön, und wenn man ihn lange ansieht, wird er zuletzt ganz freundlich aussehen“ 20. Mit Todessehnsucht hat dieser Satz gewiß nichts zu tun, wohl aber mit der Überzeugung, daß zwar das Todesschicksal unabwendbar droht, der gläubige Mensch aber darüber erhaben ist, weil er „dem Tod getrost vertrauen kann“ 21. In der Mädchenstrophe erklärt eine solche Glaubensgewißheit den von ihr plötzlich angeschlagenen vertraulichen Ton der Rede. Offenkundig weicht der anfängliche Schauder einem ungewollt-gewollten Einvernehmen. Wie unbewußt entfährt dem Mädchen die gleichsam persönlich-vertraute Anrede als „Lieber“. Selbstverständlich hat das, wie gleich zu zeigen sein wird, Folgen für das Verständnis des Gedichts. Weit weniger einschneidend sind die Änderungen in der Todesstrophe. Mit der Zurücknahme der Höflichkeitsform des Anredefürworts in der Brieffassung gewinnt in der Buchfassung die persönliche Ansprache allgemeineren Charakter („Deine“, „Du“ > „deine“, „du“, V. 5). Das ist, neben der Einsetzung eines Ausrufezeichens im siebten Vers, der einzige Eingriff in das ursprüngliche Textgefüge der zweiten Strophe. Die Worte des Todes sind gewissermaßen von Beginn an beruhigend und deshalb beherrschter und gleichmäßiger. Der Autor konnte sie darum ohne weiteres so stehen lassen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die vorgenommenen Änderungen in der Buchfassung insgesamt zweifellos eine poetisch schlüssigere Lösung darstellen. Was aber bedeuten diese Beobachtungen für das Textverständnis? Das soll nun im Zuge einer Deutung des eigenartigen Dialogs ermittelt werden. Zuerst die Mädchenstrophe. Aus ihrer frühlingshaften Lebensblüte heraus gibt die Sprecherin sogleich dem sie überkommenden tödlichen Schreck direkt Ausdruck. Da das bedrohliche Bild des „wilden Knochenmanns“ (V. 2) verständlicherweise existentielle Furcht in ihr auslöst, artikuliert sie ihre Ablehnung aufgewühlt in emotional herausgeschleuderten Satzfetzen. Verständlicherweise will sie nicht zum Kadaver werden. Ihre eindringliche Bitte, sie zu verschonen, nämlich an ihr „vorüberzugehen“ (V. 1 und 2), wird vom Autor in eine Form gebracht, die eine deutliche Reibung zwischen Syntax und Versgestaltung herbeiführt. Hauptsächlich ist das auf den eingefügten, elemen„Der Tod und das Mädchen“  

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tar klagenden Ausruf „ach“ (V. 1) sowie auf den abwehrend-imperativen Gestus der Rede des Mädchens insgesamt zurückzuführen, mehr aber noch auf die durch schwebende Betonung herausgehobene Stellung der zweimaligen Aufforderung „geh“ (V. 2 und 3). Hier artikuliert sich äußerste Angst. Vier Ausrufezeichen untermalen zudem die Dringlichkeit ihres unruhig-verzweifelten Sprechens. Betont macht sie ihr jugendliches Alter geltend und verwahrt sich ausdrücklich dagegen, vom Tod „angerührt“ zu werden (V. 4). Unversehens kommt es an dieser Stelle indes zu einer spürbaren Veränderung der Tonlage. Unvermittelt spricht das Mädchen den „wilden Knochenmann“ als „Lieber“ (V. 3) an. Wie bereits erwähnt, deutet das auf ein ungewollt-gewolltes Einvernehmen hin22. Eine solche Deutung bietet sich um so mehr an, als sie auch durch die Doppelbedeutung des Verbs ‚anrühren‘ bestätigt wird. Wenn sie nämlich sagt: „Und rühre mich nicht an“, weist sie es zwar von sich, be-rührt zu werden. Insgeheim jedoch scheint sie zu befürchten, innerlich vom Tod angerührt zu werden, also unterschwellig von ihm angetan zu sein. Jedenfalls aber relativiert sich im Verlauf ihrer kurzen Rede der Ur-Schreck des Anfangs wie auch der brennende Wille, unbedingt in der Welt des Lichts zu bleiben. Aus spröder Wegwendung wird eine diffuse emotionale Mischung von Verweigerung und Nachgeben, vielleicht sogar von einem gewissen Angezogensein. Denn die Rede des Mädchens klingt offensichtlich in einem zurückgenommenen Widerstand, wenn nicht gar in einer Art Wunschhypnose aus. Mit Recht hat eine Interpretin darin die „hilflose Gebärde versiegender Kraft“ und ein „unbewußtes Versprechen der Hingabe“ gesehen23. In der Tat muß man wohl von einem hilflos-unwillkürlichen Hinnehmen sprechen. Ganz anders ist die Strophe des Todes angelegt. Der vom Mädchen artikulierten Unruhe und Furcht will sie Beruhigung entgegensetzen. Da der Tod über die Eigenschaft des Unentrinnbaren verfügt, kann er sich unschwer gelassen und freundlich mitteilen. Mit sanften und verführerischen Worten versucht er, dem Mädchen die Angst vor dem „wilden Knochenmann“ zu nehmen. So erklärt sich die Bemerkung Werner Krafts: „Hier ist (…) der Tod ganz klingende Figur geworden. (…) Dieser Tod ist wahrlich Freund Hain“ 24. Dem Totentanz-Ritual entsprechend, bittet er, einem Freier gleich, um ihre Hand („Gib deine Hand“, V. 5). Unüberhörbar zieht er hierzu das Register des Liebesgesangs. Nicht nur, daß er aufmerksame Einfühlung in sein Opfer zeigt. Ihrer Schönheit und Jugend huldigend („du schön und zart Gebild“, V. 5), bekennt er sich mit Nachdruck als „Freund“ (V. 6). Absichtsvoll negiert er ihre Beurteilung, „wild“ (V. 2), also ungestüm oder gar unbeherrscht und unordentlich zu sein („ich bin nicht wild“, V. 7). Geschickt weist er damit jede böse Absicht von sich. Es ist deshalb keineswegs abwegig, wenn ein Interpret zu den Überredungskünsten anmerkt: „Der Tod parodiert gewissermaßen die Mädchenstrophe“ 25. 28  

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Allerdings verrät der Verzicht auf eine pronominale Bestimmung im dritten Vers seiner Rede („Bin Freund“, nicht: „Ich bin Freund“; V. 6), daß er letzten Endes ganz selbstverständlich eine überpersonal-distanzierte Rolle einnimmt. Souverän kann er über Menschenleben verfügen. Mit Nachdruck betont er, „nicht strafen“ (V. 6) zu wollen. Er verwahrt sich demnach davor, einen irgendwie gearteten Sühnetod zu repräsentieren. Vielmehr bekundet er mit seiner Rede einen liebenden Geist und erklärt seine Aufforderung zum Tanz als gesicherten Weg zum Todesschlaf ewiger Ruhe („Sei guten Muts!“, „Sollst sanft in meinen Armen schlafen“, V. 7 und 8). Indem er den Tod als Bruder des Schlafes ausruft, versucht er den Sensenhieb zu mildern. Mittels der Schlaf-Analogie gelangt das unterschwellig durchlaufende Liebeswerben zu seinem Höhepunkt. Als Streitgespräch einsetzend, entwickelt sich das Zwiegespräch unversehens zum einvernehmlichen Ausgang. Das letzte Wort hat der Mann mit der Sense. Aus der Antithese wird in der Sphäre des Todes Synthese. Vom Schluß her gesehen, offenbart sich die in der ersten Strophe lediglich ungewollt angedeutete Zuneigung („Lieber“) tatsächlich als „unbewußtes Versprechen der Hingabe“. Die Verführung zum Tode gelingt. Liebe und Tod fallen am Ende des Gedichts zusammen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Komponist Franz Schubert (1797–1828) den Text „Der Tod und das Mädchen“ zum Anlaß einer faszinierenden musikalisch-kompositionellen Übertragung genommen hat. Gleich zweimal befaßte er sich mit der Dialoggedicht von Claudius. In seinem Werk spielt das Thema von Liebe und Tod ohnehin eine zentrale Rolle. Nicht zufällig trägt das Lied op. 108/2 (D 758) den Titel „Todesmusik“. Adorno machte bereits 1928 darauf aufmerksam, die Musik Schuberts sei unzweideutig „Zeichen einer Intention, die allein sich durchsetzt über den Bruchstücken der trügenden Totalität des Menschen“ 26. Damit wandte er sich zunächst einmal gezielt gegen die seinerzeit gängige romantisch-sentimentale „Verkitschung Schuberts“ zwischen „Schöner Müllerin“, „Dreimäderlhaus“ und „Schwammerl“. Wohl als erster formulierte Adorno zur Wirkung des Schubertschen Werkes die für das Verständnis wegweisende Einsicht: „zu tief ist ihm der Tod eingesenkt, als daß es den Tod zu fürchten hätte“ 27. Der ungemein produktive Liederkomponist war ständig auf der Suche nach geeigneten Texten für seine musikalischen Einfälle. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, daß er bereits früh auf den Claudius-Text stieß. Anfang 1817, etwas mehr als vier Jahrzehnte nach der Entstehung des Gedichts (und nicht einmal zwei volle Jahre nach dem Tod von Claudius) machte sich der gerade Zwanzigjährige daran, den lyrischen Dialog zu vertonen. Der zweistrophigen Gliederung des Gedichts folgend, gestaltete er das gleichnamige Klavierlied (D. 531). Genauer Mitvollzug des Textes brachte ihn auf den einleuchtenden Gedanken, die erwähnte Liebe-Tod„Der Tod und das Mädchen“  

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Synthese durch eine entsprechende Anlage der Gesamtkomposition herauszuarbeiten. Schubert leistete das durch eine umrahmende Einbettung der beiden Strophen des Liedtextes. Das Zusammenspiel von Klavierbegleiter und Sänger ergibt einen konzentrierten, strikt fünfteiligen Ablauf: Vorspiel (Klavier) – Mädchenstrophe (Gesang mit Klavierbegleitung) – knapp überleitender Mittelteil (Klavier) – Todesstrophe (Gesang mit Klavierbegleitung) – Nachspiel (Klavier). Um die gesungenen Teile herum plazierte der Komponist also am Anfang und am Ende sowie dazwischen extrem kurze, indes höchst wirkungsvolle Klavierpartien in feierlichgemessenem Rhythmus. Sie prägen dem Ganzen einen strengen, fast choralartigen Ausdruckscharakter auf. Es handelt sich um eine „freie musikalische Paraphrase des Claudius-Gedichts“ 28. Wie dort sind die Gesangspartien, dem ersten Eindruck nach, gegenläufig gestaltet. Auf die unruhige Hektik der aufgewühlten ‚aria agitata‘ des Mädchenteils folgt dann die in der Art einer Pavane (ein in Italien entwickelter, würdevoller höfischer Schreittanz) gehaltene Todesstrophe. Insgesamt jedoch läuft die Liedkomposition aufgrund des getragenen Ablaufs der Harmonieverbindungen zum Ausdruck eines zwar schleppenden, aber entkrampften, ja erlösenden Todesreigens zusammen, in dessen Verlauf sich das Mädchen in einem „rätselvollen Todesfrieden“ 29 dem Tod überantwortet. Darum kann die anfängliche d-mollTonart am Ende definitiv in ihre „Durvariante (…) aufgehellt“ werden30. Schubert hat damit in der Tat eine kongeniale und überraschend „getreue Vertonung“ 31 des Claudius-Gedichts geleistet32 . Bei der Weiterführung des gleichen Themas mit dem Streichquartett Nr. 14, dmoll (D. 810), bekannt unter dem Titel „Der Tod und das Mädchen“, hat die kompositorische Leistung Schuberts noch an konstruktivem Gewicht und an inhaltlicher Weite und Tiefe gewonnen. Der Wegfall des Liedtextes erlaubte es dem Künstler, den Ausdruck vollständig auf die musikalische Konkretion zu konzentrieren. Das Quartett entstand zwischen März 1824 und Januar 1826. Gleich der erste AllegroSatz fällt durch seine heftige, dramatisch ausholende Leidenschaft auf. Man spürt etwas von der persönlichen Verzweiflung des Komponisten, der sich in jenen Jahren bereits dem Tode nah fühlte. Tatsächlich gehen Tod als unentrinnbares Schicksal und melancholisch-liebender Rückblick auf das Leben, einander aufhebend, doch auch wiederum einander erhebend durch die vier Sätze des Quartetts. Hauptsächlich aber geschieht das im langsamen Satz (Andante con moto). Hier nimmt Schubert das Klavierlied als Variationsthema auf. Diese Melodie bestimmt ohnehin den Gesamtcharakter des Werkes von den „erregenden Triolen des ersten Satzes bis zum atemlosen Totentanz des Finales“ 33, das nicht umsonst als „Todes-Tarantella“ bezeichnet wird. Ein weiteres Mal variiert der Komponist das Liedthema in Moll und Dur, um so die Auflösung der Spannungen in tröstlich-beruhigender Synthese herbeizuführen. Selten hat einer die Dialektik von Liebe und Tod so intensiv durchlebt 30  

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wie gerade Schubert. Welche Position damit erreicht ist, das hat wiederum Adorno in die Worte gefaßt: „einem Seismographen gleich (…) hat Schuberts Musik die Botschaft von der qualitativen Veränderung des Menschen notiert. (…) Wir weinen, ohne zu wissen warum; weil wir so noch nicht sind, wie jene Musik es verspricht. (…) Wir können sie nicht lesen; aber dem schwindelnden, überfluteten Auge hält sie vor die Chiffren der endlichen Versöhnung“ 34. Damit ist exakt beschrieben, was die „Todesmusik“ Schuberts für uns so wichtig macht: – die enge Verflechtung von Liebe und Tod. Denn das Wissen um diese enge Verbindung ist unerläßliche Voraussetzung für ein gesteigertes Leben. Schuberts musikalische Kreationen haben viel dazu beigetragen, daß weltweit breitere Kreise sich auch für das Gedicht von Claudius interessierten. So unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler wie Edvard Munch und Gustav Mahler, Horst Janssen und Wolfgang Hildesheimer, Friederike Mayröcker und Elfriede Jelinek, Martin Walser, Ariel Dorfman und Michel Tournier, Roman Polanski und Joachim Schlösser haben mit ihren Gestaltungen zum Thema „Der Tod und das Mädchen“ unmittelbar daran angeknüpft35. Fraglos stellt die von Matthias Claudius ausgehende Motivlinie einen Glücksfall im Zusammenwirken aller Künste dar

Anmerkungen 1 2

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Man kann mit Haacke in Claudius einen „Pionier des deutschen Feuilletons“ sehen (Haacke, Wiemont: Handbuch des Feuilletons, Bd. 1. 2.A. Emsdetten 1951, S. 284). „Asmus omnia sua secum portans oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Boten“. Erster und zweiter Theil. Wandsbeck 1774. Die Subskriptions-Anzeige zu dieser Sammlung erschien am 8.11.1774 in Nr. 179 des „Wandsbecker Boten“. Claudius, Matthias: Sämtliche Werke. Gedichte, Prosa, Briefe in Auswahl. Hrsg. v. Hannsludwig Geiger. Wiesbaden. o.J., S. 51 (Sigle: SW). SW, S. 84. SW, S. 873 (Brief an Herder, 1770). Suhrkamp, Peter: Vorwort aus dem Jahr 1941: Insel-Ausgabe des „Wandsbecker Boten“ (= it 130). Frankfurt/M. 1975, S. 26. König, Burghard: Matthias Claudius. Die literarischen Beziehungen in Leben und Werk. Bonn 1976, S. 15. Der abgebildete Kupferstich „Freund Hain“ stammt von dem Nürnberger Maler, Zeichner und Kupferstecher Johann Martin Preisler, der an der Mal- und Zeichenakademie in Kopenhagen arbeitete. Werner Kraft lobt die Bezeichnung „Freund Hain“ als eine geradezu „mythische Schöpfung des herrlichen Claudius“ (Kraft, Werner: Matthias Claudius und die Existenz. In: drs.: Augenblicke der Dichtung. München 1964, S. 112; Sigle: Kraft). „Der Tod und das Mädchen“  

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SW, S. 10. SW, S. 862 f. (Brief an Gerstenberg v. 2.10.1963). SW, S. 884 (Brief an Voß v. 21.8.1774). SW, S. 85. Einen informativen und fundierten Überblick über die Tradition des Totentanzes gibt das Buch von Uli Wunderlich (Wunderlich, Uli: Der Tanz in den Tod. Totentänze vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Freiburg i. Br. 2001. Es ist in dieser Hinsicht aufschlußreich, daß der Weimarer Märchensammler und Schriftsteller Johann Carl August Musäus 1785 zusammen mit dem Schweizer Illustrator Johann Rudolf Schellenberg ein vielgelesenes Buch unter dem Titel „Freund Heins Erscheinungen in Holbeins Manier“ herausbrachte. Lessings Schlußfolgerung in der Schrift lautet: „so sehe ich nicht, was unsere Künstler abhalten sollte, das scheußliche Gerippe wiederum aufzugeben, und sich wiederum in den Besitz jenes besseren Bildes zu setzen“ (gemeint ist das Bild des „geflügelten Jünglings“ als „Bild des Todes“). Zit. n.: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Lachmann. 3.A., besorgt durch Franz Muncker. Bd. 11. Stuttgart 1895, S. 55 und S. 11. Claudius geht ausführlich auf Lessings Artikel ein (s. hierzu: SW, S. 10 f.). SW, S. 11. SW, S. 245 (Über einige Sprüche des Predigers Salomo). V. 5 ist fünfhebig; die übrigen drei Verse (V. 6–8) sind vierhebig. Urmoneit, Sebastian: Untersuchungen zu Schuberts Klavierlied ‚Der Tod und das Mädchen‘. In: Musik-Konzepte 97/98: Franz Schubert ‚Todesmusik‘. Hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. München 1997, S.44–65; Zitat: S. 47. SW, S.11. Roedl, Urban: Matthias Claudius. Sein Weg und seine Welt. Berlin 1934, S. 140. Kranefuß sieht in der Großschreibung von „Lieber“ völlig falsch eine Verschärfung des „flehenden Tons der Abwehr“, obwohl sie zuvor zutreffend ein „unbewußtes Versprechen der Hingabe“ erkannt hat (Kranefuß, Annelen: Die Gedichte des Wandsbecker Boten. Göttingen 1973, S. 160 und 159). Ebd., S. 159. Fragwürdig ist indes ihre Interpretation der Versgestaltung der Mädchenstrophe als „atemlos, abgehackt, schrill“ (ibid.). Davon kann nicht einmal in der Erstfassung die Rede sein. Kraft, S. 112. Sommer, J. Carl Ernst: Studien zu den Gedichten des Wandsbecker Boten. Hildesheim 1971, S. 43. Adorno, Theodor W.: Schubert (zuerst in der Zeitschrift ‚Die Musik‘, XXI, Heft 1/1928); zit. n.: drs.: Moments musicaux (= es 54). Frankfurt/M. 1964, S. 18–36 (Zitat: S. 19). Drs.: a.a.O., S. 22 und 25. Werner-Jensen, Arnold (Hrsg.): Reclams Kammermusikführer. Stuttgart 1995, S. 546. Kaiser, Joachim: Franz Schubert: Der Tod und das Mädchen. Streichquartett Nr. 14 d-moll (D. 810). In: drs.: Kaisers Klassik. 100 Meisterwerke der Musik. 3.A. München 2001, S. 224.

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30 Dies die Formulierung Urmoneits (a.a.O., Anm. 19, S. 55). Er verweist im gleichen Zusammenhang auf die auffallende „Auflösungsharmonie (… ) des Epilogs“ (ebd.: S. 56.). Wir verdanken dem Autor überdies eine sorgfältige Beschreibung der formalen Lösungen von Schuberts Liedkomposition (ebd., S. 55–65). 31 Sommer: a.a.O., Anm. 25, S. 42). 32 Die maßstabsetzende Interpretation der Liedfassung ist die des Baritons Dietrich Fischer-Dieskau, am Klavier begleitet von Gerald Moore, in einer Aufnahme aus dem Jahr 1965 (EMI Classics). 33 So Gerhard Hanschke im Begleittext zur Schallplattenaufnahme des Streichquartetts dmoll (D 810) durch das Amadeus-Quartett (Deutsche Grammophon, Polydor International: Stereo 2535 314; 1960). 34 Adorno, Theodor W.: a.a.O., Anm. 26, S. 36. 35 Von Munch gibt es ein Ölgemälde „Das Mädchen und der Tod“ von 1893 sowie eine gleichnamige Radierung von 1894. Gustav Mahler erstellte eine Orchesterfassung von Schuberts Quartett. Ihm folgte 1995 der Komponist Siegfried Matthus mit einer Bearbeitung für Streichorchester. Von Horst Janssen stammen acht großformatige Radierungen zum Thema (1974). Hildesheimer legte 1983 eine collagierte Dreierserie mit dem Titel „Der Tod und das Mädchen“ vor. Friederike Mayröcker schrieb im Oktober 1983 ein Hörspiel „Der Tod und das Mädchen“. Elfriede Jelinek schloß sich ihr an mit einer 1999 veröffentlichten „kleinen Trilogie des Todes“, deren Mittelteil die gleiche Überschrift trägt. Ein Jahr später folgten „drei kleine Dramen“, darunter als Schlußteil „Der Tod und das Mädchen II“. Inzwischen gibt es die Folge „Der Tod und das Mädchen I-V“ (2003). Martin Walser hat das Streichquartett Schuberts im Roman „Brandung“ (1987) als Leitmotiv verwendet. Ariel Dorfman verfaßte in gleicher Weise ein Theaterstück („La muerte y la doncella“, 1991), das von Roman Polanski 1994 eindrucksvoll verfilmt wurde (Death and the Maiden“). Michel Tournier schrieb eine Novelle «La jeune fille et la mort» (1993). Joachim Schlösser befaßte sich mit dem gleichen Thema als Choreograph (1991). Inzwischen haben sich auch Comic- und Krimi-Autoren über das Thema hergemacht (Webcomic von Nina Ruzicka und Polizeiruf 110).

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it einmaliger, wie selbstverständlicher Vehemenz eröffnete Goethe (1749–1832) im Jahrzehnt zwischen 1765–1775, zunächst noch so gut wie unbemerkt von der Öffentlichkeit, seine außergewöhnliche dichterische Laufbahn. Etwa 150 von den über 3000 Gedichten, die er im Verlauf seines langen Lebens schrieb, entstanden in dieser Anfangsphase zwischen dem Studium in Leipzig und der Übersiedlung nach Weimar. Naturgemäß mußte er dabei erst einmal in produktiv-kritischer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Dichtung seinen eigenen Weg finden. Die lyrische Gestaltung der ganz persönlichen Lebenswelt setzte handwerkliche Einübung anhand der bestehenden Praxis voraus. Für Goethe war das die moralisierende Aufklärungsliteratur „nüchterner Weltbetrachtung“ 1 und besonders die nicht gerade tiefschürfende, aber formgewandte, leichtfüßig daherkommende Rokoko-Anakreontik mit ihrem galant-tändelnden, immer neu variierten Themenkatalog um Liebe, Natur und Geselligkeit im idyllischen Schäferambiente. Ebenso rasch und souverän wie er sich in beide Tendenzen einarbeitete, ließ er sie auch wieder hinter sich. Es war ein unerläßlicher Durchgang, der ihm die freie Bahn zur Umsetzung des eigenen Erlebens öffnete, so daß er rückblickend sagen konnte: „Ich dancke den Göttern, dass sie mir die Gabe gegeben in nachklingende Lieder das eng zu fassen, was in meiner Seele immer vorgeht“ 2. Der junge Goethe realisierte mit seinem erlebnishaften Sprechen den einfachen, natürlichen Ausdruck individueller Erfahrungen und Gefühle. Das bedeutete nicht weniger als den eigentlichen Durchbruch jener wichtigen Literaturströmung, die wir als „Sturm und Drang“ einzuordnen gewohnt sind. Was, seiner Spontaneität und der direkt-individuellen Präsentationsform wegen, von vielen kurzerhand als „Erlebnislyrik“ aufgefaßt wird, muß jedoch in Wahrheit wesentlich komplexer gesehen werden. Für Goethe ist das Erlebnis nämlich Ausgangspunkt für lyrische Reflexion. Sie wird in der Regel metaphorisch veranschaulicht, denn die bildliche Ergänzung erlaubt die angestrebte rezeptionslenkende Verallgemeinerung. Weil dabei das spontan Erlebte transformiert wird, kann der Leser weithin absehen von biographischen Gesichtspunkten. Entscheidend ist hier nämlich die Repräsentativität der lyrischen Texte für das leidenschaftliche Lebensgefühl einer jungen Generation, die ihre Individualität zu entdecken im Begriff war und darum Empfindung, sinnliche Kraft und Gefühl ergänzend neben die Vernunft stellte. Das war die bewußte Absage an 34  

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die Konvention. Goethe wirkte hier als wichtigster Wegbereiter einer neuen, selbstbewußten und kreativen Subjektivität. Im März 1770 kam er nach Straßburg, um sein abgebrochenes Studium fortzusetzen. Dort fand er unter der anregenden Einwirkung von Herders Ideen ein neues Verhältnis zur Natur und zur Gefühlswelt. Das wiederum setzte ihn instand, sein lyrisches Sprechen auf eine neue Grundlage, jenseits des Gängigen, zu stellen. Die Liebesbeziehung zu Friederike Brion und die elsässische Landschaft brachten ihm hierzu den realen Erfahrungsrahmen. So entstanden zwischen April 1770 und August 1771 die ‚Sesenheimer Lieder‘, oft auch ‚Friederike-Lieder‘ genannt. An ihnen läßt sich gut ablesen, welch poetischer Riesenschritt damals vollzogen wurde. Denn neben einfache, konventionelle Liebesbeteuerungen treten nun erstmals jubelnde Verse hymnischer Begeisterung für Natur und Liebe in einem bisher ungehörten Ton. Beide, Natur und Liebe, teilen sich dem Autor in ihrer Identität so intensiv mit, daß er erfüllt von ihnen sprechen kann. Die Art, wie er das tut, macht den eingetretenen Stil- und Strukturwandel sinnfällig: Abkehr vom ritualisierten Spiel der Rokokolyrik, Übergang zu individueller Natur- und Liebeserfahrung, Preisgabe der als erlernbar geltenden Regelpoetik und praktizierter schöpferischer Individualstil im Sinne des Geniegedankens3. Zwischen Mai und Juni 1771 entstand das Gedicht „Mayfest“ (so die authentische Schreibweise des Autors) während eines Aufenthalts in Sesenheim. Im Gegensatz zu dem in zeitlicher Nähe verfaßten Gedicht „Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde“ („Willkomm und Abschied“) liegt hier jedoch keine konkrete Erlebnissituation zu Grunde. Ausgangspunkt ist vielmehr die selbstgewisse Bekräftigung des aufwühlenden Grunderlebnisses steigernder Kraft von Natur und Liebe. Erst 1775 wurde der Text anonym in der von Johann Georg Jacobi herausgegebenen Zeitschrift ‚Iris‘ veröffentlicht. Eine Handschrift hat sich nicht erhalten. Leicht überarbeitet nahm Goethe das Gedicht dann 1789 unter der Überschrift „Mailied“ in den achten Band der Erstausgabe seiner Werke, der Göschen-Ausgabe, auf. In der ‚Ausgabe letzter Hand‘ wurde es der Gruppe der ‚Lieder‘ zugeordnet. Hier der Wortlaut in der Fassung des Erstdrucks, der sogenannten ‚Iris‘-Fassung: Mayfest Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur!

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Es dringen Blüten Aus iedem Zweig, Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch, Und Freud und Wonne Aus ieder Brust. O Erd o Sonne O Glück o Lust!

O Lieb’ o Liebe, So golden schön, 15 Wie Morgenwolken Auf ienen Höhn! Du seegnest herrlich Das frische Feld, Im Blütendampfe 20 Die volle Welt. O Mädchen Mädchen, Wie lieb ich dich! Wie blinkt dein Auge! Wie liebst du mich! 25

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So liebt die Lerche Gesang und Luft, Und Morgenblumen Den Himmels Duft, Wie ich dich liebe Mit warmem Blut, Die du mir Jugend Und Freud und Muth Zu neuen Liedern Und Tänzen giebst! Sey ewig glücklich Wie du mich liebst! 4

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Die in der späteren Fassung vorgenommenen Veränderungen scheinen insgesamt nicht sonderlich ins Gewicht zu fallen. Sie beschränken sich in ihrer Mehrheit auf orthographische Korrekturen („ieder“ > „jeder“, „Himmels Duft“ > „Himmelsduft“, „seegnest“ > „segnest“, „giebst“ > „gibst“, „sey“ > „sei“) sowie auf Eingriffe in die operationelle Interpunktion. Ins Auge springend sind lediglich die beiden Eingriffe in das Wortmaterial im Titel („Mayfest“ > „Mailied“), beziehungsweise in der sechsten Strophe (V. 23: „blinkt“ > „blickt“). Im einen Fall bedeutet der Wegfall des Festcharakters die Einbettung in den weiter gefaßten Rahmen des Frühlings und zugleich die eigentlich überflüssige Betonung der poetischen Formgruppe ‚Lied‘ (im Sinne von Gedicht). Im anderen Fall erfolgte eine offenkundige Abschwächung, bei der zwar die Augensprache bildlich erhalten bleibt, aber erheblich an Tiefe verliert. Ohne weiteres ist deswegen der Erstfassung der Vorzug zu geben. Sie bewahrt das, was zum Zeitpunkt der Niederschrift im Bewußtsein des sich mitteilenden Ichs vorging. Diesem erhebenden lyrischen Augenblick hat das „Mayfest“-Gedicht Dauer verliehen. Neun vierzeilige Strophen aus jambisch geordneten Kurzversen bilden den Formrahmen für die 36 Verse. Dem thematischen Aufbau nach liegt eine Einteilung der Strophen in drei gleiche Teile nahe (I-III, IV-VI, VII-IX). Allerdings fließen die strophischen Dreiergruppen organisch ineinander. Deshalb erscheint auch die von einigen Interpreten vorgenommene Gliederung in zwei, um eine Achsenstrophe angeordnete Vierergruppen (I-IV, V, VI-IX) oder eine Zweiteilung in fünf und vier strophische Teile (I-V, VI-IX) in gewisser Weise einleuchtend. Das wird im Verlauf der Interpretation genauer zu klären sein. Die ziemlich einfach daherkommenden Zweiheber mit wechselnder Kadenz am Versschluß5 stellen in Wahrheit ein höchst anspruchsvolles Strophenbild dar. Allein die ‚geraden‘ Verse mit nur vier Silben tragen die Reimbindung („Natur“ – „Flur“), während die ‚ungeraden‘, fünfsilbigen Verse, abgesehen von einer Ausnahme reimlos bleiben6. Energisch drängen sie zum jeweils folgenden ‚Kurzvers‘ weiter. Durch die zusammenführende Satzfügung bekommen sie den Charakter ‚halber‘ Langzeilen. Zurecht spricht Gerhard Sauder deshalb von einem „metrischen Enjambement“ 7. Das ergibt eine engere Verbindung zwischen den Verspaaren. Außerdem wird an zwei Stellen durch absichtsvoll gesetzte schwebende Betonung der Versakzent umgekehrt und damit die sonst durchgängig respektierte metrische Jambenfolge unterbrochen („Mir die Natur“, V. 2, „Aus dem Gesträuch“, V. 8). Beides trägt im Verein mit den zahlreichen Ausrufen, Vergleichen, Verdoppelungen, Steigerungen8, Rückverweisen und Parallelismen zum dynamischen Schwung und zum poetisch-festlichen Jubelklang des Gesamttextes bei. In voller Übereinstimmung von Satz- und Versgestaltung fließen Gefühlsevokation, reflektierte Empfindung und extreme Subjektivierung zu überlegt geformtem Aus„Maifest“  

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druck zusammen. Wir begegnen einem Musterfall der hochlebendigen Sprache des Sturms und Drangs. Völlig unannehmbar ist deshalb die unlängst verkündete These, Goethes „Maifest“ sei bloß „die eher statische Feier eines Zustands, bei dem Bewegung nur durch das Hin und Her von Natur und Liebe, Liebe und Natur zustande“ komme und sogar „Vertauschungen von Versen denkbar wären“ 9. Derlei kann nur einer sagen, der partiell mit philologischer Blindheit geschlagen ist. Daß er dann zudem noch unterstellt, Goethes Formentscheidung sei hier lediglich so etwas wie beliebiges Montagematerial, ist wirklich der Gipfel des Unverständnisses. Halten wir uns darum lieber an den Wortlaut des Gedichts. Vom Titel her gehört „Mayfest“ in die Tradition der Jahreszeitengedichte. Allerdings wird hier das Thema des Frühlings auf völlig neue Art behandelt. In den Vordergrund rückt nämlich nunmehr der im Präsens festgehaltene Moment der Feststimmung eines empfindenden und kreativen Ichs. Sein ganz der Natur geöffnetes Selbstbewußtsein steht offenkundig im Gegensatz zur entfremdenden Realität der Gesellschaft. Abzulesen ist das der zur Sprache kommenden vitalen Hochstimmung. Als Liebender fühlt sich der Autor im vollkommenen Einklang mit der Umwelt im Maigewand. Lyrisches Ich, wiedererwachende Natur und Geliebte erscheinen in vollkommener Einheit. Man kann geradezu von der Epiphanie einer Urkraft sprechen, die den ganzen Menschen ergreift. Was in manchen Deutungen als bloß naive, gefühlsselige Erlebnisdichtung dargestellt wurde, ist weit mehr, nämlich begeisterter Ausfluß einer pantheistischen Erfahrung von Natur, Liebe, Leben und Kunst. In einem lyrisch-emphatischen, aber durchaus kontrollierten Ausbruch Goethes kommt erstmals sein Weltbild eines kosmischen Zusammenhangs zwischen der durch die Liebe vertieft wahrgenommenen Natur und dem Ich zum Vorschein. Im Mikrokosmos spiegelt sich der Makrokosmos10. Innerhalb dieses Naturdenkens verdient ein Punkt besonderes Interesse. Ausdrücklich spricht der Autor die Geliebte als Muse an (V. 31–34). Ihre Liebe ermutigt ihn „zu neuen Liedern“ (V. 33). Demnach ist das Gedicht insgeheim auch zugleich poetologische Reflexion der Bedingungen für Kreativität und Schöpfertum des Menschen. In der ersten Strophe, die aus zwei knapp gefaßten Sätzen besteht, bekunden drei gleichlautend unterstreichende Ausrufe der vergleichenden Bewunderung („wie“) den „herrlich leuchtenden“ (V. 1) Naturrahmen. Bewußt verzichtet Goethe auf jegliche Ausmalung. Ein abbildender Text interessiert ihn nicht, weil er sein unmittelbar erlebendes Ich sprechen lassen will. Gleich in der zweiten Zeile erfolgt, betont durch den Zeilensprung („leuchtet / Mir die Natur“, V. 1/2), der konstitutive Direktbezug der evozierten Pracht des Maifests auf das eigene Ich. Die Akzentumkehrung des Personalpronomens hebt die das ganze Gedicht hindurch beibehaltene Ich-Zentrierung nachdrücklich hervor. Zunächst bleibt das Naturbild auf den 38  

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strahlenden Schein der Sonne und die heiteren Fluren beschränkt. Das könnte konventionell erscheinen. Aber nicht ohne Grund hat der Autor hierbei umfassende Begriffe gewählt („Sonne“, „Flur“, V. 3 und 4). So deutet sich bereits die ganze Weite der Natur an. Es wäre also falsch, darin bloß das unbestimmte Naturbild eines Frühlingsmorgens zu sehen. Drei verbal-aktive Wendungen prägen den metaphorischen Auftakt: „leuchtet“ (V. 1), „glänzt“ (V. 3) und „lacht“ (V. 4). Das sind wahrlich erhellende ‚Beiworte‘. In der Verbindung mit den zugeordneten Substantiven – „Natur“, „Sonne“, „Flur“ – geht die beglückend ausgemachte Naturbewegung vollkommen auf das lyrische Subjekt als der dies alles mitempfindenden, mitfühlenden Instanz über. Der Parallelismus der Verse unterstreicht in kurzen Aussagesätzen die zwischen Natur und Sprecher erreichte Symbiose. Sie wird zusätzlich gestützt vom durchgängigen Exklamationsstil, den drei Ausrufezeichen für den Leser noch mehr verdeutlichen. Ohnehin überträgt sich von Beginn an das leidenschaftliche Naturerlebnis unschwer auf jeden mitempfindenden Rezipienten. Von der Textgestaltung her ist eine aktivierende kommunikative Grundstruktur im Gedicht angelegt. Die hymnische Evokation der Natur wird in den beiden folgenden Strophen weitergeführt. Sie sind noch enger untereinander verbunden, weil sechs Verse, über die Strophengrenze hinweg, zu einer Satzeinheit gefügt sind (V. 5–10). Die nebenordnende Konjunktion „und“, zweifach gesetzt (V. 7 und 9), verstärkt diesen Duktus noch mehr. Zunächst konkretisiert sich in der zweiten Strophe das wiedererwachende Naturerleben zum erschließenden Zeichen der Schöpfungsharmonie. Frühlingsblüten („Blüten / Aus iedem Zweig“, V. 5/6) und Vogelgesang („tausend Stimmen / Aus dem Gesträuch“, V. 7/8) symbolisieren in konkreter Prägnanz die vielfältige Flora und Fauna insgesamt11. Pflanzenwelt und Tierwelt stehen für die organische Ganzheit der lebendigen Naturkräfte. Das entschiedene Aktivität ausdrückende Verb „dringen“ (V. 5) trägt diese überquellende Naturbewegung durch die ganze Strophe und noch weiter in die dritte Strophe hinüber. Überhaupt lebt der Text von seiner verbalen Dynamik. Der für übersensible Gemüter ‚unreine‘ Reim („Zweig“ – „Gesträuch“) tut der Wirkung keinen Abbruch. Für den Frankfurter Goethe war es ohnehin ein mehr oder weniger ‚reiner‘ Reim. Das die Satzmelodie energisch weitertreibende Strophen-Enjambement setzt die dynamische Mai-Natur sodann in direkte Verbindung mit dem menschlichen Reagieren („Freud und Wonne / Aus ieder Brust“, V. 9/10). Umwelt und Ich finden hierdurch zur Einheit. In einer wechselseitig sich ergänzenden Folge von Ausrufen wird die so ausgelöste Hochstimmung erhebender Lebenstotalität zusammengefaßt.- Wie die erste Strophe mit ihren Vergleichen läuft auch die dritte Strophe in gehäuften Anrufungen aus (viermal „o“). Beglückend teilt sich die erneuerte Natur den Menschen mit. So können „Erd“ und „Sonne“ (V. 11) neu erfahren werden. Die Gefühlsbegriffe „Glück“ und „Lust“ (V. 12) lenken die Aufmerksamkeit des Lesers „Maifest“  

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auf den so erzeugten Lebensüberschwang. Die intensiv erlebte Beglückung schlägt sich im harmonischen Zusammenklang der beiden Kreuzreime, in der Wortballung und im Parallelismus der Verse 11 und 12 nieder. Auf den Leser wirken – Ausfluß der durchgängig aktivierenden Kommunikationsstruktur – die gezielt angelegten Impulse gleichfalls anregend. Sie vermitteln ihm die glückserfüllte Bewußtseinsdimension der Frühlingsstimmung des monologisierenden Ichs. Die vierte Strophe setzt den Parallelismus der beiden Schlußzeilen der dritten Strophe direkt fort: „O Lieb o Liebe“ (V. 13). Man könnte meinen, die syntaktische Fügung werde einfach weitergeführt, zumal der Satzfluß danach bis zum Ende der fünften Strophe durchgezogen wird (V. 13–20) und auch noch die sechste Strophe thematisch eng damit verflochten ist. Diese komplexen Verknüpfungen erklären die voneinander abweichenden Auffassungen über den Aufbau des Gedichts. Mir scheint es schlüssig zu sein, mit der vierten Strophe einen neuen, man kann ruhig sagen den zentralen Aussagezusammenhang des Gedichts einsetzen zu sehen: die gleich zweifach personifiziert apostrophierte „Liebe“. Nachdem in der ersten Trias die Identität von Natur und erlebendem Ich im Vordergrund steht, zeigt nun die hymnische Anrufung der Liebe an, daß die erfahrene Beglückung durch die Natur in Gestalt der Liebe zu einer Person ein Glücksziel ganz eigener Ausprägung herbeiführt. Diese hinreißende All-Liebe ist Gegenstand der zweiten Trias. Mit einem weit ausholenden Naturvergleich erhält die anfänglich eher vage Nennung der Liebe sogleich eine verklärende, um nicht zu sagen kosmische Note. Sie ist „so golden schön“ (V. 14). Das Farbwort höchsten Wertes bringt nicht einfach eine Farbqualität ins Spiel. Sie beschreibt vielmehr die damit verbundene Intensität des Gefühls12. Absichtsvoll erfährt sie zudem eine vertiefende Ergänzung durch die konkrete Situierung im sonnendurchfluteten Frühlingsmorgen („So golden schön, /  Wie Morgenwolken / Auf ienen Höhn“, V. 14–16). „Golden schöne Morgenwolken“, nebenbei ein typisches Bild des Stürmers und Drängers Goethe, stiften eine Atmosphäre reiner Harmonie. Damit sind auch Liebe und Geliebte in den erhöhenden Identitätszusammenhang mit der Natur eingefügt. Der Vergleich mit „ienen Höhn“ weist unter anderem ebenso darauf hin. Jedenfalls kommt das Bild der Liebe so zu seiner vollen Entfaltung. Die fünfte Strophe bildet zwar den Angelpunkt des ganzen Gedichts, ist aber auf den Kontext der vorausgehenden und der nachfolgenden Strophe angewiesen. Deshalb sollte man sie besser nicht isoliert darstellen als Mittelstück zwischen den jeweils vier Strophen davor und danach. Sie führt lediglich den in der vierten Strophe begonnenen Gedankengang weiter. Betont wird die segnende Bedeutung der Liebe für das Leben in der Natur („seegnest herrlich“, V: 17). Das „frische Feld“ (V. 18) gewinnt neue Lebenskraft durch das allgemeine Grünen im Mai. Goethe vollzieht hier eine umfassende Rühmung der Liebe als Lebenselixier und Zeichen 40  

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des universalen Seins. Die All-Liebe erzeugt, wie bildlich hervorgehoben wird, eine umfassend regenerierende Aktivierung, so daß „die volle Welt“ (V. 20) „im Blütendampfe“ (V. 19), wieder ein typisches, exzessives Sturm-und-Drang-Wort für die Blütenfülle, in überquellender Pracht erstrahlt. Die dergestalt konkretisierte Frühlings-Metapher vermittelt dem Leser eine ungewohnte poetische Naturerfahrung, nämlich die einer „vollen“, allenthalben von der Kraft der Liebe bestimmten „Welt“. Absichtsvoll ist diese Aussage erfüllter Daseinsfreude genau in der Mitte des Gedichts plaziert. Erst in der den Text unmittelbar weiterführenden sechsten Strophe erfährt die so intensiv beschworene Liebe ihre personale Ausfüllung. Inhaltlich sind diese vier Verse besonders eng mit den beiden vorausgehenden Strophen verzahnt. Direkt wird nun die Geliebte angesprochen: „O Mädchen Mädchen“ (V. 21). Dadurch wird die wesentliche Ursache der persönlichen Gefühlssteigerung des sich mitteilenden Ichs offenbar. Im Unterschied zu einigen anderen Gedichten fällt dabei kein Vorname. Bewußt bleibt die Aussage allgemein gehalten. Das Mädchen wird einfach als Inkarnation des Lebensfrühlings angesprochen. Ein aufschlußreich verschränkter Parallelismus bezeugt die wechselseitige Zuneigung („Wie lieb ich dich!“, V. 22 – „Wie liebst du mich!“, V. 24)13. Den Kern des Liebesdiskurses bildet die Augensprache („Wie blinkt dein Auge!“, V. 23). In Entsprechung zum Leuchten der Natur, zum Glänzen der Sonne und zum Lachen der Flur in der Eingangsstrophe steht hier das Bild des blinkenden Auges der Geliebten. Die Frühlingsimpressionen und der zündende Funke des Liebeserlebens verbinden sich beglückend zum wahren „Mayfest“. Stützend wirken hierbei, analog zur ersten Strophe, die drei anaphorisch verwendeten Vergleichskonjunktionen. Sie signalisieren freudig bekundete, innige Übereinkunft und Liebesgewißheit. Die mit gehäuften Ausrufezeichen intensivierte Interpunktion setzt einen weiteren Akut. Bezeichnenderweise wird die verbale Prägung „lieben“ für die weitere Textgestaltung zum Leitwort. Goethe nimmt es fünfmal in den Schlußteil hinein (V. 22, 24, 25, 29 und 36)14. Definitiv rückt ebenso die persönliche Beziehung in den Vordergrund („ich“ – „dich“, „dein“, „du“ – „mich“). Sie wird am Anfang der übernächsten Strophe erneut aufgegriffen und dadurch unterstreichend bekräftigt. Allerdings fällt dabei auf, daß nur in der Perspektive des lyrischen Subjekts berichtet wird. Allein seine Wahrnehmung des inneren Erlebnisses wird dargestellt15. Zwangsläufig geht die Gefühlsbilanz in poetischer Form vom schreibenden Individuum aus. Deswegen gilt in der folgenden, den Text abschließenden Trias die Aufmerksamkeit des Sprechenden ganz der Reflexion. Im Aufbau ist zwischen der sechsten und der siebten Strophe bloß eine ziemlich schwache Zäsur zu vermerken, weil die Schlußtrias den Text inhaltlich direkt weiterführt. Jedoch stellt die hier einsetzende Reflexion einen spürbaren Abstand zur bisher vorherrschenden Wiedergabe von Empfindungen her. Ab jetzt geht es „Maifest“  

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um die gedankliche Bilanz der Einwirkungen der Liebe auf das Ich. Von daher läßt sich eine gewisse Autonomie der drei Schlußstrophen begründen. Insofern hat die Einteilung des Gedichts in drei gleich lange Teile ebenso viel für sich. Eine längere und eine kurze Periode bilden die abschließende Partie des Gedichts. Von Vers 25 bis zu Vers 34 läuft die syntaktische Bewegung in parataktischer Reihung ununterbrochen durch und geht dann in den beiden letzten Versen in einen abrundenden Glückwunsch über. Doch verfahren wir wie bisher Strophe für Strophe. Die siebte Strophe lebt vom Nachdenken über das Gewicht des liebeserfüllten Augenblicks zwischen der Geliebten und dem Ich. Einleitend werden der frohe Flug der Lerche am Maihimmel und ihr liebesbestimmter Gesang vergleichend dem eigenen Liebesglück gegenübergestellt („So liebt die Lerche / Gesang und Luft“, V. 25/26). Dadurch entsteht in der verknappten poetischen Niederschrift des Gesehenen ein erweitertes Bild existentieller Freude und Glückserfüllung. Aber gleichzeitig ist der Gesang der Lerche ein Kunstsymbol, das vorausweist auf die „neuen Lieder“, von denen am Ende des Textes die Rede ist. Liebe und Gesang gehen eine beidseitig belebende Verbindung ein. Zwischen den Zeilen ahnt man bereits etwas von Goethes Entscheidung für eine voll im Leben stehende Dichtung. Aber da ist noch mehr. Der Vergleich der Liebe mit dem innigen Zusammenspiel von „Morgenblumen“ (V. 27) und „Himmels Duft“ (V. 28) (man beachte die unterstreichende Trennung des Kompositums!) erinnert an die fundamentale Bedeutung der Natur für Liebe und lyrische Dichtung. Ersichtlich greift der Text mit dem Bild der „Morgenblumen“ auf die „golden schönen Morgenwolken“ (V. 14/15) zurück, um durch dieses Echo den Charakter vitaler Erneuerung besonders hervorzukehren. Goethe legt demzufolge größten Wert darauf, die beglückt erfahrene Symbiose von Leben, Liebe und Kunst geradezu programmatisch vorzuführen. In der achten und neunten Strophe geht der Satzfluß ungebrochen weiter. Konzentriert wird die eigene Situation bedacht, indem die metaphorischen Vorgaben durch „Lerche“ und „Morgenblumen“ in direkte Verbindung zum Liebenden und zur Geliebten gebracht werden. Die Intensität ihrer beider Begegnung kommt in einem lebenssprudelnden Direktbild zum Ausdruck: „Wie ich dich liebe / Mit warmem Blut“ (V. 29/30). Allerdings zeigt der weitere Gang der Reflexion, daß die so eindringlich beschworene Liebeserfüllung ganz an den Augenblick gebunden ist. Sie ist für den Verfasser des Gedichts bereits melancholische Erinnerung, wenn in einem die Strophen übergreifenden Redestrom – Erfahrenes, Aktuelles und Künftiges vergegenwärtigend – bekundet wird: „Die du mir Jugend / Und Freud und Muth // Zu neuen Liedern / Und Tänzen giebst!“ (V. 31–34). Zwar wird höchst anerkennend festgehalten, was der Liebende der Geliebten alles verdankt, doch kann die Kulmination pathetischer Aufzählung der Liebesgeschenke nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Beziehung auseinanderläuft. In einer subtilen Distanznahme des 42  

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lyrischen Ichs substituiert sich dem Gedanken ‚ewiger‘ Liebe der davon ablenkende Zuspruch ewigen Glücks. Die eigenartige Wunschformel „Sey ewig glücklich / Wie du mich liebst!“ (V. 35/36) enthält unausgesprochen den vorwegnehmenden, rückblickenden Abschied. Kraß ausgedrückt: Der Liebende nimmt das ihm Geschenkte mit und läßt die Geliebte allein zurück. Dennoch bleibt das „Mayfest“ als glühendes Bekenntnis zur Liebe festgeschrieben. Und ebenso bleibt die huldigende Erinnerung an die Geliebte als die geliebte Muse. Zugleich aber gibt der ambivalente Zukunftssegen dem Ausgang im Hinblick auf die Liebesbeziehung einen stark relativierenden Zug16. Nicht von ungefähr spricht eine Interpretin vom „latent solipsistischen Charakter der Sprechsituation“ des Textes. Ihrer Auffassung nach geht es dem Autor letztlich um die „Bedingungen für ‚Kunst‘-Produktion“ 17. In der Tat spiegelt sich am Ende in Sprache und Bildern des Gedichts die sensualistisch begründete, ausschließlich ich-zentrierte und gerade dadurch authentische Erfahrung eines schöpferischen Künstlers. Seine freie Subjektivität ist es, die hier zu uns und in erster Linie zu unserer Einbildungskraft spricht. Selten hat sich der dichterische Weltentwurf eines noch nicht ganz Zweiundzwanzigjährigen in gleichem Maße als stilprägend und stiltragend erwiesen wie gerade Goethes „Maifest“. Wer erfahren will, was jugendbewegter Sturm und Drang ist, braucht sich nur in dieses Gedicht zu vertiefen. Liebesfeier, Begeisterung für die bildende Natur, unverstellter Ich-Ausdruck und selbstbestimmte schöpferische Kraft lenken da in ihrem Zusammenwirken den Dichter zu einer neuen Sprechhaltung, einer neuen Sprache und einem neuen Formkonzept, die im Verbund einen radikalen Stilwandel bewirkten. Goethe hat damit der Lyrik, mit Conrady zu sprechen, „noch nicht erkundete Regionen des Menschen und seiner Erfahrungsmöglichkeiten hinzugewonnen“ 18. Mit der lyrischen Gestaltung eines überreich erfüllten Augenblicks hat er uns sein Inneres ganz offenbart. Es ist bestimmt kein Zufall, daß gerade dieses Gedicht Eingang in den Kanon gefunden hat. Bildungsbürgerlicher und schulischer Mißbrauch konnten da freilich nicht ausbleiben. Das dürfte der Grund sein, warum der nämliche Goethe-Forscher zu der Annahme kommen konnte: „Es dürfte heutige Leser geben, die diese – durch häufiges Zitieren abgenutzten – Verse für reichlich naiv und gefühlsselig halten, für ein historisches Ausstellungsstück zwar, aber in höchstem Maße unaktuell“ 19. Vieles spricht leider dafür, daß er mit seiner Vermutung richtig liegt. Unwillkürlich denkt man dabei an den Satz des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin: „Es ist durchaus nicht natürlich, daß jeder sieht, was da ist“ 20. Dennoch aber darf die Hoffnung genährt werden, daß sich unter heutigen Lesern manche finden werden, dazu bereit, sich Goethes spätere Zielsetzung zu eigen zu machen, „einen idealen Kunstkörper bilden zu helfen, der uns mit der Zeit für das, was uns der gegenwärtige Augenblick zerreißt, wo nicht entreißt, vielleicht glücklich zu entschädigen vermöchte“ 21. „Maifest“  

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Anmerkungen 11 So Erich Trunz in seinen einführenden Anmerkungen zu Goethes Lyrik (HA 1,442). 12 MA 1.1,162 f. (an Charlotte von Stein, vermutlich Ende April 1781). Zur „Mailied“Fassung: WA I.1,162 f. 13 Die Stürmer und Dränger sahen, in Anlehnung an die ästhetische Konzeption des englischen Philosophen Antony Shaftesbury (1671–1713), im Dichter einen zweiten Schöpfer (‚a second maker‘). 14 Der junge Goethe. Neue Ausgabe in sechs Bänden. Hrsg. v. Max Morris. Leipzig 1909–1912, Bd. 2, S. 60 f. 15 Zu beobachten ist der regelmäßige Wechsel von klingenden Kadenzen („Sonne“, „Blüten“, „Stimmen“ usw.) und stumpfen Kadenzen („Flur“, „Zweig“, „Brust“ usw.) 16 Bloß in der dritten Strophe schafft der dort verwendete Kreuzreim („Wonne“ – „Sonne“, „Brust“ – „Lust“) einen intensiveren Zusammenklang der vier Verse. 17 Sauder, Gerhard: GH 1,83. 18 Siebenmal taucht die Interjektion „o“ im Text auf, achtmal die Vergleichskonjunktion „wie“, und viermal wird die koordinierende Konjunktion „und“ steigernd eingesetzt. Häufig bilden sie sogar den Auftakt der Verse. 19 Neuhaus, Volker: ‚Andre verschlafen ihren Rausch, meiner steht auf dem Papiere‘. Goethes Leben in seiner Lyrik. Köln 2007, S. 105. 10 May spricht im gleichen Zusammenhang mit Recht vom „Naturpantheismus“ Goethes (May, Kurt: Form und Bedeutung. Interpretationen deutscher Dichtung. Stuttgart 1957, S. 67). 11 Hiltrud Gnüg verweist zutreffend auf die „Prämisse symbolischen Sehens“ im Text (Gnüg, Hiltrud: Entstehung und Krise der Subjektivität Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit. Stuttgart 1983, S. 72–78 (Zitat: S. 72). 12 „Golden“ ist hier nicht einfach Adjektiv, sondern adverbiale Bestimmung. 13 Hinzu kommt die weitere Parallelfügung in der achten und neunten Strophe („Wie ich dich liebe“, V:29 – „Wie du mich liebst“, V.36). 14 Insgesamt taucht „Liebe“ und „lieben“ siebenmal im Text auf und wird so zum tragenden Leitmotiv. 15 Pietzcker weist nachdrücklich auf diesen Sachverhalt hin: „Der Ablauf des Gedichts ist Selbstvollzug des Ichs“ (Pietzcker, Carl: Johann Wolfgang Goethe: ‚Mailied‘. In: Wirkendes Wort 19/1969, S. 15–28; Zitat: S.26). 16 Mehr als fragwürdig erscheint die These Weimars, es handle sich um einen „Segenswunsch, der die Gewißheit seiner Erfüllung schon in sich trägt“. Dies um so mehr, als er selber einbekennen muß: „Einen Hauch von dieser ‚natürlichen‘ Verantwortungslosigkeit meine ich am Gedichtende zu spüren“ (Weimar, Klaus: Goethes Gedichte 1769–1775. Interpretationen zu einem Anfang. Paderborn 1982, S. 37 und 39). Richtig ist hingegen die von Hilde Spiel vertretene Auffassung: „Sie (die Geliebte) ist es ja, die in ihrer Liebe ‚ewig glücklich‘ zu sein hat, während ihm durch sie vor allem zu ‚neuen Liedern und Tänzen‘ verholfen wird“ (Spiel, Hilde: Das Kosmische der Liebe. In: Frankfurter Anthologie. Hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 1986, S. 70).

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17 Wünsch, Marianne: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Die systemimmanente Relation der Kategorien ‚Literatur‘ und ‚Realität‘: Probleme und Lösungen. Stuttgart 1975, S. 152 und 153.. 18 Conrady, Karl Otto: Zur Bedeutung von Goethes Lyrik im Sturm und Drang. In: Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Hrsg. v. Walter Hinck. Kronberg/Ts. 1978, S. 97–116; Zitat: S. 100. 19 Drs.: Goethe. Leben und Werk, Bd. 1 (= Fischer 2480). Frankfurt/M. 1988, S.134. 20 Wölfflin, Heinrich: Kleine Schriften (1886–1933). Hrsg. v. Joseph Gantner. Basel 1946, S. 136. 21 WA I.47,32 (Einleitung in die Propyläen, 1798).

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„Wandrers Nachtlied“ (1780)

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m Rahmen der zahlreichen Dienstreisen Goethes ergab es sich im Frühherbst 1780, daß einige entfernte Ämter des Fürstentums Eisenach zu kontrollieren waren. Zusammen mit dem Herzog und dem Oberstallmeister Freiherr von Stein unternahm der ‚Minister in vielen Geschäftsbereichen‘ eine längere Inspektionstour dorthin. Goethe reiste am 5. September allein von Weimar nach Ilmenau voraus. Carl August und sein Begleiter kamen erst am 8. September nach. Um sein Alleinsein endlich wieder einmal in freier Natur voll genießen zu können, verbrachte der Dichter am 6. September Abend und Nacht in der auf Veranlassung des Herzogs errichteten Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau. Den Grund für seine freiwillige Isolation, „einsam über alle Wälder erhaben“ 1, erläuterte er folgendermaßen: „Auf dem Gickelhahn dem höchsten Berg des Reviers (…) hab ich mich gebettet um dem Wuste des Städtgens (Ilmenau), den Klagen, den Verlangen, der Unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen“ 2. Die besondere Atmosphäre der einsamen Bergwelt hat der Wanderer Goethe Charlotte von Stein genau beschrieben: „Es ist ein ganz reiner Himmel und ich gehe des Sonnen Untergangs mich zu freuen. Die Aussicht ist gros aber einfach (…). Die Sonne ist unter. Es ist die Gegend von der ich Ihnen (1776) die aufstehenden Nebel zeichnete iezt ist sie so rein und ruhig (…) als eine grose schöne Seele wenn sie sich am wohlsten befindet“ 3. In dieser Stimmung entstand vermutlich unmittelbar danach ein Gedicht, das zu Goethes wohl bekanntesten Versen werden sollte: „Wandrers Nachtlied“ 4. Goethe schrieb es, möglicherweise nach vorausgegangenen Einfällen und Notizen, spontan und noch ohne Überschrift mit einem Bleistift an die Bretterwand der Hütte5. Hier der Wortlaut: Über allen Gipfeln Ist Ruh In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch. Die Vögel schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch.6 46  

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Etwa einen Monat nach Goethes Übernachtung las der Freund Karl Ludwig von Knebel beim Aufenthalt in der Jagdhütte als einer der ersten die Inschrift des Gedichts an der Wand. Jedenfalls liegt es nahe, seine Tagebucheintragung vom 7. Oktober 1780 auf „Wandrers Nachtlied“ zu beziehen7. Ferner existiert eine leicht veränderte, auf sechs Verse zusammengezogene Abschrift der Erstfassung, wenngleich nicht von Goethes Hand. Sie findet sich auf einer freigebliebenen Seite seines Briefes vom 18. September an Charlotte von Stein8. Das spricht entschieden dafür, die Eintragung an der Hüttenwand wirklich auf den 6. September 1780 anzusetzen. Goethe selbst hat zur Verunsicherung in der Frage der Datierung des Gedichts nicht unwesentlich beigetragen, weil er beim letzten Besuch auf dem Kickelhahn in Begleitung des Berginspektors Mahr am 27. August 1831 dessen ‚Entzifferung‘ der Inschrift mit der falschen Datierung am 7. September 1783 übernahm und sowohl im Tagebuch als auch in einem Brief an Zelter so festhielt9. Der Streit darüber erledigt sich durch den klaren Hinweis darauf, daß Goethe sich zu jenem Zeitpunkt nachweislich mit Fritz von Stein auf einer zweiten Harzreise befand, mithin nicht gleichzeitig auf dem Kickelhahn sein konnte10. Erst 1815, also dreieinhalb Jahrzehnte nach der Entstehung, gab der mittlerweile 66-jährige Autor das Gedicht im Rahmen der zweiten Werkausgabe bei Cotta zum Druck11. Ein Jahr davor hatte die von Karl Friedrich Zelter vertonte Fassung des Gedichts unter dem Titel „Ruhe“ beim Publikum breite Resonanz ausgelöst und vielleicht dadurch den Dichter zur Veröffentlichung angeregt12. Goethe entschied sich für eine Kombination mit dem vier Jahre früher entstandenen anderen Nachtlied des Wanderers: „Der du von dem Himmel bist“. Daher rührt die von ihm seinem zweiten Gedicht vorangestellte Bezeichnung: „Ein Gleiches“. Leider hat das dazu geführt, daß die eigentliche Überschrift – eben „Wandrers Nachtlied“ – immer wieder ein wenig in Vergessenheit gerät, so daß ein Interpret sogar auf den Gedanken kommen konnte, der Autor habe seinen Versen damit „eine eigentümlich nüchterne Note“ gegeben13. Davon kann jedoch bei diesem Inbegriff lyrischen Wohlklangs keine Rede sein. Selbstverständlich ist es möglich, beide Gedichte thematisch miteinander zu verbinden. Jedoch sollte dabei unbedingt jedem auch sein Eigengewicht belassen werden. Hier nun der Text in der vom Autor für den Druck 1815 autorisierten Fassung der Cotta-Ausgabe. Sicherheitshalber sei der wahre Titel gleichfalls in Erinnerung gebracht: Ein Gleiches (d.i.: Wandrers Nachtlied 2) Über allen Gipfeln Ist Ruh’, In allen Wipfeln „Wandrers Nachtlied“  

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Spürest Du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest Du auch. 14 Mit dem unglücklich gewählten Interimstitel kann der Leser nicht viel anfangen. Zu verschieden sind die beiden gleich benannten Gedichte. Man tut besser daran, sie nicht zusammen zu interpretieren. Wie leicht zu erkennen ist, stimmt die von Goethe gebilligte Druckfassung, abgesehen von der Überschrift, der ergänzten Interpunktion und den orthographischen Änderungen, weithin mit der ‚InschriftFassung‘ überein. Nur im sechsten Vers wird durch die Einfügung des Diminutivs „Vögelein“ („Die Vögel schweigen im Walde“ > „Die Vögelein schweigen im Walde“) eine auffallende Veränderung herbeigeführt. Die vermutlich von Zelters Vertonung des Gedichts übernommene Verkleinerungsform15 erscheint dem Vokabular des Volkslieds, speziell des Wiegenlieds angenähert. Goethe brachte damit eine innigere Beziehung zu der ihn direkt umgebenden Naturkulisse zum Ausdruck, die sich dem Gestus des Abend- oder „Nachtlieds“ organisch einfügt. Allerdings verfolgen die neueren Herausgeber, wie übrigens schon die Mitarbeiter der Weimarer Ausgabe, eher die Tendenz, sich hinsichtlich der Orthographie und der Interpunktion mehr der Erstfassung anzunähern. Vor allem die Großschreibung des Personalpronomens wird dabei zurückgenommen. Diese Lösung hat meines Erachtens viel für sich. Sie wird deshalb hier übernommen: Wandrers Nachtlied Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du 5 Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. 16 In dieser Fassung hat das Gedicht seine eigentliche, von Goethe gewählte Überschrift und den einfacheren Duktus der Inschriftfassung. Die in der Cotta-Fassung eingeführte Diminutivform im 6. Vers bleibt erhalten. Dagegen fehlt das in der Weimarer Ausgabe unnötigerweise übernommene Ausrufezeichen im 7. Vers. 48  

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Diese Version dürfte den Intentionen des Autors am ehesten entsprechen, weil sie der Erstfassung weithin folgt und andererseits wichtige spätere Zusätze (Titel und „Vögelein“) respektiert. Für den Kultcharakter des Gedichts ist es bezeichnend, daß ein ‚Pilger‘ Goethes Inschrift aus der Bretterwand heraussägen wollte, um sich diese ‚Reliquie‘ anzueignen. Die Untat wurde vom Forstaufseher Kilian Merten im letzten Augenblick verhindert17. Aber der Versuch ist bezeichnend für die außergewöhnliche Popularität dieser Verse. Kein anderes Gedicht Goethes wurde so oft interpretiert, zitiert, rezitiert, vertont18, parodiert und leider auch vielfach mißbraucht. Kein anderes seiner Gedichte wurde so oft und in so viele Sprachen übersetzt, obwohl es in seiner Einmaligkeit eigentlich nicht übertragbar ist. Grunds genug also, beim Interpretieren Vorsicht walten zu lassen. Es gilt, den Worten und ihrem Zusammenklang möglichst genau nachzudenken. Nur scheinbar ist der Text einfach, er steckt jedoch voller herausfordernder Tiefen. Die Herausforderung wird noch verstärkt durch die dem Gedicht eingeschriebene Kommunikationsstruktur. Denn das „Du“ (V. 4 und 8), an das die Aussage gerichtet ist, kann und sollte von jedem Leser auf sich bezogen werden. Dabei spielt es keine Rolle, daß die Verse natürlich zunächst dem Bewußtsein des Autors entsprungen sind. Der Dichter ließ sich gleichsam von ihnen ansprechen und setzte den Vorgang der Selbstverständigung – unter bewußter Vermeidung der Ich-Form – direkt sprachlich um. Die offene Wirkungsperspektive des im Präsens gehaltenen Textes überträgt sich dadurch unmittelbar auf jeden Leser, der Augen hat zu sehen. Zu beachten ist dabei die merkwürdige Äußerung des englischen Goethe-Forschers Boyle speziell zu „Wandrers Nachtlied“: „Recht viel Vernünftiges kann die Literaturkritik über etwas so Zerbrechliches, so Unvergleichliches nicht sagen“ 19. Wenn er recht hätte, könnten Kritiker und Literaturwissenschaftler ihre Tätigkeit weithin einstellen. Man nennt das gemeinhin ‚am Ast sägen, auf dem man sitzt‘. Andererseits ist die unwillig gestellte Frage Karl Krolows ernst zu nehmen, der einmal anmerkte: „Weiß man nicht über Goethes Gedichte gar zuviel?“ 20 Jeder Leser muß zwischen diesen beiden Positionen seinen Weg suchen. Einfach ist das selbstverständlich nicht immer. Doch nun endlich zum Gedicht selbst. Zum Ausgangspunkt für den Gesamttext nimmt Goethe in der Überschrift eine seiner Grundmetaphern – den „Wandrer“. Das Bild greift auf die alte Vorstellung der Lebensreise des Menschen als ‚homo viator‘ zurück. Eine ganze Reihe von Gedichten bezeugt, daß der Dichter im Wanderer ein Spiegelbild der eigenen Lebenssituation sah. Das unter dem Eindruck der hereinbrechenden Nacht angestimmte „Nachtlied“ ist gleichzeitig rückwärts gewandte Besinnung, aber auch vorausblickende Selbstbestimmung. Daß zunächst die Natur zum Menschen spricht, sich ihm „Wandrers Nachtlied“  

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offenbart, wird zweifellos zum Anstoß für die gedankliche Bewegung. In den ersten beiden Versen teilt sich der Naturlaut der Stille („ist Ruh“; V. 2) dem Angesprochenen beruhigend mit. Folgerichtig läuft die lyrische Reaktion richtungsmäßig von oben nach unten, genauer: vom Unendlichen ins eigene Innere. Ein fließender Rhythmus trägt die reflektierte Aussage angemessen bis zum Schluß hin. Nicht ohne Grund wurde ebenso auf die „eminente Musikalität“ von Goethes Liedern hingewiesen21. Das gilt in besonderem Maße für „Wandrers Nachtlied“. Die metrisch ungleichen Verszeilen weisen einen wie selbstverständlichen Wohlklang auf. Man kann ohne weiteres sagen: „Wir erleben die Stimmung des Dichters durch die Sprachgestaltung der Abendlandschaft“ 22. Besonders interessant ist gleichfalls die räumliche Situierung. Mit der den Auftakt schaffenden Umstandsbestimmung des Orts durch die Präposition „über“ als Initialwort vermittelt der Text eine absolute Höhenlage. „Über allen Gipfeln“ (V. 1) ist nur noch der Himmel zu orten. Von dort oben geht „Ruhe“ als Zustand aus („ist Ruh“). Die Stille der gesamten Bergnatur – es heißt ja: „Über allen Gipfeln“ – schafft den gesuchten beruhigenden Kontrast zur dissonanten Welt. Direkt unter dem Himmel zeichnen sich die Konturen der „Gipfel“ beim Dunkelwerden bekanntlich schärfer ab. Der Autor beschränkt sich darauf, Grundzüge der Landschaft zu benennen. Mit dem Bergrelief setzt das ‚terrestrische‘ Betrachtungsfeld des konzis gefaßten Bildaufbaus ein. Fünf Wörter, auf zwei Verse verteilt, genügen Goethe, um all das zu evozieren. Durch die überraschende Verteilung auf zwei Kurzverse erhält das Wortmaterial einen ganz besonderen Akzent. Jedes Wort erscheint betont und klingend hervorgehoben23. Wie schon bei den freien Rhythmen der Frankfurter Zeit erlaubt es die hier praktizierte Versbehandlung, durch markante Zeilenbrüche den Widerstreit zwischen Vers und Syntax zur Ausdruckssteigerung bestimmter Wörter zu nutzen. Das Enjambement führt jeweils eine Denkpause herbei. Für einen kurzen Moment wird der Satzfluß unterbrochen. Durch die ‚Isolierung‘ zu einer selbständigen Verszeile erfährt die Aussage „ist Ruh“, besonders das prädikatisierende Hilfsverb, eine auffallende Hervorhebung. Das von Goethe als „landschaftlich bedeutend“ 24 ausgemachte Faktum beruhigter Natur gewinnt hierdurch die nötige Intensität25. Es hatte eine gewisse Konsequenz, daß Zelter seiner Vertonung den Titel „Ruhelied“ gab. Man braucht freilich deswegen noch lange nicht soweit zu gehen wie jener Interpret, der das Gedicht als „weltliches Gebet“ deutete26. Mittels der Kreuzreimbindung (abab) sind die beiden nächsten Verse klanglich wie auch in der Aussage eng mit den beiden Versen des Auftakts verbunden („Gipfeln“ – „Wipfeln“, „Ruh“ – „du“). Wiederum sind es fünf Worte in gleicher Verteilung auf die Verse, so daß sich eine nicht zu übersehende Parallelität ergibt. Spürbar näher rückt nunmehr die Bildbewegung dem Sprechenden. Wenige, höchst einfache, aber deutliche Konturen genügen, das Beobachtete zu verarbeiten. Fielen zu50  

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erst die Berggipfel ins Auge, so sind es nun die „Wipfel“ der umliegenden Bäume im Walddämmer („In allen Wipfeln“, V. 3). Dergestalt ist der optisch wahrnehmbare Erscheinungsrahmen klar abgestuft aus dem Sichtfeld des Beobachters entwickelt. Die ruhestiftende Linie geht vom Himmel („Über allen Gipfeln“) zu den „Gipfeln“ und weiter über die „Wipfel“ direkt zum „Du“ (V. 4) hin. Damit ist der entscheidende Punkt des Gedichts erreicht. Ab jetzt weiß man, daß ein Mensch, ausgewiesen als Du, sich im Einklang fühlt mit der beruhigten Natur. Was ursprünglich allein im Dichter gesprochen hat, spricht nun ebenso unmittelbar zum Leser. Die Wendung „Spürest du“ (V. 4) zielt auf eine geschärfte Wahrnehmung mit allen Sinnen. Da die vom „Du“ so intensiv erfahrene „Ruhe“ akustisch als Stille wahrgenommen wird, fällt jedes kleine Geräusch besonders auf. Noch herrscht kein völliges Schweigen. Bloß ein leises Wehen des Windes, „kaum ein Hauch“ (V. 5), scheint noch spürbar zu sein, ehe dann wirklich Stille herrscht. Gestalterisch ergibt sich aus dem Zusammenwirken der einzelnen Komponenten – den Kernbildern („Gipfel“, „Wipfel“) und den entscheidenden Erfahrungselementen („Ruh“, „du“), verbunden durch das Kreuzreimschema – eine vollkommene Harmonie. Doch sollte man, wie gelegentlich geschehen, diesen aussagestarken Sachverhalt nicht dahin übertreiben, die ausdifferenzierte Wirkung der poetischen Lösung bis zum Vokalismus hin auszudehnen (Deutungen der u- und i-Klänge und dergleichen!), denn es dürfte schwer fallen, dafür jeweils überzeugende Erklärungen zu finden. Entscheidend ist eben die lautgestaltende Leistung und die ausgewogene Gesamtwirkung der einzelnen Gestaltungselemente. Gleiches wäre zu sagen im Blick auf diverse metrische Analysen. Das Gedicht hat eben seine eigene, nicht genormte Metrik27. Unversehens leitet der fünfte Vers („Kaum einen Hauch“) zum zweiten Teil des Gedichts über. Das Semikolon markiert einen kurzen syntaktischen Einschnitt. Inhaltlich schließt diese Verszeile den ersten Teil ab, klanglich und formal schlägt sie durch die umarmende Reimbindung: („Hauch“, V. 5, „auch“, V. 8) gleichzeitig den Bogen zum Ende hin. Generell unterstützt der umarmende Reim (cddc) einen zielgerichteten Vorwärtsdrang. Das wirkt sich natürlich auf die Bewegung der Schlußverse aus, zumal der sechste Vers mit fünf Worten aus dem Schema der Kurzverse auffallend heraussticht. Deutlich entpuppt sich jetzt auch der wörtliche Ausdruck als durch und durch zeichenhaft. Die Landschaftsbilder und die wenigen Reaktionen darauf repräsentieren über den Wortsinn hinaus eine gewisse Totalität. Sie gewinnen den Symbolwert eines „im geistigen Spiegel zusammengezogenen Bildes“ 28 vom kosmischen Ganzen. Der Dichter hat diesen Vorgang in anderem Zusammenhang genau beschrieben: „Indem der Künstler irgend einen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen, daß der Künstler ihn in diesem Augenblicke erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt, oder vielmehr erst den höhern Werth hineinlegt“ 29. „Wandrers Nachtlied“  

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Die Art der Gestaltung erleichtert wesentlich die denkende Bestimmung durch den Leser im Sinne des von Adorno für das Gedicht eingeführten Begriffs einer „Vermenschlichung der Natur“ 30. Dem Autor erlaubt das, an dieser Stelle erneut die belebte Natur einzubeziehen und knapp berichtend zu vermelden: „Die Vögelein schweigen im Walde“ (V. 6). Manch einer mag der ohne Diminutiv auskommenden Erstfassung den Vorzug geben („Vögel“ statt „Vögelein“), doch wird dabei übersehen, daß die Verkleinerungsform sich der Atmosphäre intimer Stille angemessen einpaßt31 und so den Wortzauber dieses Gedichts entschieden befördert. Mit den schweigenden „Vögelein“ ist das Schweigen aller Lebewesen angesprochen und insofern die Voraussetzung für die innere Ruhe, um die es hier geht. Entschieden gehört sie zur dringend gewünschten Bewahrung und Auswertung der intensiven Sinneserfahrung. Nur dann wird aus bloßer Stimmung ein Lebensmoment mit existentiellem Gewicht. Der Punkt am Versende ist hier wirklich ein erklärendes Satzzeichen. Er signalisiert eine retardierende Pause des gebotenen Nachdenkens vor dem Verspaar, mit dem der Text ausläuft. Besonderes Gewicht kommt den beiden Schlußversen zu: „Warte nur, balde / Ruhest du auch“ (V. 7/8). Auf knappstem Raum wird unendlich viel gesagt. Noch stärker tritt nun der Charakter innerer Selbstverständigung eines Ruhesuchenden zutage. Weder ein Erlebnis noch eine Stimmung sind eigentlicher Gegenstand der Darstellung, sondern die Entfaltung des Inneren am Äußeren. Es wäre banal, ja barbarisch, die dargestellte Bewegung zur Stille hin auf ein simples Ruhe- oder gar Schlafbedürfnis zu reduzieren. Andererseits sollte man sich ebenso hüten, in den Text gleich Todessehnsucht oder Todesfurcht hineinzuinterpretieren. Man kann Adorno nur beipflichten, wenn er für den Gedichtschluß die überzeugende Deutung vorschlägt: „Noch das ‚Warte nur balde / ruhest du auch‘ hat die Gebärde des Trostes: seine abgründige Schönheit ist nicht zu trennen von dem, was sie verschweigt, der Vorstellung einer Welt, die den Frieden verweigert. Einzig indem der Ton des Gedichtes mit der Trauer darüber mitfühlt, hält er fest, daß doch Friede sei“ 32. Unverkennbar lebt der Text von der Spannung zwischen der Ruhe in der reinen Natur zur Stunde der Dämmerung und der inneren Unruhe des von ihr Angesprochenen. Es geht demnach darum, inneren Frieden zu finden angesichts der „Klagen, dem Verlangen, der Unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen“, wie Goethe ausdrücklich betonte33. Folgt man der Gruppe verbaler Fügungen im Gedicht („ist“, „spürest“, „schweigen“, „warte“, „ruhest“), so trifft man alles andere als ‚Tätigkeitswörter‘. Durchweg handelt es sich um ‚zustandsschildernde Aussagewörter‘, die dem Drang weg vom Treiben der Welt Ausdruck geben. Goethes Verse artikulieren spürbar die tief humane Sehnsucht, „Ruhe“ zu finden in einer richtungslosen Gesellschaft der Entfremdung. Am Ende erweist sich demzufolge die momentane Beruhigung des Unruhigen dennoch als ambivalent. Es ist so, wie ein Interpret erklärte: „Selten hat 52  

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sich poetische Dunkelheit mit phänomenologischer Präzision so vereint wie in den letzten beiden Versen“ 34. Goethe hat an der Hüttenwand auf dem Kickelhahn letztlich eher ein Warngedicht festgehalten, das die menschliche Friedenssehnsucht nach außen gründlich relativiert und im selben Augenblick nach innen befördert. Gemildert wird das Ganze jedoch im Wissen darum, daß letztlich sich ein jeder in der Ruhe der Natur aufgehoben fühlen darf. Besonders interessant ist es, daß Goethe als Rezipient die Konsequenzen beider Interpretationsmöglichkeiten der im Gedicht evozierten Abendstimmung an sich selbst erfahren hat. 1814, zur Zeit der napoleonischen Unruhen bedankte er sich für Zelters Vertonung, beglückt durch dessen „Ruhelied“, mit dem Hinweis: „es macht in diesen unruhigen Zeiten unsere ganze Glückseligkeit“. Sechzehn Jahre später, am Vortag seines letzten Geburtstages, als er noch einmal „die Inschrift des Liedes“ auf dem Kickelhan „recognoscirte“, reagierte er wesentlich anders. Sein damaliger Begleiter, der Rentamtmann Johann Christian Mahr, berichtete darüber folgendes: „Goethe überlas diese wenigen Verse und Thränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Thränen und sprach in sanftem, wehmüthigem Ton: ‚Ja, warte nur balde ruhest du auch‘„35. Glück und Beruhigung auf der einen Seite, Wehmut, Melancholie und Wissen um den Tod auf der andern prägen demzufolge gleichermaßen den Text. Welche der beiden Komponenten in den Vordergrund rückt, hängt von der jeweiligen Rezeptionssituation ab. Das Nachtlied des Wanderers gehört nicht zuletzt dieser offenen Struktur wegen zu den tiefsten Aussagen über die Paradoxie des Menschenlebens. Die herbstliche Reise des Dichters in den Thüringer Wald hat ihm und uns viel erbracht. Zurecht sah der Schriftsteller Adolf Muschg in Goethes Versen das für uns so notwendige „Versprechen, daß wir nicht aufhören müssen, uns zu entwickeln“ 36.

Anmerkungen 1 2 3

WA IV.4,321 (an Maria Antonia von Branconi am 16.10.1780). WA IV.4.281 (an Charlotte von Stein am 6.9.1780). WA IV.4,281 und 282 (an Charlotte von Stein am 6.9.1780). Interessant ist hierzu der Vergleich mit einer Stelle aus der Schrift „Über den Granit“ (1784), die aus einer ganz ähnlichen Stimmung hervorgegangen ist. Dort heißt es: „Mit diesen Gesinnungen nähere ich mich euch, ihr ältesten würdigsten Denkmäler der Zeit. Auf einem hohen nakten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend kann ich mir sagen: Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht“ (WA II.9,173).

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14 Eine zum 150. Todestag Goethes 1982 von der Stadt Frankfurt, der Johann Wolfgang Goethe-Universität und dem Insel Verlag veranstaltete Umfrage bei 25000 Lesern ergab, daß „Über allen Gipfeln ist Ruh“ mit Abstand den ersten Platz in der Lesergunst einnimmt. 15 Vgl. hierzu die Hinweise zu verschiedenen Datierungen bei Segebrecht (Segebrecht, Wulf: J.W. Goethe ‚Über allen Gipfeln ist Ruh‘. Texte, Materialien, Kommentar. München, Wien 1978; S. 24–30; Sigle: Segebrecht). Leider ist die Jagdhütte im August 1870 durch die Unvorsicht eines Besuchers abgebrannt. Es gibt lediglich ein ziemlich unscharfes Foto der sicher damals schon vielfach entstellten ‚Inschrift-Fassung‘ aus dem Jahr 1869, das für ‚Kickelhahn-Touristen‘ auf Postkarten reproduziert wurde (Segebrecht, S. 192). 16 Es handelt sich hier um die sogenannte ‚Inschrift-Fassung‘ (Segebrecht, S. 17 und 192). 17 Die knappe Eintragung Knebels zum Jagdausflug mit Carl August lautet: „Morgens schön. Mond. Goethens Verse. Mit dem Herzog auf die Pürsch. […] Die Nacht wieder auf dem Gickelhahn“ (Segebrecht, S. 26). 18 Die Verse 1–4 der ‚Inschrift-Fassung‘ sind hier wie folgt zu zwei Versen zusammengezogen: „Über allen Gipfel(n) findest du Ruh / in allen Wipfeln spürest Du“ (Segebrecht, S. 18). 19 Vgl. hierzu: WA III.13,129 (Eintragung vom 27.8.1831) sowie WA IV.49,55 (an Zelter am 4.9.1831). 10 Den Nachweis dafür erbrachte Karl Goedeke 1857. Er plädierte deshalb für die Datierung auf den 6.9.1780. 11 Vorausgegangen waren zwei nicht autorisierte, fehlerhafte Abdrucke: 1801 in der Zeitschrift „The monthly magazine“ (mit einer englischen Prosaübersetzung) und 1803 in der von August von Kotzebue in Berlin herausgegebenen Zeitschrift „Der Freimüthige“ (vgl. hierzu: Segebrecht, S. 21–23). 12 Goethes zustimmende Reaktion auf die Vertonung Zelters läßt sich durch mehrere Briefe an den Komponisten nachweisen (2.5.1820, 11.5.1820 und 4.9.1831). Gleich nachdem er die Liedfassung erhalten und einen Sänger mit der Interpretation betraut hatte, schrieb er Zelter: „Das ‚Ruhelied‘ ist herrlich, unser Tenor trägt es sehr gut vor, und es macht in diesen unruhigen Zeiten unsere ganze Glückseligkeit“ (am 22.4.1814; WA IV.24,221). 13 Reed, Terence James: Ein Gleiches. In: GH 1,194. 14 Segebrecht, S. 13. 15 Allerdings sind auch schon vor Zelters Vertonung in mehreren fehlerhaften Überlieferungen des Gedichts Textabweichungen mit dem Diminutiv „Vöglein“/“Vögelein“ nachzuweisen (s. hierzu: Segebrecht, S. 19–22). 16 MA 2.1,53; FA 1.2,65 und WA I.1,98. 17 Vgl. hierzu: Segebrecht, S. 19. 18 Es gibt weit über hundert Vertonungen des Gedichts. Neben der von Goethe geschätzten Vertonung Zelters sind in erster Linie diejenigen von Carl Loewe, Franz Schubert, Franz Liszt, Robert Schumann, und Max Reger zu erwähnen. Vgl. hierzu: Schuh, Willi: Goethe-Vertonungen. In: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche Goethes. Hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 2. Zürich, Stuttgart 1953, S. 665–758, vor allem S. 720.

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19 Boyle, Nicholas: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. 1: 1749–1790. München 1995, S.310. 20 Krolow, Karl: Die Suche nach Schutz. In: Frankfurter Anthologie. Hrsg. v. Marcel ReichRanicki. Bd. 13. Frankfurt/M. 1990, S. 42. 21 Kienzle, Ulrike: Goethe. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG). 2.A. Hrsg. v. Ludwig Fischer. Bd. 7, Sp.1192–1213; Zitat: Sp.1202. 22 Ruttkowski, Wolfgang Victor: Die literarischen Gattungen. Reflexionen über eine modifizierte Fundamentalpoetik. Bern, München 1968, S. 52. 23 Völlig abzulehnen ist deshalb die Meinung Steiners. Er unterstellt ein „chaotischen Metrum“, das dem „,Inhalt‘ diametral entgegengesetzt“ sei (Steiner, Uwe C.: Gipfelpoesie. Wandrers Leiden, Höhen und Tiefen in Goethes beiden Nachtliedern. In: Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Interpretationen. Hrsg. v. Bernd Witte (= RUB17504). Stuttgart 1998, S. 78–95; Zitat: S. 87). Abzulehnen ist gleichfalls die These von Neuhaus: „Einzig der Rhythmus will dazu nicht recht passen; ein Versmaß ist nicht auszumachen“ (Neuhaus, Volker: ‚Andre verschlafen ihren Rausch, meiner steht auf dem Papiere‘. Goethes Leben in seiner Lyrik. Köln. 2007, S. 235.). Als ob Harmonie der Verse eine feste metrische Struktur voraussetzte! 24 WA I.49.2,209. 25 In den falsch überlieferten Versionen des Gedichts, in denen die ersten vier Kurzverse zu zwei längeren Versen zusammengezogen sind, geht diese Intensivierung des Ausdrucks verloren. 26 Korff, Hermann August: Goethe im Bildwandel seiner Lyrik. Bd. 1. Leipzig 1958, S. 213. 27 Der metrische Befund läßt sich folgendermaßen fassen: V. 1 – v – v – v V. 5 –vv– V. 2 v – (schwebende Betonung von „ist“) V. 6 v–vv–vv–v V. 3 v – v – v V. 7 – v v – v V. 4 – v – V. 8 – v v – (schwebende Betonung von „du“). Es handelt sich also wirklich um Eigenmetrik! 28 WA I.49.1,141 f. 29 WA I.47,17 („Einleitung in die Propyläen“). 30 Adorno, Theodor W.: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Noten zur Literatur I . Frankfurt/M. 1958, S. 80. 31 Die Diminutivform hat auch deswegen ihre Berechtigung, weil die Singvögel unserer Breiten eher klein geraten sind. 32 Adorno, Theodor W.: a.a.O., Anm. 30, S .81. 33 WAIV.4,281 (an Charlotte von Stein am 6.9.1780). 34 Steiner, Uwe C.: a.a.O., Anm. 23, S. 92. 35 WA IV.24,221 (an Zelter am 22.4.1814); WA IV.49,55 (an Zelter am 4.9.1831). Der von Friedrich Preller publizierte Bericht Mahrs wird zitiert nach Segebrecht, S. 38. 36 Muschg, Adolf: Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter (=st 1287) Frankfurt/M. 1986, S. 38 (Anläßlich einer Umfrage nach Goethes Gedichten). „Wandrers Nachtlied“  

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„Am Antritt des neuen Jahrhunderts“ (1801)

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chön wäre es, man könnte noch unbefangen den großen Hymnus „An die Freude“ des gerade einmal 26-jährigen Schiller (1759–1805) vom Herbst 1785 in der kongenialen Vertonung Ludwig van Beethovens1 erklingen hören. Leider aber schlägt sich dabei immer – spätestens seit der Vernutzung als Olympiahymne, als Europahymne und als japanisches Massensingen für das ‚Guinness-Buch der Weltrekorde‘ – ein übler, schwer lastender Gebrauchsbelag nieder, der daran erinnert, daß in diesem Fall beiden Künstlern ohne eigenes Verschulden übel mitgespielt wurde und wird. Schon früh haben Horkheimer und Adorno grundsätzlich darauf aufmerksam gemacht, daß es „die Technik der Kulturindustrie bloß zur Standardisierung und Serienproduktion gebracht und das geopfert (hat), wodurch die Logik des Werks von der des gesellschaftlichen Systems sich unterschied“ 2. Für die Schändung des geistigen Gehalts eines Kunstwerks ist allein die sie zulassende Gesellschaft verantwortlich zu machen. Das Lied „An die Freude“ wirft jedoch weitere Fragen auf. Sie konzentrieren sich auf die Qualität der poetischen Sprachgebung. Schiller selbst kritisierte bereits 1800 in einem Brief an seinen Freund Körner den, wie er meinte, unverdienten Erfolg der chorischen Hymne wie folgt: „Weil sie aber einem fehlerhaften Geschmack der Zeit entgegenkam, so hat sie die Ehre erhalten, gewissermaaßen ein Volksgedicht zu werden. Deine (Körners) Neigung zu diesem Gedicht mag sich auf die Epoche seiner Entstehung gründen; aber diese gibt ihm auch den einzigen Werth, den es hat, und auch nur für uns und nicht für die Welt noch für die Dichtkunst“ 3. Das sind deutliche, selbstkritische Worte. Zwangsläufig provozieren sie zur Frage nach der Formkraft der Schillerschen Gedichte. Tatsächlich hat die unbedingte Idealität des Gehalts Folgen für die Formlösung. Schiller ist, wie schon Friedrich Schlegel anmerkte, „ein poetischer Philosoph, aber kein philosophischer Dichter“ 4. Völlig zutreffend erläuterte Rudolf Alexander Schröder den Ausdruckgestus Schillers in den Gedichten mit dem Begriff der handwerklich angelegten „Werkstrophen“ 5. Mit ihrem gedankenbefrachteten Inhalt wirken viele der Verse mehr didaktisch gesagt als ästhetisch gestaltet. Hier fällt auf Schiller zurück, was er an Bürgers Gedichten kritisierte: „so poetisch sie gesungen sind, so unpoetisch scheinen sie uns empfunden“ 6. Nicht zufällig spricht man oft von ‚Lehrgedichten‘. Der Intention nach halb ethisch, halb poetisch angelegt, wirken die „philosophisch durchtränkten“ 7 Verse seiner Gedankenlyrik, verglichen mit Beispielen unverkennbar lyrischer Substanz, eher nur halb poetisch. Ihrer sittlichen Kraft, ihrer 56  

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erhabenen Würde und ihrem hohen Menschenbild zum Trotz werden daraus meist lyrisch-narrative Texte, mit denen versucht wird, das Ideale herbeizubeschwören. Hierbei gilt das dialogische Epigramm über literarische „Mittel“ aus den „Xenien“: Warum sagst du uns das in Versen? Die Verse sind wirksam. Spricht man in Prosa zu euch, stopft ihr die Ohren euch zu.8 Als Heutige wissen wir nur zu gut, daß die von Schiller mit großem Pathos und freiheitlicher Begeisterung propagierte „ästhetische Erziehung des Menschen“ 9 ausgeblieben ist. Zweifellos war er ein herausragender, vielfältig begabter, anregender Künstler, ein eigenwilliger Historiker, ein führender Kopf der ästhetischen Philosophie und ein leidenschaftlicher Publizist, vor allem aber ein großer Dramendichter. Zu weit trieb er indes in den ‚Lehrgedichten‘ die selbstauferlegte Zielsetzung, „den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität loszuwickeln“ und „idealische Reinheit und Vollendung“ anzustreben10. Was er im Endeffekt suchte, war nicht weniger als der „Uebertritt des Menschen in den Gott“ 11. Aus solcher Emanzipation konnte nichts werden. Der Philosoph Ernst Bloch merkte dazu richtig an: „Dieser Versuch – rein auf den Glauben an die ästhetische Erziehung gebaut – war selbstverständlich ein abstrakter“ 12. Schiller wollte das soziale Problem ästhetisch lösen. Deshalb gehörte er für Georg Büchner zu den wirklichkeitsfremden Träumern oder, wie der Nachfahre sagte, zu den „sogenannten Idealdichtern“ 13. Das liberale und dann das nationale Bürgertum des 19. Jahrhunderts erhoben ihn gerade deswegen auf den höchsten dichterischen Thron, machten ihn zum Propagandisten ihrer politischen Ideen. Für längere Zeit avancierten seine rhetorisch geprägten ‚klassischen‘ Gedichte zum unangefochtenen Bildungsgut, aus dem jeder nehmen konnte, was ihm gerade zu Paß kam. Die Schulen taten mit den berühmten Balladen und dem „Lied von der Glocke“ ein übriges, bis dann Friedrich Nietzsche mit seinem harten Wort vom „Moral-Trompeter von Säckingen“ 14 die fällige ‚Majestätsbeleidigung‘ wagte. War solch scharfe Kritik nötig? Von Schiller her gesehen jedenfalls nicht. Denn er selbst mußte sich in „pessimistischer und idealistischer Resignation“ 15 schmerzlich klar darüber werden, daß die Widersprüche seiner ästhetischen Theorie niemals aufgehoben werden konnten. Noch zu Anfang des Gedichts „Die Künstler“ (1789) hatte er, von seinen Idealen überzeugt, hochpathetisch postuliert: Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige Stehst du an des Jahrhunderts Neige In edler stolzer Männlichkeit, Mit aufgeschloß’nem Sinn, mit Geistesfülle, Voll milden Ernsts, in thatenreicher Stille … 16 „Am Antritt des neuen Jahrhunderts“  

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Zwölf Jahre später klang das entschieden anders. Und zwar in dem Gedicht, das uns nun beschäftigen soll: Am Antritt des neuen Jahrhunderts An *** Edler Freund! Wo öfnet sich dem Frieden, Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort? Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden, Und das neue öfnet sich mit Mord. 5

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Und das Band der Länder ist gehoben, Und die alten Formen stürzen ein; Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben, Nicht der Nilgott und der alte Rhein. Zwo gewalt’ge Nationen ringen Um der Welt alleinigen Besitz; Aller Länder Freiheit zu verschlingen, Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.

Gold muß ihnen jede Landschaft wägen, Und wie Brennus in der rohen Zeit, 15 Legt der Franke seinen ehrnen Degen In die Waage der Gerechtigkeit. Seine Handelsflotten streckt der Britte Gierig wie Polypenarme aus, Und das Reich der freien Amphitrite 20 Will er schließen wie sein eignes Haus. Zu des Südpols nie erblickten Sternen Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf; Alle Inseln spürt er, alle fernen Küsten – nur das Paradies nicht auf. 25

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Ach, umsonst auf allen Ländercharten Spähst du nach dem seligen Gebiet,

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Wo der Freiheit ewig grüner Garten, Wo der Menschheit schöne Jugend blüht. 30

Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken, Und die Schiffahrth selbst ermißt sie kaum; Doch auf ihrem unermeßnen Rücken Ist für zehen Glückliche nicht Raum.

In des Herzens heilig stille Räume Mußt du fliehen aus des Lebens Drang! 35 Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur im Gesang. 17 Schiller schrieb das Gedicht wohl zwischen April und Juni 1801. Es ist gedacht als lyrische Bilanz anläßlich der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, gehört mithin zum Typus des Säkulargedichts (carmen saeculare). Die Entstehung geht auf Vorschläge Göschens und Cottas zurück. Beide Verleger wünschten sich ein Festgedicht zum Frieden von Lunéville, der den seit 1798 geführten ‚zweiten Koalitionskrieg‘ beendete und am 9. Februar 1801 zwischen dem napoleonischen Frankreich und Österreich unterschrieben wurde18. Bekanntlich läutete dieser ‚Friedensschluß‘ das bevorstehende Ende des ‚Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation‘ ein. Bald nach der Unterzeichnung erhielt Schiller die beiden Anfragen. Er reagierte zunächst zögerlich, weil er der Meinung war, die Deutschen spielten bei diesem Ereignis „eine so schändliche Rolle“, daß sich eine Ode auf den Frieden „unter den Händen der Poeten in eine Satyre auf das deutsche Reich verwandeln müßte“ 19. Wenn er das Thema schließlich doch anging, so geschah das in der Absicht, statt einer Festode eine generelle Abrechnung mit der Zeitgeschichte in Gedichtform vorzulegen. Wann genau die Niederschrift erfolgte, läßt sich nicht ausmachen. Im März mußte das Manuskript der „Jungfrau von Orleans“ fertiggestellt werden. Da der Dichter sich dafür eigens in das Jenaer Gartenhaus zurückzog, blieb schwerlich Zeit für andere Aktivitäten. Der Einfachheit halber sollte man die Entstehung im April und Mai ansiedeln. Jedenfalls konnte der Autor das Manuskript am 19. Juni 1801 an Cotta abschicken. Unter dem Neugier weckenden Titel „An ***“ erfolgte der Erstdruck alsbald im „Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1802“. Ein zweiter Druck erschien im Jahr darauf unter den „Gedichten“ mit dem Titel: „Der Antritt des neuen Jahrhunderts. An ***“. 1805, im Todesjahr Schillers, wurde der Text unter dem endgültigen Titel „Am Antritt des neuen Jahrhunderts. An ***“ in die Ausgabe letzter Hand aufgenommen.

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Neun vierzeilige, durch Kreuzreim verbundene Strophen, in dem seit dem 18. Jahrhundert häufig gebrauchten ‚elegischen‘ Metrum aus trochäisch fallenden Fünfhebern erlauben die von Schiller offenbar gewünschten weit ausschwingenden Ausdrucksmöglichkeiten. Die zwischen klingenden und stumpfen Reimen wechselnden Versenden geben dem Strophenbau durchgängigen rhythmischen Halt. Obgleich der Autor offensichtlich das gewählte metrische Schema souverän zu gebrauchen weiß, hinterlassen die Verse den Eindruck ausgeprägter Nüchternheit. Das breit entwickelte Textgefüge gliedert sich in einen einleitend-fragenden Teil (I + II), einen doppelt so langen Mittelteil (III–VI) und einen resümierenden dritten Teil, der in einer die Eingangsfrage appellativ aufgreifenden Schlußstrophe ausläuft (VII–IX). Durch die Überschrift ist sogleich festgelegt, daß die Jahrhundertwende zum Anlaß eines kritischen Blicks auf die zeitgeschichtlichen Entwicklungen genommen werden soll. Der Leser ist somit eingestimmt auf den reflektierenden Grundgestus der Sprechweise Schillers. Zu diesem Zweck will er direktes Einvernehmen mit dem nicht genannten Adressaten herstellen. Mit feiner Ironie wird auf diese Weise die aktivierende Kommunikationsabsicht von Anfang an offenbart. Der Dichter orientiert sich produktionsästhetisch. Seine Worte sind an den zu Beginn des Gedichts angesprochenen „Edlen Freund“ (V. 1) gerichtet und insofern für alle gedacht, die eine solche Anrede verdienen. Ihnen ist der epochale Schillersche Kommentar förmlich (im Erstdruck „An ***“ sogar ausschließlich!) zugeschrieben, um ihr Mit- und Nachdenken auszulösen. Durch die sich anschließende erbarmungslos desillusionierte Wirklichkeitsbetrachtung teilt sich den Versen eine tief elegische Grundstimmung mit. Mit Recht fiel dem Dramatiker Friedrich Dürrenmatt auf: „In Schiller ist die große Nüchternheit spürbar, die wir heute dem Staate gegenüber nötig haben, dessen Neigung, total zu werden, immanent geworden ist“ 20. Es ist die Ernüchterung des in seiner ideellen Hochstimmung gründlich Enttäuschten. Doch wird hierdurch klar, daß im Gedicht „Am Antritt des neuen Jahrhunderts“ insgeheim auch das Thema der nationalen Identität angeschlagen wird. Brennende Fragen eröffnen die lyrischen Überlegungen in der ersten Strophe: „Wo öfnet sich dem Frieden, / Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?“ (V. 1/2). Frieden und Freiheit bilden das Zentrum von Schillers idealem Gesellschaftsbild. Ihr Fehlen macht menschliches Glück unmöglich. Die herrschende Wirklichkeit wird bestimmt vom Gegenteil der Ideale, nämlich von Krieg und Zwangsherrschaft. Wenn dabei gesagt wird: „Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden, / Und das neue öfnet sich mit Mord“ (V. 3/4), so sollte man dabei weniger an konkrete Einzelfakten wie die wenig bedeutsame Schlacht von Hohenlinden (3.12.1799) oder die Ermordung des russischen Zaren Paul I. (23.3.1801) denken21, sondern von allgemeineren Perspektiven ausgehen. Will der Autor doch in erster Linie seine absoluten Maß60  

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stäbe prüfend auf die völlig anders geartete gesellschaftliche Realität fortgesetzter Unterwerfung und Entzweiung anwenden. Der „Sturm“ meint hier nicht bloß den die Mitwelt verblüffenden Sturmlauf des Napoleon Bonaparte auf den diversen Kriegsschauplätzen, der den General 1799 zum Ersten Konsul mit diktatorischer Gewalt und damit zum Alleinherrscher machte. Vielmehr denkt Schiller an die Französische Revolution, die eine Monarchie hinwegfegte (1789), an die zweite und dritte Teilung Polens (1793 und 1795), die Besetzung der linksrheinischen Gebiete, einschließlich Hollands durch französische Truppen (1795), die Einrichtung französischer Tochterrepubliken in Italien (1796–1801) und die Schaffung der Helvetischen Republik auf dem Boden der schweizerischen Eidgenossenschaft (1798). Noch weniger genügt es, beim Stichwort „Mord“ einfach an den Zarenmord in Rußland zu erinnern. Vielmehr denkt Schiller an die zurückliegenden blutigen Jahre, in denen durch die Schreckensherrschaft mit der Guillotine und vor allem durch die diversen kriegerischen Auseinandersetzungen der Mord in Gestalt des Todes Tausender und Abertausender an der Tagesordnung war. Sein Vertrauen in den Frieden von Lunéville war angesichts des anhaltenden Mordens – England setzte den Kampf gegen Frankreich allein fort – ohnehin gering. Die Zukunft bestätigte seine Skepsis voll. Er stellte die dringliche Frage nach einem „Zufluchtsort“ für Frieden und Freiheit, weil die Zeit aus den Fugen geraten war. Die Konjunktion „und“ schließt als Initialwort die zweite Strophe eng koordinierend an die erste an. Die dortigen Überlegungen werden unmittelbar weitergeführt. Die Rede ist nun von den Folgen der eingetretenen politischen Veränderungen: „Und das Band der Länder ist gehoben, / Und die alten Formen stürzen ein“ (5/6). Damit ist der Zusammenbruch der alten Staatsordnung angesprochen. Die mit militärischer Gewalt herbeigeführte Hegemonie Frankreichs auf dem europäischen Festland hatte eine revolutionäre ‚Flurbereinigung‘ zur Folge, bei der die alten Grenzen vollkommen über den Haufen geworfen wurden. Allein England kämpfte weiter, um seine See- und Kolonialherrschaft zu verteidigen. So erklärt sich die Feststellung: „Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben“ (V. 7). Der ergänzende Hinweis „Nicht der Nilgott“ (V. 8) greift das ägyptische Abenteuer Napoleons heraus, der 1798 einen Feldzug an den Nil, damals zur Türkei gehörig, unternahm, um Englands Mittelmeerposition zu gefährden und Indien zu bedrohen. Zwar siegte er bei den Pyramiden, doch vernichtete Admiral Nelson bei Abukir die französische Flotte, so daß dem Expeditionskorps der Rückweg abgeschnitten war. Daß Schiller außerdem auf „den alten Rhein“ (V. 8) hinweist, erinnert – über die Annexion der gesamten linksrheinischen Ländereien durch Frankreich hinaus – an den Einmarsch der Truppen des Generals Moreau 1796 in rechtsrheinisches Gebiet. Mit diesen Bemerkungen schließt der Autor seine katastrophale Bestandsaufnahme der europäischen Situation zur Zeit der Jahrhundertwende ab. An diesem Punkt „Am Antritt des neuen Jahrhunderts“  

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wird deutlich, daß hier ebenso das schmerzliche Thema der schwer beschädigten nationalen Identität angeschlagen wird. Deutlich spricht Schiller dabei als Historiker, der unter den Fehlentwicklungen seiner Zeit leidet. Ihn quälte der traurige Zustand des zersplitterten und unentwickelten Deutschland. Zugleich durchschaute er die trügerische Basis des von vielen begrüßten Friedensschlusses und zog seine Konsequenzen daraus. Treffend verwies Hans Mayer auf die „Antithetik von idealischem Aufschwung und deutscher Realität“ bei ihm22. Sie löste die anfangs gestellten Fragen aus. Aus Schillers daran anschließender Beschreibung ergibt sich eine desillusionierende Zeitdiagnose. Damit endet der erste Teil des Gedichts. Im vier Strophen umfassenden Mittelteil stellt der Autor die Politik der damals dominierenden Großmächte – Frankreich und England – vor, personifiziert vom „Franken“ (V. 15) und vom „Britten“ (V. 17). Der historisch klarsichtige Dichter erkannte die zunehmende weltweite Verflechtung der Ereignisse. Gleichsam Max Webers universalgeschichtliche Perspektive vorwegnehmend, sieht er die Weltläufte im globalen Zusammenhang. Indem er die kolonialen Eroberungen und Kämpfe in das Zeitgeschehen einbezieht, durchbricht seine Geschichtsbetrachtung den europäischen Rahmen. Sehr wohl war ihm bewußt, daß die konkurrierende Weltpolitik beider Großmächte den Geschichtsprozeß seit den Kämpfen in den amerikanischen Kolonien und vor allem seit der 1776 erfolgten amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in einen Entwicklungszusammenhang brachte, der alle Kontinente erfaßte. Darauf aufmerksam zu machen, ist Thema der dritten Strophe: „Zwo gewalt’ge Nationen ringen / Um der Welt alleinigen Besitz“ (V. 9/10). Weil das unerbittlich betriebene „Ringen“ sich laufend aggressiv zuspitzt, kommt es zur kriegerischen Auseinandersetzung. Schiller bemüht dafür die mythologische Bildtradition. Der „Dreizack“ des Meeresgottes Poseidon und der von Zeus geschleuderte „Blitz“ (V. 12) versinnbildlichen die rücksichtslose Kriegführung beider Seiten. Allerdings vermag das mythologische Beispiel die zunehmende Effizienz der Vernichtungsmittel und damit das Ausmaß der Zerstörungen nicht angemessen zu erfassen. Auf Eroberung ausgehend, „verschlingen“ die beiden Kontrahenten mit ihrer Gewaltpolitik „aller Länder Freiheit“ (V. 11). Bittere Zweifel und Pessimismus hinsichtlich der politischen Freiheit im Leben sprechen aus diesen Worten. Zwischen den Zeilen erfährt man dabei viel von Schillers Klage über die „schändliche Rolle“ 23 Deutschlands in diesen Konflikten. Doch ist das lediglich der Auftakt des kommentierenden Mittelteils. In den drei nächsten Strophen erfolgt eine weitere Konkretisierung. Kritisch werden die imperialen Ansprüche beider Nationen beleuchtet. Den Anfang bildet das Tun des „Franken“. Die von den französischen Armeen unter Napoleon gewaltsam herbeigeführte Hegemoniestellung auf dem Kontinent wird am Beispiel der harten Kontributionen und Reparationen als Gewaltakt ausgewiesen: „Gold muß 62  

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ihnen jede Landschaft wägen“ (V. 13). Zu genauerer Illustration zieht Schiller diesmal ein historisches Beispiel bei. Die harten finanziellen Auflagen werden verglichen mit dem von Livius überlieferten Auftritt des Gallierkönigs Brennus im eroberten Rom zur Zeit des 4. vorchristlichen Jahrhunderts. Wie der römische Historiker berichtet, warf der Eroberer bei den Verhandlungen über das Lösegeld zur Freigabe des eingeschlossenen Kapitols mit dem Drohruf ‚Vae victis!‘ (‚Wehe den Besiegten!‘) sein Schwert in die Waagschale. Dergestalt prangert Schiller das fatale ‚Recht des Stärkeren‘ an, weil es die „Waage der Gerechtigkeit“ (V. 16) außer Kraft setzt. Der adjektivisch gestützte Hinweis auf die „rohe Zeit“ (V. 14) erlaubt den Rückschluß auf die durchaus negative Einschätzung seiner damaligen Gegenwart. Dementsprechend fällt ebenso der Vergleich mit dem „Britten“ aus. Der treibt sein Unwesen im „Reich der freien Amphitrite“ (V. 19), der Gemahlin Poseidons und insofern der Göttin der Meere. Diesmal trifft der mythologische Vergleich das Gemeinte ein wenig besser, weil es darum geht, damit die gewaltsame Eroberung aller Meere durch die britischen „Handelsflotten“ (V. 17) sinnfällig zu machen. Verstärkt durch das Bild der Polypenarme („Gierig wie Polypenarme“, V. 18) für die Monopolstellung der englischen Handelskompanien, die Land erwarben und verwalteten, Truppen aufstellten und über das Recht verfügten, Kriege zu führen, kommt die koloniale Aneignungspolitik klar zum Ausdruck („das Reich der freien Amphitrite / Will er schließen wie sein eignes Haus“, V. 19/20). Der unbegrenzte Anspruch der Herrschaft zur See macht vor keiner Weite Halt. Der „rastlos ungehemmte Lauf “ (V. 22) dieses Expansionsbedürfnisses ist Gegenstand der sechsten Strophe. Dort wird aber am Ende zu bedenken gegeben, daß so zwar „alle fernen / Küsten“ (Enjambement!), nicht aber das „Paradies“ (V. 23/24) erreicht werden können. Ohne das sonst übliche Pathos gelingt es Schiller hier, den historischen Prozeß kommentierend treffend zu erläutern. Aber die Vergleiche bleiben dennoch gelegentlich aufgesetzt („Schwingen sie den Dreizack und den Blitz“, V. 12), die typisierenden Bilder immer wieder ausdrucksschwach („Gold“, V. 13; „Waage der Gerechtigkeit“, V. 16), die Adjektive teilweise dürftig („gewalt’ge Nationen“, V. 9; „seinen ehrnen Degen“, V. 15), die Reime stellenweise erzwungen („Britte“ – „Amphitrite“). Unwillkürlich denkt man dabei an Ernst Blochs Mahnung: „Die Sonne Schillers leuchtet noch, aber merkwürdig: man weiß sie als Sonne, sieht sie jedoch nur indirekt, streifig, vielfältig, verzerrt, je nachdem“ 24. Derlei gehört offenbar zum Manko dieser, ästhetisch betrachtet, artifiziellen Gedankenlyrik. Mit dem Schlußteil kommt der Autor zum Resümee seiner Überlegungen. Die Interjektion „Ach“ (V. 25) stimmt auf den elegischen Gesamtton der letzten drei Strophen des Gedichts ein. Interessanterweise erfolgt hier ein unterstreichendes Eingehen auf die doppelschichtige personale Situation des Textes. Die dreifache Du-Anrede (V. 26, 29 und 34) erläutert zunächst einmal die Perspektive des hier „Am Antritt des neuen Jahrhunderts“  

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sprechenden Ichs, das als solches ganz zurückgenommen bleibt. Gleichzeitig bringt der Autor damit die kommunikative Beteiligung des Lesers in Erinnerung. Die zu Beginn gestellte Frage nach dem „Zufluchtsort“ (V. 2) im „seligen Gebiet“ (V. 26), wo, wie emphatisch in Erinnerung gerufen wird, „der Freiheit ewig grüner Garten“ (V. 27) und „der Menschheit schöne Jugend blüht“ (V. 28), wird nun ganz aus dem Zusammenhang der Wirklichkeit herausgenommen. Dieser erwünschte „Zufluchtsort“ ist auf keiner Karte auszumachen, also in der Realität inexistent („umsonst auf allen Ländercharten / Spähst du“, V. 25/26). Der Gedankengang wird in der folgenden Strophe direkt weitergeführt. Der Deutlichkeit halber ist er nunmehr fixiert auf die „unermeßne“ (V. 31) Größe der Welt und der Weltmeere („Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken“, V. 29). Um so schmerzlicher wird darum die Erkenntnis empfunden, daß dort nicht einmal „für zehen Glückliche (…) Raum“ ist (V. 32). Hoffnungslos also jegliche Glückserwartung. Die evozierten Sehnsuchtsbilder von der „Freiheit“ und „der Menschheit schöner Jugend“ entspringen der Schillerschen Grundüberzeugung von der „ethischen Wirksamkeit des Ästhetischen“, die er wiederum von der „Idealisierung der Antike“ herleitet25. Hans Mayer hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Schiller „der große bürgerliche Künstler in seinem Widerspruch und im Widerspruch seiner Zeit“ war. Er merkte dazu an: „Die bürgerlichen Gesellschaftsforderungen verstand er als allgemeinmenschliche; seine Kunst und Philosophie standen im Zeichen der Freiheit, aber er wußte nichts von der dialektischen Beziehung zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Er verstand es auch nicht, den philosophischen Freiheitsbegriff sorgfältig gegen die konkreten bürgerlichen Freiheiten abzugrenzen“ 26. Sicher ist das der Schlüssel zu der eigenartigen Sachlage, daß Schillers Dichtung seine philosophischen Überzeugungen demonstrieren soll, dabei jedoch laufend von der Realität widerlegt wird. Wenige Jahre zuvor, 1792, hat Immanuel Kant in seinem Spätwerk „Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“ ausdrücklich auf diesen Widerspruch hingewiesen, indem er kurzerhand zwei Geschichtsmodelle einander gegenüberstellte. Zum einen beschrieb er die Menschheitsgeschichte als konsequenten Verrat am „Leben im Paradiese“ durch „das radikal Böse in der menschlichen Natur“, zum andern als unaufhörliche Bewegung „vom Schlechten zum Besseren“ 27. Der Philosoph beließ es bei der aufgezeigten Antinomie. Schiller hingegen mußte die Hoffnungslosigkeit seiner philosophischen Spekulation in aller Schärfe erfahren. Aus seiner in der Schrift „Ueber Anmuth und Würde“ geäußerten Erwartung, „die schöne Seele muß sich (…) im Affekt in eine erhabene verwandeln“ 28, konnte nichts werden, weil der hehre Glaube an die moralische Wirkung der Kunst angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit versagt. Deshalb blieb ihm nur der resignierende Rückzug auf die individuelle moralische Freiheit des Gewissens. Jedenfalls mußte er sich eingestehen: „Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit 64  

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unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht“ 29. Um so leidenschaftlicher huldigt der Dichter der inneren Freiheit und hauptsächlich der Kunst in den beiden lapidaren Sätzen der Schlußstrophe. Hier gibt er den berichtend-reflektierenden Gestus seines Sprechens auf und verkündet apodiktisch seine Folgerungen. Gleich der erste Satz fordert zur Flucht aus der entfremdeten und entfremdenden Wirklichkeit auf: „In des Herzens heilig stille Räume / Mußt du fliehen aus des Lebens Drang!“ (V. 33/34). Die damit propagierte Abkehr von „des Lebens Drang“ macht die bisherigen pädagogischen Erwartungen zum Traumbild. Emil Staiger erblickte in der Wendung nach innen „stoischen Gleichmut in allen Prüfungen“ 30. Das sei dahingestellt. Jedenfalls verkündet Schiller mit ungebrochener Sprachgewalt das im Reservat der Kunst gültige ästhetische Ideal menschlichen Fortschreitens im Zeichen der Vernunft und der Freiheit. Unzweifelhaft aber bedeutet, von außen betrachtet, die Aufforderung zur Flucht eine Kapitulation vor der Wirklichkeit, weil „das Streben des Idealisten viel zu sehr über das sinnliche Leben und über die Gegenwart hinausgeht“ 31. Die allein bleibende innere Freiheit erzwingt die radikale poetologische Wende weg vom Programm der „ästhetischen Erziehung“, hin zur Autonomie der Kunst. Was beibehalten wird, ist die philosophisch begründete Poetik des „Schönen“, denn, so das Finale: „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, / Und das Schöne blüht nur im Gesang“ (V. 35/36). So gesehen, bleibt der rigorose Kern der „ästhetischen Erziehung“ erhalten. Schiller bekennt sich zur Unvergänglichkeit der Dichtung, gerade weil die praktische Möglichkeit an der Realität scheitert. Vielleicht fand er den Mut dazu in der Überzeugung: „Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab“ 32. Darin laufen die Linien seines Denkens zusammen. Vor dem Tribunal der Weltgeschichte können allein die „Freiheit“ und das „Schöne“ bestehen. Daran läßt sich Schillers Vermächtnis in seiner inneren Größe wie in seinem äußeren Scheitern ablesen.

Anmerkungen 1 2

3

Beethoven verwendete Teile von Schillers Ode „An die Freude“ .im Schlußchor der 1824 uraufgeführten IX. Symphonie d-Moll. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (= fischer 6144). Frankurt/M. 1971, S.109. Das im amerikanischen Exil entstandene Buch wurde 1947 in Amsterdam, also noch nicht in Deutschland zuerst gedruckt. SNA 30,206 f. (Schiller an Christian Gottfried Körner am 21.10.1800).

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14 Zit. n.: Schiller und die Romantiker. Briefe und Dokumente. Hrsg. v. Hans Heinrich Borcherdt. Stuttgart 1948, S. 474 (Friedrich Schlegel: Notizheft von 1797). 15 Rudolf Alexander Schröder: Schiller. In: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1959. Hrsg. v. Bernhard Zeller (= Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 24). Stuttgart 1961,S. 271–292; Zitat: S. 280. 16 SNA 22,255 (Ueber Bürgers Gedichte). 17 Lahnstein, Peter: Schillers Leben. Biographie. München 1981, S. 373. 18 SNA 1,331. Das Distichon mit der Überschrift „Das Mittel“ wird in der Regel Goethe zugesprochen. 19 In den ersten Heften seiner bei Cotta erscheinenden Monatsschrift „Die Horen“ publizierte Schiller die Neufassung seiner Briefe an den Herzog von Augustenburg (Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg) unter dem Titel Über die ästhetische Erziehung der Menschen in einer Reihe von Briefen. Vgl. hierzu: Koopmann, Helmut: Friedrich Schiller II: 1794–1805. (= Sammlung Metzler, Bd. 51). 2.A. Stuttgart 1977, S. 8–13. 10 SNA 22,256 und 257 (Ueber Bürgers Gedichte). 11 SNA 28,119 (Schiller an Wilhelm von Humboldt am 30.11.1795) 12 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. Frankfurt/M. 1967, S. 494. 13 So der Materialist Büchner im Brief an die Familie aus Straßburg am 28.7.1835 (Büchner, Georg: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. Wiesbaden 1958, S:400). Es heißt da weiter: „Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller“ (ebd., ibid.). 14 Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta., Bd. 2, München 1954, S. 991. Das Bonmot findet sich im Rahmen der „Götzen-Dämmerung“ unter den „Streifzügen eines Unzeitgemäßen“ und lautet: „Schiller: oder der Moral-Trompeter von Säckingen“. 15 So Bloch a.a.O., Anm. 12, S. 500. 16 SNA 1,383. 17 SNA 1,362 f. (zitiert nach der Ausgabe letzter Hand, Viertes Buch). 18 Der Frieden von Lunéville bestätigte die Ergebnisse des Friedens von Campo Formio (1797): Einwilligung Österreichs in die Abtretung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich, geplante Kompensation der dadurch betroffenen deutschen Fürsten (> Reichsdeputationshauptschluß). Außerdem wurden nun die französischen Tochterrepubliken in Italien anerkannt. England führte den Konflikt allein weiter, wurde aber durch die Kontinentalsperre isoliert. 19 SNA 31,10 (Schiller an Göschen am 26.2.1801). Vgl. hierzu auch: SNA 39.I,19 f. (Cotta an Schiller am 16.2.1801). 20 Dürrenmatt, Friedrich: Friedrich Schiller. In: Schiller. Reden im Gedenkjahr1959. Hrsg. v. Bernhard Zeller (= Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 24). Stuttgart 1961, S. 37–52; Zitat: S. 51. 21 Der Sieg Napoleons über die österreichischen Truppen bei Marengo und dann bei Hohenlinden bedeutete dessen Einfluß auch nördlich der Alpen. Die Ermordung von Zar Paul I. beendete im danach von Alexander I. bis 1825 regierten Rußland die Bereitschaft zur Verständigung mit Frankreich.

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22 Mayer, Hans: Dem Wahren, Guten, Schönen. In: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1959. Hrsg. v. Bernhard Zeller (= Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 24). Stuttgart 1961, S. 159–169, Zitat: S. 167. 23 Vgl. hierzu: Anm. 18 und 21. 24 Bloch, Ernst: Die Kunst, Schiller zu sprechen und andere literarische Aufsätze (= BS 234). Frankfurt/M. 1969, S. 54. Der Aufsatz ist 1932 entstanden. 25 Martin, Dieter: Gedichtete Gedanken. Schillers poetologische Lyrik. In: Sasse, Günter (Hrsg.): Schiller. Werk-Interpretationen. Heidelberg 2005, S. 221–242; Zitate: S.236 und 237. 26 Mayer, Hans: a.a.o., Anm. 22, S. 167 f. 27 Kant, Immanuel: Immanuel Kant. Auswahl und Einleitung: Hans-Georg Gadamer (= Fischer Bücherei 336). Frankfurt/M. 1960, S. 178. 28 SNA 20,294.(Ueber Anmuth und Würde). 29 SNA 20,,311 (Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen). 30 Staiger, Emil: Schillers Größe. In: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1959. Hrsg. v. Bernhard Zeller. Stuttgart 1961, S. 293–309; Zitat: S. 302. 31 SNA 20,499 („Ueber naive und sentimentalische Dichtung). Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß das Gedicht „Das Ideal und das Leben“ ursprünglich die Überschrift „Das Reich der Schatten“ hatte. 32 SNA 2.1,326 („Nänie“, V. 14).

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„Abendständchen“ (1802)

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eben Achim von Arnim, Novalis, Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder gehört Clemens Brentano (1778–1842) zu den herausragenden Repräsentanten der literarischen Frühromantik. Im Verlauf seiner nicht sonderlich ernsthaft betriebenen Studien1 fand der genialisch veranlagte Jüngling Zugang zum Kreis der ‚Jenaer Romantiker‘. Seitdem war er – teils mit Erfolg, öfters eher mehr scheiternd – darum bemüht, eine „poetische Existenz“ 2 zu führen, bis er sich, vierzigjährig, ganz von der Dichtung lossagte und seine Energie auf die damals betriebene ‚katholische Erneuerung‘ konzentrierte. Im November und Dezember 1802 hielt sich der gerade 24-jährige kurzfristig in Düsseldorf auf und verfaßte für die dortige Bühne ein wenig belangvolles Singspiel. Diese Gelegenheitsarbeit mit dem Titel „Die lustigen Musikanten“, wurde – wenn man dem Autor glauben darf – „in 4 Tagen“ geschrieben3. Brentano ging mit dem Auftritt der alles andere als „lustigen Musikanten“ von einer Episode im Roman „Godwi“ 4 aus. Die zum Jahreswechsel geplante Aufführung der „kleinen Oper“ 5 kam jedoch nicht zustande, weil der Komponist, der Düsseldorfer Orchesterchef Peter Ritter, mit der Vertonung nicht rechtzeitig fertig wurde. Erst nachdem der Text im April 1803 gedruckt erschienen war, folgte am Neujahrstag 1804 die Uraufführung in Mannheim6. Bald darauf legte auch E.T.A. Hoffmann eine weitere Vertonung vor, die im April 1805 am Deutschen Theater in Warschau zur Aufführung kam. Es würde sich kaum weiter lohnen darauf einzugehen, gäbe es im Libretto nicht ein Duett zwischen dem Mädchen Fabiola und dessen Vater, dem blinden Greis namens Piast. Diese Sequenz im vierten Auftritt des Stückes bildet den Ausgangspunkt für eines jener Gedichte der frühen Romantik, von denen Hans Magnus Enzensberger mit Recht sagte, sie seien „einmalige Glücksfälle von ‚Kunstpoesie‘ im Ton und Gewand der ‚Naturpoesie‘“ 7. In einer Regiebemerkung des Singspieltextes findet sich dazu die folgende szenische Situierung: „Der blinde Piast, Fabiola führt ihn an einem Stabe (…). Hinter der Szene hört man eine Flöte, die sich nähert“ 8. Daran schließt sich das folgende Duett an: Fabiola: Piast: 68  

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Hör’, es klagt die Flöte wieder, Und die kühlen Brunnen rauschen. Golden wehn die Töne nieder, Stille, stille, laß uns lauschen!

Clemens Brentano

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(angemeßnes Solo der Flöte) Fabiola: Piast:

Holdes Bitten, mild Verlangen, Wie es süß zum Herzen spricht! Durch die Nacht, die mich umfangen, Blickt zu mir der Töne Licht. 9

Unter dem wenig glücklichen Titel „Abendständchen“, der nicht von Brentano stammt, sondern von den späteren Herausgebern10, fand dieser Text dann Eingang in das lyrische Repertoire. In dem vom Singspieltext „freigestellten Gedicht“ 11 fließen die zweistimmigen Sprachbilder des Wechselgesangs zu einer in zwei Hälften gegliederten Einheit zusammen. Durch den Wegfall der Zäsuren noch jedem Vers­ paar verändert sich der Ausdruck wesentlich. Ungeachtet des beinahe identischen Wortmaterials, verschwindet dabei die spielerische, szenisch-dialogische Anfangsstruktur zugunsten einer spürbar ausgewogenen Verinnerlichung mit gesteigerter Bedeutungsintensität. An den personalen Bezügen im Text wird das durch die gleichsam umgepolten Personalpronomina sogleich faßbar. Insbesondere nimmt die Aussage der beiden Schlußverse einen ganz anderen Sinn an. Aus der situationsgebundenen Bekundung eines Blinden, den „der Töne Licht“ an-“blickt“, wird nun eine allgemein zu verstehende Erfahrung ganz eigener Wirkung. „Der Töne Licht spricht“ nun zu uns allen. Hier die beiden Strophen der rein lyrischen Textvariante: Abendständchen Hör! Es klagt die Flöte wieder, Und die kühlen Brunnen rauschen, Golden wehn die Töne nieder – Stille, stille, laß uns lauschen! 5

Holdes Bitten, mild Verlangen, Wie es süß zum Herzen spricht! Durch die Nacht, die mich umfangen, Spricht zu mir der Töne Licht. 12

Das einfache metrische Schema besteht aus zwei vierzeiligen, trochäisch fallenden, vierhebigen Kurzstrophen mit dominant klingendem Schluß13. Kreuzreime und gleichmäßige klangliche Wechsel gewährleisten die hervorstechende Kohärenz des Textes. Die Zahl der Worte ist auf beide Strophen fast gleich verteilt14. Wie meist bei Brentano fällt sofort die Musikalität der Verse auf. Gleichbleibende Tonhöhe, „Abendständchen“  

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vokalische Beziehungen, Bildklänge und Klangbilder tragen wesentlich zur melodischen Prägung bei. Syntaktische und metrische Fügung sind ebenso voll stimmig zusammengefügt. So entsteht der Eindruck, daß eine Vertonung dieser lyrischen Wortmusik eher schaden würde. Dementsprechend ist der Text vom Wortmaterial und von der Satzführung her leicht zugänglich. Dennoch trügt der anfängliche Eindruck einer volksliedhaften Schlichtheit. Brentano beherrschte nämlich das einfache Register virtuos. Nicht ohne Grund stammt von ihm der Satz: „Das Romantische selbst ist eine Übersetzung“ 15. Enzensberger hat mit Recht auf die spezifische Mischung von „Unschuld und Raffinement“ im Werk hingewiesen. Dafür wurde die einleuchtende Formel von der „artistischen Konstruktion des Volkstones“ (Frühwald16) gefunden. Man merkt, hier schreibt ein poetisch Getriebener, der die überkommene Ausdrucksmanier von Lied und Gesang bestens kennt und souverän umsetzt, indem er Bilder bewußtseinsmäßig gespiegelt sieht und Töne echoartig registriert. Es ist also nicht so wie Alewyn meinte, als er dem Dichter eine „reine lyrische Substanz“ zusprach und deswegen feststellte: „Das Lied singt von selber, es singt sich selber, es singt von sich selber“ 17. Ganz so einfach liegen indes die Dinge nicht. Auch wenn sich kein lyrisches Ich mitteilt, ist offensichtlich der Autor Brentano nicht bloß spontan, sondern kreativ-prüfend am Werk. Die Gestaltung verdankt sich ausgesprochen seiner, mit Friedhelm Kemp zu sprechen, „erotischmusikalischen Genialität“ 18. Wie er sie im Gedicht anwendet, soll nun vom Text her ermittelt werden. Ein kurze Zeit davor entstandenes Gedicht von Ludwig Tieck beginnt mit den von Wackenroder übernommenen Versen: „Liebe denkt in süssen Tönen, / Denn Gedanken stehn zu fern“ 19. Der Satz könnte dem Text Brentanos als Motto dienen, weil er den thematischen Kern wie auch das poetologische Programm dieses Gedichts treffend umreißt. Brentano denkt in dem durch und durch romantischen Text wirklich die Liebe „in süßen Tönen“. Deswegen sollte man vorsichtig sein mit Aussagen wie beispielsweise der folgenden: „Ein schlichtes, ganz und gar einsichtiges Gebilde“, das „einer Worterklärung so wenig, wie einer gedanklichen Auslegung“ bedarf20. Der Dichter teilte nämlich seinen Versen einen wichtigen Subtext mit, der eine tiefe Liebesund Lebenssehnsucht ausspricht. Diese intime Bekundung ist dem Aussagezusammenhang nicht direkt abzulesen. Er muß nachdenkend erfühlt werden im Austausch eines Sprechers mit einem Angesprochenen. Hier gilt es besonders genau zu lesen. Brentanos lyrische Musikalisierung kreist um die Liebe als Grunderlebnis besonderer Qualität. Dies wird auf wundersame Weise vernehmbar, weil mit der Dämmerung ein geschärftes Hören einsetzt. Es gehört zur Wirkung der „klagenden Flötentöne“, daß sie im Innern desjenigen, den das Gedicht anspricht, einen existentiellen Verwandlungsprozeß einleiten, der Lebenserwartung und Liebesbereitschaft auslöst. 70  

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Völlig richtig bezeichnete Killy die „Intensität der Synästhesie“ als Merkmal dieses Gedichts21. Der Autor läßt die „Brunnen rauschen“ (V. 2), die Töne „golden wehn“ (V. 3) und verweist uns auf „der Töne Licht“ (V. 8). Das sind ungewohnte sinnliche Eindrücke auf der Grundlage synästhetischer Wahrnehmung. Jean Paul statuierte richtig: „Die romantische Poesie wird (…) von Auge und Ohr bevölkert“. Daraus erwachsen, wie er weiter folgerte, erleuchtende Bilder des „Zauberspiegels der Zeit, welche nicht ist“ 22. Hierbei geht das sinnlich Erfahrene direkt über in seelisches Erleben und findet in „der Töne Licht“ ein erhebendes Gegenbild zum Alltäglichen, wie es sich im „holden Bitten“ und im „milden Verlangen“ (V. 5) sehnsuchtsvoll manifestiert. Von der poetischen Metapher sowie von der erleuchtenden Wirkung der Töne her eröffnet sich im seelischen Innenraum eine Wunschtraum­ szenerie. Sie bestätigt sich durch die neu hinzugewonnenen Dimensionen als immanente, ästhetisch erfaßte Realität. Mit dem in imperativischer Direktrede gehaltenen Initialwort („hör’“, V. 1) kommt die komplexe Kommunikationssituation des Textes zum Vorschein. Anders als in der dialogisch angelegten Variante des Singspiels mit klarer Rollenverteilung ist hier die Ansprache wesentlich offener gestaltet. Der Sprecher bleibt ebenso unbestimmt wie der oder die Einbezogene(n). Spricht er zu einem oder zu mehreren andern, zu einer Geliebten, zu einem Freund, zum Leser oder, als Autor, zu sich selbst? Das aufzulösen, kann nicht gelingen, weil all dies ins Spiel kommt. Was allein gesagt werden kann ist, daß ein lyrisch gestimmtes Ich sich an einen oder mehrere Adressaten wendet, um ihn oder sie an seiner Wahrnehmung einer verzauberten Abendstimmung teilhaben zu lassen. Seine Rede erzeugt Ein-Vernehmen, weil sie den „Bitten“ und dem „Verlangen“ (V. 5) des oder der Angesprochenen entgegenkommt. Es geht dabei um weit mehr als um eine bloße Serenade, nämlich um die Einführung des Schönen, des Schweigens, der Liebe und der Kunst in den banalen Lebensalltag. Die Aufforderung zu einem tieferen Hören soll alle Sinne öffnen für ein verändertes Erleben. Durch die lyrischen Bilder und „Töne“ (V. 3 und 8) erscheint die Welt in einem anderen „Licht“ (V. 8). Auf dem Wege anschauender Erkenntnis wird sie im Sinne der angeführten ‚romantischen „Übersetzung“ in ein gewöhnlich verdeckt bleibendes, gehobenes Lebensgefühl umgewandelt. Killy spricht daher zutreffend von der „Gemütserregungskunst“ Brentanos23. Im Vordergrund steht deshalb von vornherein das in imperativischer Form herausgehobene Hören. Sprecher wie Hörer werden so auf eine intensivierte Umweltwahrnehmung hinorientiert. Geht es doch darum, über die Vermittlung der Flötentöne die bisher verhüllte Sehnsuchtsperspektive freizulegen. Es kann seltsam anmuten, diese erhebende Bewegung ausgerechnet vom Klagen der Flöte („klagt die Flöte wieder“, V. 1), also einer Äußerung des Schmerzes oder der Trauer ausgelöst zu sehen. Der Weg der Musik ist im Unterschied zu anderen Künsten jedoch „Abendständchen“  

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nicht gegenständlich. Ohne Schwierigkeit kann in einer Komposition Klage oder Trauer unmittelbar in Trost und Beglückung übergehen. Genau das ist hier der Fall. Die „Flöte“ als Quelle der „Töne“ reißt den, der ihren Klang vernimmt, aus seiner alltäglichen Geschäftigkeit heraus. Ihre „Töne“ bewirken eine innere Umgestaltung. Ohnehin soll die Aufforderung endlich wirkliches Zuhören auslösen. Die dabei angestrebte Intensität zeigt das am Versende plazierte Adverb „wieder“. Jetzt soll endlich der Hoffnung, Wunsch und Willen bildende Geist der Musik zur Wirkung kommen. Dann nämlich kann er sich mit dem inneren Drang des Herzens treffen. Mit dem zweiten Vers kommen andere „Töne“ und ein ergänzendes Bild hinzu: „Und die kühlen Brunnen rauschen“. Das Adjektiv „kühl“ unterstreicht die Abendstimmung, in welcher der Vorgang angesiedelt ist. Die „rauschenden Brunnen“ lassen mehr das aufwühlende Geräusch der die öffentlichen Plätze zierenden Brunnenanlagen hervortreten als ihren visuellen Eindruck24. Sicher richtig wurde vom „,Bitten‘ der Flöte“ und vom „,Verlangen‘ der Brunnen“ gesprochen25. Die Beziehung zwischen der „klagenden Flöte“ mit dem später folgenden „Bitten“ liegt auf der Hand. Gleiches gilt für die Vorwegnahme des „Verlangens“ im Rauschen der „kühlen Brunnen“. Man muß dann nur noch das synästhetisch-“goldene“ Herabwehen der „Töne“ im dritten Vers dazunehmen, weil mit dieser das Klangbild veredelnden Qualität der besondere Charakter der nächtlichen Zaubersphäre zur Sprache kommt. Die so gestuften Klänge (Flötenspiel, Brunnenrauschen, goldene Töne) deuten die erfolgende Umwandlung an. So wird das Wirkliche in den nötigen Schwebezustand versetzt, der quer zum Alltag steht. Deswegen kann im Schlußvers der ersten Strophe erneut mit einem Imperativ die für den Durchbruch zum wesentlichen nötige Konzentration hergestellt werden: „Stille, stille, laß uns lauschen!“ (V. 4). Eindringlich wiederholt wird Schweigen geboten („Stille, stille“) und so das Ambiente gewährleistet, das dem „Anspruch einer direkten Empfänglichkeit“ (von Bormann26) gerecht zu werden vermag. In der zweiten Strophe erfolgt der Übergang von ahnender Sehnsucht zu unmittelbarem „Bitten“ und „Verlangen“ („Holdes Bitten, mild Verlangen“, V. 5). Die beiden zugeordneten Adjektive ergänzen beschreibend die durch die „Töne“ bewirkte produktive Einbildungskraft und anschauende Eingestimmtheit in die höhere Sphäre poetischer Realität. Darüber erhebt sich als beglückend-“süßes“ Ergebnis der inneren Bewegung, daß nun die Herzenssprache ertönen kann („Wie es süß zum Herzen spricht“, V. 6). Damit ist jener, von Tieck und Wackenroder angesprochene Zustand erreicht, von dem sie sagten: „Liebe denkt in süssen Tönen, / Denn Gedanken stehn zu fern“. Im Gedicht wird das mit „Bitten“ und „Verlangen“ angedeutet. Beide symbolisieren, wie Bettina von Arnim, die Schwester Brentanos formulierte, „das Hervortreten des inneren Menschen ans Licht“ 27. Auf dieser Grundlage können Sprecher 72  

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und Angesprochene jetzt „in süssen Tönen“ denken und darum den Bereich der Liebe betreten. Die „süssen Töne“ entsprechen den „Tönen“ der „Flöte“ in schönster Harmonie. Friedrich Schlegel hat dafür im Roman-Fragment „Lucinde“ die einleuchtende Formulierung der „Metamorphosen des liebenden Gemüts“ gefunden28. Was „süß zum Herzen spricht“, wird nun zum tragenden Element („spricht“, V. 6 und 8). Das Ausrufezeichen am Ende des sechsten Verses markiert einen Einschnitt, der unbedingt zur Versgestaltung des Textes gehört. Es bedarf dieses Innehaltens vor dem Übergang zu den beiden abschließenden Verszeilen. Der siebte und der achte Vers bilden, als Paar zusammengeschlossen, den krönenden Abschluß der lyrischen Konstruktion. In diesem Augenblick realisiert der Sprecher, der nun wenigstens am Ende des Gedichts deutlich in Erscheinung tritt („mich“, V. 7; „mir“, V. 8), welche Möglichkeiten sich ihm eröffnen: „Durch die Nacht, die mich umfangen, / Spricht zu mir der Töne Licht“. Das zu ihm sprechende „Licht“ verändert die ihn umfangende „Nacht“. Die äußere Welt tritt für ihn völlig zurück. Mit „der Töne Licht“ überkommt ihn die unendliche Kraft der Liebe. Aus den „golden niederschwebenden Tönen“ der ersten Strophe wird nun das durch die Töne übertragene „Licht“. Der Gleichklang von „spricht“ und „Licht“ im selben Vers macht im Verein mit dem einzigen stumpf gekreuzten Reim (V. 6 und 8) die Aussage einprägsamer. Zudem thematisch gestützt von der Abfolge „Flöte“ (V. 1) – „Töne“ (V. 3) – „der Töne Licht“ (V. 8), kommt dieser erfüllte Lebens- und Liebesmoment zu voller Entfaltung. Er kann auch in uns nachklingen. Ohne weiteres kann man mit Schöne die „blühenden Synästhesien“ des Textes rühmen oder wie Hoffmann und Jaeger von „einem der vollkommensten Klanggebilde“ und einem „Kleinod klanglicher Stimmungsmalerei“ sprechen29, entscheidend bleibt indes die poetisch-symbolische Gestaltung einer Stimmung unendlicher Harmonie. Die nachhaltige Wirkung des Gedichts ist leicht zu erklären, weil hier die „,innere‘ Sprache Wirklichkeit geworden“ (Enzensberger30) ist. Auch drei Komponisten haben dieser erfüllten lyrischen Erfahrung nachgespürt. Naturgemäß haben sie dabei verschiedene Ausdruckswege gewählt. Johannes Brahms machte 1859 daraus einen Gesang für sechsstimmigen Chor a capella (op. 42, Nr. 1)31. Paul Hindemith, zu jenem Zeitpunkt als ‚entarteter Musiker‘ verschrien, komponierte 1941 ein ganz nach innen gekehrtes Lied. 1995 hat der Flötist und Komponist Hans-Martin Linde, wohl in Erinnerung an das Singspielduett, den Text zu einem intimen musikalischen Zwiegespräch zwischen einer Singstimme und einer Flöte ausgearbeitet. Derlei entspricht der synästhetischen Grundstruktur des Gedichts. Doch vermag die Wortmusik Brentanos ohne Vertonung noch direkter zu uns zu sprechen. Denken wir dabei an seine Worte im Brief an den Freund von Arnim, der Weihnachten 1802, also genau zur Zeit der Arbeit am Singspiel geschrieben wurde: „zu dichten „Abendständchen“  

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bin ich gezwungen, damit ich nicht das Leben in seiner schlechtesten Gestalt sehe“ 32. Darum brauchen auch wir in unserem Alltag „der Töne Licht“.

Anmerkungen 11 In Bonn und Halle war Brentano 1793/94 als Student der Bergwissenschaft eingeschrieben, in Jena von 1798 bis 1800 ‚studierte‘ er Medizin, in Göttingen 1801 Philosophie. 12 Der häufig von Brentano gebrauchte Begriff taucht vor allem im Briefwechsel mit seiner späteren Frau, Sophie Mereau, mehrfach auf. 13 Brentano an Friedrich Carl von Savigny am 1.12.1802. Zit. n.: Brentano, Clemens: Werke in vier Bänden. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp. München 1968, Bd. 1, S. 1063 (Sigle: W). 14 S. hierzu: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman, 32. Kapitel (W II, S. 336–400). 15 W I, S. 1063. 16 Der Komponist Peter Ritter war mittlerweile in Mannheim als Orchesterchef tätig. 17 Enzensberger, Hans Magnus: Nachwort. In: drs. (Hrsg.): Clemens Brentano. Gedichte, Erzählungen und Briefe (= Fischer-Bücherei 231). Frankfurt/M. 1958, S. 195–204; Zitat: S. 201 (Sigle: CB). 18 W I, S. 1063. 19 W I, S.144 f. und W IV,286 sowie Brentano, Clemens: Werke und Briefe. Hrsg. v. Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald, Detlev Lüders (Sigle: HKA), Bd. 12: Dramen I. Stuttgart 1982, S. 819. 10 Der Titel „Abendständchen“ bezieht sich auf die Ausgangssituation mit den „lustigen Musikanten“. 11 Schöne, Albrecht: Clemens Brentano: Abendständchen. In: Deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen von der Spätromantik bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1964, S. 11–18; Zitat: S. 13 und 14 (Sigle: Schöne). 12 CB, S. 20 f. 13 Nur die Verse 6 und 8 enden stumpf („spricht“ – „Licht“). 14 Die erste Strophe besteht aus 21, die zweite aus 22 Worten. 15 Godwi, 2. Teil, 5.–9. Kapitel (W II, S. 118). 16 Enzensberger, Hans Magnus: Brentanos Poetik. München 1961, S: 118 (Sigle: Enzensberger); Frühwald, Wolfgang: Die artistische Konstruktion des Volkstones. Zu Clemens Brentanos ‚Der Spinnerin Nachtlied‘. In: Gedichte und Interpretationen 3: Klassik und Romantik. Hrsg. v. Wulf Segebrecht (= RUB 7892). Stuttgart 1984, S. 269–279. 17 Alewyn, Richard: Clemens Brentano: ‚Der Spinnerin Lied‘. In: Interpretationen 1: Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn. Hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt/M. 1965, S. 155–158 (Zitat: S. 155). 18 Kemp, Friedhelm: Nachwort: W I, S. 1305.

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19 Es handelt sich um das 1816 erstmals gedruckte, aber bis ins Jahr 1799 zurückreichende Gedicht „Glosse“. (Tieck, Ludwig: Gedichte in drei Teilen; Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1821/23. Hrsg. v. Gerhard Kluge. Heidelberg 1967, S. 33). Zu Wackenroder: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Kurt Grützmacher und Sybille Claus. Reinbek bei Hamburg 1968, S. 190. Bezeichnenderweise haben August Wilhelm Schlegel und Tiecks Schwester, Sophie Bernhardi-Tieck, Variationen zum ‚Glossen‘-Thema vorgelegt. 20 Schöne, S. 14. 21 Killy, Walther: Wandlungen des lyrischen Bildes (1956). 8.A. Göttingen 1998, S. 66 (Sigle: Killy). 22 Paul, Jean: Werke. Hrsg. v. Norbert Miller. Bd. 5 München 1963, S. 468 (Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule) und S. 447 (III. Kantate-Vorlesung: Über die poetische Poesie). 23 Killy, S. 63. 24 Ähnlich formuliert Eichendorff im Gedicht „Der Sänger“: „Wo kühl im stillen Grund / Die Wasserkünste rauschen“ (Eichendorff, Joseph von: Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Hermann Kunisch und Helmut Koopmann, Bd. I/1: Gedichte. Hrsg. v. Harry Fröhlich und Ursula Regener. Stuttgart 1993, S. 320 f.). 25 Schöne, S. 16. 26 Bormann, Alexander von: ‚Der Töne Licht‘. Zum frühromantischen Programm der Wortmusik. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hrsg. v. Ernst Behler und Jochen Hörrisch. Paderborn, München 1987, S. 191–207; Zitat: S. 194. 27 Kluckhohn, Paul: Das Ideengut der deutschen Romantik. 2.A. Halle 1942, S. 152. 28 Schlegel, Friedrich: Dichtungen. Hrsg. v. Hans Eichner. Bd. 5. München 1962, S. 59. 29 Schöne, S. 18; Hoffmann, Werner: Clemens Brentano. Leben und Werk. Bern, München 1966, S. 139 sowie Jaeger, Hans: Clemens Brentanos Frühlyrik. Chronologie und Entwicklung. Darmstadt 1968, S. 170. 30 Enzensberger, S. 13. 31 Zum Zusammenhang von Gedicht und Brahmsscher Vertonung: Werner, Philipp: Hör’, es klagt die Flöte wieder. In: Lieb und Leid im leichten Leben. Clemens Brentano. 30 Gedichte – 30 Interpretationen. Hrag. v. Sabine Gruber und Christina Sauer. Berlin 2006, S. 51–55. 32 Brentano an Achim von Arnim am 24./25.12.1802. HKA, Bd. 29: Briefe: 1792–1802, S. 558.

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„Hälfte des Lebens“ (1803)

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erglichen mit den großen Gesängen Hölderlins (1770–1843) wirkt das Gedicht „Hälfte des Lebens“ mit seinen beiden Kurzstrophen fast unscheinbar. Dennoch sind gerade diese wenigen Verse zum Inbegriff seiner dichterischen Arbeit geworden, so daß beispielsweise ein Film über Hölderlins Lebenshöhepunkt mit der Liebe zu Susette Gontard, seiner Diotima, wie selbstverständlich den Titel „Hälfte des Lebens“ bekommen konnte1. Es ist keine Übertreibung, wenn gesagt wurde: „Hölderlins ‚Hälfte des Lebens‘ gehört zu den berühmtesten Gedichten der deutschen Literatur“ 2. Der Text hat eine aufschlußreich komplizierte Entstehungsgeschichte. Denn er ist erwachsen aus der um die Jahrhundertwende 1799/1800 angefangenen Arbeit Hölderlins an der dann unvollendet gebliebenen Hymne „Wie wenn am Feiertage …“. Das war der groß angelegte Versuch des Dichters, den hohen künstlerischen Auftrag „in dürftiger Zeit“ 3 zu thematisieren. Er folgte dabei ganz dem Sinn der zentralen Verse: „Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, / Still endend in der Seele des Dichters“ 4. Aber leider wurde die Arbeit am großen Gedicht schließlich resigniert abgebrochen. Welche Richtung die mit einem vielsagenden Klageruf begonnene, aber nicht ausgeführte zweite, düstere Hälfte der Hymne genommen hätte, läßt einen das 1803 verfaßte kurze Gedicht „Hälfte des Lebens“ einigermaßen ahnen. Dieser Text wurde vom Autor im Dezember 1803 für den Druck durchgesehen und erschien dann Ende 1804 als einer der neun „Nachtgesänge“ im ‚Taschenbuch für das Jahr 1805‘5. Hier die Version der Druckfassung: Hälfte des Lebens

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Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser.

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Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo 10 Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. 6 Man darf sich durch die vordergründige Einfachheit der Verse nicht täuschen lassen. Die sie prägende Bildwelt ist ungemein vielschichtig durchgestaltet, so daß die hintergründig angereicherte Textur sich nur allmählich erschließen läßt. Im Manuskript des Fragments „Wie wenn am Feiertage …“ finden sich die stichwortartigen Ansätze zu unserem Gedicht. Sie resultieren, wie Friedrich Beißner, der Herausgeber der ‚Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe‘ bemerkte, aus „dem zufälligen Nebeneinander verschiedener Entwürfe“ 7. Das Endergebnis von Hölderlins simultaner Arbeitsweise ist, wie es in den Erläuterungen zur ‚Frankfurter Ausgabe‘ zutreffend heißt, „eine collage von 11 zu verschiedener zeit, in unterschiedlichem zusammenhang entstandenen textpartikeln“ 8. Dietrich Uffhausen hat den komplizierten genetischen Ablauf, einleuchtend verkürzend, folgendermaßen wiedergegeben: Die Rose

Die Schwäne



(Die Hirsche)

Die lezte Stunde

(…) und trunken von / Küssen holde Schwester! taucht ihr / das Haupt ins hei/lignüchterne kühle Gewässer. 5

Weh mir!



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Wo nehm ich, wenn es Winter ist Die Blumen, daß ich Kränze den Himmlischen winde? Dann wird es seyn, als wüßt ich nimmer von Göttlichen, Denn wenn von mir (ist) gewichen des Lebens Geist; Wenn ich den Himmlischen die Liebeszeichen Die Blumen im (nakten) kahlen Felde suche u. dich Rose … holde Schwester? nicht finde. 9

Ausschlaggebend war, wie zu sehen, in erster Linie die Übernahme zweier (von dreien) am Rand des Manuskripts flüchtig notierter Bildmotive („Die Rose“ und „Die Schwäne“), sodann die Weiterführung der Schlußwendung, mit der im Fragment der entscheidende thematische Umschlag herbeigeführt wird („Weh mir!“). „Hälfte des Lebens“  

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Schließlich wurden die breiter ausgeführten Verse, die entstehungsmäßig zwischen der Hymne und dem Gedicht „Hälfte des Lebens“ stehen, stark verkürzt aufgenommen („Wo nehm ich … nicht finde“). Die entschiedene Verknappung gegenüber dem hymnisch angelegten Entwurf ist eindeutiges Merkmal dieses „Nachtgesangs. Die Notiz am oberen Rand – „Die lezte Stunde“ – war möglicherweise der zuerst erwogene Titel. Die endgültige Überschrift „Hälfte des Lebens“ ist dagegen handschriftlich nicht überliefert. Kompositionell bestimmend war in beiden Fällen, in der Hymne wie im Gedicht, die sich von der Odenform Pindars herleitende antithetische Gegenüberstellung von Strophe und Gegenstrophe. Dem komplexen Befund der Entstehungszusammenhänge detailliert nachzugehen, ist im Rahmen dieser Interpretation leider nicht möglich. Es sei lediglich noch erwähnt, daß der kranke Hölderlin höchst wahrscheinlich im Spättext mit den Anfangsworten „In lieblicher Bläue“ 10 das Bildmotiv des Gedichtschlusses paraphrasierend übernommen hat. Wir lesen da: „In lieblicher Bläue blühet mit dem metallenen Dache der Kirchthurm. Den umschwebet Geschrey der Schwalben, den umgiebt die rührendste Bläue. Die Sonne gehet hoch darüber und färbet das Blech, im Winde aber oben stille krähet die Fahne“ 11. Das zeigt, wie tief gerade dieses beklemmende Motiv im Bewußtsein des Dichters verankert war. Was ist mit dem Titel „Hälfte des Lebens“ eigentlich gemeint? Auf Anhieb liegt es nahe, von der Lebensmitte her einen Rückblick auf die erste sowie einen Vorausblick auf die zweite „Hälfte des Lebens“ zu erwarten. Die kontrastierenden Bilder der Jahreszeiten scheinen ebenso dafür zu sprechen, zumal auch der Autor selbst in zwei Briefen an den Bruder den Begriff der „Hälfte“ in diesem Sinne gebrauchte12. Vor allem aber sind die Verse tatsächlich fast genau in der Mitte von Hölderlins Leben entstanden, so daß manche darin eine Vorahnung seines traurigen Lebensschicksals sehen wollten. Jedoch liegen im Gedicht die Dinge anders. Von Beginn an wird deutlich, daß sich im spätsommerlichen und im entgegengesetzten winterlichen Tableau ein sehr gegenwärtiger innerer Widerspruch des lyrischen Ichs widerspiegelt. Faktisch ist allein die Rede von den ambivalenten Resultaten der durchlebten ersten Lebenshälfte. Nicht etwa ein Höhepunkt wird angesprochen, sondern angesichts einer schweren Lebenskrise13 ein notwendiger Wendepunkt. Die Überschrift bezieht sich nur insoweit auf eine Art Lebensmitte, als es darum geht, klärend eine radikale Lebensbilanz zu ziehen. Darauf dringen These und Antithese des lyrischen Sprechens. Um verstehen zu können, wie es zu dieser existentiellen Krise kommen konnte, muß daran erinnert werden, daß Hölderlin – im Gegensatz zu Schiller – zu denjenigen gehörte, die hohe Erwartungen knüpften an den Friedensschluß von Lunéville im Februar 1801 zwischen Frankreich unter der napoleonischen Militärdiktatur und Österreich unter Franz II., dem letzten Kaiser im ‚Heiligen Römischen Reich 78  

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Deutscher Nation‘. Er versprach sich davon eine neue, dauerhafte Friedensordnung in Europa, wie er sie immer schon erhofft hatte. Er erwartete „eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird“ 14. Eine lyrische Variante dieser Überzeugung findet sich in der Ode „Die Liebe“. Es heißt dort zum Zielbild jener „Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten“: … eine beseeltere, Vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden Sei die Sprache des Landes, Ihre Seele der Laut des Volks! 15 Speziell zum Frieden von Lunéville äußerte Hölderlin überzeugt: „Ich glaube, es wird nun recht gut werden in der Welt. (…) alles dünkt mir seltne Tage, die Tage der schönen Menschlichkeit, die Tage sicherer, furchtloser Güte, und Gesinnungen herbeizuführen, die eben so heiter als heilig, und eben so erhaben als einfach sind“ 16. Um so größer war dann die Enttäuschung über das unvorhergesehene gründliche Ende dieses Scheinfriedens. Das bedeutete für ihn zugleich das definitive Scheitern der im „Hyperion“ vertrauensvoll geäußerten Schlußprophezeiung, daß „dichterische Tage keimen“ 17. Damit zerbrach seine große idealistische Vision eines poetischen Schreibens, so daß er in einem Brief aus Nürtingen nach der Rückkehr von Bordeaux desillusioniert schrieb: „kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen“ 18 hat. Seitdem versuchte er, „gegen die exzentrische Begeisterung“ 19 seiner pathetischen Gesänge anzuschreiben, weil ihm klar geworden war, daß zwischen der poetischen Individualität und der „betäubenden Unruhe“ 20 der gesellschaftlichen Lebensrealität ein Abgrund klafft. Mit einem Schlag mußte er in aller Schärfe seine Grenze erfahren. Deswegen ist ein großer Teil der späten Gedichte im Stadium von Bruchstücken oder in unfertigen Fassungen steckengeblieben. Der Ausdruck größter leidenschaftlicher Erregung gelang ihm jedoch im kurzen Gedicht „Hälfte des Lebens“. In gewisser Weise bedeutet der Text seinen Abschied vom Idealismus. Insofern kann man im Titel auch die schmerzliche Resignation eines in seiner Sicht kaum halb erfüllten Lebens ausmachen. Aber das ist nicht alles. Zu den zeitbezogenen Gründen kamen ganz persönliche. Hölderlin erfuhr vom Tod der geliebten Diotima im Sommer 180221. Über das Ausmaß seiner Trauer und Verzweiflung darüber kann man nur mutmaßen. Daß jedoch seine Depression sich dadurch beträchtlich verstärkte, steht außer Zweifel. Unabhängig von diesem aktuellen Entstehungsrahmen gestaltete sich Hölderlins Existenz schon längere Zeit mehr als schwierig. Der Gegensatz von poetischer Ambition und realer Wirkung war ungemein bedrückend für ihn. Die materielle „Hälfte des Lebens“  

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Abhängigkeit von der Mutter und von schlecht bezahlten, ihn quälenden Hauslehrerstellen22 sowie die unausgelebte Liebesbeziehung mit Susette Gontard trugen das ihre dazu bei. Leben, Liebe und Kunst mußten von ihm letztlich als verfehlt und gescheitert angesehen werden. In dieser Hinsicht ist eine Äußerung gegenüber der Schwester vielsagend. Er sagte da: „ich fühle mich oft, wie Eis, und fühle es nothwendig, so lange ich keine stillere Ruhestätte habe, wo alles, was mich angeht, mich (…) weniger erschütternd bewegt“ 23. Wie wenige hat Hölderlin die Entfremdungssituation des modernen Menschen an sich erfahren. Er mußte, wie ihm selbst am besten bewußt war, „im Kriege der Welt“ realisieren, daß er „zerstörbarer (war) als mancher andre“ 24. Das sind die wesentlichen Vorgaben. Im Gedicht „Hälfte des Lebens“ spricht der Dichter gleichsam vom Rand des Abgrunds her. Falsch liegen freilich diejenigen, die mit Wilhelm Dilthey meinen, in den ‚späten‘ Versen (es sind ja Verse eines 33-jährigen!) „eine eigene Mischung von krankhaften Zügen mit dem Gefühl des lyrischen Genies für einen neuen Stil“ sehen zu müssen25. Das „Gefühl des lyrischen Genies für einen neuen Stil“ ist zwar dabei durchaus richtig erkannt, keineswegs aber können hier schon „krankhafte Züge“ unterstellt werden26. Nun soll jedoch der Text selbst in möglichst genauem Nachvollzug untersucht werden. Zweimal sieben Verse in freirhythmischer Anordnung bilden die beiden Strophen des Gedichts. Die knapp gefaßten, parataktisch aneinandergefügten Verszeilen bestehen teils aus zwei, teils aus drei Hebungen27. Der komprimierte Sprachstil bringt es mit sich, daß fortgesetzt ausdrucksbestimmende Enjambements zu verzeichnen sind. Sechs der Versenden gehen einsilbig stumpf, die übrigen zweisilbig klingend aus28. Reime würden die beabsichtigte ‚harte Fügung‘ empfindlich stören. Diese bereits von Hellingrath ausgemachte Gestaltungsform in Hölderlins Spätwerk erreicht hier, ungeachtet der vordergründig einfach erscheinenden Ausdrucksweise, einen Höhepunkt. Deshalb erbringt es nicht viel, wenn einer umständlich nachweisen will, daß „der (sapphische) Adoneus“ 29 als die eigentliche „metrische Signatur des Gedichts“ anzusehen sei30. Die wahre Signatur der Verse ist eben ihr freirhythmischer Charakter. Er wird bestimmt vom Klangbild, insbesondere jedoch von der Dynamik des Enjambements und ebenso der Interpunktion, die fortlaufend fast isolierte Satzteile schafft. In den Vordergrund der Gestaltung rückt von Beginn an das den Text entscheidend prägende Bildfeld. Von der Metaphorik her lebt die antithetische Ausrichtung des Gedichts in Strophe und Gegenstrophe. In der zweiten Strophe schlagen Sprachstil, Klang und Rhythmus in eine gänzlich andere Tonart um. Die Aussage verhärtet sich zunehmend. Ohne weiteres kann man deshalb von zwei Hälften des Gedichts sprechen. Sie geben dem Ganzen seine innere Form. Strauss hat in einer einläßlichen Deutung die Vermutung angestellt, daß die erste Strophe „Anrede an die Schwäne“, die zweite 80  

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Strophe dagegen „Selbstgespräch des isolierten Ich“ sei31. Ähnlich nimmt Binder schematisierend an: „Die Sommerstrophe sagt ‚du‘, die Winterstrophe ‚ich‘“ 32. Beide übersehen dabei, wie der Autor seine lyrische Kommunikation angelegt hat. Denn der Gesamttext ist, perspektivisch betrachtet, durchgehend „Selbstgespräch des isolierten Ich“. Hingegen bildet die „Anrede an die Schwäne“ einen bloßen Teil dieser nach innen gerichteten Selbstverständigung. Allerdings kommt dazu die automatisch gegebene Kommunikationssituation mit dem Leser, an den dieses ‚Selbstgespräch‘ zur kognitiven Verständigung weitervermittelt wird. Die damit verbundene Wirkungsabsicht besteht darin, die Distanz zur poetischen Sprache abzubauen, den Adressaten der Verse am individuellen ‚Monolog‘ dialogisch teilhaben zu lassen. Unverkennbar steht die erste Strophe des Gedichts in engstem Zusammenhang mit dem hymnischen Sprechen Hölderlins in den großen Gesängen. Richtig sah man darin die Darstellung seines „eigentlich ‚poetischen‘ Zustands“ 33. Zwar äußert sich das lyrische Ich hier deutlich genug, bleibt aber noch sehr zurückhaltend. Erst in der zweiten Strophe erfolgt die direkte personale Zuschreibung. Die harmonischen Impressionen einer spätsommerlichen Landschaft werden durchweg mit den Augen des Sprechenden gesehen. Er greift das frühe Reifen der „gelben Birnen“ (V. 1) und das späte Blühen der „wilden Rosen“ (V. 2) heraus und umschreibt damit andeutend und weit mehr als bloß ‚schmückend‘ ein idyllisch erfülltes, farbkräftiges Naturbild der Reifezeit zwischen Sommer und Herbst34. Hinzu kommen noch die „holden Schwäne“ 35 (V. 4), so daß sich nunmehr „gelbe Birnen“, rote Rosen und weiße Schwäne mit dem grünenden Land und dem blauen See zu einer wahren Farbsymphonie verbinden. Unter dem Gewicht der Früchte „hänget“ das mit ‚des Sommers letzten Rosen‘ geschmückte „Land in den See“ (V. 1 und 3). Durch die übertreibende Stilfigur dieser Hyperbel kommt die Spiegelung der Bäume und Blumen im Wasser zum Ausdruck. So hebt der Autor einerseits auf die überwältigende Fülle der gereiften Natur ab. Andererseits deutet er damit seine Verbundenheit mit der All-Natur an, weil das in den See ‚hängende‘ Land als symbolisches Zeichen der von Hölderlin angenommenen „Fühlbarkeit des Ganzen“ 36 im Rahmen unendlicher Lebensenergie gelten kann. Es würde diese Orientierung beträchtlich verfälschen, wenn man darin bloß eine „Reformulierung der antiken Schönheitsmythe“ sehen wollte37. Daß daraus dann auch noch eine „proto-narzißtische Selbststilisierung“ Hölderlins hergeleitet wird38, verkennt in jeder Hinsicht die Intentionen des Dichters mit dem Ziel eines „lebendigen tausendfach gegliederten innigen Ganzen“ 39 in der Harmonie der Natur. Zweimal taucht in der ersten Strophe des Bindewort „und“ auf (V. 2 und 5). Beide Male stellt es wirklich eine Verbindung nicht nur zwischen den Worten her, sondern gleichfalls zwischen den Naturphänomenen, den Gefühlsäußerungen und dem sprechenden Ich. Bewußt sind die „Schwäne“ genau in der Strophenmitte pla„Hälfte des Lebens“  

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ziert. Sie sind „trunken von Küssen“ (V. 5) und teilen so der ganzen Strophe eine erotische Grundierung mit. Seit alters her ist der Schwan aber auch eine „Metapher der dichterischen Existenz“ 40. Dieser Doppelsinn wird im Text voll ausgekostet, indem zum einen die Schwäne ein demonstratives „Gleichnis der Liebenden“ 41 darstellen, zum andern hierdurch die angesprochene Verbindung von Land und Wasser an den langhalsigen Wasservögeln als einem Bindeglied zwischen beiden Sphären besonders sinnfällig zum Ausdruck kommt. Symbolisch wird außerdem der Sprecher so bereits als Dichter ausgewiesen, dessen Anrede der Schwäne somit im Grund eine Selbstverständigung ist. Sein Blick vermittelt uns „eine vom menschlichen Eingriff freie Naturszenerie“ 42. Einheit von Ich und Natur, Liebesintensität sowie die Position des Künstlers fließen in diesem vielschichtigen Bild zusammen. Weitere Vertiefung erfährt die Schwanen-Symbolik dann in den drei Schlußversen der Strophe: „Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser“ (V. 5–7). In eigenartiger Verschlingung des realen Erscheinungsbilds mit seiner Symbolik gelingt dem Autor die Darstellung harmonischer Liebesvereinigung im Sinne des erwähnten „lebendigen tausendfach gegliederten innigen Ganzen“. Um ihrer Liebes-Trunkenheit Herr zu werden, tauchen die Schwäne ihr „Haupt / Ins heilignüchterne Wasser“. Der Binnenreim („trunken“ – „tunkt“) unterstreicht klanglich die Bedeutung gerade dieses entscheidenden Augenblicks. Um der Klangwirkung willen greift der Autor also auf die altertümliche, im süddeutschen Dialekt noch gebräuchliche Verbalform (tunken = ein-tauchen) zurück. Ebenso entscheidet er sich für die gewähltere Bezeichnung ‚Haupt‘ statt ‚Kopf ‘, um so die Erhabenheit des Vorgangs angemessen zur Geltung zu bringen. Geht es doch um die notwendige Ergänzung des ‚Trunkenen‘ durch die ausgleichende Wirkung des „heilignüchternen Wassers“. Mit einem gewissen Recht bezeichnete Schmidt das Wort „heilignüchtern“ als „die auffälligste und zugleich aufschlußreichste Prägung des ganzen Gedichts“ 43. Unzweifelhaft gehört das Wort ‚heilig‘ mit den zugehörigen Komposita zu den Schlüsselbegriffen des pantheistischen Sprechens von Hölderlin44. Das reine, unbegrenzte Element des „Wassers“ ist das adäquate Medium dafür. Schon im Gedicht „Deutscher Gesang“ findet sich eine vergleichbare Wendung. Dort ist die Rede vom Dichter, der „singt, wenn er heiligen nüchternen Wassers / Genug getrunken“ 45. Genau der gleiche Punkt ist Gegenstand des Schlußverses der Strophe. Endgültig erweist sich hierdurch die Metapher der „holden Schwäne“ als Symbol der dichterischen Arbeit46. Im „Heilignüchternen“ ist die notwendige Symbiose hergestellt zwischen „trunkener“ Inspiration, kreativer Begeisterung und Spontaneität auf der einen Seite, Nüchternheit und überlegt rationaler Kontrolle auf der anderen. Ein derart „heilignüchternes“ dichterisches Sprechen war das, was Hölderlin anstrebte. Insofern trifft die Überlegung zu, die erste Strophe sei so etwas wie seine poetologische Zielbestimmung sowie ein „Reflex (seiner) idealistischen Sehnsucht“ 47. Er hat in den 82  

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ersten sieben Versen festgeschrieben, wie er sich wahre Dichtung vorstellte. Dabei wußte er zu diesem Zeitpunkt sehr wohl um die Vergeblichkeit dieser Hoffnung, wie dann die zweite Strophe zeigt. Durchaus vergleichbar klagte über ein Jahrhundert später der Dichter Bertolt Brecht aus anderen Gründen darüber, daß es ihm verwehrt wurde, „die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum“ zum Gegenstand seines Schreibens zu machen48. Hölderlin konnte wenigstens in der ersten Strophe noch einmal in depressiver Abwehr die unwiederbringlichen Bilder seiner harmonischen Idealwelt in einer lyrischen Skizze vorlegen. Sie wird freilich gleichzeitig zur schmerzlichen Erinnerung an die erwartete Epiphanie des „Heilignüchternen“ und den hymnischen Enthusiasmus seiner Einheits-Utopie49. Mit dem Klageruf „Weh mir!“ (V. 8), dazu noch in Anfangsposition besonders betont, setzt die zweite Strophe ein. Zweierlei ist damit geklärt: Durch die klagende Äußerung erfährt der Leser nicht nur, wer zu ihm spricht, sondern auch, daß dem Sprechenden ein Totalverlust droht, daß er sich also in einer existentiellen Notlage befindet, die ihn zwingt, alles bisher Gesagte zu verabschieden. Damit einher geht eine gewisse Dramatisierung des lyrischen Sprechens. Über vier Verszeilen hin wird fragend ermittelt, was ihm verloren gegangen ist: „wo nehm’ ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde?“ (V. 8–11). Weithin unverbunden stehen die Satzteile nebeneinander. Das erhöht wiederum die syntaktische Spannung. Deutlich sichtbar machen das die Zeichensetzung und die mit gleichem Anlaut versehenen, aber voneinander isolierten Wörter („Weh“, „wo“, „wenn“, „Winter“, „wo“). Die Alliteration stellt hier nicht die übliche Verbindung her. Vielmehr verweist sie auf klare Trennung. Statt der sommerlichen Fülle herrscht nun der „Winter“. Der Kontext zum tragenden Verb ‚nehmen‘ tut kund, daß sich nichts mehr festhalten oder erfassen läßt. Es gibt demzufolge auch keinen Zugriff mehr auf die Natur. In zwei Teilsätzen, die keine Antwort auf die gestellte Frage finden, muß der so wirklich „von Apollo Geschlagene“ den schmerzlichen Verlust all seiner Freuden und Hoffnungen registrieren50. Ersichtlich wird der Text zur Projektionsfläche des auktorialen Innenlebens. Nach „Birnen“ und „Rosen“ rücken nun, verallgemeinert, „die Blumen“ (V. 9) in das Blickfeld des lyrischen Ichs. Ihr Fehlen steht für das winterliche Erstarren der Natur und ihrer ‚Sprache‘ in Gestalt der „Blumen“ 51. Waren in der Elegie „Brod und Wein“ noch „Worte wie Blumen“  52 zu vermerken, herrscht hier Sprachlosigkeit und damit Disharmonie. Die im Gedicht „Diotima“ beschworenen „Blumen des Gesanges“ 53 sind in der winterlichen Kälte verwelkt und abgestorben. Das besagt im Kontext, daß ebenso die Poesie keinen Platz mehr findet. Plötzlich steht der Dichter ohne „Blumen“, will sagen sprachlos da. Die konstatierte existentielle Notlage ist demnach, auf ihn bezogen, gewiß keine Übertreibung, sondern bittere Realität. Die „Hälfte des Lebens“  

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von ihm aufgeworfene Frage reicht aber noch weiter. Im zweiten Teilsatz fragt er nach dem „Sonnenschein“ und dem zugehörigen „Schatten der Erde“. Damit sind denkbar weite Dimensionen angesprochen. Sonne und Schatten gehören zusammen, weil in dieser Spannweite die menschliche Existenz angesiedelt ist. Fehlen sie, erstarrt auch die Fülle der Spielarten des Lebens. Es herrscht Finsternis. Schöpferisches Ich und Welt verlieren dann die harmonische Beziehung zueinander, weil das erhellende Licht und der zugehörige Schatten fehlen. Nicht umsonst betonte Hölderlin in einer bruchstückhaften Notiz: „Das Sonnenlicht weckt vergangene Freuden mir auf “ 54. Ohne ‚sonnenklare‘ Erhellung gibt es darum auch „die universale Repräsentanz der spezifisch poetischen Idealverfassung“ 55 nicht mehr. Deshalb stoßen die über vier Verse hinweg verzweifelt vorgebrachten Fragen ins Leere. Das einsehen zu müssen, hat den verzweifelten Klageruf des Sprechers am Strophenbeginn ausgelöst. Er muß nun ohne „Blumen“, „Sonnenschein“ und „Schatten der Erde“ auskommen. In einem einzigen Satz faßt Hölderlin den daraus resultierenden Zusammenbruch seines idealen Erwartungsgebäudes zusammen. Mit der ausbleibenden Antwort auf die so dringlich gestellte Frage verdüstert sich der Lebenshorizont des lyrischen Sprechers. Finsternis, Herzenskälte, Sprachlosigkeit und Disharmonie bestimmen nun eindeutig seine Realität. Deswegen kann mit dem nötigen Ausgleich der Gegensätze im Leben und Schreiben nicht mehr gerechnet werden. Bei der dadurch ausgelösten Existenzkrise geht es wirklich ‚ums Ganze‘. Die Folgen dieser Einsicht kommen in den letzten drei Versen in den für die Zeitgenossen Hölderlins ungewöhnlichen und insofern verblüffenden Bildern zur Darstellung: „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen“ (V. 12–14). Anstatt der lebendigen Natur gibt es jetzt bloß noch „Mauern“, die überall trennend im Wege „stehn“. Sie symbolisieren Sprachlosigkeit und Kälte, aber mehr noch erstarrtes Leben und Sinnleere. Die einzige Bewegung, die zu vermerken ist, kommt vom heftigen Wehen des „Windes“. Das verstärkt den Eindruck bestehender Disharmonie. Um auf den erfolgten Wertverlust aufmerksam zu machen, setzt der Dichter neben die hochragenden „Mauern“ das noch mehr herausfallende Bild der klirrenden Wetterfahnen auf den Kirchtürmen. Solch metallisches „Klirren“ von oben herab erzeugt erschreckende Dissonanz. Wir müssen sie gleichzeitig als „poesiefeindliche Dissonanz“ 56 verstehen. Hölderlins Gesang kann damit nicht mehr ein „freundlich Asyl“ 57 für ihn sein. Nunmehr gilt nämlich für ihn die in der zweiten Strophe der Ersthandschrift der Ode „An die Hoffnung“ auftauchende schreckliche Formulierung der eingetretenen Selbstfremdheit: „Gesanglos ist, und öde, wie dem / Knechte, mein Leben“ 58. All dies steckt in der Bildsymbolik von den sprachlos und kalt dastehenden Mauern sowie den im Winde klirrenden Fahnen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß Hölderlin mit diesen geradezu bestürzenden poetischen Findungen einen Jahrhundertsprung vollzogen 84  

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hat, der ihn zum Partner der Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts macht. Seine Zeitgenossen wußten damit nichts anzufangen. Ein Kritiker fand die neun „Nachtgesänge“ „höchst lächerlich“, ein anderer sprach gar von „Nonsens mit Prätension gepaart“, ein dritter sah darin „nicht viel mehr als poetischen Phrasenkram“ 59. Leider konnten die Herren nichts von Hölderlins kurzer Einführung zur „Friedensfeier“ wissen. Sonst hätten sie erfahren, was zu begreifen sie nicht in der Lage waren. Mit einfachen Worten erklärt der Dichter darin, worum es ihm ging: „Ich bitte dieses Blatt nur gutmüthig zu lesen. So wird es sicher nicht unfaßlich, noch weniger anstößig seyn. Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: Ich kann nicht anders“ 60. Die schmerzlich-ironische Bekundung spricht Bände. Daß Hölderlin so geschrieben hat, wie er „nicht anders“ konnte, macht gerade die Substanz seines Dichtens aus. Er ist uns nahe, weil er die verzweiflungsvollen Abgründe der modernen Existenz als einer der ersten durchlebt und in die richtigen Worte gefaßt hat. Lange sollte man seiner Schlußmetapher nachdenken: „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen“. Denn diese „Mauern stehn“ um uns herum, und die „Fahnen klirren“ noch immer „im Winde“.

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„Hälfte des Lebens“ (1984): DEFA-Film in der Regie von Hermann Zschoche mit Ulrich Mühe in der Rolle Hölderlins. Schmidt, Jochen: ‚Sobria ebrietas‘. Hölderlins ‚Hälfte des Lebens‘. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 3: Klassik und Romantik. Hrsg. v. Wulf Segebrecht. Stuttgart 1984, S. 257–267; Zitat: S.257 (Sigle: Schmidt). Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. v. Friedrich Beißner (Werke) und Adolf Beck (Briefe und Dokumente). Stuttgart 1951 ff. (Sigle: StA). StA II.1, 94 („Brod und Wein“, V. 122). StA II.1,118 („Wie wenn am Feiertage …“: V. 43/44). ‚Taschenbuch für das Jahr 1805. Der Liebe und Freundschaft gewidmet‘, herausgegeben von Friedrich Wilmans in Frankfurt am Main. StA II.1,117. StA II.1,118–120 (Zitat: 119: V. 43/44) sowie StA II.2, 663–667 (Zitat: 663).. Vgl. hierzu auch die gründliche Beschreibung der Entstehungssituation im Rahmen von Szondis Hölderlin-Studien (Szondi, Peter: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils. In: drs.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/M. 1967, S. 33–54; vor allem: S. 49–52). Hölderlin, Friedrich: sämtliche werke. ‚Frankfurter Ausgabe‘. Hrsg. v. Dietrich. E. Sattler, Bd. 8: gesänge II. Frankfurt/M. 2000, S. 756. „Hälfte des Lebens“  

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19 Uffhausen, Dietrich (Hrsg.): Friedrich Hölderlin „Bevestigter Gesang“. Die neu zu entdeckende hymnische Spätdichtung bis 1805. Stuttgart 1989, S. 60 („Konzept und erster Entwurf im Anschluß an die Hymne ‚Wie wenn am Feiertage …‘“). Die direkten Übernahmen wurden von mir durch Fettdruck hervorgehoben (d.V.). 10 Der Dichter Wilhelm Waiblinger (1804–1830), dem Hölderlin bei einem Besuch im Turm diesen Text am 3. Juli 1822 aushändigte, nahm ihn in seinen Roman „Phaëthon“ auf. 11 StA II.1, 372 und II.2, 991 (Beißner verweist darauf, es sei „zweifelhaft ob er (Waiblinger) Hölderlins Worte buchstabengenau beschreibt“). Dazu auch: Waiblinger, Wilhelm: Werke und Briefe. Hrsg. v. Hans Königer. Bd. 2: Erzählende Prosa. Stuttgart 1981, S. 138 f. 12 Hölderlin schreibt am 11.2.1796 an den Stiefbruder Karl Gok: „Es war auch Zeit, daß ich mich wieder etwas verjüngte; ich wäre in der Hälfte meiner Tage zum alten Mann geworden“ (StA VI, 201). Vor allem aber ist die Bekundung vom Jahreswechsel 1800/1801 wichtig, „daß uns der Friede, der jezt im Werden ist, gerade das bringen wird, was er und nur er bringen konnte; denn er wird vieles bringen, was viele hoffen (…) und diß ists, was vorzüglich mit Heiterkeit mich in die zweite Hälfte meines Lebens hinaussehn läßt“ (StA VI, 407). 13 So auch schon Jochen Schmidt (Schmidt, S. 266). Menninghaus stellt in diesem Zusammenhang die abwegige Frage, ob es sich um „ein Gedicht von der ‚midlife crisis‘“ Hölderlins handelt (Menninghaus, Winfried: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik. Frankfurt/M. 2005, S. 13; Sigle: Menninghaus). 14 An Johann Gottfried Ebel am 10.1.1797 (StA VI,229). Ähnlich heißt es schon im Brief an den Bruder aus der ersten Septemberhälfte 1793: „Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage. (…) Diß ist das heilige Ziel meiner Wünsche, und meiner Tätigkeit – diß, daß ich in unserm Zeitalter die Keime weke, die in einem künftigen reifen werden“ (StA VI,92 und 93). 15 StA II.1, 20 („Die Liebe“, V.26–28). 16 An die Schwester aus Hauptwil am 23.2.1801 (StA VI,413 f.). 17 StA III,149 (Hyperion an Bellarmin). 18 An Casimir Ulrich Böhlendorf im November 1802 (STA VI,432). 19 An Friedrich Wilmans aus Nürtingen am 2.4.1804 (StA VI,439). 20 An die Schwester im Dezember.1800 (StA VI,404). 21 Susette Gontard starb am 22.6.1802 in Frankfurt. 22 Hölderlin wirkte als Hauslehrer in Waltershausen (Dezember 1793-Januar 1795), Frankfurt (Anfang 1796 bis Herbst 1798), Stuttgart (1800), Hauptwil ( Januar- April 1801) und Bordeaux ( Januar-Mai 1802). 23 An die Schwester im Dezember 1800 (StA VI,404). 24 An den Bruder am 31.12. 1798 (StA VI,302) und an Neuffer am 12.11.1798 (StA VI,290). 25 Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung (1905). 14.A. Göttingen 1965, S. 316.Noch schlimmer war die Unterstellung eines Rezensenten, vermutlich Karl Philipp Conz, der gleich nach dem Erscheinen der „Nachtgesänge“ schrieb: „Es scheinen abgerissene Laute eines gestörten einst schönen Bundes zwischen Geist und Herz. Daher auch die

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Sprache schwerfällig, dunkel, oft ganz unverständlich und der Rhythmus eben so rauh“ (StA VII.4, 23). Hölderlin legte 1804 noch seine Sophokles-Übersetzungen (Oedipus der Tyrann und Antigonae) sowie eine ganze Reihe von Gedichten vor. Zwei Hebungen haben die Verse 3–6, 10–12 und 14, drei Hebungen die Verse 1, 2, 7, 8, 9 und 13. Die Verse 3, 6, 8–10 und 12 enden stumpf, alle übrigen klingend. Gemeint ist das fünfgliedrige antike, von den Totenklagen um Adonis hergeleitete Metrum (– v v – - ). Menninghaus, S. 19. Er führt in gewisser Weise den abwegigen Ansatz Rudolf Borchardts weiter, der im Gedicht das Fragment einer alkäischen Ode sehen wollte (Menninghaus, S. 68 f.). Strauss, Ludwig: Friedrich Hölderlin: ‚Hälfte des Lebens‘. In: Interpretationen I: Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn. Hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt/M. 1965, S. 113–134, Zitate: S. 114 (Sigle: Strauss). Binder, Wolfgang: Hölderlin: ‚Der Winkel von Hardt‘, ‚Lebensalter‘, ‚Hälfte des Lebens‘. In: drs.: Hölderlin-Aufsätze. Frankfurt/M. 1970, S. 350–361 (Zitat: S.357). Schmidt, S. 261. Wenig einleuchtend ist Schmidts Annahme einer „magischen Gleichzeitigkeit“ (Schmidt, S. 258), weil im Text nicht von der Frühjahrsblüte die Rede ist, sondern vom späten Blühen wilder Rosen.. Gewiß ist das keine „diskrete Anspielung auf Hölderlins eigenen Namen“ (Menninghaus, S. 50). StA IV, 269. Vgl. hierzu: Lönker, Fred: Welt in der Welt. Eine Untersuchung zu Hölderlins ‚Verfahrensweise des poetischen Geistes‘. Göttingen 1989. Menninghaus, S. 39. Ebenso wenig überzeugend sind seine Verweise auf den NarcissusMythos und mehr noch die Mutmaßungen über „Schwanenlied“ und „Schwanengesang“ (ebd.: S. 48–62). Menninghaus, S. 52. In der Folge wird daraus bei ihm sogar „die protonarzißtische SelbstMythisierung“ (ebd.: S. 106). An den Bruder am 1.1.1799 (StA VI,306). Schmidt, S. 261. Strauss, S. 114. Grunert, Mark: Die Poesie des Übergangs. Hölderlins späte Dichtung im Horizont von Friedrich Schlegels Konzept der ‚Transzendentalpoesie‘. Tübingen 1995, S. 168. Schmidt, S. 260. Das Wörterbuch zu den Gedichten Hölderlins weist weit über 100 Belege zu ‚heilig‘ auf. Hierzu: Wörterbuch zu Friedrich Hölderlin.. I. Teil: Die Gedichte. Auf der Textgrundlage der Großen Stuttgarter Ausgabe (= Indices zur deutschen Literatur, 10/11). Bearbeitet von Heinz-Martin Dannhauer, Hans Otto Horch und Klaus Schuffels. Tübingen 1983, S. 294–299. StA II,202 (Deutscher Gesang, V. 18/19).

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46 Auf diesen Zusammenhang hat Jochen Schmidt überzeugend aufmerksam gemacht (Schmidt, S.  260–266). Ausdrücklich verweist er dabei auf die antike Tradition der ‚nüchternen Trunkenheit‘, der ‚sobria ebrietas‘. 47 Schmidt, S. 265. 48 Brecht, Bertolt: Gedichte V: Gedichte 1934–1941 (Schlechte Zeit für Lyrik, V.18). Frankfurt/M. 1964, S. 105. 49 Wackwitz spricht richtig vom „ästhetisch-mythischen Utopismus“ Hölderlins (Wackwitz, Stephan: Friedrich Hölderlin (= Sammlung Metzler 215). Stuttgart 1985, S. 118). 50 Einigermaßen irritierend erscheint deshalb die Schlußfolgerung Ernst Jandls, der kurzerhand statuiert: „Hölderlins Gedicht (ist) ein Beweis für menschliches Glück“ ( Jandl, Ernst: Beweis für menschliches Glück. In: Frankfurter Anthologie. Hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki, Bd. 14, S. 102 f. (Zitat: S. 103). Der Text spricht eine durchaus andere Sprache. 51 Das „Sprechen der Blumen“ wurde genauer untersucht von Anke Bennholdt-Thomsen (Stern und Blume. Untersuchungen zur Sprachauffassung Hölderlins.. Bonn 1967 (vor allem S. 7–68). 52 StA II.1, 93 („Brod und Wein“, V. 90). 53 StA I.1, 220 („Diotima“, Jüngere Fassung: V. 2/3 lautet: „sprossen mir / Des Gesanges Blumen wieder“). 54 Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/M. 1992, S. 426. 55 Schmidt, S. 261. 56 Schmidt, S. 264. 57 „Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! (…) wo ich (…) / In sichrer Einfalt wohne“, heißt es in der Ode „Mein Eigentum“ (StAI.1,307; V. 41–45). 58 StA II.2,521. Im „Hyperion“-Roman findet sich schon die vergleichbare Aussage: „war ich nicht wie ein zerrissen Saitenspiel? Ein wenig tönt’ es noch, aber es waren Todestöne“ (StA III, 52). 59 StA VII.4, 22. Der erste Rezensent war Garlieb Merkel (in: Der Freimüthige und Ernst und Scherz, 7.9.1804). Der zweite Kritiker ist anonym geblieben (in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 70, 1804). Im dritten Fall handelt es sich um einen gewissen Johann Friedrich Schink (Quelle in StA nicht genannt).. 60 StA III, 532.

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„Selige Sehnsucht“ (1814)

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s gilt in der Sicht vieler als ausgemacht, Goethes Leben, sein Handeln und sein Werk als Ergebnis einer durchgängig glücklichen Fügung anzusehen. Das könnte zu der Annahme verleiten, diesem ‚Liebling der Götter‘ sei alles einfach in den Schoß gefallen. Dabei wird jedoch vollkommen übersehen, daß sein Daseinsweg in erster Linie ein schwieriges, oft auch leidvoll-schmerzliches Streben und Sich-selbst-Suchen war mit dem Ziel inneren Reifens, innerer Verwandlung und Steigerung. Um so dringlicher verfolgte er den Gedanken existentieller Selbsterweiterung und der damit verbundenen Problematik des Fortlebens nach dem Tode. Wandlung und Werden der autonomen Persönlichkeit in progressiver Entwicklung wurden dadurch für ihn zur verbindlichen Richtschnur. Sein nie endender Lebensdrang mit dem Ziel der Fortexistenz auf dem Wege der Selbstverwirklichung löste in ihm die ebenso komplexe wie paradoxe Reflexion aus: „Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existiren“ 1. Damit kommt die Überzeugung zum Ausdruck, im Ende des Lebens nicht dessen Ziel zu suchen, weil geistige Leistung als „Quelle der Wiedergeburt“ 2 den Tod überdauert. Das gab Goethe die innere Gewißheit eines möglichen Weiterlebens im entgrenzenden Gestaltwandel hin zum Wesentlichen. Ausdrücklich hat er darum stets die Einheit von Ich und Kosmos unterstrichen. Allein in der Übereinstimmung von Mikro- und Makrokosmos sah er ein unentfremdetes Leben gewährleistet. Seine Lebenskunst basierte auf dieser ‚immanenten Transzendenz‘. Gerade das Wissen um den Tod verstärkte seine Lebensintensität. Grundfalsch wäre es darum, die dabei herausgeforderte autonome Eigenkraft als billiges innerweltliches Arrangement oder als simplen Lebensoptimismus abzutun. Kaum jemand hat so wie Goethe im Denken an die Zukunft die metaphysische Bewegtheit des Menschen als Aufgabe im Diesseits verankert. Konnte er doch das alles einschließende Postulat aufstellen: „Nichts vom Vergänglichen, / Wie’s auch geschah! / Uns zu verewigen / Sind wir ja da“ 3. Angewandt auf die Lebenspraxis bedeutet das, in einen bündigen Lehrsatz gefaßt: „Gedenke zu leben!“ 4. Ein Gedicht aus der Lebenshöhe Goethes bringt seine selbstgewisse lebensgesetzliche Konzeption besonders prägnant zum Ausdruck. Es findet sich im „Westöstlichen Divan“ am Ende des ersten Buches und bekam in der Endfassung den Titel „Selige Sehnsucht“ 5. Die oft interpretierten und viel zitierten Verse gehören in den „Selige Sehnsucht“  

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Zusammenhang von Goethes intensiver Beschäftigung mit der Lyrik des persischen Dichters Hafis6. Sie entstanden während der im Sommer 1814 unternommenen Reise in die heimatlichen Gefilde des Rhein-Main-Gebiets. Im Tagebuch hat der Dichter genau festgehalten, daß das Gedicht am 31.7.18147 beim Aufenthalt im ‚Weißen Adler‘ in Wiesbaden entstanden ist. Wenige Wochen zuvor hatte der Verleger Cotta seinem Autor die gerade veröffentlichte Übertragung der Gedichte des Hafis durch Josef Freiherr von Hammer-Purgstall zugeschickt, deren Thematik und Schreibweise den Beschenkten gleichermaßen faszinierten. Goethe erkannte in dem zeitfernen, ausgesprochen diesseitig orientierten Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts aus der persischen Stadt Schiras einen Geistesverwandten. Die Gründe dafür hat Karl-Otto Conrady einleuchtend zusammengefaßt, wenn er feststellt: „Da war sinnliche Genauigkeit und zartes Hinüberspielen ins Geistige, vitale Direktheit und spirituelle Transparenz auf größere Zusammenhänge hin“ 8. Im Fall des Gedichts „Selige Sehnsucht“ inspirierte den begeisterten Leser in erster Linie das „zarte Hinüberspielen ins Geistige“ sowie dann die „spirituelle Transparenz auf größere Zusammenhänge hin“. Aus dieser überwältigenden geistigen Begegnung erwuchs eine wahre lyrische Neugeburt Goethes, bei der die Erfahrung des Älterwerdens und neu gefühlte Lebenskraft ineinanderflossen. An die Stelle der griechischen Antike, welche die klassische Dichtung wesentlich mitbestimmte, trat nun der Einfluß der „Patriarchenluft“ des „reinen Ostens“ 9. Sie ermöglichte dem Dichter die symbolische Erfassung des Geheimnisses einer höheren Existenz. Hier der Wortlaut des Gedichts: Selige Sehnsucht Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend’ge will ich preisen Das nach Flammentod sich sehnet. 5

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In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Überfällt dich fremde Fühlung Wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finsterniß Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung.

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Keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, 15 Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du, Schmetterling, verbrannt. Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast 20 Auf der dunklen Erde. 10 Goethe hält sich hier an ein bewährtes, einfaches Formmuster. Das im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreitete Metrum basiert auf fest einsetzenden, trochäisch fallenden Vierhebern, die klanglich harmonisch, ‚weiblich‘ endend, zu strophisch geschlossenen Vierzeilern mit Kreuzreimbindung (abab) gefügt sind. Lediglich vier Verse weisen eine ‚männliche‘ Endung auf (V. 14, 16, 17 und 19). Außerdem weicht die Schlußstrophe mit zwei auffallenden Verkürzungen auf nur drei Hebungen (V. 18 und 20) vom metrischen Grundschema der sogenannten ‚Schenkenstrophe‘11 ab. Inhaltlich gliedert sich der Text unverkennbar in drei Teile. Nachdem einleitend in der ersten Strophe Standpunkt und Wirkungsabsicht des Autors dargelegt werden, folgt im drei Strophen umfassenden Mittelteil die konkrete Ausgestaltung der spruchhaft vermittelten Erfahrung. In der etwas abgesetzten Schlußstrophe wird dann eine generelle Auswertung vorgenommen. Von vornherein lenkt der Titel „Selige Sehnsucht“ die Aufmerksamkeit auf den gedanklichen Schwerpunkt des Gedichts: – das Verlangen nach einem höheren Leben. Es soll den Sich-Sehnenden über die Begrenzungen der „dunklen Erde“ (V. 20) erheben. Nicht zufällig gebrauchte Goethe dabei einen Zentralbegriff der zur gleichen Zeit ebenfalls nach Unendlichkeit strebenden Romantiker: – „Sehnsucht“. Anders als sie sieht er allerdings seine Zielvorstellung nicht in himmlisch-jenseitiger Erfüllung, sondern, weit direkter, in weltseliger Synthese. Gleich zu Beginn betonen die beiden Initialverse einschränkend: „Sagt es niemand, nur den Weisen, / Weil die Menge gleich verhöhnet“ (V. 1/2). Angesprochen ist also zunächst allein „die geheime Gemeinde der Verstehenden“ 12. Dahinter steckt notwendige Abgrenzung und Selbstverständigung des Dichters. Goethe verweist damit von vornherein auf die nicht jedermann zugänglichen Dimensionen seines überlegenen künstlerischen Ethos. Aufgrund der ihm eigenen tiefen Skepsis gegenüber der unberechenbaren, jederzeit beeinflußbaren Masse verwahrt Goethe sich deswegen gleich am Anfang des Gedichts vor nur zu Hohn fähigem, törichtem oder böswilligem Mißverstehen. „Selige Sehnsucht“  

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Nachdem so die nötige Positionsklärung erfolgt ist, kann im zweiten Verspaar unverzüglich das eigentliche Thema des Gedichts vorgestellt werden: „Das Lebend’ge will ich preisen, / Das nach Flammentod sich sehnet“ (V. 3/4). Der Sprecher gibt sich hierbei als direkt kommunizierender Autor und als Subjekt der Erfahrung zu erkennen. Hier greift Goethe direkt ein Motiv des Hafis auf und denkt es auf seine Weise weiter. Es handelt sich dabei um die in der altpersischen Dichtung häufig nachweisbare Vorstellung des Fortlebens im reinigenden und entsühnenden Feuertod. Dieser Schritt wurde im indisch-persischen Kulturkreis als ein individuelles Erlöschen verstanden, das es erlaubt, mit dem Göttlichen eins zu werden. Hafis setzte den Feuerkult in Beziehung zu den Leiden des Liebenden und sah im selbstvernichtenden Flammentod die Überwindung der Liebespein. Goethe, der Verfechter wissender Entsagung wollte es anders. Selbstopfer war seine Sache nicht. Vielmehr bringt sein ‚Liebesgedicht‘ den Menschen auf den Kreislauf der Natur zurück. Mit dem Verweis auf den „Flammentod“ rückt an die Stelle der zeitlich begrenzten Liebe die Einbindung des unabweisbaren Sterbens in den ewigen Zyklus der Elemente. Darauf beruht die im Text herausgestellte Möglichkeit, „das Lebend’ge“ zu „preisen, das nach Flammentod sich sehnet“. Goethe schreibt bewußt kein Todesgedicht. Eindeutig steht für ihn „das Lebend’ge“ im Vordergrund und damit die steigernd gestaltete Existenz im Diesseits. Mit der zweiten Strophe erfolgt der Übergang zu genauerer symbolischer Erfassung der „seligen Sehnsucht“. Dabei spricht Goethe im ersten Verspaar den Liebesakt an. Allerdings beschränkt er seine Beschreibung auf den typisierend bildlichen Zeichencharakter: „In der Liebesnächte Kühlung, / Die dich zeugte, wo du zeugtest“ (V. 5/6). Zwei Punkte werden als wesentlich herausgestellt: Der fünfte Vers betont die Bedeutung des Nachdenkens nach dem Liebesakt. Im sechsten Vers wird das Motiv der die Menschheitsgeschichte bestimmenden Kette des Zeugens und speziell des Nachdenkens über die im zurückliegenden Liebesaugenblick erfolgte Zeugung neuen Lebens herausgestellt. Erinnerung und Eingedenken – deswegen an dieser Stelle Vergangenheitsform – lenken die Reflexion auf das Gesetz des unendlichen Lebens. Interessanterweise erfolgt genau an dieser Stelle eine für den weiteren Ablauf des Gedichts entscheidende dialogische Ausrichtung. Fortan prägt die unmittelbare Du-Anrede das lyrische Sprechen. Das lyrische „Ich des Erfahrenden“ 13 wird zum offenen Du. Ungeachtet der Einschränkung zu Beginn des Gedichts („nur den Weisen“), ist hierdurch virtuell jedermann einbezogen. Bewußt legt Goethe es demnach mit seinem weltanschaulichen Spruchgedicht darauf an, im verallgemeinernden Dialog die Selbstverständigung des lyrischen Ich zu genereller Wegweisung auszuweiten. – In der anderen Hälfte der Strophe erfahren wir, was sich „in der Liebesnächte Kühlung“ im Innern des Nachdenkenden abspielt: „Überfällt dich fremde Fühlung, / Wenn die stille Kerze leuchtet“ (V. 7/8). Mit der „stillen Kerze“ 92  

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verdeutlicht Goethe die kontemplative Atmosphäre des Raumes. Das zugleich ebenfalls vermerkte Leuchten ist entschieden mehr als bloßer „Kerzenschein in einer Kammer“ 14. Die leuchtende „Kerze“ symbolisiert eine geistige Bewegung, welche die gewohnten Grenzen durchbricht. Sie er-leuchtet. Ebenso läßt das Bild der herunterbrennenden „Kerze“ aber auch an das drohende Erlöschen des Lebens denken. Deswegen überkommt den lyrischen Sprecher überfallartig („überfällt dich“) eine ihm zuvor unbekannte „fremde Fühlung“. Sie reißt den Liebenden aus dem gerade beglückend ausgelebten Lebensalltag heraus. Die dritte Strophe erweist sich als Dreh- und Angelpunkt der lyrischen Konstruktion. Das überwältigend erfahrene Leuchten der „stillen Kerze“ hat einen existentiellen Umschlag zur Folge, der den nun höher Fühlenden innerlich freisetzt: „Nicht mehr bleibest du umfangen / In der Finsterniß Beschattung“ (V. 9/10). Durch den Zeilensprung gibt der zurückblickende Autor dem lähmenden „Umfangen“Sein „in der Finsterniß“ besonderes Gewicht. Das Enjambement markiert in gewisser Weise den Zeitpunkt, zu dem der hier Sprechende die Möglichkeit erkennt, nicht mehr „in der Finsterniß Beschattung“ verhaftet zu sein. Durch die „fremde Fühlung“ wird also das Bedürfnis nach Erhellung geweckt. Im Grunde lebt das Gedicht insgesamt von der Polarität zwischen Finsternis und Licht. Der alles verändernde Umschlag wird, wie das folgende Verspaar noch deutlicher zeigt, zur existentiellen Wende: „Und dich reißet neu Verlangen / Auf zu höherer Begattung“ (V. 11/12). Nicht mehr die terrestrisch-geschlechtliche Liebesvereinigung steht danach zur Frage, sondern die mögliche Erhebung zu „höherer Begattung“. Das mittlerweile kaum mehr gebrauchte Wort für die zeugende Paarung hebt die denkbar enge Verbindung von individuellem Leben und geistigem Auftrag hervor. Die Sehnsucht „nach Flammentod“ (V. 4) eröffnet dem Liebenden den ideellen Horizont des unendlichen Lebenskreises jenseits der Todesgrenze. Mit der „höheren Begattung“ hat Goethe ein Bild gefunden für die ersehnte definitive Selbstfindung in der All-Liebe. Was hinter dieser noch fremd erscheinenden und schwer zu fassenden Vorstellung eines begriffenen Lebensendes steckt, wird in der Folge dargelegt. Unstrittig zählte Goethe hierbei zu denen, die es angesichts des Todes „ins Leben zurückdrängt“, weil sie das, was sie tun, auch zu tun lieben. Aus dem Zusammenspiel von Liebe und Tod, Körper und Geist leitet er ab, daß es eine diesseitige ‚Auferstehung‘ zu leisten gilt, die zu überzeugendem Handeln befähigt und so „sich Leben im Leben vollenden“ kann. Emil Staiger hat diese Haltung zutreffend als die des „Entsagenden“, bezeichnet, „den das Schicksal nicht erreicht“ 15. Was heißen soll: Dem das Schicksal nichts anhaben kann. Die inhaltlich sich direkt anschließende vierte Strophe rundet den Mittelteil ab. Ihre vier Verse gehören syntaktisch eng zusammen: „Keine Ferne macht dich schwierig, / Kommst geflogen und gebannt, Und zuletzt, des Lichts begierig, / Bist „Selige Sehnsucht“  

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du, Schmetterling, verbrannt“ (V. 13–16). In Weiterführung der Selbstansprache wird der Vergleich mit dem heftig bewegten Schmetterlingsflug dem Dichter zum Zeichen jener unbändigen, sehnsüchtigen Lebensglut, ohne die eine „höhere Begattung“ nicht denkbar ist. Grenzen sind dabei keine gesetzt. Daß jede „Ferne“ bewältigt werden kann, bezeugt gerade das unendliche, fast ist man geneigt zu sagen faustische Ausgreifen des intensiv Lebenden. Der einleitende Teilsatz – „Keine Ferne macht dich schwierig“ – erscheint etwas verklausuliert. Es liegt meines Erachtens nahe, an semantische Referenzen wie ‚ist dir zu schwierig‘, ‚schreckt dich‘ oder ‚kann dich abhalten‘ zu denken. Komplizierter ist die funktionale Bedeutung des Personalpronomens, weil hierbei ein gewisser Kontinuitätsbruch zu vermerken ist. Durch den Direktvergleich mit dem Schmetterling entspricht das angesprochene Du nicht mehr allein dem lyrischen Ich oder dem jederzeit zu substituierenden Leser-Ich. In einer Art semantischer Rochade bezieht die Du-Anrede das Vergleichsobjekt, den Schmetterling, ein. Außer dem Du des lyrischen Sprechers, das in intensiver Selbstansprache dem Text seinen Sinn gibt, sowie dem dialogisch einbezogenen Adressaten des Gedichts, gilt die symbolische Anrede demnach nun ganz unmittelbar auch dem Falter. Erst dessen Verbrennungstod beendet dann wieder die vorübergehend sich kompliziert überlagernde Doppelfunktion des Personalpronomens. In einer knappen, narrativen Einfügung – „Kommst geflogen und gebannt, / Und …“ – vermittelt der Text sodann die unaufhaltsame Energie des einem Höhenflug zu vergleichenden Lebensdrangs, der seinem Gipfelpunkt zustrebt. Das tief empfundene „Verlangen“ nach „höherer Begattung“ (V. 11/12) im „Licht“ (V. 15) gibt dem Flug die unbedingte Aufwärtsrichtung. Mit dem Partizip „gebannt“ (V. 14), zusätzlich herausgehoben durch die männlich-,harte‘ Reimbindung mit „verbrannt“, kommt zum Ausdruck, wie sehr der Schmetterling von der magischen Gewalt jenes „Verlangens“ in Bann geschlagen wird. Der doppelte Gebrauch der Konjunktion „und“ schließlich untermalt diesen vergegenwärtigend mitgeteilten Vorgang im Sinne eines unmittelbaren Berichts. Dabei erfahren wir den eigentlichen Grund für den Höhenflug. Lichtbegier ist die wahre Triebfeder der „Seligen Sehnsucht“. Einigermaßen verwirrend wirkt der die Strophe prägende Vergleich mit dem Schmetterling. Dessen Lichtflug bedeutet ja zugleich sein Ende („Bist du, Schmetterling, verbrannt“). Zunächst könnte man meinen, Goethe propagiere mit der Metapher des verbrannten Schmetterlings eine Getriebenheit, die keine Wahl mehr läßt. Ein derartiger Flug in den Tod wäre in der Tat „Selbstopfer“, wie der Titel des Gedichts zunächst lautete. Mit der Änderung der Überschrift setzte der Autor jedoch andere Akzente. Nachdem er auch das entgegengesetzte Extrem der „Vollendung“ verworfen hatte, wählte er am Ende „Selige Sehnsucht“ und entschied sich damit gegen den Tod und für die Totalität des lebendigen Individuums. Anzuneh94  

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men, die geweckte Lichtbegier münde im Verderben, würde den Sinngehalt des Gedichts vollkommen auf den Kopf stellen. Der Feuertod des Falters symbolisiert demzufolge im Kontext den wesentlichen Moment eines sich erfüllenden Lebens. Zurecht spricht Adolf Muschg von einer „Weiterschöpfung“ 16. Übertragen auf denjenigen, der „das Lebend’ge preisen“ will (V. 3), kann das nur heißen, daß sich ihm der Horizont zu „höherer Begattung“ (V. 12) nun öffnet. Er kann in einen neuen, innerlich angenommenen Lebenskreis eintreten. Falsch wäre es also, von einer Identität zwischen Sprecher und Schmetterling auszugehen17. Der Vergleich fungiert lediglich als anschauliche Sinnfigur für die ausschlaggebende Erkenntnis neu gewonnener Lebensorientierung im „Licht“ eines Vorscheins der Unsterblichkeit. Im Gegensatz zur altpersischen Dichtung treibt nicht die Anziehungskraft des Todes den Dichter Goethe um, sondern – gerade angesichts des unumgänglichen Endes – die immer weiter zu steigernde Qualität des „Lebend’gen“. Darauf aufbauend, kann dann derjenige, der dazu in der Lage ist, den Gegensatz von „stirb und werde“ in sich ausgleichen und wieder in die Lebensfülle eintauchen. Daß dies gerade im Wissen um das leibliche Sterben-Müssen geschieht, bleibt allerdings entscheidend. Todesbewußt und dadurch gestärkt, kehrt derjenige, der den Vergleich mit dem Flug des Schmetterlings wirklich begriffen hat, ins Leben zurück. Die das Gedicht abschließende fünfte Strophe ist vom vorausgehenden Text metrisch zweifach abgehoben. Zum einen sind die Verse 18 und 20 auf drei Takteinheiten verkürzt, zum andern die Verse 17 und 19 um eine Silbe reduziert (wie schon in der vierten Strophe die Verse 14 und 16). Beides verändert das Klangbild erheblich. Deshalb wirken vor allem die letzten vier Verse konzentrierter und lakonisch härter. Der Ausdrucksgestus erscheint in der Art eines Denkspruchs pointiert. Sinnvollerweise geht das perspektivisch einher mit der Rückkehr zum Selbstdialog und zur Anrede des Adressaten. – Betont unterscheidet der Strophentext zwischen einer qualitativ unzureichenden und einer erfüllten Lebensform. Nachdrücklich bewirkt gleich zu Anfang die Konjunktion „so lang“, daß hier, noch dazu mit einem negativ steigernden Satzglied, eine ausschließende Einschränkung gemacht wird: „Und so lang du das nicht hast“ (V. 17). Was dergestalt mit konditionaler Bedeutung verneint wird, lenkt das Interesse auf den direkt angeschlossenen positiven Gegensatz: „Dieses: Stirb und werde!“ (V. 18). Mit dem Demonstrativpronomen („dieses“) hebt der Autor die zentrale Lebensmaxime „stirb und werde!“ appellartig heraus. Der Imperativ dieser Sentenz befördert die Einsicht, daß nur ein „zwischen beiden Welten“ angesiedeltes Handeln jenen vertiefenden „Vollgewinn“ 18 des Lebens ermöglicht, der den Menschen instand setzt, sich über das Alltäglich-Gewöhnliche zu erheben und über sein physisches Ende hinauszudenken. „Werde“ ist als Forderung zu verstehen, um eine geistige Existenz bemüht zu sein. Damit lenkt Goethe die Aufmerk„Selige Sehnsucht“  

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samkeit auf die alles entscheidende Abgrenzung zwischen einer defizitären Existenz und einem „real geläuterten“ Leben19. Im Folgesatz wird die ungenügende Lebenssituation metaphorisch kontrastierend mit einer eindringlichen Warnung versehen: „Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde“ (V. 19/20). Ein zweites Mal gebraucht der Autor die direkte Anrede („bist du“). Er will unmißverständlich klar machen, daß derjenige, der den sinnbildlichen Ausdruck des Geistigen verkennt, auch auf Erden nicht wirklich beheimatet sein kann. Vielmehr sieht er ihn als einen, der – ganz im biblischen Sinne (Psalm 119,19: „Ich bin ein Gast auf Erden“), aber noch negativ verstärkt – als „ein (nur) trüber Gast“ durchs Leben geht. Logischerweise nimmt hier dann auch die von Goethe sonst zeitlebens als „herrlich leuchtend“ gefeierte Natur20 den düsteren Charakter einer „dunklen Erde“ an. Auf diesem Wege soll das Gedicht die Menschen dazu auffordern, ihrer Existenz einen tieferen Sinn zu geben, dem unvermeidlichen Sterben den festen Willen eines qualitativ gewandelten Werdens entgegenzusetzen. Soweit die ‚west-östlich‘ geprägten Verse. Wie man sieht, erbrachte die geistige Begegnung mit dem fremden östlichen Dichter und seiner ganz anderen Kultur für Goethe einen wesentlichen Bewußtseinsschritt. Er sah sich nunmehr neu angeregt und bestätigt, die schöpferische Kraft der Liebe zur schöpferischen Kraft des fortdauernden Lebensanspruchs auszuweiten. Die Verwirklichung dieses Ziels setzt freilich die Fähigkeit zur Entsagung voraus. „Entsagung als Lebensformung“ stellte für Georg Simmel, den leider in der Goethe-Forschung zu wenig beachteten Geschichtsphilosophen, den „geistigen Sinn der Goetheschen Existenz überhaupt“ dar. Einleuchtend beschrieb er diese Art der Entsagung als „ein Von-sich-Absehen, (…) mit dem er (Goethe) sein eigenes Objektsein gewann“ 21. Ein derartiges, ganz aus dem eigenen Innern heraus erzeugtes „Objektsein“ sieht die angestrebte „Vollendung“ im Einvernehmen mit der Ordnung des natürlichen Kosmos. Voraussetzung dafür ist eine ständig erweiterte Welterkenntnis. Wenn sie gelingt, „stirbt“ das statisch in sich selbst verbleibende Ich und kann, dynamisch-“werdend“, im unendlichen Strom der Geschichte aufgehen. Das ist jedenfalls qualitativ weit mehr als das bloße Leben unserer biologisch bedingten Erlebniswelt. Schlüssel für ein höheres Leben war für Goethe allemal das Gleichnishafte der Natur und des Universums.

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Anmerkungen 11 WA I.42.2,150 (‚Maximen und Reflexionen‘ ). 12 Muschg, Adolf: Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter (= es 1287). Frankfurt/M. 1986, S.30 (Sigle: Muschg). 13 WA I.3.2,235 („Zahme Xenien“). 14 „Maximen und Reflexionen“ (MuR 1405). 15 Zunächst notierte Goethe zum Gedicht nur den Verweis auf die anregende Quelle: „Buch Sad,, Ghasel I“. Im überlieferten Manuskript hatte der Text die Überschrift „Selbstopfer“. Der Erstdruck im ‚Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817‘ firmierte dann unter dem Titel „Vollendung“. Die Endfassung im Rahmen der Erstveröffentlichung des „West-östlichen Divan“, Goethes letzter großer Gedichtsammlung (1819), bekam schließlich die Zuschreibung „Selige Sehnsucht“. 16 Hafis, Beiname des persischen Dichters Schems ed-Din Mohammed (ca. 1320 -.1389). 17 Unter dem gleichen Datum findet sich die erste Erwähnung des Titels der Sammlung: „Divan geordnet“ (WA III.5,121). 18 Conrady, Karl-Otto: Goethe. Leben und Werk (= fischer taschenbuch 5671). Frankfurt/M. 1988, II, S. 390. 19 Im Gedicht „Hegire“ schreibt Goethe programmatisch: „Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten“ (WA I.6,5). 10 WA I.6,28. 11 Im „West-östlichen Diwan“ gibt es die durchweg weiblich endende ‚Schenkenstrophe‘, die in den Kadenzen wechselnde ‚Suleikastrophe‘ und einige Zwischenformen. Vgl. hierzu: Frank, Horst Joachim: Handbuch der deutschen Strophenformen.. München 1980, S.199. 12 Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Die Entwicklung des Goetheschen Naturdenkens im Spiegel seiner Lyrik – am Beispiel der Gedichte „Mailied‘ – „Selige Sehnsucht“- „Eins und Alles“. In: Goethe-Jahrbuch, 99/1982, S. 11–31; Zitat: S.20; (Sigle: Hölscher-Lohmeyer). 13 Hölscher-Lohmeyer, S.20. 14 Staiger, Emil: Goethe. 3 Bde. Zürich 1952–59, Bd. III, S. 36 (Sigle: Staiger). 15 Staiger, S. 37. 16 Muschg, S. 101. In die gleiche Richtung geht die Annahme Staigers, der eine „Auferstehung, die (…) diesseitig ist“, ins Feld führt (Staiger, S. 36). 17 Hölscher-Lohmeyer versteht den Schmetterling als „Selbstapostrophierung“ (HölscherLohmeyer, S. 23). 18 Dies der Titel eines 1820 erstmals gedruckten Gedichts (WA I.3,45). Dort lautet V. 9: „Meines Werthes Vollgewinn“. Die Überschrift „Zwischen beiden Welten“ deckt sich mit der brieflichen Aussage: „Liebe, Neigung, zwischen zwey Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend“. Goethe an Zelter am 11.5.1820 (WA IV.33,27). 19 S. Anm. 18. Zum gleichen Zusammenhang gehört die erhellende Feststellung von Thomas Althaus: „In ‚Selige Sehnsucht‘ ist das ‚werde‘ über das ‚Stirb‘ hinaus Hinweis auf eine zweite geistige Existenz“ (Althaus, Thomas: ‚Stirb und werde‘. Die Dreißiger Jahre zitieren Goethes ‚Selige Sehnsucht‘. In: Arntzen, Helmut (Hrsg.): Ursprung der Gegenwart. Zur „Selige Sehnsucht“  

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Bewußtseinsgeschichte der Dreißiger Jahre in Deutschland. Weinheim 1995, S. 285–363; Zitat: S. 297). S. ebenso: Hilgers, Klaudia: Entelechie, Monade und Metamorphose. Formen der Vervollkommnung im Werk Goethes. München 2002. 20 Schon im 1771 entstandenen Gedicht „Maifest“ finden sich die Verse: „Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur!“ (WA I.1,72; und noch in „Wilhelm Tischbeins Idyllen“ von 1821 heißt es: „Der Natur ist’s wohl gerathen“ (WA I.3,123). 21 Simmel, Georg: Goethe. Leipzig 1913, S. 180 und Vorwort, S.V.

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„Ginkgo biloba“ (1815)

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ir müssen uns in das Jahr 1814 zurückversetzen. Damals gab es große Bewegungen auf der politischen Bühne Europas. Am 31. März marschierten die alliierten Truppen Englands, Rußlands, Österreichs und Preußens in Paris ein. Mit dem sogenannten ,Ersten Friedensschluß von Paris‘ wurde der langjährige Kriegszustand beendet. Napoleon mußte als Kaiser abdanken und ins Exil nach Elba gehen. Die provisorische Regierung ernannte den Bruder des 1793 hingerichteten Königs Ludwig XVI. als Ludwig XVIII. zum König Frankreichs. Allerdings kehrte der abgesetzte Kaiser im März 1815 noch einmal für hundert Tage zurück, um seine Gegner abermals herauszufordern. Erst mit der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815 war die napoleonische Herrschaft endgültig beseitigt. Der besiegte Korse wurde nach Sankt Helena verbannt, Ludwig XVIII. kehrte nach Paris zurück. Mit dem seit September 1814 tagenden Wiener Kongreß versuchten die Siegermächte die ‚Restauration‘ der vorrevolutionären Ordnung. Vor diesem historischen Hintergrund ist eine wichtige Phase im Leben und in der Arbeit Goethes zu situieren, denn in jener Zeit wurde der Grund gelegt für seine letzte große Gedichtsammlung, den „West-östlichen Divan“. Ein charakteristisches Beispiel daraus, das Gedicht „Ginkgo biloba“, soll uns in der Folge beschäftigen. Mit dem – vorläufigen – Friedensschluß erwachte Goethes alte Reiselust. Rückblickend notierte er in den „Tag- und Jahresheften“: „Indessen schien der politische Himmel sich nach und nach aufzuklären, der Wunsch in die freie Welt, besonders aber in’s freie Geburtsland, zu dem ich wieder Lust und Antheil fassen konnte, drängte mich zu einer Reise“ 1. Am 25. Juli 1814 machte er sich von Weimar auf zur Kur nach Wiesbaden. Bis zum Herbst blieb der damals 65-jährige im Rheingau2. Es war die erste Rückkehr in die Landschaft seiner Kindheit und Jugend nach siebzehn Jahren. Offensichtlich genoß der Heimkehrende die ihm wohlvertraute Gegend. Noch in der Erinnerung betonte er, ihm sei bei diesem Aufenthalt „ein neues Licht fröhlicher Wirksamkeit aufgegangen“ 3. Äußere Ursache dafür war ein Geschenk des Verlegers Cotta. Der übersandte seinem Autor Goethe die im Frühjahr 1813 erschienene Übersetzung der gesammelten Gedichte des persischen Dichters Hafis4 (1320–1390). Der so Beschenkte ließ es nicht bei einfacher Lektüre bewenden. Er sah in den Versen des Vorläufers eine produktive Herausforderung und begann eine in den nächsten Jahren fortgesetzt weitergeführte Sammlung von Gedichten „Ginkgo biloba“  

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im Geiste des „Divan“-Vorbilds5. Die kontinuierliche Erfahrung kreativer Reflexion und deren Anwendung auf das eigene Schreiben stellt den künstlerischen Ertrag jener glückhaften Phase „fröhlicher Wirksamkeit“ dar. Durch diese Arbeit fand der Dichter zu einem veränderten Sehen und ebenso zu einer veränderten Sprache. Poetisch und poetologisch bedeutete das einen fundamentalen Wandel. Die „Productionen im neuen östlichen Sinne“, wie Goethe formulierte, spiegeln die überlegene Haltung eines spielerisch-ironischen Darüberstehens als „heiteren Überblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erdetreibens, Liebe, Neigung, zwischen zwey Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend“ 6. Diese Position erlaubte ihm eine souveräne Reflexion des Lebens. Goethe ging bewußt auf Distanz zum unerquicklichen Kontext der politischen Szenerie Europas. Dem Freund Knebel vertraute er an: „Wie sich in der politischen Welt irgend ein ungeheures Bedrohliches hervorthat, so warf ich mich eigensinnig auf das Entfernteste“ 7. Vom Geist der orientalischen Verse ließ er sich tragen, machte jedoch freien Gebrauch davon in der Form wie im Gehalt. Er lockerte meist die von Hafis streng gehandhabten, zweigeteilten Langverse des Ghasels mit ihrem komplizierten Reimschema in verschiedene einfachere Versformen auf und entwickelte daraus eine ganz eigene dichterische Diktion, die den lyrischen Ausdruck wieder zu seinen Anfängen in Lied und Gesang zurückführte. Der vollzogene Wandel schlug sich nieder in dialogisch angelegten Versen symbolischen Sprechens. Kennzeichnend für die neugewonnene, schöpferische Position ist das gleich am Morgen des ersten Reisetags entstandene Gedicht „Phaenomen“. Darin geht dem Dichter am Bild des Regenbogens die Möglichkeit existentieller Ausdehnung auf, konkret die „Antizipation eines anderen Zustandes, die Vorahnung einer Verjüngung durch die Liebe“ 8. Es heißt da: So sollst du, muntrer Greis, Dich nicht betrüben, Sind gleich die Haare weiß, Doch wirst du lieben. 9 Zunächst blieb es indes bei diesen „spielerisch-ironischen Vorahnungen“ 10. Am 4. August 1814 begegnete Goethe dann in Wiesbaden erstmals der „Demoiselle Jung“ 11. Die in Begleitung des befreundeten Bankiers von Willemer erscheinende Marianne Jung12 hatte dieser nach dem Tod seiner ersten Frau 14 Jahre zuvor als Adoptivtochter und Gespielin für seine Tochter Rosine13 ins Haus geholt. Die aus unsicheren Familienverhältnissen stammende Maria Anna Catharina Theresia war 1798 als junges Mädchen mit einer österreichischen Theatertruppe nach Frankfurt gekommen und hatte in einigen Bühnenrollen als Tänzerin, Schauspielerin und Sängerin das Gefallen des leidenschaftlichen Theatergängers gefunden. Willemer sorgte mit 100  

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Unterricht durch einen Hauslehrer in Französisch, Italienisch, Lateinisch, Musik und Zeichnen für eine bildungsgemäße Anhebung ihrer musischen Anlagen. Im Verlauf ihres Heranwachsens begann der mittlerweile zum zweiten Mal verwitwete Adoptivvater sich auch als Mann für die Pflegetochter zu interessieren. Längere Zeit widerstand sie seinem Werben, wie auch den Huldigungen des jungen Clemens Brentano und ebenso denen Zacharias Werners. Erst im September 1814, also während des Goetheschen Aufenthalts in der Gegend, fand das etwas unklare Zusammenleben eine Auflösung. Marianne, inzwischen 30-jährig, heiratete den fast 25 Jahre älteren von Willemer. Goethe reagierte auf das Ereignis lakonisch: „unser würdiger Freund ist nunmehr in forma verheirathet“ 14. Wiederholt traf er in Frankfurt und im nahegelegenen Willemerschen Landhaus, der Gerbermühle, mit dem frisch vermählten Paar zusammen. Vom Weinberghäuschen auf dem Mühlberg aus erlebte man am 18. Oktober 1814 gemeinsam die auf den Anhöhen ringsum entfachten Freudenfeuer zum Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig. Zweifellos waren Marianne und Goethe sogleich tief voneinander beeindruckt. Mochte auch die Tatsache der kaum vollzogenen Eheschließung hemmend wirken, starke Affinitäten zwischen beiden wurden schon zu diesem Zeitpunkt offenbar. Nicht ohne Grund lobte der Dichter erfreut die geistreichen Reaktionen der ebenso gewinnenden wie gebildeten jungen Frau. Er spricht von ihr als dem „kleinen Kritikus“ und dem „kleinen Blücher“ 15. Dahinter ein wechselseitiges Wohlgefallen, vielleicht auch schon erotische Anziehung zu vermuten, dürfte nicht fehlgehen. Mit Sicherheit trugen die ersten Kontakte mit Marianne von Willemer wesentlich dazu bei, daß Goethe bereits im Jahr darauf, 1815, erneut für längere Zeit in den Rheingau reiste16. Diesmal führte das Wiedersehen zum Ausbruch einer beiderseitigen innigen Zuneigung. Durchaus treffend merkt Richard Friedenthal dazu in seiner Goethe-Biographie an: „sie (Marianne) wird zur willigen Partnerin in dem Liebesspiel einer erneuten Jugend“ 17. Kein Wunder also, daß die intensive Begegnung häufig zu einer leidenschaftlichen Liebesromanze stilisiert wird. Mit gleichem Recht ließe sich jedoch das sublime Rollenspiel psychoanalytisch als Ersatzhandlung deuten, die den erotischen Impuls vermittelt, ohne daß er voll ausgelebt würde. Wir sollten uns jedoch darum nicht weiter kümmern, weil derlei in den Vorhof der poetischen Auswirkungen gehört. Wichtig für die Nachwelt ist allein die jedenfalls künstlerisch engagiert verwirklichte Liebesbeziehung, konkret das aus profunder geistiger Nähe erwachsene Rollenspiel in Gestalt etlicher Chiffren-Briefe und -gedichte sowie vor allem die ästhetisch sublimierten Liebesdialoge zwischen Hatem und Suleika. Der Dichter statuierte: „Da du nun Suleika heißest, / Sollt’ ich auch benamset sein. / Wenn du deinen Geliebten preisest / Hatem! das soll der Name sein“ 18. Hatem und Suleika – beider Zwiesprache bildet das Kernstück des „West-östlichen Divan“. Es ist das lyrische Gespräch zweier Liebender, wie es seinesgleichen in der „Ginkgo biloba“  

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Weltliteratur sucht. Goethe hatte Marianne ein „Divan“-Exemplar geschenkt. Die anregende Kraft Hatem-Goethes löste erstaunlicherweise punktuell kongeniale poetische Qualität bei Suleika-Marianne aus. Zunächst nur Muse, wird sie vorübergehend selbst zur Dichterin. Ihre Beiträge zum poetisch chiffrierten Liebesdialog konnte der Dichter ohne weiteres seinen „Productionen im neuen östlichen Sinne“ einverleiben. Marianne ist demzufolge Mitautorin des geistvollen „Duodramas“ 19. Zweifellos gehört diese Koproduktion zu den schönsten und originellsten Beispielen für die steigernde Kraft der Liebe. Besonders im „Buch Suleika“ verspüren wir jenen von Goethe selbst vermerkten „Hauch und Geist einer Leidenschaft, die durch das Ganze weht“ 20. Bis an ihr Lebensende wirkte die geistig wie emotional erfüllte Begegnung bei beiden Partnern ungebrochen nach. Goethe hatte aber nach dem Abschied am 26. September 1815 in Heidelberg wohl nicht mehr die Kraft dazu, die Beziehung im direkten Kontakt weiterzuführen. Er bevorzugte die zweifellos schwer fallende schroffe Lösung nach dem Muster des gordischen Knotenhiebs21. Dem Freund Zelter resümierte er, wieder nach Weimar zurückgekehrt, die Gefühlswallungen der zurückliegenden Monate bereits distanzierter mit dem knappen Satz: „Durch eigene und fremde Leiden und Freuden hin und hergewogt, hab ich sie zugebracht“ 22. Beglückung durch die Liebeserfahrung und gleichzeitiger Schmerz über Verzicht und Trennung deuten sich in diesem Bekenntnis an. Dagegen wies er in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans“ prononciert auf das anregend-steigernde Moment der Liebesbegegnung für die ästhetische Reflexion hin. Über die dadurch herbeigeführte belebende Erfahrung als Dichter im 66. Lebensjahr schreibt er da: „ihm (dem Dichter) entwich die Jugend; sein Alter, seine grauen Haare schmückt er mit der Liebe Suleika’s, nicht geckenhaft zudringlich, nein! Ihrer Gegenliebe gewiß. Sie, die Geistreiche, weiß den Geist zu schätzen, der die Jugend früh zeitigt und das Alter verjüngt“ 23. Was in der Imagination gesteigert fortwirkte, war im Leben abgeschlossen. Ein für das folgende Jahr, 1816, verabredetes Treffen kam nicht zustande. Goethe nahm den Achsenbruch seiner Reisekutsche gleich nach der Abfahrt zum Anlaß, das nach längerem Zögern begonnene Unternehmen brüsk abzubrechen. Die zweite Rhein-Main-Reise sollte seine letzte gewesen sein. Er sah Marianne von Willemer, den „kleinen Don Juan“ 24, nie mehr wieder. Was von der Begegnung bleibt, ist allein der lyrische Reflex dieser einzigartigen Konfiguration. Soviel zum biographischen Hintergrund. Er wurde so breit ausgeführt, weil ohne ihn die Verse um Hatem und Suleika nicht entstanden wären. Doch muß dabei zugleich bedacht werden, daß der poetische Liebesdialog alles andere als Erlebnislyrik ist, weil der Dichter das Erlebte umgewandelt und in die verallgemeinerte Distanz ästhetischer Liebesreflexion gerückt hat.

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Als 1819 der „West-östliche Divan“ in einer ersten Ausgabe erschien, war darunter auch das Gedicht „Ginkgo biloba“ 25. Es gehört dort zum achten Buch, dem „Buch Suleika“, und bildet für die ganze Sammlung so etwas wie ein symbolisches Zentrum. „Eins und doppelt“ – gleich dem merkwürdigen, zweilappigen Blatt des Ginkgobaums – ist nämlich nicht allein die gemeinsame Gestaltung des Textes im produktiven Einvernehmen Goethes mit Marianne, sondern auch die Konzeption der Sammlung als der „östliche Divan des westlichen Verfassers“ (so lautet der arabisch geschriebene Nebentitel im Erstdruck des Buches). Die Zweieinheit bestimmt schließlich ebenso die Transformation des Biographisch-Faktischen ins ÄsthetischFiktionale. Zeitlich fällt die Ausarbeitung des Gedichts in die Phase des intensiven Zusammenseins der Liebenden Mitte August bis Mitte September 1815. Obwohl ein Manuskript mit der Datierung vom 15. September vorliegt, ist damit der genaue Zeitpunkt der Entstehung nicht nachgewiesen. Von einigen Forschern wurde die These vertreten, allein die Mittelstrophe sei in Frankfurt entstanden, während die erste und die dritte Strophe erst nach dem Wiedersehen mit der Familie von Willemer in Heidelberg zwischen dem 23. und 26. September geschrieben worden seien26. Doch überlassen wir derartige Mutmaßungen den Leuten, die das historische Gras wachsen hören. Zur historischen Situierung genügt es zu wissen: Wir haben es mit einem im September 1815 entstandenen Gedicht zu tun. Ausgangsthema für das Gedicht ist das Blatt des Ginkgobaums „Ginkgo biloba“. Daß hierbei ein Objekt der Natur, ein Baumblatt, zum poetischen Lebensgleichnis wird, entspricht der sich damals in Goethe immer stärker ausprägenden Anschauung der Einheit von Kosmos und Leben. In der Polarität beider erkannte er die Synthese, denn er war davon überzeugt, „unser Geist (stehe) mit den tiefer liegenden einfacheren Kräften der Natur in Harmonie“ 27. Vielsagend heißt es in einem der späten Sprüche: „Ist nicht der Kern der Natur / Menschen im Herzen?“ 28 Auch aus diesem Grund geht es von vornherein fehl, das Gedicht rein biographisch als Erlebnisdichtung begreifen zu wollen. Einleuchtend hat Erich Trunz darauf aufmerksam gemacht: „Man kann den ,Divan‘ verstehen, ohne das Biographische zu wissen“ 29. Der Divan-Dichter zielte auf eine gleichnishafte Exemplifizierung des Lebens, hier speziell des Liebens und des Dichtens. Bild und Gleichnis stehen in Einklang mit dem mehr und mehr angestrebten symbolischen Begreifen der Lebenszusammenhänge. Indes darf man sich nicht täuschen lassen durch die scheinbare Einfachheit der Bildzeichen. Wichtig für das Verständnis der Symbolkonzeption des Autors ist es, dabei von Anfang an besonders die für eine angemessene Rezeption entscheidende transitorische Reflexionsleistung des Textes, die „imaginäre Schrift“ 30, im Blick zu haben. Denn sie ist es hauptsächlich, die das Gedicht zum Leser hin öffnet, ihm die Richtung zu Goethes symbolischem Verstehen weist. Hier der Wortlaut nach dem Manuskript der Reinschrift: „Ginkgo biloba“  

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Ginkgo biloba Dieses Baums Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut, Giebt geheimen Sinn zu kosten Wie’s den Wissenden erbaut. 5

Ist es Ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt, Sind es zwey, die sich erlesen, Daß man sie als Eines kennt?

Solche Frage zu erwiedern 10 Fand ich wohl den rechten Sinn Fühlst du nicht an meinen Liedern Daß ich Eins und doppelt bin? Für seine Versgestaltung verwendet Goethe in diesem Fall eine in der Lyriktradition, mit Vorliebe in der anakreontischen Liebeslyrik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besonders beliebte Strophenform, die sogenannte ,Romanzenstrophe‘. Es handelt sich dabei, gemäß der Handbuchdefinition, um „Vierzeiler aus trochäischen Vierhebern mit weiblich und männlich alternierenden Kadenzen und Kreuzreim a b a b“ 31. Soweit die etwas knöcherne Bestimmung einer der Liedform nahen, einfachen Formlösung aus fallenden achtsilbigen Verszeilen mit jeweils vier Versfüßen aus einer betonten und einer unbetonten Silbe (– v – v – v – v). Jeder zweite Vers verkürzt sich auf sieben Silben mit ,männlicher‘ Reimendung. Die so herbeigeführte metrische Ordnung wird klanglich getragen von Kreuzreimen, die immer vier Verse zu einer Strophe zusammenfügen. Die gleiche Vers- und Strophenform gebrauchte Goethe von Anfang an recht häufig, nicht zuletzt bei Gedichten aus gesellschaftlichem Anlaß. Im „West-östlichen Divan“ wird sie zur ,Suleikastrophe‘ par excellence. Dabei macht sich der Autor weniger die ,erzählenden‘ als vielmehr die „epigrammatischen Ausdrucksmöglichkeiten“ 32 des fallenden Vierhebers zunutze. Trunz erklärte dazu überzeugend: „Der Klang der Verse ist leicht, flüssig, heiter (…). Dieser Geist der Helle, des Spiels, des Bewußtseins und zugleich der Tiefe formt den Stil“ 33. Mag die glatt daherkommende Sprachform des Textes einfach erscheinen, in Wahrheit ist sie unendlich tief. Ein Interpret kritisierte die „reflexive, beinahe trockene Fügung, die sich kaum Adjektive gestattet“ 34. Er übersah dabei nur, daß der Gestus des meditativen lyrischen Sprechens gewiß nicht „trocken“ ist, sondern im Gegenteil wie klares Bergwasser sprudelt. Die poetische Ausgestaltung bedarf dazu 104  

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keiner schmückenden Beiwörter, weil es vorrangig um die Darstellung der paradoxen Zweieinheit geht. Die Überschrift stößt den Leser sogleich auf das konkrete Bild des Ginkgo biloba35. Botanisch ist dieser sommergrüne, hochwachsende Baum den Nadelhölzern verwandt. Er fällt dem Betrachter durch seine gelben, kirschähnlichen Früchte auf (Goldfruchtbaum), mehr noch durch seine fächerartigen, gelbgrünen oder graugrünen Blätter, die manchmal in der Mitte tief eingeschnitten sind (Fächerblattbaum). Der an solchen Naturphänomenen außerordentlich interessierte Goethe wandte dem Erscheinungsbild des so merkwürdig eingekerbten Blattes, „dergestalt, daß es zwey Blätter zu seyn scheinen“ 36, seine besondere Aufmerksamkeit zu. Er sah in der zweilappigen Blattform ein anschauliches Symbol für die geeinte Doppelnatur, anders ausgedrückt: für die Einheit in der Zweiheit. Der präzisierende Zusatz ,biloba‘ geht zurück auf die von Carl von Linné vorgenommene Klassifizierung. Die gängige Aussprache legt den Akzent auf die erste Silbe: biloba. Poetisch sachgerechter aber erscheint im Gedicht die Betonung der vorletzten Silbe: biloba, weil damit die gesamte Überschrift metrisch als ein Adonäus erscheint, der sich dem harmonisch durchlaufenden Rhythmus des Gedichts besser anpaßt (– v v – v). Aus ästhetischen Gründen ist deswegen einer Betonung auf der vorletzten Silbe der Vorzug zu geben: Ginkgo biloba Die drei Vierzeiler stellen als Ensemble eine schlüssige Aussageeinheit dar. In der ersten Strophe erfolgt die Situierung des Problems, in der zweiten die fragende Erörterung, in der dritten sodann die – allerdings als Frage weitergegebene – Auflösung. Sehr genau folgt der syntaktische Bau dem von Goethe gewählten und ausgestalteten strophischen Schema. Ein einziger Satz bildet die erste Strophe. Aus zwei zusammengehörenden Fragebewegungen besteht die Mittelstrophe. Gleichfalls zwei eng aufeinander bezogene Aussagen formieren sich schließlich in einem durchlaufenden Satz zur dritten Strophe. Jeder der Vierzeiler ist somit vom Darstellungsmaterial her gleichgewichtiger Teil der Textdreiheit.- Perspektivisch erscheint ein sprechendes Ich (V. 2, 10 und 12) als konstitutives Gestaltungselement. Das Ich wendet sich einem Du (V. 11) zu. Wie diese dialogische Grundstruktur funktioniert, wird noch zu klären sein. Doch sei jetzt schon gesagt, daß sich die partnerschaftliche Ansprache der Ich-Du-Konstellation auf den Leser ausdehnen läßt37. Durch die Teilhabe am prozessualen Ablauf des Textes ist er virtuell einbezogen in die Erkenntnisdimension des ästhetischen Diskurses über die Problematik von Einheit und Zweiheit im Leben und in der Dichtung. Die erste Strophe knüpft direkt an die Benennung der Überschrift an. Durch das an den Anfang des Gedichts gestellte Demonstrativpronomen wird das zunächst nicht näher klassifizierte „Blatt“ des Baumes ausdrücklich konkretisiert und „Ginkgo biloba“  

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als dem „Ginkgo biloba“ des Titels zugehörig ausgewiesen. Das intensiv vermittelte Naturbild macht, zusätzlich gestützt durch die Alliteration („Dieses Baums Blatt“, V. 1), die sinnliche Anschauung zum Ausgangspunkt der lyrischen Reflexion. Ausdrücklich wird damit der im „Osten“ (V. 1) beheimatete „Baum“ der interkulturellen Bewegung des „Divan“-Komplexes von Ost nach West zugeordnet. Daß dem sprechenden Ich vor diesem Hintergrund ein hohes Gut als Geschenk zuwächst, geht aus dem zweiten Vers hervor. Ihm wird nämlich das seinen „Garten“ bereichernde Ginkgo-Blatt, „jenes wunderliche Blat“ 38, wie Goethe sagt, „anvertraut“ (V. 2), das heißt vertrauensvoll überlassen. Die Metapher des Gartens deutet einen individuell gestalteten Lebenskosmos an. In seiner Abgeschlossenheit steht er für ein geschütztes, fast paradiesisches Refugium stimmigen Lebens. Infolge der ihm wortwörtlich zuwachsenden Bereicherung durch das eigenartig geformte Blatt sieht sich der Besitzer des Gartens einem rätselhaften Phänomen konfrontiert. Deutlich verspürt er dessen geheimnisvolle, steigernde Wirkkraft („Giebt geheimen Sinn zu kosten“, V. 3). Der so vermerkte Zugewinn „erbaut“, wie uns dann gleich der vierte Vers sagt, „den Wissenden“, weil er produktive Erkenntnis befördert, aber zugleich auch bewußtseinsmäßig erhebend wirkt. Anschauendes Begreifen des Naturphänomens wird demzufolge als Möglichkeit selbstreflexiver und steigernder Erfahrung im Umgang mit der Realität aufgefaßt. Allerdings ist der zu beschreitende Weg nicht einfach. Allein dem „Wissenden“ eröffnet sich der Zugang zum „geheimen Sinn“ und insofern zur aktiven Teilnahme am qualitativen Sprung vom „Blatt“ des Baumes zum poetisch-symbolischen Papier-“Blatt“ des festgeschriebenen Gedichts. Erst wenn im lyrischen Text das Naturbild auch als Zeichen ästhetischer Natur erfahren wird, kann sich die semantisch offene Symboldeutung entfalten. Man hat deshalb mit Recht von einer „poetischen Metamorphose des Ginkgo-Blattes“ gesprochen39. Damit kommt, als Subtext, im Gedicht eine poetologische Interpretationsebene zum Vorschein. Dichter und Dichtung gelangen hierdurch zum Bewußtsein ihrer selbst. Baumblatt und Papierblatt fungieren dabei als sich wechselseitig aktivierende Vehikel des Erkenntnisprozesses. Im demonstrativen Verweis auf das Natur-“Blatt“ steckt die Empfehlung an den Leser, sich, angeregt vom Blatt Papier, an der Symboldeutung zu beteiligen. Dadurch wird das künstlerisch metamorphisierte Naturbild zum rezeptionslenkenden Diskursfaktor. Ohnehin ist das „Blatt“ in seiner ,Doppelexistenz‘ auch das Text-Blatt erotisch-poetischer Kommunikation und insofern Träger des lyrischen Liebesdialog. Von Beginn an ist es darüber hinaus aber ebenso Objekt poetologischer Reflexion. Das erbringt doppelten Gewinn für den „Wissenden“. Denn die Teilhabe bedeutet eine innere Anhebung durch den Zuwachs an geistiger Substanz („erbauen“, V. 4). Sie steigert zugleich, über alle Erkenntnis hinaus, das subjektive Genußpotential („kosten“, V. 3). Den Kreis der „Wissenden“ charakterisiert mithin gesteigerte Sensibilität und gesteigerte Soziabilität. Wie man 106  

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sieht, steckt im einfachen Bildmotiv ein äußerst komplexer „geheimer Sinn“, dessen Erfahrung dem „Wissenden“ die problematisch-vibrierende Ein-Zweiheit von Leben, Lieben und Dichten vor Augen führt. Eine ästhetisch-morphologische Betrachtung von „dieses Baum’s Blatt“ hat also letzten Endes die menschliche Natur und ihre humane Dimension zum Ziel. Insofern bestätigt das Gedicht Goethes Symbolkonzeption von der Liebe, die der Dichter folgendermaßen formulierte: „Ist unbedingten Strebens / Geheime Doppelschrift, / Die in das Mark des Lebens / Wie Pfeil um Pfeile trifft“ 40. Zunächst bleibt die paradoxe dialektische Bewegung von Einheit und Zweiheit, von Nähe und Ferne, als offene Frage stehen. Sie kann erst am Schluß ihre ästhetische Aufhebung finden Mit der zweiten Strophe erfolgt der Übergang zur allmählichen Entschlüsselung der durch den geheimnisvollen Doppelcharakter des Ginkgo-Blatts ausgelös­ ten Fragen. Die Reflexion über das eigenartig gefächerte und gespaltene Blatt will den „geheimen Sinn“ der paradoxen Zweieinheit typologisch fassen und spürt deshalb der dem Phänomen abzulesenden naturalen Ordnung nach. Auf zwei durch Reimbindung eng ineinander verwobene Verspaare ist die zweifach ansetzende Fragestellung verteilt. Bei beiden Aussagen handelt es sich eindeutig um rhetorische Fragen, denn sie heben auf den unbestreitbaren Doppelbefund der Zwienatur ab und scheinen deswegen hauptsächlich um der besonderen Wirkung willen gestellt zu werden. Tatsächlich aber haben beide Fragen ihre tiefere Berechtigung. Geht es doch bei der doppelten Gedankenfigur darum, sowohl die Identität des „in sich selbst getrennten“ (V. 6) Individuums als auch die symbiotische Übereinstimmung zweier Menschen, „die sich erlesen“ (V. 7), zu bekräftigen. Ersichtlich spielt der Autor hier auf zwei Manualen. Von der Ebene typologischer Klärung des Naturphänomens changiert der Text hinüber zu reflexiv-symbolischem Sprechen. Nicht ohne Grund machte Goethe den Leser der „Divan“-Sammlung zuvor darauf aufmerksam: „Denn daß ein Wort nicht einfach gelte, / Das müßte sich wohl von selbst verstehn“ 41. So verbirgt sich hinter den scheinbar rhetorischen Fragen eine wie spielerisch angedeutete, aber offenkundig mit vollem Ernst vorgebrachte Liebesbotschaft. Unmißverständlich ist ihre Erkenntnis an die einende Begegnung und intime Übereinkunft Liebender gebunden. Zum tiefen Gleichnis der Liebe erhebt sie die zentralen Verse: „zwey, die sich erlesen, / Daß man sie als Eines kennt“ (V. 7/8). Fraglos ist das ein überzeugender Ausdruck strebender Liebe und der daraus resultierenden menschlichen Höherentwicklung. Eduard Spranger hat die so geartete Steigerung in den resümierenden Satz gefaßt: „Die Persönlichkeit, die sich in der Liebe scheinbar an ein anderes Wesen entäußert, wird erst dadurch ganz zur Einheit in sich“ 42. Freilich bleibt daneben die Aussage des vorangestellten Doppelverses ebenso gültig. Die in poetischer Form artikulierte Liebesversicherung geht aus von einem lyrischen Ich, das seine schwierige Position schreibend mitteilt als „Ein lebendig Wesen, / Das sich „Ginkgo biloba“  

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in sich selbst getrennt“ (V. 5/6) empfinden muß. Hier kommt gleich auch der Druck zur Sprache, den der Sänger sich selber aufgebaut hat. Denn dichterische Arbeit und Auftrag der Kunst sind mit dem gesellschaftlichen Leben nicht zu vereinbaren. Im selben Augenblick jedoch spricht ein Liebender zur Geliebten. Durch die Überblendung vom dichterischen Eigenanspruch zum Liebesereignis deutet der Text ganz verhalten eine zeitliche Begrenzung der Liebe in Abschied und Trennung an, auch wenn unmittelbar danach der dem Zeitlichen enthobene Charakter liebender Begegnung derer, die „man als eines kennt“ (V. 8), eindringlich zelebriert wird. Für den Moment hält Goethe die spannungsvolle Konstellation unbedingter Kunst und unbedingter Liebe noch vorsichtig fragend in der Schwebe. Die schwierige Zweieinheit des Künstlers ist wie die Einheit der zwei Liebenden gleichermaßen mit vollem existentiellen Gewicht versehen. Erst die dritte Strophe schafft hierin definitive Klarheit. Zunächst nimmt der lyrische Sprecher nüchtern, aber bestimmt für sich in Anspruch, „den rechten Sinn“ gefunden zu haben: „Solche Frage zu erwiedern / Fand ich wohl den rechten Sinn“ (V. 9/10). Im Rückbezug auf den in der ersten Strophe angesprochenen „geheimen Sinn“ wird die Erwiderung der aufgeworfenen Fragen nicht bloß in Aussicht gestellt, sondern vielmehr als maßgeblich richtungsweisend eingestuft. Damit einher geht ein auffälliger Tempuswechsel („fand“). Er artikuliert nicht etwa eine Erinnerung an Vergangenes, sondern gibt einen Rückblick aus vorweggenommener Zukunft. Anders formuliert müßte man sagen: aus der Perspektive poetischer Distanznahme, um so die visionäre Gestaltung des Ausgangs vornehmen zu können. Denn der Weg des „rechten Sinns“ ist identisch mit der Entscheidung für die Kunst. Ohne die erfahrene Liebesintensität auf irgendeine Weise zu relativieren oder gar in Zweifel zu ziehen, zollt der Dichter der Dynamik des Lebens den nötigen Tribut. Richtig merkte Muschg dazu an: „Die Liebe ist überholt im anderen Leben des Gedichts“ 43. Ungeachtet der vehementen Bekräftigung der Liebe und der ihr zugesprochenen zeitlosen Dauer wird der gegenläufige Sinn des „In-sich-selbst-Getrennt“-Seins in die Reflexion einbezogen: „Daß ich Eins und doppelt bin“ (V. 12). Dadurch, daß damit eine Haltung eingebracht wird, die unweigerlich zum äußeren Abbruch der liebenden Begegnung, also zur Trennung, führen muß, offenbart sich eine Kehrseite des „rechten Sinns“. Mit der klanglich besonders hervortretenden Reimbindung („rechter Sinn“ – „bin“) wird hier für den Leser ganz bewußt ein Akut gesetzt. Demnach greift es entschieden zu kurz, im Gedicht lediglich ein „tiefsinniges Sinnbild der Liebe“ 44 zu sehen. In dieser Hinsicht spricht die sogleich darauf folgende Erwähnung der „Lieder“ („Fühlst du nicht an meinen Liedern“; V. 11) eine deutliche Sprache. Denn sie besagt in der Konsequenz: Ästhetische Gestaltung ist an die Einsamkeit des künstlerischen Subjekts gebunden. Das charakterisiert den Auftrag des Dichters. Zwar bleiben die Liebenden über die Trennung hinaus im 108  

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Geiste vereint, doch bedeutet die Überführung der Liebe in das Gedicht eben zugleich den Abschied, also die Aufhebung der Nähe. So gesehen sind die „als Eines“ gekannten Liebenden in der ästhetischen Transformation ,nur noch‘ Sujet der Kunst und insofern „Medium der Liebe“ 45. Andererseits gelingt es Goethe dadurch, die prekären Fragen der zweiten Strophe am Ende innerlich zu einem Ausgleich zu bringen und so das Getrennte in einer höheren, ideellen Einheit wieder zusammenzuführen. Im dichterisch gelingenden Sprechen des Liebesgedichts zeigt sich, wie richtig bemerkt wurde, „eine imaginierte Nähe, die gerade in der Distanz an Intensität noch zu gewinnen vermag“ 46. Unter dieser Vorgabe gewinnt die partnerschaftliche Anrede entscheidendes Gewicht. Ausdrücklich wird das im elften Vers angesprochene „Du“, mithin zunächst einmal die Geliebte wie dann der Leser, auf die poetische Verwandlung in Gestalt der „Lieder“ verwiesen. Einerseits unterstreicht das Haltbarkeit und Dauer der Liebe im Kunstwerk; andererseits wird dadurch aber auch das Zurücklassen des Erlebten besonders nachhaltig ins Bewußtsein gerückt. Goethe hat das ästhetische Liebeskonzept, vorsichtig umschreibend, so formuliert: „Der Schleier irdischer Liebe scheint höhere Verhältnisse zu verhüllen“ 47. Doch kommt die Aufhebung der Liebe in der Kunst hierdurch für den mitgedachten Leser deutlich genug zum Ausdruck. Gewiß erscheint das Ginkgo-Blatt im Lied Goethes als symbolisches Spiegelbild seiner Liebe zu Marianne von Willemer. Allerdings rückt der biographische Anlaß für den Leser, wie eingangs betont, in den Hintergrund. Was für ihn zählt, ist die poetisch transformierte Liebesreflexion, die immer auch die poetologische Reflexion einschließt. In der ihm durch den Text vorgegebenen Sicht ist das botanische „Blatt“ symbolisch gesteigert zum generellen Symbol der Liebe als einer in jeder Hinsicht erweiternden, ich-überschreitenden Lebensstruktur. Der Dichter besteht mit dem Schlußvers darauf, gleich dem Blatt „Eins und doppelt“ (V. 12) zu sein. Beides miteinander verbindend, erhebt er sein Lieben im Gedicht zur lyrischen Botschaft erfüllter Zweieinheit. Als Dichter findet er zu einer die Spannung überwindenden Synthese von aufgehobener Nähe und aufgehobener Distanz. Dennoch fällt die Antwort auf die in der zweiten Frage gestellten Fragen ambivalent aus. Letzten Endes hebt der Autor nämlich seine Liebe, in der er „Eins“ ist, im „Doppelt“Sein des Dichters auf, der über diese Liebe schreibt und sie dadurch in den Abstand persönlichen Verzichts rückt. Gewiß dient die Schlußfrage innerem Einvernehmen mit der Geliebten, mehr aber noch der Selbstvergewisserung, wirklich den „rechten Sinn“ im Weg der Kunst gefunden zu haben. Die Liebe ist somit im doppelten Wortsinn ,aufgehoben‘. Der Verfasser der Verse offenbart sich als liebender Dichter. Für den Leser freilich ist er in erster Linie Dichter der Liebe, der seinen „Garten“, das Gedicht, kultiviert. Das wiederum bedeutet, daß er nicht nur „Eins“, sondern „Ginkgo biloba“  

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dezidiert ebenso „doppelt“, will sagen Künstler sein will, der seine Liebe besingt. Davon gibt gerade dieses Gedicht beredtes Zeugnis, denn es erhebt die sinnliche Erscheinung zum Bild und Sinnbild der Liebe und, mehr noch, zum Bild und Sinnbild der Dichtung.

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WA I.36, 93 („Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse“, 1815). Die Reise dauerte vom 25. Juli bis 27. Oktober 1814. WA IV.25, S. 91 (an Christian Heinrich Schlosser, 25.11.1814). Mohammed Schemsed-din Hafis: ”Der Diwan. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph von Hammer“. Stuttgart und Tübingen 1812 (erschienen 1813). Der von Goethe geschätzte Übersetzer Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774–1856) war österreichischer Diplomat und Orientalist. Divan: arabisches Wort für ,Versammlung‘, hier: ,Liedersammlung‘. WA I.36, 93 und WA IV.33, 27 (an Carl Friedrich Zelter, 11.5.1820). WA I.36, 85 (Tag- und Jahreshefte, 1813) Schärf, Christian: GH I. Stuttgart, Weimar 1996, S.372. WA I.6,17 („Phaenomen“). Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk, Bd. II. Frankfurt/M. 1988, S. 392. Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik von Robert Steiger und Angelika Reimann, Bd. VI: 1814–1820. Zürich, München 1993, S. 100. Marianne von Willemer, geb. Jung (1784–1860), Goethes Suleika; Johann Jacob von Willemer (1760–1838), Geheimer Rat in Frankfurt. Finanzielle Unabhängigkeit erlaubte ihm eine unkonventionelle Lebensführung. Genauere Informationen über Goethes Beziehung zu Marianne von Willemer in: Unseld, Siegfried: Goethe und der Ginkgo. Ein Baum und ein Gedicht (= ib 1188). Frankfurt/M. 1998, vor allem Kap. II. Anna Rosine Magdalene Städel, geb. von Willemer (1782–1845), Tochter Willemers aus erster Ehe, heiratete 1799 den Frankfurter Johann Martin Städel, der bereits 1802 starb. Die verwitwete Frau kehrte in das Haus ihres Vaters zurück. Sie war eng befreundet mit der fast gleichaltrigen Marianne. Goethe sah in ihr deren Vertraute. WA IV.25, S. 58 f. (an Christiane von Goethe, 12.10.1814). Friedenthal, Richard: Goethe – Sein Leben und seine Zeit. München 1963, S. 606 (Sigle: Friedenthal).. Der zweite Aufenthalt dauerte vom 24. Mai bis 11. Oktober 1815. Friedenthal, S.601. Muschg hat in dieser Konfiguration zutreffend eine „Goethesche Ur­ szene“ ausgemacht (Muschg, Adolf: Goethe als Emigrant (= st 1287). Frankfurt/M. 1986, S. 84). Folgerichtig deutet er das ‚Liebesspiel‘ mit Marianne als „Erinnerung bei Lebzeiten“ (S. 85). WA I.6,145.

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19 WA I.41.1,88 („West-östlicher Divan oder Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient“; Morgenblatt 1816). 20 WA I.7, 145 („Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans“). 21 Vgl. hierzu die Briefe an Rosine Städel (WA IV.26, S. 84: 27.9.1815; S. 92 (6.10.1815); S.101: 10.10.1815) sowie den Brief an von Willemer (WA IV.26, S. 93: 6.10.1815). 22 WA IV.26, S. 122 (an Zelter, 29.10.1815). 23 WA I.7,146. 24 Zit. n.: Goethes Leben von Tag zu Tag (s. Anm. 11), S. 266. 25 Der Titel wird hier zitiert nach der Reinschrift vom 15.9.1815 (R, heute im Besitz des Goethe-Museums Düsseldorf ). In der Abschrift des Gedichts im Brief an Rosine Städel vom 27.9.1815 (H) fehlt die Überschrift. Der Erstdruck von 1819 gibt den Titel in der dann auch von der Weimarer Ausgabe (WA) übernommenen Schreibweise „Gingo biloba“ wieder, die in den meisten Ausgaben zu finden ist. 26 Insbesondere Konrad Burdach, Friedrich Düntzer, Max Hecker, Hermann August Korff, Paul Böckmann, Günther Debon, Ernst Beutler und auch noch Detlef Kremer vertreten diese Auffassung in unterschiedlichen Abwandlungen. Dem steht die auch im Bericht von Sulpiz Boisserée bestätigte Tatsache entgegen, daß Goethe drei Tage vor seiner Abfahrt von Frankfurt Marianne die so datierte Reinschrift zuleitete (15. September). 27 WA II. 5.2, S. 330 („Chromatik. Beiträge zur Optik. Paralipomena XCVI“). 28 WA I.3,106 („Wir kennen dich, du Schalk!“). 29 Trunz, Erich: HA 2, S. 547 (Anmerkungen des Herausgebers). 30 Schwieder, Gabriele: Goethes ,West-östlicher Divan‘. Eine poetologische Lektüre. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 99 (Sigle: Schwieder). 31 Definition des Handbuchs der Versifikation (Frank, Horst Joachim: Handbuch der deutschen Strophenformen. München, Wien 1980, S. 180. Vgl. hierzu auch: Kayser, Wolfgang: Beobachtungen zur Verskunst des west-östlichen Divans. In: drs.: Kunst und Spiel. Fünf Goethe-Studien. Göttingen 1961, S. 47–63. Kayser betont vor allem die „Dipodie“ als „rhythmisches Leitmotiv“ der ,Suleikastrophe‘. 32 Frank, Horst Joachim: a.a.O., Anm. 31, S. 185. 33 Trunz, Erich: a.a.O., Anm. 29, S. 549. 34 Kremer, Detlef: ,Gingo biloba‘. In: Interpretationen: Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Hrsg. v. Bernd Witte (= RUB 17504). Stuttgart 1998, S. 217–230; Zitat: S. 218 (Sigle: Kremer). 35 Manche sagen auch die Ginkgo biloba; sie wollen also den Baum weiblich aufgefaßt sehen. Goethe schrieb „Über den Ginkgo“ (WA IV.32,189; an Carl August, 10.3.1820). Deswegen hält man sich am besten an die maskuline Form. 36 WA IV.32, S. 189 (an Carl August, 10.3.1820). 37 Gabriele Schwieder verweist in diesem Zusammenhang auf die „Rhetorik der Anrufung“, die „einen fingierten Dialog“ mit dem Publikum ermöglicht (Schwieder, S. 146 und 192. Allerdings steigert sie den „fingierten Dialog“ unnötigerweise auch noch zur „(Spiegel-) Beziehung zwischen Dichter und Leserin“ (S. 168). 38 WA IV.26, S. 84 (an Rosine Städel, 27.9.1815). „Ginkgo biloba“  

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Kremer, S. 218. WA I.6,192 („Geheimschrift“). WA I.6,42 (“Wink“). Spranger, Eduard: Goethe. Seine geistige Welt. Tübingen 1967, S. 152. Muschg, Adolf: a.a.O., Anm. 17, S. 85. Korff, Hermann August: Goethe im Bildwandel seiner Lyrik. Bd. 2. Hanau 1958, S. 201). Eindeutig falsch ist seine Annahme, Goethe sage damit, „daß diese Lieder eins und doppelt sind“ (ebd., ibid.). 45 Matt, Peter von: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München, Wien 1989, S. 210. 46 Schwieder, Umschlagstext. 47 WA I.41.1,88 („West-östlicher Divan oder Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient“; Morgenblatt, 1816).

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„Dem aufgehenden Vollmonde“ (1828)

A

m 7. Juli 1828 zog sich Goethe „in einem traurig-bedrängten Zustande“ 1 auf das Schloß Dornburg über der Saale zurück, um nach dem plötzlichen Tode des Großherzogs Carl August am 14. Juni „jenen düstern Functionen (will sagen: den Trauerfeierlichkeiten) zu entgehen“ 2, die er zeitlebens nicht ertragen konnte. Zwei volle Monate blieb er dort, um sich, wie er betonte, „nach Art und Verhältniß zu fassen und herzustellen“ 3. In dieser Absicht unternahm er dort hauptsächlich meteorologische und botanische Studien. Unter den Notizen im Tagebuch findet sich mit dem Datum des 25. August 1828 neben etlichen anderen Bemerkungen auch die Eintragung: „Schöner Aufgang und Fortschritt des Vollmondes“ 4. Diese nüchterne Beobachtung erfaßt indes den Anlaß zu einem in der gleichen Nacht „dem aufgehenden Vollmonde“ gewidmeten Gedicht. Es sollte sich als ein Höhepunkt der späten Lyrik erweisen. Wie häufig bei Goethe löste der seelische Schmerz eine kreative Reaktion aus. Er hat, was selten vorkam, Ort und Zeitpunkt der Entstehung selbst festgehalten. Hier der Wortlaut: Dem aufgehenden Vollmonde Dornburg, 25. August 1828 Willst du mich sogleich verlassen! Warst im Augenblick so nah! Dich umfinstern Wolkenmassen Und nun bist du gar nicht da. 5

Doch du fühlst wie ich betrübt bin, Blickt dein Rand herauf als Stern! Zeugest mir daß ich geliebt bin, Sei das Liebchen noch so fern. So hinan denn! hell und heller,

10 Reiner Bahn, in voller Pracht!

Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller, Überselig ist die Nacht. 5 „Dem aufgehenden Vollmonde“  

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Gleich am nächsten Tag wurde dieser Text in einer Abschrift von Goethes Schreiber und Sekretär John an Zelter nach Berlin geschickt. Der Autor hätte es gerne gesehen, daß sein Duz-Freund gerade diese Verse vertonen würde6. Doch ist daraus nichts geworden. Interessanterweise findet sich in der eigenhändigen Abschrift Goethes für Marianne von Willemer vom 23. Oktober 1828 im 11. Vers eine auffallende Abweichung. Statt „schmerzlich schneller“ heißt es dort „schneller, schneller“ 7. Vielleicht war es einfach ein Versehen beim Abschreiben, vielleicht aber wollte Hatem-Goethe der Suleika des „Divan“ nicht „schmerzlich schneller“ in Erinnerung kommen und zog deswegen die intensivierende Verdoppelung des schnelleren Herzschlags vor. Vieles spricht dafür, der Erstfassung das größere authentische Gewicht zuzuerkennen. Daß Goethe mit seiner Briefsendung an Marianne eine alte Übereinkunft zwischen beiden wiederbelebte, geht aus dem dreizehn Jahre früher – während der „Divan“-Phase – entstandenen Gedicht „Vollmondnacht“ hervor. Darin heißt es vielsagend: „Euch im Vollmond zu begrüßen / Habt ihr heilig angelobet, / Dieses ist der Augenblick“ 8. Stets war der Mond für Goethe kosmisches Zeichen der Liebe. Deshalb konnte er als Briefschreiber ohne weiteres die Frage stellen: „Ob Sie vielleicht den klaren Vollmond beobachtend des Entfernten gedacht haben?“ 9 Die Antwort Mariannes stimmt damit vollkommen überein. Sie schrieb: „Hätte ich ahnen können, wie in diesem Augenblicke wirklich ‚des Freundes Auge mild über meinem Geschick‘ weilte, ich würde gerne mit ihm gerufen haben: ‚Überselig ist die Nacht‘“ 10. Nur soviel zur Entstehung und Überlieferung des Textes und zu seinen tieferen Zusammenhängen. Entscheidend bleibt für uns die poetische Reaktion Goethes auf die Eindrücke beim „schönen Aufgang und Fortschritt des Vollmondes“ über Dornburg am 25. August 1828. Dennoch ist es nicht unwichtig zu wissen, daß wir es in gewisser Weise mit einem „späten Nachklang der Liebeslyrik des ‚West-östlichen Divan‘“ 11 zu tun haben. Bestimmt nicht zufällig wählte Goethe für das Gedicht das gleiche Metrum einfacher Kurzstrophen, das er häufig im „West-östlichen Divan“ gebrauchte12. Das ebenfalls in „Selige Sehnsucht“ angewandte Versmaß mit fest betonend einsetzenden trochäischen Vierhebern in Kreuzreimordnung kommt nachdenklicher Betrachtung, wie sie der Dichter hier anstrebte, besonders entgegen. Wechselweise ‚klingende‘ und ‚stumpfe‘ Versenden sowie Assonanzen („nah“ – „da“, „Stern“ – „fern“ usw.) und Alliteration („Willst“ – „Warst“, „hell und heller“) sorgen im Verein mit der auffälligen Vokalfülle für ein dynamisches Klangbild. Noch deutlicher wie in „Selige Sehnsucht“ bilden die Verspaare jeweils eine stimmige Satz- und Aussageeinheit. Dieser Formlösung paßt sich der inhaltliche Aufbau vollkommen an. Thematischer Ausgangspunkt ist die sinnliche Wahrnehmung des aufgehenden Vollmonds in wechselnden Stadien des Zusammenspiels mit dem bewölkten Himmel. Speziell 114  

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in der ersten Strophe wird das durch den Ablauf vom Erscheinen des Mondes über dessen Verhüllung durch „Wolkenmassen“ (V. 3) bis zum völligem Verschwinden des Mondlichts vorgeführt. Der Mond wird dabei zur gleichsam personifizierten Anredefigur, die auf die Apostrophe reagiert13. Unter dem Eindruck des allmählich wieder erscheinenden Mondes verwandelt sich in der zweiten Strophe das Mondmotiv zum Liebesmotiv. Damit ist der Umschlag von der Natur zum Ich verbunden. Danach kann in der Schlußstrophe die Wiederkehr des Mondes in „voller Pracht“ (V. 10) zum Anlaß erneuerter und vertiefter individueller Lebenskraft genommen werden14. Auf diesen produktiven Finalakzent hin ist die Gesamtkonstruktion ausgerichtet. Was zu Anfang lediglich Erlebnis- oder Gelegenheitscharakter zu haben scheint, wird auf diese subtile Weise mehr und mehr in symbolische Vertiefung und ästhetische Erfahrung überführt. Die Funktion der Überschrift besteht darin, den Leser auf die nachfolgende Anrede des „aufgehenden Vollmondes“ vorzubereiten. Er ist es, der die Betrachtungen des Autors auslöst. Mondstimmungen beschäftigten Goethe lebenslang15. In diesem späten Gedicht bildet die Zwiesprache des Autors mit dem personifizierten Gestirn den äußeren Rahmen. In Wahrheit jedoch dienen die dem Mond gewidmeten Verse als Vehikel der Kommunikation. Sie sollen dem Leser als dem eigentlichen Adressaten am Beispiel des Vollmonds am Nachthimmel eine kognitive Erfahrung vermitteln. Es ist eine äußerst komplexe Erfahrung, in der beglücktes Sehen, Gefühlsregungen zwischen Schmerz und höchster Seligkeit, Naturbegeisterung, Liebesbeteuerung, Erinnerungen, Hoffnungen, Einsamkeit, souveränes Sprachspiel und tief wissende Lebensbestätigung zusammenlaufen. Das ist in der Tat „Alterserfahrung“ 16. So gesehen ist der Mond bloßes Medium eines publikumsgerichteten lyrischen Sprechens des fast achtzigjähringen Goethe. Die Eingangsstrophe lebt vom dramatischen Ablauf des Gegensatzes zwischen dem „aufgehenden Mond“, den der Titel herausstellt, und den drohenden „Wolkenmassen“. Sogleich wird spürbar, daß es um mehr geht als um „eine einfache Beschreibung, wie der Mond von Wolken verdeckt wird und dann wieder erscheint“ 17. Goethe verfaßte kein Naturgedicht. Ihn interessierte die Entsprechung zwischen den aufwühlenden Bewegungen der eigenen Psyche und dem Erscheinen, Verschwinden und Wiedererscheinen des Mondes. Mit dem unsicher fragenden Ausruf „Willst du mich sogleich verlassen!“ (V. 1) beginnt der Text. Darin äußert sich existentielle Beunruhigung. Das Ausmaß der Verunsicherung ist besonders groß, weil unmittelbar zuvor noch Hoffnung zum Guten möglich schien („Warst im Augenblick so nah!“, V. 2). Ursache der schmerzlichen Regung sind die „umfinsternden Wolkenmassen“ (V. 3), die das Himmelslicht verdecken. Wie im Gedicht „Selige Sehnsucht“ ist mit „der Finsternis Beschattung“ eine völlige Verfinsterung gemeint. Die eigenwillige „Dem aufgehenden Vollmonde“  

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Wortschöpfung Goethes („umfinstern“) akzentuiert mit der ungewohnten Kombination vorgegebener sprachlicher Elemente besonders einprägsam das drohende Dunkel, das dann auch unverzüglich eintritt („Und nun bist du gar nicht da“, V. 4). Die an sich nüchterne, um nicht zu sagen banale Bemerkung des Strophenendes wird abgefangen von der die beiden Doppelverse förmlich tragenden Häufung direkter Anrede („Willst du“, „Warst“, „Dich“, „nun bist du“). Das intensive Kommunikationsbedürfnis hat viel zu tun mit der Abgeschlossenheit, in der Goethe damals schon geraume Zeit lebte. Dem Kanzler Friedrich von Müller vertraute er einmal an: „Ich bin fast nicht mehr kommunikabel nach außen; nur daß mein Inneres etwas wert sei, tröstet mich noch“ 18. Der durch das Ableben Carl Augusts verstärkte Schmerz darüber bestimmt die Aussage der ersten Strophe wesentlich mit. Dahinter offenbart sich Goethes unbedingter Wunsch, den Kontakt zu Zeit und Mitwelt nicht abreißen zu lassen. In seinen Augen war das die zu fürchtende Lichtferne der Altersexistenz. Auf diesem Wege gewinnt der einfache vierte Vers die vertiefte Bedeutung unverstellter Lebensangst. Eine Gegenbewegung leitet die zweite Strophe gleich mit der entgegensetzenden Konjunktion „doch“ (V. 5) ein. Weiterhin wird die anthropomorphisierende Anrede des Mondes, gesteigert zum direkten Dialog, fortgesetzt, so daß dem Gestirn die erwünschte Gefühlsreaktion zugeschrieben werden kann („du fühlst wie ich betrübt bin“, V. 5). Naturphänomen und Ich sind somit in engste Verbindung zueinander gesetzt. Der langsam wieder erscheinende Mond ist zunächst aber nur von seinem „Rand“ her in der Art eines Sterns wahrzunehmen („Blickt dein Rand herauf als Stern“, V. 6). „Als Stern“ leuchtet er anfangs nur blinkend auf. Der Vergleich mit einem Stern fängt diesen Moment der Wiederkehr genau ein. Ebenso gibt das Adverb „herauf “ treffend wieder, wie dieses Aufleuchten von der Höhe des Dornburger Schlosses aus am Horizont von unten nach oben kommend zu erblicken ist. Mit vollem Recht wurde darauf hingewiesen, daß diese sprachliche Findung „kausal, temporal, konditional und final“ verstanden werden kann19. Immer wieder wird so deutlich, daß Goethes Dichtung sich exakter Beobachtung der Wirklichkeit verdankt. Was dann durch die Überführung in die Sprache der Kunst darüber hinaus erreicht werden kann, zeigt uns das zweite Verspaar der Strophe. Hier erfolgt nämlich der Umschlag von außen nach innen, vom angesprochenen Naturereignis zum erinnerten Liebeserlebnis („Zeugest mir daß ich geliebt bin, / Ist das Liebchen noch so fern“, V. 7/8). Das Zeugnis des Himmelslichts macht, wie richtig bemerkt wurde, den Mond zum „Garanten und Mittler“ 20 der Liebesbeziehung. In der Tat erweist sich Luna hier, mit Reinhard Baumgart zu sprechen, als „erotisches Gestirn“ 21. Sein Erscheinen wird als Naturvorgang erfahren, dann aber sogleich metaphorisch übertragen in die emotionale Ebene des individuellen Gefühlslebens. Mit der Evokation des „Liebchens“ sollte man lieber nicht einfach die naheliegende Vorstellung 116  

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des Niedlichen verbinden. Der Autor greift vielmehr, fast volksliedartig, in das Register liebend-vertrauter Nähe, die sich aller räumlichen und zeitlichen Ferne zum Trotz als haltbar erweist. Die Erfahrung, daß Liebe über alles Getrenntsein hinweg Dauer haben kann, verleiht dem Sprechenden neue Lebenskraft. Damit liegt die Verfinsterung hinter ihm. Goethe hat dazu in den „Maximen und Reflexionen“ den besten Kommentar geliefert. Dort heißt es: „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“ 22. Am Bild des nun „in voller Pracht“ (V. 10) erscheinenden Mondes geht dem lyrischen Ich in der dritten und letzten Strophe, unmittelbar veranschaulicht, die belebende Einheit zwischen Natur und Mensch auf. Diese Einheit fühlt der Sprechende in sich und kommt dadurch zur Ruhe. Der ermunternde Ruf „So hinan denn!“ (V. 9) gilt sowohl dem nun am Himmel voll sichtbar werdenden Mondgestirn wie auch der intensiv verspürten eigenen inneren Erhebung. Aufschlußreich sind die metaphorischen Beschreibungen dieses ‚Aufgehens‘ in den nächsten anderthalb Versen: „hell und heller, / Reiner Bahn, in voller Pracht“ (V. 9/10). Da ist zunächst das zunehmende Leuchten des doppelt eingesetzten und dazu noch gesteigerten Adjektivs „hell und heller“. Daneben evoziert der absolut gesetzte Genitiv („reiner Bahn“) die nun gewährleistete ungetrübte und damit sichere Fortbewegung von Mond und Ich „hinan“ in höhere Gefilde. Schließlich bildet der hinreißende Anblick des Mondes „in voller Pracht“, ausdrucksmäßig deutlich ein ergänzendes Gegenstück zu dem Suleika in den Mund gelegten „Prachterscheinen“ der Sonne23. Drei Quellen qualitativer Anhebung sind damit konkret vermittelt. Sie illustrieren die umfassende Veränderung, die sich am Himmel und im Innern des Autors abgespielt hat. Vieles spricht darum für die These Baumgarts, der in diesem an der Aufwärtsbewegung des Gestirns orientierten Strom aufladender Lebensenergie die „Kernzeile des Gedichts“ sieht24. Jedenfalls steckt darin der gedankliche Kern des Ganzen. Aber da ist noch das den Gesamttext abschließende Verspaar: „Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller, / Überselig ist die Nacht“ (V. 11/12). Mit dem „schmerzlich“ beschleunigten Herzschlag ist einerseits die ebenso bedrückende wie innige Erinnerung an den verstorbenen Carl August lebendig, andererseits zugleich die aufwühlende Reminiszenz des weit zurückliegenden Liebeserlebens mit Suleika-Marianne25. Der neu gewonnenen Lebenskraft ist es jedoch zu verdanken, daß trotz dieser schmerzlichen Gedanken nunmehr die erfüllende Naturstimmung und die damit in Einklang befindliche innere Verfassung es dem Sprechenden erlauben zu sagen: „Überselig ist die Nacht“. Das erinnert deutlich an die wiederum Suleika zugeschriebene rhetorische Frage: „Ist’s nicht der Liebe hochverklärtes All?“ 26. Eben eine solchermaßen kosmisch verankerte Lebensbestätigung, geradezu im Sinne einer Wiedergeburt, ist gemeint. Erneut gebraucht Goethe absichtvoll eine Neubildung in Gestalt der superlativi„Dem aufgehenden Vollmonde“  

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schen Vergleichsstufe „überselig“. Wenn dergestalt schmerzliche Verzweiflung sich so gründlich in höchste Seligkeit verwandelt, ist es dem Dichter wieder einmal gelungen, die „tiefen Spannkräfte des Lebendigen“ 27 zu meistern. Ihm als Künstler verleiht die so beseligend erfahrene liebende Allverbundenheit neue Ausdruckskraft. Insofern ist hier offenkundig auch das Poetisch-Schöpferische bewußt einbezogen und damit eine wichtige poetologische Grundierung des Gedichts. Einmal mehr bewahrheitet sich so der tiefe Spruch aus dem „West-östlichen Divan“: „Denn das Leben ist die Liebe / Und des Lebens Leben Geist“ 28. Ebenso bestätigt sich die damit verbundene Ermunterung Goethes, die Lebenslinien in rastloser, exemplarischer Tätigkeit immer an der Bewegung „hinan“ zu orientieren. Das ermöglichte ihm symbolisches Handeln. So gelang ihm jene seltene, von Eduard Spranger in der Festrede zum 100. Todestag Goethes 1932 angesprochene und die „selige Sehnsucht“ ablösende „selige Einheit, in der alles Vergangene gegenwärtig wurde, die Bilder aller Geliebten in Eine Gestalt verschmolzen, ja sein (Goethes) Geschick ihm stellvertretend wurde für alle menschlichen Geschicke“ 29. Im Gedicht „Dem aufgehenden Vollmonde“ hat er all dies zusammenkristallisiert. Solche Repräsentativität war dem Mann vom Weimarer Frauenplan bis an sein Lebensende eigen. Sie war Resultat ganz persönlicher Lebensarbeit. Deswegen sind ihm Leben und Werk so überzeugend gelungen.

Anmerkungen 11 WA IV.44,168 (an Knebel am 5.7.1828). 12 WA IV.44,180 (an Zelter am 10.7.1828). Carl August starb am 14. Juni 1828 während der Rückreise von einem Besuch in Berlin. Die Bestattung fand erst am 9. Juli 1828 statt. 13 WA IV.44,170 (an Boisseré am 6.7.1828). 14 WA III.11,268 (Eintragung vom 25.8.1828). 15 WA I.4,108. 16 Im Begleitbrief schrieb Goethe: „Magst du einige Noten an beiliegende Strophen verwenden, so wird michs freuen, sie neu belegt zurückzunehmen“ (an Zelter am 26.8.1828;. zit. n.: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Hrsg. v.: Max Hecker (1918). Neudruck: Bern 1970, S. 67). 17 Vgl. hierzu: HA 1,718. 18 WA I.6,190. 19 An Marianne von Willemer „treu angehörig“ am 23.10.1828 (WA IV.45,29). 10 Marianne von Willemer an Goethe am 2.11.1828. Zit. n.: Goethes Briefwechsel mit Marianne von Willemer. Neu hrsg. v. Max Hecker. 2.A. Leipzig 1915, S. 262 f. 11 MA 18.1,429 f. (Kommentar).

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12 Dort findet sich dieses einfache, variable Metrum unter der gebräuchlichen Bezeichnung ‚Schenkenstrophe‘. 13 Baumgart bezeichnet die Anrede sogar als „lyrische Befehlsgewalt über die Himmelserscheinung“: Baumgart, Reinhard: Das erotische Gestirn. In: Frankfurter Anthologie. Hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki, Bd. 14. Frankfurt/M. 1991, S. 82–84; Zitat: S.83 (Sigle: Baumgart). 14 Viëtor spricht zutreffend von der „Lebensgläubigkeit des alten Dichters“ (Viëtor, Karl: Goethes Altersgedichte. In: Euphorion 33/1932, S. 105–152; Zitat: S. 151). 15 Man denke nur an die drei folgenden Mondgedichte: „An den Mond“ > „Schwester von dem ersten Licht“, „An den Mond! > Füllest wieder Busch und Tal“, „Vollmondnacht“. 16 MA 18.1,430 (Kommentar). 17 Trunz, Erich: Goethes späte Lyrik. In: DVjs.23/1949, S.409–432, Zitat: S. 423. 18 Grumach, Renate: Hrsg.: Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. München 1959, S. 143 (Eintragung vom 4.4.1825). 19 MA 18.1,430 (Kommentar). 20 Ebd., ibid. 21 Baumgart, S.84. 22 MA 17,775 („Maximen und Reflexionen“). 23 Im Wechselgesang Hatems und Suleikas heißt es: „Die Sonne kommt! Ein Prachterscheinen!“ (WA I.6,154) 24 Baumgart, S. 82. 25 Die in der Fassung für Marianne von Willemer auftauchende Variante „Schlägt mein Herz auch schneller, schneller“ läßt diese wichtige Bedeutungslinie aus und ist deswegen weniger von Belang. 26 WA I.6,180. 27 Ortega y Gasset, José: Um einen Goethe von innen bittend. Stuttgart 1949, S. 47. 28 WA I.6,169. 29 Spranger, Eduard: Goethe. Seine geistige Welt. Tübingen 1967, S. 340.

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Eduard Mörike

„Septembermorgen“ (1827)

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in knappes Jahr vor Goethes „Dem aufgehenden Vollmonde“ gewidmeten Versen verfaßte ein gerade 23-jähriger „Pfarrgehülfe“ namens Eduard Mörike (1804–1875) ein noch wesentlich einfacher daherkommendes Gedicht. Wie selbstverständlich wird von ihm am Beispiel eines herbstlichen Naturmotivs der spielerisch-kreative Wahrnehmungsprozeß eines reflektierenden Ichs lyrisch entfaltet. Die Art, wie der junge Dichter aus der „noch im Nebel ruhenden“ Morgenlandschaft das noch nicht existierende Zielbild einer imaginierten Idealkulisse entwickelt, verrät tiefe Naturerfahrung und ebenso eine spannungsreiche Einbildungskraft. Es reicht nicht hin, in diesem vielschichtigen Gebilde lediglich ein „realistisches Gedicht“ zu sehen1; denn das ist es nicht. Der Autor gibt kein unmittelbares Erleben wieder. Er hatte andere, entschieden weitere Dimensionen im Sinn. Nicht wenige von Mörikes besten Gedichten sind schwer zu fassen. Gewöhnlich wird er einfach dem Biedermeier zugeordnet2. Daß hier aber einer herging, Anregungen der Klassik wie der Romantik aufzugreifen und diesen Orientierungshintergrund in ein ganz eigenes poetisches System zu überführen, steht einer solchen Zuordnung entgegen. Ebensowenig sollte man Mörike kurzerhand jene für viele Künstler im damaligen Deutschland bezeichnende „Abweichung im Stillen und Anpassung an die äußeren Verhältnisse“ (Schlaffer3) anhängen. Ihn kennzeichnet eher die psychische Anfälligkeit des modernen Melancholikers, den die Unruhe der Außenwelt zur Reserve gegenüber landläufiger Aktivität und vor allem zum „Rückzug in eine ästhetische Gegenwelt“ 4 treibt. Die Tätigkeit im württembergischen Kirchendienst empfand er von Beginn an als „Vikariatsknechtschaft“. Um diesem Joch zu entrinnen, ließ er sich im November 1827 aus Gesundheitsgründen vorübergehend beurlauben. Da jedoch der Versuch mißlang, als freier Schriftsteller ein Auskommen zu finden, mußte er 1829 widerwillig den Pfarrdienst wieder aufnehmen5. Als Dichter lebte und arbeitete er weithin dem Alltag enthoben. Die fernen Klänge der griechischen Antike, die Anakreontik, Goethe, Schiller und Mozart, Volkslied und Märchen lagen ihm weit näher als das Zeitgeschehen. Sein eng begrenzter Lebenskreis fand dort die ausgleichende Weite. Das gibt seinem nicht selten regional verankerten Werk eine unerwartete Weltläufigkeit. Lassen wir gleich das aus dieser Phase stammende Herbstgedicht auf uns wirken:

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Septembermorgen

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Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt In warmem Golde fließen. 6

Das Gedicht ist am 18. Oktober 1827 entstanden7. Im Folgejahr erschien der Erstdruck in der September-Ausgabe des ‚Morgenblatts für gebildete Stände‘8. Mörike hat den Text außerdem in eine Sammelhandschrift für die Schwester Dorothea (‚Dorchen‘) aufgenommen und ebenso in der Folgezeit immer wieder Briefen an Freunde beigelegt oder dort daraus zitiert9. Längst gehört „Septembermorgen“ zu den bekanntesten Beispielen seiner Dichtung. Verglichen mit üblicher Naturlyrik unterscheiden sich diese Verse von vornherein durch eine auffallend distanzierte Betrachtung des hier Sprechenden. Mörike geht nicht im Anschauen der Natur auf. Er bevorzugt die reflektierende Betrachtung. Obwohl der Text durchgängig im Präsens gehalten ist, gehört die Aussage keiner festen Zeitstufe an. Offenkundig herrscht die offene Gegenwart der Poesie. Den Reimen wie auch den regelmäßigen Versfügungen zum Trotz ist das metrische Schema gleichfalls unkonventionell. Die Verse 1 und 3–5 bestehen aus vierhebigen, die Verse 2 und 6 aus dreihebigen Jamben. Parallel hierzu ist die Reimfolge angelegt (a b a a a b). Die Vierheber enden stumpf, die den Aufbau markierenden Dreiheber dagegen klingend. Ihr kunstvolles Zusammenwirken gibt der sechszeiligen Einzelstrophe den festen Halt. Die inhaltliche Gliederung wird durch den Doppelpunkt am Ende des zweiten Verses direkt einsichtig. Zunächst ist im ersten Verspaar die Rede von dem, was „noch“ (V. 1 und 2) ist. Danach folgt in vier Verszeilen, was „bald“ (V. 3) zu erscheinen verspricht10. Die beiden adverbialen Bestimmungen gliedern die zeitliche Strukturierung des Textes in Bestehendes und Künftiges, in statisch Ruhendes und dynamisch Fließendes. Von der Bildlichkeit her bewegt Mörike sich hier in der Nähe zur Romantik. Typisch romantische Sehnsucht steckt als Antrieb etwa hinter den heraufbeschworenen Metaphern der nicht mehr „gedämpften“, sondern „herbstkräftig“ (V. 5) durchströmten Natur. Eingespannt zwischen einem realen Bild der Ruhe („ruhet noch die Welt“ (V. 1) und dem erwarteten „Fließen“ (V. 6) herbeigesehnter Eindrücke, entfaltet der Autor eine „in warmes Gold“ (V. 6) getauchte, skizzenhaft erinnernde Anspielung auf seine mit dem Freunde Ludwig Bauer wenige Jahre zuvor im Tübinger Stift herbeiphantasierte Wunschlandschaft Orplid. Insofern wird der „Septembermorgen“ dem überdinglichen Bewußtsein zum Vorschein utopischer „Septembermorgen“  

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Vollendung. Darin liegt, mit Mörike und seinem fiktiven Dichter Larkens im Roman „Maler Nolten“ zu sprechen, „das Poetische der schlichten Fabel“ 11. Das atmosphärisch prägende Eingangsbild konfrontiert den Leser mit dichtem Herbstnebel („Im Nebel ruhet noch die Welt“, V. 1). Natürlich spricht Mörike damit nicht den meteorologischen Befund des kondensierten Wasserdampfs in bodennahen Luftschichten bei windschwacher Hochdruckwetterlage an, sondern den über der Erde liegenden Wolkendunst, der, für das Auge undurchdringlich, „die Welt“ in eine dichte Nebeldecke hüllt. Solchermaßen bedeckt, befindet sie sich in Ruhelage. Eine Ahnung des Schöpfungsmorgens schwingt dabei mit. Wie in einigen Bildern Caspar David Friedrichs bedeutet das einen Bruch mit der Landschaftsauffassung des 18. Jahrhunderts, die klare Umrisse anstrebte. Als erste verbale Aussage im Text wirkt dieses „Ruhen“ der „Welt“ in gewisser Weise auch personifizierend. Freilich liegt der Hauptakzent auf der Bewegungslosigkeit einer in sich ruhenden Landschaft. Mit dem umfassenden Begriff „Welt“ nimmt der Autor eine denkbar weite ‚Umstandsbestimmung des Orts‘ vor. Absichtsvoll wird ein weltumspannendes Naturbild vorgestellt. Allerdings verweist die adverbiale Zuordnung „noch“ auf den vorläufigen Charakter dieser Stimmung. Überdies stiftet der Reim des Anfangsverses eine vorausweisende Verbindung zu den reimgleichen Versen 3–5 („Welt“, „fällt“, „unverstellt“, „Welt“). Sie wird noch verstärkt durch den voll übereinstimmenden Gleichklang am Ende der Verse 1 und 5. Durch die Reimbindung der Verse 2 und 6 unterstreicht Mörike dann in gleicher Weise den jeweiligen Schluß der beiden Teile des Gesamttexts („Wiesen“, „fließen“). Wenn Hans Egon Holthusen besonders die „vollkommene rhythmische Struktur“ des Gedichts lobte12, dachte er dabei wohl in erster Linie an diese vielfältigen Zusammenklänge. Präzisierend zum Anfangsvers wird mit dem zweiten Vers ein Nebensatz angefügt, der den vorläufigen Charakter wiederholend bekräftigt: „Noch träumen Wald und Wiesen“. Klanglich schließen sich die tragenden Substantive – „Welt“, „Wald“, „Wiesen“ – durch den Gleichklang der Anlaute (Alliteration) enger zusammen. Die Nennung von „Wald und Wiesen“ greift aus dem breiten Rahmen der „Welt“ einen konkret gefaßten und dadurch gut nachvollziehbaren Realitätsausschnitt heraus. Das beiden zugeschriebene „Träumen“ läßt sehnsüchtige Erwartung vermuten. Vor dem herannahenden Sonnenlicht steht das stille „Träumen“ des antizipierenden Bewußtseins in der Ruhe der alles verhüllenden Nebelschwaden. Ein Doppelpunkt am Ende des zweiten Verses läßt den Leser kurz innehalten. Er soll realisieren, daß ein Umschlag erfolgt, der über den einleitenden Beschreibungsrahmen hinausweist. Der dritte Vers kündigt diesen entscheidenden Wechsel an: „Bald siehst du, wenn der Schleier fällt“. Das Adverb „bald“ klärt darüber auf, daß die Veränderung unmittelbar bevorsteht. Die schwebende Betonung am Vers122  

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beginn macht den Wendepunkt noch mehr bewußt. An die Stelle von „ruhen“ und „träumen“ tritt jetzt aktives Sehen („siehst du“). Es geht also nunmehr um Klarsicht. Demnach wird eine andere Art des Sehens anempfohlen. Die Aufforderung dazu ergeht an das angesprochene „Du“. Die Frage stellt sich: Handelt es sich hierbei um eine Selbstverständigung dessen, der spricht, oder weitet sich die Ansprache auf jeden Rezipienten aus? Die Antwort kann nur lauten, daß beides gilt. Eine dermaßen offene Kommunikationssituation gehört zum ästhetischen Mehrwert des Gedichts. Jeder Adressat des Textes ist gehalten, genau dem Wortlaut der Verse zu folgen. Insofern stellt die Aufforderung zur Klarsicht unzweideutig eine poetologische Implikation dar. Was aber ist zu sehen, „wenn der Schleier fällt“? Zwar kann die Konjunktion „wenn“ temporal im Sinne von ‚sobald‘ aufgefaßt werden. Im vorgegebenen Kontext gilt indes genauso die kausale Bedeutung ‚falls‘ oder ‚unter der Bedingung, daß‘. Wir haben es mit einer konditional offenen Sachlage zu tun. Sie kann eine Realitätssituation meinen, die an Erinnertes und somit an Erfahrung anknüpft, oder aber ein utopisches Wunschbild umschreiben. Das bleibt vorderhand in der Schwebe. Zunächst scheint vieles mehr für ein klares Wirklichkeitsbild in kräftigen Farben zu sprechen. Nicht umsonst heißt es ja, daß „der Schleier fällt“, der Nebel demzufolge sich auflöst und „den blauen Himmel unverstellt“ (V. 4) dem Blick freigibt. Da zudem das Licht der Sonne „Wald und Wiesen“ „in warmem Golde“ (V. 6) erscheinen läßt, ersteht der reine Eindruck eines erfüllten Herbstmorgens. Haben wir es demnach doch mit einem realistischen Gedicht zu tun? Ja und nein! Ja, weil offenkundig die sinnliche Erfahrung erfüllter Herbstschönheit intensiv mitschwingt. Nein, weil das nur punktuell zureicht. Da ist nämlich die von Mörike eingebrachte Neuprägung „herbstkräftig“ („Herbstkräftig die gedämpfte Welt“, V. 5). Das aktivierende Adjektiv ist originärer Bestandteil der poetischen Reflexion des Autors und damit Dreh- und Angelpunkt des Gedichts. Wiederum, wie schon in Vers 3, hebt der Autor gerade dieses Wort durch schwebende Betonung aus dem Kontext heraus. Reiner Wild hat darauf hingewiesen, daß der Neologismus auf eine „Neuheit der Wahrnehmung“ 13 zielt, und verweist dazu noch auf das ergänzende Adjektiv „unverstellt“. In Verbindung mit dem Schlußwort „fließen“ kommt so am Ende ein aktivierendes Präsens ins Spiel und damit die Wende zur Durchbrechung der Realität. Mit der „in warmem Golde fließenden Welt“ (V. 5/6) wird ein höheres, geradezu magisches Stadium erreicht. Die im Zuge der Reflexion erfahrene „herbstkräftige“ Energie bringt hinter dem Erlebniswirklichen der Natur deren innere Gestalt und Bedeutung zum Vorschein. Wo sonst mit dem Herbst bestenfalls Ernte, meist jedoch beginnendes Altern, Schutzbedürftigkeit und Todesnähe assoziiert wird, bekennt Mörike sich zu menschlicher Weiterentwicklung durch Selbststeigerung in organischer Einheit mit der Natur. Er versteht die objektiven Signaturen „Septembermorgen“  

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des „blauen Himmels“ und der „in warmem Golde fließenden Welt“ als qualitative Leitbilder im Lebensprozeß. Aus dem „Träumen“ in der „gedämpften Welt“ wird nun ein mitreißender Tagtraum humaner Verwirklichung als Spiegel der „herbstkräftig“ aufgeladenen Septemberlandschaft. Mörike nimmt damit im Grunde das vorweg, was der Philosoph Ernst Bloch das „Ideal des unbekannten Menschen“ nennt, nämlich „eine Vollkommenheit, die dem Bedürfnis der Hoffnung utopisch entspräche“ 14. Sie herbeizuführen, war ein Grundanliegen des Dichters. Mit der Darstellung des Herbstmorgens als einer poetischen Ideallandschaft will er den Leser aus der „verstellten“ und „gedämpften Welt“ herausreißen, ihn gleichsam zum mitproduzierenden Natursubjekt erheben. Darum teilt er sein Zielbild auf dem Wege gedanklich „fließender“ lyrischer Erfahrung mit, „als wäre es wirklich“ 15. Sein poetologisches Wirkungskonzept einer „Funktionalisierung von Naturphänomenen“ 16 hat der befreundete Friedrich Theodor Vischer in anderem Zusammenhang wie folgt genau beschrieben: „Der lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte, in dem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, daß er im Sagen verstummt“ 17. Mit den Versen zum „Septembermorgen“ ist ihm die Umsetzung dieses Programms in seltener sprachlicher Schönheit überzeugend gelungen. Für uns geht es nun darum, das Unausgesprochen-Geklärte aufzunehmen und in uns zu verarbeiten zu anderem Sehen, zu anderem, „herbstkräftig“ angereicherten Leben.

Anmerkungen 11 Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3: Die Dichter. Stuttgart 1980, S. 746. 12 So weist beispielsweise Strack Mörike „biedermeierliche Geborgenheit“ zu (Strack, Friedrich: Wehmütige Liebeserwartung in Mörikes früher Lyrik. Eine Analyse des Gedichts ‚Im Frühling‘. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 4: Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus. Hrsg. v. Günter Häntschel (= RUB 7893). Stuttgart 1983, S. 83–92 (Zitat: S: 85). 13 Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München, Wien 2002, S. 62 14 Wild, Inge und Reiner (Hrsg.): Mörike-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004, Vorwort, S. VII (Sigle: MHB). 15 Mörike konnte die mit den Brüdern Franckh, den Stuttgarter Herausgebern der ‚Damenzeitung‘, getroffene Absprache, für monatlich 50 Gulden regelmäßig Gedichte und

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kurze Beiträge zu liefern, nicht einhalten, weil er seinem ganzen Temperament nach dem damit verbundenen Zeitdruck nicht gewachsen war. Mörike, Eduard: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Hubert Arbogast, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer, Bernhard Zeller. Bd. I.1. Stuttgart 2003, S. 144 (Sigle: HKG). So die Angabe im Mörike-Kommentar zu sämtlichen Werken von Helga Unger. München 1970, S. 88. Das ‚Morgenblatt für gebildete Stände‘ erschien von 1807–1865 ( Jg. 1–59) im CottaVerlag. Laut ‚Mörike-Kommentar‘ erfolgte die Veröffentlichung des Gedichts „Septembermorgen“ am 12. September 1828 in Nr. 220. Damals war der Mörike wohlgesinnte Publizist Wolfgang Menzel für den Literaturteil zuständig. Vgl. hierzu: MHB, S. 112. Wenig spricht für den Vorschlag Dagmar Barnouws, eine Gliederung von jeweils drei Versen anzunehmen. Ebensowenig überzeugend ist ihre These, „nicht ein einfach sukzessives Verhältnis in der Zeit“ zu unterstellen, sondern von einem „sich-gegenseitig-die-WaageHalten“ auszugehen (Barnouw, Dagmar: Entzückte Anschauung. Sprache und Realität in der Lyrik Eduard Mörikes. München 1971, S. 126. HKG 3,151 (‚Maler Nolten‘, Erster Teil). Holthusen, Hans Egon: Eduard Mörike in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1971, S. 56. MHB, S. 113. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 3. Frankfurt/M. 1967, S. 1515. Killy, Walther: Wandlungen des lyrischen Bildes (1956). 8.A. Göttingen 1998, S. 89. MHB, S. 76 (Georg Braungart: Artikel: Naturlyrik). Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Hrsg. v. Robert Vischer. München 1923, 6, S. 201.

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„Mondnacht“ (um 1835)

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on vielen werden Eichendorffs „Mondnacht“-Verse als Inbegriff romantischer Dichtung verstanden. Manch einer sieht darin sogar „eines der schönsten Gedichte in deutscher Sprache“ 1. Beides ist durchaus zutreffend. Allerdings darf man dabei eines nicht vergessen: Diese Verse sind zu einer Zeit entstanden, in welcher die Romantik bereits im Ausklingen begriffen war. Der liberal-konservativ gesinnte Eichendorff (1788–1857) stemmte sich gegen die Entwicklungen jener Jahre, weil sie seinen innersten Überzeugungen zuwiderliefen. Die Literaturszene befand sich in völligem Umbruch. 1832 war Goethe gestorben. Heine befand sich seit 1831 im Pariser Exil. 1835, also zum Zeitpunkt der Entstehung des Gedichts, erschienen Grabbes „Hannibal“ und Büchners „Dantons Tod“. Die Schriften der Autoren des Jungen Deutschland (Gutzkow, Laube, Mundt, Wienbarg) wurden im selben Jahr von den Regierungen der Metternichschen Restauration verboten. Auf den Bühnen sah das zeitgenössische Publikum begeistert Ritterdramen, Schicksalstragödien und rührselige oder lustige Biedermeierstücke. Nicht zu Unrecht beklagte Karl Gutzkow den damaligen Zustand der gegenwärtigen Literatur mit den Worten: „Es ist in Deutschland eine eigne Verwirrung eingetreten, eine Art Sackgasse, in die man sich verlaufen hat“ 2. Auch in politischer Hinsicht war es eine Übergangszeit. Die Pariser Juli-Revolution hatte 1830 die Bourbonenherrschaft beendet und den ‚Bürgerkönig‘ Louis Philippe eingesetzt. Durch ganz Europa ging ein Hauch von jener revolutionären Begeisterung, wie sie Eugène Delacroix mit seinem Gemälde „La liberté guidant le peuple“ (1830) allegorisch ins Bild setzte. Um so größer war dann die Enttäuschung der demokratisch Gesinnten, daß aus der ersehnten Befreiung nichts wurde. Im Zuge der beginnenden Industrialisierung stellte sich die soziale Frage in aller Schärfe. 1834 wurde der ‚Deutsche Zollverein‘ gegründet und im Jahr danach die erste deutsche Eisenbahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth eröffnet. Damit waren auch hierzulande die Grundlagen geschaffen für ein bürgerlich-kapitalistisches Wirtschaftssystem. An die Stelle der herkömmlichen Ständeordnung trat die Klassengesellschaft. Treffend sprach der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt für diese Periode vom „Provisorischwerden aller Verhältnisse“ 3. Eichendorff spürte ebenfalls diese Ambivalenz. Vielsagend kritisierte er die „langsam zersetzende und zerstörende Gewalt der Verhältnisse“ 4. 126  

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Dieser irdischen Misere versuchte er mit seiner Kunst entgegenzuwirken. Das erklärt seine zunehmend betonte „Sehnsucht nach dem Heiligen“ 5. Organisch entwickelte sie sich aus der ihm eigenen, tief verwurzelten, aber keineswegs orthodoxen katholischen Gläubigkeit. Unbeirrt blieb er als Dichter bei seiner Ansprache von Natur und Gemüt, Poesie und Religion. Die von Emrich angestellte Beobachtung, wonach in den Gedichten Eichendorffs „die wahre Grundmelodie (…) irdisch und überirdisch zugleich“ ist6, trifft genau das hier Gemeinte. Das Gedicht „Mondnacht“ hat der Autor in der Handschrift ausdrücklich der Abteilung der „Geistlichen Gedichte“ zugeordnet7. Es wurde zu seinen wohl bekanntesten Versen. Hier der in vielen Ausgaben und Anthologien, ferner ebenso durch zahlreiche Vertonungen8 verbreitete Text: Mondnacht Es war als hätt’ der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nur träumen müßt’. 5

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Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus. 9

Für die Entstehung des Gedichts wird die Zeit um 1835 angenommen10. Genaue Angaben zur Datierung fehlen. Im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe wird angedeutet, daß von drei Bearbeitungsstufen auszugehen ist. Die wenigen Belege hierzu zeigen jedoch, daß man sich guten Gewissens auf die Druckfassung konzentrieren kann11. Um 1835 – das ist noch zu der Zeit, in der Eichendorff, der enterbte Edelmann, als langjähriger „ministerieller Hilfsarbeiter“ 12 ein materiell eher kärgliches Dasein fristete. Gedruckt wurde der Text erstmals im September 1837 im ‚Deutschen Musenalmanach für 1838‘ sowie in der in Berlin erscheinenden Gedichtsammlung13. Eine ganze Reihe der Grundwörter des Eichendorffschen lyrischen Repertoires tauchen auch hier auf. Worte wie Himmel, still, Blüten, träu„Mondnacht“  

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men, Luft, Felder, sacht, rauschen, Wälder, Sterne, Nacht, Seele und Haus bilden feste Bestandteile seiner „symbolischen Landschaft“ (Seidlin14). Zu einem guten Teil bringen sie eine deutlich spürbare transzendierende Sehnsucht zum Ausdruck. Wir vernehmen die Grundmelodie eines Lyrikers, der überzeugend niederschreiben konnte: „Der Dichter ist das Herz der Welt“ 15. Deswegen ist Eichendorff, wie Adorno bemerkte, „allen Einwänden preisgegeben“ und „dennoch gefeit gegen jeg­ lichen“ 16. Die Formlösung des Gedichts ist liedhaft einfach. Ihr Schema war gerade bei den Romantikern besonders beliebt. Novalis, Tieck, Arnim und Brentano haben es vielfach verwendet. Vertraut ist diese Form jedem Freund von Kunst- und Volkslied durch Beispiele wie etwa „Am Brunnen vor dem Tore“ aus dem Werk des seinerzeit viel gelesenen, uns eher noch durch die Vertonungen Schuberts vertrauten Wilhelm Müller. Eichendorff praktiziert in „Mondnacht“ eine ausgewogene Anwendung des Schemas mit drei Strophen aus dreihebigen, jambisch ansteigenden Verszeilen. Sie sind im Kreureimmuster jeweils zu Vierzeilern zusammengefügt und am Vers­ ende mit regelmäßig wechselnden zweisilbig-klingenden und einsilbig-stumpfen Kadenzen versehen. Die Reime erscheinen dem Gesamtduktus der Verse bruchlos eingefügt17. Jede der Strophen besteht aus einem einzigen Satz. Daraus ergibt sich der klare dreigliedrige Aufbau des Gedichts. Auffallend sind die Rahmenstrophen im Konjunktiv, also in der Wunschform gehalten, während die Mittelstrophe vom Indikativ, der Wirklichkeitsform, geprägt ist. Die Gesamtaussage erfolgt im Präteritum, mithin in der Zeitstufe, die ein vergangenes Geschehen erfaßt und insofern aus gewonnener Distanz berichtet. Geschildert wird der Augenblick einer beglückend erfahrenen Sehnsuchtsstimmung besonderer Art. Wir erleben das Ganze mit dem „Blick des impliziten Betrachters“ 18. Das lyrische Ich bespricht, was das Erlebnis der nächtlichen Natur in ihm auslöste, ohne daß es ausdrücklich als Ich in Erscheinung tritt. Mit der erst gegen Ende eingebrachten Wendung „meine Seele“ (V. 9) entschied sich der Autor für eine ganz zurückgenommene Art der personalen Zuordnung des Sprechens. Die Rahmenstrophen beschreiben den individuellen Seelenraum, während die Mittelstrophe auf das die Seelenbewegung auslösende Naturbild konzentriert bleibt. Mit der Wahl der Überschrift stellt sich Eichendorff in die lange Tradition der Mondgedichte. Das Wort „Mondnacht“ taucht bei ihm bereits im Gedicht „Liebe in der Fremde“ auf19. Auch dort geht es um die kosmische Liebe. Kleßmann hat mit gutem Grund darauf hingewiesen, daß damit ein „irdischer Spiegel“ des Himmlischen gemeint ist20, mithin das spannungsvolle Kräftefeld zwischen Ich und Universum, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Demzufolge geht es um die Wiedervereinigung des in irdischer Zerrissenheit Getrennten, um Versöhnung und 128  

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Ausgleich. Dafür gibt die „Mondnacht“ den angemessenen Rahmen ab. Goethes Formulierung von der „seligen Sehnsucht“ beschreibt somit das Zentralmotiv des Gedichts. Interessanterweise tauchen die Worte ‚Mondnacht‘ und ‚Mond‘ im Text nicht mehr auf21. Dort geht es darum, die erhellenden Erfahrungen einer „Mondnacht“ im Naturrahmen innerlich zu verarbeiten. In der ersten Strophe legt gleich zu Anfang ein durch den Zeilensprung herbeigeführter Doppelvers den Grund für alles weitere: „Es war als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküßt“ (V. 1/2). Ein Wunschbild wird als reales Geschehnis entfaltet. Mit der uralten Erzählformel „es war“ setzt der lyrische Bericht ein. Danach wird im Konjunktiv vorgeführt, was sich im beseligenden nächtlichen Naturgeschehen ereignet hat. Ein auffallender Gleichklang der Anfangskonsonanten beider Leitwörter des ersten Verses („hätt‘“ – „Himmel“) lenkt die besondere Aufmerksamkeit darauf. Die Konjunktion „als“ drückt in diesem Fall, ähnlich wie die Wendung ‚als ob‘, eine bildlich vergleichende Annahme aus. Das bedeutet, daß nur zeichenhaft vermittelt werden kann, was von der transzendenten Realität ausgeht. Hier ist es der „stille“ Kuß den die „Erde“ vom „Himmel“ empfängt. Gemeint ist damit ein klarer Vergleich zwischen dem sich liebend zur Erde herabsenkenden Nachthimmel und dem dadurch ausgelösten Seeleneinklang im Innern des Sprechers. Dem entspricht genau das Bild des „stillen Geküßt“-Werdens. Dadurch klammert der Dichter von vornherein jede erotisch-sexuelle Heftigkeit aus. Auffallend ist, daß in den meisten Deutungen der Himmelskuß als Mythologem interpretiert wird. Viel Gelehrtenfleiß wurde darauf verwendet, darin die „ehrwürdige heidnische Tradition (…) der Hochzeit von Uranos (Himmel) und Gaia (Erde)“ zu sehen22. Oder anders: „Eichendorff hat den archaisch-antiken Trennungsmythos von Himmel und Erde (…) unter Bezug auf die eigene poetische Herkunft aus der romantischen Bewegung und ihrem Postulat einer ‚neuen Mythologie‘ aufgehoben und in eine christliche Bildlichkeit übersetzt“ 23. Nichts davon steht im Text Eichendorffs. Derartige, bloß andeutende Hinweise, die zwangsläufig unvollständig bleiben, erbringen bestenfalls erhellende parallele Motivvergleiche. Eichendorff indes beschreibt weder eine mythische Vereinigung noch einen aufgehobenen Trennungsmythos, sondern die erhebende Erfahrung dessen, der an einer dunklen Grenze steht und den plötzlich in der nächtlichen Harmoniestimmung ein sicheres Gefühl der Geborgenheit überkommt. Durch die Ahnung unendlich-metaphysischer Liebe geht ihm schlagartig die universale Sympathie in der Natur auf. Diese Erkenntnis wird in poetischer Beschwörung festgehalten. Mehr ist dem Text nicht zu entnehmen, aber natürlich auch nicht weniger. Das Enjambement zwischen den beiden Folgeversen sorgt für einen engen Zusammenschluß zum ergänzenden Satzglied für das erste Verspaar. Die einleitende Konjunktion „daß“, als kausales Attribut zum Subjekt gesetzt, stellt die Verbindung „Mondnacht“  

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zum vorausgegangenen Text her: „Daß sie im Blütenschimmer / Von ihm nur träumen müßt“ (V. 3/4). Mit dem Neologismus „Blütenschimmer“ ist die verzaubernde Veränderung des Naturrahmens im Mondlicht angesprochen. Die jahreszeitliche Anspielung auf den Frühling ruft lediglich dazu auf, Erneuerung und Wiederkehr unmittelbar in ein vertrautes Bild zu setzen24. Das innerlich Wahrgenommene wird so zum assoziativen Symbol innerer Erfahrung. Der irdische „Blütenschimmer“ spiegelt die vom Himmel kommende Erhellung wider. Es ist ja die Erde, die hier zu himmlischem „Träumen“ angehalten wird und mit ihr derjenige, der hier spricht wie auch diejenigen, zu denen er spricht. Mit Recht wurde hierzu festgestellt, daß es dem Autor um die „Verwandlung der Nacht in eine Traumwelt“ 25 geht. Der französische Komponist Hector Berlioz äußerte einmal seinen Enthusiasmus für das Allegretto in der achten Symphonie Beethovens mit den Worten: „Es fällt ganz vom Himmel in den Gedanken des Künstlers“. Eben das geschieht hier mit Eichendorff und, ihm folgend, mit uns. Zwei dynamisch aktivierende Verben bestimmen den Ausdrucksgestus der ersten Strophe: ‚küssen‘ und ‚träumen‘. Demgegenüber beschreibt die zweite Strophe die in sich ruhende Natur. Ohne Enjambement, in zeilenmäßig geregelter, parataktischer Abfolge entfaltet der Autor im Indikativ die Elemente der Naturkulisse: „Die Luft ging durch die Felder, / Die Ähren wogten sacht, / Es rauschten leis die Wälder, / So sternklar war die Nacht“ (V. 5–8). Bewußt bilden diese Verse als Mittelstück gleichsam die Achse des Gedichts. Zum Adjektiv des zweiten und elften Verses („still“) kommen jetzt gleich drei weitere Adjektive und damit eine intensive Charakterisierung des Naturbilds: „sacht“ (V. 6), „leis“ (V. 7) und „sternklar“ (V. 8). Durchweg tragen sie dazu bei, die Ruhe des „stillen“ Himmelskusses auf das „Träumen“ in der Natur zu übertragen. Daß mit den „wogenden Ähren“ die Assoziation sommerlichen Reifens einhergeht, unterstreicht die seelische Bewegung, um die es Eichendorff zu tun ist. Gleiches gilt für den Luftzug, der durch die „Felder“ geht, das „Rauschen“ der „Wälder“, übrigens eine Lieblingswendung des Dichters, und die an den Himmelskuß erinnernde „sternklare Nacht“. Deren Intensität tritt durch das adverbial gebrauchte ‚so‘ („so sternklar“) deutlicher hervor. Im Verein erzeugen die Elemente der Mittelstrophe – Luftbewegung der Felder, Ährenwogen, Waldesrauschen und Leuchten der Sterne – die vom Mondlicht erhellte und von Nachtwind durchwehte Atmosphäre seelischer Verzauberung. Spürbar bekommt der Sternhimmel hinweisenden Charakter. Er wird für den Sprechenden zum Zielbild. Nach Himmelskuß und „sternklar“ überstrahlter Traumlandschaft folgt in der dritten Strophe die Erhebung eines Seelenflugs: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus“ (V. 9–12). Die einleitende Konjunktion „und“ hat ersichtlich aufzählende Funktion. Der poetisch gefaßte Seelenbericht wird weitergeführt. Erst an diesem Punkt gibt sich der 130  

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Dichter als sprechendes Ich zu erkennen („meine Seele“). Nachdem ihm die Natur zum sprechenden Zeichen geworden ist, kann er nun seinen seelischen Aufschwung bekunden. Mit einem typischen Bild der Romantik konkretisiert sich das geistige Flugmanöver. Dabei konnte sich Eichendorff an Wackenroder orientieren. In den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797) steht über den Tonkünstler Joseph Berglinger zu lesen: „da war es ihm, als wenn auf einmal seiner Seele große Flügel ausgespannt, als wenn er von einer dürren Heide aufgehoben würde, (…) und er zum lichten Himmel emporschwebte“ 26. Und auch Mörike hat in seinem 1828 verfaßten Gedicht „Im Frühling“ die gleiche Metapher gebraucht: „Die Wolke wird mein Flügel, / Ein Vogel fliegt mir voraus“ 27. Der gleiche Schwung gesuchter Einheitserfahrung beflügelt hier im direkten Wortsinn die Seele. Das Enjambement verleiht dieser Bewegung die nötige Dynamik („Und meine Seele spannte/ Weit ihre Flügel aus“). Der geräuschlose Flug erfährt durch die Häufung der ‚fl‘-Laute eine akustische Hervorhebung („Flügel“ – „flog“ – „flöge“). Sie bestimmt das Klanggefüge der gesamten Strophe wesentlich mit. Hinzu kommt erneut der Konjunktiv („als flöge“). Damit schlägt der Autor einen Bogen zum Wunschmodus des Anfangsverses („als hätt’“). Wiederum bewegt sich die Aussage in einer Traumwelt zwischen der irdischen Realität und der Transzendenz. In diesem Zwischenzustand des Gleichgewichts und der Stille ist der träumerische Seelenflug angesiedelt. Er hat nichts Himmelstürmendes, denn er läßt die Seele „durch die stillen Lande“ fliegen. Sein Ziel ist die Heimat, wo jedermann sich aufgehoben fühlen kann. Für einen Moment wird so das Verlorene als unverloren erfahren. Ich und Natur scheinen harmonisch miteinander verschmolzen zu sein. Im Traumzustand des Seelenaufschwungs ist das im Leben unerreichbare Ziel plötzlich ganz nah, – wenigstens als „Vorgeschmack jener andern Welt“, in der, wie Kleßmann richtig anmerkte, „Geborgenheit, Frieden, Stille und Glück“ herrschen28. Eichendorff sah darin den beruhigenden Weg „nach Haus“. Dergestalt schuf er Platz für das selbstentäußernde Bewußtsein, das sich durch innere Kraft wenigstens im Gefühlserlebnis über den Alltag zu erheben vermag. Da jedoch der Gesamttext im Präteritum abgefaßt ist, gehört logischerweise auch der Seelenflug der Vergangenheit an. Indes wirkt die gemachte Erfahrung, lyrisch vermittelt, unauslöschlich nach. Das Ich hat am Ende eine existentielle Wandlung durchlaufen, die ihm erhalten bleibt. Diese Langzeitwirkung kommt, Adorno hat darauf hingewiesen, „nicht unmittelbar gemeint“ zum Ausdruck. Sie wird, wie er weiter betont, „mit einem Akzent unfehlbaren metaphysischen Takts bloß gleichnishaft angesprochen“ 29. Daß dahinter die Möglichkeit produktiven Bewahrens steckt, macht die Beschäftigung mit Eichendorffs kunstvoll umgesetztem Seelenflug für uns heute so wertvoll und dringend notwendig.

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Anmerkungen 11 Sautermeister, Gert (Hrsg.): Gedichte von Joseph von Eichendorff (= RUB 17528). Stuttgart 2005, S.  8 (Einleitung; Sigle: Sautermeister). Oskar Seidlin äußerte sich ähnlich. Er sprach von einem „der zehn vollendeten Wunder deutscher Sprache“ (Seidlin, Oskar: Eichendorfs symbolische Landschaft. In: Eichendorff heute. Stimmen der Forschung. Hrsg. v. Paul Stöcklein. Darmstadt 1966, S. 218–241; Zitat: S. 234). 12 Gutzkow an Ludwig Börne am 2.10.1835. Zit. n.: Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Hrsg. v. Günter Heintz (= RUB 9904). Stuttgart 1979, S.239 (Selbstzeugnisse). 13 Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. 7.A. Stuttgart 1947, S. 78. 14 Schiwy, Günther: Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie. 2.A. München 2007, S.510. (Sigle: Schiwy). 15 Schiwy , S. 311. 16 Emrich, Wilhelm: Dichtung und Gesellschaft bei Eichendorff. In: Stöcklein, S. 57–65; Zitat: S. 63. 17 Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe (Sigle: HKA). Hrsg. v. Wilhelm Kosch und August Sauer, weitergeführt von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Bd. I/1: Gedichte. Erster Teil: Text. Hrsg. v. Harry Fröhlich und Ursula Regener. 1993; Bd. I/2: Gedichte. Erster Teil: Kommentar. Hrsg. v. Wolfgang Kron und Harry Fröhlich. 1994; hier: HKA I/2, S. 563. 18 Allein im 19. Jahrhundert sind bereits 41 Vertonungen des Gedichts nachzuweisen, darunter die von Johannes Brahms. Die bekannteste Komposition stammt von Robert Schumann aus dem Jahr 1840 (Liederkreis. op. 39 für Singstimme und Klavier, 5. Lied). 19 HKA I,1, S. 327 f. 10 Bei den meisten Herausgebern findet sich die Angabe „um 1835 entstanden“. 11 Ursprünglich stand im vierten Vers das Wort „traumestrunken“. Vers 6 lautete zunächst: „Hört ich die Ströme gehn“, V. 7: „Es rauschten kaum die Wälder“, V. 8: „Es schien der Mond so schön“. Das sind durchweg erste Ideen, die dann in der Endstufe wesentlich verbessert wurden. Vgl. hierzu: HKA I/2, S. 562 ff.. 12 Schiwy, S.  482. Erst 1840 besserte sich die Situation ein wenig durch die Ernennung Eichendorffs zum Geheimen Regierungsrat beim Oberzensurkollegium im Preußischen Kultusministerium. 13 Gedichte von Joseph Freiherrn von Eichendorff. Berlin: Duncker und Humblot. 1837. 14 Seidlin (s. Anm. 1).. 15 HKA III: Ahnung und Gegenwart. Hrsg. v. Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. S. 330. 16 Adorno, Theodor W.: Zum Gedächtnis Eichendorffs. In: Noten zur Literatur I. (= BS 47). Frankfurt/M. 1958, S. 105–143; Zitat: S. 108 (Sigle: Adorno). 17 Zwei ‚unrein‘ erscheinende Reime („Himmel“ – „schimmer“ und „Felder“ – „Wälder) stören in keiner Weise die Klangharmonie. 18 Frühwald, Wolfgang: Die Erneuerung des Mythos. Zu Eichendorffs Gedicht ‚Mondnacht‘. In: Gedichte und Interpretationen 5: Klassik und Romantik. Hrsg. v. Wulf Segebrecht (= RUB 7892). Stuttgart 1984, S. 397 (Sigle: Frühwald).

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19 Dort lautet der 11. Vers des dritten Teils: „In der Mondnacht linde Wellen“ (HKA I/1, S. 40). 20 Kleßmann, Eckart: Irdischer Spiegel. In: Frankfurter Anthologie. Hrsg. v. Marcel ReichRanicki, Bd. 9, S. 63–65 (Sigle: Kleßmann). Vgl. hierzu auch: Krummacher, Hans-Henrik: Das ‚als ob‘ in der Literatur. Erscheinungsformen und Wandlungen einer Sprachfigur der Metaphorik von der Romantik bis zu Rilke. Köln, Graz 1965, S. 1 ff. 21 Die banale Versvariante aus einem Entwurf „Es schien der Mond so schön“ wurde zum Glück fallen gelassen (vgl. hierzu: Anm. 11).. 22 Bormann, Alexander von: Aufschwung und Untergang, Einklang und Dissonanz. In: Sautermeister, S. 18–31; Zitat: S. 20. Auch Kleßmann spricht von den „uralten Schöpfungsmythen, die in dieser Mondnacht wieder wach werden“ (Kleßmann, S. 64). Beide verfehlen damit den Stellenwert des Himmelskusses im Gedicht. 23 Frühwald, S. 400 f. 24 Jahreszeitliche Spekulationen sollte man besser unterlassen, zumal wenn dann auch noch die „blütenvolle Frühlingsnacht“ und der „Ährenduft des Sommers“ als „kleine Ungenauigkeit“ vermerkt werden (gegen Kleßmann, S. 64). 25 Schwarz, Peter Paul: Aurora. Zur romantischen Zeitstruktur bei Eichendorff. Bad Homburg 1970, S. 87 f. 26 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Otto Conrady. (= rororo 506/507). Reinbek bei Hamburg 1968, S. 90. 27 Mörike, Eduard: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. Jost Perfahl. München 1967–70, Bd. 1, S. 684 (V.2/3).. 28 Kleßmann, S. 65. 29 Adorno, S. 112.

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„Auf eine Lampe“ (1846)

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ast zwei Jahrzehnte nach „Septembermorgen“ schrieb Mörike einen lyrischen Text, der des Titels wegen von einigen Interpreten als erstes ‚Dinggedicht‘ der deutschen Literatur bezeichnet wird. Sein Titel lautet in der Tat: „Auf eine Lampe“. Wir müssen sehen, was im Gedicht daraus gemacht wurde. Vieles war in der Zwischenzeit im Leben des dichtenden „Geistlichen wider Willen“ 1 geschehen. Bernhard Zeller beschreibt seine schwierige existentielle Situation zutreffend wie folgt: „Der Dorfpfarrer ist kein Pastor üblicher Art, er ist ein Dichter, verletzlich, von Ängsten und Lebensfurcht bedroht, wechselnd in seinen Stimmungen, ein grämlicher Hypochonder zuweilen, (…) belastet zudem mit einer sehr labilen Gesundheit und ohne jede Begabung für das, was praktische Lebenstüchtigkeit heißt“ 2. Erst 1834 bekam der langjährige Pfarrverweser eine feste Stelle in Cleversulzbach, wo der psychisch Anfällige eine stark zurückgezogene Junggesellenexistenz mit Mutter und Schwester Clara führte. Der Tod der Mutter 1841 sowie Unterschlagungen und andere Vergehen der Brüder führten zu schweren seelischen und materiellen Belastungen. Viel über seine Leiden sagen die „zwiespältigen“ Verse einer kritischen Selbstverständigung: „Hassen und lieben zugleich muß ich. – Wie das? – Wenn ich’s wüßte! / Aber ich fühl’s, und das Herz möcht zerreißen in mir“ 3. 1843 erreichte er endlich die seit langem erwünschte vorzeitige Pensionierung aus Krankheitsgründen und zog, von kurzen Zwischenaufenthalten abgesehen, nach Bad Mergentheim, wo er – ohne Amtspflichten und andere Zwänge – bis zur Übersiedlung nach Stuttgart 1851 blieb. Die poetische Arbeit konzentrierte er zunehmend auf die Lyrik. Seit den dreißiger Jahren setzte sich Mörike intensiv mit griechischer und lateinischer Dichtung wie auch mit der klassischen Kunstauffassung auseinander. Mit eigenen Übersetzungen vertiefte er diese Annäherung. Mehr und mehr nahm er den Formenschatz antiker Metren, insbesondere die epigrammatische Tradition, in sein Schreiben auf. Ein Beispiel dafür ist das folgende Gedicht: Auf eine Lampe Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. 134  

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Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. Wie reizend Alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form – Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. 4

Mörike hat diese Verse im September 1846 verfaßt5. Schon in der Ausgabe vom 30. November erschien der Text erstmals gedruckt im ‚Morgenblatt für gebildete Leser“ 6. Es war, im Rahmen des Werks betrachtet, das Jahr des Erscheinens der „Idylle vom Bodensee“. Politisch und gesellschaftlich gesehen, steht die Zeit um 1846 für das baldige Ende jener bedrückenden Phase der durch die Metternichsche Restauration lange zurückgehaltenen liberalen Hoffnungen, die sich dann zwei Jahre später in den Revolutionen des Jahres 1848 in Paris, Italien, Wien, Budapest und Berlin, leider vergeblich, Bahn zu brechen versuchten. Aller Zurückhaltung seines unpolitischen Wesens zum Trotz nahm der Dichter interessiert Anteil an diesen Entwicklungen. Im März 1848 schrieb er in einem Brief: „Bedenkt man das Benehmen der Fürsten bis auf die lezte Zeit (…) so muß man sich freuen daß ihnen nicht einmal der Schein einiger Sympathie für das siegreiche Volk u. seinen Willen übrig blieb“ 7. Auf seine literarische Arbeit hatte diese Bekundung freilich keinen Einfluß. Mit Recht betonen die Herausgeber des „Handbuchs“, daß Mörikes „Sensibilität für die Zeitumstände weniger sozial oder politisch als vielmehr psychologisch ausgerichtet war“ 8. Seit dem Einzug 1845 in das Haus der Margarethe Speeth, einer Freundin seiner Schwester, interessierte ihn mehr die sich zur Liebe intensivierende Freundschaft zu dieser Frau, die er dann 1851 heiratete. Gesellschaftliches Engagement war Mörikes Sache gewiß nicht. Eher suchte er das Zeitüberdauernde. Doch nun zum Gedicht. Sechshebige Jamben fügte der Autor zu einem weit ausgreifenden, reimlosen Strophengebilde aus zehn Verszeilen zusammen. Die metrische Prägung folgt, exakt messend, dem antiken Dramenvers, dem jambischen Trimeter9. Damit schafft Mörike sprachlichen Gleichklang. Der jeweilige Ausgang der Verse mit einer betonten Silbe markiert die Einschnitte zwischen den Versen scharf. Um so mehr fallen die beiden Enjambements auf (V. 4/5 und V. 7/8). Ebenfalls zu bemerken ist die Tendenz der Verse zu epigrammatisch-gedanklicher Konzentration in der Art eines Sinnspruchs. Mörike nutzt das für sein reflektierendes lyrisches Sprechen, auch wenn er sich hier, den begrenzten Rahmen einer Inschrift sprengend, über zehn Verse verbreitet. Wie die Interpunktion anzeigt, entfaltet er seine Gedanken in übersichtlich gegliederter Form. Zwei Sätze und eine fast dialogisch „Auf eine Lampe“  

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angelegte Redefolge in den letzten vier Versen bilden inhaltlich vier Teile. Denn die vier Schlußzeilen werden durch einen Gedankenstrich halbiert, so daß sich insgesamt folgendes Gliederungsschema ergibt: 3 + 3 + 2 + 2. Der erste Satz situiert das Objekt der Darstellung, die „schöne Lampe“, im räumlichen Erscheinungsbild eines „fast vergeßnen Lustgemachs“ (V. 1–3), während im zweiten Satz eine genauere Beschreibung des „schmückenden“ Gegenstandes vorgenommen wird (V. 4–6). Die zwei Hälften des dritten Teils werden durch einen bewundernden Ausruf eingeleitet („wie reizend“). Der syntaktisch komplexe dritte Satz zieht sich bis mitten in die neunte Verszeile hin. Der am Schluß des achten Verses eingefügte Gedankenstrich trennt die direkte Beschreibung der durch die „schöne Lampe“ im Sprecher ausgelösten Begeisterung über diese „ganze Form“ (V. 7/8) vom auswertenden Teil (V. 9/10) ab. Nach einer ersten Folgerung ist im zweiten Verspaar ein kurzer Fragesatz eingefügt, dem dann noch der bilanzierende Schlußvers folgt10. Hier wird die Wirkung „eines Kunstgebilds der echten Art“ unter dem generellen Gesichtspunkt seines gesellschaftlichen Stellenwerts in einer Sentenz ausgewertet. Die Lampe wird dadurch zum Symbol für alle Kunst. Widmende Anreden wie hier „Auf eine Lampe“ sind ein Grundthema der Lyrik Mörikes11. Distanziert daherkommend, erlauben sie die unaufdringliche Reflexion über den Wert eines exemplarischen und insofern verallgemeinerbaren Gegenstandes. Das erlaubt es dem Dichter, vom bescheidenen Ansatzpunkt der Lampe her einen poetischen Exkurs über die prekäre Position von Schönheit und Kunst in der Gesellschaft zu entwickeln. Zunächst hatte der Autor den präzisierenden Titel „Auf eine schöne Lampe“ gewählt. Mit den gleichen Worten wird das Objekt der Darstellung dann auch im ersten Vers apostrophiert („o schöne Lampe“). Die Änderung sollte wohl diese Wiederholung vermeiden oder auch „durch die Schlichtheit des Titels (…) ein Spannungsverhältnis zu der im Gedicht reflektierten Schönheit des Gegenstandes“ herstellen12. In jedem Fall ist die vorgenommene Vereinfachung, ihrer Offenheit wegen, als Gewinn anzusehen. Die sogleich nachfolgende emphatische Anrede der Lampe („o schöne Lampe,, „schmückest du“) gilt offenkundig der Verständigung über den Wert der Kunst in der Öffentlichkeit. Sie liefert dadurch eine direkte Orientierung über die Wirkungsabsicht. Das hat Folgen für die Kommunikationsstrategie des Gedichts. Da die Reflexion des lyrischen Sprechers auf Verallgemeinerung der gewonnenen Eindrücke hinzielt, wechselt im Textverlauf der Adressat. Ist das zunächst zweifellos die Lampe, so gilt die Anrede ab dem siebten Vers eindeutig nicht mehr ihr, sondern dem Leser. Mit ihm will der sich stark zurücknehmende Autor Einvernehmen erzielen über sein Reagieren auf die „schöne Lampe“. Zum Auftakt wird die Lampe unter Hinweis auf ihr erhebendes Erscheinungsbild („o schöne Lampe“) unmittelbar in der Gegenwartsform angeredet. Durch den 136  

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Vokativ und mehr noch durch die Mittelstellung im ersten Vers zwischen den beiden qualifizierenden Aussagen erfolgt sogleich die nötige Bestimmung ihres herausragenden Wertes. Sie ist zum einen „noch unverrückt“, hat also nicht nur ihren angestammten Platz behalten, sondern ist auch unangetastet geblieben. Zum andern führt ihr schönes Aussehen („schmückest du“) dazu, daß sie in der Folge zum „Kunstgebild“ erklärt werden kann. Im zweiten Vers liefert der Autor die Erklärung dafür, warum sie an der „Decke“ besser als die übrigen Gegenstände überdauern konnte: „An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier“. Beide Adjektive („leicht“, „zierlich“) stützen die Beschreibung der Schönheit des an der Zimmerdecke „unverrückt“ geschützten Objekts. Dann erst wird im dritten Vers der Ort, wo sich die Lampe befindet, als „nun fast vergeßnes Lustgemach“ konkretisiert. Das hat manche Interpreten auf den Gedanken gebracht, hier die Spur der Erotik aufzunehmen13. Was davon zu halten ist, wird gleich darzulegen sein. Tatsächlich spricht Mörike bewußt vom „Lustgemach“, also nicht etwa von einem einfachen Wohn- oder Gesellschaftsraum. Ersichtlich legte er demnach Wert auf gerade diese Spezifizierung, die automatisch ein erotisch angehauchtes, antikes oder zumindest antikisierendes Ambiente sinnlicher Erfüllung erstehen läßt. Im pastoralen Haushaltsbild Mörikes konnte das freilich nicht mehr als bloß ein unterdrückter, orplidhafter Wunschraum sein. Die Wendung vom „nun fast vergeßnen Lustgemach“ rückt das im Präsens dargestellte Ganze in eine deutliche Ferne, die nur geistig überbrückt werden kann. Ungeachtet der damit hergestellten Distanz erfolgt in den nächsten drei Versen eine ziemlich exakte Beschreibung der „unverrückt“ gebliebenen Lampe. Ohnehin wird sie noch einmal erinnernd direkt angesprochen („Auf deiner weißen Marmorschale“). Mörike soll sogar eine Bleistiftzeichnung der Lampe angefertigt haben, die jedoch leider verloren gegangen ist14. Entscheidend sind aber die im Text erwähnten Merkmale, als da sind: eine „weiße Marmorschale, deren Rand“, durch Enjambement besonders hervorgehoben, von einem „Efeukranz“ aus „goldengrünem Erz“ 15 umrahmt wird (V. 4/5). Ferner ist auf der Schale rundum ein fröhlicher Kinderreigen abgebildet. In mehreren Punkten ergeben sich hier auffallende Übereinstimmungen mit der Beschreibung in einer Idylle des Theokrit, mit der Mörike seit langem wohlvertraut war und die er um diese Zeit für die 1840 erscheinende Sammlung „Classische Blumenlese“ übersetzt hat. Dort heißt es in der Rede des Geisshirten : Efeu schlingt sich oben im Kreis umher an der Mündung, Efeu, versetzt mit dem Golde der Blum’ Helichrysos; er ranket Durch sie hin, anlachend mit safranfarbigen Träublein. Mitten darauf ist ein Weib, kunstvoll wie ein Göttergebilde; Langes Gewand schmückt sie und das Stirnband. 16 „Auf eine Lampe“  

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Wie leicht zu sehen, ist im Lampen-Gedicht, vom Wortmaterial her, ein direkter Zusammenhang mit dem griechischen Muster zu vermerken. In produktiver Rezeption, aber ohne in Nachbildung zu verfallen, bewegt Mörike sich souverän zwischen seiner Übertragung dieses Prätextes und der eigenen Dichtung. Es erscheint müßig, darüber zu spekulieren, inwieweit im Gedicht alles dem authentischen Bild der Lichtquelle eines griechischen „Lustgemachs“ entspricht17, ob der „Ringelreihn“ der „Kinderschar“ (V. 6) etwa aus „Eroten“, den „Begleitern der Venus“ besteht oder die Lampe „den Liebesakt beleuchtet“ und demzufolge „die orgiastischen Götter in Erz und Marmor ihre Spur hinterlassen“ haben18. Selbst wenn der Dichter als besonderer Liebhaber griechisch-römischer Anakreontik derlei assoziiert haben mag, hat er es hier nicht in seine poetische Reflexion übernommen. Gewiß schwingt das „fast vergeßne Lustgemach“ noch in der Erinnerung mit, aber es bleibt vergangen. Hätte Mörike die Akzentuierung der Erotik beabsichtigt, wäre es ihm leicht gefallen, Verse in der Art des Gedichts „Götterwink“ vorzulegen19. Mit dem Lampen-Gedicht hatte er, wie dort zu lesen steht, allein den heiteren und dabei „sanften Geist / Des Ernstes“ (V. 7/8) im Sinn. Anderes steht einfach nicht da. Der Verfechter einer „Lampe Erotica“ muß denn auch einräumen, daß im Text „Resignation“ mitschwinge, weil Mörike „den Unterschied seiner Existenz und seiner Zeit zum griechischen Original dargestellt“ habe. Mit dieser Behauptung verkennt er allerdings die poetologische Wirkungsabsicht des Textes gründlich und widerlegt damit selbst seine hermeneutische These: „Man erfährt mehr über die Immanenz eines Gedichts, wenn man sie überschreitet“ 20. Das „Lustgemach“ ist hier eben nicht der Ort des Liebesakts, sondern eine Stätte des geselligen Vergnügens, des Wohlgefühls und der spielerischen Freude in der Art des „Freudensaals“ im Zyklus „Peregrina“ 21. Natürlich kann dabei auch Liebeslust mitgedacht werden. Es bedarf jedoch beträchtlicher Verrenkungen, um im Gedicht eine „erotische Begriffsaufladung“ ausmachen zu können22. Um es klar zu sagen: Nicht das „Lustgemach“ und nicht die nostalgische Beschwörung antiker Liebespraktiken sind Gegenstand der Darstellung Mörikes, sondern die Schönheit der „Lampe“. Sie interessiert den Autor als „Kunstgebild der echten Art“. Spätestens der dritte Teil bringt definitive Klärung über den Kern der Aussage. Hier teilt der Autor mit, welch beglückende Reaktion der Eindruck der „schönen Lampe“ in ihm auslöst: „Wie reizend Alles! lachend, und ein sanfter Geist / Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form“ (V. 7/8). Das besagt nichts anderes als die eindeutige Bekundung, daß „alles“ an dieser Lampe „reizend“ 23 und „lachend“ ist, zugleich aber sich „ein sanfter Geist / Des Ernstes“ (Zeilensprung!) „um die ganze Form“ ergießt. Unwillkürlich denkt man dabei Begriffe wie „Anmuth“ und „heilges Maß“ mit, die Mörike im verwandten Gedicht „Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen“ als wesentlich herausstellt24. Wohlgemerkt ist „die ganze Form“ gemeint, also das in 138  

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seiner Gesamtheit ästhetisch überzeugende Erscheinungsbild der Lampe. „Reizendes“ wie der fröhliche „Ringelreihn“ der „Kinderschar“ und „Lachendes“ wie der an den Dionysoskult erinnernde „Efeukranz“ werden mit Absicht ergänzt durch den „sanften Geist des Ernstes“ in Gestalt der „weißen Marmorschale“. Im Verein machen sie Wohlgefallen und Zauber der „schönen Lampe“ aus. Was davon abzuleiten ist, bedarf noch auswertender Überlegung. Der Gedankenstrich am Ende des achten Verses zeigt dem Leser diese Notwendigkeit an. In den beiden Schlußversen wird zunächst der durch den Gedankenstrich unterbrochene Satzfluß weitergeführt. An diesem Punkt verkündet der Autor das unzweideutige Ergebnis der bisher angestellten Beobachtungen: Die „schöne Lampe“ ist „ein Kunstgebild der echten Art“ (V. 9). Nicht etwa von einem „gewissermaßen sekundären Kunstwerk“ ist die Rede25, sondern vom Kunstwerk als dem Werk der Kunst. Das besagt viel. Mit Recht wurde auf die Parallele zu einer Bemerkung Goethes hingewiesen. Während des Aufenthalts in Neapel besichtigte der Italienreisende am 18. März 1787 das Museum Portici mit den in Herculanum ausgegrabenen Schätzen. Er notierte dazu folgendes: „Die Lampen sind nach Anzahl ihrer Dochte mit Masken und Rankenwerk verziert, so daß jede Flamme ein wirkliches Kunstgebilde erleuchtet“ 26. Natürlich kannte Mörike Goethes „Italienische Reise“ genau. Eine Übernahme liegt darum nahe. Er gebrauchte den Begriff ebenso im Rahmen der von ihm übersetzten anakreontischen Lieder im epigrammatischen Gedicht „Aphrodite, auf einem Diskos“. Es heißt da: „Seht dieß Kunstgebilde! Wahrlich, / Eine Zauberhand hat Wellen / Ausgegossen auf den Diskos“ 27. Beide Parallelen bestätigen, was Paul Heyse über Mörike sagte: er sei „von Goethes und der Griechen Hauch umflossen“ 28. In unserem Zusammenhang bestätigen sie ferner, welchen Stellenwert der Dichter dem Begriff „Kunstgebilde“ zumaß, sei es eine einfache Lampe oder ein anderes Kunstwerk, beispielsweise eben ein Gedicht „Auf eine Lampe“. Wie notwendig eine derartige Wertbestimmung ist, zeigt die in der Art eines Zwischenrufs eingeflochtene Frage: „Wer achtet sein?“ (V. 9). Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß hier das Genitivpronomen „sein“ auf das „Kunstgebild“ bezogen ist. Damit stellt sich die brennende Frage, welche Beachtung die Kunst im öffentlichen Leben findet. Heidegger sieht in seiner Interpretation die Frage nicht als rhetorisch an, sondern stuft sie direkt negativ ein. Er formuliert das so: „Die Frage ist traurig gestimmt. Wehmut spricht in dem Gedicht, daß das Kunstwerk in seinem Wesen den Menschen entgeht“ 29. Gewiß kann einem „in dürftiger Zeit“, wie Hölderlin sagte, ein derartiger Gedanke kommen. Um so dringlicher richtet der hier sprechende Autor, über den Selbstdialog hinaus, die Frage „Wer achtet sein?“ ebenso an den Leser. Ihm unterbreitet er damit die alles entscheidende Frage, welche Bedeutung unsere Gesellschaft ästhetischer Erfahrung einräumt. Es geht demnach um weit mehr als um die „schöne Lampe“, nämlich um die prinzipielle Herausforde„Auf eine Lampe“  

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rung, ob wir bereit sind, den exemplarischen, den geformten, den repräsentativen und den kreativen Ausdruck der Kunst produktiv in unser Leben zu integrieren. Drei fragend eingebrachte Worte konfrontieren uns mit der Entscheidung über die Qualität unseres Menschseins. Danach folgt noch der Vers, über den viele Interpreten sich den Kopf zerbrochen haben. Deswegen muß hierzu etwas weiter ausgeholt werden. Vor mehr als einem halben Jahrhundert entzündete sich daran eine aufschlußreiche Diskussion zwischen prominenten Philologen, insbesondere Emil Staiger sowie Leo Spitzer, und dem Philosophen Martin Heidegger. Es würde zu weit führen, genauer darauf und auf die breite Resonanz in der Folgezeit einzugehen30. Immerhin sollen wenigstens die unterschiedlichen Positionen kurz angedeutet werden. Handelt es sich doch hier um einen Musterfall zur Problematik des Interpretierens. Im Kern ging es dabei um die Problematik von Schein und Sein, nämlich ob und inwieweit das „Kunstgebild der echten Art“ in sich selber selig ruhen kann oder nicht. Zunächst sei der Wortlaut des an eine Maxime gemahnenden Verses noch einmal erinnert: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“ (V. 10). Vom Kontext her, scheint die Sachlage einfach zu sein. „Was aber schön ist“ – will sagen: die „schöne Lampe“ – , ist und bleibt schön in sich selbst. Da jedoch Schönheit wirken soll und will, kann es nicht allein bei der Feststellung der Selbstgenügsamkeit bleiben. Nicht umsonst heißt es in Mörikes Gedicht „Corinna“ deutlich genug: O wessen ganzes Sein und Leben doch Sich so bewegte durch der Jahre Kreis In holdem Gleichmaß jeglichen Moment, Sich selber so zu seliger Genüge Und alle Welt zu letzen, zu erbaun. 31 Selbstgenügsamkeit und Wirkungsabsicht („alle Welt zu letzen, zu erbaun“) schließen sich, auf Anhieb gesehen, aus. Jedenfalls aber sind sie schwer miteinander zu vereinbaren. Aus diesem Problem ergab sich der komplexe Deutungsbedarf. Was wurde nicht alles gesagt! Staiger machte den Anfang. Im Rahmen eines Vortrags über „Die Kunst der Interpretation“ vertrat er am Beispiel des Gedichtausgangs mit den Worten „selig scheint es in ihm selbst“ die Auffassung, „scheint“ müsse im Sinne von ‚es wird gesehen‘ (lateinisch: videtur) gelesen werden, um so „das Potentielle der Aussage, das Unsichere“ zu erfassen32. Er sah nämlich im Gedicht den melancholischen Rückblick des epigonalen „Spätlings“ 33 Mörike. Heidegger plädierte dagegen entschieden gegen ein „,Scheinen‘ ohne Selbstbewußtsein“ und setzte dem die These entgegen: „Das ‚Schön-Sein‘ ist das reine ‚Scheinen‘“. Er verfocht damit die Deutung des Wortes im Sinne von ‚leuchten‘ (lateinisch: lucet) und erklärte 140  

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sein Verständnis des ‚Leuchtens‘ als „das sinnliche Scheinen und das Scheinen der Idee als Wesen des Kunstwerks“. In seiner typischen ‚Wortalchemie‘ formulierte er das folgendermaßen: „Dies vermag das Schöne nur, insofern es in ihm selbst leuchtend lichtet, das heißt: scheint“ 34. Gegenüber diesen vereinseitigenden Positionen, die bezeichnenderweise auch noch Zuflucht nehmen müssen zu lateinischen Hilfskonstruktionen, sprach sich Spitzer einfach dafür aus, allein „die sinnliche Gestalt des Kunstgebildes der Lampe und deren Symbolgehalt für das Gedicht“ in den Vordergrund zu rücken. Es sei weder von Melancholie, noch von Leuchten die Rede. Vielmehr werde vor dem Leser „in sachlich- ruhiger Weise die alte Wahrheit von der Autarkie des Kunstwerks“ proklamiert35. Im Endeffekt geht es bei allen dreien um die Mehrdeutigkeit des Begriffs „scheint“ und um die Autonomie des Kunstwerks. Der Streit hätte sich vermeiden lassen, wenn man sich an die von Staiger geäußerte Maxime gehalten hätte, daß es „feste Grenzen der Bedeutung in einer solchen Lyrik kaum gibt“ 36. Renate von Heydebrand bemerkte als erste, man müsse endlich die „metaphysische Aussage über das selbstgenügsame, völlig autonome Wesen von Kunst (…) entscheidend relativieren“ 37. Mit einem Schlag hatte so das Interpretationspotential wieder freie Bahn. Daß dabei dann hauptsächlich der „explizit erotische Inhalt“ 38 hervorgekehrt wurde, lenkte indes auf eine falsche Fährte. Interessanter scheinen die Hinweise auf den mit der Kommunikationsstruktur gegebenen sozialen Aspekt des Gedichts. Betrachten wir deshalb den letzten Vers noch einmal genauer und zwar Wort für Wort. „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“, lesen wir erneut. Zuerst ist zu diesem Satz festzuhalten, daß die Alliteration, erweitert verstanden als Buchstabenreim nicht bloß im Anlaut, klanglich eine enge Verbindung der ganzen Wortgruppe herstellt („Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“. Die von Spitzer beobachtete Klangharmonie der Wortpaare („schön“ – „scheint, „selig“ – „selbst“) schafft ohnehin im Vers durch reinen Stabreim ein zusätzliches Gleichgewicht. Das Relativpronomen „was“ bezieht sich eindeutig auf das „Kunstgebild der echten Art“, verweist also auf den neunten Vers zurück. Durch die Verbindung mit der verstärkenden Interjektion „aber“ wird die Qualität des Schönen („was aber schön ist“) erneut hervorgehoben. Sicher geschieht das im kontrastierenden Rückbezug auf die in den vorausgegangenen Vers eingeflochtene Frage „Wer achtet sein?“. Demnach hat die Interjektion deutlich einen warnenden Hintersinn. Somit kann als festgeschrieben gelten, daß die Lampe unabhängig von der Beachtung, die sie findet, wirklich „ein Kunstgebild“ und dadurch „schön ist“. Keinesfalls bedeutet das etwa, wie Staiger und Heidegger meinten, das Kunstwerk werde kaum noch beachtet und sei deswegen allein auf sich selbst angewiesen. Nicht die Selbstbezogenheit des Schönen steht zur Debatte, sondern die indirekte Kritik des Sprechenden an mangelnder Entsprechung zum „Kunstgebild“ im Bewußtsein des Publikums und damit an fehlenden „Auf eine Lampe“  

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Voraussetzungen zu produktiver ästhetischer Erkenntnis in der Öffentlichkeit. Darin liegt der tiefe Sinn der abschließenden bündigen Zusammenfassung: „selig scheint es in ihm selbst“. Auf diese sechs Worte konzentrierte sich der Gelehrtenstreit weithin. Deswegen gilt es, hier besonders genau zu verfahren. Im Zusammenhang mit dem prädikativ verwendeten Adjektiv „selig“ wird häufig auf eine angebliche Parallele im zweiten Teil von Goethes Faust-Dichtung hingewiesen. Dort läßt der Kentaur Chiron den von ihm getragenen Faust über die schöne Helena wissen: Nur solch ein Wesen kann ich preisen, Das froh und lebenslustig quillt. Die Schöne bleibt sich selber selig; Die Anmuth macht unwiderstehlich, Wie Helena, da ich sie trug. 39 Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß die Formulierung des Verses 7403 („Die Schöne bleibt sich selber selig“) Mörike angeregt haben mag. Dennoch sollte man nicht übersehen, daß im jeweiligen Kontext völlig andere Bedeutungszusammenhänge dargestellt sind40. Die schöne Helena hat mit der schönen Lampe außer der Schönheit wenig gemeinsam. Mörike behandelt nicht die Schöne, sondern die Schönheit des Kunstwerks. Außerdem entschied er sich bewußt nicht für die Wendung ‚in sich selbst‘, sondern bevorzugte „in ihm selbst“. Darauf wird gleich noch einzugehen sein. Zuvor ist zu klären, was es mit dem Verb „scheinen“ auf sich hat. Zur direkten Weiterführung mit den Worten „schön ist“, empfiehlt es sich, die Angabe des Deutschen Wörterbuchs zu übernehmen, die neben ‚hell werden‘ und ‚glänzen‘ besonders die Bedeutung ‚zum Vorschein kommen‘, ‚sichtbar werden‘, ‚erscheinen‘ aufführt41. Der einfache Wortsinn. benennt weder den bloßen Anschein (videtur > Staiger) noch etwa ein ominöses Leuchten (lucet > Heidegger). Was sich in Gestalt der schönen Lampe offenbart, ist der Anhauch der Kunst. Daß sie uns auf diese Weise ‚erscheinen‘ kann, macht Mörikes Verse zum poetologischen Gedicht. Es kann uns beglückend begegnen und dann auch uns „selig“ erscheinen. Das nachfolgende „es“ dürfte unproblematisch sein. Als rückbezügliches Personalpronomen führt es die mit den Worten „Kunstgebild“ und „was“ beginnende tragende Bedeutungslinie syntaktisch weiter. Bleibt noch die Schlußwendung „in ihm selbst“. Keine Verständnisschwierigkeiten bereiten dabei die Präposition „in“ und das Pronomen „selbst“. Ihr Wortsinn ist eindeutig. Anders verhält es sich mit den Dativ von ‚er‘ oder ‚es‘. Mörike vermeidet hier absichtlich die verbreitete Wendung ‚in sich selbst‘, weil sie selbstbezüglich ausgerichtet ist. Ihm kam es darauf an, den Bezug offen zu lassen. Aus diesem Grund 142  

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wählte er die reflexive Form des Personalpronomens, nicht etwa um einen Suevismus einzuflechten. Er wollte damit sagen: „selig scheint es“ mir, dem Sprechenden, im Sinne des Er-Scheinens. Die gleiche Reaktion soll sein Gedicht beim Leser herbeiführen. Holschuh brachte das auf die emphatische Formel: „bei Mörike ist das Schöne an sich nichts, sondern selig scheint es im Menschen, der des Kunstwerks achtet“ 42. Der Symbolgehalt des Textes trägt im Verbund mit der Kommunikationsstruktur dazu bei, daß die ästhetische Erfahrung des Autors beim Betrachten der Lampe auf den Leser übergeht und dadurch zur kognitiven Erfahrung werden kann. Mörikes Huldigungsgedicht auf die Schönheit einer Lampe erweist sich darum als Vehikel zur Begegnung mit der Kunst und zur Klärung des Wertes, den wir der Lampe, dem Gedicht, der Literatur, der Kunst zuzusprechen bereit sind. Unbedingt gehört zur Schlußkonsequenz des Gedichts die Herausforderung eines jeden Lesers, sein Leben nicht allein auf den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich zu konzentrieren, sondern, um bestehen und widerstehen zu können, die Sinne zu öffnen für – etwa eine schöne Lampe. Fähigkeiten wie Kreativität, Assoziationsvielfalt, Sensitivität, Erkenntnis und Wertgefühl können so geschult werden. Sie sind deshalb so nötig, weil sie ein Gegengewicht darstellen zu den Zwängen und Abhängigkeiten der Außenwelt, denen wir uns in hohem Maß ausgesetzt sehen.

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Maync, Harry: Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten (1902). 5.A. Stuttgart 1944, S. 260 (Sigle: Maync). Zeller, Bernhard: Eduard Mörike. In: Deutsche Dichter, Bd. 5: Romantik, Biedermeier und Vormärz. Hrsg. v. Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max (= RUB 8615). Stuttgart 1989, S. 480–499; Zitat: S. 489. Mörike, Eduard: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Herbert Arbogast, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer, Bernhard Zeller. Stuttgart 1967 ff. (Sigle: HKG); hier: HKG I.1,166 („Zwiespalt. Nach Catull“). HKG I.1,132. Vgl. hierzu: Mörike-Chronik. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1981, S. 170 (Sigle: MC). In Nr. 286 des ‚Morgenblatt für gebildete Leser‘. So hieß das frühere ‚Morgenblatt für gebildete Stände‘ ab dem 32. Jahrgang (vgl. hierzu: Mörike-Kommentar zu sämtlichen Werken. Hrsg. v. Helga Unger. München 1970, S. 87 und 38, ebenso: MC, S. 170). HKG 15,234 (24.3.1848 an Familie Hartlaub). Mörike-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Inge und Reiner Wild. Stuttgart, Weimar 2004 (Sigle: MHB); hier: MHB, S. 7 (‚Biographische Grundlagen. Sein Leben und seine Zeit‘ ). „Auf eine Lampe“  

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19 Der jambische Trimeter, in der römischen Tradition auch Senar genannt, besteht aus sechs Versfüßen mit freier Zäsur und vorwiegender Dreiteilung: v – v – v – v – v – v – . 10 Manches spricht deswegen auch für die von einigen vorgeschlagene Gliederung: 3 + 3 + 3 + 1. 11 Man denke nur an Titel wie „An eine Äolsharfe“, „An eine Lieblingsbuche meines Gartens“, „Auf ein altes Bild“, „Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen“ oder „Auf eine Christblume“, um nur sie zu nennen. 12 MHB, S. 148 (Simone Weckler: Artikel: Auf eine Lampe). 13 Den Anfang machte Heinz Schlaffer mit der These vom „erotischen Ursprung des ästhetischen Spiels“ dieses Gedichts: Schlaffer, Heinz: Ursprung, Ende und Fortgang der Interpretation. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Hrsg. v. Georg Stötzel. Berlin 1985, S. 385–397; vor allem: S. 394–396 (Sigle: Schlaffer). Ebenso Selbmann, der sogar kurzerhand statuiert: „Auf eine Lampe‘ ist ein erotisches Gedicht“ (Selbmann, Rolf: ‚Das fast vergeßne Lustgemach‘. Mörikes Gedicht ‚Auf eine Lampe‘, die Erotik der Poesie und die Seligkeit der Interpretation. In: Zeitschrift für Germanistik. N.F: .3/1995, S. 593–599, Zitat: S. 593 f.; Sigle: Selbmann). Er muß jedoch in der Folge einräumen: „Die (…) Beschreibung der Lampe verengt die Wahrnehmungs- und Erkenntnisperspektive. Diese Fokussierung blendet den erotischen Funktionszusammenhang aus und isoliert die Lampe zu einem Kunstobjekt“ (Selbmann, S. 596). 14 MHB, S. 148 sowie MC, S. 162 und Maync, S. 425. 15 Heidegger sieht im nachgebildeten Efeugrün das „glühend-wachstümliche Dionysische“, Spitzer hingegen, wohl richtiger, „das satte Grün der Natur stilisiert ins metallische Gold der Kunst“ . Heidegger, Martin: Brief an Emil Staiger vom 28.12.1950. In: Staiger, Emil: Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger; in: Eduard Mörike. Hrsg. v. Victor G. Doerksen (= Wege der Forschung CCCCXLVI). Darmstadt 1975 (Sigle: Doerksen); ferner: Spitzer, Leo: Wiederum Mörikes Gedicht ‚Auf eine Lampe‘. In Doerksen, S. 254–268; Zitat: S. 256. 16 HKG 8,1 S. 292 (“Thyrsis” , V. 29–33). 17 Gegen Weckler (MHB, S. 148). 18 Schlaffer, S. 395. 19 Der Schluß des Gedichts „Götterwink“ lautet: „Welche Wonne noch heut mein, des Verwegenen, harrt / Im verschloßnen Gemach. Wie schlägt mein Busen! – Erschütternd / Ist der Dämonien Ruf, auch der den Sieg dir verspricht“ (HKG I.1, S. 126; V. 32–34). 20 Schlaffer, S. 395 und 396. 21 HKG, S. I.1, S. 150 („Peregrina“, Teil II). 22 Selbmann, S. 595. Selbmann muß denn auch einräumen, daß „das offen Erotische schrittweise immer stärker idyllisiert, bis nahe zur Unkenntlichkeit entstellt und schließlich so gut wie ausgelöscht wird“ (Selbmann, S. 596). Hätte er nur die einzig mögliche Konsequenz daraus gezogen! 23 Spitzer weist mit Recht darauf hin, daß „reizend“ hier „in seiner vorwiegend adjektivischen Funktion einen kleinen Rest von partizipialer, also verbaler Kraft bewahrt hat“ (Doerksen, S. 256).

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Eduard Mörike

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24 HKG I.1, S. 131 Es heißt dort: „Doch wer uns ehrt und wem wir selber günstig sind, / Weil er die Anmuth liebet und das heilge Maß, / Vor dessen Augen schweben wir im leichten Tanz“ (V. 3–5). 25 Gegen Holschuhs Behauptung (Holschuh, Albrecht: Wem leuchtet Mörikes ‚Lampe‘? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 110/1991, S. 574–593; Zitat: S. 577; (Sigle: Holschuh).. 26 WA I.31, S. 60. Vgl. hierzu auch: Abrams, M. H.: Spiegel und Lampe. Romantische Theorie und die Tradition der Kritik. München 1978. Er führt meherere Beispiele an für die Bedeutung der „Lampe als Analogon für dichterischen Geist“ (S. 73, 75, 80 und 90). 27 HKG 8.1, S. 430. 28 Heyse, Paul: Eduard Mörike. In: Literaturblatt zum Deutschen Kunstblatt (12.1.1854), Jg. 1, Nr. 1. In: drs.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Markus Bernauer und Norbert Miller, Reihe IV, Bd. 6: Jugenderinnerungen, Teil 2: Aus der Werkstatt (Anhang). Hildesheim 1995, S. 112. Später wurde der Text, leicht verändert, in „Zwölf Dichterprofile“ (1924) übernommen. 29 Heidegger, Martin (Doerksen, S. 250). 30 Außer Staiger, Spitzer und Heidegger beteiligten sich direkt auch Herman Meyer, Wal­ ther Rehm, Hugo Friedrich und Friedrich Beißner an der Diskussion (letzterer mit der zusätzlichen These, „scheint“ müsse als ‚apparet‘ = ‚erscheint‘ aufgefaßt werden). Danach mußte sich zwangläufig jeder mit den umstrittenen Positionen auseinandersetzen. 31 Mörike, Eduard: Sämtliche Werke. Briefe in drei Bänden. Hrsg. v. Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse. 2.A. Stuttgart 1961. Bd. 1, S. 263. „Corinna“, 2. Strophe (V. 8–12). 32 Staiger (Doerksen, S. 242). 33 Staiger (Doerksen, S. 245). 34 Heidegger (Doerksen, S. 243 und 251). 35 Spitzer (Doerksen, S. 254 und 262). 36 Staiger (Doerksen, S. 245). 37 Heydebrand, Renate von: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972, S. 189. 38 So Fliegner in Weiterführung der Thesen von Schlaffer (Fliegner, Susanne: Der Dichter und die Dilettanten. Eduard Mörike und die bürgerliche Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 192). 39 WA I.15, S. 128 (V. 7401–7405). 40 Das gilt im übrigen ebenso für die ‚erotischen‘ Deuter des Gedichts. Es geht im Gedicht „Auf eine Lampe“ auch nicht um eine „Fortschreibung literarischer Traditionen im Sinne der Anakreontik oder der Antikerezeption“ (gegen Selbmann, S. 595). 41 S. hierzu: Grimmsches Wörterbuch, Bd. 8: R-Schiefe. Leipzig 1893, Spalte 2443 und 2447 sowie Adelung: 3. Teil: M-Ser. Wien 1807, Spalte 1402. Beißner hat die Bedeutung ‚erscheinen‘, seinerseits latinisierend, mit dem Hinweis ‚apparet‘ in die Debatte eingebracht (s. Anm. 30). 42 Holschuh, S. 588.

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„Die schlesischen Weber“ (1844)

A

ls Dichter ist Heinrich Heine (1797–1856) nicht leicht einzuordnen. Mit seinem „Buch der Lieder“ (1827) wurde er im In- und Ausland zu einem der bekanntesten Vertreter der Romantik. Gleichzeitig trug die ihn bezeichnende Tendenz zu ironischer Desillusionierung in starkem Maße dazu bei, die romantische Manier parodierend auszuhebeln. Skepsis, Weltschmerz, Subjektivität und Zerrissenheit charakterisieren diesen frühen Teil seines Werks. Der Versuch, mit „Reisebildern“ eine neue, individuell geprägte Kunstprosa durchzusetzen und sich dadurch als Berufsschriftsteller zu behaupten, brachte ihm zwar eine große Leserschaft, ohne freilich die angestrebte materielle Unabhängigkeit zu ermöglichen. Polemisch und aggressiv reagierte der Verfechter eines deutsch-französischen Ausgleichs als politischer Publizist auf den Obrigkeitsstaat, den sich herausbildenden Nationalismus, den Kapitalismus und das biedermeierliche Spießertum. In einem Brief erklärte er herausfordernd: „Es ist die Zeit des Ideenkampfes, und Journale sind unsre Festungen“ 1. Die prinzipielle Ablehnung autoritärer Gewalt machte Heine zu einem der Wortführer des Jungen Deutschland wie überhaupt zum liberaldemokratischen Gegner der Restauration. Dichterisch schlug sich das nieder in den „Neuen Gedichten“ (1844) sowie in den Versepen „Atta Troll“ und „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1843, 1844). Nach dem von ihm proklamierten „Ende der Kunstperiode“ 2 schuf er damit einen neuen Typus des politischen Gedichts mit eindeutiger Wirkungsabsicht. Seine poetische Agitation verbindet gestalterisches Können mit sozialem Engagement und schafft dadurch, im Unterschied zur künstlerisch wenig überzeugenden Tendenzpoesie, die ästhetische Umsetzung seiner politischen Vorstellungen. Weil er dabei die deutsche Szenerie mit beißendem Sarkasmus kritisch beleuchtete, schmähten die Patrioten, angeführt von Friedrich Ludwig Jahn (dem so genannten ‚Turnvater‘) und Ernst Moritz Arndt, den unliebsamen Kritiker, der seit 1831 im Pariser Exil lebte, als Nestbeschmutzer. Wie Georg Büchner, Karl Marx und nicht wenige andere wurde Heine im Deutschland der Metternich-Zeit steckbrieflich verfolgt. Seine Bücher wurden auf den Index gesetzt. Es wäre indes ein Irrtum, ihn auf Grund seiner Forderung eines sozialen Wandels als aktiven revolutionären Kämpfer zu sehen oder ihm gar eine „sozialistische Perspektive“ 3 zuzusprechen. Zu stark war der Individualist und Außenseiter Heine beeinflußt von seiner

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Verehrung für Napoleon, der den Juden im Rheinland die rechtliche Gleichstellung gebracht hatte. In seiner Sicht war der korsische Emporkömmling kein blutrünstiger Eroberer, sondern ein löblicher Verfechter der Menschenrechte in ganz Europa. Viel zu ausgeprägt waren ebenso in ihm sowohl das Bedürfnis, sein „Ich in Szene zu setzen“ 4 als auch ein tief sitzender Sensualismus, der sich in der Pariser Zeit unter dem Einfluß des Sozialtheoretikers Claude-Henri de Saint-Simon noch verstärkte5. Adorno hat auf diese prinzipielle Abneigung „gegen revolutionäre Reinheit und Strenge“ aufmerksam gemacht und sie mit dem „Mißtrauen gegen das Muffige und Asketische“ erklärt6. Programmatisch setzte Heine den fanatischen Revolutionären das leichtsinnig-dionysische Credo des Artisten entgegen: „Wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Komödien – seid deshalb nicht ungehalten, ihr tugendhaften Republikaner!“ 7 Dennoch sollte man ihm, solcher Bekundungen wegen, seine demokratische Revolutionserwartung keinesfalls absprechen. Zutreffend erklärte Raddatz die Haltung Heines folgendermaßen: „Es ist die Deklaration des Ausnahmemenschen. Es ist die hoffärtige Definition des Kreativen, der sich sein eigenes Koordinatensystem baut“ 8. Ständig bewegte der Dichter sich in wie spielerischer Unabhängigkeit zwischen Restauration und Revolution. Diese Ambivalenz gehört tatsächlich zum Denken Heines. Eine Überzeugung vertrat er aber stets unbeugsam. In der „Börne-Denkschrift“ hielt er fest: „Nicht für sich hat das Volk geblutet und gelitten, sondern für andre. Im Juli 1830 erfocht es den Sieg für jene Bourgeoisie, die eben so wenig taugt wie jene Noblesse, an deren Stelle sie trat, mit demselben Egoismus. Das Volk hat nichts gewonnen durch seinen Sieg, als Reue und größere Not“ 9. So erklärt sich, daß er immer engagierten Anteil an den politischen und gesellschaftlichen Bewegungen nahm. Klarsichtig sah er die Gefahren der sich herausentwickelnden kapitalistischen Gesellschaft, den Machtdünkel der Herrschenden, die negativen Implikationen der bürgerlichen Emanzipation und die elenden Lebensumstände des Proletariats. In seinen „Zeitgedichten“ setzte er sich mit den dadurch bedingten Leiden und Mißständen auseinander. Am besten läßt sich das zeigen am Lied „Die schlesischen Weber“. Als im Juni 1844 in Schlesien aufgrund nicht mehr zu ertragender Arbeits- und Lebensverhältnisse der Weberaufstand ausbrach, war Heine der erste, der darauf mit einem dichterischen Text reagierte10. Lange vor dem weltweit gespielten Drama Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ (189211) wirkte sein „Weberlied“ als die „Marseillaise der deutschen Arbeiter“ 12. Selten hat ein Gedicht die Öffentlichkeit derartig beschäftigt. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, daß noch im wilhelminischen Deutschland der Abdruck des Gedichts mit einem halben Jahr Gefängnis bestraft „Die schlesischen Weber“  

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wurde13. Heine verfaßte dieses Lied unmittelbar unter dem Eindruck der sozialen Unruhen. In gebotener Kürze müssen die historischen Vorgänge beschrieben werden, welche die poetische Reaktion des Dichters ausgelöst haben14. Seit langem schon war das Webergewerbe in Schlesien etabliert. Schlesische Leinenwaren verkauften sich in ganz Europa und sogar in Übersee. Allerdings führte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts jede Absatzkrise durch Konkurrenzdruck im freien Handel zu materiellem Notstand bei den Leinenwebern und Häuslern, weil die Fabrikanten und Kaufherren durch Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen ihre Gewinnspanne erhalten wollten. Auch nach einer ersten, gewaltsam niedergeschlagenen Revolte 1793 besserten sich die Verhältnisse nicht. Es ist keine Übertreibung, wenn man von einer jahrzehntelangen Ausbeutung und Verelendung spricht. Weil versäumt wurde, das Gewerbe dem technischen Fortschritt anzupassen, sahen sich die Weber durch die vor allem in England betriebene Einführung maschineller Webstühle in ihrer Existenz bedroht. Staatliche Hilfsmaßnahmen blieben Stückwerk. Not und Elend nahmen zu Beginn der vierziger Jahre so erschreckend zu, daß die Zeitungen überall darüber berichteten. Anfang 1844 wurde sogar ein Verein zur Unterstützung der schlesischen Weber gegründet. Der Unmut der Betroffenen richtete sich zunächst punktuell gegen den besonders unbeliebten, hartherzigen Fabrikanten Zwanziger in Peterswaldau. Ein Bericht darüber lautet: „An mehreren Abenden zogen sie, das Weberlied15 singend, an seinem Unternehmen vorüber. Als sie am 3. Juni 1844 ihre Herausforderung wiederholten, ließ Zwanziger einen der ihren ergreifen und übergab ihn der Polizei. Vergeblich forderten sie seine Freilassung“ 16. An dieser Verhaftung entzündete sich der Aufstand. An die 3000 Weber stürmten am Tag danach Villa und Fabrik. Sie zerstörten die Einrichtung sowie Maschinen und Geschäftsbücher. Am 5. Juni ging der Aufstand weiter und wurde auf das nahegelegene Langenbielau ausgedehnt. Das dort anrückende Militär eröffnete das Feuer. Elf Tote und über zwei Dutzend Schwerverletzte, darunter Frauen und Kinder, waren das traurige Ergebnis. Proteste vor Ort und in der Umgebung wurden im Keim erstickt. Mit dem 6. Juni war die Hungerrevolte blutig niedergeschlagen. Die Opfer wurden in aller Stille begraben, achtzig Beteiligte zu Auspeitschung, Festungshaft oder Zuchthaus verurteilt. Deutlich zeigte der Weber­ aufstand das zwangsläufige Scheitern einer proletarischen Revolte in einem feudalen Obrigkeitsstaat des Frühkapitalismus. Kaum mehr als einen Monat später veröffentlichte der in Paris erscheinende ‚Vorwärts!‘17 am 10. Juli 1844 das durch die Berichterstattung in der Presse angeregte Gedicht Heines unter dem Titel „Die armen Weber“. In der Nummer davor war ein Artikel über den niedergeschlagenen Weberaufstand veröffentlicht worden. Heines Gedicht verschärfte und verallgemeinerte den kritischen Ansatz dieser Information. Die Erstfassung umfaßte nur vier Strophen mit teilweise anderem Wort148  

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laut. Um würdigen zu können, was der Dichter mit der revidierten Zweitfassung ästhetisch und wirkungsmäßig noch überzeugender geleistet hat, sei hier zunächst die Erstfassung mitgeteilt: Die armen Weber Im düstern Auge keine Träne, Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch – 5 Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem Gotte, dem blinden, dem tauben, Zu dem wir gebeten mit kindlichem Glauben; Wir haben vergebens gehofft und geharrt, Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt – 10 Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, Den unser Elend nicht konnte erweichen, Der den letzten Groschen von uns erpreßt Und uns wie Hunde erschießen läßt – 15 Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem falschen Vaterlande, Wo nur gedeihen Lüg und Schande, Wo nur Verwesung und Totengeruch – Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch: 20 Wir weben! Wir weben! 18 Von dieser Fassung zirkulierte im Oktober 1844 in Preußen ein häufig nachgedrucktes Flugblatt, das wie Campe, der Verleger Heines in Deutschland, dem Dichter mitteilte, dazu führte, „daß in Berlin mehrere Leute 1847 beigestekt (eingekerkert) wurden, weil sie dasselbe vorgelesen hatten“ 19. Ein Flugblatt trug die einfache Überschrift „Weberlied“ 20. Trotz drohender Strafe wegen ‚Majestätsbeleidigung‘ wurde das Gedicht vielerorts in Versammlungen und Arbeiterzirkeln, „halböffentlich und heimlich, ‚hundertfach gelesen und gesungen‘“ 21. Friedrich Engels zitierte die ‚Vorwärts‘-Fassung des Kampflieds in englischer Übersetzung in einem Zeitungsartikel22. In einem Brief aus London schrieb der ungarische Schriftsteller „Die schlesischen Weber“  

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Kertheny Heine, daß dort „der deutsche Westend Communisten Verein (…) jeden Freitag als Eröffnungsgebeth Ihr schlesisches Weberlied“ liest23. Über fehlende Resonanz konnte der Autor sich also nicht beklagen. Der Schlußvers vor dem Refrain (V. 19) brachte ihn wohl auf den Gedanken, seinen Text in eine abgerundetere Form zu bringen. Er entwickelte daraus eine zusätzliche Strophe, so daß das Gedicht nun besser durchgeformt war. Im Kommentar der Düsseldorfer Ausgabe vermutet Elisabeth Genton, die Neufassung sei wohl auf Anregung von Hermann Püttmann entstanden. An ihn schickte Heine jedenfalls die überarbeitete Fassung am 7. Januar 1846, so daß als Zeitpunkt der Niederschrift die zweite Hälfte des Jahres 1845 angenommen werden kann. Der Erstdruck des revidierten Weberlieds erfolgte am 14. Februar 1847 in der ‚Deutschen Brüsseler Zeitung‘. Hier der Wortlaut: Die schlesischen Weber Im düstern Auge keine Thräne, Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Altdeutschland wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreyfachen Fluch – 5 Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten, In Winterkälte und Hungersnöthen; Wir haben vergebens gehofft und geharrt, Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt – 10 Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, Den unser Elend nicht konnte erweichen, Der den letzten Groschen von uns erpreßt, Und uns wie Hunde erschießen läßt – 15 Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem falschen Vaterlande, Wo nur gedeihen Schmach und Schande, Wo jede Blume früh geknickt, Wo24 Fäulniß und Moder den Wurm erquickt – 20 Wir weben, wir weben! 150  

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Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, Wir weben emsig Tag und Nacht – Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreyfachen Fluch, 25 Wir weben, wir weben! 25 Während der erste Titel („Die armen Weber“) eher Mitleid heischend daherkommt, nennt die endgültige Überschrift nüchtern den lokalen Anlaß. Die erste Strophe stimmt in beiden Fassungen überein. Nur in der Flugblattversion mit dem allgemeinen Titel „Weberlied“ ist der in den meisten Ausgaben zu findende Wortlaut des dritten Verses („Deutschland, wir weben dein Leichentuch“) nachzuweisen. Heine, der unbedingt ein anderes Deutschland wollte, wählte durchweg den Begriff „Altdeutschland“, um so die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels zu betonen26. Wahrscheinlich orientierte er sich dabei am Lied der französischen Weber beim Aufstand in Lyon 1831 („Alors nous tisserons / Le linceul du vieux monde“ > „Dann weben wir / Das Leichentuch der alten Welt“). Aufschlußreich sind die Veränderungen der Verse 6 und 7. Während die Erstfassung durchgängig die Religionskritik akzentuiert (Gott als „der blinde, der taube“, verehrt „mit kindlichem Glauben“), betont die Endfassung gerade in diesem Kontext auch den emotionalen, situationsgebundenen Aspekt des Leidens der Weber („In Winterkälte und Hungersnöthen“). Von seiner kritischen Schärfe geht dem ersten Fluch dadurch nichts verloren. Die dritte Strophe bleibt unangetastet. Demgegenüber erfährt der Folgetext die auffälligsten Eingriffe. Der geringfügig erscheinende Worttausch in Vers 17 („Lüg“ > „Schmach“) erfolgte wohl in erster Linie um des Stabreims willen („Schmach und Schande“), jedoch wohl ebenso, weil dabei die Wortbedeutung des ‚Demütigens‘ und der ‚Entehrung‘ mehr zur Geltung kommt. Die zunächst gesetzte „Lüge“ paßte auch weniger. Denn der absolutistische Feudalstaat ‚von Gottes Gnaden‘ hatte es gar nicht nötig, zum Mittel falscher Aussage oder bewußter Täuschung zu greifen. Man konnte, wie das preußische Dreiklassenwahlrecht zeigt, die Ungerechtigkeit offen zur Schau tragen. Anders liegen die Dinge im Fall der Verse 18 und 19. Aus der eher schwachen Verszeile mit der Verbindung zweier sinnverwandter Ausdrücke („Verwesung“ und „Totengeruch“) entwickelte Heine ein Verspaar, getragen von zwei ausdrucksstarken Bildsymbolen für die verheerenden Folgen des unmenschlichen feudalistischen und kapitalistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungssystems (V. 18/19). Dadurch wird der 19. Vers der Erstfassung freigesetzt und kann in der neu angefügten fünften Strophe durch eine Parallelführung zur Eingangsstrophe einen adäquaten Rahmen für den Gesamttext schaffen (V. 3/4 > V. 23/24). Außerdem hatte Heine dazu noch den besonders schlüssigen Einfall, eine plastische Bildfolge mit den Komponenten des Arbeitsalltags der Weber einzufügen und sie zum „Die schlesischen Weber“  

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Symbol eines revolutionären Umbruchs umzufunktionieren (V. 21/22). Zweifellos hat er damit das Textpotential gesteigert und eine thematisch überzeugende, qualitativ entscheidend verbesserte Fassung erarbeitet. Es wird nun darauf ankommen, die formalen und inhaltlichen Elemente seiner lyrischen Konstruktion in ihrem Zusammenwirken zu ermitteln. Selbstverständlich muß dabei der politische Leitgedanke im Zentrum der Betrachtung stehen, wie aus hungerleidenden Webersleuten die geistigen Totengräber des korrumpierten, menschenverachtenden Systems werden. Historische Zeitnähe charakterisiert die fünf Strophen des Liedes der schlesischen Weber. Ungeachtet der ausgesprochenen Aktualität gelang es Heine, die lokal begrenzte Momentaufnahme einer sozialen Bewegung zur allgemeinen Bedeutung eines politischen Protests anzuheben. Absichtlich vermeidet er es, konkret auf die lokalen Vorkommnisse einzugehen. Ihn interessiert das Exemplarische des Falles. Der sonst mit allen Wassern gewaschene Ironiker und Satiriker folgt hier ausschließlich seinem sozialen Gewissen und entscheidet sich deshalb für ein einfach vorgetragenes, tiefernstes Pathos. Thematischer Ausgangspunkt ist die agitatorisch vertretene Gegenposition zur bezeichnenden Losung der so genannten ‚Freiheitskriege‘: ‚Mit Gott für König und Vaterland‘. Darauf hat schon Friedrich Engels im erwähnten Artikel vom Dezember 1844 hingewiesen27. Gezielt wenden sich die ausgesprochenen drei Flüche gegen den Gott des absolutistischen Gottesgnadentums, gegen den „König der Reichen“ und gegen das „falsche Vaterland“ der Besitzenden. Das Bild der paupersisierten Weber wird dadurch zum herausfordernden Symbol sozialer Anklage. Die 15-fach gebrauchte Wendung „wir weben“ trägt, durch den gleichen Anlaut verstärkt und fünfmal sogar gedoppelt als Refrain durchgängig herausgehoben, die an die restaurative Ideologie „Altdeutschlands“ gerichtete Kampfansage. Sie erweist sich als anklagendes Leitmotiv. Auf manche Interpreten wirkte sie wie ein zauberischer Schicksalsspruch. Heine war jedoch weit davon entfernt, etwas derartiges herbeizureden. Allemal bewegt er sich auf einer betont materialistischen Grundlage. Prägnanz und Eingängigkeit rücken den Text in die Nähe der Arbeiterlieder. Wie dort dominieren konsequente Gedanklichkeit und eine aufrüttelnde Klanglösung im kunstvoll übertragenen Rhythmus der Arbeit. Ersichtlich will der Autor mit seinen Versen unmittelbar bewußtseinsbildend wirken. Wie hat Heine das Gedicht durchgestaltet? Ein klar überschaubarer Aufbau ist auszumachen. Zwei Rahmenstrophen umschließen die drei „Fluch“-Strophen (I + II–IV + V). Jede der Strophen weist fünf vierhebige Verszeilen auf, die aber keinem festen metrischen Schema folgen. In allen Strophen sind vier der Verse durch Paarreime zusammengeschlossen, während der Endvers, wie sonst hauptsächlich in Volkslied und Volksballade, als rhetorisch direkt wirkender Kehrreim gestaltet 152  

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ist. Bestimmt wird die Textfolge, abgesehen von der kurz einleitenden, von außen kommenden Situierung in den beiden ersten Versen („sie“), vom mitreißenden chorischen Ausdrucksgestus der Weber, in deren Namen der sich mit ihnen identifizierende Autor diese Anklagerede formuliert („wir“). Addierend verwendete appellartige Gestaltungstechniken28 machen den Text noch mehr zum kämpferischen Zeitgedicht29. Der Leser wird genau gelenkt durch die mit Bedacht gesetzten Gedankenstriche jeweils vor dem Refrain. Nur in der Schlußstrophe soll das kurze Nachdenken gleich nach dem ersten Verspaar erfolgen. Deswegen ist dort der Gedankenstrich anders plaziert worden. Soweit die wesentlichen kompositorischen Merkmale. Bleibt zu betrachten, was in den Strophentexten vermittelt wird. Die Eingangsstrophe ist mit zwei Paarreimen und dem Refrain dreiteilig zusammengesetzt. Direkt vergegenwärtigend, führt das erste Verspaar den Leser an das Geschehen heran (V. 1/2). Zornerfüllt kommen die Weber ihrer Arbeit nach. Weinen können sie nicht mehr („keine Träne“ (V. 1). Sie „fletschen die Zähne“ (V. 2), ihr Blick ist finster („im düstern Auge“, V. 1). Danach wird der so situierte Vorgang sogleich mit verallgemeinerter Stimme chorisch vermittelt (V. 3–25). Der den Gesamttext prägende Refrain spiegelt, viermal wiederholt, den monotonen Arbeitsablauf im abstumpfenden Alltag der Weber (V. 5, 10, 15, 20 und 25). Ausmaß und Dauer der Arbeitssklaverei erlauben kein normales Leben. Frauen und Kinder müssen mitwirken, um überhaupt weiter existieren zu können. Diese zermürbende Situation geben die ständig wiederholten Worte „wir weben“ eindringlich wieder30. Sie werden im Text zum Schlüsselvers, zumal die Weberarbeit dann im folgenden Verspaar direkt mit dem Symbol des „Leichentuches“ verbunden wird. Der dritte Vers erweist sich als Leitmotiv des Gedichts: „Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch“. Bewußt ist hier nicht einfach von Deutschland die Rede, sondern vom überholten Feudalsystem des Deutschen Bundes der Vormärzzeit. Die Ärmsten der Armen, die Leinenweber, verkünden im Vollzug ihrer Arbeit das Todesurteil über die in „Altdeutschland“ herrschende Schein-Ordnung. Sie „weben“, wie es bildkräftig heißt, sein „Leichentuch“, weil sie erfahren mußten, daß ihnen Religion und Staat kein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Im Folgevers kündigen sie deshalb den Verursachern der Misere ihren „dreyfachen Fluch“ an. Zusammen bilden die Verse 3 und 4 die konzentrierte Substanz des Gedichts, die dann am Schluß wieder aufgegriffen wird. Es liegt ohnehin nahe, die leitmotivische Wendung „wir weben“ auch poetologisch im Sinne von ‚wir Dichter weben dein Leichentuch‘ aufzufassen, mithin als Aussage des Autors zu seinem poltischen Engagement als Dichter. In der zweiten Strophe erfolgt die erste Verfluchung. Sie gilt „dem Gotte, zu dem wir gebeten“ (V. 6). Ihr Elend zeigt den Webern, daß ihre Gebete ungehört bleiben. Damit verliert die verkündete Botschaft vom gerechten, liebenden Vatergott jede Glaubwürdigkeit. Zu offensichtlich ist das Bündnis von Thron und Altar als „Die schlesischen Weber“  

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Allianz der Unterdrücker, die den Webern Frieren und Hungern beschert („In Winterkälte und Hungersnöthen“; V. 7). Darum hieß es von Gott in der Erstfassung, er sei „blind“ und „taub“. Zweifellos bleibt das mitgedacht in der angesprochenen erbärmlichen Lage der fluchenden Weber. Vorrangig zielt ihr Fluch jedoch darauf, Heuchelei, Lüge und Betrug einer Religion anzuprangern, die den Hungernden ein besseres Jenseits vorgaukelt, um sie im Diesseits ruhig zu stellen. Nicht ohne Grund ironisiert Heine im „Wintermärchens“ das „alte Entsagungslied, / Das Eiapopeia vom Himmel“, Womit man einlullt, wenn es greint, / Das Volk, den großen Lümmel“ 31. Das ist gleichfalls der klare Sinn der Verse: „Wir haben vergebens gehofft und geharrt / Er (Gott) hat uns geäfft und gefoppt und genarrt“ (V. 8/9). Heine holt, wie Kaufmann hervorhob, „das ‚Schicksal‘ vom Himmel auf die Erde“ 32. Darum wird im Text die himmlische Macht verflucht. Nichts spricht für die These Renate Staufs von einer „Möglichkeit für eine neue, ganz andere Gottesvorstellung“, die ihrer Meinung nach „in den Formulierungen der ganzen Strophe unausgesprochen“ (!) mitschwingt33. Nicht ohne Grund wurde das Gedicht allgemein als Gotteslästerung aufgefaßt. Genau das wollte Heine mit seiner Religionskritik im Lied erreichen. Der mit dem Refrain in Erinnerung gerufene Webvorgang unterstreicht nachdrücklich die Umorientierung auf die irdischen Belange. Das gehört zum fortschreitenden Erkenntnisprozeß der Weber. Direkt mit der irdischen Macht beschäftigt sich sodann die Mittelstrophe. Ihr gilt mit der Gestalt des Königs der zweite Fluch. In einer Arbeitsstufe wurde er als „oberster Henker der Freien und Gleichen“ apostrophiert34. In der Endfassung wird daraus der „König der Reichen“ (V. 11). Als ungerechter Repräsentant der Staatsgewalt entspricht er nicht dem vorgegebenen Idealbild des Landesvaters. Ihn kümmert nicht das Elend derjenigen, die nichts haben als ihre Arbeitskraft. Der Gegensatz von Reichtum und Elend („unser Elend“, V. 12) veranschaulicht den Kontrast von Ausbeutern und Ausgebeuteten („Der den letzten Groschen von uns erpreßt“, V. 13). Zur demütigenden Mangelsituation der ‚Beleidigten und Erniedrigten‘ kommen noch Willkür und Machtmißbrauch des Despoten, der seine Untertanen „wie Hunde erschießen läßt“ (V. 14). Wut und Trauer schaffen sich Luft im aggressiv angestimmten „Wir weben, wir weben!“ (V. 15). Weit mehr bedeutet das als, wie gesagt wurde, bloß „zwei einförmige Worte“ einer „leeren Arbeitsbewegung“ 35. Es ist ein kreatürlicher Aufschrei gegen den Unrechtsstaat. Ein derartiger Protest bedeutete viel in einem System, das auf anerzogenem Gehorsam der Untertanen beruhte. Aus diesem Grund wurde allein schon die mündliche Verbreitung des Gedichts als ‚Majestätsbeleidigung‘ gerichtlich belangt. In der vorletzten Strophe kommt es zum dritten Fluch. Er ist gegen das „falsche Vaterland“ gerichtet. Ausdrucksmäßig wird der bedrückende Gegensatz zum wahren Vaterland durch den Gleichklang der Anlaute beim Adjektiv und den beiden 154  

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Substantiven besonders herausgehoben („Ein Fluch dem falschen Vaterlande“, V. 16). Begründet wird die Fehlentwicklung in einer strikt argumentierenden Folge von drei Verszeilen. Als Zeichen verordneter politischer Unmündigkeit und materiellen Elends gedeihen im „falschen Vaterlande“ eben nur „Schmach und Schande“ (V. 17)36. Dort werden die Armen nicht bloß um ihr Leben betrogen. Zu allem Übel verkürzt sich auch noch ihre Überlebenschance, weil ihre Existenz dauernder Bedrohung ausgesetzt ist („Wo jede Blume früh geknickt“, V. 18). Im Endeffekt erscheint dadurch ihr ‚Lebensraum‘ eher als Totenacker, „Wo Fäulniß und Moder den Wurm erquickt“ (V. 29). In Abweichung von den übrigen Ausgaben setzt die Düsseldorfer Ausgabe an den Anfang des 19. Verses statt des Adverbs ‚wo‘ die Konjunktion ‚und‘37. Da diese Entscheidung ohne weitere Begründung erfolgt, ist es wohl legitim, in diesem Fall den in allen übrigen Ausgaben vorzufindenden Beginn mit ‚wo‘ vorzuziehen. Dadurch kann der dreifache anaphorische Auftakt der Verse 17–19 seine steigernde Ausdrucksqualität voll entfalten. Fazit der Strophe über die Zurückweisung des „falschen Vaterlands“ ist, daß die verzweifelten Weber ihre Wut nicht länger in sich hineinfressen. Vielmehr weben sie verbissen am „Leichentuch“ für „Altdeutschland“. Auf die Intensität ihres Webens macht der Refrain aufmerksam (V. 20). Nachhaltig bringt er so die Entschlossenheit zum Umsturz zum Ausdruck. Deshalb wirkt der Text, wie Hinck richtig angemerkt hat, gleichsam „vom Zorn der Empörten unmittelbar diktiert“ 38. Die letzte Strophe rundet das Ganze ab. Sie lebt vom erinnernden Rückgriff auf die Eingangsstrophe (V. 3/4 = V. 23/24). Dadurch wird die Gesamtkonstruktion einrahmend gefestigt. Natürlich handelt es sich dabei um keine einfache Wiederholung, sondern um die endgültige Festschreibung der mit den drei Flüchen erfolgten Entlarvung der restaurativen Ideologie als System unmenschlicher Gewalt. Die Wucht der Anklage wird entscheidend befördert durch das einleitende Vers­ paar. Scheinbar erfolgt dort lediglich eine andeutende Beschreibung des Arbeitsprozesses der Weber („Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, / Wir weben emsig Tag und Nacht“, V. 21/22). In Wahrheit aber erscheint hinter dem realen Bild das symbolisch mitschwingende Signal zum Aufstand. Besonders durch die doppelschichtige Semantik des Ausdrucks „der Webstuhl kracht“ kündigt sich suggestiv der erwünschte Zusammenbruch des bestehenden Systems an. Über die fünfmal eingefügte drohende Wendung „wir weben“ kommt der Text dann zu seinem hochpathetischen Schluß. Mit dem Weberlied realisierte Heine eine konkrete, überzeitlich haltbare Gestaltung eines exemplarischen sozialhistorischen Zusammenhangs kurz vor dem Ende der repressiven Ära Metternich. Der Dichter konnte damals noch nicht ahnen, daß nach der Revolution von 1848/49 die konservativ-nationalen Kräfte siegen und „Die schlesischen Weber“  

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damit den demokratischen Hoffnungen für lange Zeit ein trauriges Ende bereiten würden. Er sah im Weberaufstand ein Zeichen der Hoffnung. Darin stimmte er übrigens mit Marx überein, der diese Hungerrevolte als Zeichen des proletarischen Aufruhrs gegen Ausbeutung und Machtwillkür deutete. Diesen Gedanken unhistorisch weiterführend, wurde im angeblichen ‚Arbeiter- und Bauernstaat‘, in der DDR, das Gedicht Heines mit dem „Pathos eines geschichtlichen Auftrags“ befrachtet und sogar umgedeutet zur poetischen Gestaltung der „revolutionären Kraft, die in dem immer mehr erstarkenden Proletariat heranwächst“ 39. Auch ein westlicher Interpret steht nicht an, vom „besten kommunistischen Gedicht überhaupt“ zu sprechen40. Angesichts der weiteren historischen Entwicklung sollte man derlei einem 1844 entstandenen Gedicht besser nicht zumuten, auch wenn Heine zu dieser Zeit in engem geistigem Austausch mit Marx und Engels stand. Er entfaltet zwar das „Bild einer unaufhaltsamen Revolution“ 41, jedoch geschah das in einem lyrischen Text als dichterischer Ausdruck der Erwartung dringend notwendiger politischer Veränderung. Dabei setzte er auf eine mögliche emotionale Wirkung bei der Leserschaft. Allerdings gilt hierbei das kluge Wort des ironisch gewitzten Voltaire, der schon 1764 im Vorwort zum „Philosophischen Wörterbuch“ („Dictionnaire philosophique“) die Maxime aufstellte: „Die nützlichsten Bücher sind zur Hälfte das Werk des Lesers“ 42. Der große Aufklärer lenkte damit die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Adressaten für die Wirkung eines Werkes. Angewandt auf Heines sozialkritisches Gedicht muß leider festgestellt werden, daß das Gros der Leser bei der Mitwirkung entschieden versagt hat. Statt der fälligen sozialen Emanzipation setzte sich die nationale Emanzipation durch. Ihre Anhänger haben es vorgezogen, Bismarck, Wilhelm II., Hindenburg und dann sogar Hitler zuzujubeln. Nur sehr bedingt kann ein Autor wirkendes Subjekt der historischen Entwicklung sein. Bleibt die gesellschaftliche Resonanz aus, kommt es zu keiner Veränderung. Daß alles anders lief, haben jedenfalls weder die schlesischen Weber noch Heine zu verantworten. Uns Heutigen stünde es gut an, die richtige historische Erkenntnis des Dichters anzuerkennen. Dann dürften wir uns auch des sinnlichen Reizes des ästhetischen ‚Webmusters‘ seines Gedichts erfreuen und insofern die menschlich, politisch und künstlerisch weiten Dimensionen von Heines unzeitgemäßer Genialität ganz für uns erschließen.

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Anmerkungen 11 Heine, Heinrich. Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse Berlin und Paris 1970 ff. (Sigle: HSA), Bd. 20., S. 350 (Brief an Gustav Eduard Kolb vom 11.11.1828). 12 In der 1835 veröffentlichten Schrift „Die Romantische Schule“ konstatierte Heine des Ende der „Goetheschen“ oder der „klassisch-romantischen Kunstperiode“. 13 Kaufmann, Hans: Heinrich Heine. Geistige Entwicklung und künstlerisches Werk. Berlin, Weimar 1983, S. 39 (Sigle: Kaufmann). 14 Werner, Michael: Heinrich Heine. In: Deutsche Dichter, Bd. 5: Romantik, Biedermeier und Vormärz. Hrsg. v. Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max (= RUB 8615). Stuttgart 1989, S. 403–426; Zitat: S. 404. 15 S. hierzu: Grab, Walter: Heinrich Heine als politischer Dichter. Heidelberg 1982, S. 32–39 („Julimonarchie und Saint-Simonismus“). 16 Adorno, Theodor W.: Die Wunde Heine. In: Noten zur Literatur I (= BS 47). Frankfurt/M 1958, S. 144–152; Zitat: S. 148. 17 Heine Heinrich: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Klaus Briegleb. München 1971 (Sigle: B); Zitat: B 3,570 („De l’Allemagne“) sowie B 5,198 („Briefe über Deutschland“). 18 Raddatz, Fritz J.: Heine. Ein deutsches Märchen. Essay. Hamburg 1977, S. 119. 19 B 4, 60. 10 Andere Gedichte zum Aufstand der Weber stammen vor allem von Ferdinand Freilig­ rath, Georg Weerth und Emanuel Geibel. Eine ganze Reihe weiterer Weberlieder finden sich in Sammlungen von Arbeiterliedern. Die Künstlerin Käthe Kollwitz erarbeitete unter dem Eindruck des Dramas von Hauptmann einen Zyklus von Lithographien zum Weberaufstand (1893–1898). 11 Vorausgegangen war 1891 die Dialektfassung „De Waber“. Beide Fassungen wurden vom Polizeipräsidenten für die öffentliche Aufführung verboten. Erst 1893 konnte das Stück als geschlossene Veranstaltung der ‚Freien Bühne‘ uraufgeführt werden. Es dauerte noch über ein Jahr, bis am 25.9.1894 die erste öffentliche Aufführung erfolgen konnte. Ungeachtet der Zensur wurde das Drama zum theatralischen Hauptwerk des Naturalismus. 12 So die Feststellung des französischen Schriftstellers und Journalisten Alexandre Weill („Cette chanson est devenue la Marseillaise des ouvriers allemands“); zit. n.: Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3. A. Stuttgart, Weimar 2004 (Sigle: Höhn), S. 112. Vgl. hierzu auch: Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Hamburg 1972 ff. (Sigle: DHA), Bd. 2: Neue Gedichte, bearbeitet von Elisabeth Genton (1983), S. 818. 13 Schwab-Felisch, Hans: Gerhart Hauptmann: Die Weber. Vollständiger Text des Schauspiels. Dokumentation (= Dichtung und Wirklichkeit). Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981 (Sigle: SF), S. 153. 14 Dabei folge ich weitgehend dem informativ zusammengefaßten Bericht von Schwab-Felisch (FS, 74–82). Breitere Darstellung bietet das Buch: Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik und Literatur. Hrsg. v. Lutz Kroneberg und Rolf Schloesser. Köln 1979 sowie vor allem: Wehner, Walter: ‚Die schlesischen Weber‘ und andere Texte zum Weberelend. München 1980. „Die schlesischen Weber“  

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15 Einer Quelle zufolge sangen sie das ‚Spottlied Blutgericht‘. Es gibt eine ganze Reihe von Liedern, die vom Elend der Leinenweber handeln (vgl. hierzu auch: SF,153). Heine hat diese Lieder schwerlich gekannt. Er dürfte eher mit dem 1831 beim Aufstand der Weber in Lyon gesungenen Lied vertraut gewesen sein: „Mais notre règne arrivera / Quand votre règne finira. / Alors nous tisserons / Le linceul du vieux monde“ („Unsere Stunde wird kommen / Wenn eure Regierung zu Ende geht. / Dann weben wir / Das Leichentuch der alten Welt“); hierzu: Kaufmann, S. 227). 16 SF,80. 17 Das zweimal wöchentlich erscheinende Blatt hatte den umständlichen Titel: „Vorwärts! Pariser Signale aus Kunst, Wissenschaft, Theater, Musik, Literatur und gesellschaftlichem Leben“. Das Heine-Gedicht wurde in Nummer 55 (10.7.1844) veröffentlicht. 18 B 4,969 f. Die Abweichungen von der Endfassung sind im Text nicht kursiv wiedergegeben. 19 HSA 26,323 (Brief von Julius Campe an Heine vom 23./24.9.1851). 20 S. hierzu: DHA 2,.819. 21 So ein Bericht in der ‚Deutschen Brüsseler Zeitung‘, Nr. 24 vom 25.3.1847; zit. n.: DHA, 2, 817. 22 ‘The New Moral World’ vom 13.12.1844. Engels hatte das Gedicht auf der Durchreise über Paris in der Erstfassung kennengelernt. 23 HSA 26,208 (Brief von Karl Maria Kertheny vom 11.7.1847). Hierzu auch: Höhn, S.112. 24 An dieser Stelle folge ich nicht der Düsseldorfer Ausgabe („Und Fäulnis und Moder den Wurm erquickt“). Im Rahmen meiner Interpretation wird das begründet. 25 DHA 2,150. 26 Heine wollte ein „Deutschland im Frühlingsflor“, wie es im Gedicht „An Georg Herwegh“ heißt (B 4,485). 27 S. Anm.22. 28 Stilistisch fallen besonders auf: Parallelismus (V. 3/4 und V. 23/24), anaphorische Wortwiederholung (3-mal „Ein Fluch“, 2-mal „Wo“), Alliteration (V. 8/9, V. 16, V. 17 und der Kehrreim), antithetische Kopplung („Reiche“ – „Elend“, „König – „wie Hunde“, „Blume“ – Wurm“) sowie hämmernde Paarreimwirkung. 29 Es leuchtet deshalb nicht ein, daß Renate Stauf in ihrer Interpretation einen „doppelten Adressaten“ annimmt: „die von der sozialen Not betroffenen Arbeiter“ und „den gebildeten Leser oder Hörer, der aus dem inszenierten Bild seine Schlüsse ziehen bzw. Erkenntnis gewinnen soll“. S.: Stauf, Renate: „Wo jede Blume früh geknickt“: Die schlesischen Weber. In: Interpretationen. Gedichte von Heinrich Heine. Hrsg. v. Bernd Kortländer (= RUB 8815). Stuttgart 1995, S. 144–166, Zitat: S. 147 (Sigle: Stauf ). Politische Lyrik wirkt eben einsinnig direkt. Jeder Leser oder Hörer soll sozialkritisch angesprochen werden. 30 Kaufmann verweist in diesem Zusammenhang auf eine mögliche Anregung durch die Formulierung bei Herder im „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker“: „Wir weben, wir weben / Schlachtgewebe“ (Kaufmann, S. 224). 31 B 4,577 („Deutschland. Ein Wintermärchen“, Caput I). 32 Kaufmann, S. 224.

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33 Stauf,150. Ebensowenig kann gesagt werden, Heine stelle in der dritten Strophe „nicht das System der Monarchie schlechthin in Frage“ (ebd., S. 152). Die angeführten ‚royalistischen‘ Bekenntnisse gehören in ganz andere Denk- und Darstellungszusammenhänge. 34 DHA 2,820. 35 Höhn, S. 111. 36 Unhaltbar erscheint die Interpretation von Renate Stauf, hier gehe es auch um „die schmähliche Behandlung der unter Zensur und Verfolgung leidenden Dichter und Denker der Nation“ (Stauf, S. 157). Derlei fällt völlig aus dem Rahmen eines „Lieds der schlesischen Weber“. Noch mehr sinnwidrig wirkt die daraus weiterentwickelte These, in der „geknickten Blume“ sei ein „Symbol für die geschändete Schönheit und den verhöhnten Genius im ‚falschen Vaterland‘ zu sehen (ebd., S. 158). Grundfalsch ist schließlich die unterstellte Parallele zu Goethe „Faust“-Dichtung („Faust I“, V. 508/9). Die Interpretin ignoriert damit die fundamental materialistische Orientierung des Heineschen Gedichts, die nichts zu tun hat mit Goethes Konzeption der Vervollkommnung durch Metamorphose und Entelechie. 37 DHA 2,150 und 2,620. 38 Hinck, Walter: Von Heine zu Brecht. Lyrik im Geschichtsprozeß (ST 481). Frankfurt/M. 1978, S. 12. 39 S. hierzu: Kaufmann, S. 226 und Dahnke, Hans-Dietrich: Karl Marx und die politische Lyrik des Vormärz. Berlin 1953, S. 137. 40 Schweikert, Alexander: Heinrich Heines Einflüsse auf die deutsche Lyrik 1830–1900. Freiburg i.Br., Bonn 1969, S. 42. 41 Höhn, S. 111. 42 Voltaire: Oeuvres complètes. Vol. 17: Dictionnaire philosophique ou la raison par l’alphabet. Ed. par Louis Moland. Paris 1878 (1967, p. 2 (Préface). Der Satz lautet in der Originalfassung: «Les livres les plus utiles sont ceux dont les lecteurs font eux-mêmes la moitié»).

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„Vereinsamt“ > „Der Freigeist“ (1884)

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nter den hier vorgestellten Gedichten nimmt das von Nietzsche (1844– 1900) stammende Beispiel eine gewisse Sonderstellung ein. Häufig sind seine Verse, teils Lieder, teils freie Rhythmen, gedankliche Konzentrate, mit denen er seine philosophischen Arbeiten poetisch anreicherte1. Ihre literarische Qualität wird ziemlich unterschiedlich beurteilt, weil dabei dichterische Gestaltung und Reflexion ineinander laufen und insofern eine deutliche Neigung zur Begrifflichkeit vorherrscht. Über das Medium Lyrik wollte Nietzsche Denken und Schreiben in dionysisch-kreativer Ekstase zusammenführen. Zurecht wurden deshalb diese ,Gedankenerlebnisse‘ eines dichtenden Philosophen in lyrischer Form als „poetische Selbstfindungsversuche“ bezeichnet2. Aus diesem Grund konzentriert sich die Thematik im wesentlichen auf die dichterische Wiedergabe seiner leidvollen Erfahrung völliger Isolation. Sie wiederum erklärt sich aus Nietzsches Entscheidung für eine visionäre Philosophie der Weltveränderung, die ihn dazu bewog, 1879 sein Lehramt als außerordentlicher Professor der klassischen Philologie in Basel aufzugeben und als ,herumirrender Flüchtling‘ („fugitivus errans“ 3) in Italien (Venedig, Genua, Turin), in der Schweiz (Basel, Zürich, Sils-Maria) und in Frankreich (Mentone, Nizza) frei zu leben, zu denken und als neuer „Yorick-Columbus“ 4 des Geistes zu fungieren. Zwangsläufig zog ihn sein solitäres Denken in einen Prozeß zunehmender Vereinsamung hinein. Erklärend heißt es darum in den „Reden Zarathustras“ zum „Weg des Schaffenden“: „Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein Weg vorbei“ 5. Noch dringlicher formulierte Nietzsche seine Entscheidung in „Ecce homo“ mit dem Satz: „ich habe E i n s a m k e i t nöthig, will sagen: Genesung, Rückkehr zu mir“ 6. Bezeichnenderweise sah der Philosoph sich selbst als „Einsiedler“, der seine „Höhle (…) in sich“ habe, „und manchmal hinter der Höhle noch eine Höhle und noch eine“ 7. Ohne jede Selbstschonung nahm er im Winter 1887 eine radikal negative Lebensbilanz vor mit den Worten „Fünfzehn Jahre Einsamkeit – was sage ich! Zwei und vierzig Jahre – denn so alt bin ich“ 8. Wenigstens vorübergehend fand er, besonders in der „belebenden, ja förmlich elektrisirenden Wirkung dieser Lichtfülle“ 9 Nizzas, die nötige inspirierende Kraft zu konsequenter Fortführung des geistigen Abenteuers seiner visionären Arbeit. Indes überkam ihn bald wieder und mit zunehmender Schärfe die verzweifelt-radikale Gewißheit: „alle bisherigen Werthe sind 160  

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entwerthet“ 10. Rigoros führte er auf diese Weise die längst verflachten Ideale des christlichen Abendlands ad absurdum. Andererseits äußerte er ebenso übermütig: „Ich habe den Kopf voll der ausgelassensten Lieder, die je durch den Kopf eines Lyrikers gelaufen sind“ 11. Die freilich eher schmerzlich-ironisch zu nehmende Bekundung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Nietzsches Selbstausdruck von tiefer existentieller Traurigkeit und tragisch-außenseiterischer Entgrenzungsenergie geprägt ist. Der Mann, der sich nach dem Ausbruch seiner progressiven Paralyse 1888 als „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ 12 bezeichnete, war nicht einfach der Verkünder des „Willens zur Macht“, als der er vielen gilt13, sondern, wie Sloterdijk zurecht betonte, „einer von denen, die aus dionysischem Bewußtsein ihre Stimme erheben ,(…) um von der Einsamkeit und von dem ,schweren, schweren Glück‘ des ungeliebten Tieres, das Ich sagt, zu berichten“. Nietzsche fungiert, so die Folgerung Sloterdijks, als „Zeuge für das Glück derer, die ohne Hoffnung sind“ 14. Der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus hat dafür die einleuchtende Formel gefunden: „Man muß sich Sisyphus glücklich vorstellen“ 15. Aus dieser Überzeugung heraus erwuchs im Herbst 1884 das wohl berühmteste Gedicht des mittlerweile 40-jährigen. Bekannt ist es in erster Linie unter dem Titel „Vereinsamt“. Jedoch finden sich daneben auch die Überschriften „Abschied“ und „Der Freigeist“ 16. Lange könnte man über die verschiedenen Titelvarianten nachdenken. Wesentlich bleibt, daß es sich durchweg um isolierende Gefühlsqualitäten handelt. Die Entscheidung der beiden Herausgeber der Studienausgabe (KSA) für die Überschrift „Der Freigeist“ ist wohl deswegen zu bevorzugen, weil dabei neben der mitzudenkenden Einsamkeit ebenso der geistige Aufbruch des Autors zu neuen Ufern faßbar wird. Doch nun erst einmal der Wortlaut des Gedichts: Der Freigeist „Die Krähen schrei’n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n – Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat! 5

Nun stehst du starr, Schaust rückwärts ach! wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt – entflohn?

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Die Welt – ein Thor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht, 15 Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. Flieg’, Vogel, schnarr’ Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! – Versteck’, du Narr, 20 Dein blutend Herz in Eis und Hohn! Die Krähen schrei’n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n, Weh dem, der keine Heimat hat!“ 17 Anders als bei nicht wenigen der Gedichte handelt es sich hier um einen selbständigen Text. Deutlich spürbar hat darum das Lyrische den Vorrang vor philosophischer, zeitkritischer oder moralischer Gedanklichkeit. Zur gleichen Zeit verfolgte Nietzsche sogar die Absicht, einen Band ausschließlich mit Gedichten zusammenzustellen. Doch erledigte sich dieser Plan durch die den Autor förmlich mitreißende poetische Grundkonzeption für die Weiterarbeit am „Zarathustra“. Bei der Suche nach dem authentischen Ausdruck dichterischer Reflexion kam der Autor seinem Ziel mit diesem im Herbst 1884 entstandenen Gedicht wohl am nächsten. Eine genaue Datierung der Niederschrift ist nicht möglich. Vieles spricht dafür, die Entstehung gegen Ende des Aufenthalts in Sils-Maria vom 18. Juli bis 25. September 1884 anzusetzen. In den Monaten danach, die der ,Flüchtling‘ in Zürich (26.9.Ende Oktober) und Menton (November) verbrachte, war er in vielerlei Hinsicht anderweitig beschäftigt. In bewährter lyrischer Tradition sieht Nietzsche in der äußeren Landschaft die bildliche Figuration des eigenen Innern. Das hier zu beobachtende lyrische Sprechen ist szenisch-dramatisch ausgeführt. Allerdings hat die dialogisch klingende Ansprache eindeutig monologischen Charakter. Wir begegnen der Rede des „Freigeists“ mit sich selbst. Im Text sind demgemäß drei perspektivische Instanzen auszumachen: Ein sprechendes Ich (Nietzsche als Autor), ein zuhörendes Ich (der Adressat, 162  

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hier zunächst einmal Nietzsche) sowie das dargestellte Ich (Nietzsche als Person). Auffallend ist außerdem, daß Zeitadverbien den Gesamttext wesentlich mitstrukturieren. Zweimal verwendet Nietzsche die Zeitbestimmungen „bald“ (V. 3 und 23) und „nun“ (V. 5 und 13), ferner je einmal „jetzt noch“ (V. 4), „lange schon“ (V. 6) und „vor Winters“ (V. 8). Mit dem hierdurch erfaßten Zeitablauf wird zunächst einmal eine unbestimmte, unsichere Gegenwart umschrieben. Alles erscheint auf Widerruf gestundet. Im Hinblick auf die Zukunft geht davon etwas noch Unheimlicheres und Bedrohlicheres aus. Es gibt kein Entrinnen aus dieser ,Vereinsamung‘. Überaus treffend bezeichnete Else Lasker-Schüler die Verse Nietzsches als „das einsamste Gedicht einsamster Gedichte“ 18. Auf Anhieb erscheint der ,selbstdichterische‘ Text ausgesprochen leicht verständlich und in formaler Hinsicht eher konventionell. Jeweils vier jambische Verszeilen bilden die sechs metrisch gleichen Strophen. Durchweg sind sie aufgegliedert in zwei Verspaare aus einem zweihebigen Anvers und einer vierhebigen Weiterführung. Kurze und lange Zeilen prägen im Wechsel den drängenden Rhythmus19. Das Kreuzreimschema überformt sodann die syntaktische Trennung der beiden Strophenhälften und gewährleistet somit die nötige Geschlossenheit. Wir begegnen einer streng durchdachten, einfachen lyrischen Konstruktion. Zwei Rahmenstrophen umschließen vier Binnenstrophen (I – II-V – VI). Zwischen dieser durchaus herkömmlichen Form und dem desillusionierenden Inhalt gibt es eine deutliche Spannung. Gleiches gilt hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung. Das einfache Thema, die Erfahrung existentieller Einsamkeit, kommt – hauptsächlich in den Binnenstrophen – in schwer lastender, sprachlich teilweise zerrissener Gedankenfracht daher. Dafür sorgen zunächst die rhetorischen Wendungen, ferner stellenweise gewisse metaphorische Gewaltsamkeiten oder abstrakte Wortbildungen20. Was beim ersten Lesen befremden mag, erweist sich andererseits literarhistorisch als unverkennbarer Ansatz zur Erneuerung der weithin im Konventionellen festgefahrenen deutschen Lyriksprache in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Mit Recht hat man auf den Einfluß hingewiesen, den Nietzsches Werk auf die „Hervorbringungen der nachfolgenden Schriftstellergeneration“ ausübte21. Das Zögern des Autors bei der Titelgebung zwischen „Vereinsamt“, „Abschied“ und „Der Freigeist“ erklärt sich durch die widersprüchliche Problematik seiner verzweifelten Selbstsuche vor dem Hintergrund eines als unerfüllt oder gar als verfehlt empfundenen Lebens. Da ist zunächst die thematische Dimension des schmerzlichen Weges der Einsamkeit aus der zwingenden Distanz dessen heraus, der die Umgebung und die eigene Position darin unerträglich findet (> „Vereinsamt“). Mit der fluchtartigen Entfernung vom Lebenskontext beginnt eine verzweifelt suchende Wanderung, deren Ziel, nämlich die Selbstkonstitution, unbekannt bleibt. Vor al„Vereinsamt“  

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lem aber ist es ein Aufbruch ohne Wiederkehr (>“Abschied“). Weil sein unabhängiges, kreatives Denken den Wanderer freisetzt für kritische Aktivität, ist er dem Gewohnten entfremdet. Das existentielle Abenteuer verstärkt sein Widerstandspotential (>“Der Freigeist“). Nietzsche ist wirklich „ein freigewordner Geist“ 22. Deswegen konnte er statuieren: „In der That, wir Philosophen und ,freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass ,der alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist“ 23. Aber gleichzeitig ist der Freigeist „zur Winter-Wanderschaft verflucht“ (V. 14). All dies will mitgedacht sein, wenn man sich auf Nietzsches Gedicht mit den drei Titeln einläßt. Es mag erlaubt sein, dabei den „freien Geist“ besonders hervorzukehren und deswegen der Überschrift „Der Freigeist“ den Vorzug zu geben. In der ersten Strophe entfaltet Nietzsche mit wenigen skizzenhaften, aber scharf umrissenen Schritten die Atmosphäre einer düsteren, vorwinterlichen Landschaft. Die tragenden Ausdruckselemente des Textes werden klanglich24 oder durch Interpunktion herausgehoben („schrei’n“, „schwirren“, „schnei’n“, „ – Heimat“). Um gleich im ersten Vers die Stimmung drohenden Unheils suggestiv heraufzubeschwören, genügt dem Autor ein Satzrudiment aus Artikel, Substantiv und Verb („Die Krähen schrei’n“). Durch das lastende Bild der schreienden Krähen wird zweierlei geleistet. Zum einen symbolisieren die schwarzen Vögel Ungut-Bedrückendes. Sie erinnern, wie ein Interpret zutreffend, wenngleich etwas pathetisch darlegte, „an Tod und Vergänglichkeit, an Einsamkeit und Schmerz“ 25. Zum andern steht ihr in der Tat schmerzendes Schreien für den Ausdruck quälender kreatürlicher Angst. Nach diesem harten Auftakt erfolgt eine weitere Präzisierung. Die Krähen „ziehen schwirren Flugs zur Stadt“ (V. 2). Ihre Flugbewegung kündigt die bevorstehende Erstarrung der Natur an. „Die Stadt“ bietet ihnen den erbarmungslosen Winter über Schutz. Der Akzent der Aussage liegt bei dem hier nicht in der gängigen Partizipialform gebrauchten Adjektiv „schwirre“ (als Herleitung von ,schwirren‘). Klanglich und semantisch aufgeladen („schwirren Flugs“) liefert die eigenwillige Wortprägung das Beispiel einer ,kühnen Metapher‘ für eine Stimmung radikaler Verunsicherung. Mit dem dritten Vers wird die harte Diktion konsequent fortgesetzt: „Bald wird es schnei’n –“. Damit ist endgültig geklärt, daß härtere und kältere Tage bevorstehen. Bewußt setzt der Autor an dieser Stelle einen ersten Gedankenstrich. Mit-Reflexion wird also dem Leser abverlangt. Es erfolgt nämlich ein Umschlag von der Naturbetrachtung zur menschlich-individuellen Situation. Dabei steht der allgemeine Gegensatz von ,Heimat‘ und ,Heimatlosigkeit‘ zur Frage: „Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat“ (V. 4). Nachdrücklich wird in dieser elegischen Besinnung auf den Wert der Heimat als Ort der Zuflucht hingewiesen. Ein zweiter Gedankenstrich fordert zu kurzem Innehalten auf, um die tieferen, in sich widersprüchlichen Be164  

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deutungselemente der mitschwingenden Gefühlsskala intensiv nachvollziehen zu können. Indirekt ist dadurch auch bereits ein drohender Verlust angedeutet. Von vornherein wird so der gedanklich entgegengesetzte Schlußvers (V. 24) vorbereitet. Zunächst aber bleibt es bei der Feststellung, daß derjenige glücklich zu preisen ist, der „noch – Heimat hat“. Damit endet die einleitende allgemeine Situierung des Gedichts.- In einer ganzen Reihe von Ausgaben erscheint der Text auf die Kurzform dieser ersten Strophe reduziert26. Abgesehen davon, daß damit entschieden gegen die Intention des Autors verstoßen wird, gerät dabei die Aussage auf das falsche Gleis spätromantischer Stimmungslyrik. Das entspricht, wie die folgenden Verse zeigen, in keiner Weise der entlarvenden Wirkungsabsicht Nietzsches. Mit dem Übergang zum Mittelteil erfolgt eine wichtige perspektivische Veränderung. Nachdem in der ersten Strophe zunächst eine allgemeine Situierung vorgenommen wurde, geht es in den folgenden vier Strophen um eine persönliche Klärung, um Selbstkonfrontation. Wie schon angedeutet, ist das dabei angesprochene „Du“ der Dichter selbst. In distanzierender Rollenrede artikuliert er seine individuelle innere Problematik. Diese besondere Art der Erlebnisprojektion steckt hinter der scheinbaren Zwiesprache27. Weit mehr ist das als bloß „unsentimentale Ich-Aussage“ 28. Wir begegnen fundamentalem Selbstzweifel, ja Selbstvorwurf, nämlich, so wird in der zweiten Strophe gesagt, wie ein „Narr“ (V. 7), also widersinnig zu handeln29. Wo selbst die Krähen „vor Winters“, der drohenden Kälte wegen, stadtwärts zur Menschenwelt hin „ziehen“, verharrt der hier Sprechende wie gebannt bewußt dort, wo er keine „Heimat hat“ („Nun stehst du starr“, V. 5). Den Kern der weiteren Aussage bildet die tiefes Bedauern und schmerzliche Erinnerung ausdrückende Interjektion „ach!“ (V. 6). Die darin eingeschlossene Klage enthält sowohl das mögliche Verfehlen der angestrebten Befreiung wie auch das Bedauern über die vermerkte Statik der Fluchtbewegung („Schaust rückwärts ach! Wie lange schon!“, V. 6). Während in der ersten Strophe der Blick, futurisch grundiert, ganz nach vorne gerichtet war, gilt ab jetzt eine als Selbstermahnung gedachte Distanznahme vom Vergangenen. Der Gang „in die Welt“ führt zum unumkehrbaren „Abschied“ von der fremd gewordenen, einst so vertrauten, unvollkommenen Welt. Nicht ohne Grund hält die am Strophenausgang gestellte Frage – „Was bist du Narr, / Vor Winters in die Welt – entflohn?“ (V. 7/8) – fest, daß die Entscheidung des Freigeists eine konsequente Flucht ins geistig-abenteuerliche Leben und Denken darstellt. Der Gedankenstrich akzentuiert diese im Hinblick auf die Zukunft wesentliche Information. Daß der Sprecher eine Umkehr definitiv ausschließt, ist die zwingende Konsequenz des angesprochenen Irrtums. Zu diesem Irrweg heißt es deswegen in „Zarathustras Vorrede“: „du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht. (…) Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde“ 30. Demnach ist ein Wanderer, der diesen Weg eingeschlagen hat, so oder so „zur Zukunft verurteilt“ 31. Jedenfalls ist es eine entschieden zu billige „Vereinsamt“  

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Folgerung, wenn gesagt wurde: „Der Einsame will ein Freigeist sein, der das Nichts aushält. (…) Aber in Wirklichkeit ist er eine Krähe“ 32. Man kann dem „Freigeist“ Nietzsche getrost mehr zubilligen. Auch die dritte Strophe setzt die pathetische Klage des Freigeists fort. Was sein Schritt „in die Welt“ existentiell bedeutet, wird nun bildlich prägnant dargelegt. Der Zugang zur geistigen Welt eröffnet ihm bisher unerschlossene Wege. Allerdings verlieren sie sich hinter dem verheißungsvollen Tor in dunklem Ungefähr. An die Stelle der unwiderbringlich verlorenen „Heimat“ treten „tausend Wüsten“, will sagen: tausendfache ,Nicht-Heimat‘. In der Mitte des neunten Verses macht ein Gedankenstrich besonders auf diesen Bruch aufmerksam. Indes bleiben die neuen Welten „stumm und kalt“. In wortloser, eisiger Isolation muß der Wanderer sich seinen Weg bahnen. Deswegen heißt es im Text: „Die Welt – ein Thor / Zu tausend Wüsten stumm und kalt!“ (V. 9/10). Für den Fliehenden gibt es kein Halten mehr. Es ist ein Aufstieg oder Fall ins Bodenlose. Zudem ruft der Rückblick in die Vergangenheit naturgemäß schmerzliche Erinnerungen hervor. Sie verstärken die Verlorenheit in der Gegenwart. Diesen Gegensatz unterstreicht im Text das temporale Nebeneinander noch mehr („du verlorst“ > „sucht“), ist daraus auf einen unlösbaren inneren Konflikt des Sprechenden zu schließen. Obwohl er darin eine Flucht (V. 7/8) und ebenso einen Verlust (V. 11/12), ja einen Fluch sieht, setzt er seinen einsamen Weg fort. Deswegen steht er „bleich“ und dem sich verflüchtigenden „Rauche gleich“ unter kalten „Himmeln“ und sieht noch „kältern Himmeln“ entgegen („Dem Rauche gleich, / Der stets nach kältern Himmeln sucht“, V. 15/16). Damit wird die wachsende Entfremdung metaphorisch versinnlicht. Der Rauch erscheint als Sinnbild sowohl der Isolierung und eisiger Höhe, wie andererseits auch existentieller Steigerung. Der Zwiespalt erweist sich als unauflöslich. Zu Nietzsches Denken gehört unbedingt der Widerspruch.

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Den Abschluß des Mittelteils bildet die grell getönte fünfte Strophe. Zur besonderen Härte gerade dieser Verse trägt neben der angestimmten gallenbitteren Selbstironie hauptsächlich die schroffe Imperativhäufung bei. Dadurch ergibt sich eine spürbare Temposteigerung. Sie gehört zum „schnarrenden“ Klangbild „im Wüsten-Vogel-Ton“, den man sich in schrill-atonaler Disharmonie zu denken hat. Mit dieser eigenwillig semantisierten Metapher33 durchbricht Nietzsche den herkömmlichen Sprachgebrauch, um so von sich aus eine ironische Relativierung seines Denkens an den Leser weiterzugeben. Sein Lied soll nicht mehr im klassischen Sinne ,schön‘ sein. Das ist der Sinn der impliziten Sprachreflexion. Ohne zu zögern dehnt der Freigeist die generelle Subjektkritik mithin auf sich selbst aus. Heißt es doch in den Nachlaßfragmenten Nietzsches: „Die Annahme des E i n e n S u b -­ j e k t s ist vielleicht nicht nothwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt“ 34. Weil er folgerichtig das Sein als ständigen Prozeß begreift, kann er seine Ich-Rede aus kritischem Abstand heraus bildlich mit dem unharmonischen „Schnarren“ eines „Wüsten-Vogels“ gleichsetzen, der zu den „tausend Wüsten“ gehört („Flieg’, Vogel, schnarr’ / im Wüsten-Vogel-Ton“, V. 17/18). Offen bleibt dabei, ob die Flugbewegung des Vogels auf- oder abwärts führt. Danach unterstreicht ein weiterer Gedankenstrich erneut den ausgeprägten Leserbezug des Textes. Das ist nötig, da nun abermals die „Narren“-Rolle des mit sich selbst schonungslosen Sprechers ins Spiel gebracht wird: „Versteck’, du Narr, / Dein blutend Herz in Eis und Hohn!“. Der Verweis auf das „blutende Herz“ zeigt, daß er gefühlsmäßig den eingeschlagenen Weg ablehnt. Deshalb muß diese Wunde „versteckt“ werden. Teuer erkauft ist demnach die Freiheit der Eiswüsten. An die Stelle des Schönen und Guten treten dort „Eis und Hohn“. Dennoch wird die einmal getroffene Entscheidung bekräftigt. Sie kann, wie richtig gesagt wurde, als ein „Fehltritt – nach oben“ 35 gesehen werden. Nietzsche verkörpert unzweideutig die Amor-fati-Tradition. Betonte er doch in der Schrift „Ecce homo“: „Meine Formel für die Grösse des Menschen ist a m o r f a t i: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen – sondern es l i e b e n“ 36. Diese experimentelle Haltung trotziger Selbstgewißheit hat gleichermaßen schmerzlich-zehrenden wie dann ebenso belebenden, ja erhebenden Charakter. Ersichtlich bestehen innerhalb der vier Binnenstrophen aufschlußreiche strukturelle Verflechtungen. So haben die Strophen II und IV einen gleichen, zum Nachdenken über die prekäre Lage anregenden Auftakt („Nun stehst du …“, V. 5 und 13). Damit kommt dem Leser die infolge der Unerreichbarkeit des Gesuchten ausgelöste Krise voll zu Bewußtsein. Ferner fällt in den Strophen II, III und V der „Vereinsamt“  

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übereinstimmende Gebrauch zweier negativ besetzter Metaphern für den Suchenden und für das Ziel seiner Suche auf („Narr“: V. 7 und 19; „Wüste“: V. 10 und 18). Damit kommt die furchtbare Wahrheit, unter der sein Leben steht, doppelt zum Ausdruck. Der perspektivischen Klärung schließlich dient die durchgängig gleiche Anrede in den Strophen II bis V („du“: V. 5, 7, 12, 13 und 19; „dein“: V. 18 und 20). Nietzsche bekennt sich so zur Autorschaft einer Rede, die sich fortwährend selbst relativiert. Wir sehen an alledem, wie genau er seine lyrische Komposition und auch seine Schreibpraxis angelegt hat. Es gelingt ihm überzeugend, sein radikales Bekenntnis und seine Skepsis angesichts einer als grotesk entlarvten Weltlage sprachlich wiederzugeben. Wie später bei den Expressionisten spielt dabei das Begriffliche eine wesentliche Rolle, insbesondere die pathetische Klage und der damit verbundene Schrei nach Wandlung und Erneuerung. Gerade durch diesen ausgeprägten Sprachgestus kommt Nietzsche uns Heutigen überraschend nahe. Die abschließende Rahmenstrophe wiederholt über drei der vier Verse hin gleichsam bestätigend den Wortlaut der Eingangsstrophe (V. 1–3 = V. 21–23). Auf diese Weise bekommt das Gedicht eine tief bezeichnende Zirkelstruktur. Offensichtlich soll das hier Gesagte sich der Erinnerung des Lesers unauslöschlich einprägen. Allerdings sticht dadurch auch der bewußt veränderte Schlußsatz um so mehr davon ab: „Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat“ (V. 4) > „Weh dem, der keine Heimat hat“ (V. 24). Damit erfährt das Unbehaust-Sein des Freigeists seine endgültige Bestätigung. Es bedarf an dieser Stelle darum keines Gedankenstrichs mehr. Die lapidare Aussage spricht für sich. Sie artikuliert sowohl Trauer und Klage, wie dann gleichfalls deutliches Einverständnis mit dem selbstgewählten Schicksal. „Vereinsamt“ nimmt der „Freigeist“ definitiv „Abschied“ von seiner Existenz in der Vergangenheit. Danach kann er sich voll und ganz einer offenen Zukunft zuwenden. Für Nietzsche sollte es ein Weg der „dramatischen Selbstaufhellung des Daseins“ werden. Dadurch gewann er für uns die Geltung eines dichterischen Denkers, „auf den wir stoßen, weil“, wie Sloterdijk erhellend betonte, die von ihm erfahrene zwiespältige Situation immer „noch da ist, ärgerlich, blendend, aufstachelnd und theatralisch, und in alledem so unerledigt wie unsere eigene“ 37.

Anmerkungen 1

So beispielsweise die „Lieder des Prinzen Vogelfrei“ in „Die fröhliche Wissenschaft“ (1887), das Gedicht „Venedig“ in „Ecce homo“ (1888) und die „Dionysos-Dithyramben“ in „Also sprach Zarathustra“ (1888). Vgl. hierzu: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Sigle: KSA; zu den angeführten Beispieltexten s.: KSA 3, 639–651).

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12 Pütz, Peter: Friedrich Nietzsche (Realien zur Literatur, Bd. 27) . 2. A. Stuttgart 1975, S. 55 (Sigle: Pütz).. 13 So die Selbstcharakteristik des Altphilologen Nietzsche. Vgl. hierzu auch: „Der Wanderer und sein Schatten“ (1879). 14 Über diese in ihrem Doppelaspekt bezeichnende ambivalente Identifikationsfigur verfaßte Nietzsche ein gleich betiteltes Gedicht (KSA 11,328). 15 KSA 4,82 (Die Rede Zarathustras, Vom Wege des Schaffenden). Vgl. hierzu: „Der Einsame“ (KSA 3,360). 16 KSA 6,276. 17 An Resa von Schirnhofer am 30.3.1884. Zit. n.: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Sigle: KSAB; Zitat: KSAB 6,492). 18 An Malvida von Meysenbug am 24.2.1887 (KSAB 8,35. In der Tat schrieb bereits der 12-jährige Nietzsche ein Gedicht mit der signifikanten Überschrift „Ohne Heimat“ (Nietzsche, Friedrich: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. H.J. Mette. München 1933 ff. (BAW 1,122). 19 An Mutter und Schwester am 4.12.1883 (KSAB 6,458). 10 An den Freund Franz Overbeck am 8.3.1884 (KSAB 6,485). Gleichermaßen spricht Nietzsche in „Ecce homo“ von der „Umwerthung aller Werthe“ (KSA 6,263 und 328). 11 An Heinrich Köselitz am 30.9.1884 (KSAB 6,538). 12 KSA, 6,374 (Schlußwort von Ecce homo). 13 Für die nationalsozialistischen Ideenverfälscher war das bekanntlich die Orientierungsgrundlage bei der Durchsetzung der Ideologie vom angeblichen ,Recht des Stärkeren‘. 14 Sloterdijk, Peter: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus. (= es 1353). Frankfurt/M. 1986, S. 188 f. und 190 (Sigle: Sloterdijk). 15 „Il faut imaginer Sisyphe heureux“ . Zit. n.: Camus, Albert : Le mythe de Sisyphe. In: drs.: Essais. (= Bibliothèque de la Pléiade). Paris 1967, S. 198. 16 Daneben gibt es noch verschiedene Untertitel: „Heimweh“, „Aus der Wüste“ und „Die Krähen schrei’n“. 17 KSA 11, 329. 18 Lasker-Schüler, Else: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 4.1: Prosa 1921–1945. Hrsg. v. Norbert Oellers, Heinz Röllecke und Itta Shedletzky. Frankfurt/M. 2001, S. 300 („Die kleine Friedrich Nietzsche“). 19 Wenn ein Interpret befindet, die Verse seien „stockend in den kurzen, treibend in den langen Zeilen“, so sprechen gegen ein „Stocken in den kurzen Zeilen“ allein schon die vielen Zeilensprünge (Kurzke, Hermann: Tristesse der Lebensgier, Tristesse der Einsamkeit. In: Frankfurter Anthologie. Hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 16. Frankfurt/M., S.91 f.; Sigle: Kurzke; Zitat: S. 91). 20 Zum Beispiel: „Wer Das verlor, / Was du verlorst, macht nirgends Halt“, „Die Welt – ein Thor / Zu tausend Wüsten, stumm und kalt“ sowie „Winter-Wanderschaft“ und „WüstenVogel-Ton“.

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21 Allemann, Beda: Nietzsche und die Dichtung. Hrsg. v. Hans Steffen. Göttingen 1974, S. 45–64; Zitat: S. 62. Ebenso: Böckmann, Paul: Die Bedeutung Nietzsches für die Situation der modernen Dichtung. In: DVjs 27/1953, S. 77–101. 22 KSA 6,322 (Menschliches, Allzumenschliches). 23 KSA 3,574 (Die fröhliche Wissenschaft, fünftes Buch). 24 Es stellt indes eine Überinterpretation dar, wenn Kurzke die Auffassung vertritt: „Die R-Laute (…) bilden die ratternde Mechanik der Weltgier ab“ (Kurzke,91). Ohnehin kann im Gedicht von „Weltgier“ nicht die Rede sein. 25 Mennemeier, Norbert: Friedrich Nietzsche: ,Vereinsamt‘. In: Wiese, Benno von (Hrsg.): Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen von der Spätromantik bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1964, S. 245–254, Zitat: S. 246 (Sigle: Mennemeier). 26 Vgl. hierzu: Ziemann, Rüdiger: Die Gedichte. In: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrag. v. Henning Ottmann. Stuttgart, Weimar 2000, S. 152. 27 Pütz beschreibt die Kommunikationssituation stimmig wie folgt: „Auf ein fiktives Gegenüber wird übertragen, was sonst vom lyrischen Subjekt ausgeht“ (Pütz, S. 55). 28 Mennemeier, S. 247. 29 An anderer Stelle, in „Ecce homo“, äußert Nietzsche sogar: „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. (…) Vielleicht bin ich ein Hanswurst“ (KSA, 6,364; „Warum ich ein Schicksal bin“). 30 KSA, 4,22 (Vorrrede Zarathustras). Vgl. hierzu auch: „Nur Narr! Nur Dichter!“ (KSA 6,377–380), ferner die Verse: „Narr in Verzweiflung“ (KSA 3,646). 31 Mennemeier, S. 249. 32 Gegen Kurzke, S. 92. 33 Man sollte den Symbolwert dieses Bildes nicht durch die Einstufung als bloß „metaphorischen Esprit“ oder als simple „Geistreichigkeit“ schmälern (gegen Mennemeier, S. 252 und 254). 34 KSA 11,650 (40,42) (August-September 1885). 35 Sloterdijk, S. 29. 36 KSA 6,297 (Ecce hom; Warum ich so klug bin). 37 Sloterdijk, S. 10 und 16.

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„Weltflucht“ (um 1900)

I

m Gegensatz zu heute hatten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wirkliche Dichterinnen immer noch Seltenheitswert. Zu diesen wenigen gehört unzweifelhaft Else Lasker-Schüler (1869–1945). Erstmals erlaubte es der spezifische Blickwinkel dieser ebenso außergewöhnlichen wie in sich widerspruchsvollen Frau aus der assimilierten jüdischen Minderheit Wuppertal-Elberfelds, den auf radikale Weltveränderung ausgerichteten Protest der expressionistischen Generation gegen eine äußerlich viel zu selbstsichere, aber latent brüchige Gesellschaft in kämpferischen Versen vorwegzunehmen. So erklärt sich das manch einen vielleicht überraschende, höchst anerkennende Lob Gottfried Benns, der ohne zu zögern statuierte, Else Lasker-Schüler sei „die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“ 1. Es kann sich hier nicht darum handeln, die vielfältigen Facetten ihres Gesamtwerks aufzuschlüsseln oder den verschiedenen Lebenslegenden nachzuspüren, mit denen die Dichterin ihre Biographie auszuschmücken liebte. Hierzu gilt allemal Werner Krafts prägnante Bestimmung, Else Lasker-Schüler sei ein letzlich „unfeststellbares Wesen, das alle Gegensätze bruchlos in sich vereinigte, das Banale und die Sprache des Genius, hemmungslose Leidenschaft und (…) Ichbezogenheit, (…) größte Teilnahme an der Welt und absolute Einsamkeit“ 2. Unser Interesse konzentriert sich ausschließlich auf ein einziges Gedicht, das allerdings als Abbreviatur einer Grundtendenz ihres Werkes gelten kann. Ein Wort ihres Freundes Peter Hille beschreibt bildlich einprägsam ihr Wesen, wie es sich uns gerade auch in diesem Gedicht aus der Frühzeit lyrisch mitteilt. In seiner essayistischen Skizze über Else Lasker-Schüler charakterisiert „St. Peter Hille“, wie sie ihn nannte, ihren „Dichtgeist“ als einen „schwarzen Diamant, der in ihrer Stirn schneidet und wehetut. Sehr wehe“ 3. In dieser Aussage liegt bereits viel von Vision, äußerster Empfindlichkeit, Verachtung, Lebensangst, Fluchtbedürfnis, Heimweh und Weltschmerz, – alles Reaktionen, die das ganze Leben der Dichterin bestimmten und meist empfindlich verschatteten. Sie war davon überzeugt: „Es ist ein Weinen in der Welt, / Als ob der liebe Gott gestorben wär“ 4. Nicht zuletzt deshalb widersetzte sie sich so kompromißlos den gesellschaftlichen Konventionen und stellte den vielen Zumutungen der Umwelt ihre träumerisch erfahrene Phantasiewelt entgegen. Das zur Frage stehende Gedicht trägt den vielsagenden Titel „Weltflucht“. Datum und Umstände der Entstehung lassen sich nicht ermitteln. Else Lasker-Schüler „Weltflucht“  

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hat dazu zwar scheinbar authentische Behauptungen in die Welt gesetzt. Sie sind jedoch allesamt Bestandteil ihrer soeben angesprochenen Phantasiewelt. In ihrer 1925 unter der Überschrift „Ich räume auf !“ verfaßten Abrechnung mit den Verlegern5 ließ sie zu ihrem ersten, 1902 veröffentlichten Gedichtband „Styx“ verlauten: „Die Gedichte meines ersten Buches (…) dichtete ich zwischen 15 und 17 Jahren. Ich hatte damals meine Ursprache wiedergefunden, noch aus der Zeit Sauls, des Königlichen Wildjuden herstammend. Ich verstehe sie heute noch zu sprechen, die Sprache, die ich wahrscheinlich im Traume einatmete. (…) Mein Gedicht Weltflucht dichtete ich u.a. in diesem mystischen Asiatisch“ 6. Dieter Bänsch äußerte dazu in seiner „Kritik eines etablierten Bildes“ 7, „daß das vorgeblich Mythische pure Mystifikation ist“ und vor allem, daß die Niederschrift des Gedichts nicht etwa in die achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts fällt, sondern eher in die Phase kurz vor der Publikation des „Styx“-Bandes, also um die Jahrhundertwende. „Weltflucht“ ist demnach die lyrische Verlautbarung einer etwa Dreißgjährigen. Kurioserweise sei zuerst die den Klanggedichten der Dadaisten nahestehende „mythisch-asiatische“, in gewisser Weise auch arabisierende ,Vorstufe‘ des Gedichts angeführt, weil sie Einblick gibt in die originellen ironisch-spielerischen Sprachphantasien, die unbedingt zum Ausdrucksrepertoire der Dichterin gehören. Die „Weltflucht“ erscheint hier als „Elbanaff “. Das zugehörige eigenwillige Klangerlebnis sollte jeder Leser laut vor sich hinsprechen. Der Text lautet folgendermaßen: Elbanaff: Min salihihi wali kinahu Rahi hatiman fi is bahi lahu fassun – Min hagas assama anadir, Wakan liachad abtal, Latina almu lijádina binassre. Wa min tab ihi Anahu jatelahu Wanu bilahum. Assama ja saruh fi es supi bila uni El fidda alba hire Wa wissuri – elbanaff ! 8 So geartete Traumklänge können etwas von unseren Wünschen und Sehnsüchten in sich haben, das mit der landläufigen Sprache nicht erfaßt werden kann. Ande172  

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rerseits trägt ein so lastender und doch zugleich schwebender Text das Scheitern des angestrebten Ausdrucks bereits in sich. Ohne weiteres könnte eine derartige poetisch-klangmalerische, pathetisch-effektvolle Etude einer 15- bis 17-jährigen zugeschrieben werden. Indes kommt das Resultat über eine experimentelle Erprobung sprachlicher Phantasie nicht hinaus. Wesentlich anders und vor allem pathetisch-effektvoller äußern sich Ichbezogenheit und radikale Aggressivität im einschlägigen Gedicht. Dort wirken sie sprachlich und strukturell direkt nachvollziehbar. Deutlich sind die verzweifelt vorgebrachten Verse von den enttäuschenden Lebenserfahrungen einer Erwachsenen geprägt9. Offenkundig hat die Autorin hier, um eine ihrer Formulierungen aufzugreifen, das „Rascheln der Laute (…) liebend eingefangen in Worte“ 10. Das ändert freilich nichts an Härte und Bitterkeit, die den Tenor des Gedichts durchgängig bestimmen. Deswegen sollte man in den Texten Else Lasker-Schülers nicht etwa mit einem der Interpreten ein „literarisches Traumspiel“ 11 sehen, denn das trifft den dargestellten Inhalt in keiner Weise. Ein einfacher Blick auf das uns beschäftigende Gedicht zeigt das schlagend. Hier der endgültige Wortlaut: Weltflucht Ich will in das Grenzenlose Zu mir zurück, Schon blüht die Herbstzeitlose Meiner Seele, 5 Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück! O, ich sterbe unter Euch! Da Ihr mich erstickt mit Euch. Fäden möchte ich um mich ziehn Wirrwarr endend! 10 Beirrend, Euch verwirrend, Um zu entfliehn Meinwärts! 12 Der Erstdruck erfolgte, wie gesagt, 1902 in „Styx“, der ersten Gedichtsammlung der damals 33-jährigen Lasker-Schüler. In einer früheren Fassung fehlte noch der vierte Vers. Danach hieß es ursprünglich: „Vielleicht ist es zu spät – zurück / Ob ich sterbe zwischen euch / Die ihr mich erstickt mit euch“. Nach „Wirrwarr endend“ fehlte wiederum ein Vers (V. 10), und die drei Schlußverse lauteten, leicht verändert: „Verwirrend, / Zu entfliehen / Meinwärts“ 13. Auf diese verknappte Frühstufe wird „Weltflucht“  

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im Rahmen der Interpretation genauer einzugehen sein. Jedenfalls erklärt der Vergleich beider Fassungen, warum wiederholt die Frage aufgeworfen wurde, ob die (angebliche) formale Willkür der Verse diese nicht in die Nähe zur Prosa rückt. Der darin enthaltene Vorwurf mangelnder ästhetischer Qualität erledigt sich durch den Hinweis auf die unschwer auszumachende ,eigenmetrische‘ Ordnung des Textes. Lasker-Schüler schreibt gewiß keine ,freien Rhythmen‘, wie sie Klopstock in die deutschsprachige Dichtung eingeführt hat. Im Grunde nimmt sie eher die Verfahrensweise der „reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ Brechts vorweg, wobei freilich der Reim hier noch weithin erhalten bleibt und als Ausdrucksmittel genutzt wird. So weisen die dreizehn Verszeilen des Gedichts fünf klare, zum Teil sogar identische Reimbindungen in unterschiedlicher Anordnung auf (V. 1/3, 2/5, 6/7, 8/12, 9/1014 und 11). Allein die Verse 4 und 13 finden als ,Waisen‘, sicher so gewollt, keine gleichklingende Korrespondenz. Offensichtlich sollen sie aus dem Kontext herausfallen. Unregelmäßig ist gleichfalls die syntaktische Abfolge. Auf den ersten Satz, der sich über fünf Verse erstreckt, folgt in nur zwei Versen ein Satz aus zwei Teilsätzen (V. 6/7), danach wieder ein aus drei Teilsätzen bestehender, auf sechs Verse ausgedehnter, komplex angelegter Satz, mit dem die eindeutig finalgerichtete Aussage ausläuft (V. 8–13). Die zum Ende hin deutlich sich verkürzenden Verszeilen unterstreichen die beschleunigte Bewegung. Alles in allem ergibt das eine wohlüberlegte, ausgeformte Anordnung des Textes nach Worten, Wortgruppen, Satzteilen und Sätzen, der ohne weiteres Verscharakter zugesprochen werden kann. Die eigentümliche Versifikation wie auch der neue, befreite Klang einer dissoziierten, aber dennoch konsistenten, poetisch aufgeladenen, mithin kunstbewußten Sprachfiguration entsprechen genau dem ausgesprochen subjektiven Stimmungsgehalt des Gedichts. Mit der Überschrift „Weltflucht“ wird sogleich fast plakativ der angestrebte Rückzug auf das hier direkt sich artikulierende Ich angekündigt. In der Spannung zwischen diesem Auftakt und dem Endwort „meinwärts“ ist die im Text entfaltete Existenzproblematik als Selbstprojektion angesiedelt. Eindeutig geht die beabsichtigte Bewegung von der als erbärmlich phantasielos empfundenen Welt weg, hin zum Innenraum der eigenen Tiefe. Diese „Weltflucht“ ist für die Autorin geradezu Lebensprogramm15. Daß sich darin Sehnsucht nach einer wie immer gearteten Erlösung artikuliert, kann keinem Zweifel unterliegen. Lasker-Schüler suchte stets die Harmonie zwischen Ich und einer mythisch-mystischen Alleinheit, wie sie im Gedicht als „das Grenzenlose“ (V. 1) erscheint. Man braucht dabei nicht gleich mit dem Biographen Jakob Hessing an „Wunschbilder des Todes und des Überganges in ein Jenseits des Friedens“ zu denken16. Eher dürfte es sich, jedenfalls zu diesem relativ frühen Zeitpunkt, um die alte Vorstellung universaler Harmonie von Mikrokosmus 174  

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und Makrokosmos handeln. Außerdem hat der Text „Weltflucht“ unzweideutig einen vordergründigen sozialen Aspekt. Es geht dabei um die Behauptung unbedingter Autonomie der selbstbewußten Künstlerin gegenüber einer sie erstickenden Mitwelt verständnisloser Gleichgültigkeit und Mediokrität („Da ihr mich erstickt mit euch“, V. 7). Der kritische Einspruch gegen diese Gesellschaft löst in erster Linie die Reaktion der „Weltflucht“ aus. Der Antrieb hierzu und die damit verbundenen Implikationen kommen dann im Gedicht konkret zur Darstellung. Gleich der Eingangsvers ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Mit den ersten beiden Worten („ich will“) bekundet sich der feste Wille der Sprechenden, unbedingt ihre Identität zu wahren, – selbst um den Preis der „Weltflucht“. Ziel ihrer Fluchtbewegung ist „das Grenzenlose“. Um fassen zu können, was mit der eigentlich nicht faßbaren Bezeichnung gemeint ist, muß die Weiterführung des Satzes im zweiten Vers einbezogen werden. Wenn nämlich dort gesagt wird: „zu mir zurück“, bekräftigt das den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem „Grenzenlosen“ und dem eigenen Innern. Darin äußert sich, wie schon angedeutet, die Überzeugung untrennbarer Verbindung zwischen Ich und Universum gleich dem Teil eines Ganzen. Nicht etwa der „Rückzug in einen grenzenlosen Seelenraum“ ist damit vorrangig gemeint17, sondern die idealistische Tradition des Zusammenhangs von Mikro- und Makrokosmos als dem Zusammenwirken analoger innerer und universaler Kräfte. Das Individuum wird dabei zur Welt im kleinen. Bänsch betont deswegen mit gutem Grund die „Äquation (d.i. Gleichwertigkeit) von mystischer Welt und Ich“ 18 im Bewußsein der Dichterin. Ihr Drang zu sich zurückzukehren, ist zwar nach innen gerichtet, hat aber eigentlich das Universal-“Grenzenlose“ zum Ziel. Durch das Adverb „zurück“ wird mit einem Schlag die verlorengegangene Verbindung von Ich und Universum wiederhergestellt. In nur zwei kurzen Versen sind damit Orientierungen und Zielsetzungen der Sprecherin festgeschrieben. Jedoch ist der Anfangssatz damit noch nicht zu Ende. In den beiden folgenden Versen entfaltet sich vor unseren Augen ein Bild, das einen entscheidenden Punkt im Rahmen der „Weltflucht“-Bewegung herausgreift: „Schon blüht die Herbstzeitlose / Meiner Seele“ (V. 3/4). Syntaktisch gehören beide Verse eng zusammen. Das eingesetzte Enjambement unterstreicht zusätzlich, daß hierbei eine Bestimmung von größter Wichtigkeit vorgenommen wird. Denn „die Herbstzeitlose“ signalisiert symbolisch die bevorstehende Loslösung vom bisherigen Leben und insofern den Übergang in das gesteigerte Leben im „Grenzenlosen“. Die in der Reifezeit blühende Pflanze, lateinisch: colchicum, stammt bekanntlich aus Kolchis, dem Land der Giftmischerin Medea. Ausnehmend schöne Blüte und giftige Wirkung sagen im Verbund viel aus über den seelischen Zustand der Dichterin zum Zeitpunkt der Niederschrift des Gedichts. Die „Herbstzeitlose“ ihrer „Seele“ bedeutete keinesfalls nur Erlösung für sie, sondern ebenso Isolation. Sicher „Weltflucht“  

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nicht zufällig fällt ihre lyrische Bekundung zeitlich zusammen mit den vielfältigen Folgen ihrer „Flucht“ aus dem bürgerlichen Lebenskreis, besonders aber mit dem Scheitern ihrer ersten Ehe. Klugerweise hat sie jedoch die persönliche Problematik im allgemeinen Bild aufgehoben. Deshalb fehlte wohl in der Erstfassung der Hinweis auf die „Seele“ ganz. Lediglich zwei vielsagende Gedankenstriche am Ende des dritten Verses deuteten an, daß die Metapher der „Herbstzeitlose“ existentielles Gewicht hat. Im Endeffekt wollte die Autorin dann doch bessere Klarheit herstellen. Sie ließ die Gedankenstriche fallen und ersetzte sie in einem neuen Vers durch die direkte Nennung ihrer „Seele“. Eindeutig ist das Bild der Giftblume, psychologisch gesehen, der Hinweis auf eine Identitätskrise. Darum endet der erste Satz mit der bange fragenden Überlegung: „Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!“ (V. 5). Das Verhaftet-Sein im zurückgelassenen Leben erschwert die innerlich angestrebte Loslösung. Andererseits darf es nicht „zu spät“ werden. Also bleibt es bei der einmal getroffenen Entscheidung. Hierzu gilt eine Stelle aus dem Gedicht „Mein stilles Lied“. Sie lautet: „Aber meine Blicke blieben rückwärts gerichtet / Meiner Seele zu“ 19. Das Ausrufezeichen am Schluß des fünften Verses hebt noch einmal die feste Entschlossenheit hervor, auf alle Fälle bei der „Weltflucht“ zu bleiben, also den Weg zur „Seele“ und damit zum „Grenzenlosen“ unbedingt beizubehalten20. Der kurze Mittelteil des Gedichts besteht bloß aus zwei begründenden Versen. Sie sind direkt an diejenigen gerichtet, deren bloße Existenz Ablehnung, Einspruch und Widerstand der Dichterin herausfordern. Ihnen gilt die folgende bittere Anklage: „O, ich sterbe unter Euch! / Da Ihr mich erstickt mit Euch“ (V. 6/7. Die empörte Rede bildet darum das Zentrum des Textes. Die auffallende Großschreibung der ,Höflichkeitsform‘ in der Endfassung muß als reine Ironie aufgefaßt werden. Die Sprecherin unterstreicht damit ihre abgrundtiefe Abneigung. Denn die fehlende geistige Qualität der Angesprochenen ist ja gerade der Grund für die „Weltflucht“. Hier wird die Dichterin überdeutlich in ihrer Kritik an denen, deren Einwirkung geradezu mörderisch auf sie wirkt. Bewußt machte sie deshalb aus dem anfänglichen, in seiner Argumentation etwas unklaren „Ob ich sterbe zwischen euch“ die unzweideutig anklagende Klage: „O, ich sterbe unter Euch!“ Die Auswechselung der Präpositionen („unter“ statt „zwischen“) verstärkt die Ablehnung der Verursacher des Übels. Ergänzend wird im folgenden Vers ein weiterer konkreter Grund für die prinzipielle Zurückweisung der geistlosen Banausen angeführt. Die ,Andern‘ sind nicht nur dem Leben abträglich. Ihr simples Dasein, allein auf materielle Vorteile ausgerichtet, erstickt die Künstlerin, die davon träumt, die Menschen „in eine Paradiesinnerlichkeit (zu entrücken), in der man nur durch den Zauber der Dichtung schon im Leben heimzulanden vermag“ 21. Da jedoch die tatsächlichen Verhältnisse von den „Andern‘ bestimmt werden, sieht sich die Verfechterin menschlicher „Paradiesinnerlichkeit“ zur Flucht genötigt. Der Grund dafür ist ausschließlich bei ihrem lebens- und kunst176  

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feindlichen gesellschaftlichen Umfeld zu suchen22. Die „Weltflucht“ Lasker-Schülers sollte als Versuch rettender Beschwörung der Menschheit verstanden werden. Weil aber die Verhältnisse nicht von ihr geändert werden können, bleibt der vehement und schlüssig argumentierenden Anklägerin allein die Konsequnz totaler Abgrenzung. Das geschieht auf interessante gestalterische Weise in den letzten sechs Versen. Nachdem zunächst in einem längeren Teilsatz die gewünschte Trennung beschwörend ins Bild gesetzt wird (V. 8), erfolgt die Ausmalung dieser Situation in einprägsam aufgereihten, konzisen Bestimmungen. Hämmernd aufeinander folgend, sollen sie, auf fünf Zeilen verteilt, das Bewußtsein des Lesers aufrütteln (V. 9–13). Die zugespitzte Ausformung der Schlußverse macht diesen Teil zum Höhepunkt des Gedichts. Gleichfalls wird dadurch das Endwort „meinwärts!“ auch durch die Form zur ersehnten Lebensdevise aufgewertet. Doch verfahren wir der Reihe nach. Zunächst werden – als weiteres Symbol neben der „Herbstzeitlose“ – „Fäden“ eingeführt, mit denen sich die Sprecherin schützend umgeben möchte („Fäden möchte ich um mich ziehn“; V. 8). Um sich dem „Grenzenlosen“ nähern zu können, sucht sie die strikte Abgrenzung von all denen, die sie zu „ersticken“ drohen. Was dabei erreicht werden soll, verkünden – nach einem mit Bedacht gesetzten Gedankenstrich – die drei nachfolgenden Verszeilen: „Wirrwarr endend! / Beirrend, / Euch verwirrend“ (V. 9–11). Demzufolge ist die Zeit der Kompromisse und der Konzessionen endgültig vorbei. Der „Wirrwarr“ soll aufhören. Von einer völlig abgegrenzten Position aus sollen klare, die ,Andern‘ irritierende Worte gesprochen werden. Darin liegt der Sinn des eigens in die Endfassung eingefügten zehnten Verses („beirrend“). Wohl wissend, daß die Mitwelt kein Verständnis dafür aufbringt, soll ebenso die Grenzziehung („Euch verwirrend“, V. 11) unbedingt vorgenommen werden. Schärfe und Konsequenz dieser Aussage zeigen, daß es einigermaßen absurd erscheinen muß, wenn Clemens Heselhaus dazu nichts anderes einfällt als die Frage: „Weiß die Dichterin eigentlich, daß sie mit dem Vers ,Fäden möchte ich um mich ziehen‘ in ein altes Gleichnis vom Dichter einlenkt? Schon Petrarca verwendet es, und Goethe hat es im ,Tasso‘ erneuert, das Gleichnis vom Seidenwurm, der sich mit dem eigenen Gespinst sein Grab spinnt, um den anderen den Glanz des Daseins zu liefern“ 23. Statt unpassende Bildungsrelikte in Erinnerung zu bringen, hätte er besser daran getan, den Gedichttext genau zu lesen. Dann hätte er bemerken müssen, daß Lasker-Schüler ein völlig anderes Ziel verfolgt als „den anderen den Glanz des Daseins zu liefern“. Sie will sich eben nicht wie der Seidenwurm ihr eigenes Grab spinnen, sondern, die anderen „beirrend“ und „verwirrend“, ihrer Welt entfliehen, um wirklich frei leben und dichten zu können. Daß sie die absolut trennende Herausforderung sucht, belegt das ausdrücklich in die Endfassung eingefügte Personalpronomen, mit dem sie sich einmal mehr die Angesprochenen unmittelbar vornimmt („Verwirrend“ > „Euch verwirrend“). „Weltflucht“  

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Aber damit ist der Schlußsatz immer noch nicht zu Ende. Zwei die vorausgegangene Argumentation auswertende Verse sind noch angefügt: „Um zu entfliehn / Meinwärts“ (V. 12/13). Die zum Schluß propagierte Position besteht darin, nun wirklich die „Weltflucht“ anzutreten. Die Dichterin sieht darin ihre Mission und bemerkte dazu später: „Für eine Mission gibt es keine Furcht vor Konsequenzen, wie heiß die mir auch von Freunden geschildert wurden“ 24. Unbeirrbar entscheidet sie sich nun dafür, alles bisher widerwillig Akzeptierte hinter sich zu lassen und nur noch dem eigenen Anspruch zu folgen. Im bereits erwähnten Gedicht „Mein stilles Lied“ geht sie auf den gleichen Prozeß notwendiger Ablösung ein mit den Worten: „Und ich artete mich nach euch, / Der Sehnsucht nach dem Menschen wegen“ 25. Da die Suche erfolglos geblieben ist, wird diese gründlich enttäuschte Erwartung nicht ohne Bedauern aufgegeben. Was allein bleibt, ist die Flucht. Der einzige gangbare Weg führt zum Ich zurück oder, wie Lasker-Schüler formuliert, „meinwärts!“. Mit dieser für sie typischen Wortfindung beendet sie ihre Absage an ein Zusammenleben auf der Grundlage fauler Kompromisse mit defizitären menschlichen Existenzen. „Meinwärts“ bedeutet, zur Maxime erhoben, den riskanten, ausschlaggebenden Vorstoß ins Ungewisse und „Grenzenlose“, aber eben auch Befreiung. Die zwangsläufig damit einhergehende Isolation wird in Kauf genommen, weil nur so humane Selbstverwirklichung erreichbar ist. Mit dieser kämpferischen Botschaft schließt die Dichterin den Text ab. Gewiß nicht zufällig wurde deshalb „Meinwärts“ zum Thema eines auf Initiative von Heinrich Böll 1989 in Wuppertal aufgestellten Denkmals zu Ehren Else Lasker-Schülers26. Ihre lyrische Botschaft wurde also spät, aber nicht zu spät verstanden. Das darin enthaltene humane Programm löste ebenfalls bei einigen Komponisten das Bedürfnis aus, diesen Text zu vertonen. Schon bald nach der Erstveröffentlichung schuf Herwarth Walden, der zweite Ehemann der Künstlerin, 1910 die erste Vertonung. Text und Noten wurden in der programmatischen Zeitschrift „Sturm“ veröffentlicht. Zeitgenössische Komponisten wie Rudi Spring und David Philip Hefti folgten ihm nach27. So findet das Vermächtnis, das uns die Dichterin mit „Weltflucht“ hinterlassen hat, immerhin eine gewisse Würdigung. Neuerdings werden sogar im Oberstufenunterricht der Schulen und in germanistischen Proseminaren immer wieder die Verse Lasker-Schülers interpretiert, oft im Vergleich mit dem Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis. Das sind Zeugnisse einer Rezeption, die viel zu lange auf sich warten ließ. Das Gedicht „Weltflucht“ ist jedenfalls ein für die Zeit seiner Entstehung etwas mehr als ein Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein warnendes Signal. Bedauerlicherweise wurde es nur von wenigen gehört.

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Anmerkungen 11 Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in vier Bänden.. Hrsg. v. Dieter Wellershoff. Wiesbaden 1959, Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge, S.538 (Rede auf Else Lasker-Schüler, 1952). 12 Kraft, Werner: Erinnerungen an Else Lasker-Schüler In: Hochland. Jg. 43, Heft 6 (1951). 13 Hille, Peter: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Friedrich und Michael Kienecker, Essen 1986, Bd. 5, S. 81. 14 Lasker-Schüler, Else: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky Frankfurt/M. 1996 ff. (Sigle: WB); hier: WB I.1, S. 75 („Weltende“, 1906). 15 WB 4.1: Prosa 1921–1945. Nachgelassene Schriften. Frankfurt/M. 2001, S. 47–85 (Ich räume auf ! Meine Anklage gegen meine Verleger). 16 WB 4.1,58. 17 Bänsch, Dieter: Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes. Stuttgart 1971 (Sigle: DB). 18 WB 4.1,59. 19 Zutreffend verweist Bänsch in seiner einläßlichen Begründung, warum das Gedicht nicht schon „zwischen 1884 und 1886 enstanden“ sein kann, vor allem auf das „Scheitern der Ehe mit Dr. Lasker“ (DB, S. 234). Vgl. hierzu: DB, S. 192–197. Die 1894 geschlossene Ehe mit Jonathan Berthold Lasker wurde 1903 geschieden. Nach der Übersiedlung von der bergischen Provinz nach Berlin im Zuge der Heirat gehörte die Dichterin bald in zunehmend „emanzipierter Leidenschaft“ (DB, S. 194) zur Bohème der Hauptstadt. 10 WB 4.1,481 („Deine Seele“). 11 Heselhaus, Clemens: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. Düsseldorf 1962, S. 213. 12 WB 1.1, S. 234; ebenso in „Styx“ (St,10). 13 WB 4.1,59. 14 Bei V. 9 handelt es sich allerdings um einen nicht ganz ,reinen Reim‘, weil er nicht vom letzten Vokal an im Gleichklang ist. 15 Thematisch verwandt sind Gedichte wie „Mein stilles Lied“ (WB I.1,94-–96), „Weltschmerz“ (WB 1.1,51) und „Weltende“ (WB 1.1,103) oder auch das Schlußgedicht der Sammlung „Styx“ mit dem Untertitel „Weltscherzo“. 16 Hessing, Jakob: Else Lasker-Schüler. 2.A. München 1987, S. 113. 17 So Hessing in seiner kritischen Rezeptionsanalyse (Hessing, Jakob: Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin. Else Lasker-Schülers mythisierende Rezeption 1945–1971. Tübingen 1993, S. 125). 18 DB, S. 121. 19 WB 1.1,95 (V.21/22). 20 Es würde für das Textverständnis wenig erbringen, auf die geringfügen Abweichungen der Fassungen des fünften Verses ausführlicher einzugehen. In der Erstfassung lautet der Vers: „Vielleicht ist es zu spät – zurück“: Daraus wird dann: „Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!“. Die Hinzufügung des Adverbs „schon“ verdeutlicht ein wenig die ,Umstandsbe„Weltflucht“  

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stimmung der Zeit‘. Die Umstellung des Gedankenstrichs unterstreicht den Fragecharakter, während am Anfang mehr das Ziel der Bewegung betont wird. WB 4.1, S. 56 („Ich räume auf !“) Deshalb wird aus „Die ihr mich erstickt mit euch“ (V.7) in der Endfassung: „Da Ihr mich erstickt mit Euch“. Heselhaus, Clemens: Ein Bündel Wegerich. Zum hundertsten Geburtstag Else LaskerSchülers. In: Stuttgarter Zeitung v. 8.2.1969. WB 4.1,203 („Die Klage der Dichter“ (Antwort auf eine Rundfrage, etwa 1930). WB 1.1,96 (V. 45/46).. Es handelt sich um eine Skulptur des Münchner Künstlers Stephan Huber. Sie besteht aus zwei Stelen aus schwarzem Granit mit dem Abbild der sich gleichsam selbst betrachtenden Dichterin (aufgestellt am Kasinokreisel, Ecke Kasinostraße/Herzogstraße, in Wuppertal-Elberfeld). Rudi Spring: opus 20 B: Lied für Mezzosopran und Klavier (1997), David Philip Hefti: Nr. 5 im Zyklus „Tenet“ für Sopran und Ensemble (2003).

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„Die Treppe der Orangerie“ (1906)

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iele verehren ihn, manche lehnen ihn vehement ab. So war es von Anfang an. Rainer Maria Rilke (1875–1926) ist ein Dichter, der durch seine Erscheinung wie durch sein formbetontes Werk polarisierend wirkt. Als Deutscher aus Prag, Bürger der k.u.k.-Monarchie, seit 1920 mit einem tschechoslowakischen Paß, war er in gewisser Weise heimat- und bindungslos. Dies um so mehr, als sein Elternhaus ihm nicht die nötige Geborgenheit bot. Streitigkeiten zwischen der prätentiösen Mutter und dem bescheiden beamteten Vater sowie eine für den übersensiblen Jungen unerträglich harte Erziehung in einer Kadettenanstalt hinterließen in ihm lebenslang wirkende traumatische Erfahrungen. Sie legten den Grund für eine besonders ausgeprägte Empfindlichkeit. Früh schon fühlte er sich vereinsamt und suchte deswegen auch in der Folgezeit stets gerne das Alleinsein und die damit gegebene Distanz zum Alltäglichen. Aufschlußreich hierfür ist ein im Sommer 1903 an die Freundin Lou Andreas-Salomé gerichteter Brief aus Paris. Rilke schrieb da: „Und in der Nacht stand ich auf und suchte meinen Lieblingsband Baudelaire, die ,Petits poèmes en prose‘, und las laut das schönste Gedicht, das überschrieben ist ,A une heure du matin‘ (,Ein Uhr morgens‘) (…) Es beginnt: ,Enfin! seul! (…) Pendant quelques heures, nous posséderons le silence, sinon le repos. Enfin ! La tyrannie de la face humaine a disparu, et je ne souffrirai plus que pour moi-même‘1 (…) Was für eine seltsame Gemeinsamkeit war da zwischen uns“ 2. Hier spricht ein leidender Narziß, einer, der jedenfalls „sich selber wichtig ist“ (Fritz J. Raddatz3). Und noch in den seit 1911 in Arbeit befindlichen, 1922 vollendeten „Duineser Elegien“ heißt es pathetisch: „Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids“ 4. Schreiben war von Beginn an die einzige Zuflucht. So kam Rilke zur selbstauferlegten Rolle eines Sinnsetzers, eines ,Priesterdichters‘ in der säkularisierten Welt. In den frühen Gedichten („Stundenbuch“, 1899–1903, „Buch der Bilder“, 1902-05) dominierte noch der Ausdruck des ganz vom Ich getragenen Fühlens und Ahnens. Fortwährend stößt man da auf Bekenntnisgedichte eines philosophischen Dilettantismus voll gesuchter Bilder und Vergleiche. Die häufig süßlich-preziöse Diktion verrät Unreife und Manieriertheit. Am schlimmsten äußerte sich diese Tendenz in dem schwülstig-exquisiten Erzähltext mit dem Titel „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ 5. Mit solchen poetischen Ergüssen fand der Dichter eine Gemeinde ästhetisch Angehauchter. Thomas Mann kritisierte ihn deshalb als „Die Treppe der Orangerie“  

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den „oesterreichischen Snob“, dessen „Aesthetizismus“ und „frömmelnde Geziertheit“ ihm „immer peinlich“ gewesen sei6. Diese bedenkliche Seite von Rilkes Schaffen war ebenso gemeint, als Ernst Jandl die bösen Verse schrieb: „rilke / sagte er // dann sagte er / gurke // leise dann / wolke“ 7. Das änderte sich gründlich mit dem Erscheinen der „Neuen Gedichte“ (1907) und vor allem der „Duineser Elegien“ (1922) sowie der „Sonette an Orpheus“ (1923). Von 1898 an, also ab seinem 21. Lebensjahr, war der Heimatlose eigentlich dauernd unterwegs. Wahrlich – ein Wanderleben. Rastlos reiste Rilke von einem Ort zum andern. Immerhin hatte er Wahlheimaten. Neben einem besonderen Interesse für Rußland fällt eine deutliche Vorliebe für die Schweiz und für Frankreich, hauptsächlich für Paris auf. Dort hielt er sich, alles in allem, fast sieben Jahre auf. Hauptsächlich zwischen 1902 und dem Ersten Weltkrieg lebte er in der französischen Hauptstadt, zeitweise als Sekretär des von ihm verehrten Bildhauers und Malers Auguste Rodin, über den er eine Monographie verfaßte. Die Begegnung mit dem 35 Jahre Älteren wurde für Rilke zur entscheidenden künstlerischen Erfahrung der Moderne. Er merkte dazu an: „Ich hatte das Glück, Rodin in jenen Jahren zu begegnen, da ich reif war für meine innere Entscheidung und da andererseits, für ihn, der Moment eingetreten war, die Erfahrungen seiner Kunst in eigentümlicher Freiheit auf alles Erlebbare anzuwenden“ 8. Ergänzend hierzu kamen wesentliche Anregungen durch Bilder Paul Cézannes, insbesondere durch dessen streng disziplinierte Arbeitsweise. Rilke lernte daran, daß der Künstler Widerstand braucht, um allmählich, Stück um Stück, weiterzukommen. Auf diese Weise gelang es dem provenzalischen Maler, die einfachsten Gegenstände, wie etwa Äpfel oder Weinflaschen – Rilke sagte: „Die Äpfel sind alle Kochäpfel, und die Weinflaschen gehören in rund ausgeweitete Rocktaschen“ – dazu zu zwingen, „die ganze Welt zu bedeuten“ 9. Er übernahm von ihm die Suche nach dem Wesen der Dinge vom Detail her. Einfühlsam sprach ihm Klaus Mann deshalb eine „letzte, äußerste, überraschendste Sublimierung der Sinnlichkeit“ zu, „so daß“, wie er betonte, „Sinnlichkeit zum Geiste wird“ 10. Rilkes relativ kurzes Leben – er starb nur 51-jährig an Leukämie – war bestimmt von seinem Leiden an den entwerteten Lebensbedingungen der technisierten Welt und an der Existenznot des modernen Menschen. Verunsicherung und Perspektivlosigkeit der Massengesellschaft waren ihm zuwider. Auf all das reagierte er mit einem förmlichen Kult der Einsamkeit. Paul Valéry fand für diese Haltung den richtigen Begriff, indem er dem befreundeten Dichterkollegen die „gedankenvolle Klausur des Einsiedlertums“ zuerkannte11. Rilke selbst bekundete in einem Brief zur Situation des Außenseiters in der Gesellschaft: „das ist kein Grund zu Angst oder Traurigkeit; wenn keine Gemeinsamkeit zwischen den Menschen ist und Ihnen, versuchen Sie es, den Dingen nahe zu sein, die Sie nicht verlassen werden: noch sind die Nächte da und die Winde, die durch die Bäume gehen und über viele Länder“ 12. 182  

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Dem ist unschwer zu entnehmen, was, nicht zuletzt unter dem prägenden Einfluß Rodins und Cézannes, für den Dichter zur Triebfeder seiner Arbeit wurde. Nicht mehr gefühlsbedingtes Beschreiben war das Ziel, sondern geistiges Nachempfinden der Dinge, gerade auch der unauffälligen Dinge. Das führte zu präziser und zugleich inspirierter Betrachtung und damit zum Sprung aus der Subjektgebundenheit. Vom veränderten Blickpunkt aus trat an die Stelle des Fühlens das Schauen und Zeigen. Deswegen bezeichnete man die neuen Gedichte als ,Dinggedichte‘. Gemeint ist damit ein beschreibender Symbolismus von sublimer Sinnlichkeit und Phantasie. Die Empfindungen der eigenen inneren Welt werden dabei in Verbindung gesetzt zum Lebensgesetz. Diesen wesentlichen Zusammenhang nannte Rilke den „Weltinnenraum“ 13. Er verstand darunter einen überpersönlichen geistigen Bereich, der den Rahmen abgibt für Kunst. Ihn setzt er der enttäuschenden Welt entgegen. Im dichterischen Wort verbinden sich, Rilkes Überzeugung nach, die äußerlich getrennten Dinge in einer höheren Ordnung zu neuer Einheit, weil die gestörte Subjekt-Objekt-Beziehung aufgehoben wird. Noch in einem Brief vier Jahre vor seinem Tod schrieb er: „Meine Welt beginnt bei den D i n g e n“ 14. Was das bedeutet, hat der Schriftsteller Hermann Kasack erläuternd in die folgenden Worte gefaßt: „Der aller Realität übergeordnete Begriff in Rilkes Gesamtwerk bleibt das Phänomen des Lebens. Der Gedanke der Welt als die geläuterte Anschauung ihrer Lebendigkeit ist der Ursprung seines Gedichts“ 15. Wir fassen damit seine symbolische Sicht der Welt. Mehr und mehr interessierte den gereiften Rilke der Arbeitsprozeß des Dichtens und dessen Auswirkungen. Dabei setzt er an die Stelle subjektiver Bilder Objekte (wie etwa ein Karussell im öffentlichen Park, einen Apfelgarten, einen Balkon, eine Gazelle oder die Treppe der Orangerie von Versailles). Sie werden in ihrem Eigenwert betrachtet, auf poetische Weise in Sprache überführt und so in ihrer symbolischen Bedeutung erfaßt. Was Rilke an Rodin bewunderte, gilt ebenso für seine eigene Arbeit: „Dinge in die weniger bedrohte, ruhigere und ewigere Welt des Raumes zu passen; (…) so sehr erlebt er ihr S e i n , ihre Wirklichkeit, ihre allseitige Loslösung vom Ungewissen, ihr Vollendet- und Gutsein, ihre Unabhängigkeit; sie stehen nicht auf der Erde, sie kreisen um sie“ 16. Die bisherigen allgemeineren Betrachtungen sollen nun an einem Beispielgedicht nachvollzogen und überprüft werden: „Die Treppe der Orangerie“. Es geht zurück auf Eindrücke, die Rilke bei einem gemeinsamen Besuch mit Rodin am 17. und 20. September 1905 in Versailles sammelte. Ein Jahr später, Mitte Juli 1906, verfaßte der inzwischen 30-jährige seinen nach den empfangenen Eindrücken entstandenen Text. Im Jahr darauf nahm er ihn dann in die Sammlung der „Neuen Gedichte“ auf. Der Zeitraum zwischen dem Besuch in Versailles und der Niederschrift des Gedichts war angefüllt mit für Rilke einschneidenden Ereignissen17. Sie trugen sicher „Die Treppe der Orangerie“  

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nicht unwesentlich zu seiner existentiellen Reifung bei. Hier der höchst eigenwillige Text: Die Treppe der Orangerie Versailles Wie Könige die schließlich nur noch schreiten fast ohne Ziel, nur um von Zeit zu Zeit sich den Verneigenden auf beiden Seiten zu zeigen in des Mantels Einsamkeit – : 5

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so steigt, allein zwischen den Balustraden, die sich verneigen schon seit Anbeginn, die Treppe langsam und von Gottes Gnaden und auf den Himmel zu und nirgends hin; als ob sie allen Folgenden befahl zurückzubleiben, – so daß sie nicht wagen von ferne nachzugehen, nicht einmal die schwere Schleppe durfte einer tragen. 18

Das Gedicht kann durch seinen feierlich-getragenen Gestus zunächst einmal hermetisch wirken. Mit gutem Grund sprach Jean Cocteau einmal von der „Geheimsprache, die jedem Künstler eigen ist“ 19, in die man sich einlesen, ja einarbeiten muß. Das gilt hier in besonderem Maße. Vor der versuchten Klärung ist jedoch eine kurze Information zum Gegenstand des Gedichts, zur „Treppe der Orangerie“, erforderlich. Diese Treppe, auch ,Treppe der hundert Stufen‘ (,L’escalier des 100 marches‘) genannt, ist ein von den Touristen meist übersehenes Kleinod im Rahmen der großartigen Gesamtkomposition des Schlosses von Versailles und seiner Parkanlagen. Es handelt sich dabei um eine breit angelegte Freitreppe, die langsam, in drei Stufungen ansteigend, die obere Ebene der Schloßanlage mit der unteren verbindet. Sie befindet sich unweit der Südseite des Schlosses an der Stelle, wo die geometrisch angelegten Blumenrabatten, die so genannten ,Parterres du Midi‘, enden. Dort wurde, an die abfallende Böschung angelehnt, die Orangerie errichtet. Dadurch wird der Höhenunterschied zwischen den Blumenrabatten oben und dem großen Bassin unten (,Pièce d’eau des Suisses‘) überbrückt. Die Seitenflügel der Orangerie werden links und rechts von der hundertstufigen Treppenkonstruktion abgeschlossen. Architektonisch wurde die Orangerie mit den Treppenaufgängen gestaltet von 184  

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Jules Hardouin-Mansard (1646–1708), seines Zeichens Hofarchitekt des Königs mit der Zuständigkeit für ganz Frankreich (‚Surintendant des Bâtiments du Roi‘). Von ihm stammt auch die Ummantelung des Zentralgebäudes mit der Parkfassade, der Spiegelgalerie und der Schloßkapelle. Innerhalb der grandiosen Gesamtkomposition stellt die Treppe der Orangerie nur ein geringfügiges Detail dar. Rilke greift gerade diesen kleinen, aber bezeichnenden Ausschnitt heraus. Erkennbar hat er die Treppenanlage genau gemustert. Von unten gesehen – und das war seine Blickrichtung – steigt die ebenso anspruchslose wie gewaltige Konstruktion nicht einfach von der unteren zur oberen Ebene auf, sondern vom Irdischen in einen offenen, gleichsam unendlichen Raum hinein, eben „auf den Himmel zu“, wie es im Gedicht heißt. Das ist von vornherein die Perspektive des Gedichts. Die Überschrift stellt den Gegenstand heraus, das „Ding“ also, dem die lyrische Reflexion gilt. Gezielt nimmt die Gliederung der zwölf Verse in drei Strophen den gestuften Dreischritt der Treppe auf, die aus dreimal rund 30 Stufen mit zwei verbindenden Ebenen dazwischen besteht. Poetische Formung und Gegenstand entsprechen sich mithin genau. Der lyrisch entfaltete Dreischritt lebt von der symmetrischen Anordnung der ersten und der dritten Strophe um die axial angelegte Mittelstrophe. Einfache fünfhebige Verse im Kreuzreimschema (abab) stützen die strophische Gliederung. Durch sie wird, in erster Linie mit Alliteration (d.h. Stabreim = Buchstabenreim20) und Endreim (Gleichklang der Versenden), die klangliche Gestaltung des Textablaufs herbeigeführt. Ein einziger, durchgängiger Satz füllt die zwölf Verse und breitet sich in einer komplexen syntaktischen Bewegung zielgerichtet aus. Dabei strukturiert die Interpunktion gestaltgebend die gedanklich wichtigen Einschnitte. Auf einen modalen Nebensatz in der ersten Strophe folgt in der zweiten Strophe ein (Teil-)Hauptsatz, an den sich wiederum in der Schlußstrophe ein Nebensatz anschließt. Der sich über den Gesamttext ausdehnende Vergleich („Wie Könige“ – „so steigt (…) die Treppe“ – „als ob (…) so daß“) trägt die gedankliche Gesamtkonstruktion. Er schlägt zugleich die geistige Brücke zwischen dem für diesen Ort, Versailles, kennzeichnenden Absolutismus und der majestätischen Treppe. Die der ersten Strophe zugewiesene Nebenordnung führt einen das ganze Gedicht durchziehenden Vergleich ein („Wie Könige …“). Dieser Wie-Vergleich bestimmt die textuelle Gesamtstruktur. Er wird zur tragenden Metapher des Ganzen. Da die Überschrift Ort und Gegenstand der Darstellung nennt, braucht der Autor das Objekt des Vergleichs, die Treppe, nicht noch einmal anzuführen. Sie wird darum zunächst nicht noch einmal erwähnt. Der genius loci, Versailles, bestimmt das Bild der „nur noch schreitenden“, also nicht einfach gehenden „Könige“ (V. 1). Von Beginn an ist dem Text somit eine würdevolle Bewegung eingegeben. Die anschließende Wendung „fast ohne Ziel“ (V. 2) ergänzt die Aussage durch den „Die Treppe der Orangerie“  

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Hinweis auf die wie selbstverständliche Aura der Mächtigen, die sich „nur von Zeit zu Zeit“ (V. 2) „zu zeigen“ (V. 4) brauchen. So einer kann, wie der Bauherr von Versailles, Ludwig XIV., von sich sagen: „Der Staat bin ich“ („L’état c’est moi“). Je mächtiger aber die Machthaber sind, um so einsamer sind sie auch. Sie umgibt „des Mantels Einsamkeit“ (V. 4). Die sich „Verneigenden auf beiden Seiten“ (V. 3) bleiben weithin unbeachtet. Damit ist das Ritual des Gottesgnadentums der absoluten Monarchie plastisch dargelegt. Die allein im Titel angeführte ,königliche‘ Treppe evoziert im Bewußtsein des Dichters die majestätisch-zeremonielle höfische Ordnung. Damit erreicht der Vergleich einen ersten Höhepunkt. Die auffällige, weil ungewöhnliche Interpunktion (- :) macht diesen Einschnitt dem Leser eindringlich bewußt. Die mitschwingende Symbolik der Übereinstimmung von Königlichem und Kunst kann allerdings an diesem Punkt der lyrischen Reflexion noch nicht ausgemacht werden. Erst rückwirkend, vom Folgetext her, läßt sich der Gedanke der Autonomie der Kunst erfassen. Doch muß auf diese Bedeutungskomponente im Text bereits hier hingewiesen werden. Mit der zweiten Strophe rückt dann „die Treppe“ (V. 7) ausdrücklich in den Mittelpunkt des angestellten Vergleichs. Diese ,königliche‘ Treppe wird nicht statisch, sondern ausgesprochen dynamisch erlebt. Die für sie bezeichnende vertikale Bewegung ist nicht mehr allein auf „Schreiten“ (V. 1) angelegt. Vielmehr hebt der Vergleich jetzt auf die eingeschlagene Richtung nach oben ab („so steigt“, V. 5). Mit dem eingeführten steigernden Begriff des „Steigens“ verfolgt Rilke eine ganz bestimmte Absicht. Wir erfahren hierdurch, warum er gerade die Treppe der Orangerie mit einer derartigen Aura ausstattet. Ihr besonderes „Steigen“ hängt mit ihrer Isolation zusammen. Abgehoben von den flankierenden „Balustraden“ („allein zwischen den Balustraden“, V. 5), die, wie es heißt, „sich verneigen schon seit Anbeginn“ (V. 6), bleibt der Repräsentant des Erhabenen ganz für sich. Wie bereits im vierten Vers („Einsamkeit“) wird darauf ein weiteres Mal aufmerksam gemacht („allein“). Für den Leser ist damit offenkundig, daß hinter den „sich verneigenden“ Seitengeländern das Bild der Untertanen evoziert wird. Zwei Sphären stoßen also aufeinander: die des Erhabenen und die des Gewöhnlichen. Danach kann der majestätische Aufwärtsdrang der Treppe als konkrete Bewegung „langsam und von Gottes Gnaden“ (V. 7) beschrieben werden. Bewußt greift Rilke hier auf die Formel des monarchischen Gottesgnadentums zurück, weil dadurch verdeutlicht wird, wie die Treppe, gleich der sich selbst genügenden Machtfülle der Könige, kein irdisches Ziel kennt außer der Macht. Vollkommen in sich ruhend, kann sie darum – wortwörtlich – „auf den Himmel zu und nirgends hin“ (V. 8) ansteigen. Durch den Vergleich mit dem autarken, in sich geschlossenen, hierarchisch gegliederten Kosmos der monarchischen Ordnung kommen Sinn und Zweck der Treppenbewegung sinnfällig zum Ausdruck21. Rilke vermittelt in den Versen der Mittelstrophe, gestützt auf konkrete 186  

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adverbiale Bestimmungen, ein souverän gestuftes Bewegungsgefühl nach oben. Unabhängig von der Alltäglichkeit der „Balustraden“ strebt die Treppe „wie Könige“ ins Unendliche empor. Der Satz ist jedoch noch nicht zu Ende. Nur die Textbewegung hält für einen Moment inne. Das Semikolon, der Strichpunkt, setzt das dafür angemessene Zeichen, denn seine Funktion besteht bekanntlich darin, zwischen Komma und Punkt stehend, eine gedankliche Unterbrechung herbeizuführen. Für den Leser beschränkt sich aber die Symbolik immer noch auf die Relation des Königlichen zur Treppe. Erst der das Ganze abschließende modale Nebensatz, der die dritte Strophe bildet, steigert den Vergleich zu unerwarteter, höherer Qualität. Die Eingangsformulierung „als ob“ (V. 9) kündigt diesen Umschlag an. Diese Sprechform eröffnet der tragenden Metapher einen weiteren Sinnbereich. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, Rilke habe in den „Neuen Gedichten“ die „fremdartigen Dinge der Welt und die verschwiegenen Bewegungen des Gefühls erneut“ zusammengebracht22. Nachdem zuvor durch die eindringliche Gleichsetzung von Treppe und Königlichem der Unterschied zwischen beiden in einer gedanklichen Synthese aufgehoben worden ist, kann der Dichter nun eine neue symbolische Qualität transformierender Einheit einführen. Zwar ist noch unzweideutig von der Treppe in ihrem königlichen Erscheinungsbild die Rede. Indes gewinnt ihr Ansteigen zugleich Eigenwert als Metapher eines autonomen Seins, in dessen Umkreis das Banale nichts zu suchen hat. Deswegen heißt es im Text: „als ob sie allen Folgenden befahl / zurückzubleiben“ (V. 9/10). Jetzt wird mit einem Schlag deutlich und durch das Enjambement noch besonders akzentuiert, daß der Autor die ganze Zeit auf zwei Manualen spielt. Von Beginn an hat er seinen Text mit dem mitschwingenden Subtext versehen, der indirekt eine symbolisch verschlüsselte Nachricht enthält. Seine Botschaft besteht in der Aussage: Die Treppe, die so königsgleich „auf den Himmel zu und nirgends hin“ steigt, steht für Rilkes erhabene, fast sakral getönte Konzeption der Dichtung. Um das zu realisieren, genügt eine erneute Lektüre der Verse. Die damit zugängliche poetologische Bedeutungsschicht des Gedichts offenbart uns eine ästhetische Auffassung, die eine ganz für sich selbst stehende, sich selbst genügende, reine Kunst anstrebt: – l’art pour l’art. Gemeint ist eine ebenso subtile wie tiefe, freilich auch sehr ferne Kunst. In ihr deuten sich produktive Lebensmöglichkeiten jenseits des Alltäglichen an. Die Wendung im zweiten Vers – „fast ohne Ziel“ – bekommt dadurch nachträglich den radikalen Sinn eines höchsten Kunstanspruchs. Der Autor propagiert demnach eine autonome Dichtung, nicht etwa als Selbstzweck, sondern im Dienste innerer Erfahrung des ästhetisch Gestalteten. Mit einem derartigen Anspruch galt und gilt Rilke als ,Priesterdichter‘ in der Tradition des antiken ,poeta vates‘, des Seherdichters, – eines Seherdichters allerdings in einer technokratischen, demoralisierten und geistfernen Konsumwelt. „Die Treppe der Orangerie“  

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Insofern bezieht das Gedicht seine Wirkung ganz aus sich heraus. Die Teilhabe des Publikums steht deshalb unter der einschüchternden Voraussetzung „als ob sie allen Folgenden befahl / zurückzubleiben, – so daß sie es nicht wagen / von ferne nachzugehen“ (V. 9–11). Vordergründig gelesen, beschreibt die nach dem Gedankenstrich in der Mitte des zehnten Verses folgende Aussage eher das Ausgeschlossensein der Leserschaft. Dahinter verbirgt sich jedoch insgeheim die Aufforderung, der königlich aufwärts schreitenden Treppe wie dann den königlich aufwärts schreitenden Versen unbedingt wenigstens „von ferne nachzugehen“, weil damit die Stufe eines neuen Sehens, Schauens und Begreifens erreicht werden kann. In der Tat erscheint die königliche Treppe zunächst als eine „ungreifbare, den Menschen beanspruchende Erscheinung“ 23. Aber gerade dieser herausfordernde Gestus will zur Übernahme der Aufwärtsbewegung stimulieren. Was Könige nicht erlauben („nicht einmal / die schwere Schleppe durfte einer tragen“, V. 11/12), räumt uns die Kunst durchaus ein. Ihr wenigstens „von ferne nachgehen“ zu können, gibt uns die Möglichkeit qualitativer Transformation. Die dem Text innewohnende Verwandlungskraft soll sich auf diejenigen übertragen, die dazu bereits sind, „die schwere Schleppe“ ästhetischer Erfahrung mit zu „tragen“. Um dahin zu gelangen, bedarf es genauen und wiederholten Lesens. Nur wer sich wirklich auf den Text einläßt, dringt in die ,Geheimsprache‘ des Dichters ein. Geschenkt wird einem das nicht. Man muß wirklich „eine schwere Schleppe tragen“. Aber es lohnt sich, weil wir uns so dem offenbarten „Weltinnenraum“ nähern, jener geistigen Sphäre, die frei ist von den Zwängen unseres Alltags. Sie ermöglicht ein anderes „Erleben“ der Welt, indem sie uns die von Robert Musil beschworene „Kraft der Steigerung“ 24 gibt. Ohne sie wäre es schlecht bestellt um uns.

Anmerkungen 1

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Dt. Übersetzung: ,Endlich allein! Wenigstens für einige Stunden wird uns die Stille, vielleicht sogar die Ruhe gewährt. Endlich ist die Tyrannei der Menschengesichter verschwunden, und ich leide nur noch für mich allein. Französische Originalfassung: À une Heure du Matin. In: .Baudelaire, Charles: Oeuvres complètes (= Bibliothèque de la Pléiade). Hrsg. v. Y.-G- Le Dantec und Claude Pichois. Paris 1961, S. 240 Rilke an Lou Andreas-Salomé am 18.7.1903. Zit. n.: Rainer Maria Rilke-Lou AndreasSalomé. Briefwechsel. Hrsg. v. Ernst Pfeiffer. Zürich, Wiesbaden 1952, S. 54. Raddatz, Fritz J.: Rainer Maria Rilke. Überzähliges Dasein. Eine Biographie. Zürich, Hamburg 2009, S. 121. Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke (Insel-Ausgabe), Bde 1 und 2: Gedichte. Hrsg. v. Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt/M. 1996 (Sigle: RMR/G); hier: RMR/G 1,725 (10. Elegie).

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15 Der Text ist 1899 entstanden und wurde 1904-06 veröffentlicht. 1912 erschien er als erstes Inselbändchen. 16 Brief Thomas Manns an Agnes E. Meyer vom 3.10.1941. Zit. n.: Thomas Mann-Agnes E. Meyer. Briefwechsel 1937–1955. Hrsg. v. Hans-Rudolf Vaget. Frankfurt/M. 1992, S. 318. 17 Jandl, Ernst: der gewöhnliche rilke 1–17. In: Rilke? Kleine Hommage zum 100. Geburtstag. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1975, S. 12. 18 Rilke an Hermann Pongs am 21.10.1924 aus Muzot. Zit. n.: Rilke, Rainer Maria: Briefe. Hrsg. v. Karl Altheim. Wiesbaden 1950 (Sigle: RMR/B); hier: RMR/B 2,466.. 19 Rilke an seine Frau Clara, geb. Westhoff am 7. und 9.19.1907 (RMR/B 1,185 und 191). Rilke stand unter dem direkten Eindruck einer 1907 in Paris veranstalteten Gedächtnisausstellung für den 1906 verstorbenen Cézanne. 10 Mann, Klaus: (Artikel vom 14.1.1927); zit. n.: Insel-Almanach auf das Jahr 1967. Frankfurt/M. 1966, S. 75. 11 Zit. n.: Rainer Maria Rilke. Stimmen der Freunde. Ein Gedächtnisbuch. Hrsg. v. Gert Buchheit. Freiburg i.Br. 1931, S. 175. 12 Rilke an Franz Xaver Kappus am 23.12.1903 aus Rom (RMR/B 1,65). 13 Im Gedicht „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen“ (1914) stehen die Verse: „Durch alle Wesen reicht der e i n e Raum: / Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still / durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, / ich seh hinaus, und i n mir wächst der Baum“ (RMR/G 2,92 f. (Zitat: S. 93, V. 13–16). 14 Rilke an Ilse Jahr am 2.12.1922 aus Muzot (RMR/B 2,370). 15 Kasack, Hermann: in: Insel-Almanach (s. Anm. 10). 16 Rilke an Lou-Andreas-Salomé am 8.8.1903 aus Oberneuland bei Bremen (RMR/B 1,59). 17 Hervorzuheben sind vor allem: die kurze Tätigkeit als Sekretär Rodins, das Zerwürfnis und die anschließende Trennung (s. den Abschiedsbrief vom 12.5.1906: RMR/B 1,128–130), ferner der Tod des Vaters (14.3.1906) und der Berliner Vortrag über Rodin (20.3.1906). 18 RMR/G 1,527. 19 Cocteau, Jean: Champollion. Zit. n. : Höllerer, Walter : Theorie der modernen Lyrik I. Reinbek bei Hamburg 1965, S. 269. 20 Alle Verse weisen mindestens eine Alliteration auf. 21 Es ist nicht so, wie ein Interpret annimmt, daß hier durch „die Anthropomorphisierung der Treppe“ und „das Bild der Könige“ die „Darstellung der Treppe (…) keine eigene dingliche Konsistenz“ bekomme (so Müller, Wolfgang: Rainer Maria Rilkes ‚Neue Gedichte‘. Vielfältigkeit eines Gedichttypus. Meisenheim 1971, S. 106 und 108). Das genaue Gegenteil ist der Fall, denn es geht bei diesem ‚Ding‘ um die königliche Treppe beim Schloß von Versailles. 22 Krummacher, Hans-Henrik: Das ‚als-ob‘ in der Lyrik. Erscheinungsformen und Wandlungen einer Sprachfigur der Metaphorik von der Romantik bis zu Rilke. Köln, Graz 1965, S. 184. Krummacher spricht zutreffend von der „Selbständigkeit der Figur als Sprachbewegung“ (S. 189), die „in sich selbst ausgeweitet und gegliedert ist“ (S. 198). „Die Treppe der Orangerie“  

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23 So Wolfgang Müller: a.a.O., Anm. 21, S. 134. 24 Musil, Robert: Rede zur Rilke-Feier (in Berlin am 16.1.1927). In: drs.: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1229–1242, Zitate: S. 1239 und 1241.

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„Weltende“ (1910)

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m 11. Januar 1911, nicht einmal vier Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, erschien in der freidenkerischen Berliner Zeitschrift „Der Demokrat“ ein Gedicht, das unter den kulturell Interessierten eine unglaubliche Wirkung auslöste. Diese acht Verse vom „Weltende“ wurden in der Folgezeit zum „berühmtesten Gedicht des deutschen Expressionismus“ (Peter Rühmkorf1), das in keiner der einschlägigen Anthologien fehlt. Sie wurden sogar zu einer Art Programmgedicht für die ganze Epoche des beginnenden 20. Jahrhunderts. Der Autor war ein damals dreiundzwanzigjähriger junger Mann namens Hans Davidsohn, der sich seit 1909 anagrammatisch Jakob van Hoddis (1887–1942) nannte. Mit der Namensänderung löste er die Bindung zu seiner gut bürgerlichen jüdischen Familie. Sein kurzes, aber intensives Wirken als Künstler endete 1912 fast ganz mit der gewaltsamen Einlieferung in die psychiatrische Heilanstalt Waldhaus-Nikolassee. Auf einem Zettel notierte er damals als sein Glaubensbekenntnis die beiden Sätze: „Natürlich ist die Sündhaftigkeit (Unvollkommenheit) der Welt unerträglich, wenn es keine Erlösung gibt. Man lache also herzhaft und entschlossen“ 2. In den beiden folgenden Jahren trat van Hoddis nur noch wenig in Erscheinung. Am 25. April 1914 las er zum letzten Mal bei einer Veranstaltung der „Aktion“ 3. Bald danach war die Krankheit schon so weit vorgeschritten, daß ihn die Familie in die Universitätsnervenklinik Jena gab. Seitdem reduzierte sich sein rigoros eingeschränktes ,Leben‘ auf den lähmenden Rahmen von Nervenheilanstalten, privaten Pflegen und Sanatorien. Ein von Wulf Kirsten überlieferter Ausspruch aus jenen düsteren Jahren, den van Hoddis offenbar häufig gebrauchte, kann als bezeichnend gelten. Er lautet: „Ich habe am Wannsee Rosen gepflückt und weiß nicht, wem ich sie schenken soll“ 4. So lebte einer der Initiatoren moderner Lyrik hin, bis er dann 1942 von den nationalsozialistischen Mördern aus der Israelitischen Krankenanstalt Sayn bei Koblenz in ein Vernichtungslager deportiert und ermordet wurde5. Um sich wenigstens einigermaßen die alle Vorstellungen sprengende Wirkkraft der Verse vom „Weltende“ auf die Zeitgenossen vorstellen zu können, seien zwei Zeugnisse erwähnt. Da ist die Erinnerung des befreundeten Schriftstellers und späteren Kulturministers der DDR, Johannes R. Becher. Er schrieb 1957, ein Jahr vor seinem Tode, über diese „Marseillaise der expressionistischen Rebellion“: „Diese zwei „Weltende“  

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Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wußten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns (…), wir waren durch diese acht Zeilen verwandelt“ 6. Ähnlich enthusiastisch äußerte sich 1959 der Mitbegründer des Berliner Dada, Walter Mehring, mit der folgenden Bekundung: „Und so weissagten wir den Untergang der Bourgeoisie samt des Abendlandes, freilich nicht aus der Mehrwertfiktion (so wenig wie aus dem Cafésatz), sondern aus den ,Weltende‘-Versen des verschlossenen Jakob van Hoddis“ 7. Nur selten kommt es in Künstlerkreisen zu derartigen Wirkungen eines einzelnen lyrischen Textes. Manch einer mag das heute kaum glauben, wenn er die folgende „Vers-Apokalypse“ 8 liest: Weltende Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. 5

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. 9

Auf Anhieb erscheint es erstaunlich, daß diese bissigen Verse über den „Untergang einer spezifisch bürgerlich geprägten Welt“ 10, diese „die verlogene Harmonie der Zeit lustvoll destruierenden Katastrophen-Strophen“ 11, zum Schlüsselerlebnis für die Berliner Caféhausbohème, ja für viele der expressionistischen Generation und nicht wenige ihrer Nachfahren werden konnte. Den Grund dafür hat ein Interpret zutreffend benannt: „Es war ein Gefühl der Überlegenheit und Freiheit, das diese Verse zu wecken vermochten“ 12. Der französische Dichter André Breton stand sogar nicht an, im Blick auf die damaligen künstlerischen Entwicklungen zu sagen: „Mit van Hoddis befinden wir uns an der Spitze der deutschen Poesie“ 13. Wie es zu dieser explosiven Wirkung kam, soll in gebotener Kürze ermittelt werden. Was scheinbar banal und schmerzlich komisch daherkommt, hat es nämlich entschieden ,in sich‘. Daß sich hier ein verzweifelter, rabenschwarzer Galgenhumor, gemischt mit tödlichem Ernst kundtut, wurde offenbar von den Besuchern im Neopathetischen Cabaret und im Café des Westens sogleich erkannt und gewürdigt. Sie merkten, daß in diesem Text kein billiger Visionär zu vernehmen war, sondern ein gründlicher Zeitungsleser, 192  

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der Pressemeldungen mit scharfer analytischer Beobachtungsgabe aufnahm und poetisch verarbeitete. Denn tatsächlich war van Hoddis, hart an der Wirklichkeit, immer auf der Suche nach symbolträchtigen ,Zeichen der Zeit‘. Die Annahme Armin Arnolds14 freilich und derjenigen, die seiner These folgten, er sei zu seinen Versen durch die Ankündigung des Halleyschen Kometen für den Monat Mai 1910 und die teilweise hysterischen Reaktionen darauf angeregt worden, erscheint nicht sonderlich überzeugend. Denn das Gedicht handelt von einem wesentlich breiter und tiefer angelegten Thema, nämlich vom selbstverschuldeten Zusammenbruch einer vom Autor „verachteten Welt“ 15. Anders jedoch verhält es sich mit Meldungen über Sturmschäden und Eisenbahnunglücke im ,Berliner Tagblatt‘ und im ,Berliner Lokal-Anzeiger‘. Dort finden sich, wie vor allem Regina Nörtemann überzeugend nachgewiesen hat, Berichte über einen orkanartigen Sturm, der am 29. Dezember 1909 in Berlin schwere Schäden anrichtete, unter anderem durch den Einsturz des mehrstöckigen Aufzugsgerüsts einer Baustelle, ferner Anfang Dezember des gleichen Jahres über eine Sturmflut auf dem Wattenmeer sowie Mitte Dezember über zwei Eisenbahnabstürze in den Vereinigten Staaten, ganz zu schweigen von einer Hochbahnkatastrophe am Berliner Gleisdreieck im September 190816. Es dürfte nicht fehlgehen, in den authentischen Meldungen anregende Impulse zu sehen für die ,Aktionslyrik‘ des „Weltende“-Autors. Dafür spricht im übrigen auch die Parenthese im vierten Vers („liest man“). Wir blicken dabei dem Zeitungsleser geradezu über die Schulter. Es gehört zu den Besonderheiten des simultanen ,Reihungsstils‘, daß die im Text miteinander verknüpften Ereignisse in keinem direkten Zusammenhang stehen17. Allein im Bewußtsein des Dichters wird die Verbindung herbeigeführt. Der Leser muß die hochgradig schnellen Wechsel dieser neuen Sehweise mitvollziehen. Die irritierende Art der Wahrnehmung übernimmt Anregungen der filmischen Bildmontage mit ihren harten Schnitten. Johannes R. Becher stellte deswegen in seiner Würdigung die von van Hoddis praktizierte Kombination von Wirklichkeitsausschnitten als wegweisende „Gleichzeitigkeit des Geschehens“ heraus18. Konsequent wird auf diese Weise das ‚Stimmungshafte‘ ausgespart. Ohne ein solches Verfahren reihender Simultaneität ist die moderne Großstadtdichtung nicht zu denken. Van Hoddis war einer der Wegbereiter. In einer kurzen poetologischen Überlegung konnte er darum festhalten: „Für den Dichter ist die Denkkraft auch ein Sinn“ 19. Hinsichtlich des Zeitpunkts der Entstehung des Gedichts spricht vieles für das Jahr 1910. Die Niederschrift erfolgte wohl eher zu Anfang dieses Jahres, also bald nach dem Bekanntwerden der erwähnten Pressemeldungen, deren Elemente poetisch umgesetzt wurden. Genauer läßt sich das Datum nicht eingrenzen, denn leider ist das überlieferte Manuskript undatiert. So kann nur gesagt werden, daß der Text jedenfalls im Januar 1911 erstmals gedruckt wurde. Wesentlich zur Ver„Weltende“  

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breitung trugen hauptsächlich die Vortragsabende bei, zu deren Programm meist auch „Weltende“ gehörte. Über eine solche Rezitation im Neopathetischen Cabaret berichtete die Dichterkollegin Else Lasker-Schüler, die übrigens bereits 1905 ein Gedicht mit dem gleichen Titel „Weltende“ veröffentlicht hatte. Sie schrieb dazu: „Auf einmal flattert ein Rabe auf, ein schwarz schillernder Kopf blickt finster über die Brüstung des Lesepults. Jakob van? Er spricht seine kurzen Verse trotzig und strotzend, die sind so blank geprägt, man könnte sie ihm stehlen. Vierreiher-Inschriften; rundherum müßten sie auf Talern geschrieben stehen in einem Sozialdichterstaat“ 20. Die besonders anschauliche Charakteristik Else Lasker-Schülers verdeutlicht uns, warum van Hoddis solchen Erfolg hatte. Sicher aufgrund derartiger Reaktionen entschied sich Franz Pfemfert dazu, die 1918 von ihm herausgebrachte Buchpublikation mit Gedichten von van Hoddis, übrigens der einzigen, die zu dessen Lebzeiten erschien, mit dem Titel „Weltende“ zu versehen21. Ankündigungen vom „Untergang des Abendlands“ oder vom „Weltende“ lagen damals förmlich in der Luft. Der Dichterfreund Georg Heym beklagte sich ausdrücklich über „diese (…) vor Wahnsinn knallende Zeit“ 22. Das Sinken der angeblich unsinkbaren ,Titanic‘ im Jahr 1912 wurde von nicht wenigen als Zeichen heraufkommender Katastrophen aufgefaßt, die dann ja auch schlimmer denn je eintraten23. Doch die Mehrheit reagierte mit blinder Gleichgültigkeit auf diese begründete Zeitstimmung und machte ungetrübt weiter wie gewohnt. Gegen derartige Fühllosigkeit schrieb van Hoddis in „bilderbuchhafter Lakonie“ (Peter Rühmkorf ) an. Seine lyrische Konstruktion besteht aus einfachen und darum einprägsamen Bildern und Klängen. Neben sehr ungewöhnlichen, gewollt grotesken Reimfolgen ist da der „Bürger“, dem „der Hut vom Kopf fliegt“. Ferner erfahren wir von abstürzenden und „entzwei gehenden Dachdeckern“, von einer „Flut“ und einem „Sturm“, simplem „Schnupfen“ und verunglückenden „Eisenbahnen“, also durchweg von mehr oder weniger ernsten Alltagskatastrophen. Die disparaten Einzelbilder fügen sich zu einem befremdlichen Ensemble des Schreckens. Zu dem seines ,Schutzdachs‘ beraubten und verschnupften „Bürger“ und den wegen „entzweigegangener Dachdecker“ bedrohten Häusern kommen die wirklich schrecklichen Katastrophen wie Sturmflut und Eisenbahnunfälle. Insofern mischt sich fortgesetzt eher Komisch-Banales mit eindeutig Tragischem. Ein anonymer Rezensent des ,Berliner Tageblatts‘ kritisierte daran: „Sausende Gewalten, unerwartete Reime, Dröhnen und Schmettern“ 24. Offenkundig hat er über die Tiefe des Textes hinweggehört. Im übrigen meidet van Hoddis geflissentlich die pathetischen Töne der anderen Expressionisten. Viel steckt in seiner Sprache bereits von der künftigen ,neuen Sachlichkeit‘. Er teilt sich im Tonfall ‚normaler‘ Berichterstattung mit und liefert so nebenbei eine Parodie der Massenpresse, die keinen Sinn hat für angemessene Nachrichtenübermittlung. Daß es sich bei diesen „kalkulierenden Entstellungen“ im Endeffekt 194  

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um ein „wahrhaftiges Grundlagenbeben“ handelt25, läßt uns von Beginn an der Titel wissen. Scheinbar hat der Autor für diese beunruhigenden Vorgänge lediglich das müde Interesse eines routinierten Chronisten übrig. Sagte er doch einmal von sich, er sei „ein positiver Skeptiker, d. h. einer, der alles für möglich hält“ 26. Distanziert und kalt ist seine groteske Art das Groteske zu beobachten. Er trifft damit genau jenen Gestus der gesellschaftlichen Entfremdung, der die alsbald kommenden Katastrophen mit herbeiführte. Doch ist seine Aussage ironisch doppelbödig. In Wahrheit handelt es sich nämlich um einen dem salopp daherkommenden Text bewußt eingeschriebenen Subtext voll schriller Empörung über die skandalöse Gleichgültigkeit angesichts einer kaputtgehenden Welt. Seine Bilder werden zu entlarvenden symbolischen Zeichen der entarteten Wirklichkeit. Im Wissen um die Verbrechen und Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts liest sich dieser ernüchterte Schreckenshymnus jedenfalls wie eine Vorahnung des Kommenden. Van Hoddis hat die fortschreitende Enthumanisierung provozierend in Sprache gefaßt. Wie das geschieht, gilt es im einzelnen noch zu ermitteln. Zuvor aber ein kurzer Blick auf die Formlösung der beiden Vierzeiler. Auffallenderweise stoßen wir dabei auf altbekannte formale Elemente. Metrisch sind die syntaktisch einfachen Verse nämlich in fünfhebigen Jamben gehalten. Die erste Strophe aus zwei gleich langen Sätzen (V. 1/2, V. 3/4) wird mit ironisch-lachhaftem, ,umarmendem‘ Reim zusammengefaßt (abba: „Hut“ – „Flut“, „Geschrei“ – „entzwei“). Die zweite, auf drei Sätze verteilte Strophe (V. 5/6, V. 7, V. 8) ist mit absichtlich verniedlichendem Kreuzreim ausgestattet (cdcd: „hupfen“ – „Schnupfen“, „zerdrücken“ – „Brücken“). Die Reimbindungen wollen und sollen schockieren. Nicht umsonst denkt man dabei unwillkürlich an manche ironischen oder desillusionierenden Reime bei Wilhelm Busch. Spürbar wird mit der aufgebotenen, grotesk gewordenen Formkonvention die alte Metrik ad absurdum geführt. Der provozierende Inhalt erschlägt geradezu die ironisch gewählte, streng geordnete Form. Ohne den Formzerstörer spielen zu wollen, betreibt van Hoddis fundamentale Dekonstruktion, lange bevor dieses Schlagwort in der ästhetischen Debatte auftaucht. Mit seinem Text erreicht der Lyrikrevolutionär, daß die seinerzeit offiziell vertretene idealistische Gesellschaftsideologie eines vernunftgelenkten Lebens und vorgeblicher Weltharmonie einfach in sich zusammensinkt. Die ihrerseits doppelbödige Form trägt demzufolge stützend zur doppelbödigen Aussage des Gedichts bei. Ein Interpret vertrat die Auffassung, das Gedicht sei, seines offenen Charakters wegen, „nicht fertig“ 27. Er übersah dabei die provozierende Ausdrucksqualität des Bauprinzips der offenen Form mit ihren neben- und gleichgeordneten Teilaspekten. Besonders der

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offene Schluß verlagert die Initiative zum Verstehen des Textes dann vollends ganz auf den Leser. Doch nun zur Textfolge im einzelnen. Gleich der erste Vers sucht mit programmatischer Wucht den Knalleffekt: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“. Von vornherein wird der „Bürger“ karikierend als Feindbild herausgestellt. Den verspießerten ,Spitzköpfen‘ galt die radikale Ablehnung des Autors28. Werner Riegel charakterisierte van Hoddis richtig, wenn er von ihm sagte, er sei „antibourgeois bis in die Hysterie“ 29. Immer stieß der sich an den „vielen / Dämlichen Köpfen, die ins Helle glotzen“ 30. Das Schreckgespenst derartiger Existenzen soll personifizieren, was dann auch tatsächlich geschah. Es waren bekanntlich jene Bürger und die von ihnen untertänig ertragene Obrigkeit, welche den Weltbrand vom Zaun brachen. Jedenfalls wird damit, bewußt clownhaft überzogen, das Bild des auf seine wohlbehütete Ordnung Wert legenden, insgeheim latent gefährlichen Spießers heraufbeschworen. ,Anständige‘ Menschen trugen damals eben einen „Hut“. Wenn dieser „Hut vom Kopf fliegt“, ist es vorbei mit der selbstgewissen Sicherheit der Hutträger. Wir begegnen einer der zu jener Zeit unter Künstlern üblichen Herausforderungen der bürgerlichen ,Ordnungswelt‘. Von Heinrich Mann und Sternheim bis zu George Grosz und Brecht reicht die Skala entlarvender Darstellungen der widerwärtigen Träger jener angeblichen Ordnung, die sich selbst zu Grunde richtete. Van Hoddis setzt im Chor dieser kritischen Stimmen einen besonders grellen Akzent. Raffiniert unterlegt er dem scheinbar spielerischen Bild eines vom Wind weggefegten Hutes mit genußvollem Hohn das Gegenbild apokalyptischer Auflösung des bürgerlichen Lebens. Daß dem so ist, beweist der den Eingangssatz lakonisch weiterführende zweite Vers mit der unheimlichen Ankündigung: „In allen Lüften hallt es wie Geschrei“. Die Luftbewegung mit ihrem hallenden Geräusch verheißt nichts Gutes. Der zunächst herausgegriffene Einzelfall des vom Kopf des Besitzers wegfliegenden Hutes ist lediglich Teil einer zum Symbol erhobenen allgemeinen Verunsicherung. „In allen Lüften“, also überall, wirbelt eine lastende Bedrohung nicht bloß Hüte durcheinander. Es ist, wie der Autor in einem anderen Gedicht formuliert, der „Ton des Weltgerichts“, der verkündet, daß „der Geist in den Lüften schreit“ 31. Etwas von diesem unheimlichen Schreien „hallt“ auch durch das Gedicht „Weltende“. Völlig überraschend ertönt dann im dritten Vers eine wirkliche Hiobsbotschaft: „Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei“. Daran zeigt sich, daß die zuvor angesprochene heftige Luftbewegung sogar Sturmcharakter hat. Bereits hier beginnt der erst in der zweiten Strophe erwähnte „Sturm“ zu wehen. Denn es ist nicht einfach so, wie Rühmkorf meint, daß mit „lustig-lieblosem Schwung auch gleich die Bedachungsspezialisten, beziehungsweise Behütungstechniker mit (dem Hut des Bürgers) in die Tiefe segeln“ 32. Die hier „abstürzenden“ Menschen, die wie Kinderspielzeug einfach 196  

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„entzweigehen“, sind zwar in der Tat „Behütungstechniker“, sie symbolisieren aber das Zauberlehrlings-Schicksal einer dem Fortschrittswahn verfallenen Gesellschaft, die an ihrer Hybris scheitert. Der „Sturm“ fegt sie in einen anonymen, verdinglichten Tod, wie das dann bald darauf millionenfach im Weltkrieg geschah. Van Hoddis teilt uns das, satirisch bagatellisierend, in einer herausfordernden Mischung von Ohnmacht und Aggressivität mit. Der bagatellisierte Unfalltod der „Dachdecker“ ist ein fast harmloses Vorspiel zum kommenden Massensterben. Auf diese Weise signalisiert uns der Autor, wie weit der Prozeß genereller Enthumanisierung bereits fortgeschritten ist. Dies bewußt zu machen, ist Sinn und Zweck des Schlußverses der ersten Strophe. Er ist syntaktisch eng mit der dritten Verszeile verbunden. Wohl angeregt durch die reale Meldung einer Sturmflut im Wattenmeer33 flicht van Hoddis hier den warnenden Vers ein: „Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut“. Daß er diese Information einfacher Zeitungslektüre verdankt, wird in der Parenthese ausdrücklich hervorgehoben. In der Manuskriptfassung stand da zuerst „sagt man“. Um den wahren Sachverhalt zu nennen, wurde die berichtigende Änderung vorgenommen. Die an den Küsten steigende „Flut“ war für van Hoddis ein Leitmotiv der Bedrohung. Im Gedicht „Lied“ findet sich der Drohreim: „Denn über die Häuser schwang es sich her / Klage der Sünde und Donner vom Meer“ 34. Ein derartiges Schreckensszenarium ist hier gleichfalls beabsichtigt. Unversehens weitet sich das Thema der lokalen Sturmmeldung zur universalen Ankündigung des apokalyptischen Weltuntergangs. Damit ist ein Prozeß des Ausverkaufs der Zukunft in Gang gesetzt, dessen Ablauf gleich in der zweiten Strophe konkret illustriert wird. Direkt im Präsens geht das lyrische Protokoll weiter: „Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen“ (V. 5). Expressionistische Pathetiker hätten an dieser Stelle „die wilden Meere“ brausen, toben oder rasen lassen. Bestimmt weil er derlei nicht wollte, entschied sich van Hoddis für das bagatellisierende, geradezu verniedlichende „hupfen“. Er legte Wert darauf, seinem der Provokation dienenden Text von vornherein den Charakter hochgestochener Mitleids- oder Entsetzensbekundung zu nehmen. Der „Sturm“ hallt nicht mehr bloß „wie Geschrei“ , sondern er „ist da“ mit der zerstörerischen Gewalt des „wilden Meeres“. Den entscheidenden Umschlag zum unmittelbaren Toben der Elemente zeigt das Enjambement unterstreichend an („hupfen / An Land“), so daß die Verse 5 und 6 eine Aussageeinheit bilden. Wie umfassend das Zerstörungswerk zur Wirkung kommt, wird andeutend-stellvertretend an den „dicken“ und trotzdem „zerdrückten“ Schutzdämmen veranschaulicht: „um dicke Dämme zu zerdrücken“ (V. 6). Die doppelte Alliteration35 macht mit bösem Blick darauf aufmerksam, wie schnell „stolzes Menschenwerk“ zu einem „willkom„Weltende“  

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menen Riesenspielzeug“ 36 verkommen und somit der Mensch jederzeit ins Dunkel stürzen kann. Jetzt-Zeit als Letzt-Zeit. Besonders tückisch ist der folgende Vers angelegt. Darin wird etwas wenig Belangvolles mitgeteilt: „Die meisten Menschen haben einen Schnupfen“ (V. 7). Der echten Tragödie einer Sturmflut wird die banale Allerwelts-Krankheit „Schnupfen“ nachgestellt, noch dazu mit der grotesken Reimfolge „hupfen“ – „Schnupfen“. Das ist selbstverständlich blanker Hohn des Autors. Am „Schnupfen“ stirbt bekanntermaßen keiner. Die spitzköpfigen Spießer jedoch nehmen ihre persönliche Erkältung wichtiger als die sie betreffenden wirklichen Katastrophen. Mangelndes Wertgefühl charakterisiert die vom Dichter vorgeführte Spezies des ich-besessenen „Bürgers“. So nimmt, wie Rühmkorf betonte, van Hoddis „auf paradox konkrete Weise Anteil an (dessen) menschlicher Unterkühlung“ 37. Er tut damit kund, daß dies eigentlich eine wesentlich schlimmere Tragödie darstellt als jede Sturmflut. Danach folgt noch ein absurd scheinender Schlußvers, der abermals apodiktisch ins Totale verallgemeinert, was keineswegs alle Tage passiert: „Die Eisenbahnen fallen von den Brücken“ (V. 8). Die absichtlich überzogene Feststellung weitet einzelne Unglücksfälle zum Gesamtbefund aus. Dafür, daß durch ,menschliches Versagen‘ „Eisenbahnen von den Brücken fallen“ können, gab es seinerzeit genügend Beispiele. Wie wir mittlerweile wissen, registrierte van Hoddis sie sorgfältig38. Ungerührt präsentiert er diese Möglichkeit als generelle Gegebenheit. Des Einspruchs der „Bürger“ gegen ein derartiges Verfahren konnte er dabei sicher sein. Er wußte genau, daß er sie ohnehin nicht zu überzeugen vermochte. Trotzdem stellte er in einem knappen Satz dieses Warnbild der umfassenden selbstzerstörerischen Aktivitäten der Menschheit bewußt an den Schluß des Gedichts. Die weiteren Entwicklungen zeigten hinreichend, wie recht er damit hatte. Von daher versteht man besser die während der italienischen Reise von ihm aufgestellte Maxime: „Entdecke dir die Häßlichkeit der Welt“ 39. Im Grunde nimmt der Finalsatz des Gedichts alles Scheitern der weiteren ,humanen‘ Entwicklung vorweg. Dieser eine Satz ragt wie ein erratischer Block aus den Leichen-, Scherben- und Müllhaufen hervor, welche die Menschen mittlerweile auf der Erde, neuerdings auch im Weltraum, hinterlassen haben und weiter hinterlassen. Darin liegt der eigentliche Grund, warum die acht Verse vom „Weltende“ bei den Denkenden eine so fulminante Wirkung ausübten. In ihnen weht der Geist rebellierender Freiheit gegen die zählebige Stagnation dieser Welt.

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Anmerkungen 11 Rühmkorf, Peter: Zur Teilnahmslosigkeit erstarrt. Jakob van Hoddis: ‚Weltende‘. In: drs. Strömungslehre I. Poesie (= dnb 107). Reinbek bei Hamburg 1978, S. 142–144; Zitat: S. 143 (Sigle: Rühmkorf ). 12 Zit. n.: alle meine pfade rangen mit der nacht – Jakob van Hoddis. Begleitband zur Ausstellung. Frankfurt/M., Basel 2001, S.136 (Sigle: JH). 13 S. hierzu: Lange, Victor: Jakob van Hoddis. In: Rothe, Wolfgang (Hrsg.): Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern, München 1949, S. 344–353; hier: S. 346. 14 JH, S.179. 15 Zum Verlauf der Krankheit: s. JH, S.  133–205 und 212–221 sowie die Krankengeschichte in der Sicht des Diplompädagogen Fritz Bremer ( JH, S. 222–231). 16 Becher, Johannes R.: Bemühungen II. Berlin, Weimar 1972, S. 339 f. (Das poetische Prinzip, 1957). 17 Mehring, Walter: Berlin Dada. Zürich 1959, S. 15. 18 Hornbogen, Helmut: Jakob van Hoddis. Die Odyssee eines Verschollenen. München 1986, S. 71 (Sigle: Hornbogen).. 19 Hoddis, Jakob van: Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Regina Nörtemann (Sigle: DB). Zürich 1987, S. 15. 10 So Reiter (Reiter, Udo: Jakob van Hoddis. Leben und lyrisches Werk. Göppingen 1970, S. 117). 11 Hornbogen, S. 71. 12 Hornbogen, S. 73. 13 Zit. n.: JH, S.187. 14 Vgl. hierzu: DB, S. 246 und 250. 15 Reiter (a.a.O., Anm. 10), S. 117. 16 Vgl. hierzu: Nörtemann, Regina: Jakob van Hoddis – Grundsteinopfer des Expressionismus?. In: DB, S. 243–278, besonders S. 248–250. Sie verweist dort auf die folgenden Artikel: „Der orkanartige Sturm“, Berliner Tageblatt, Nr. 661 (30.12.1909), „Die Sturmflut auf dem Wattenmeer“, Berliner Tageblatt, Nr. 620 (7.12.1909), „Eisenbahnabsturz in den Vereinigten Staaten“ und „Eisenbahnabsturz in North Carolina“, Berliner Tageblatt, Nr. 637 (16.12.1909). In den gleichen Zusammenhang gehört eine Meldung über „Die Hochbahnkatastrophe auf dem Gleisdreieck“ im Berliner Lokal-Anzeiger vom 27.9.1908 (zit. in: JH, S. 72). 17 Schneider betont hierzu richtig: „Die Zusammenstellung gleichzeitiger, aber voneinander unabhängiger Geschehnisse ist das Konstruktionsprinzip des Gedichts“ (Schneider, Hansjörg: Jakob van Hoddis. Ein Beitrag zur Erforschung des Expressionismus. Bern 1967, S. 78). 18 Becher: a.a.O., Anm. 6. 19 DB, S. 66 („Von mir und vom Ich“). 20 Zit. n.: JH, S. 78 (in „Der Sturm“ am 17.11.1910, also noch vor der Erstveröffentlichung von „Weltende“).

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21 Hoddis, Jakob van: Weltende (Der rote Hahn, 19). Hrsg. v. Franz Pfemfert. Berlin 1918. Pfemfert hatte bereits 1917 einige Gedichte, darunter „Weltende“, im sog. „Aktionsbuch“ veröffentlicht (vgl. hierzu: DB, S. 559). 22 Im Tagebuch Heyms steht diese Eintragung unter dem Datum des 10.12.1911 (zit. n.: DB, S. 329). 23 Vgl. hierzu: Enzensberger, Hans Magnus: Der Untergang der Titanic. Eine Komödie. Frankfurt/M. 1978. 24 DB, S. 317 (,Berliner Tagblatt‘ vom 7.7.1910). 25 Rühmkorf, S. 143; ebenso: JH, S. 16. 26 Überliefert in einem Brief Erwin Loewensons an Erich Unger vom 6.1.1910 (zit. n.: DB, S. 311). 27 Weber, Werner: Suite zur Gegenwart. Aufsätze zur Literatur. Zürich 1959, S. 201. 28 ‚Spitzköpfe‘ drücken umgangssprachlich aus, daß die Träger nicht gerade über hohe Geistesgaben verfügen. Aufschlußreich ist hierzu der Vergleich mit den beiden satirischen Gedichten: „Heh!“ und „Der Oberlehrer“. 29 Riegel, Werner: Gedichte und Prosa. Hrsg. v. Peter Rühmkorf. Wiesbaden 1961, S. 58. 30 So im Gedicht „Variété“ (DB, S. 16). 31 DB, S. 60 („Indianisch Lied“). Ähnlich heißt es im Gedicht „Morgens“: „Ein starker Wind sprang empor. / Öffnet des eisernen Himmels blutende Tore“ (DB, S. 56) ferner in „Herbst an den Zelten“: „Spürst Du’s in den Lüften wintern?“ (DB, S. 110 und in „Die Stadt“: „Der Städte weiten Städte böser Wind“ ( JH, S. 3) oder in „Mittag“: „Ein Teufelslachen bleckt am blauen Himmel“ (DB, S. 144) . Für van Hoddis war das offensichtlich ein Grundmotiv. 32 Rühmkorf, S. 143; ebenso: JH, S. 16. 33 Vgl. hierzu Anm. 16. 34 DB, S. 121. 35 Gleicher Anlaut aufeinanderfolgender Wörter und Silben; auch Stabreim genannt. 36 So Rühmkorf, S. 143 und JH, S. 16. 37 Drs.: ebd., ibid. 38 Vgl. hierzu Anm. 16. 39 DB, S. 34 („Italien“, II, V. 18). Vgl. hierzu: Läufer, Bernd: ‚Entdecke dir die Häßlichkeit der Welt‘. Bedrohung, Deformation, Desillusionierung und Zerstörung bei Jakob van Hoddis (= Literarhistorische Untersuchungen, 28). Frankfurt/M. 1996.

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„Menschheit“ (1912)

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eorg Trakl (1887–1914) war ein Gegenläufiger, ein Außenseiter, der mit seiner Lyrik in zunehmendem Maß das Leiden an der Weltsituation in Worte faßte. Sagte er doch auf sich bezogen: „Es ist ein so namenloses Elend, wenn einem die Welt entzweibricht“ 1. Ersichtlich ist die dominante Ausdrucksgebärde seiner melancholischen Verse von Trauer und Verzweiflung, aber auch von Zorn bestimmt. Dahinter steckt als Antrieb eine nicht zu übersehende, allerdings deutlich durch Skepsis gebremste utopisch-humane Erwartung. Zu Beginn dominierte in seiner dichterischen Arbeit noch eine „deutlich ‚aufgeschönte‘ musikalische Struktur“ (Hans-Georg Kemper2). Im gleichen Sinne äußerte sich der Dichter auch selbst mit dem Hinweis auf seine „ganze, schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts“ 3. Mehr und mehr jedoch wandelte sich der harmonische Grundgestus seines Sprechens allmählich um zu wachsender Dissonanz. Damit einher ging der Umschlag vom mimetischen Naturbild in eine ganz eigene poetische Wort-, Bild- und Klangwelt. Aus Trakls spezieller Art zu dichten erwachsen dynamisch sich erschließende Erfahrungsfelder. Dadurch gibt er seinen Versen eine entgrenzende, traumhaft-visionäre Erkenntnisqualität, die sich – im Falle gelingender Kommunikation – als zündender Reflexionsimpuls auf den Leser überträgt. Die Texte leben von der assoziativen Sprachebene, die wie von innen her die Wortsemantik ‚beleuchtet‘. Allein durch punktuelle Genauigkeit und ständigen Rekurs auf den Gesamtwortlaut lassen sich deshalb in konsequent prozessualer Lektüre diese Gedichte erschließen. Das soll nunmehr am Objekt demonstriert werden. Hier der dafür ausgewählte Text: Menschheit Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt, Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen, Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt; Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen: 5 Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld. Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl. Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen. Und jene sind versammelt zwölf an Zahl. „Menschheit“  

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Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen, Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal. 4

Trakl hat das Gedicht zu Anfang des Herbstes 1912 während eines kurzen Aufenthalts in Salzburg konzipiert und ausgearbeitet5. Der zu diesem Zeitpunkt 25-jährige hatte gerade den militärischen Probedienst als ‚Landwehrmedikamentenakzessist‘ in Innsbruck abgeleistet und kehrte vorübergehend in seine Geburtsstadt zurück. Gleich im Novemberheft des selben Jahres erfolgte der Erstdruck in der Zeitschrift ,Brenner‘. So erklärt sich die relativ einfache Genese mit nur zwei Textstufen. Abgesehen von einer Veränderung der Verse 4 und 5 unterscheidet sich die Druckfassung nur unwesentlich von der Manuskriptfassung6. Aufschlußreich ist freilich der umgearbeitete Wortlaut der beiden genannten Verse. Aus der exzessiven Formulierung „Und Fratzen gaukeln aus zerstampften Hirnen. / Evas Schatten, Jagd und rotes Geld“ wird die ausdrucksmäßig weniger angestrengte und gerade dadurch intensivere Variante: „Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen: / Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld“ 7. Außerdem erbringt die Hinzunahme der Ortsbestimmung („Hier“) die bessere metrische und klangliche Angleichung des Verses an die Verse 1 und 3. Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen mit zahlreichen Umarbeitungen hat Trakl also hier ziemlich rasch die definitive Textstufe gefunden. Was aber vermittelt uns dieses an die ganze „Menschheit“ gerichtete, äußerst bittere lyrische Resümee der Menschengeschichte, und wie hat der Autor seine Wirkungsabsicht poetisch umgesetzt? Der Blick auf die Formgestalt zeigt zunächst einmal eine einzige, weithin in sich geschlossene strophische Anordnung. Sie besteht aus zehn Versen mit jeweils fünf Hebungen. Untermauert wird die strophische Einheit noch durch die zweimalige Abfolge sogenannter gekreuzter oder ,überschlagender‘ Reime (ababa, cdcdc) sowie durch die einheitliche Strukturierung der Verse nach Zahl der betonten Silben. Interpunktion und syntaktische Aufteilung sind so geregelt, daß den Einzelversen eine gewisse Autonomie zugeschrieben werden kann. Sie fügen sich nach dem Schema des Reihenstils parataktisch zur Strophe zusammen. Erst durch einige Unregelmäßigkeiten im metrischen Gefüge wird man aufmerksam auf eine deutliche Zweiteilung des Textmaterials. Während in der zweiten Strophenhälfte (V. 6–10) konsequent ein einfaches, jambisch ,steigendes‘ Grundmaß angewandt wird, folgen in der ersten Strophenhälfte nur zwei Verse (V. 2 und 4) dem jambischen Schema. Die gekreuzt reimenden ungeraden Verse hingegen (V. 1, 3 und 5) sind geprägt vom daktylischen Auftakt und danach folgenden, schwer ,fallenden‘ Trochäen mit jeweils einem rhythmisch akzentuierten Ausklang. Durch die Rhythmusverschiebung hebt sich demzufolge der erste vom zweiten Teil der Strophe klanglich spürbar 202  

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ab. Die inhaltliche Aussage bestätigt, wie sich im Zuge der Interpretation zeigen wird, die formale Zweiteilung. Auch die sprachliche Gestaltung folgt dem soeben beschriebenen Gegensatzschema. Während im ersten Teil mit nur zwei Verben statisch bestimmte Sätze vorherrschen, weist in der Folge jeder Vers eine verbale Wendung auf. Offenkundig wird in den beiden Teilen jeweils ein anderer Ton angeschlagen. Generell prägend ist freilich die auffallende Reduktion des verbalen Ausdrucks bei gleichzeitiger Dominanz der Substantive8. Genau gesetzte Adjektive, fünf an der Zahl9, verstärken die imaginative Komponente der Ausdrucksbewegung. Mit gutem Grund wurde darauf hingewiesen, daß „die Wortgruppe ‚Adjektiv und Substantiv‘ das wichtigste Bauelement der Sprache Trakls“ ist10. Die temporale Struktur schließlich scheint vordergründig im Präsens angesiedelt zu sein. Im Verlauf der Lektüre erweist sich jedoch die gewählte Zeitstufe als vergegenwärtigende Erinnerung. Aufschlußreich im Sinne der Gegensätzlichkeit beider Gedichthälften ist ebenso die von Trakl praktizierte Interpunktion11. Der über die ersten fünf Verse hingezogene Satz wird durch ‚leichte‘ Satzzeichen – Komma, Semikolon und Doppelpunkt – in klare Bauteile aufgegliedert. Dadurch ergibt sich eine fragmentierte Reihung gleichgewichtiger Satzglieder. Sie markieren den additiven Aufbau der komplexen Satzkonstruktion. In zwei Fällen, in der Mitte und am Schluß des dritten Verses, führen Strichpunkte eine stärkere Trennwirkung herbei, ohne aber die inhaltliche Zusammengehörigkeit zu beeinträchtigen. Der am Ende des vierten Verses eingefügte Doppelpunkt kündigt an, daß aus der vorangegangenen Aufzählung (V.1–4) im nachfolgenden Vers (V. 5) eine Folgerung gezogen wird. Ersichtlich stützt demzufolge die Interpunktion die facettierende Reihungstechnik des Autors.- Demgegenüber sind alle Verse der zweiten Gedichthälfte (mit Ausnahme des neunten Verses) durch abschließende Punkte als selbständige Aussagesätze angelegt. Die nachhaltigere Trennung macht dort die Versfolge zu einer strenger gefügten Satzreihe. Allein im sechsten Vers ist die dem Subjekt nachgestellte spezialisierende Bestimmung („das Licht durchbricht“) durch Kommata herausgehoben, während im beigeordneten Satzteil gleichgewichtig „das Abendmahl“ ohne jede weitere Bestimmung durch einfache Nennung eingeführt wird. Dagegen bilden die beiden Schlußverse wiederum eine stärkere, nur durch Komma getrennte Satzeinheit. Geht es hier doch darum, die Reaktionen der zwölf Jünger zu beschreiben und, indirekt, zu bewerten. Versteht man den Satz auch als Redeeinheit, wird der inhaltliche Kontrast beider Teile gerade durch die Interpunktion besonders sinnfällig. Soviel zur Formgestaltung. Mit der Überschrift und dem gleichlautenden Initialwort „Menschheit“ ist von Beginn an die universale Perspektive des Gedichts festgelegt. Die konsequent „Menschheit“  

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entindividualisierte lyrische Reflexion gilt einem menschheitsgeschichtlichen Zustand. Eine erste Information hierzu liefert der metrisch lastende Anfangsvers. Wenn einleitend gesagt wird: „Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt“, so erfährt der Leser über die pluralische „Feuerschlund“-Metapher, daß die „Menschheit“ eine radikale Deformation aufweist. Sie, die Inbegriff und Sinnerfüllung humaner Lebensentfaltung sein sollte, erscheint statt dessen in einer absurden Zwangsanordnung „aufgestellt“ und durch „Feuerschlünde“ drohender Vernichtung preisgegeben12. In derartiger Konnotation werden die alles verschlingenden „Feuerschlünde“ dieser Anti-Ordnung zur entlarvenden Vision einer selbstentfremdeten, sich im Todesgrauen des Krieges verzehrenden Gesellschaft13. Wie im ein Jahr davor entstandenen Gedicht Georg Heyms „Der Krieg“ oder ebenso schon in Arthur Rimbauds Sonett vom Oktober 1870 „Le Mal“ ersteht vor den Augen des Lesers eine makabre Zeichnung der Massenschlächterei des modernen Vernichtungskrieges14. Eine ganze Reihe vorausfühlender Dichter, darunter eben auch Trakl15, witterte die herannahende Weltkatastrophe. Vor diesem Hintergrund gewinnt der erste Vers des Gedichts die Wucht durchschlagender Totalität. Gleich zu Beginn wird so die Menschheit schonungslos als Ensemble selbstverschuldet leidender Kreaturen vorgestellt. „Vor Feuerschlünden aufgestellt“, machen sie die Welt zu einer von Verunsicherung und Gewaltbereitschaft bestimmten UnLandschaft. Klanglich gestützt von gegenläufigen Jamben erfolgt im zweiten Vers eine konkretere Zuordnung der „Feuerschlünde“ durch ein attributiv gesetztes Doppelbild: „Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen“. Der aus schweren Metaphern zusammengestellte rudimentäre Teilsatz ergänzt das desillusionierende Bildfeld des ersten Verses. Akustisch und visuell vermitteln „Trommelwirbel“ und „dunkler Krieger Stirnen“ den Eindruck einer szenischen Exposition. Bildlich sprechende Teile stehen für das Ganze des Kriegsgeschehens. Sie gewinnen dadurch die gleitende Bedeutung eines offenen Begriffsfeldes. So mutiert der rhythmische Klang der zum militärischen Angriff heftig geschlagenen Trommeln unversehens zur geballten Lautäußerung des Geschützdonners. Beim „Trommelwirbel“ assoziiert der mitdenkende Leser ein alles vernichtendes Trommelfeuer. Analog zu dieser dynamischen Metapher ist die visuelle Lösung angelegt. Wenn der Autor „dunkler Krieger Stirnen“ evoziert, so erlaubt die adjektivisch verstärkte Kombination von Substantiv und Genitivattribut über das reale Bild hinaus die visionäre Entlarvung enthumanisierter Verlorenheit. Die zu Kampfmaschinen entfremdeten „dunklen Krieger“ illustrieren die Auswirkungen des blutig-düsteren Kriegsgeschehens auf den Menschen. Sie sind – ihren „Stirnen“ ist das abzulesen – Schlächter und Schlachtvieh in einem. Trakls dramatisch aufgeladene Bildsprache verweist auf den quälenden Widerspruch zwischen natürlichen Menschen einerseits und der denaturierten 204  

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Physiognomie „dunkler Krieger“ andererseits. Mit harter Objektivität überträgt er so diesen entlarvenden Impuls unmittelbar auf den Leser. Der dritte Vers setzt die anklagend grundierte Bildreihe fort. Zwei weitere Merkmale kriegerischer Destruktion werden angeführt: Sie vertiefen das Traklsche Textpanorama mit der Skizze einer schaurig lärmenden Kriegsszenerie: „Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt“. Erneut bestimmen substantivische Attribute den Aussagegestus. Ebenso taucht immerhin die einzige rein prozessuale Verbform in der ersten Hälfte des Gedichts auf („schellt“). Die tragenden Bilder von „Blut“ und „Eisen“ versetzen den Leser direkt in das Kampfgeschehen16. Mit den „Schritten durch Blutnebel“ vermittelt Trakl den tödlichen Sog der Destruktion. „Schritte“ bezeugen die Bewegung von Menschen. Hier aber erfolgt die Bewegung im „Blutnebel“. Mit der überraschenden Verbindung dieses genuin dichterischen Kompositums sieht sich der Leser einer spannungsvollen Wortkombination konfrontiert. Zwei positive Naturphänomene, die menschliches Leben symbolisierende Körperflüssigkeit ‚Blut‘ und romantisch besetzter ‚Nebel‘ erscheinen hier gründlich in ihr Gegenteil verkehrt. Das im zurecht blutig genannten Krieg vergossene Blut wird in der Konfiguration mit der an den Pulverdampf der Schlachten gemahnenden undurchdringlichen Trübung der Luft zum intensiven Sinnbild grauenvoller humaner Verstrickung. Nebel pflegen sich zu lichten Aus dem „Blutnebel“ gibt es kein Entrinnen. Als Metapher evozierter Dunkelheit fügt die lyrisch dichte Formulierung dem Querschnitt durch die historische Menschheits-Erfahrung des Krieges einen wesentlichen Aspekt hinzu. Durchgängig wird von einzelnen Punkten her das Ganze durchleuchtet17. Das gilt ebenso hinsichtlich der zweiten Vershälfte: „schwarzes Eisen schellt“. Drei Worte genügen, um eine weitere Facette des Krieges auf dem Wege synästhetisch wahrgenommener Irritation demaskierend vorzuführen. „Eisen“, bekanntlich ein unedles Gebrauchsmetall, dient im Sprachgebrauch, ähnlich wie ‚Stahl‘, häufig als Sammelbegriff für Waffen, also für jegliches Kriegsgerät. Reines Eisen ist von silberweißer Färbung. Wenn Trakl hier von „schwarzem Eisen“ spricht, lenkt der Affektwert der finsteren Farbbezeichnung den Leser zwingend dahin, hinter dem Eisen einen korrumpierten Zweck auszumachen. Derlei gehört zum semantischen Konstruktionsverfahren des Autors. Eine erhellende klangliche Ergänzung steuert sodann die Verbalmetapher „schellt“ bei. Das im Neuhochdeutschen weithin verschwundene Verb ‚schellen‘ (im Süddeutschen ist es noch durchaus lebendig!) hat die semantische Ausrichtung von ‚tönen‘, ‚läuten‘ oder ‚klingen‘. Erinnert man sich dazu noch der Wendung ‚Schellen anlegen‘, so handelt es sich dabei bekanntermaßen um metallene Handfesseln. In dem beziehungsreichen Bedeutungskomplex findet das ‚schellende‘ „schwarze Eisen“ einen vertieften Sinn. Seinem Tönen ist der Mißklang von Vernichtung und Tod anzuhören Damit endet der dritte Vers. Er lebt von der Konfiguration von „Blutnebel“ und „schwarzem „Menschheit“  

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Eisen“, wie überhaupt die erste Gedichthälfte atmosphärisch ganz auf die Farbwerte Rot und Schwarz abgestimmt ist (rot: „Feuerschlünde“, „Blutnebel“, „rotes Geld“; schwarz: „dunkle Krieger“, „Nacht“, „schwarzes Eisen“, „traurig“, „Schatten“ 18). Ganz ohne Artikel und verbale Bestimmungen, fast ausschließlich auf Nominalaussagen beschränkt, folgt der im jambischen Gleichmaß gehaltene vierte Vers gleichfalls dem Reihungsprinzip einer auf die Einzelteile abhebenden Wortgruppe. Erneut ist die Aussage, mit Trakl zu sprechen, „zu einem einzigen Ausdruck zusammengeschmiedet“ 19. Hier der konzentrierte Wortlaut: „Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen“. Damit sind bereits die Folgen der kriegerischen Perversion angesprochen. Augenscheinlich steht dahinter die Absicht des Autors, im Zeitraffer den ganzen Vernichtungsablauf der „Feuerschlünde“ von Vers zu Vers nachzuvollziehen. In der ersten Manuskriptfassung lautete, wie bereits erwähnt, der vierte Vers noch anders: „Und Fratzen gaukeln aus zerstampften Hirnen“. Zweifellos hat der Autor hier zunächst einmal des Guten zuviel getan. Zwar erbringt das Bild der „gaukelnden Fratzen“ und der „zerstampften Hirne“ eine direkt wirkende Ausdruckssteigerung im Sinne der Entlarvung des Kriegerischen; doch suchte Trakl offenkundig eine ganz andere, weniger äußerliche und forciert wirkende Textentscheidung. Er merkte wohl schnell, daß exaltierte Verzerrung vordergründig bleibt. Deshalb entschied er sich für Ausdrucksökonomie, in erster Linie für eine zurückhaltendere Bildlichkeit. Die semantische Reduktion der Endfassung nimmt den etwas schreierischen, dynamisch-expressiven Gestus in der Erststufe zurück. An deren Stelle tritt nüchterne Bilanzierung durch einfache, nachvollziehbare Bilder. Von der düsteren Bildlinie „Verzweiflung“, „Nacht“ und „traurigen Gehirnen“ geht eine tiefer reichende Aussageintensität, gehen eindringlichere Bewußtseinsimpulse aus als von „gaukelnden Fratzen“ und „zerstampften Hirnen“. Vereinfachung der Syntax, lapidar-apodiktischer Verstärkungseffekt und Gleichmaß der strikt jambisch durchgehaltenen metrischen Fügung führen die Darstellungskonzentration der Bildreihenpraxis in den vorausgegangenen Verspartien stimmig weiter. Deswegen kann am Ende des Verses ein Doppelpunkt gesetzt werden. Er kündigt an, daß in dem Augenblick, wo Traurigkeit die „Gehirne“ erfüllt, innegehalten werden sollte, um nun nach den Triebkräften des bildlich entlarvten Kriegsgeschehens zu suchen. Diese Klärung wird dem anschließenden fünften Vers überlassen. Der Schlußvers der ersten Gedichthälfte greift formal die daktylisch-trochäische Lösung von Vers 1 und 3 auf. Durch die Hinzunahme des lokalisierenden Adverbs „hier“ wird in der Endfassung nicht nur die metrische Fügung angepaßt, sondern ebenso der thematische Zusammenhang mit den vier einleitenden Bildreihenversen deutlicher hergestellt. Es geht jetzt darum, die Ursachen des der „Menschheit“ innewohnenden Verrats namhaft zu machen. Fast plakativ werden sie herausgestellt: „Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld“. Drei Gründe für Untergang und Verfall 206  

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in der Menschheitsgeschichte stellt diese Querschnittskizze heraus. Als Vorgabe für die vom Leser zu leistende Tiefenkonzentration weist der Text auf Versuchung und Verführung, Aggression und Gewalt sowie Machthunger und Erfolgssucht hin. Allesamt sind die angeführten Beispiele konkreter Lebenserfahrung entnommen. Versuchung und Verführung erscheinen zunächst im personalisierten Bild Evas in der Schöpfungsgeschichte. Doch soll der Hinweis auf den Sündenfall nicht die biblische Wahrheit bezeugen, sondern in strategisch-funktionaler Absicht das Muster einer charakteristischen Lebensstruktur beibringen. Es geht nicht um Eva als Person. Was der Dichter herausstellt, ist „Evas Schatten“. Er lastet auf allen Menschen. Diese Erkenntnis zu vermitteln, ist die deutliche Absicht der offenen Textdynamik. In gleicher Funktion spricht Trakl von der „Jagd“. Nicht etwa die seit Menschengedenken materielle Sicherung der Lebensgrundlage durch die Erlegung von Wild steht hier zur Frage, sondern die Perversion verantwortungsloser Vernichtung des Lebens. Das „rote Geld“ schließlich versinnbildlicht jene die gesamte Menschengeschichte korrumpierende Raff- und Geldgier. Weil sie häufig zu blutigen Konsequenzen führt, wählte der Autor absichtsvoll die Farbprädikation „rot“. Mit diesem Vers eröffnet sich dem Leser ein unendlich weiter Assoziationsspielraum von immenser Destruktivkraft. So läuft die erste Hälfte des Gedichts in einer Bildlinie des düsteren Verhängnisses der „Menschheits“-Geschichte aus. Der zweite Teil des Gedichts erscheint, wie bereits angedeutet, schon rein formal in anderer Gestalt. Durchgängige Jamben geben der Aussage die ansteigende, rhythmisch präzise Bewegung. Noch mehr als im ersten Teil scheinen die einzelnen Verse für sich zu stehen. Zog sich dort eine großräumige Satzführung über fünf Verse hin, bilden hier autonome, auch syntaktisch so markierte Verseinheiten das verknüpfende und verdichtende Bauprinzip. Indes fügen sich diese Teile in einem durchgehenden Gedankengang organisch zum Ganzen. Inhaltlich ist ein einschneidender Umschlag zu verzeichnen. Die letzten fünf Verse umschreiben nämlich eine mögliche Alternative zur destruktiven Welt der „Feuerschlünde“. Hierbei greift der Autor auf bestimmte Bilder des Passionsgeschehens im Neuen Testament zurück. Nicht selten wird das als direkte christliche Botschaft verstanden. Und in der Tat bedeutete die Evangeliengeschichte dem Dichter viel. Jedoch maß er den gewählten christlich-mythologischen Beispielen gestalterisch unzweifelhaft den selben Ausdruckswert zu wie dem Bild Evas als Mutter der menschlichen Erbsünde. In keiner Weise sah er darin unmittelbare Abbilder, sondern unschwer nachvollziehbare Erfahrungssignale, die einen ganz bestimmten Sinn symbolisch veranschaulichen. Die archetypischen Bildvorstellungen transportieren Elemente des kollektiven Bewußtseins mit einem spezifischen Ausdruckswert, der weit über den religiösen Bedeutungsrahmen hinausreicht. Ähnlich wie in der „Bergschluchten“-Szene am „Menschheit“  

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Schluß der Faustdichtung ist es auch Trakl hier darum zu tun, mit der Anlehnung an christlich-mythologische Begebenheiten seinen Bildern, wie Goethe sagte, eine „beschränkende Form und Festigkeit“ 20 zu geben. Das „Abendmahl“ mit der Ansage des Verrats, der „Schlaf “ der Jünger am Ölberg und der ungläubige „Thomas“ sind offene poetische Bilder. Sie vermitteln hier kein Aufhellungskonzept im Sinne christlicher Erlösungslehre. Ihre Eindeutigkeit verleiht ihnen die nötige „beschränkende Form und Festigkeit“. Funktional dient aber die gewählte Ausdrucksweise der klaren Absicht, die ihr innewohnende stimulierende Symbolkraft wirkungsmäßig zu nutzen, um ihre menschheitsgeschichtliche Dimension für den mit dieser Bildwelt vertrauten Leser sinnfällig zu machen. Geht es doch darum, die inhärente Koexistenz von Gutem und Bösem, Erhabenem und Niedrigem, Gemeinschaft und Verrat als inneren Widerspruch nachzuweisen. Die bekannten mythologisch-biblischen Beispiele sind hier gleichsam in verallgemeinernde Distanz gerückt. Was dabei zum Ausdruck kommt, soll nun genauer betrachtet werden. Im Hinblick auf die Weiterführung der lyrischen Reflexion hat der sechste Vers überleitende Funktion. Ein prädikatloser Satz, hauptsächlich auf Substantive abgestellt, rückt zunächst einen einfachen Natureindruck in den Vordergrund: „Gewölk, das Licht durchbricht“. Die Blickrichtung geht nun himmelwärts zu der von Lichtstrahlen punktuell aufgehellten Wolkenmasse. Damit durchbricht der Autor sogleich die Ebene realer Landschaftsdarstellung zugunsten eines dynamisch-visionären Naturerlebnisses. Jenseits von „Blutnebel“ und „Verzweiflung“ scheint mit dem die Wolken durchbrechenden „Licht“ die Möglichkeit einer anderen Lebenssituation auf. Menschlichem Irren und Versagen wird mit dem „Abendmahl“ das Modell der Apostelkommunion als Beispiel friedlichen Zusammenlebens entgegengesetzt. Der vollständige Vers lautet: „Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl“. In Weiterführung altjüdischer Praktiken des Passahmahls nimmt das Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern als Chiffre den vertieften Sinn des sakramentalen Gemeinschaftsmahls im verbindenden Zeichen von Brot und Wein an. Daraus entwickelte sich historisch das kirchliche Kultbild der Einheit von Corpus Christi und Gemeinde. Sie macht die Eucharistie zum Höhepunkt des Gottesdienstes. Aber nicht darum geht es im Gedicht, sondern um mögliche Erlösung durch die zwischenmenschliche Wirkung der harmoniebildenden, befreienden Energie des Gemeinschaftsmahls als einem orientierenden Gegenpol zu einer im Argen liegenden Welt, zu einer Welt, die den Menschen in tödliche Kämpfe gegen seinesgleichen verstrickt. Das konkreter auszuführen ist Gegenstand des siebten Verses. Seine Aussage zielt darauf, die verheerende Wirklichkeit der „Feuerschlünde“ durch einen natürlichen Lebensmodus abzulösen. Die nötige Bestimmung erfolgt in dem kurzen Satz: „Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen“. Mit dem mythologisch aufgeladenen Bild von „Brot und Wein“ wird die Quelle einfachen Lebens in Einklang mit 208  

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der Natur sinnfällig angesprochen. Seit der Antike gelten die Grundnahrungsmittel „Brot und Wein“ als göttliche Naturgaben und Kraftquell produktiver menschlicher Entfaltung. Die religiöse Kodierung durch das Christentum, der zufolge „Brot und Wein“ das Abendmahlszeichen der Erlösungshoffnung repräsentieren, machte das Lebensmotiv zum Element der Heilsgeschichte. Dadurch erklärt sich die christlichreligiöse Lesart mancher Interpreten. Trakls Vers geht jedoch in eine andere, offener gefaßte Richtung. Wichtig war ihm dabei die kognitive Zugangsweise. Ähnlich wie in der ihm wohlbekannten Elegie Hölderlins „Brot und Wein“ ließ er sich von der humanen Erwartung leiten: „Daß im Finstern für uns einiges Haltbare sei“ 21. Damit wandte er sich gegen die ihn umgebende uneingelöste Menschlichkeit. „Brot und Wein“ geben seiner Erwartung sinnlich-anschaulichen Ausdruck22. Was er demnach suchte, ist ein friedliches, reineres Leben, zumindest „einiges Haltbare“ in der real existierenden, destruierten Welt. Deswegen betont der Vers ergänzend, daß: „in Brot und Wein ein sanftes Schweigen wohnt“. Unbedingt ist diese Aussage abgelöst vom Offenbarungsglauben zu verstehen. Wenn es den Menschen gelänge, solches Wohnen, will sagen: solches Zuhause-Sein eines „sanften Schweigens“ in ihrem Alltag zu realisieren, wären damit alle Übel der „Feuerschlünde“ von den Trommelwirbeln“ bis zum „roten Geld“ überwunden. Die so nachhaltig evozierte Friedensvision verlagert die eucharistischen Gaben „Brot und Wein“ ganz in unser Diesseits. Trakl erweist sich schon zu diesem Zeitpunkt als Warner vor dem drohenden Massaker. Wenigstens als Traum wollte er dem herrschenden Übel die Erwartung eines reineren, wirklichen Lebens entgegensetzen. Daß sein Traum letztlich nichts änderte an seinem permanenten Leidenszustand, zeigen die drei Endverse überdeutlich. Die das Gedicht abschließende Trias gehört inhaltlich eng zusammen. In diesen Versen verweist der Autor in gestufter Bilderreihung auf Beispiele enttäuschenden Versagens oder rationalen Handelns im direkten Umfeld Christi. Es heißt da lapidar: „Und jene sind versammelt zwölf an Zahl. / Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen; / Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal“. Keine Rede von Nächstenliebe und Gefolgschaft im Sinne der Lehren Jesu, sondern – indirekt – vom Verrat des Judas Ischarioth und der dreifachen Verleugnung durch Petrus (V. 8), sodann sehr direkt vom Schlaf der Jünger, der sie in ihrem Unterbewußtsein zu reuevollem Schreien treibt (V. 9), schließlich vom positiv zu sehenden Zweifel in Gestalt des ungläubigen Thomas (V. 10). Die Versammlung der Jünger, „zwölf an Zahl“, ist ein schlagendes Exempel für die schmerzliche Ambivalenz und Widersprüchlichkeit menschlicher Haltung. Im Gedicht „Die Sonne“ heißt es darum: „Wenn sich stille der Tag neigt, / Ist ein Gutes und Böses bereitet“ 23. Nur zu leicht gewinnen bei solch innerer Zerrissenheit Verrat und Verleugnung und somit das Häßliche und zerstörerisch Böse die Oberhand. Die bloße Erwähnung der Jünger genügt, um die generelle Anfälligkeit für diese dunkle Seite des Lebens zu bele„Menschheit“  

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gen. Nur zwei üben Verrat, aber alle schlafen, statt mit ihrem Meister zu wachen. Das nächtlich-unbewußte Schreien bestätigt den egoistisch-schuldhaften Charakter ihrer Schlafreaktion. Vielsagend ist sie „im Dunkel des Ölbaums“ angesiedelt24. Ihr Schreien am Ölberg steht für Trakls Protest gegen jegliche Versündigung am Menschen. Nimmt man dazu noch den Jünger Thomas als den Typus des Zweiflers hinzu, der „seine Hand ins Wundenmal taucht“, so sollte man das im Zusammenhang des Gedichts nicht auf das Phänomen des im christlichen Sinne bedenklichen Glaubenszweifels beziehen. Vielmehr ist Thomas hier derjenige, der das sicher bewußt an den Schluß gesetzte „Wundenmal“ genau prüfend betastet, also sich als einziger der Realität leidender und sterbender Menschen stellt. Er glaubt eben nicht das, was er nicht gesehen hat25. Daß demjenigen, der nicht wegsieht, sondern „denkenden Zweifel“ im Sinne des Philosophen Ernst Bloch26 praktiziert, der akzentuierende Finalvers gewidmet ist, gehört bestimmt zur Wirkungsabsicht des Autors. Denn damit wird bekundet, daß die humanen Ideale keinesfalls die Realität bestimmen. Vielmehr umschreibt das „Wundenmal“ die fortgesetzte Dominanz von Gewalt in der Welt. Dieser Befund wird in aller Härte lyrisch festgeschrieben. Franz Fühmann hat dazu richtig angemerkt: „Jene zwölf sind die Jünger, wer wollte daran zweifeln, aber jene zwölf können auch wir sein, und auch Sankt Thomas ist unter uns“ 27. Das ist der von Trakl in aller Schärfe ausgemachte, also keineswegs imaginierte Gesellschaftszustand von „Dämmerung und Verfall“ 28, von Zerstörung und Tod. Deswegen spricht vieles für die vom Dichterkollegen Paul Celan geäußerte These, die „ins Wundenmal“ getauchte Hand des ungläubigen Thomas sei auch die schreibende Hand Georg Trakls, der mit seinem Gedicht das „Wundenmal“ unserer Lebenswelt brandmarkt29. Noch einmal sei betont: Unzweideutig ist das Gedicht „Menschheit“ so angelegt, daß es beim Leser Unruhe und Besinnung auslösen sollte. Wir haben es zu tun mit einem in die Gegenwart und vor allem in die Zukunft wirkenden Warngedicht, dessen utopische Zielsetzung darin besteht, aus der entfremdeten Menschheit eine wahre Menschheit zu machen. In gewisser Weise handelt es sich um eine irdisch gewandte Uminterpretation der christlich-paradiesischen Heilsgeschichte. Nicht „Feuerschlünde“, sondern „sanftes Schweigen“, nicht „Jagd und rotes Geld“, sondern „Brot und Wein“ sollen im Hier und Jetzt zur Lebensmaxime werden. Daß Kriegstreibern und Verbrechern gegen die Menschlichkeit ein solcher Text nicht paßt, zeigt eine bedrückende Begebenheit aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Als eine niederländische Widerstandsgruppe während der deutschen Besatzung 1944 in Groningen Trakls Gedicht „Menschheit“ als Flugblatt gegen den Krieg druckte, wurde der dafür Verantwortliche, der holländische ‚Druckbild‘-Künstler Hendrik Nicolaas Werkman (1882–1945) verhaftet, abgeurteilt und kurz vor Kriegsende 210  

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am 10. April 1945 hingerichtet30. Das Opfer und leider auch die nationalsozialistischen Täter haben die Intention der lyrischen „Menschheits“-Warnung auf jeweils ihre Weise richtig verstanden.

Anmerkungen 11 Trakl, Georg: „Werke, Entwürfe, Briefe. Hrsg. v. Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max (= RUB 8251). Stuttgart 1984 (Sigle: WB), S. 241 (Brief vom Ende November 1913 an Ludwig von Ficker). 12 Kemper, Hans-Georg: Nachwort (WB, S.282). 13 WB, S. 214 (Brief vom 5.10.1908 an die Schwester Hermine von Rauterberg). 14 Trakl, Georg: Dichtungen. Innsbrucker Ausgabe, Bd. II: Sommer 1912-Frühjahr 1913. Hrsg. v. Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Basel, Frankfurt/M. 1995, S. 106 (Sigle: IA). In WB, S. 27 zum Teil mit anderer Interpunktion. 15 Eine genauere Datierung ist nicht möglich. Folgt man der – allerdings relativen – Chronologie Trakl/Röcks, ist das Gedicht nach „Verwandlung“ und vor „Drei Blicke in einen Opal“ entstanden. Die handschriftliche Reinschrift (1 H) läßt sich zwischen dem 29. September und dem 5. Oktober 1912 ansetzen (IA, S. 110). 16 Die Veränderungen im übrigen Text beschränken sich weithin auf Interpunktion und Orthographie. Vgl. hierzu: IA, S.  108–110. Es genügt deshalb weithin, 1 H (Manuskriptfassung) und 2 D (Druckfassung) einander gegenüberzustellen. 17 Zit. n.: IA, S. 108 f. und 110. 18 Unter den 63 Wörtern des Gedichts gibt es nur 7 Verbformen, dafür aber 25 Substantive. 19 V. 2, V. 3, V. 4, V. 5 und V. 7, also vier Adjektive im ersten Teil, während der zweite Teil nur ein Adjektiv aufweist. 10 Dietz, Ludwig: Die lyrische Form Georg Trakls (=Trakl-Studien, Bd. V). Salzburg 1959, S. 49. 11 Dabei folge ich der Textstufe 2 D (IA, S. 110). 12 Die verbale Wendung im Partizip des Präteritums („aufgestellt“) steht bedeutungsmäßig zwischen Verb und Nomen. Gleichsam ‚adjektiviert‘ resümiert sie ein bereits vollzogenes Geschehen. 13 Klanglich trägt die scharfe Lautgebung durch stimmlose Konsonanten (dentale und labiodentale st, t und sch, bzw. v und f ) diese Aussage mit. 14 Heym: „Hingeworfen weit in das brennende Land / Über Schluchten und Hügel die Leiber gemäht“ (Georg Heym. Texte. Ausgewählt von Karl Ludwig Schneider und Gunter Martens (= sammlung dialog 46). München 1971, S. 9); Rimbaud: «les crachats rouge de la mitraille / Sifflent (…) Et fait de cent milliers d’hommes un tas fumant“ (Rimbaud, Arthur: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Übertragen von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann (= it 1398). Frankfurt/M., Leipzig 1992, S. 66). 15 Zur selben Zeit wie „Menschheit“ entstand bezeichnenderweise auch das bitter-sarkastische Gedicht „Trompeten“, das Trakl zum dritten Heft der Zeitschrift „Der Ruf “ un„Menschheit“  

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ter der Überschrift „Krieg“ beisteuerte (Krieg. Der Ruf, Heft 3, November 1912, S.12, mit einem von Egon Schiele gestalteten Titelblatt). Vgl. hierzu die Innsbrucker Ausgabe (IA, Bd. II, S. 182 f.) sowie die einläßliche biographische Darstellung Weichselbaums (Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg, Wien 1994, S. 123). In einer Vorstufe zu dem ebenfalls dem Thema des Krieges gewidmeten Gedicht „Trompeten“ findet sich ein vergleichbares Gegensatzpaar: „Fahnen von Scharlach“ und „Stahlschauer“. Kemper hat auf dieses grundlegende Verfahren einer „dissoziierten Wahrnehmungsperspektive“ aufmerksam gemacht (Kemper, Hans Georg: Interpretation des Gedichts ‚Im Winter‘. In: Interpretationen. Gedichte von Georg Trakl (= RUB 17511). Stuttgart 1999, S. 43–58; Zitat: S. 47). Auf diese thematische Linie hat mich dankenswerterweise Bernhard Böschenstein hingewiesen. Sie setzt sich bis zum Ende des Gedichts fort: „Wundenmal“ (Schlußwort), „Gewölk“ (V. 6) und „nachts“ (V. 9). WB, S. 220 (Brief aus der zweiten Julihälfte 1910 an Erhard Buschbeck). Goethes Gespräche mit Eckermann, Eintragung vom 6.6.1831. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt/M. 1992, S. 285–291 (Zitat: S. 286, V. 32). Daß es Trakl eindeutig um diese unmittelbar-alltägliche, naturhafte Bedeutung zu tun war, belegen parallele Verwendungen des gleichen Motivs in den Gedichten „Helian“ und „Ein Winterabend“. Vgl. hierzu: „Helian“, V. 19: „In reinen Händen trägt der Landmann Brot und Wein“ (WB, S. 47) sowie „Ein Winterabend“, V. 11/12: „Da erglänzt in reiner Helle / Auf dem Tische Brot und Wein“ (WB, S. 67). WB, S. 87 („Die Sonne“, V. 8/9). So heißt es im Gedicht „Helian“ (WB, S. 47, V.49). Vgl. hierzu im Johannesevangelium: Joh. 11.16 und 21,29 (zit. n.: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Stuttgart 1980, S. 1211 und 1224). Bloch, Ernst: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Frankfurt/M. 1968, S. 58. Fühmann, Franz: Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung. Hamburg 1982., S.48. So lautete der ursprünglich von Trakl für seine Gedichtsammlung von 1913 vorgesehene Titel. War er doch davon überzeugt, „daß er (der geplante Titel) alles Wesentliche ausdrückt“ (WB, S. 236; Brief vom 20./22. April 1913 an den Kurt Wolff Verlag in Leipzig). Hinweis von Jean-Pierre Lefebvre beim Pariser Trakl-Kolloquium am 8. Dezember 2007. Vgl. hierzu: Katalog: Expressionismus. Literatur und Kunst 1910–1923. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N.. Hrsg. v. Bernhard Zeller. München 1960, S. 108 sowie: Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst, Bd. 12. Freiburg i. Br. 1990, S. 252 (Artikel: Werkman, Hendrik Nikolaas).

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wei Jahre nach dem Warngedicht zog Trakl eine noch bedrückendere Bilanz des nun realen Geschehens. Am 27. Oktober 1914, acht Tage vor seinem Selbstmord, schickte er an Ludwig von Ficker einen Brief mit Abschriften zweier Gedichte – „Klage“ und „Grodek“ betitelt – , die er dem Freund und Förderer auch schon wenige Tage zuvor bei dessen Besuch im Krakauer Garnisonshospital 15 vorgelesen hatte1. Es sollten die letzten Verse sein, die Trakl schrieb2. Zweifellos gilt für die bedrückende Situation ihrer Entstehung ein Satz aus dem Begleitschreiben: „Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt“ 3. Der Dichter hatte genug erfahren und entfernte sich. Am 3. November starb er an einer Überdosis Kokain. Nach der Erinnerung von Fickers hatte ihm Trakl eine etwas längere Fassung von „Grodek“ vorgelesen. Er erwähnt insbesondere den „breiter“ angelegten Schluß, der, wie er betont, „noch nicht jene jähe perspektivische Verkürzung aufwies, in die hinein dann Trakls Blick förmlich gebrochen und aus der Welt gehoben schien“ 4. Der auf uns gekommene Text müßte demnach in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Besuch des Innsbrucker Freundes am 24./25. und der Absendung des Briefes mit der Abschrift des Gedichts am 27. Oktober überarbeitet worden sein. Derartige Veränderungen waren bezeichnend für Trakls Arbeitsweise. In diesem Fall jedoch handelte es „sich höchstens um eine Verkürzung von zwei, drei Versen“ 5. In dieser Form wurde der Text erstmals veröffentlicht im Brenner-Jahrbuch des Jahres 1915, das im November 1914 erschien. Hier der Wortlaut: Grodek Am Abend tönen die herbstlichen Wälder Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen Und blauen Seen, darüber die Sonne Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht 5 Sterbende Krieger, die wilde Klage Ihrer zerbrochenen Münder. Doch stille sammelt im Weidengrund Rotes Gewölk, darin ein zürnener Gott wohnt Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle „Grodek“  

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Alle Straßen münden in schwarze Verwesung. Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain, Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter; Und leise tönen im Rohr die dunklen Flöten des Herbstes. 15 O stolzere Trauer! Ihr ehernen Altäre Die heiße Flamme des Geistes nährt heute einen gewaltigen Schmerz, Die ungebornen Enkel. 6 Der Titel „Grodek“ spielt auf eine Schlacht zu Anfang des Krieges an, die zwar für den Verlauf des Ersten Weltkriegs keine sonderliche Bedeutung gewann, für Trakl aber einen Musterfall der sinnlosen Weltsituation darstellte. Mit seiner Einheit nahm er an den Gefechten in Galizien nach der Einnahme von Lemberg durch die russische Armee teil, die vom 6. bis 11. September 1914 bei der Stadt Gorodek (auch Gródek) stattfanden. Als Angehöriger der Sanitätskolonne wurde er dort allein, ohne jede ärztliche Assistenz, mit etwa neunzig Verwundeten in eine Scheune kommandiert, um ‚erste Hilfe‘ zu leisten. Peter Schünemann vermittelt in seiner biographischen Skizze einen Eindruck von der höllischen Atmosphäre, in die Trakl da hineingeriet. In seinem Protokoll lesen wir dazu: „Es finden draußen Hinrichtungen von Verrätern statt. In der Scheune wird mehrfach geschossen; es sind Schwerverwundete, die ihr Leben beenden. Nach dem verhinderten Selbstmordversuch des Medikamentenakzessisten (d. i. Trakl) schafft man ihn in die Irrenabteilung des Krakauer Armeehospitals“ 7. Es war gewiß kein Wunder, daß diese Eindrücke von Qualen und Sterben auf den Dichter wie eine endgültige Bestätigung seiner Untergangsvisionen wirkten. Die Menschenschlächterei mußte ihm als apokalyptisches Bild des Wahnsinns in Gestalt total pervertierter zwischenmenschlicher ‚Beziehungen‘ erscheinen. So kam die Negativität seiner persönlichen und der gesellschaftlichen Wirklichkeitserfahrungen für ihn vollends zur Deckung. All dies bestärkte den nur 27-jährigen in seiner Entscheidung zum „selbstgewollten Fortgang“ 8. Verzweifeltes Pathos und elegische Besinnung fließen im Gedicht ineinander. Wir haben es in diesen, wenige Tage vor dem eigenmächtigen Verlassen der Welt geschriebenen Versen mit einem Fall ins Bodenlose zu tun. Offenkundig mußte der Verfasser ein für alle Zukunft zerstörtes Leben diagnostizieren. In der Todesnähe wird für ihn die individuelle Erfahrung von vor zwei Jahren zur unweigerlichen Erkenntnis: „Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt“ 9. Wie im übrigen Werk sehen wir uns auch in diesem Text einer wahren Flut von Bildern und Klängen ausgesetzt. Der Leser wird dadurch geradezu genötigt, den reich gestuften Farbwerten, den divergierenden Bildlinien und den intensiven klangli214  

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chen Ausprägungen genauer nachzugehen. Eine ganze Farbskala wird aufgeboten10. Unterstützt von schweren Klangfolgen11 sowie einem schroffen Nebeneinander düsterer und harmonischer Bildreihen fügen sich die Ausdruckselemente zu einem spannungsvollen Bezugsfeld eines einheitlichen Gestaltungswillens. Die zunächst dominierenden harmonischen Valeurs („herbstliche Wälder“, „goldne Ebenen“, „blaue Seen“, „Sonne“, „Weidengrund“, „goldnes Gezweig“,“Hain“) verkehren sich mit dem beschriebenen Geschehen Zug um Zug in ein den natürlichen Zustand aufhebendes, antipodisches Zerrbild („darüber die Sonne / Düstrer hinrollt“, „tödliche Waffen“, „sterbende Krieger“, „zerbrochene Münder“, „vergoßnes Blut“, „Verweseng“, „blutende Häupter“, „die dunklen Flöten des Herbstes“). Damit wird das ganze Ausmaß der erfolgten Deformation für den Leser evident. Die auf den ersten Blick traditionell wirkende Bild-, Klang- und Wortwelt des Gedichts hat Trakl zu wilder, heilloser Klage und deutlich mitschwingender Härte verfremdet. Für die formale Lösung hat Trakl sich zu freirhythmischen Versen unterschiedlicher Länge und ohne Reim entschieden. Vorbei waren für ihn die Zeiten des schönen Gleichklangs an den Versenden. An dessen Stelle treten nun hart einschneidende Enjambements sowie eine durchgängig zwischen drei und sechs Hebungen variierende Zeilenlänge12. Daraus entsteht eine ständige Reibung zwischen Versanordnung und der weiter ausgreifenden syntaktischen Gliederung. Sie bewirkt, daß der Text sich nur in strengem gedanklichen Mitvollzug erschließen läßt Dem Ende zu dominieren eindeutig parataktische Fügungen., die zudem, wie Höllerer anmerkte, meist „ohne festgelegten grammatikalischen Bezug“ sind, so daß „diese Verse offen, unabgeschlossen“ bleiben13. Insofern haben wir es mit einer fast sich selbst auflösenden Form zu tun, bei der Komposition und Dekomposition sich weithin die Waage halten. Erst zum Schluß hin entwickelt sich dann aus diesem Dualismus die im Geist der Menschheits-Katastrophe gehaltene bittere Vision. Sie spiegelt sich in der auflösenden, dabei jedoch gerade dadurch ‚sprechenden‘, evokativen Formgestaltung. Verglichen mit der fest gefügten Form der meisten früheren Gedichte stößt hier, von Trakl ausdrücklich so gewollt, die Logik der Darstellung an eine deutliche Grenze. Dennoch ist inhaltlich eine klare Gliederung auszumachen. Der Text gruppiert sich um den zehnten Vers als Zentrum des Ganzen (III). Davor sind zwei Teile zu unterscheiden. Die Verse 1–6 eröffnen situierend den Gedankengang (I). Daraus werden im zweiten Teil (Vers 7–9) erste Folgerungen gezogen (II). Auf den Mittelpunktvers folgen zwei weitere Teile mit ergänzenden Überlegungen: V. 11–14 (IV) und V. 15–17 (V). Die Wahl der Überschrift kommt einem persönlichen Bekenntnis gleich. Ausnahmsweise nennt der Schriftsteller, der seine Verse eher als „Schicksalsgedichte“ (Karl Borromäus Heinrich), als Reflexion aus innerem Abstand auffaßte, hier einen konkreten Namen. Grodek, der obskure Ort irgendwo in Galizien, war für ihn als „Grodek“  

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Brennpunkt eines mörderischen Kampfes und ungezählter Leichen die Landschaft seiner Wahrheit vom Ausverkauf des Menschlichen. Sie wollte er im lyrischen Bekenntnis weitervermitteln. Deutlich genug aber steht diese Ortschaft unweit der Grenze zum damaligen Rußland stellvertretend für alle Schlachtorte nicht bloß des Ersten Weltkriegs, sondern der ganzen Geschichte. Trakls letztes Gedicht evoziert die grellen Umrisse einer Abendlandschaft als Totenlandschaft. „Grodek liegt“, wie Franz Fühmann betonte, „vor Troja, Grodek liegt vor Auschwitz“ 14. Die erste Satzeinheit des Textes dehnt sich über sechs Verse hin (I). Dabei markiert das Versende jeweils eine Zäsur, die den syntaktischen Ablauf aufreißt und gleichsam rezeptionslenkend zu tieferer Reflexion herausfordert. Alle sechs Verse sind durch fünffaches Enjambement zwingend zur Satzeinheit zusammengeschlossen, wobei fünf der Verse jeweils am Ende offen bleiben und den Satz weiterführen. Offensichtlich handelt es sich um divergierende, ja gegensätzliche Erfahrungen. Während auf der einen Seite Elemente einer mythisch-historischen Ewigkeitslandschaft die Konturen einer natürlichen Ordnung umschreiben, sehen wir uns auf der anderen Seite radikaler Deformation der Naturharmonie durch den Menschen konfrontiert. Mit der prekären Szenerie dieser denaturierten ‚Natur‘ verweist Trakl auf das Ausmaß der Zerstörungen in der korrumpierten, infernalischen Grodek-Welt. In den „herbstlichen Wäldern“ (V. 1) und auf den „goldnen Ebenen“ (V. 2) liegen „sterbende Krieger“ mit „zerbrochenen Mündern“ (V. 5/6). Der warme Schein der „Sonne“ (V. 3) verwandelt sich in „düsteres Hinrollen“ (V. 4) über die Landschaft der Toten. Dem Autor genügt der Hinweis auf die „tödlichen Waffen“ (V. 2), um eine Atmosphäre voll Waffenlärm und herumliegenden Leichenhaufen zu evozieren. Den alles verändernden Umschlag zeigt der Übergang vom Licht des hereinbrechenden „Abends“ (V. 1) in die Dunkelheit der „Nacht“ (V. 4) an. Der Komparativ „düstrer“ hebt die Zunahme der Finsternis noch besonders hervor. Mit Hilfe des auffallend traditionellen Wortmaterials zur Beschreibung des Kampfgeschehens15 verdeutlicht Trakl, daß es sich bei der Schlacht um uralte Zerstörungs- und Vernichtungsmechanismen handelt. Absichtsvoll mündet der erste Satz aus in der „wilden Klage“ der „zerbrochenen Münder“ der Gefallenen. In solch extremer Klage und Anklage artikuliert sich der ohnmächtige Protest funktionslos gewordener „Münder“. Was menschlicher Kommunikation dienen sollte, ist zur Sprach- und Leblosigkeit verdammt. Diese „Münder“ werden zum grotesken, doch ebenso zum anklagenden Symbol des Verrats an einer sinnbezogen lebenden menschlicher Gemeinschaft16. Die entgegenstellende Konjunktion „doch“ bildet den Auftakt des zweiten Gedichtteils (V. 7–9: II). Strategisch, im Hinblick auf das Publikum, lebt er – wie schon der erste Teil – vom Widerstreit zwischen der Gliederung in Verszeilen und der syntaktischen Organisation des Wortmaterials. Erneut prägen Enjambements 216  

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den Gesamtausdruck der drei Verse. Ansatzweise vermittelt diese Partie eine ausgleichende Vision. Sie soll selbstverständlich nicht etwa beruhigen, jedoch immerhin den lautstarken Totentanz der Menschen in der Stille des Todes ein wenig abfangen. Das „vergoßne Blut“, das sich „stille sammelt im Weidengrund“ (V. 9 und 7), lenkt den Blick über die „Zeitlandschaft“ (Walter Höllerer17) hinaus. An dieser Stelle deutet sich die Möglichkeit eines Aufgehens in der Natur an, das nicht mit raum-zeitlichen Kategorien erfaßt werden kann. Die substantielle Integration in die Natur erfährt aufschlußreiche Zuordnungen zur „mondnen Kühle“ (V. 9) wie dann zum „zürnenden Gott“, der im „roten Gewölk“ (V. 8) wohnt. Wie stets praktiziert der Autor auch hier eine gezielte Mehrdeutigkeit und damit die dynamische Energie seiner Bildwelt. Nicht um ‚Übertragung‘ ist es ihm zu tun, sondern um ‚Übertragungen‘. Er hat dafür im Rahmen des Gesamtwerks ein relativ eng umgrenztes lyrisches Repertoire von Grundbildern entwickelt, mit dem er in immer neuen Annäherungen und Weiterungen variierend spielt18. So bestimmt auch den ‚Grodek‘-Text das typisch Traklsche Umkreisen einer erfahrungsmäßig erschlossenen Topographie. Die Wortverbindung der „mondnen Kühle“ veranschaulicht, wie auf solcher Grundlage in kreativer Permutation die Dialektisierung einer Metapher vorgenommen werden kann. Mit mimetischer Direktsemantik ist da kein Weiterkommen. Denn die „mondne Kühle“ ist nicht von dieser Welt. Sie setzt die Erkenntnis gegenwärtigen Zerfalls und zugleich die Zuversicht eines Übergangs zu harmonischer Lebensmöglichkeit voraus. Dadurch verweist sie uns auf die unendliche Sphäre der „Abgeschiedenen“. Diese Figuration nimmt im Verweisungssystem Trakls eine zentrale Rolle ein19. Sie repräsentiert eine der Wirklichkeit enthobene Existenzform, die im Wissen um den zwangsläufigen Untergang wie auch um die Erwartung eines unentfremdeten Lebens ihre qualitative Erfüllung findet.- Das Bild des „roten Gewölks“ erbringt die sinnfällige atmosphärische Umrahmung für den göttlichen Zorn über das widersinnige Menschentreiben. Diese metaphorisch mitgeteilte intensive Abendröte muß völlig unromantisch genommen werden, denn sie steht in Beziehung zum „vergoßnen Blut“ der Gefallenen. Die Vorstellung des im „roten Gewölk“ wohnenden „zürnenden Gottes“ knüpft an die „wilde Klage“ (V. 5) des ersten Gedichtteils an. Sie braucht nicht an religiöse Glaubenssätze gebunden werden. Steht sie doch gerade für die Vernichtung der natürlichen Schöpfungsordnung durch den Menschen und ist somit Zeichen einer entgötterten Welt20. An dieser Stelle setzte Trakl einen Strichpunkt. Der syntaktische Fluß wird also nur kurz unterbrochen, treibt jedoch den Gedankengang gleichzeitig weiter. Der folgende zehnte Vers bildet eindeutig das Zentrum des ganzen Gedichts: „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“. Auf diesen Satz als Kristallisationspunkt sind die Verse davor und danach bezogen21. Er stellt den Angelpunkt der poetischen Gesamtarchitektur dar. Grodek erweist sich damit, sowohl räumlich „Grodek“  

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(„alle Straßen“) wie auch zeitlich („münden in schwarze Verwesung“) betrachtet, als Endstation. Der Akzent liegt beim kollektiven Indefinitpronomen „alle“, denn er besagt unmißverständlich, daß keinerlei Ausweg zu erwarten ist. Offensichtlich vermittelt uns Trakl eine Bewußtseinslandschaft. Die Landschaft „am Abend“ (V. 1) weitet sich mit ihrem Sterben und Verderben zur Szenerie des Abendlands. All dies ist in den sechs Wörtern dieses Verses enthalten. Die synchrone Bedeutungsschicht benennt generelle Desintegration: – „schwarze Verwesung“ 22. Die makabre Metapher des Absterbens und der Auflösung zieht den Schlußstrich unter den Befund des Lebens zum Tode hin. Die solchermaßen festgeschriebene Untergangsgewißheit prägt den weiteren Gang des Gedichts. In doppelter Hinsicht ist der vierte Teil (V. 11–14) von besonderem Interesse. Zunächst fällt die zunehmende Desintegration des sprachlichen Ausdrucks auf. Offensichtlich gilt hier die Feststellung Höllerers: „Die Grammatik stellt (…) keine kausalen Verbindungen mehr her“ 23. Es bedarf keines Enjambements mehr, um den Text aufzurauhen. Die Brechungen ergeben sich unmittelbar aus der assoziativen Formulierung. Die sehr offene, freie Textverknüpfung bringt die heterogenen Elemente zusammen und führt dabei den Reihungsstil zu extremer Anspannung. So findet sich gleich anfangs die folgende Umstandsbestimmung:: „Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen“ (V. 11). ‚Korrekt‘ formuliert, müßte es entweder heißen: „Unter goldnem Gezweig der Nacht und der Sterne“ oder: „Unter goldnem Gezweig der Nacht und unter/den Sternen“. Trakl hat es anders gewollt. Er entschied sich für die härtere, verknappte, aber intensivere Ausdrucksweise.- Thematisch evoziert der vierte Teil das Erscheinen des Schattens der Schwester im Zeichen der Anteilnahme für die Gefallenen („Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain / Zu grüßen die Geister der Helden, der blutenden Häupter“, V. 12/13)24. Dieser Auftritt, geradezu theatralisch angedeutet, verbringt uns in den Bereich harmonischer Existenz in der Abgeschiedenheit. Darum ist „der Schwester Schatten“ angesiedelt „unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen“ sowie „im schweigenden Hain“. Beide Situierungen stellen eine Auszeichnung dar. Denn das Schweigen des Hains entspricht der Stille „im Weidengrund“ (V. 7). So charakterisiert der Autor den Raum, in welchem die Schwester Mitgefühl und Mitleiden im Sinne der Schöpfungserwartungen des „zürnenden Gottes“ (V. 8) zeigen kann. Indem sie „die Geister der Helden, die blutenden Häupter“ grüßt, verkörpert sie humane Energien eines wahrhaft ‚lebbaren Lebens‘ und repräsentiert insofern eine menschliche Gemeinschaft, die nicht auf „tödliche Waffen“ (V. 2), sondern auf friedliches Miteinander setzt. Ihre Haltung symbolisiert Fühlsamkeit. Deshalb sieht Höllerer in ihr zutreffend „ein Hinweiszeichen auf alles Nahe, dem Selbst Nahegerückte, auf alles, dem sich das Selbst mit der Anrede Du nähern kann“ 25. Die humane Qualität der schwesterlich-androgynen Komponente im Gedicht setzt ein Maß, das wider 218  

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die zerstörerische, mörderische Wirklichkeit zeugt. Dergestalt artikuliert sich der Protest gegen die „schwarze Verwesung“ (V. 10). Als Geste einer reinen Menschennatur fällt er zwangläufig „leise“ (V. 14) aus. Deswegen ist es nur schlüssig, daß im leicht abgesetzten 14. Vers von einem ganz anderen „Tönen“ die Rede ist als am Anfang des Gedichts. Behutsam entwickelt der Dichter aus dem Pfeifen des herbstlichen Windes im Schilf das Klangbild einer Endzeit: „Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes“  26. Die sanfte, innerlich gleichwohl aufgeladene Metaphorik steht dem atonal verzerrten, mißtönenden Klang der „tödlichen Waffen“ (V. 2) entgegen. Was im „schweigenden Hain“ ertönt, ist der tief menschliche Laut schmerzlich-wissender Klage, ist Trauermusik. Vor der Betrachtung des Schlußteils ist unbedingt noch zu klären, was in diesem Gedicht pathetische Formulierungen wie „Helden“ und dann „stolzere Trauer“, „eherne Altäre“ und „heiße Flamme des Geistes“ zu suchen haben. Das waren doch auch damals schon längst abgenutzte Parolen eines patriotischen Fanatismus, die uns nach den Erfahrungen zweier Weltkriege verstärkt ungut aufstoßen. Trakl nutzt den Schwung dieser (bestenfalls) idealistischen Pathetik, um so mit einer bewußten Kontrafaktur den Ton erfüllter Anti-Pathetik anzuschlagen. Das neue, aus der Verzweiflung geborene und von verzweifelter Hoffnung lebende ‚Pathos‘ nimmt das Getön der Chauvinisten vollkommen zurück, behält aber in denunzierender Absicht den anders verstandenen Opfergedanken bei. Die Berechtigung hierfür zieht er aus dem humanen Gegenentwurf zum ‚Idealen‘. Dabei bewegt er sich im Bereich „mondner Kühle“ (V. 9) aus dem „Geist der Utopie“ (Ernst Bloch). Man darf nämlich den zweiten Komparativ des Gedichts – „O stolzere Trauer“ (V. 15) – nicht übersehen. Er schafft die nötige endgültige Klärung. Mit der Steigerungsform geht Trakl in bewußte Distanz zur überkommenen Klischeepathetik, die nicht davor zurückschreckt, ‚in stolzer (!) Trauer‘ der Gefallenen zu gedenken. Seine „stolzere Trauer“ weist in eine völlig andere Richtung. Sie ist, wie Franz Fühmann überzeugend erklärte, „stolzer als jeder Trost“ 27, weil sie den Weg humaner Besinnung einschlägt. Das wird beschwörend festgehalten. In diesem Wissen kann die Betrachtung des fünften und letzten Teils (V. 15–17) erfolgen. Die dort noch deutlicher zu beobachtende freie, assoziative Verknüpfung der Satzteile kümmert sich wenig um syntaktische Ordnungsbezüge28. Der Dichter gestattet sich in seiner souverän gesteigerten Schlußvision laufend Auflösungen der Syntax. Das wiederum erlaubt es ihm, bei der Gestaltung der Schlußverse eine auffällige Variation der Zeilenlänge zu handhaben und mit einer geradezu monumentalen Gebärde seine Gegen-Pathetik zur inhumanen ‚stolzen Trauer‘ zu entfalten. Geht es dabei doch darum, den chauvinistischen Schreiern Einhalt zu gebieten. Humanes Pathos muß sich gegen die abgenutzten konventionellen Klischees behaupten. Dabei kann Trakl sogar von „ehernen Altären“ (V. 15) sprechen. Die da„Grodek“  

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für angemessene Grundlage hat er mit dem Hinweis auf die „wilde Klage“, auf den „zürnenden Gott“ und auf das Tönen der „dunklen Flöten des Herbstes“ hinreichend gelegt. Kein patriotischer Fanatismus nährt demnach die „heiße Flamme des Geistes“ (V. 16). Den Antrieb hierfür liefert der „gewaltige Schmerz“ über das Ausmaß der verfehlten Menschlichkeit. Wenn Bridgewater hier Anklänge an „das übersteigerte Wagnersche Pathos“ vernehmen zu können glaubt29, so verkennt er gründlich die Wirkungsabsicht des Gedichts. Ebenso am Text vorbei argumentiert Zuberbühler, der dem Dichter vorwirft, er betreibe eine unangemessene „Ästhetisierung des Leidens“ 30. Dagegen spricht die gesamte Bildwelt des Textes und vor allem dessen humane Grundsubstanz. Trakls Verse wenden sich scharf gegen das Leiden. Allerdings setzen sie zu diesem Zweck in kritischer Absicht auch die haltbare ästhetische Formulierung ein. Keinesfalls verdecken sie jedoch den unmenschlichen Zynismus der angesprochenen historischen und gesellschaftlichen Situation. Was dem Autor vorschwebt, ist offensichtlich die beschwörende Erwartung einer Anti-GrodekWelt als eine Art Erlösungshoffnung. Bleibt noch der Schlußvers: „Die ungebornen Enkel“ (V. 17). Obwohl er nur als Ansatz zu einer Aussage formuliert wird, ist er im Kontext relativ einfach zu interpretieren. Weniger gemeint ist freilich der Gedanke an ‚noch nicht geborene Enkel‘, die dem gleichen Verhängnis entgegengehen oder an infolge des Mordgeschehens ‚ungeboren bleibende Enkel‘. Die zur Frage stehende Lebensverneinung hat prinzipielleren Charakter. Trakl versteht seine Aussage als „gewaltigen Schmerz“ (V. 16) wegen der ausbleibenden Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten und insofern wegen einer verfehlten Zukunft. Franz Fühmann hat dafür im Blick auf das Gedicht die schlüssige Formel gefunden: „nicht werden dürfen, was man sein könnte“ 31. In der Trauer um die Nachfahren steckt darum allgemeine Trauer um verfehltes, verratenes und verhindertes Menschsein. Nicht ohne Grund wurde Kaspar Hauser von Trakl als der „Ungeborne“ verstanden, mit dem er sich identifizierte32. Der im Leben nicht zu sich kommende Mensch war in den Augen des Dichters der existentielle Skandal. Er reagierte darauf mit der Negation der Wirklichkeit im Untergang und mit der Aufhebung dieser Negation im Abgeschiedensein. Seine Utopie besteht in der Wahrnehmung des Ursprungs. Mit seinen Gedichten versucht er sie einzukreisen. Sie sind als Modelle humaner Erkenntnis zu verstehen. Entscheidend ist deshalb ihr aktivierender, kommunikativer Aspekt. Was es zu erkennen gilt, ist die Möglichkeit, den katastrophalen Endpunkt der Grodek-Welt zum Ansatzpunkt eines neuen Anfangs werden zu lassen. Die Dichtung Trakls gilt, so gesehen, den „ungebornen Enkeln“. Sie ist also negative Utopie im Hinblick auf eine radikal andere Zukunft.

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Anmerkungen 11 Von Ficker besuchte Trakl in Krakau am 24. und 25. Oktober 1914. Sein Bericht gibt genauere Auskunft über den Entstehungszusammenhang des Gedichts. Vgl. hierzu: Trakl, Georg: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Walter Killy und Hans Szklenar (Sigle: HKA), 2 Bde. 2. A., Salzburg 1987, 1,546 f. und 2,311. Ebenso: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Mit einem Nachwort von Hans Szklenar. Salzburg 1966, S. 161. 12 Den Abschluß der dichterischen Arbeit bilden die Gedichte „Im Osten“, „Klage“ und „Grodek“. Dabei gilt gemeinhin „Grodek“ als sein letztes Gedicht. 13 HKA 1,546 (Brief an Ludwig von Ficker vom 27.10.1914). 14 HKA 2,311. 15 HKA 2,311. Deshalb steht der Text in den Ausgaben meist mit dem Zusatz „2. Fassung“. 16 HKA 1,167. 17 Schünemann, Peter: Der Medikamentenakzessist. Erdachte Szenen aus einer Biographie. Zürich, Stuttgart 1981, S. 84. Trakl sagte über diese Erfahrung zu Ludwig von Ficker, dessen Bericht zufolge: „Tief habe er sich den Anblick eingeprägt: der Menschheit g a nz e r Jammer, hier habe er einen angefaßt“ (zit. n.: Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg 1994, S. 169. 18 Schneider, Rolf: ‚Sein letztes Gedicht‘ (zu Trakls ‚Grodek‘). In: Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 1979, S. 132–134 (Zitat: S. 132). 19 HKA 1,43 sowie Innsbrucker Ausgabe: IA, II,106. 10 Hier die einzelnen Farbelemente: „herbstlich“, „golden“, „blau“, „düster“, „rot“, „schwarz“, „dunkel“, in gewisser Weise auch: „Sonne“, „Nacht“, „Blut“, „Flamme“. 11 Gemeint ist der lastende Gleichklang der Stabreimfolgen: „Wälder“ – „Waffen“, „Seen“ – „ Sonne“, „tönen“ -“tödlich“, „Krieger“ – „Klage“, „Weidengrund“ – „Gewölk“ – „wohnt“, „mondne“ – „münden“, „schwarze“ -“schwankt – „Schwester“ – „Schatten“ – „schweigend“, „Hain“ – „Helden“ – „Häupter“ – „Herbstes“, „grüßen“ – „Geister“ – „Geistes“ – „gewaltiger“ – ungeborenen“. 12 Die 17 Verse des Gedichts tendieren in ihrer Mehrheit zu mittlerer Länge (12 der Verse sind 4- oder 5-Heber). Schon im Druckbild herausfallende Verse sind zwei 3-Heber (V.6 und 17) sowie drei 6-Heber (V.12, 14 und 16). Dadurch entsteht eine durchgängige rhythmische Bewegung im Gedicht. 13 Höllerer, Walter: Georg Trakl ‚Grodek‘. In: Wiese, Benno von: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen von der Spätromantik bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1964, S. 419–424; Zitat: S. 424 (Sigle: Höllerer). 14 Fühmann, Franz: Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung. (= dtv 10368). München 1985, S. 249 (Sigle: Fühmann).. 15 Fühmann hat besonders auf die archaisierende Wirkung des Wortmaterials bei Trakl aufmerksam gemacht. Er merkte dazu an: „Trakls Gedicht macht uns auch darum betroffen, weil es das Jetzt, mit den alten Worten, den Worten dichtester Beladung, sagt“ (Fühmann, S. 243). „Grodek“  

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16 Als verfehlt muß deswegen die These Wetzels erscheinen, der von der Annahme ausgeht, in diesen Versen stecke die „Tendenz zum Ausgleich, zum Abbau der Spannung“ (Wetzel, Heinz: Klang und Bild in den Dichtungen Georg Trakls. Göttingen 1968, S. 102). Gerade umgekehrt lebt Trakls ‚Grodek‘-Gedicht von der Erkenntnis unerträglicher Spannungen. 17 Höllerer, S. 421. 18 Kemper spricht mit Recht von der „auffälligen Bildrekurrenz“ Trakls (Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In: Trakl, Georg: Werke, Entwürfe, Briefe. Hrsg. v. Hans Georg Kemper und Frank Rainer Max (= RUB 8251). Stuttgart 1984, S. 310 (Sigle: Kemper).. 19 Vgl. hierzu: „Gesang des Abgeschiedenen“ (HKA 1,144). Dort ist die Rede von den „mondenen Pfaden der Abgeschiedenen“ (V.19). 20 Man erinnere sich der Äußerung Trakls vom „gottlosen, verfluchten Jahrhundert“ (HKA 1,519; Brief an Ludwig von Ficker vom 26.6.1913). 21 Sowohl Höllerer als auch Fühmann sehen gleichfalls den zehnten Vers als „die Mitte des Gedichts“ (Höllerer, S. 423; Fühmann, S. 242). 22 Die Formulierung „schwarze Verwesung“ findet sich gleichfalls am Schluß des Gedichts „Ruh und Schweigen“ (HKA, S. 113, V. 12) sowie „schwarzer Verfall“ im Gedicht aus dem Nachlaß „Am Hügel“, V. 11 (HKA 1,390). 23 Höllerer, S. 422. 24 Die besondere Beziehung Trakls zu seiner Schwester Grete (Margarethe Lange-Trakl) spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Er sah in ihr die Fremdlingin, die Jünglingin oder die Mönchin. Vgl. hierzu: „tönt der Schwester mondene Stimme“ im Gedicht „Geistliche Dämmerung“ (V. 11; HKA 1,118). 25 Höllerer, S. 421. 26 Vgl. hierzu: „Und die sanften Flöten des Herbstes / Schweigen im Rohr“ („Geistliche Dämmerung , V. 5/6; HKA 1,118) sowie „Und die Flöten des Herbstes / Schweigen im Rohr“ („Am Hügel“, V. 5/6; HKA 1,390). 27 Fühmann, S. 247. 28 Schon Berger hat auf ein solches Schreiben in den späten Gedichten Trakls „ohne Rücksicht auf satz- und textsyntaktische Verknüpfungsregeln“ hingewiesen (Berger, Albert: Dunkelheit und Sprachkunst. Studien zur Leistung der Sprache in den Gedichten Georg Trakls. Wien 1971, S. 244). 29 Bridgewater, Patrick: Georg Trakl and the Poetry of the First World War. In: Londoner Trakl-Symposion. Hrsg. v. Walter Methlagl und William E. Yuill. Salzburg 1981, S. 96–113; Zitat: S. 113. Schlichtweg absurd ist Bridgewaters Deutung der Schwester als „Walküre-Figur (…), die die toten Helden in Walhalla begrüßt“ (ibid.). 30 Zuberbühler, Johannes: ‚Der Tränen mächtige Bilder‘. Georg Trakls Lyrik im literarischen und gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit. Bonn 1984, S. 24. 31 Fühmann, S. 248. 32 „Kaspar Hauser Lied“, V. 20 (HKA 1,95). In die gleiche Richtung weist das Gedicht „Gesang des Abgeschiedenen“ (HKA 1,144). Dort ist gleichfalls die Rede von den „einsamen Enkeln“.

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„Erinnerung an die Marie A.“ (1919/20)

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in junger Pennäler brachte in den Jahren gleich nach dem Ersten Weltkrieg, zunächst unbemerkt, einen so noch nicht gehörten, ungewöhnlich frischen Ton in die deutschsprachige Lyrik. Es war Bertolt Brecht (1898–1956). Sich selber auf der Gitarre begleitend, pflegte er seine Lieder im Freundeskreis vorzusingen und bildete, allen Berichten nach, den selbstverständlichen Mittelpunkt dieser lebenshungrigen Clique in der Provinzstadt Augsburg. Wie ein Mitschüler bekundet, sang der genialische Jüngling „nicht schön, aber mit einer hinreißenden Leidenschaft, trunken von seinen eigenen Versen, Einfällen und Gestalten“ 1. Weniger vom klassischen Schulkanon, den er für „hinreichend brüchig und vermottet“ 2 erklärte, holte sich der junge Dichter seine Anregungen, vielmehr provokatorisch von den ‚poètes maudits‘, François Villon, Rudyard Kipling und Arthur Rimbaud, von Frank Wedekind und dem Münchner Volkskomiker Karl Valentin sowie – Zeichen seiner frühen Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft – von Bänkelliedern, Gassenhauern und vulgären Kneipenversen. Daraus entstand eine ganz eigene, distanzierte Mischung hoher und niedriger Sprachbereiche, tradierter lyrischer Formen und trivialer Formmuster. Inhaltlich ging es dabei in erster Linie um traditionelle Themen der Lyrik wie Natur und Liebe. Allerdings waren sie bei ihm Teil seines ebenso verzweifelten wie intensiven Lebensgefühls. Der von der bürgerlichen Welt desillusionierte Zyniker, Atheist und Nihilist, lebte ganz in der Diesseitigkeit, erwartete dahinter aber den zwangsläufigen Untergang. Mit gutem Grund bezeichnete man seine stark von Nietzsche beeinflußten Anfänge als die „anarchisch-vitalistisch-nihilistische Phase“ 3. Bei der lyrischen Ausgestaltung stützte sich Brecht, neben balladesken Rollengedichten, weithin auf poetischen Selbstausdruck und vergleichbare überlieferte historische Vorstufen. Hinzu kommt von Anfang an eine auffallende „Sympathie für die Schwachen und für die Opfer der Gesellschaft“ 4. Von da her wird verständlich, warum Brecht großen Wert legte auf den Gebrauchscharakter seiner Verse. Äußerte er doch 1927 im Zusammenhang eines Lyrik-Wettbewerbs als Preisrichter: „gerade Lyrik muß zweifellos etwas sein, was man ohne weiteres auf den Gebrauchswert untersuchen können muß“ 5. Und im Tagebuch hielt er bereits 1920 die Überlegung fest: „Mir schwebt im Arrangement meiner Verse das Beispiel Rodins vor, der seine ‚Bürger von Calais‘6 auf den Marktplatz stellen lassen wollte, auf einen so niederen Sockel, daß die lebendigen Bürger nicht kleiner „Erinnerung an Marie A.“  

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gewesen wären. (…) So sollen die Gedichte da stehen unter den Leuten“ 7. Unter diesen Prämissen entstanden die Texte, die Brecht dann 1921 im Gebrauchsbuch mit dem ironischen Titel „Hauspostille“ 8 zusammenfaßte. Aufgemacht als Gegenentwurf zu einem kirchlichen Erbauungsbuch, vermittelt diese Gedichtsammlung ein genaues Bild von der Weite der lyrischen Arbeit Brechts gleich zu Beginn. Seine Opposition zur bestehenden Ordnung machte ihn zum radikalen Kritiker und zum herausfordernd-zynischen Kommentator. Nicht umsonst formulierte er für den geplanten Klappentext zum Buch den selbstbewußten Satz: „es zeigt das Gesicht eines bestimmten Typus unserer Zeit, nämlich das seines Verfassers und ersten Gebrauchers – Brechts“ 9. Wenn im „Brecht-Handbuch“ die frühen Gedichte generell als „Rollenlyrik“ eingestuft werden und sogar davor gewarnt wird, darin etwa „subjektiven Selbstausdruck“ oder gar „Erlebnisdichtung“ sehen zu wollen10, so ignoriert man damit die offenkundige Tendenz des Autors zur Selbstfiktionalisierung und ebenso dessen nachdrückliche Bekundung „Meine Lyrik hat mehr privaten Charakter. Sie (…) bedarf des mimischen Vortrags. Im Drama hingegen gebe ich nicht meine private Stimmung, sondern gleichsam die Stimmung der Welt“ 11. Keinesfalls schließt der geforderte Gebrauchswert eines Gedichts die objektivierte Einbeziehung der persönlichen Erlebniswelt aus. Im Gegenteil. Ganz besonders gilt das für die oft interpretierten Strophen von der Liebe zu einer vergessenen Frau. Hier der Text: Erinnerung an die Marie A. 1 An jenem Tag im blauen Mond September Still unter einem jungen Pflaumenbaum Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe In meinem Arm wie einen holden Traum. 5 Und über uns im schönen Sommerhimmel War eine Wolke, die ich lange sah Sie war sehr weiß und ungeheuer oben Und als ich aufsah, war sie nimmer da. 2 Seit jenem Tag sind viele, viele Monde 10 Geschwommen still hinunter und vorbei Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen Und fragst du mich, was mit der Liebe sei? 224  

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So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern. Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst 15 Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer Ich weiß nur mehr: Ich küßte es dereinst. 3 Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen Wenn nicht die Wolke da gewesen wär Die weiß ich noch und werd ich immer wissen 20 Sie war sehr weiß und kam von oben her. Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind Doch jene Wolke blühte nur Minuten Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind. 12 Über dem Text der Eintragung des Gedichts steht im Notizbuch noch die kritischdistanzierende Überschrift „Sentimentales Lied No. 1004“. Unverkennbar ist das Ausfluß der Song-Praxis des „mimischen Vortrags“ im Augsburger Freundeszirkel. Die Umänderung des Titels bei den Druckfassungen13 nimmt zurecht diesen distanzierenden und parodierenden Ausdrucksgestus zurück und gibt dem Text damit bewußt den ihm gebührenden Eigenwert14. Wie nötig das war, zeigt eine eher lächerliche Begebenheit. Nach der Schallplattenaufnahme des Liedes durch die Kabarettistin Kate Kühl 1928 setzte der humoristische Schriftsteller Hans Reimann die Behauptung in die Welt, der Autor habe einfach das Lied „Verlornes Glück“ von Charles Malo15 „neu textiert“. Seitdem Schuhmann 1971 die These Reimanns aufgegriffen hat16, beschäftigt die abwegige Unterstellung, Brecht habe in seinem Gedicht den ins Deutsche übertragenen Schlager aufgegriffen, manche Gemüter. Im „Brecht-Handbuch“ wird der französische Liedtext sogar als „Quelle und Anregung“ bezeichnet17. Um diese irrige Annahme zu widerlegen, genügt ein kurzer Blick auf den von Sprowacker übersetzten Chansontext Laroches. Hier eine kurze Kostprobe in Gestalt der ersten Strophe: So oft der Frühling durch das offne Fenster Am Sonntagmorgen uns hat angelacht, Da zogen wir durch Hain und grüne Felder Sag, Liebchen, hat dein Herz daran gedacht? Wenn abends wir die Schritte heimwärts lenkten, Dein Händchen ruht in meinem Arm, So oft der Weiden Rauschen dich erschreckte, „Erinnerung an Marie A.“  

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Da hielt ich dich so fest, so innig warm. Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben, Ich hätt geküßt die Spur von deinem Tritt, Hätt gerne alles für dich hingegeben Und dennoch du – du hast mich nie geliebt. 18 Eine äußerliche Übereinstimmung der rührseligen Trivialverse mit Metrik und Reimschema des Brechtgedichts kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es mit antipodischen Gestaltungen zu tun haben. Hier der konventionelle Klischeeschmus, der gehäufte Einsatz abgenutzter Wendungen und Bilder, bei Brecht das souveräne Sprachspiel erinnerter Gefühlsregungen und der völlig unsentimentalen Reflexion darüber. Hier „oberflächliche, labile, leicht verfliegende Stimmungen“ und abgestandene, kitschige Vernebelung, bei Brecht „nüchternes Nachdenken“ und taghelle poetisch-kreative Klarheit19. Die „Erinnerung an die Marie A.“ ist eben entschieden mehr als bloß „ironische Brechung“ einer „Schnulze“ 20. Im Schlagertext eine „Quelle“ und sogar eine „Anregung“ für das Gedicht zu sehen, läßt auf fehlende Wertkategorien schließen21. Mit der eigenhändigen Eintragung durch den Autor in ein Notizbuch („21.II.20, abends 7 h im Zug nach Berlin“ 22) liegt der Zeitpunkt für den definitiven Abschluß des Textes fest. Allerdings dürfte der Prozeß der Entstehung weiter zurückreichen. Sicher wurden vor diesem Datum bei den Liedvorträgen im Freundeskreis Vorstufen der „im Zug“ fixierten Endfassung erprobt. Einer, der damals dabei war, erinnert sich: „Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, sind auch das ‚Schiff ‘ sowie die ‚Marie A.‘ (…) in diesen Tagen (Anfang 1919) entstanden“ 23. Für einen früheren Entstehungstermin spricht zudem der umfängliche Komplex von Gedichten im gleichen Zeitraum, 1919, mit den Bildern von Wolken und Wind sowie einem vergehenden Gesicht als Keimzelle. Diese Metaphern für Vergessen und Momente der Liebe sind konstitutiv für die „Erinnerung an die Marie A.“. Die gleichen Schlüsselbilder finden sich ebenfalls in Gedichten wie „So halb im Schlaf “, „Der siebente Psalm“, „Von He. 9. Psalm“, „Der elfte Psalm“ 24 und dann noch einmal in der 1921 entstandenen „Ballade vom Tod des Anna Gewölkegesichts“. Dort heißt es in der vierten Strophe, und man denkt dabei unwillkürlich an die Marie A. gewidmeten Verse: Einmal sieht er noch ihr Gesicht: in der Wolke! Es verblaßte schon sehr. Da er allzu lang blieb … Einmal hörte er noch, fern im Wind, ihre Stimme Sehr weit in dem Wind, in dem die Wolke hintrieb … 25

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Allesamt sind das Variationen eines für die lyrischen Anfänge charakteristischen Kernthemas Brechts. Das genaue Entstehungsdatum der an Marie A. gerichteten Verse läßt sich leider nicht ermitteln. Jedenfalls aber hielt der Verfasser auf der ersten Fahrt nach Berlin einen Text fest, der zuvor weithin fertig gewesen sein muß. Daß die Eintragung im Notizbuch mit der auf die Stunde genauen Entstehungszeit fiktiven Charakter hat, ist Teil der damaligen Schreibpraxis des Junggenies. Der distanzierte Darstellungsmodus gehört zur erdichteten ‚Wirklichkeit‘ der Brecht­ schen Selbstfiktionalisierung. Daran ändern auch nichts die von Geltungsbedürfnis nicht ganz freien Bekundungen des ‚Modells‘ für Marie A., Brechts erster Jugendliebe Maria Rosa Amann, wie ihr amtlicher Name lautete26. Die auf das Frühjahr 1916 zurückgehende Liebe zu „Rosmarie“ war indes schon Ende 1917 zerbrochen. Brecht schrieb dazu in einem Brief: „Ich kann also die Rosmarie nicht mehr küssen (sie hat weiche, feuchte, volle Lippen in dem blassen, durstigen Gesichtchen). Ich kann aber andere küssen, natürlich“ 27. Bekanntermaßen überlagerte sich diese Episode mit der aufflammenden Liebesbeziehung zu Paula (Bie) Banholzer. Durch die poetisch-spielerische Transformation gewann die auf Marie A. bezogene Begebenheit die völlig andere Dimension einer existentiellen Grunderfahrung. Die „Marie A.“ des Gedichts ist weit mehr als das Mädchen, das die Erinnerung tatsächlich ausgelöst hat, die Schülerin Maria Rosa Amann. vom Englischen Institut, der höheren Mädchenschule Augsburgs. Deswegen kann man ohne weiteres darauf verzichten, den persönlichen Hintergründen nachzugehen, die zur Entstehung des Gedichts beigetragen haben28. Entscheidend ist für das Textverständnis nicht der lediglich noch angedeutete konkrete Name – „Marie A.“ – sondern die Darstellung eines beispielhaften Liebesmoments als Erfahrung der Vergänglichkeit. Selbstverständlich bleibt die Entstehung des Textes dennoch an den realen Erlebnishintergrund gebunden29. In der streng zyklisch durchkomponierten „Hauspostille“ nimmt das Gedicht einen Platz innerhalb der dritten „Lektion“, den „Chroniken“ ein. Sie ist dort zwischen der „Ballade von der Hanna Cash“ und der „Ballade vom Mazeppa“ eingeordnet. Durchweg thematisieren die „Lektionen“ exemplarische Erfahrungen des Menschenlebens und signifikante gestische Zeichen des sozialen Verhaltens. Selbst noch „ein Provisorium“ 30, verkündet Brecht die Lehre von der Vergänglichkeit aller Dinge. Indem er die religiösen Erziehungspraktiken konsequent ins Antithetisch-Profane verkehrt, zeichnet sich schon hier die zunehmend von ihm gepflegte Tendenz zum ‚Lehrgedicht‘ ab. Als „Lektionen“ fordern sie gezielt die Vernunft des Lesers heraus. Worin aber besteht die Lektion des Gedichts „Erinnerung an die Marie A.“? Das gilt es nun herauszufinden.

„Erinnerung an Marie A.“  

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Die Überschrift informiert den Leser darüber, daß die lyrische Erinnerung einer geliebten Frau gilt, deren Name einerseits genannt, andererseits wiederum nicht genannt wird. Ambivalenz bestimmt das Gedicht somit von vornherein. Zweifellos ist es ein Liebesgedicht. Im Mittelpunkt aber steht die vergessene Geliebte, so daß der Akzent sich unvermittelt von der Liebe zum Vergessen der Liebe hin verschiebt. Erst das Lied holt die Vergessene aus der Erinnerung hervor zu leuchtender Vergegenwärtigung eines erfüllten Liebesmoments und bezeugt so letztlich das Nichtvergessenkönnen, jedenfalls aber das Bewahren des Vergangenen. Ein Interpret vermutete, das „die“ im Titel („die Marie A.“) könne „herabsetzend“ wirken31. Er übersieht dabei die Brecht geläufige umgangssprachliche Gewohnheit in Süddeutschland, in vertraulicher Absicht Vornamen mit dem Artikel als ein in gewisser Weise identifizierendes Demonstrativpronomen zu gebrauchen. Deswegen sind Titel wie „Ballade von der Hanna Cash“ oder „Vom François Villon“ nicht etwa abschätzig gemeint, sondern im Gegenteil eher positiv qualifizierend. Davon kann im Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ mit Sicherheit ausgegangen werden32. Geht es doch darum, „Erinnerung“ wachzurufen, also Vergessenes wieder aufleben zu lassen. Wenn das kurze Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geschieht, dann wohl aus dem Bedürfnis heraus, der herrschenden Kälte und Fühllosigkeit, die der Krieg hinterlassen hat, vergegenwärtigend etwas menschlich Wesentliches in Gestalt eines Moments der Liebe entgegenzusetzen. Zwangsläufig ergibt sich daraus das grundsätzliche Problem von Erinnerung und Vergessen. Das macht den Text zum „Reflexionsgedicht“ 33. Aus drei einfachen, achtzeiligen Strophen setzt sich Brechts Gedicht zusammen. Wie in der „Hauspostille“ üblich, sind sie distanzierend durchnumeriert. Fünfhebige jambische Verse geben dem ambivalenten Inhalt eine feste äußere Form. Spürbar kam es dem Autor darauf an, seine „Lektion“ leicht verständlich ‚an den Mann zu bringen‘. Erhob er doch den Anspruch, die „Chroniken (…) so einfach gehalten“ zu präsentieren, „daß sie auch für Volksschullesebücher in Betracht kommen“ 34. Der balladeske Liedcharakter kommt mit seinem eingängigen Rhythmus dieser Absicht entgegen. Klingend auslaufende Blankverse verbinden sich regelmäßig mit nachfolgenden, stumpf endenden Reimversen (x a x a x b x b usw.). Der dadurch herbeigeführte Klangzusammenhang hat dabei im Verein mit dem alternierenden Rhythmus konstitutive Funktion.- Zu beliebig sind angestellte Mutmaßungen über eine durch au-, i- und o-Laute geschaffene „Harmonie der Laute“ 35. Denn mit gleichem Recht könnte man die a-, e-, u- und ei-Laute ins Feld führen, ohne dadurch haltbare Ergebnisse zu erzielen. Produktiver ist es, gewisse Leitbilder nachzuweisen, welche die lyrische Konstruktion prägen. Das sind, neben der Kernmetapher der „Wolke“ (V. 6–8, 23/24), der „Pflaumenbaum“ (V. 2, 11, 21) sowie „Liebe“, „Gesicht“ und „Kuß“ (V. 3, 12, 15–17, 22) ferner das wichtige Schlußbild – der alles verwehende 228  

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„Wind“ (V. 24). Bemerkenswert ist außerdem, daß über den ganzen Text hin Wörter dominieren, die eine Orientierung nach oben herbeiführen: „Mond“, „Traum“, „Sommerhimmel“, „Wolke“, „ungeheuer oben“, „aufsah“ und „Wind“. Was damit beabsichtigt ist, wird noch zu ermitteln sein. Die erinnernd angestrebte Vergegenwärtigung einer vergangenen, inzwischen so gut wie vergessenen Begebenheit teilt sich der Gestaltung dadurch mit, daß ausgehend von einem zurückliegenden Liebeserlebnis in der Vergangenheitsform berichtet, dabei das Erinnerte fast unmerklich in die Gegenwart des Sprechers hinübergeführt und so in Teilen wachgerufen wird. Der komplexe Sachverhalt wurde richtig gedeutet mit der Feststellung: „Das Präteritum erweist sich als präsentische Zeitstufe“ 36. Auch hier also Ambivalenz. Im Aufbau setzt sich das fort. Die erste Strophe evoziert den glückvollen Augenblick mit der „stillen bleichen Liebe“ (V. 3). Demgegenüber stellt die gegenläufige zweite Strophe den Versuch heraus, das Erinnerte in die Vergangenheit zurückzudrängen. Hierzu bedient sich der Autor der dialogisch angedeuteten Möglichkeit eines direkten Gedankenaustauschs mit einem nicht weiter in Erscheinung tretenden Gesprächspartner („du“, V. 12–16). Die aufgeworfene rhetorische Frage, „was mit der Liebe sei“ (V. 12), soll weggeschoben werden. Aber die „Erinnerung“ erweist sich als stärker. Das „Längst-Vergessene“ (V. 17) wird vom „Immer-Wissen“ (V. 19) außer Kraft gesetzt. Freilich steht am Ende der dritten Strophe das paradoxe Symbolzeichen der verschwindenden „Wolke“ (V. 23) für einen beglückenden Liebesaugenblick in einer Wirklichkeit ohne Liebe. Was Signal einer möglichen Synthese sein könnte, „schwindet (…) im Wind“ (V. 24) dahin. Vergessen-Wollen und Nicht-Vergessen-Können scheinen sich die Waage zu halten. Aber am Ende steht eben doch, daß das erinnerte Liebeserlebnis nicht bleibt, weil die kalte Gegenwart es abwürgt. Wie aber kommt der äußerst sachlich vermittelte Prozeß im scheinbar sentimentalen Lied der „Erinnerung an die Marie A.“ zu konkreter Darstellung? Die Strophe 1 hebt an im Balladenton. Die Eingangsformel („An jenem Tag …“) greift die Manier eines Märchenerzählers auf. Aus eingängigen Gefühlselementen („blauer Mond“, „Pflaumenbaum“, „stille bleiche Liebe“, „hielt sie (…) in meinem Arm“, „schöner Sommerhimmel“) setzt der Autor die in der Überschrift angekündigte „Erinnerung an die Marie A.“ zusammen. Deswegen dominieren hier präteritale Verbformen („hielt“, „aufsah“, dreimal „war“). Ein Sprecher berichtet als lyrisches Ich (V. 3, 4, 6 und 8). Er ist natürlich nicht einfach identisch mit dem Augsburger Schüler Eugen Berthold Friedrich Brecht. Aber die hier sprechende Kunstfigur Bert Brecht weiß genau Bescheid über die Liebesbeziehung zu der Friseurstochter vom Kesselmarkt. Daß „jener Tag im blauen Mond September“ (V. 1) auf eine wirkliche Begebenheit zurückgeht, kann keinem Zweifel unterliegen. Die „Erinnerung an Marie A.“  

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„stille bleiche Liebe“ (V. 3) war gewiß ein Wesen aus Fleisch und Blut. Allerdings hebt die poetische Erlebnisform das wiederzuerkennende reale Geschehen in eine offenere, vom konkreten Anlaß abgesetzte Dimension. Die gehäuften Adjektive („blau“, zweimal „still“, „jung“, „bleich“, „hold“, „schön“) vermitteln nichts weniger als ein Liebesereignis, das alles Alltägliche hinter sich läßt. Wer darin bloß eine „fast romantische Pose“ oder „unwahrhaftige, verschwommene Pseudo-Romantik“, „Allerwelts-Klischees“ und „geschminkte Erinnerung“ sieht37, verkennt gründlich Weite und Tiefe der hier entfachten Gefühlsintensität, deretwegen sich „jener Tag“, gewollter Erinnerungslosigkeit zum Trotz, im Gedächtnis festgesetzt hat. Indem Natur zur Metapher der Liebe wird, gehen Liebe und Natur für einen Moment eine vollkommene Symbiose ein. Unter einem blauen Septemberhimmel und einem „jungen Pflaumenbaum“ (V. 2) als Rahmen vollzieht sich, im Zeichen der zweifach betonten Stille, eine liebende Vereinigung38. An exakt dieser Stelle taucht bezeichnenderweise die einzige Pluralform des Personalpronomens im Text auf („uns“, V. 5). Das läßt auf überlegte lyrische Komposition (also keineswegs auf bloße Parodie eines Schlagers!) schließen. Es ist auch bestimmt kein Zufall, daß Brecht im vierten Vers für diesen Liebesmoment einen Vergleich anstellt, der genau übereinstimmt mit einer brieflichen Äußerung zu Anna Maria Amann (hier: „wie einen holden Traum“, im Brief: „Rosmarie. Rosa Maria (…) der holde Traum meiner kalten Nächte“ 39). Zur aufgebotenen Idylle um die innige Zweisamkeit scheint ebenso der „schöne Sommerhimmel“ (V. 5) zu passen, den eine „sehr weiße Wolke“ (V. 7 und 6) ziert. Schon im „Baal“-Drama fungierte die „weiße Wolke“ durchgängig als ‚erhebendes‘ Leitmotiv, das sich wohltuend abhebt vom anarchisch-kraftmeierischen Kontext. Hier im Gedicht wird sie vom Sprechenden intensiv betrachtet („die ich lange sah“, V. 6). Sie symbolisiert für ihn den „holden Traum“. Aber diese Wolke ist „ungeheuer oben“ (V. 7), also weit weg von der Realität, – eben „wie ein holder Traum“ (V. 4). Als der schöne Tagtraum endet (im Notizbuch heißt es direkter: „als ich aufstand“ 40), ist die „lange“ (V .6) gesehene Wolke verschwunden („Und als ich aufsah, war sie nimmer da“, V. 8). Mit einem Schlag rückt so „die ganz ephemäre Erscheinung einer weißen Wolke“ 41 in den Mittelpunkt der Gestaltung. Sie repräsentiert durch ihr Erscheinen die Liebesbegegnung, freilich auch durch ihr Verschwinden die Vergänglichkeit. Ihr „NimmerDa-Sein“ wirft einen schwer lastenden Schatten auf die vorangegangene Idylle. Man ahnt schon, daß die verschwundene Wolke das vergehende Gesicht der Geliebten vorwegnimmt. Jedenfalls ist zu spüren: Ein elegischer Rückblick steht danach nicht mehr zu erwarten. Darum verblüfft es nicht weiter, daß sich die Strophe 2 als Gegenstrophe zur ersten erweist. Reich-Ranicki definiert diesen nüchternen Kommentar zur „September“-Liebe darum als „Antithese“ 42. Geradezu gewaltsam wird dabei die im 230  

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Bewußtsein des lyrischen Ichs glücklich rekonstruierte Liebesszenerie wieder der Vergangenheit überantwortet. Gleich eingangs verlautet, daß „jener Tag“ mittlerweile „viele, viele Monde“ (V. 9) zurückliegt. Die zeitliche Distanz soll stark hervortreten. Darum geht die lyrische Reflexion nun über die ‚reale‘ Augsburger Episode hinaus, so daß in Vers 22 „jener Frau“ sogar sieben Kinder zugeschrieben werden können. Um den Fluß der Zeit direkt einzubeziehen, gebraucht der Autor hierfür, durch Zeilensprung noch akzentuiert, das sprechende Bild des Hinunter- und Vorbeischwimmens („Geschwommen still hinunter und vorbei“, V. 10)43. Die gleich danach wieder aufgenommene Metapher des „Pflaumenbaums“ wird eindeutig in der Absicht umfunktioniert, mit dem Bild der „wohl abgehauenen“ Bäume (V. 11) neben der damit angesprochenen Zeitdauer auch den dadurch bewirkten Abbau des Erinnerungsmaterials zu veranschaulichen. So wirkt alles zusammen, das Erinnerte gründlich zu relativieren. Überraschend macht Brecht in den folgenden Verszeilen Gebrauch von den Ausdrucksmöglichkeiten der ihm als Dramatiker wohlvertrauten Dialogtechnik. Die Veränderung der Kommunikationssituation setzt genau im Mittelvers des Gedichts ein. Mit Wendungen wie „und fragst du mich“ (V. 12) oder „so sag ich dir“ (V. 13). geht für die Dauer des Dialogs der Ton in die Umgangssprache über. Das eingeführte „Du“ (V. 12, 13 und 14) dient für den Sprechenden dem Zweck, zu sich selbst Distanz zu gewinnen. Es ist indes ein Zwiegespräch ohne Gegenrede. Die Einseitigkeit des ‚Gesprächs‘ unterstreicht der zweifach gesetzte Doppelpunkt für die Ich-Rede. Das lyrische Ich spricht gleichsam mit sich über sich. Das erlaubt es dem Leser, sich noch unmittelbarer einbezogen zu fühlen. Nebenbei verstärkt das den vom Autor beabsichtigten didaktischen Effekt. So kann die rhetorische Frage gestellt werden, die den Abbau des in Strophe 1 erinnerten Vorgangs noch weiter treiben soll: „Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?“ (V. 12). Damit steht der Kern des Erinnerten – die Liebe – radikal im Zweifel. Auf die Frage, „was mit der Liebe sei?“ (V. 12), leugnet der Sprechende zunächst kurz angebunden jede Erinnerung („ich kann mich nicht erinnern“ (V. 13). Mit fast aggressivem Unterton ist er offensichtlich nicht gewillt, sich zu erinnern. Allerdings kann er nicht umhin einzuräumen, daß da irgend etwas mit „jener Frau“ (V. 22) war. Ausweichend bekennt er: „Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst“ (V. 14), muß dann jedoch zugeben, sie zwar geküßt, aber nicht mehr vor Augen zu haben („Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer / Ich weiß nur mehr: Ich küßte es dereinst“, V. 15/16). Mit der Metapher vom „verlorenen Gesicht“ begegnen wir einem vom frühen Brecht wiederholt benutzten Ausdruck für die Ungewißheit des Erinnerns wie auch für das Vergessen-Wollen44. Das dreimalige „ich weiß“ (V. 14, 15 und 16) ist in dieser Hinsicht verräterisch. Ungewollt ergibt sich daraus eine Bekräftigung des verdrängten Erlebnisses, wie es sich für den Leser im Gedicht vergegenwärtigt. Wider „Erinnerung an Marie A.“  

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Willen lebt nämlich im Kuß die Liebe fort. Freilich wird mit dem altmodischen Endwort der Strophe – „dereinst“ – erneut ausgedrückt, wie lange Zeit jene Liebe zurückliegt. Der „holde Traum“ ist damit gründlich zerplatzt. Angesichts solch konsequenter Zurücknahme konnte mit Recht festgestellt werden: „alles läuft auf Desillusionierung hinaus“ 45. Insgesamt bewegt sich der Text der Mittelstrophe deshalb gleichsam ‚ungeheuer unten‘46. Als Eindruck davon bleiben allein das „verlorene Gesicht“, die „abgehauenen“ Pflaumenbäume und die in Strophe 2 erst gar nicht mehr erscheinende „weiße Wolke“. Die Strophe 3 führt den Argumentationsgang des Sprechers ungebrochen über die Strophengrenze fort. Jetzt rückt das zunächst ausgesparte Wolkenbild voll ins Zentrum der Gestaltung. Der mühsam erinnerte „Kuß“ (V. 16 > V. 17) ist gedanklich ganz an die „weiße Wolke“ gebunden. Die von Strophe 1 übernommenen Prädikate – „sehr weiß und ungeheuer oben“ (V. 7) > „sehr weiß und kam von oben her“, V. 20) – bekräftigen erneut ihren besonderen Wert. Allein die Wolke hat sich dem Gedächtnis bleibend eingeprägt. Ausgerechnet sie, die Vergängliche, wird zum Beispiel des „Immer-Wissens“ (V. 19). All dies faßt Brecht in einer ununterbrochen durchlaufenden Bewegung zusammen: „Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen / Wenn nicht die Wolke da gewesen wär / Die weiß ich noch und werd ich immer wissen / Sie war sehr weiß und kam von oben her“ (V. 17–20). Was da „von oben her“ kommt, ist die der Liebe innewohnende Kraft. Sie erhält den Menschen als Mensch, ganz im Sinne des schönen Gedanken Brechts: „Leben selig in mich drang“ 47. Man muß sich fragen: bedeutet das nicht doch ein „Immer-Wissen“? Mit gutem Grund heißt es aber in einem anderen Vers Brechts: „So scheint die Liebe Liebenden ein Halt“ 48. Der verbale Zusatz „scheint“ besagt, daß die Liebe den Liebenden nur für einen Augenblick Halt gibt, dann aber dem Vergessen anheimfällt. Streng genommen ist sie mehr menschliche Sehnsucht als gelebte Wirklichkeit. Liebe wird dadurch zum „Erlebnis der Vergänglichkeit“, gerade auch „der Vergänglichkeit des scheinbar Unvergänglichen“ 49. Insofern kann man der These zustimmen, daß im Gedicht gleichfalls das Thema der „Ungewißheit des Erinnerns“, mithin das der „Unsicherheit des menschlichen Gedächtnisses“ zur Darstellung kommt50. Deshalb tauchen in der Folge noch einmal die blühenden Pflaumenbäume auf („Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer“, V. 21). Das ist keine simple Bildwiederholung. Nach dem „jungen Pflaumenbaum“ (V. 2) und den zynisch entgegengesetzten „abgehauenen Pflaumenbäumen“ (V. 11) kann nun ausgleichend von „vielleicht noch blühenden Pflaumenbäumen“ gesprochen werden. Immerhin gilt also: „So scheint die Liebe Liebenden ein Halt“. Direkt danach wird jedoch sogleich in der einzigen sechshebig verlängerten Verszeile des Gedichts nicht ohne bitteren Unterton die desillusionierende Vermutung ausgesprochen, daß „jene Frau jetzt vielleicht das siebte Kind“ hat51 (V. 22). Definitiv wird damit die mögliche Syn232  

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these von Liebe und Dauer in Zweifel gezogen. Ausklingend taucht im vergegenwärtigenden Rückblick dann noch einmal „jene Wolke“ in der Erinnerung auf. Sie erscheint nun, wie die Pflaumenbäume, als „blühend“. Das könnte das behauptete Vergessen widerlegen. Aber der vollständige Vers lautet fast melancholisch: „Doch jene Wolke blühte nur Minuten“ (V. 23). Mit dem Ende der liebenden Umarmung endet ebenfalls das Blühen der Wolke. Das von vielen als „eines der schönsten Liebesgedichte Brechts“ bezeichnete Lied stellt in Wahrheit provokativ die Unmöglichkeit dauerhafter Liebe dar. Der das erfahren hat, Brecht, ist letztlich ein leidend Liebender, der mit seinen Versen wenigstens für einen Moment den Fluß der Zeit anzuhalten versucht. Freilich muß er am Ende dem auflösenden Vergessen Tribut zollen, indem er das lyrische Ich bekennen läßt: „Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind“ (V. 24). Dem alles wegwehenden „Wind“ gehört darum unzweideutig der vielsagende Schluß. Er steht für den Strom des Vergehens. Man hat einen logischen Widerspruch ausmachen wollen zwischen den Versen 8 und 24 („war sie nimmer da“ und „schwand sie schon im Wind“). Dabei wird übersehen, daß in Strophe 1 die reale Erinnerungsrekonstruktion im Vordergrund steht, in Strophe 3 hingegen die „Vergegenwärtigung des damaligen Septembertages durch die Wolke“ 52. An ihrem Verschwinden geht dem Sprechenden die auflösende Kraft des Windes auf. Er registriert: Die Liebe verschwindet „sehr weit in dem Wind, in dem die Wolke hintrieb“ 53. ‚Vom Winde verweht‘, geht die Erinnerung im Vergessen auf. Allein im Gedicht lebt die Erinnerung an die Liebe fort. Insofern bekommt mit diesen Versen, Walter Benjamin hat generell für Brecht darauf hingewiesen, „das Liebeslied einen neuen Inhalt“ 54. Die faszinierende Wirkung gerade der „Erinnerung an die Marie A.“ ist von verschiedenen Seiten belegt. Viel hat das zu tun mit der Tatsache, daß es sich um ein Lied handelt. Berichten nach entstanden in der Augsburger Zeit „die meisten Lieder (…) zum Spiel selbstersonnener Melodien“ 55. Hans Otto Münsterer erinnert sich an „Brechts außergewöhnliche musikalische Begabung“, die es ihm ermöglichte, „für fast alle seine Gedichte eigene, meist volksliedhafte Melodien zu erfinden“ 56. Im Buch über „Musik bei Brecht“ ist zum Gedicht bloß registriert: „Komponist: Brecht (nach einer vorhandenen Melodie)“ 57. Wie stark die gesungene Version tatsächlich wirken konnte, zeigt der Eindruck Arnolt Bronnens von seiner ersten Begegnung mit Brecht im Winter 1921/1922 in München. Er schreibt da, in die dritte Person versetzt, über seine Reaktion auf dessen Gesang: „Er hatte das Gefühl der Erkenntnis: In dem kleinen, unscheinbaren Menschen dort (Brecht) schlägt das Herz dieser Zeit“ 58. Wie es zu derartiger Wirkung kommen kann, hat Max Frisch einleuchtend erklärt, als er in seinem Tagebuch über Brechts Art vorzutragen festhielt: „scheinbar ohne Betonung, sachlich, Worte zeigend, wie man Kieselsteine zeigt, Gewebe oder „Erinnerung an Marie A.“  

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andere Dinge, die für sich selber sprechen müssen“ 59. Der Gesang dürfte den Gestus des Zeigens noch verstärkt haben. Eine ungefähre Ahnung davon, wie der Dichter zu singen pflegte, vermittelt am ehesten der auf diversen Tonträgern zugängliche Gesangsvortrag des Gedichts durch den kongenialen Interpreten Ernst Busch. Bei einer vom Suhrkamp-Verlag veranstalteten Umfrage nach den bei anderen Autoren beliebtesten Gedichten Brechts ergab sich, daß so unterschiedliche Kollegen wie Wolfgang Koeppen, Max Frisch und Barbara Frischmuth gerade die „Erinnerung an die Marie A.“ als für sie besonders bedeutsam nannten. Die Komponisten Hanns Eisler und Herbert von Einem haben sich mit diesem Text schöpferisch auseinandergesetzt, und der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki kaufte als „Gymnasialschüler mit dürftigem Taschengeld“ die gerade erschienene „Hauspostille“ hauptsächlich jenes Gedichts wegen. Nicht umsonst gab er seinem Buch über Brecht den Titel „Ungeheuer oben“ und beschloß einen der dort versammelten Beiträge mit dem höchsten Lob: „Der Platz Bertolt Brechts im Pantheon der deutschen Literatur ist ungeheuer oben“ 60. Gerade von der „Erinnerung an die Marie A.“ her kann man dem nur zustimmen.

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So Max Hohenester, der spätere Journalist; zit. n.: Brecht in Augsburg. Erinnerungen, Texte, Fotos. Eine Dokumentation von Werner Frisch und K.W. Obermeier (= st 297). Frankfurt/M. 1976, S. 107 (Sigle: BA). Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller (Sigle: GBA), Bd. 21: Schriften 1 (Wie soll man heute Klassiker spielen?; 25.12.1926). Pietzcker, Carl: Die Lyrik des jungen Brecht. Vom anarchischen Nihilismus zum Marxismus. Frankfurt/M. 1974, S. 261. Müller, Klaus-Detlef (Hrsg.): Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung. München 1985, S: 78 (Sigle: Müller). GBA, Bd. 21, S. 191 (Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker; 4.2.1927 in ‚Die literarische Welt‘). Die Figurengruppe Rodins entstand in den Jahren 1884 bis 1886. 1895 wurde die Skulptur vor dem Rathaus von Calais aufgestellt, zunächst auf einem Sockel, nach dem Zweiten Weltkrieg, wie von Rodin gewünscht, zu ebener Erde. Vgl. hierzu: Laurent, Monique: Rodin. Köln 1989, S. 82–89. Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954. Hrsg. v. Herta Ramthun. Frankfurt /M. 1975 (Sigle: T), S.  46 (Eintragung vom 1.9.1920).

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18 Ende 1921 legte Brecht dem Kiepenheuer-Verlag das fertige Manuskript vor, doch erst 1927 (!) erschien das Buch im Propyläen-Verlag. Vgl. hierzu: Schuhmann, Klaus: Der Lyriker Brecht (= dtv WR 4075). München 1971, S. 164–171 (Sigle: Schuhmann) sowie Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1984, S. 28–32 (Sigle: BHB); ebenso: GBA 11, S. 299–304. 19 GBA 21, S. 202 (Hauspostille, 1927 (Typoskript). 10 BHB, S. 34–36 (Zitate: S. 34 und 35). Ähnlich spricht Hillesheim von „nüchtern kalkulierten Artefakten“ (Hillesheim, Jürgen: ‚Ich muß immer dichten‘. Zur Ästhetik des jungen Brecht. Würzburg 2005, S. 262; Sigle: Hillesheim). 11 Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater, Bd. 2. Frankfurt/M. 1963, S. 267 (Was arbeiten Sie? Gespräch zwischen Bertolt Brecht und Bernard Guillemin; 30.7.1926 in „Die literarische Welt“). 12 GBA 11, S. 92 f. (Gedichte 1, Sammlungen 1918–1938, bearbeitet von Jan Knopf und Gabriele Knopf ). 13 Der Erstdruck des Gedichts erfolgte 1924 in der Zeitschrift „Junge Dichter an die Front!“ (Heft 3, 15.12.1924). Ein zweiter Druck findet sich in „Das Dreieck“ (Heft 4/5, 1925). 1927 erschien der Text dann in der jahrelang hinausgezögerten Veröffentlichung der „Hauspostille“ (Brecht, Bertolt: Hauspostille. Mit Anleitungen, Gesangsnoten und einem Anhange. Berlin 1927, S. 89 f.). 14 Da Brecht die anfängliche Überschrift getilgt hat, erübrigt es sich, den spekulativen Interpretationen nachzugehen, die in der Numerierung („Sentimentales Lied No. 1004“) eine ironische Weiterführung der von Don Juan absolvierten Liebesaffären, 1003 an der Zahl allein in Spanien, sehen. Im gleichen Jahr entstand auch das „Sentimentale Lied Nr. 78 (GBA 13, S. 170 f.).- Ebenfalls keine besondere Aufmerksamkeit verdient der ironische Vermerk in der Handschrift: „Im Zustand der gefüllten Samenblase sieht der Mann in jedem Weibe Aphrodite“ (GBA 11, S. 318 f.: Zeilenkommentar: 92,1). Er gehört nicht zum Gedichttext. 15 Gemeint ist der französische Komponist Charles Malo. Er vertonte den Chansontext von Léon Laroche „Tu ne m’aimes pas“, der von Leopold Sprowacker unter dem Titel „Verlornes Glück“ in Deutschland herausgebracht wurde. Daß Brecht dieses Lied über Karl Valentins Sketch ‚Tingeltangel‘ kennenlernte, ist mehr als wahrscheinlich. Doch besagt die eventuelle ‚Übernahme‘ der Chansonmelodie wenig, zumal auch LarocheMalo und Sprowacker mit eingeführten Formtypen operieren. Franz S.  Bruinier hat 1927 das Lied Brechts nach dem Schlager „Verlornes Glück“ von Sprowacker/Malo in Noten festgehalten und damit ungewollt die These von der Übernahme des Schlagers in die Welt gesetzt. Vgl. hierzu: Brecht Liederbuch. Hrsg. v. Fritz Hennenberg (= st 1216). Frankfurt/M. 1984, S. 376–379. 16 Schuhmann, S. 402, Anm. 10. 17 GBA 11, S. 318. 18 Zit. n.: Schuhmann, S.  402; ebenso: .Knopf, Jan: ‚Sehr weiß und ungeheuer oben‘, Erinnerung an die Marie A. In: drs. (Hrsg): Interpretationen. Gedichte von Bertolt Brecht. Frankfurt/M 1995, S. 33. (Sigle. Knopf ).

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19 GBA 22, S. 33. Die Zitate entstammen den Überlegungen Brechts zum Thema „Der Lyriker braucht die Vernunft nicht zu fürchten“. 20 GBA 11, S. 303. 21 Noch weniger triftig sind die komparatistisch interessanten, für das Gedicht aber auszuschließenden Hinweise Schönes auf ein „bretonisches Hafenlied“ sowie auf die „Volksballade von ‚Schön Anna‘“, die wiederum zurückgehen sollen auf eine mittelalterliche Ballade der Marie de France („Le Fraisne“, „Die Esche“), welche ihrerseits von Ezra Pound mit einer Versnovelle in freier Bearbeitung aufgegriffen wurde. Die unterstellte, wie Schöne selbst anmerkt, „merkwürdige Bezugsreihe“ ist zu beliebig, um überzeugen zu können. (Schöne, Albrecht: Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A.. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte.. Hrsg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1964, S. 485–494; Zitate: S. 491 und 492; Sigle: Schöne). 22 GBA 11, S. 318. 23 Münsterer, Hans Otto: Bert Brecht. Erinnerungen und Gespräche aus den Jahren 1917 bis 1922. Mit Photos, Briefen und Faksimiles. Zürich 1963, S. 102 (Sigle: Münsterer). 24 GBA 13, S. 133, GBA 11, S. 20 f., 22, 23 f.. 25 GBA 13, S. 235 f., 4. Strophe: S. 236. 26 Vgl. hierzu: BA, S.  91 ff., 106, 166 sowie Abbildung Nr. 45; ebenso: Hillesheim, S. 258–263. 27 GBA 28, S. 39 (Brief vom 18.12.1917 an Caspar Neher). 28 Wer dennoch Genaueres über die Endphase der Liebesbeziehung zur „wundervollen Rosa Maria“ (GBA 21, S. 32) erfahren will, hält sich am besten an Brechts Briefe Ende 1917 und Anfang 1918 an beider Freund Caspar Neher: GBA 21, S. 36 („Rosmarie. Rosa Maria (…) der holde Traum meiner kalten Nächte liebt mich nicht“), S. 39 f. und 43 („Ich werde die Rosmarie nicht küssen, ein anderer küßt sie (…) Die Rosa Maria ist nämlich nicht hübsch. Das war eine Legende, die i c h erfunden hatte. Sie ist es nur von weitem. (…) Ihr Mund (ist) groß, rot, dick (…) Aber ich habe sie gern“), S. 47 („Sieht die Rosa Maria nicht lieblich aus auf dem Fotobildchen. Aber sie geht auf Verführung aus wie eine läufige Hündin. Sie lag einem im Arm Scheladin (Gelatine) flüssig, sie floß in die Falten. Ex. Schade, daß ich sie nicht genommen habe, als ich noch nicht daran dachte“), S. 49 („Die Rosl ist längst nicht mehr im Status quo ante.- Superior disiecit (ein Ladenschwengel nämlich, mit Lasterfingern!)). Wie man sieht, war Brecht extrem eifersüchtig. 29 Gleiches gilt für Gedichte wie: „An Cas Neher!“, „Lied an Herrn Münsterer“, „Biti im Herbst“, „Mein lieber Bez“, „Anna redet schlecht von Biti“, „Vom armen B. B.“, u.a.m.. 30 T, S.  98: „Ich bin ein Provisorium und muß Sprungweite haben, ich wachse noch“ (24.3.1921). 31 Weber, Albrecht: Zu Liebesgedichten Bert Brechts. In: Interpretationen zur Lyrik Brechts. Hrsg. v. Rupert Hirschenauer und Albrecht Weber. München 1971, S.  57–87; Zitat: S. 67 (Sigle: Weber). 32 Reich-Ranicki sieht im Gedicht sogar einen Ausdruck der „Dankbarkeit“ (Reich-Ranicki, Marcel: Ungeheuer oben. Über Bertolt Brecht. Berlin 1996, S. 117 (Sigle: ReichRanicki).

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33 Müller, Hans-Harald, Kindt, Tom: Brechts frühe Lyrik – Brecht, Gott, die Natur und die Liebe. München 2002, S. 89. 34 GBA 11, S. 39 (Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen). 35 Gegen Knopf, S. 35 f.. Ganz ähnlich bemüht Schöne die „weichen, liedhaften a-, au- und o-Assonanzen“ (Schöne, S. 486). 36 Schöne, S. 489. 37 Weber, S. 64; Schöne, S. 486 und 487. 38 Knopf verbindet mit der Frucht des „Pflaumenbaums“ die „sexuellen Konnotationen“, will sagen das weibliche Geschlechtsorgan, (Knopf, S. 35 f.). Im Werk Brechts ist gewiß kein Mangel an obszönen Versen. Hier jedoch schlägt er einen anderen Ton an. Anders ist es ist im „Lied der Schmuggleremma“ (in der dritten Szene des Stückes „Herr Puntila und sein Knecht Matti“). Dort ist vom Kontext her eindeutig die sexuelle Ausrichtung der Pflaumen gegeben. Pflaumenbäume sind eben nicht identisch mit Pflaumen . 39 GBA 21, S.36 (an Caspar Neher am 8.11.1917). 40 Faksimiledruck im Bildband zum 80. Geburtstag: Hecht, Werner (Hrsg.): Bertolt Brecht. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt/M. 1978, S. 39. Die ‚reale‘ Version wurde dann in der Druckfassung geändert. 41 Müller, S. 80. 42 Reich-Ranicki, S. 116. 43 Ein drittes Mal taucht in diesem Zusammenhang das Adjektiv „still“ im Text auf, hier im ursprünglichen Wortsinn von ‚unbewegt‘. Dergestalt wird die Erinnerung eingeebnet. 44 Im Drama „Baal“ (1919) taucht das „vergessene Gesicht“ zuerst auf in der Szene „Hölzerne braune Diele. Nacht. Wind“ (GBA 1, S. 62); ebenso dann in „Ein bitteres Liebeslied“ (GBA 11, S. 11), im „Lied von meiner Mutter. 8. Psalm“ (GBA 11, S. 21), in der Ballade „Vom ertrunkenen Mädchen“ (GBA 11, S. 109) sowie in der „Ballade vom Tod des Anna Gewölkegesichts“ (GBA 13, S. 236 f., ). 45 Knopf, S. 37. 46 Interessant ist darum ein Vergleich der Strophe 2 mit dem 1925 entstandenen Gedicht „Erinnerung an eine M.N.“ (BGA 13, S. 325 f.). 47 GBA 13, S. 132 („Als sie unschuldsvoll in Kissen“, 1919; V. 20). 48 GBA 2, S. 365 (Duett zischen Jenny und Paul), ebenso: GBA 14, S. 16 („Die Liebenden“, V. 23). 49 Müller, S. 80 und Koopmann, Helmut: Brechts Liebesgedichte. In: Der junge Brecht. Aspekte seines Denkens und Schaffens. Hrsg. v. Helmut Gier und Jürgen Hillesheim. Würzburg 1996, S. 65–81; Zitat: S. 74. 50 Thadden, Elisabeth von: Es war einmal irgendwas. Nur was?. In: Die Zeit. Nr.5/2005 (27.1.2005). 51 Der Aussage von Marie Rose Amann zufolge sagte ihr Brecht einmal, er werde sie „im Laufe der Zeit mit sieben Kindern überraschen“ (zit. n.: BA, S. 93). Ohnehin gehört die Siebenzahl zu den Grundbildern Brechts. 52 Schuhmann, S. 104. 53 GBA 13, S. 236 („Ballade vom Tod des Anna Gewölkegesichts“, Schlußvers von Strophe 4).

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54 Benjamin, Walter: Kommentare zu Gedichten von Brecht. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2. Frankfurt/M. 1977, S. 541. 55 BA, S. 107. 56 Münsterer, S. 145. 57 Lucchesi, Joachim und Shull, Ronald K.: Musik bei Brecht. Frankfurt/M. 1988, S. 296. 58 Bronnen, Arnolt: Tage mit Bertolt Brecht. Geschichte einer unvollendeten Freundschaft (= SL 172). Darmstadt, Neuwied 1976, S. 16. 59 Frisch, Max: Tagebuch 1946–1949. Frankfurt/M. 1950, S. 225. 60 Reich-Ranicki, S. 14 f. und 132.

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„Einsamer nie –“ (1936)

I

n verschiedener Hinsicht ist Gottfried Benn (1886–1956) ein ungewöhnlicher Fall dichterischer Existenz. Seine Laufbahn als Lyriker begann der frisch promovierte Mediziner, gerade fünfundzwanzigjährig, mit der Sammlung „Morgue“, mit ausdrucksstarken Versen also in einer spezifischen Mischung von schroffer Desillusionierung, provozierendem Zynismus und unterkühlter Sentimentalität. Von Beginn an siedelte Benn seine dichterische Arbeit im Zeichen „tiefer Skepsis“ an, die jedoch seiner Überzeugung nach „Stil schafft“ 1. Daraus ergab sich ein schwieriges Doppelleben, teils als Facharzt in engagierter sozialer Verantwortung, teils als Künstler in der asozialen Fremdheit dessen, der „am Rande“ lebt, „wo“, wie Benn betonte, „das Dasein fällt und das Ich beginnt“ 2. Dabei machte er sich mehr und mehr das von Nietzsche übernommene Bekenntnis zu Geist und Form und damit zur ästhetischen Rechtfertigung des Lebens zu eigen. Wollte er doch „das Leben formend überwinden“ 3. Deshalb entschied er sich in der weiteren Entwicklung für „das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die sie faszinierend montieren“ 4. Immer blieb diese entscheidende Zielsetzung in den verschiedenen Durchgangsstufen von Rausch, Traum, südlicher Sehnsucht und Mythos bis zur Rückkehr zu Maß und Form erhalten. Allemal war das Formcredo für ihn Grundlage und Richtpunkt der dichterischen Arbeit. Distanzierte Selbstbeobachtung des kreativen Individuums bildete dabei zwangsläufig die entscheidende thematische Quelle5. Mit Benns Worten: „Hier“, das heißt: im Ich, „konzentriert sich das Reale, modelliert sich, so entstehn die Formen“ 6. Ein konkretes Beispiel aus den Jahren des Dritten Reiches kann uns diesen vielschichtigen Zusammenhang erschließen, – das 1936 entstandene Gedicht „Einsamer nie –“. Der gerade fünfzigjährige Benn machte zu jener Zeit die wohl schlimmste Phase seines Lebens durch. Er, der 1933 in tiefer Verblendung vorübergehend an eine Annäherung von Geist und Macht geglaubt hatte, mußte rasch erkennen, daß er mit seinem abwegigen „Züchtungs“-Ideal und den verhängnisvollen Thesen von „Erbmasse und Führertum“ 7 in Wahrheit den Geist verriet. Bereits 1934 kam er zu der Einsicht: „Ein deutscher Traum – wieder einmal zu Ende“ 8. Ohnehin machten ihm die Nationalsozialisten nachdrücklich klar, wie sehr er sich in ihnen getäuscht hatte. Mit immer neuen Schikanen zeigten sie dem Verfasser der „Morgue“„Einsamer nie –“  

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Gedichte, daß sie mit seiner Kunst nichts zu tun haben wollten. Schon 1934 versuchte der Balladenschreiber Börries Freiherr von Münchhausen, Benn als „reinblütigen Juden“ 9 unmöglich zu machen. Im Mai 1936 wurde er im ‚Schwarzen Korps‘, der Wochenzeitung der SS, und im ‚Völkischen Beobachter‘, dem offiziellen Organ des Regimes, den als ‚entartet‘ eingestuften Künstlern zugerechnet und kurzerhand als „Ferkel und Pornograph“ apostrophiert10. Der so Diffamierte hatte bereits die nötige Konsequenz gezogen. Anfang des Jahres 1935 löste er seine Berliner Arztpraxis auf und kehrte als Oberstabsarzt (im Rang eines Majors) in die Reichswehr zurück. Er wurde der Heeressanitäts-Inspektion in Hannover zugewiesen. Alles Bisherige ließ er damit hinter sich. Völlig weltfremd – und in heutiger Sicht nicht frei von Zynismus – bezeichnete er diesen Schritt als „die aristokratische Form der Emigrierung“ 11. Insgeheim war ihm freilich der wahre innere Grund für seine Entscheidung bewußt: „die Scham ist zu den Hunden geflohn“ 12. Immerhin bewahrte ihn das Tragen der Uniform vor schlimmeren Sanktionen. Jedoch war seit jenem Zeitpunkt seine Wirksamkeit als Autor für die Dauer des Dritten Reiches so gut wie ganz unterbrochen. Das ‚Überwachungsamt für nationalsozialistische Weltanschauung‘ ließ Benn über seinen Verlag wissen, welche Gedichte aus der im März 1936 veröffentlichten Sammlung entfernt werden müßten, damit das Buch in einer ‚gereinigten‘ Ausgabe „ohne jede Propaganda weiter vertrieben“ 13 werden dürfe. Dementsprechend gering fiel natürlich die ‚Wirkung‘ aus14. Die Maßnahmen der Nazidiktatur ließen dem Dichter keinerlei Spielraum. Im März 1938 erfolgte – „im Einvernehmen mit dem Herrn Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“ – der Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer. Zugleich wurde das offizielle Schreibverbot ausgesprochen15. Nach alledem dürfte einleuchten, warum Benn damals zu der bitteren Feststellung kam: „Die finsterste Epoche meines Lebens. (…) Ich habe das Leben satt, da ich keine äußere Form mehr finde, in der ich es leben u. führen mag“ 16. Aus dieser Erfahrung tiefen Leidens an der Individuation zog er definitiv die schmerzliche und zugleich als „Gegenglück“ empfundene Folgerung: „Es gibt nur den betrachtenden und leidenden Geist. (…) Der Geist wird seine Stellung erst haben, wenn das Leben ihn begehrt, ihn zu sich zu holen sucht“ 17. Bereits im 1916 verfaßten Rönne-Text „Die Insel“ taucht der Begriff „Gegenglück“ im Gegensatz zur „prallen Form des Sommers“ auf18. Der Dualismus von Leben und Kunst, von Glück und Gegenglück, wird zwei Jahrzehnte später einmal mehr zum Thema eines Gedichts. Unter dem Druck der beschriebenen Verhältnisse wurde die ästhetische Rechtfertigung des Lebens zu Benns definitiver Antwort auf die als sinnlos erfahrene Geschichte. Entsagung und Erfüllung fallen dabei zusammen. Benn hielt den in diesem Kontext entstandenen Text auf einer an den vertrauten Ansprechpartner Friedrich Wilhelm Oelze

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gerichteten Briefkarte mit dem Poststempel vom 4. September 1936 fest19. In der Endfassung lautet er so: Einsamer nie – Einsamer nie als im August: Erfüllungsstunde – im Gelände die roten und die goldenen Brände doch wo ist deiner Gärten Lust? 5

Die Seen hell, die Himmel weich, die Äcker rein und glänzen leise, doch wo sind Sieg und Siegsbeweise aus dem von dir vertretenen Reich?

Wo alles sich durch Glück beweist 10 und tauscht den Blick und tauscht die Ringe im Weingeruch, im Rausch der Dinge –: dienst du dem Gegenglück, dem Geist. 20 Ein erster Abdruck des Gedichts erfolgte wenige Monate danach, im Dezember 1936, in der unter politischem Druck veränderten Ausgabe der von der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart veröffentlichten Sammlung „Ausgewählter Gedichte“. Doch fand das schmale Buch unter den herrschenden Umständen, wie schon erwähnt, keinerlei Widerhall. Überraschenderweise gab es aber jenseits der Grenzen wenigstens ein Beispiel zustimmender Aufnahme, wie sie im Deutschland der Nazidiktatur nicht zustande kommen konnte. Klaus Mann war und blieb, auch im Exil, trotz der widerwärtigen Polemik Benns gegen die Emigranten, ein begeisterter Leser der Verse des von ihm bis 1933 verehrten Dichters21. Der Text „Einsamer nie – „ faszinierte ihn besonders. Er lernte ihn bereits im Januar 1937 bei einem Aufenthalt in Paris kennen22 und hielt die dritte Strophe als Eintragung im Juli 1937 wie dann die des Schlußverses im September 1940 im Tagebuch fest23. Noch in seiner biographischen Skizze „Der Wendepunkt“ legte Klaus Mann – unter Hinweis auf den ersten Vers des Gedichts – Wert auf die Feststellung: „Die Zeile von Gottfried Benn will mir – trotz allem – nicht aus dem Sinn“ 24. Mit gutem Grund stellten darum die Herausgeber der ‚Klaus-Mann-Schriftenreihe‘ dessen Lebensabschnitt vom Juli bis September 1941 unter die Überschrift: „Einsamer nie als im August“ 25.– Erste öffentliche Resonanz fand das Gedicht durch die nach dem Krieg – 1948 in der Schweiz und im Jahr darauf in Deutschland – publizierte Sammlung der „Statischen „Einsamer nie –“  

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Gedichte“. Die ‚Benn-Welle‘ der fünfziger Jahre machte dann nicht zuletzt diesen Text weithin bekannt. Zurecht wurde er als Schlüsselgedicht für das Weltbild des Dichters verstanden. Aufschluß zur genaueren Datierung gibt ein Brief Benns an Astrid Claes aus dem Jahr 1954. Dort heißt es unter anderem: „,Einsamer nie‘ – auf einem Hügel­ gasthof auf einem der kleinen Höhenzüge bei Hannover (..), hingefahren mit Autobus, wie ich das damals immer tat. Nachmittag, Ernteende. Bei mir eine Dame aus Paris (…) Ende August 1936“ 26. Ersichtlich ist demnach das Gedicht, wie oft bei Benn, direkter Ausfluß gelebter Erfahrung. Allerdings kommen bei diesem Mann, der sein Leben „im Überfall von Trauerstunden“ 27 ansiedelte, stets noch andere, geistige Impulse hinzu. Ohnehin geht die ästhetische Transformation allemal weit über den persönlichen Erfahrungsrahmen hinaus, so daß eine ‚biographistische‘ Lektüre sich, streng genommen, erübrigt. Dennoch ist es interessant zu verfolgen, in wie starkem Maße sich die angespannten Lebensumstände und Denkweisen Benns in seiner Vereinsamung zum damaligen Zeitpunkt im Gedicht widerspiegeln. In „Einsamer nie –“ begegnen wir der Gedankenwelt Benns in konzentrierter Form. Gleich die Überschrift hält den Befund des Ausgeschlossenseins in aller Schärfe fest. Mit den zwei Worten einer bewußt unausgeführten, abgebrochenen Aussage als Titel ist die Erkenntnis schmerzlich gewollter Isolation angesprochen. Der so bekundete Verzicht auf Teilhabe am allgemeinen Lebensprozeß verweigert sich jeglicher ‚Normalität‘. Soziales Abseits demzufolge als Weg zur Selbstbefreiung des Künstlers, als die gewollte und notwendige Einsamkeit des Genies. Aber dennoch steht da: „Einsamer nie –“. Der Komperativ deutet auf die unstillbare Sehnsucht dessen, der Synthesen verwirft, jedoch mit allen Sinnen im Leben steht. Die Hinzunahme der adverbialen Bestimmung „nie“ unterstreicht den hohen Grad der konstatierten Einsamkeit. Einfach thesenartig in den Raum gestellt, drängt die offen gehaltene Überschrift auf Klärung der angesprochenen Situation. Der danach gesetzte Gedankenstrich ist hier ein stilistisches Sonderzeichen für ein vom Autor empfohlenes Nachdenken. Er stellt damit für den Leser die auf Konzentration dringende Verbindung zum Textensemble her. Die Versgestaltung in gereimten jambischen Vierhebern dient dem Zweck, den antipodischen Grundgestus des Gedichts über die drei Vierzeiler hinweg formal adäquat umzusetzen. Insbesondere unterstützt die verschränkte Reimfolge (abba) die Klangbewegung der Strophen. Genau folgt sie dem Gedankengang des Textes. ‚Umarmend‘ ist die klammernde männliche Kadenz jeweils um das weiblich reimende Verspaar in der Strophenmitte gelegt. Ansonsten sorgt die regelmäßig steigende Taktfüllung für einen strikt gefügten, geschlossenen Vers- und Strophenbau in melodischem Rhythmus. Die mit Fragezeichen endenden beiden Strophen I und 242  

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II zielen auf einen klärenden Abschluß in der dritten Strophe. Diese finale Ausrichtung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die das Ganze tragende Grundspannung der lyrischen Konstruktion im Initialwort („Einsamer“, V. 1) und im Schlußwort („Geist“, V. 12). Diese beiden Leitbegriffe bestimmen den Gang des Gedichts, indem sie den Text einem Spannungsbogen einpassen, der zum geistigen Mitvollzug förmlich einlädt. Mit dem ersten Vers der Eingangsstrophe (I) wird das erwähnte Signal des ‚Bindestrichs‘ der Überschrift aufgenommen, die Aussage des dort nur angedeuteten Vergleichs mit der Konjunktion „als“ weitergeführt. Die temporale und zugleich lokale Präzisierung („im August“) evoziert eine sommerliche Atmosphäre prallen Lebens als auslösendes Moment der dadurch besonders krass empfundenen Einsamkeit. Ohne jede Prädikation durch ein Verb deutet sich damit ein extrem leidvoller Seins- und Bewußtseinszustand des hier Sprechenden an. Denn der Vergleich macht klar, wie weit er sich entfernt sieht von den Freuden menschlicher Beglückung durch die Natur und in der Natur. Gestalterisch ist der Vers bis ins Detail durchgeformt. Schwebende Betonung löst das erste Wort absichtsvoll aus dem metrischen Grundmuster des auftaktig-alternierenden Gleichmaßes heraus. Hierdurch wird der Leser sogleich auf die für das Gedicht tragende Bedeutung dichterischer Einsamkeit aufmerksam. Der den Vers abschließende Doppelpunkt ist in diesem Fall kein Zeichen der Zusammenfassung, sondern kündigt an, daß im weiteren Text Gründe und Bedingungen der ausgemachten Entfremdung genauer benannt und reflektiert werden. Der zweite Vers hebt an mit einem typischen Benn-Wort: „Erfüllungsstunde“. Es wird in der Folge entscheidendes Gewicht bekommen. Zunächst bringt der Autor damit das „Sein der hocherglühten Tage“ 28 „im Gelände“ des Sommers zum Ausdruck. Sogleich wird deutlich, daß Benn mit beschreibender Naturlyrik nichts im Sinn hat. Ihm geht es um Gedanken und Empfindungen beim Erleben der Natur. Nicht Hinwendung wird angestrebt, sondern Distanz. Mit fortschreitender Reflexion gewinnt die Vorstellung der „Erfüllungsstunde“ mehr und mehr Bedeutung als Symbol für den schöpferischen Augenblick, der dem Künstler eine andere, geistige Erfüllung bringt. Vorderhand freilich macht die wirkliche „Erfüllungsstunde“ des Umfelds dem Einsamen sein entsagungsvolles Los grausam bewußt. Deswegen bedarf seine Verlautbarung hier einer Denkpause. Um sie herzustellen, ist nach der Auftaktsilbe der dritten Hebung ein zweiter Gedankenstrich eingefügt, der den Jambenfluß grell unterbricht. Danach kann die genaue Bestimmung des hochsommerlichen Ambientes ausführlicher dargelegt werden. Aus diesem Grund gebraucht Benn hier das Enjambement, das die syntaktische Fügung vom zweiten zum dritten Vers hinüberzieht. Mit Nachdruck wird so die Aufmerksamkeit auf die besondere Intensität von Leben und Natur in der „August“-Landschaft gelenkt. Benn hat da„Einsamer nie –“  

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für eine farbkräftige Metapher gefunden: „die roten und die goldenen Brände“ (V. 3). Weit mehr ist damit gemeint als bloß roter „Mohn“ und goldener „Weizen“ 29. Bekanntlich ist Rot die Farbe des Lebens, der Liebe und der Freiheit; und im Gold sahen die Menschen eine stärkende und reinigende „Verwandtschaft mit der Sonne“ 30. Deutlich spürbar spielen die weiten Dimensionen dieser uralten Farbsymbolik glühenden Lebens in das Bennsche Bild des Sommer-“Geländes“ hinein. Nicht ohne Grund spricht der Dichter von „Bränden“. Das heißt nämlich nichts anderes, als daß ein von ihm bewußt gewähltes Kollektivum des Plurals die Totalität einer sommerlichen „Erfüllungsstunde“ in der Natur in zeichenhaft-offener Symbolgestaltung zum Ausdruck bringt. Der vierte Vers setzt die lyrische Reflexion fort. Die entgegensetzende Konjunktion „doch“ zeigt die Rückwendung zur Innenperspektive des ersten Verses an. Das lyrische Ich offenbart sich an dieser Stelle, wie dann an allen weiteren Strophenenden, als Instanz der Selbstverständigung und Selbstklärung. Direkt in der zweiten Person des Singulars als Du und somit als Subjekt des Gedichts angesprochen („deiner), ist das für den Autor die ‚objektivierte‘ Methode, um sein Inneres auszusprechen. Zugleich kann sich der Leser damit direkt einbezogen fühlen.- Bedeutsam ist sodann das von Benn für die jahreszeitliche Landschaftsimpression gewählte Bild der „Gärten“. Sicher ist diese Wortwahl zurückzuführen auf die dadurch gegebene Möglichkeit, das positiv aufgeladene symbolische Naturbild auch dem eigenen Bereich zuzuschreiben („deiner Gärten Lust“). Zum einen ist hierbei zunächst an die der Naturordnung folgenden sommerlichen „Gärten“ gedacht, andererseits gleichfalls an das ‚kulturierte‘, ästhetisch überformte Bild der Natur im individuell gestalteten „Garten“ des Dichters, – dem Gedicht. Wenn nun vom Sprechenden gefragt wird: „doch wo ist deiner Gärten Lust?“, so ist das ein erster Einblick in die komplexe Befindlichkeit des Einsamen. Seine „Gärten“ erglühen nicht in allseits sichtbaren „roten und goldenen Bränden“. Sie vermitteln ihm kein unmittelbares „Lust“-Gefühl. Vielmehr stellt sich dem einsamen Ich die brennende Frage nach der spezifischen Qualität seiner „Gärten“. Wie sich zeigen wird, verbirgt sich dahinter die prinzipielle Frage nach dem Stellenwert der Kunst. Der Fragesatz hält die antinomische Spannung wach, teilt sie dem weiteren Text und ebenso dem Leser mit. Gleichfalls verbindet sich damit natürlich die Erwartung einer im weiteren Verlauf erfolgenden Antwort. Unmittelbar nach dem fragend endenden Auftakt artikuliert die Mittelstrophe (II) den antipodischen Kern der Aussage. In zwei Verspaaren, also gleichgewichtig, werden die „Gärten“ der ersten Strophe zu den „Reichen“ (V. 8) des Lebens und der Kunst ausgeweitet. Zwar bildet die das Ganze auslösende Auguststimmung – erneut in der Außenperspektive – den ersten Teil. Indes treibt die Bewegung eindeutig auf die im Gedicht weitergeführte Selbstbefragung zu. Das „Gelände“ mit den impressionistisch fließenden „roten“ und „goldenen Bränden“ gewinnt jetzt schärfere Kon244  

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turen. Ein konzentrierender Bildausschnitt lenkt den Blick auf die bestimmenden Elemente, die den Dichter zu seinen Versen anregten. „See“, „Himmel“ und „Äcker“ (V. 5/6) beschreiben eine stimmig-harmonische Naturkulisse. Ohne Zweifel nach genauer Überlegung hat Benn an dieser Stelle die in der ursprünglichen Fassung festgehaltene Landschaftsimpression – „Die Felder leer, die Seen weich“ 31 – von der Horizontale in die Vertikale verlagert: „Die Seen hell, die Himmel weich“ (V. 5). Für die Darstellung der erlebten „Erfüllungsstunde“ von Natur und Leben brauchte er ein nach oben weisendes, leuchtend erfülltes „Gelände“, mithin keine „leeren“, abgeernteten Felder, sondern statt dessen eine intensiver erhellte Ausgestaltung der „hellen Seen“ unten bis hinauf zu den absichtsvoll pluralisch gesehenen „weichen Himmeln“. So kam der Autor zur ebenso einfachen wie ‚transzendierenden‘ endgültigen Formulierung des fünften Verses. Sie stellt einen beglückenden Ausschnitt aus der Wirklichkeit als Hintergrund heraus, vor dem dann im Vordergrund „reine“ Felder erscheinen: „die Äcker rein und glänzen leise“ (V. 6). Synästhetisch sublimiert durch den zugeordneten leisen Glanz ergänzen diese „Äcker“ das Hintergrundbild zu einem stimmigen Gesamteindruck. Das erste Verb, das, einmal abgesehen von den Hilfsverben, im Gedicht gebraucht wird („glänzen“), aktiviert spürbar die unmittelbar sinnliche Wirkung dieser beiden Verse. Überzeugend kommt hierdurch eine verklärte Landschaft zur Darstellung, die keines „Siegsbeweises“ bedarf, weil sie die schlagende Überzeugungskraft des „Sieges“ in sich trägt. Erneut lenkt die Konjunktion „doch“, wie schon im vierten Vers, zur Innenperspektive zurück. Sie wird dann für den Rest des Textes konsequent beibehalten. Angesichts des vollendeten, sieghaften Bildes von Natur, Leben und Glück in der Realität stellt sich dem Einsamen die beklemmende Frage nach seinen „Siegsbeweisen“: „doch wo sind Sieg und Siegsbeweise / aus dem von dir vertretenen Reich?“ (V. 6/7). Der durch Zeilensprung syntaktisch verbundene Doppelvers endet für den Sprecher zunächst noch im Fraglichen. Er hat der Helle und Weichheit wie dem leisen Glanz der „Erfüllungsstunde“ im „Reich“ der Wirklichkeit nur Dunkel und Härte entgegenzusetzen. Deshalb ist es ein schwerwiegender, geradezu tragikumwitterter Entschluß, sich für das von ihm „vertretene Reich“ zu entscheiden. Definitiv rückt darum nun das angesprochene und sprechende Du in den Mittelpunkt der Reflexion. Ihm stellt sich die existentielle Frage der Identitätswahrung. Sein „Reich“ hat nichts von der Sicherheit der erlebten „August“-Fülle. Es ist nämlich, aller geistigen Substanz zum Trotz, in jeder Hinsicht fragwürdig. Demzufolge bleibt die Spannungslage erhalten. Jedoch verrät die Wendung vom „Reich“, das der Sprechende als seine Domäne vertritt, daß er sich darin unbedingt zugehörig fühlt. Solche Zugehörigkeit war gemeint, als der Dichter in seiner Antwort auf eine Rundfrage „die eingeborene, prinzipielle, unübertragbare Problematik der von einem selbst zu schaffenden Kunst“ ins Feld führte32. „Einsamer nie –“  

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Mit der dritten Strophe (III) läuft die lyrische Reflexion aus. Zur abschließenden Entscheidungsfindung bedarf es nun einer eindeutigen Bewertung. Darum situiert das Relativadverb „wo“ die in den ersten drei Versen angestellten Überlegungen zunächst im Bereich derer, die dem unmittelbaren Dasein verhaftet sind. Syntaktisch bilden die drei Verszeilen (V. 9–11) eine durchlaufende Einheit. Allerdings reißt das Satzgefüge am Ende unvermittelt ab („Wo alles sich durch Glück beweist / und tauscht den Blick und tauscht die Ringe / im Weingeruch, im Rausch der Dinge“). Umso deutlicher gehört der Schlußvers dann ganz dem hier sprechenden wie angesprochenen Du. Wie aber sieht die poetische Lösung konkret aus? „Glück“, „Blick“, „Ringe“, „Weingeruch“, und „Rausch der Dinge“, diese Addition von Substantiven macht konkrete Begriffe namhaft, die zusammengenommen ein Querschnittsbild all dessen ergeben, was die „Erfüllungsstunde“ denen bringt, die voll im Leben stehen. Schnell wird dabei allerdings klar, wie flüchtig – eben nur „Glück“ – diese Art der ‚Erfüllung‘ ist. Der Vers „Wo alles sich durch Glück beweist“, will hier gewiß keine wahre Erfüllung vermitteln, sondern lediglich die Feststellung eines momentanen Zusammentreffens günstiger und insofern beglückender Umstände. Geht doch die Stunde schnell genug vorbei. Im Rückblick macht sie ohnehin bestenfalls einen Augenblick aus. Absolut gesetzter Glücksanspruch relativiert sich zwangsläufig, sobald er an der Lebensrealität gemessen wird. „Glücksbeweise“ versuchen, die Zeitbedingtheit zu unterlaufen. In den Augen des hier Wertenden bedeutet dieser Befund von vornherein eine reduzierte Zeitqualität. Noch stärker relativieren sich die „Siegsbeweise“ des äußeren Glücks im zehnten Vers: „und tauscht den Blick und tauscht die Ringe“. Diesen konditionalen Gliedsatz prägt der zweifache Gebrauch des Verbs, das den Vorgang des Tauschens nachdrücklich in unser Bewußtsein rückt. Objekte des Tauschens sind „Blick“ und „Ringe“, mithin Phänomene menschlicher Begegnung und Bindung. Der hier angesprochene „Blick“ ist Zeichen enger Kontaktnahme zweier Personen. „Ringe“, die getauscht werden, stiften seit alters den Bund für’s Leben, scheinen also glückhaft gelebte Dauer zu repräsentieren. Indes galt Benns gründliche Skepsis „allem Menschlichen, das nährt und paart“ 33. Scharf trennte er darum die geistige Sphäre vom ‚normalen‘, sich glücklich gebenden Lebensvollzug ab. Ganz dem entsprechend läuft die „Glücks“-Reflexion in fortschreitender Relativierung aus. Folgerichtig verweist der dritte Vers der Schlußstrophe weniger auf Lebensfülle und Substanz als vielmehr auf Genuß, Taumel und benebelndes Glücksgefühl: „im Weingeruch, im Rausch der Dinge“. Hier wird die geistige Nähe des Dichters zu Nietzsche besonders evident. Man braucht nur an den Vorwurf „dumpfer Gewöhnung“ in den Frühschriften des Philosophen zu denken34. Noch mehr aber zeigt sich die Verachtung Benns für die der wahren Erfüllung des Lebens entgegenstehenden „Dinge“. Vor solchem Hintergrund gerät der „Rausch der Dinge“ in ein denkbar ungünstiges Licht. Insgesamt 246  

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spiegelt die Reflexion über Menschenglück deutliches Mißvergnügen und Enttäuschung, ja weit mehr: Menschheitszorn. Mag manches daran Selbststilisierung oder Selbstverteidigung sein, vornehmlich war es innerlich notwendige Distanznahme zu Normalität und Banalität, um so die eigene Substanz zu wahren. Hierdurch wird einsichtig, warum sich am Ende der Blick ganz auf die Haltung des lyrischen Ichs konzentriert. Deswegen markiert die Interpunktion nach der dritten Verszeile ein doppeltes Merkzeichen. Gedankenstrich und Doppelpunkt zwingen zum Innehalten vor dem Übergang zur Schlußfolgerung des reflexiven Prozesses. So gesehen, dient der Doppelpunkt hier als Ankündigungszeichen für das fällige Resumee. Dies alles wird freilich erst evident vom Schlußvers her. Auf ihn hin ist, wie eingangs betont, das Gedicht zugeschrieben. Das lyrische Ich – ersichtlich als durchgängig präsentes, sprechendes und angesprochenes Du – tritt nunmehr vollends in den Vordergrund und beendet seine (Selbst)-Reflexion mit dem unzweideutigen Bekenntnis: „dienst du dem Gegenglück, dem Geist“ (V. 12). Die Sonderstellung dieses Verses wird auch klanglich besonders hervorgehoben. Eine Folge aus den beiden Konsonanten d und g an allen Wortanfängen gibt ihm seine eigentümliche, durch die dentalen und velaren Anlaute erzeugte Sonorität. Fürwahr ein Vers der Kunst! Denn hier verkündet der Autor mit Emphase sein persönliches „Artisten­ evangelium“ 35. Besonders auffallend ist hierbei der Gebrauch des Verbs ‚dienen‘ („dienst du“). Es geht dabei um die unbedingte Erfüllung einer Aufgabe, der man sich gänzlich unterordnet. Dahinter steckt die alte Konzeption des Künstlers im Dienst der Musen, bei Benn freilich zugespitzt auf ein schwer lebbares „Gegenglück“. Offensichtlich bedeutet das neben großem Selbstbewußtsein höchsten Anspruch und „schöpferische Lust“ 36, doch ebenso Verzicht, Leiden und Einsamkeit. „Gegenglück“ ist für den Dichter demzufolge eine wesentlich andere, tiefere Begegnung als die des „Blicks“ und der „Ringe“, eine andere Stunde als die „Erfüllungsstunde – im Gelände“. Zum Reich des „Geistes“ gehören auch und gerade Verzweiflung, Leid und Nacht. Darum ist die Stunde des Dichters von anderer Qualität. Sie ist nicht dem Augenblick verhaftet. Kunst und Leben sind für Benn wirklich „zwei Reiche“, wie er schon 1934 in einem Brief schrieb37. Das prononcierte Bekenntnis zum Reich des „Geistes“ negiert freilich nicht etwa das Leben, sondern setzt sich gleichsam darüber. Zwar wies er stets auf die Unvereinbarkeit beider Reiche hin und meinte damit Geistferne des Lebens und Lebensferne des Geistes. Doch sollte man das nicht nur als Antithese, sondern auch als eine punktuell mögliche Synthese sehen. Obwohl er die Kommunikation keinesfalls sucht, bleibt Kunst für Benn an das Leben gebunden. Gewiß ist der von ihm betonte notwendige Abstand eine gezielt brüske Gegenäußerung zur Wirklichkeit. Jedoch reichen seine kreativen Impulse allemal tief in erlebte „Erfüllungsstunden“ hinein. Die verkündete Trennung darf nicht mißverstanden werden als elitärer Kunstanspruch38. Was Benn anstrebte, „Einsamer nie –“  

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ist die Bewahrung der Freiheit des Künstlers und die Autonomie der Kunst. Dabei nimmt er es in Kauf, unweigerlich mit verwehrtem „Glück“, ja mit Leidensgewißheit leben zu müssen. In das Gedicht „Einsamer nie –“ haben sich die Spuren dieser ambivalenten Existenzform tief eingegraben. Trotzdem können Negativität gegenüber der Gesellschaft und tranzendierende Ästhetik produktiv aufeinander bezogen werden. Benn hatte den schmalen Pfad einer solchen Möglichkeit klar vor Augen. Das belegt nicht zuletzt eine Schallplatte, auf der Benn dieses Gedicht zu Gehör bringt. Die Aufnahme zeigt, wie viel ihm gerade an der Vermittlung dieser Verse lag. Seinen letzten Vortrag, Ende 1955 im Kölner Funkhaus, nutzte er um zu erklären, warum er sich dennoch für die ihn isolierende, autonome Position des Künstlers entschied. Er sagte da: „Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert. Sie hat keine geschichtlichen Ansatzkräfte, wenn sie reine Kunst ist, keine therapeutischen und pädagogischen Ansatzkräfte, sie wirkt anders. Sie hebt die Zeit und die Geschichte auf (…) – ein langer, innerer Weg. Das Wesen der Dichtung ist unendliche Zurückhaltung, zertrümmernd ihr Kern, aber schmal ihre Peripherie, sie berührt nicht viel, das aber glühend“ 39.

Anmerkungen 11 Benn, Gottfried: Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe). In Verbindung mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster und (ab Bd. VI) Holger Hof. Stuttgart 1987 ff. (Sigle: SW), SW IV, S. 162 (Lebensweg eines Intellektualisten. Die Erbmasse, 1934). 12 SW III, S. 128 (Epilog und lyrisches Ich, 1921). 13 SW III, S. 87 (Querschnitt, 1918). 14 SW VI, S. 37 (Probleme der Lyrik, 1951). 15 Vgl. hierzu: Töpler, Cäcilia: Benn – Ich und Form. In: Text + Kritik, Nr. 44: Gottftied Benn. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. 3.A. (Neufassung). München 2006, S. 36–49. 16 SW V, S. 150 (Doppelleben, 1950). 17 Hierzu: SW IV, S.  33–40 (Züchtung), ferner: S.  51 (Der deutsche Mensch), S.  59–65 (Geist und Seele künftiger Geschlechter) sowie S. 66–75 (Zucht und Zukunft). 18 Benn, Gottfried: Briefe an F. W. Oelze. Bd. I: 1932–1945. Hrsg. v. Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Wiesbaden 1977 (Sigle: BO), S. 36 (Brief v. 24.7.1934). 19 BO, S. 33 (Brief v. 25.4.1934); hierzu auch: Gottfried Benn. 1886–1956. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Marbach 1986 (Sigle: K), S. 232–245. 10 BO, S. 117 (Brief v. 17.5.1936). In einem anonymen Artikel im ‚Schwarzen Korps“ vom 7.5.1936 heißt es u.a.: „Herr Benn wühlt seinen Stift nicht nur in stinkende Wunden, er

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macht auch in Erotik, und wie er das macht, das befähigt ihn glatt zum Nachfolger jener, die man wegen ihrer widernatürlichen Schweinereien aus dem Hause jagte“ (zit. n.: K, S. 253). BO, S. 39 (Brief v. 18.11.1934). Fast gleichlautend schrieb Benn an Ina Seidel: (Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort von Max Rychner (Sigle: BB). 2.A. Wiesbaden 1959, S. 62 (Brief v. 12.12.1934). BO, S. 44 (Brief v. 30.1.1935). BO, S. 152 (Brief v. 15.10.1936). Die Honorarabrechnung der DVA registriert für den Verkauf der „Ausgewählten Gedichte“ im zweiten Quartal 1937 78 (!) verkaufte Exemplare (s. hierzu: K, S. 255). Ausführliche Informationen hierzu: K, S. 242–245; ebenso: Dyck, Joachim: Der Zeitzeuge – Gottfried Benn 1929–1949. Göttingen 2006, S. 194–207. Benn, Gottfried: Briefe an Ellinor Büller. 1930–1937. Briefe, 5. Band. Hrsg. v. Marguerite Valerie Schlüter. Stuttgart 1992, S. 163 (Brief v. 22.1.1937). BO, S. 41 (Brief v. 24.11.1934). SW III, S. 66 (Die Insel, 1916). BO, S. 144. SW I, S. 135.- Die Handschrift (H 1) mit dem Entwurf des Gedichts läßt geringfügige, von der Endfassung abweichende Vorstufen erkennen. Sie betreffen, außer der stellenweise unterschiedlichen Interpunktion und einer Genitivabweichung (Siegbeweise > Siegsbeweise) allein den Wortlaut von Vers 5. Im Entwurf lautet er: „Die Felder leer, die Seen weich“. Daraus wird in der Endfassung: „Die Seen hell, die Himmel weich“, so daß sich eine im Ausdruck wesentlich andere Bewegungsperspektive ergibt. Wiederholt kommt Klaus Mann im Tagebuch auf Benn zu sprechen. Hier einige Beispiele: „Gestern abend wieder ein sündhaftes Vergnügen an den Versen von Gottfried Benn“ (4.9.1936), „Laut mehrere Gottfried Benn-Gedichte gelesen. Welch tiefer, schlimmer, berauschender Ton“ (8.10.1936), „Benn gelesen“ (17.1.1937). Zit. n.: Mann, Klaus: Tagebücher Hrsg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller (Sigle: T). München 1990, S. 72, 79, 101. Unter dem Datum des 24.1.1937 ist festgehalten: „Letzter Tag in Paris. (…) Unterhaltung hauptsächlich über Gottfried Benn,- in dessen neuem Gedichtband ich blättere“ (T, S. 102). Eintragung der Schlußstrophe des Gedichts am 4.7.1937 (T, S. 142):; Eintragung des Schlußverses am 19.9.1940 in: Tagebuch 1940 bis 1943 (T, S. 62). Mann, Klaus: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Frankfurt/M. 1953, S. 450 (Eintragung vom 10.8.1941). Klaus-Mann-Schriftenreihe, Bd. 5: 1937–1942. Trauma Amerika. Hrsg. v. Frederic Kroll. Wiesbaden 1986, S. 307. SW, S. 402. Die Ausfahrt erfolgte am Samstag, 27.8.1936. Insofern können die letzten Augusttage mit großer Sicherheit als Datum der Entstehung des Gedichts angenommen werden. SW I, S. 274 (März. Brief nach Meran). SW, I,1, S. 220 (Sommers). „Einsamer nie –“  

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29 So Schünemann, der die verkürzende Auffassung vertritt: „Das Gedicht zeigt die Natur auf ihrem sommerlichen Höhepunkt: Mohn, Weizen,, See und Himmel im Moment ihrer höchsten Erfüllung“ (Schünemann, Peter: Gottfried Benn. München 1977, S. 113). 30 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin, Leipzig 1927 ff., Bd. III, S. 919. 31 SW, I,1, S. 401. Siehe auch Anm. 20. 32 SW, III,1, S. 248 (Dichtung auf Bestellung. Antwort auf eine Rundfrage). 33 SW I,1, S. 130 (Wer allein ist -). 34 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Zit. n.: Zeitgemäßes und Unzeitgemäßes. Ausgewählt und eingeleitet von Karl Löwith (= Bücher des Wissens 115). Frankfurt/M. 1956, S. 38–58 (Zitat: S. 48). 35 Vgl. hierzu: SW III,1, S. 317 (Rede auf Heinrich Mann). Es heißt dort u.a auch.: „die Kunst, die eigentliche Aufgabe des Lebens, die letzte Transzendenz innerhalb des großen europäischen Nichts. (SW III,1., S. 320). 36 GW I, S. 500 (Probleme der Lyrik). 37 BB (s. Anm. 11): Brief Benns an Ina Seidel v. 30.9.1934. 38 Benn weist in „Probleme der Lyrik“ ausdrücklich darauf hin: „Welchen Wesens sind diese Lyriker (…)? sie sind keine Träumer, auch von Träumen müssen sie sich auf Worte bringen lassen (…) sie machen ja Kunst, das heißt sie brauchen ein hartes, massives Gehirn. (…) Sie sind aber auch keine Himmelsstürmer, keine Titaniden, sie sind meistens recht still, innerlich still“ (GW I, S. 515 f.). 39 GW I, S. 593 (Soll die Dichtung das Leben bessern?“).

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Exkurs: Autonomie oder Gebrauchswert des Gedichts am Beispiel von Benn („Ein Wort“) und Brecht („Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“)

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enn und Brecht sind im gleichen Jahr, 1956, vor mehr als einem halben Jahrhundert aus dem Leben, keineswegs jedoch aus der Zeit getreten. Beide waren und bleiben in jeder Hinsicht antipodische Repräsentanten. Sie dennoch einander gegenüberzustellen liegt in der einfachen Tatsache begründet, daß jeder von ihnen mit herausragenden Gedichten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts seinen Stempel aufgedrückt hat wie sonst nur noch Rilke, Trakl und Celan. Schon früh hat das Kurt Tucholsky scharfsichtig erkannt. In einer 1928 veröffentlichten Rezension bezeichnete er Benn und Brecht als „die größten lyrischen Begabungen“ der damaligen Literaturszenerie1. Dieses Urteil hat sich in der Folgezeit nachhaltig bestätigt. Um die Unterschiede im poetischen Verfahren besser auszumachen, ist es deshalb interessant, diese voneinander so verschiedenen Lyriker anhand von zwei Texten zu vergleichen. Leitbegriffe sind dabei im Falle Benns die Autonomie der Kunst, im Falle Brechts deren Gebrauchswert. Begegnungen zwischen beiden Poeten haben nicht stattgefunden. Zuviel Tren­ nendes stand dem im Wege. Ihre gesamten Orientierungen waren völlig anders. Benn sah die Position einer absolut gesetzten Kunst im strikten Gegensatz zur Lebenspraxis. Brecht hingegen vertrat mit Entschiedenheit die soziale Funktion von Kunst. Ohne auf ästhetischen Anspruch zu verzichten, siedelte er sie in der zu verändernden Lebenspraxis an. Kunst einerseits wie Benn zu begreifen als transzendierendes Moment statischer Vollendung oder andererseits wie Brecht als integrierenden Faktor der Wirklichkeit von hoher Dynamik, – das sind in der Tat prinzipiell sich ausschließende Positionen. Niemand wird darum verwundert sein darüber, daß diese beiden leidenschaftlich an Berlin hängenden Autoren einander geflissentlich mieden. Natürlich kannten sie sich sehr wohl, aber sie mochten sich nicht. Verständlicherweise steigerte das diametrale Verhalten während des Dritten Reiches die wechselseitige Abneigung, besonders für Brecht, zu unversöhnlicher Gegnerschaft. Ein Militärarzt, der sich nicht zu schade war, auch unter Hitler Dienst zu tun und anfangs sogar der nationalsozialistischen Ideologie das Wort redete, war für den exilierten Kommunisten Brecht vollkommen inakzeptabel. Umgekehrt hatte der Formkünstler Benn nichts übrig für ideologischen Bekenntniszwang oder literarische Konzessionen an Parteiinteressen und Klassenkampf. Zwischen beiden Autonomie und Gebrauchswert des Gedichts am Beispiel von Benn und Brecht  

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Männern war daher eine Verständigung von vornherein ausgeschlossen. Zu deutlich verkörperten sie konträre Reflexe auf die gesellschaftlichen Entwicklungen Deutschlands vom wilhelminischen Kaiserreich über die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und deren katastrophales Ende bis zur Teilung in zwei deutsche Staaten. Benn reagierte darauf mit selbstbewußter Zurückgezogenheit, Brecht mit gesellschaftlichem Engagement. Das sind zwei exemplarische Reaktionen auf die wechselvollen, zur Stellungnahme herausfordernden Zeitlagen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der politisch bewußte Schriftsteller Brecht suchte Solidarität mit den ‚Beleidigten und Erniedrigten‘, der politisch verstörte Benn zog sich auf eine Position monomanischer Isolation zurück. Zwei polare Maximen belegen das schlagend. Der Kunstabsolutist Benn ließ verlauten: „Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können“ 2. Brecht wiederum, der historische Materialist und Verfechter einer Literatur des „Eingreifens“, hielt dem die Verse entgegen: „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag“ 3. Die weltanschauliche Gegensätzlichkeit bestimmt naturgemäß auch den jeweiligen Werkzusammenhang bis hin zum einzelnen Gedichttext. Darum sollen nun die angedeuteten antagonistischen Positionen an zwei poetologischen Gedichten, lyrischen Texten also, die Wirkungsabsicht, Machart und Ausgestaltung des Gedichts thematisieren, konkret herausgearbeitet werden. Hier zunächst einmal die beiden Texte: Gottfried Benn: Ein Wort (1941) Ein Wort, ein Satz – : aus Chiffren steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen und alles ballt sich zu ihm hin. 5

Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich – und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich. 4

Bertolt Brecht: Auf einen chinesischen Theewurzellöwen (1951) Die Schlechten fürchten deine Klaue. Die Guten freuen sich deiner Grazie. 252  

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Derlei Hörte ich gern 5 Von meinem Vers. 5 Gewöhnlich soll ein Vergleich einen verdeutlichenden Zusammenhang herstellen. In der Folge dient der Vergleich im Gegenteil dazu, zwei grundverschiedene poetische und poetologische Positionen einander verdeutlichend zu konfrontieren. Erst einmal zu Benn. Mitten im Zweiten Weltkrieg, im Dezember 1941, hat er den Text in die bloß als Typoskript vorhandene, dem Freund Oelze anvertraute Sammlung der „Biographischen Gedichte“ aufgenommen. Der genaue Zeitpunkt der Ausarbeitung ist nicht zu ermitteln. Hierbei stützte sich der Autor auf eine interessante Vorstufe. In der in Berlin erscheinenden „Neuen Bücherschau“ wurde Anfang 1929, also über ein Jahrzehnt vor der Abfassung von „Ein Wort“, ein Gedicht Benns veröffentlicht, in dem man, hauptsächlich in der zweiten Strophe, einen ersten Entwurf sehen kann. Es hat den Titel „Schöpfung“ und stimmt in der formalen Lösung, zum Teil ebenso in der Wortwahl mit dem späteren Text überein. Sogar die Reimworte der zweiten Strophe sind bereits vorgegeben. Hier die frühe Version: Schöpfung Aus Dschungeln, krokodilverschlammten Six days – wer weiß, wer kennt den Ort -, nach all dem Schluck- und Schreiverdammten: das erste Ich, das erste Wort. 5

Ein Wort, ein Ich, ein Flaum, ein Feuer, ein Fackelblau, ein Sternenstrich – woher, wohin – ins Ungeheuer von leerem Raum um Wort, um Ich. 6

Wir stoßen hier auf die vertraute poetische Diktion Benns in den zwanziger Jahren mit mythischen und exotisch-rauschhaften Bildern, mit dem Klangwert von Fremdworten, Slang oder Fetzen aus anderen Sprachen. Während er damals jedoch hauptsächlich der nihilistischen Auffassung anhing, der Zivilisationsprozeß habe zum „grauenhaften Chaos von Realitätszerfall und Wertverkehrung“ 7 geführt, deutet sich daneben bereits eine andere Sicht an. Dem herrschenden chaotischen Dunkel der biblischen Schöpfung und dem verdinglichten Leben, in welchem die verhirnte Menschheit dahinwest, stehen nun als konstruktive Wirkkräfte der Geist und insofern auch die Kunst schroff gegenüber. Davon leitete Benn später die Überzeugung Autonomie und Gebrauchswert des Gedichts am Beispiel von Benn und Brecht  

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ab: „Das Wort ist die Selbstbegegnung der Schöpfung und ihre Selbstbewegung. Am Anfang war das Wort, und es wird am Ende sein. (…) Es ist die Entelechie (der unzerstörbare Kern) des Quartär“ 8 (des jüngsten Zeitraums der Erdgeschichte). Gerade dieser Prozeß ist Gegenstand des „Schöpfungs“-Gedichts. Mit der provozierenden Wendung „six days“ die biblisch-fundamentalistische Schöpfungswoche ironisierend, bekräftigt das Gedicht mit der betonten „Evolution des geistigen Prinzips“ 9, allerdings unter anderen Perspektiven, die Evolutionstheorie Darwins. Aus düsteren, „krokodilverschlammten“ Anfängen des primitiven „Schluck- und Schreiverdammt“Seins ersteht „das erste Ich, das erste Wort“. Auf das isolierte Ich, jene „späte Stimmung der Natur“ 10, und ganz besonders auf das schöpferische Wort ist die alleinige Hoffnung Benns gerichtet. Programmatisch heißt es am Anfang der Überlegungen zum „Lyrischen Ich“ (1927) wie dann gleichfalls in der Rede über „Probleme der Lyrik“ (1951): „Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug“ 11. Benns „Schöpfungserkenntnis“ 12 eröffnet dem an die Form gebundenen Wort seine transzendierende, welterschließende Ausdrucksdimension, – „eine anthropologische Lage vollkommen ausgedrückt“ wiederzugeben13. Mit dem dichterischen Wort kann die bestehende Leere überwunden werden. Darum wird schon im Text von 1928 „ein Wort“ zum schöpferischen „Sternenstrich“. Doch sehen wir, was der Autor dreizehn Jahre später aus diesem ersten, noch sehr vorläufigen Ansatz gemacht hat. Das Gedicht „Ein Wort“ besteht aus zwei einfachen, vierzeiligen Strophen mit kurzen vierhebigen jambischen Versen und Kreuzreimschema. Die veränderte Wortwahl gibt dem Ganzen größere Geschlossenheit. Benn hat die „halb wegwerfende, halb parodistische“ Sprechweise14 weithin hinter sich. Auch das Motiv der Evolution wird fallengelassen. Das gibt dem klar überschaubaren Text klangliche Einheit und gedankliche Konzentration. Aus dem reihenden Bauprinzip schälen sich drei Darstellungsschritte heraus, die sich auf die erste Strophe und die beiden Hälften der zweiten Strophe verteilen. Dabei kreist die lyrische Reflexion um das Verhältnis von „Wort“ (Titelwort und Initialwort der beiden Strophen) und „Ich“ (Schlußwort). Die Spannung zwischen beiden konstituiert den Gedankenfluß der acht Verse. Die Formulierung der Überschrift bildet auch den demonstrativen Anfang des ersten Verses. Durch die beigefügte Ergänzung „ein Satz“ ist sogleich der Bereich der „Ausdruckswelt“ 15 angedeutet, zumal die zum Satz formierten Worte unvermittelt mit sinntragenden „Chiffren“ gleichgesetzt werden („Ein Wort, ein Satz – : aus Chiffren steigen“). Mithin ist nicht etwa die Rede von den Wörtern und Sätzen umgangssprachlich-alltäglicher Kommunikation, sondern von jenen „herangetasteten Worten“, von denen Benn sagte: „Sie rinnen sofort zusammen zu einer Chiffre, einer stilistischen Figur“ 16, also zum dichterischen Ausdruck. Die Spezifik des schöpfe254  

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rischen Worts wird innerhalb einer einzigen Verszeile durch die augenfällige syntaktische Konzentration auf drei Substantive und eine sprechende Interpunktion (Gedankenstrich mit nachfolgendem Doppelpunkt) herbeigeführt. Zusätzlich markiert das einzige angeschlossene Verb die dem poetisch aufgeladenen Wort eigene, ansteigende gedankliche Bewegung („steigen“). Aber der Satz ist noch nicht zu Ende. Der Satzrhythmus drängt direkt weiter. Der Zeilensprung zum zweiten Vers hinüber akzentuiert die nachfolgende Aussage: „erkanntes Leben, jäher Sinn“. So kommt zum Ausdruck, was das dichterisch geformte Wort zu leisten vermag. Ihm ent-“steigt“, unverkennbar als Steigerung aufzufassen, „jäher Sinn“. Damit ist die erkenntnisstiftende Möglichkeit des Worts, des Gedichts, der Kunst überhaupt angesprochen. Leben zu „erkennen“, macht deren besondere Fähigkeit aus. Daß Benn dabei von durchschauter Wirklichkeit ausgeht, liegt auf der Hand. Dem Verfechter von „Zusammenhangsdurchstoßung“ und „Wirklichkeitszertrümmerung“ 17 mußte an der Gewinnung des nötigen Abstands gelegen sein. Deswegen wird im dritten und vierten Vers das Ergebnis des „jähen Sinns“ der Kunst zum Thema. Das Wort steht gegen die kosmische Ordnung, setzt sich gleichsam an die Stelle von Sonne und Sphärenharmonie („die Sonne steht, die Sphären schweigen“, V. 3). Die über die kreative Wortgestaltung kritisch herausgestellte Doppel-“Chiffre“ – Zentrum des Solarsystems und Ordnung des Universums – wird damit einfach weggeschoben. So wird das Wort zum Mittelpunkt einer Gegenwelt. Benn bezeichnet sie auch als die „Gestaltungssphäre“ 18. Das leistet der vierte Vers mit dem auf das Wort abhebenden verändernden Zuspruch: „und alles ballt sich zu ihm hin“ (V. 4). Der Strophenschluß wird durch die produktive Gegenkraft des Geistes und des von ihm geprägten dichterischen Sprechens zum Bekenntnis für die Konstruktion eines anderen Lebens im Zeichen von „Eigengesetzlichkeit der Kunst“ 19. Die den Text direkt weiterführende und dann auch abschließende zweite Strophe zerfällt in zwei klar voneinander abgesetzte Teile. Zunächst führt der Autor den begonnenen Gedankengang mit einer verkürzten Wiederaufnahme des Gedichtanfangs weiter. Allein die grundlegende Wendung „ein Wort“ (V. 1 und 5) wird erinnernd übernommen. Wie in den ersten beiden Versen folgt dann, ohne verbale Verknüpfung, in einer aneinandergefügten Reihe von fünf Substantiven die Präzisierung der kosmischen Metaphernebene: „Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, / ein Flammenwurf, ein Sternenstrich“ (V. 5/6). Die erkennbare Steigerung der qualitativen Zuschreibungen dient dem Zweck, den in der ersten Strophe bekundeten Wert des Wortes durch immer größere Himmelslichter und deren wachsende Leuchtkraft weiter auszubauen. Die nominalen Attribute bilden, unterstützt vom Enjambement, eine parataktisch gefügte Abfolge, bei der die zunehmende Wortlänge und Silbenzahl den auszumachenden Steigerungsvorgang unterstützend mittragen („Glanz“, „Flug“, „Feuer“, „Flammenwurf “, „Sternenstrich“). Diese Metaphern Autonomie und Gebrauchswert des Gedichts am Beispiel von Benn und Brecht  

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gewinnen tatsächlich „einen ins Kosmische gesteigerten Rang“ 20. Freilich ist den gewählten Licht-Metaphern auch wiederum ihr lediglich punktuelles Erscheinen abzulesen. Kometengleich verschwinden sie alsbald wieder im Nichts. Benn war sich darüber klar und stellte darum schonungslos fest: „Wir werden uns damit abfinden müssen, daß Worte eine latente Existenz besitzen“ 21. So gesehen, deutet sich bereits hier der Schlußgedanke an, der dann in den Versen 7 und 8 ausgeführt wird. Im letzten Darstellungsschritt stellt die Konjunktion „und“ die verbindende Überleitung zur Folgestrophe her. Das beigefügte Adverb „wieder“ lenkt dann noch einmal zurück zu der vom „Dunkel“ geprägten Situation vor dem Aufleuchten des Wortes („und wieder Dunkel, ungeheuer“, V. 7). Hierdurch offenbart sich das Wort als sinntragender Gegenentwurf zur sinnlosen Realität. Wie leicht zu bemerken ist, übernimmt Benn in weiten Teilen die zweite Strophe der „Schöpfungs“-Version. Bestehen bleibt die Gegenüberstellung von „Wort“ und „leerem Raum“ und ebenso die vorgegebene Reimbindung. Das in der 5. Strophe der Vorstufe eher störende „Ich“ (weil es dem Endwort einen Teil seines Gewichts nimmt) sowie das wenig aussagekräftige Bild des „Flaums“ machen der einheitlichen Bildkette des Leuchtens Platz. Ebenso verschwinden das vage „Fackelblau“ und der überflüssig gewordene „Anklang an das Entwicklungsmotiv“ 22 („woher, wohin – ins Ungeheuer“). Gewonnen wird dabei viel. Die lyrische Form wird einheitlicher, in sich geschlossener und dadurch fließender. Vor allem der Wegfall der Frageadverbien und deren Ersetzung durch das neu eingeführte „Dunkel“ erbringen einen spürbaren qualitativen Zuwachs. Das Wort als „Chiffre“ wird zum magischen Zeichen. Nur wer es zu deuten versteht, ist in den Augen des Autors reif für die Befreiung vom lähmenden Sog der „Weltkraftköpfe“ und ihrem fatalen „Opportunismus von der Börse bis zur Psychiatrie“ 23. Darin liegt der eigentliche Sinn seines ‚Artistenevangeliums‘ im Geiste Nietzsches. Er hat es mit den Worten von Novalis dahin präzisiert zu sagen: „Kunst ist die progressive Anthropologie“ 24. Richtig ist allerdings auch die Feststellung Eskins: „Der jähe dem Wort, dem Satz entsteigende Sinn verdankt sich nicht dem Gespräch, der Begegnung mit einem Anderen, sondern kommt und geht im leeren Raum um Welt und undurchdringbares, isoliertes Ich“ 25. Benn weiß eben auch, wie begrenzt die Möglichkeiten der Selbstbefreiung und Selbstverwirklichung sind. Deswegen kam er zu der Feststellung: „Jeder ist einbegriffen – aber niemand kann mehr sein als etwas allgemeine Gültigkeit mit Zeichen von Situationärem“ 26. Das besagt: Kunst ist die prekäre andere, aber die eigentliche Wirklichkeit, weil sie die Leere – „im leeren Raum um Welt und Ich“ (V. 8) – wenigstens vorübergehend überwindet. Doch nun zu Brecht. Sein Gedicht wurde 1951 vom Ostberliner Aufbau-Verlag im Rahmen der Sammlung „Hundert Gedichte“ erstmals veröffentlicht. Offenkundig maß der Autor speziell diesen Versen besonderes Gewicht bei. Dementsprechend 256  

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stellte der Gestalter des Buches, John Heartfield, auf dem Umschlag das Gedicht besonders heraus. Er bildete auf der Titelseite ein Photo des „Theewurzellöwen“ und auf der Rückseite den Gedichttext ab. Angefügt war dort noch die Information für westliche Leser: „Figur aus Wurzeln des Theestrauches, im alten China als Glückstier betrachtet und um so höher bewertet, je weniger Schnitzarbeit sie aufwies“. Natur als Kunst also. Das gefiel Brecht, der den Teewurzellöwen während seiner Exilzeit in den Vereinigten Staaten kaufte. Ähnlich wie die japanische „Maske des Bösen“, bewahrte er ihn sorgfältig auf. Unter den „Hundert Gedichten“ firmiert der Text in der Gruppe der „Gedichte im Exil“, obwohl die endgültige Fassung erst im Sommer 1951 entstanden ist. Die Plazierung unter den Exilgedichten hat ihren Grund wohl darin, daß eine Vorstufe existiert, die in jene Zeit zurückreicht. Sie sei hier wiedergegeben, obgleich sie deutlich einen noch sehr unfertigen Status erkennen läßt: Sein Fell ist stachlich Sei mein Vers stachlich! Sein Auge blickt jeden an Blicke mein Vers jeden an! 5 Er war eine Wurzel und springt zu Sei mein Vers verwurzelt und treffend! 27 Von Anfang an legte demnach der Autor seinen Text „Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“ bewußt als programmatisches Gedicht an. Richtig wurde dazu erklärend angemerkt: „Er sah in der Figur die Einheit des Kämpferischen und Anmutigen und damit einen Grundsatz seiner Arbeit ausgedrückt“ 28. Allerdings fiel im ersten Entwurf die poetologische Absicht noch ziemlich schematisch aus. Daß der „Vers“ (pars pro toto für das Gedicht, die Lyrik und die Dichtung überhaupt!) „stachlig“ zu sein habe, jeden furchterregend anblicken, außerdem noch verwurzelt sein soll und treffen, bleibt als Aussage unscharf. Zwar ist der Kerngedanke kritischer Verve erkennbar. Er bleibt jedoch im Hinblick auf die politische Wirkungsabsicht viel zu offen. Ein solcher Entwurf schreit förmlich nach strenger Überarbeitung. Sie erfolgte nach Brechts Rückkehr aus dem Exil in die DDR. Er lernte dabei, wie Hanns Eisler richtig bemerkte, „von seiner Knappheit“ 29. In Ost-Berlin arbeitete er den Text zu einer im Vergleich mit Benn diametralen Positionsbestimmung der dichterischen Arbeit und ihrer Wirkungsabsicht um. Im Vordergrund steht dabei der vom Klassenkämpfer Brecht geforderte „Gebrauchswert“ des Gedichts. Aus der eher matten Parallelaufzählung von Merkmalen des Teewurzellöwen und ihrer Anwendung auf die dichterische Tätigkeit wurde am Ende nach gründlicher Umgestaltung eine der fernöstlichen Haiku-Form angenäherte, ebenso strenge wie spannungsreiche Zeilenkomposition im Sinne des Brechtschen Prinzips der „reimlosen Lyrik mit Autonomie und Gebrauchswert des Gedichts am Beispiel von Benn und Brecht  

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unregelmäßigen Rhythmen“. Der Widerstreit zwischen syntaktischer Ordnung und Zeilenmetrik im zweiten Teil des Gedichts kommt der Absicht entgegen, beim Leser Denkimpulse auszulösen. Wir haben es mit ausgesprochen didaktisch-pragmatischen Versen zu tun, die dennoch poetisch überzeugen. Die Überschrift ist als parabelartige Adresse gehalten. Sie benennt die Figur des „Theewurzellöwen“ als Anlaß und Thema des spruchhaft knappen Gedichts. Das chinesische Glückstier symbolisiert die vom Autor herbeigewünschte ausgleichende Gerechtigkeit zwischen den Menschen. Demonstrativ wird sie vorgeführt am Beispiel der unterschiedlichen Reaktion von „Guten“ und „Schlechten“ auf den Löwen („Die Schlechten fürchten deine Klaue. / Die Guten freuen sich deiner Grazie“, V. 1/2). Anders als beim frühen Entwurf, kommt am Gegensatzpaar von „Klaue“ und „Grazie“ seine sozial nützliche Eigenschaft wesentlich klarer und deswegen überzeugender zum Ausdruck. Hierbei schimmert Brechts Vorstellung von Lebensfreude und Lebensgenuß durch. Furcht als Reaktion der „Schlechten“ und Freude bei den „Guten“ versinnbildlichen sein kühnes Wunschbild einer die bestehenden Verhältnisse radikal verändernden Einwirkung. Auf dem Wege dieser indirekten dialektischen Analyse der sozialen Wirklichkeit erfahren wir, welches Ziel ihm vorschwebt. Aus der demonstrativen Struktur der beiden Doppelverse erwächst der genaue Umriß eines anderen, menschlich überzeugenden Sozialmodells. Durch die epigrammartig ausgeführte lyrische Parabel wird der „Theewurzellöwe“ zum Sinnbild verändernder Gerechtigkeit und im selben Moment zum Sinnbild für die Aufgabe des Künstlers. Die beiden einleitenden Verszeilen konfrontierten die Gesellschaft mit ihren humanen Möglichkeiten. Auf der gleichen Linie eines Lehrgedichts liegt der Inhalt des zweiten Teils mit der praktischen Anwendung des am Beispiel des „Theewurzellöwen“ illustrierten Befunds eines Zusammenhangs von Kunst und Gesellschaft. Ein einziges Wort, das nicht deklinierte Demonstrativpronomen „derlei“ (V. 3), füllt eine ganze Verszeile. Diese Gewichtung ist leicht zu erklären. Es hat hier die selbständige Funktion von ‚so etwas‘ und stellt damit den Angelpunkt der lyrischen Argumentation dar. Nachdem die beiden ersten Verse jeweils mit einer klar getrennten Satzgrenze ausliefen, folgt mit dem durch Enjambement auf drei Zeilen verteilten Schlußsatz eine für den Ausdruck entscheidende Gliederung der Aussage („Derlei / Hörte ich gern / Von meinem Vers“, V. 3–5). „Derlei“ greift die bildhafte Beschreibung der sozialen Unterschiede auf. Sofort danach erfolgt die Auswertung. Wurden bereits im zweiten Vers Wirkungsmomente mit ästhetischer Qualität („Grazie“) angesprochen, so kommt nun die praktische Bedeutung der Kunst für die Gesellschaft zur Sprache. Die auktoriale Präsenz, direkt erwähnt im vierten Vers („ich“), unterstreicht für den Leser, daß Brecht in eigener Sache spricht. Seine poetischen Prinzipien stehen zur Debatte. Deswegen merkt er an, was seiner Ansicht nach ein „Vers“ bewirken sollte. In dieser Absicht werden die beschriebenen Eigen258  

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schaften des Glückstiers zur indirekten Darstellung seines kritischen Weltbilds und der davon abzuleitenden Wirkungsabsichten genutzt. Erhellend ist es, unter den beschriebenen gebrauchsästhetischen Prämissen über die Zeitform des Verbs „hörte“ im vierten Vers nachzudenken. Vieles spricht dafür, der Autor habe hier nach den indikativischen Verbformen des Anfangs („fürchten“, „freuen sich“) den Modus des Möglichen, mithin den Konjunktiv, als Ausdruck des Wunsches nach einem herzustellenden besseren Zustand gesetzt. Im Sinne von ‚würde ich gerne hören‘ werden Aufgabe und Erwartungen des Dichters artikuliert. Er soll bestrebt sein, die Gesellschaft nach den vom „Theewurzellöwen“ bewirkten Reaktionen auszurichten. Freilich läge es gleichfalls nahe, eine zurückblickende Reflexion Brechts anzunehmen Im Nachdenken über das gesellschaftliche Zielbild und die Stellung des Schriftstellers würde er sich damit zufrieden äußern über die eigene Produktion seit der engagierten Teilnahme an Klassenkampf und Antifaschismus. Wenig spricht aber für eine solche Annahme, alles dagegen für die konjunktivische, in die Zukunft weisende Variante. Geht es doch weniger um die eigene Arbeit, vielmehr um ein allgemeines, gesellschaftsbezogenes Literaturprogramm und den sozialen Auftrag des Künstlers. Nebenbei werden die Verse „An einen chinesischen Theewurzellöwen“ zur humanen Empfehlung, das gesellschaftliche Leben im Zeichen der „Grazie“ zu gestalten. Zurecht betonte der Philosoph Ernst Bloch „die Schlüsselgewalt solcher Dichtung“ 30 für eine produktive Übereinstimmung von Kunst und Gesellschaft. Die antipodische Konstellation zwischen Benn und Brecht dürfte nunmehr klarer geworden sein. Im Gedicht „Ein Wort“ äußert sich eine lebensabgewandte, geschlossene Ästhetik, die als Gegenwelt aufgefaßt werden will. Brechts konzise Parabel hingegen drängt mit ihrer offenen Anlage auf verändernde praktische Mitwirkung der Außenwelt. Um größerer Deutlichkeit willen seien die verschiedenen Beobachtungen noch einmal in tabellarischer Gegenüberstellung zusammengefaßt: Benn autonome Kunst Trennung von Leben und Kunst „schöpferische Konfession“ absolute Ausrichtung suggestiv monologische Kunst transzendierende Erfahrung „Unaufhörlichkeit“

Brecht funktionale Kunst Kunst in der Gesellschaft „Gebrauchswert“ öffentlichkeitsgerichtet argumentativ öffentliches Sprechen empirische Erfahrung Realutopie

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Benn Wort als einziger Sinn Chiffre Innenperspektive Geschlossenheit Abstand von Autor und Rezipient vermittelte Kommunikation statische Poetik Ästhetizismus („Artistenevangelium“) Anschluß an Nietzsche Geschichtsskepsis

Brecht Wort als Mittel zum Zweck Parabel Außenperspektive Offenheit Ko-Produktion Autor-Adressat direkte Kommunikation dialektische Poetik Engagement Anschluß an Marx Geschichtsoptimismus

Was ist dem zu entnehmen? Doch wohl mehr als die offenkundige antipodische Konstellation. Benns Abkehr von der Gesellschaft und Brechts „eingreifendes Denken“ bezeichnen zugleich von den Extremen her die Bandbreite der Orientierungen im Literaturgeschehen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus. Beide vermitteln sie authentische Erfahrungen mit der widersprüchlichen Wirklichkeit. Völlig verkehrt wäre es darum, die Gegenüberstellung so aufzufassen, daß Benn einfach in den Elfenbeinturm abzuschieben wäre. Wie stark der Verfasser der „Statischen Gedichte“ sein Tun auf den gesellschaftlichen Kontext zu beziehen pflegte, läßt sich vielfach belegen. Besonders symptomatisch ist die Äußerung in einem Brief vom Jahr 1937. Dort finden sich die folgenden deprimierenden Sätze: „Furchtbare Welt um uns herum! Oft vergessen, zu Zeiten, in Momenten ganz grausig deutlich: der Dreck schlechthin, das Inferiore an sich, der Unwert als solcher in Zeitungen, Büchern, Theatern, allen öffentlichen Reden, allem Deutschen überhaupt. Rettungslos? Uferlos? In aeternum? Ich glaube: ja“. Benn zog daraus für sich die Folgerung: „Schweigen –, und mühsam Reihe an Reihe, Vers an Vers, Gedanken an Gedanken setzen, hoffnungslos, aussichtslos, schmerzlich und die Abgründe nie vergessend, bis irgendein Leichenbeschauer das trocken gewordene Auge einem mit bezahltem Geschäftsfinger zudrückt“ 31. Mit Eskapismus sollte man eine derartige Äußerung keinesfalls verwechseln. Es ging um Benns Existenz als Dichter, um die Weigerung, sich in solcher Misere einzurichten. Nichts anderes war gemeint mit seinem verzweifelten Bekenntnis zum Wort. Brecht reagierte anders. Ein Satz aus den „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ umreißt bündig den Kern seiner politisch und gesellschaftlich engagierten Ästhetik: „Wir müssen die Wahrheit über die schlimmen Zustände denen sagen, für die die Zustände am schlimmsten sind, und wir müssen sie von ihnen erfahren“ 32. Wir erkennen dahinter die dialektische Geschichtskonzeption ständiger 260  

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Veränderung. Sie gab Brecht die Kraft zu utopischer Hoffnung auch „in finsteren Zeiten“. Das ermöglichte es ihm, weiter zu denken und seine utopische Erwartung nicht bloß zu artikulieren, sondern literarisch zu vermitteln. „Derlei hörte“ er „gerne von (s)einem Vers“.

Anmerkungen 11 Tucholsky, Kurt: Gesammelte Werke, Bd. 6: 1928. Hrsg. v. Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 63 (Bert Brechts Hauspostille). 12 Benn, Gottfried: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 2. Wiesbaden 1959, S. 445 („Die Stimme hinter dem Vorhang“, 1951). 13 GBA 7, S. 257 (Nachspiel zu „Schweyk“). 14 SW I, S. 198. Erstdruck: Benn, Gottfried: Statische Gedichte (Privatdruck: Berlin 1946, dann Zürich 1948). 15 GBA 15, S. 255. Erstdruck: „Hundert Gedichte 1918–1950“. Berlin 1951, S. 299. 16 SW II, S. 66. Der Erstdruck erfolgte in Nr. 1 des 7. Jahrgangs der Zeitschrift „Die neue Bücherschau“ vom Januar 1929. Die Entstehung muß also vor Ende 1928 angesetzt werden. Benn nahm das Gedicht in keine seiner Gedichtsammlungen auf. 17 SW VI, S. 217 („Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“, 1955). 18 Brief an Dieter Wellershoff vom 22.11.1950; zit. n.: Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe. Hrsg. v. Max Rychner. Wiesbaden 1957, S. 205. 19 Hillebrand, Bruno: Benn. Frankfurt 1984, S. 60. 10 SW III, S. 242 und 243 („Zur Problematik des Dichterischen“). 11 SW III, S.133 („Epilog und Lyrisches Ich“, 1921/1927) und SW VI, S. 26 („Probleme der Lyrik“, 1951). Auch im „Lebensweg eines Intellektualisten“ (1934) findet sich die gleiche Formulierung (SW IV, S. 180). 12 SW IV, S. 179 („Das lyrische Ich“). 13 SW IV, S. 213. und 604 f. Dort die englischsprachige Version: „expresses an anthropological situation completely“ („Inquiry on the malady of language“, 1935). 14 Rychner, Max: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt. In: Gottfried Benn (= Wege der Forschung CCCXVI). Hrsg. v. Bruno Hillebrand. Darmstadt 1979, S. 23–57; Zitat: S. 56. 15 SW IV, S. 340–343 („Ausdruckswelt“, 1943); ebenso: SW IV, S. 175 und 177 („Lebensweg eines Intellektualisten“, 1934), SW IV, S.  201 („Kunst und Macht“, 1934), SW V, S. 138 („Doppelleben“, 1950). 16 SW VI, S. 25 („Probleme der Lyrik“). 17 SW IV, S. 178 f. („Lebensweg eines Intellektualisten“), ebenso: SW VI, S. 25 („Probleme der Lyrik“). 18 SW IV, S. 223 („Weinhaus Wolf “, 1937).

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19 Ansel, Michael: Zwischen Anpassung und künstlerischer Selbstbehauptung. In: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk. Hrsg. v. Matias Martinez. Göttingen 2007, S. 35–70; Zitat: S. 49 (Sigle: Martinez). 20 Steinhagen, Harald: Die statischen Gedichte von Gottfried Benn. Die Vollendung seiner expressionistischen Lyrik. Stuttgart 1969, S. 156 (Sigle: Steinhagen). 21 SW VI, S. 27 (“Probleme der Lyrik”). 22 Steinhagen, S. 158. 23 SW III, S. 302 und 304 („Fazit der Perspektiven“, 1930). 24 SW V, S. 165 („Doppelleben“). 25 Eskin, Michael: ‚Ich bin … mir nicht begegnet. Zu einer Denkfigur bei Benn, Celan und Grünbein. In: Martinez, S. 133–147; Zitat: S. 141. 26 SW V, S. 79 („Der Radardenker“, 1949). 27 GBA 15, S. 463. 28 Brecht-Liederbuch. Herausgegeben und kommentiert von Fritz Hennenberg. Frankfurt/M. 1985, S. 482. Dort sind auch die Noten der Vertonung von Hanns Eisler (1961) abgedruckt (ebd., S. 282). 29 Bunge, Hans: Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch. München 1972, S. 22. 30 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1959, S. 486. 31 Benn, Gottfried: Briefe an F. W. Oelze. 1932–1945. Hrsg. v. Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Wiesbaden 1977, S. 167 f. (Brief v. 21.3.1937). 32 Brecht, Bertolt: Versuche 20/21, Heft 9. Berlin 1951, S. 93.

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Paul Celan

„Todesfuge“ (1945)

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er Dichter Paul Celan (1920–1970) entstammt der Peripherie des deutschen Sprachraums und einer Gegend, wo mehrere Kulturen und Sprachen sich überlagern. Deutsch war aber seine Muttersprache. Geboren als Sohn jüdischer Eltern in Czernowitz, dem Hauptort der Bukowina, mußte er die schrecklichen Erfahrungen der europäischen Juden in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – Antisemitismus, Judenverfolgung und Judenvernichtung – durchmachen und so erleben, daß seine Muttersprache auch die Sprache der Mörder seiner Eltern war. Die Mutter wurde durch einen Genickschuß ermordet, der Vater starb an Typhus im Zwangsarbeitslager am Bug. Celan selbst überlebte zwar die Barbarei des nationalsozialistischen Massenmords, doch war er davon für den Rest des Lebens gezeichnet. In der Rede bei der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises äußerte er sich zu seinem gestörten Verhältnis zur deutschen Sprache. Er sagte: „Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert‘ von all dem“ 1. Sein Werk war von Beginn an geprägt durch diese Ur-Erfahrung, die sich nur in schmerzlichster Ironie als ‚Anreicherung‘ bezeichnen läßt. Nicht wenige sahen in Celan einen Vertreter der hermetischen Lyrik. Gründlicher hätte man seinen dichterischen Ansatz kaum mißverstehen können. Die „Todesfuge“, das Gedicht, das ihn in der Folge am meisten bekannt machte, verdeutlicht das schlagend: Todesfuge Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng 5 Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete „Todesfuge“  

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er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz 10

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete 15 Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau stecht tiefer den Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf 20

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends wir trinken und trinken ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland 25 er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken 30 der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland 35

dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith 2

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Paul Celan

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Nur allzu oft wurden diese Verse für Zwecke instrumentalisiert, die gewiß nicht immer im Sinne Celans waren. Nicht zuletzt deswegen hat er bei seinen Lesungen die „Todesfuge“ in den sechziger Jahren nicht mehr vorgetragen. Ohne Zweifel bedeutete das gewollte Distanz. Sie hatte, neben dem Ärger über verständnislose Reaktionen in der Öffentlichkeit, in erster Linie zu tun mit Celans Weiterentwicklung als Künstler. Seit dem Ende der fünfziger Jahre verzichtete er bewußt auf jegliches „Musizieren“ 3 mit Worten. Konsequent verbannte er deshalb Gestaltungselemente wie Sprachmagie, Bildreichtum und Klangschönheit zunehmend aus seiner dichterischen Arbeit. 1958 erhob er die programmatische Forderung einer „graueren“ Sprache, die „dem Schönen mißtraut“ und „ihre ‚Musikalität‘ an einem anderen Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ‚Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte“ 4. Als jedoch 1945 die „Todesfuge“ ihre endgültige Gestalt bekam, war Celan noch weit entfernt von derartiger Ausnüchterung des lyrischen Sprechens. Mancher Leser stieß sich darum am Widerstreit angeblich ‚schöner Verse‘ mit dem Thema unmenschlichen Verbrechens. Auschwitz, so ihr Argument, versage sich grundsätzlich ästhetischem Zugriff. Tatsächlich betreibt die „Todesfuge“ alles andere als ‚Ästhetisierung des Grauens‘. Vielmehr sprengt sie durch ihre Art der Darstellung gerade den Schein des Schönen. Wer dieses Gedicht ‚schön‘ findet, hat es nicht verstanden. Eindeutig stellt es die Schönheit in Frage, – nicht natürlich die Kunst. Keinesfalls darf man darum den Text den auf ‚Verständigung‘ erpichten Harmonisierern überlassen, weil sie, gewollt oder ungewollt, die Realität verdrängen. Aber ebenso wenig sollte man dem Gedicht den ihm längst zuerkannten hohen künstlerischen Rang absprechen. Die „Todesfuge“ ist und bleibt für die Nachwelt ein Beispielfall möglicher Lyrik – nach Auschwitz und mit Auschwitz. Sie hält die schmerzlich-direkte Erinnerung Celans an jene unmenschliche Realität wach, die vom „Tod“ als „einem Meister aus Deutschland“ bestimmt wurde. Zur Entstehung des Gedichts gibt es widersprüchliche Angaben. Bukowiner Freunde erinnern sich an eine Ausarbeitung in Czernowitz 1944. Der Autor selbst hat angegeben, er habe die „Todesfuge“ „im Frühjahr 1945 in Bukarest geschrieben“ 5. Damit ist aber wohl das Datum der endgültigen Fertigstellung gemeint, so daß die Existenz früherer Fassungen keineswegs ausgeschlossen werden kann. In der makabren Atmosphäre von Czernowitz, der untergegangenen „jüdischen Stadt deutscher Sprache“ 6, entstanden wohl im Herbst 1944 erste Entwürfe zum Gedicht. Manches spricht dafür, daß hierbei der poetische Wettstreit mit dem Freund Immanuel Weißglas anregende Wirkung ausübte. Um so deutlicher wird gerade dadurch, daß die „Todesfuge“ innerhalb des Werkzusammenhangs einen entscheidenden Punkt der dichterischen Entwicklung Celans markiert. Denn mit diesem Gedicht ließ er die weithin noch epigonale Praxis seiner Anfänge hinter sich und fand so den „Todesfuge“  

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unverkennbar eigenen Ausdruck. Sicher ist, daß der Text im Frühjahr 1945 in Bukarest seine definitive Gestalt bekommen hat. Aber erst zwei Jahre später erschien Anfang Mai 1947 das Gedicht unter dem Titel „Todestango“ („Tangoul mortii“) in rumänischer Übersetzung. Es war Celans erste Veröffentlichung überhaupt. Im Jahr darauf, der Dichter hatte Rumänien im Dezember 1947 verlassen, bildete der nun „Todesfuge“ betitelte Text den abschließenden Höhepunkt einer in Wien erschienenen ersten Gedichtsammlung „Der Sand aus den Urnen“ 7. Zu einer nennenswerten Wirkung konnte es allerdings nicht kommen, weil Celan die ohnehin kleine Auflage, sinnentstellender Druckfehler wie auch der ihm mißfallenden Aufmachung wegen, vernichten ließ. Erst die Wiederaufnahme des Textes in die 1952 veröffentlichte Sammlung „Mohn und Gedächtnis“ machte das Gedicht einer breiteren Öffentlichkeit bekannt8. Gerade die „Todesfuge“ trug entscheidend dazu bei, daß Celan seitdem als einer der wesentlichen Repräsentanten der deutschsprachigen Literatur nach 1945 angesehen wird. Was hat es mit diesem mittlerweile weltweit bekannten Gedicht auf sich? Vorab ist ein Befund zu klären, den Peter Horst Neumann auf die Formel gebracht hat: „Alle Motive des Gedichts sind vorgegeben“ 9. Man braucht gewiß nicht allein an die offenkundigen Übereinstimmungen mit Motiven in Gedichten von Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Immanuel Weißglas oder Moses Rosenkranz zu denken. Das Czernowitzer ‚Metapherngeflecht‘ ist lediglich eine Quelle der Anregung unter vielen anderen. John Felstiner hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht: „Die Musik, die Literatur, die Religion und die Lager selbst hinterlassen verstörend ihre Spur: das 1. Buch Mose, Bach, Wagner, Heinrich Heine, der Tango, besonders aber Fausts Gretchen (‚Margarete‘) und die Jungfrau Sulamith aus dem Hohen Lied“ 10. Er hätte noch die Klagelieder Jeremias, das jüdische Kaddisch, die mittelalterlichen Totentänze, die ‚Meistergesangs‘-Praxis der frühen Neuzeit, barocke Elemente, Puccini, Baudelaire, Rimbaud, Rilke und Trakl, aber ebenso den trivialen Schlager (‚Heimat, deine Sterne‘) anführen können. Intertextuelle Transformation und bittere Parodie gehören mithin substantiell zum Ausdrucksrepertoire Celans11. Weiterdichten mit dem poetischen Material anderer ist hier zu verstehen als ein souveränes, teilweise auch bewußt destruierendes Spiel mit Kunstformeln der Tradition. Celan entwickelt daraus einen ganz eigenen Ausdruckskosmos auf der Basis einer genau und individuell bestimmten Metaphorik. Wer dabei an Plagiat denkt, verkennt das hier gehandhabte künstlerische Verfahren von Grund auf. Überlieferte Stoffe waren für Celan lebendiges Material geistiger Auseinandersetzung. So löste er im übrigen auch bruchlos die Begrenzungen seiner individuellen Erfahrung auf. Die poetisch anverwandelten ‚Zitate‘ bewirken die Verbindung von Konkretheit und Gleichnischarakter. Denn die Arbeit mit übernommenen 266  

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Sprach- und Bildformeln des Kanons führt die nötige Entsubjektivierung des den Autor existentiell betreffenden Themas herbei. Dem gleichen Zweck dient die am Fugenprinzip orientierte Anlage der Komposition, die den langen Text in sieben Partien gliedert und zu einer Abfolge kontrapunktisch sich überlagernder Motive und Stimmen zusammenfügt. Hierdurch wird die grausam erfahrene Wirklichkeit erinnernd gedeutet. Die einzelnen Textelemente schließen sich dabei, akzentuiert durch verfremdende rhythmische Abfolgen, Wiederaufnahmen oder Variationen, zu polyphoner Stimmigkeit zusammen. Unter dieser Prämisse ist grundsätzlich zu warnen vor einer isolierten Betrachtung einzelner Elemente des Gedichts (etwa, was oft geschieht, „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“!). Dem widersetzt sich allein schon das Kompositionsverfahren der ineinander verzahnten Text- und Metaphernmontage in Form einer musikalischen Komposition mit Worten. Celan überführt das musikalische Kompositionsprinzip in eine poetische Partitur aus mehrstimmigen Wort-Klang-Bildfolgen. Sie sind jeweils untergliedert in schroffe Stimmfetzen, aus denen sich die Bedeutungslinien konstituieren. Dafür mußte eine Sprachform jenseits syntaktischer Ordnung und metrisch gebundener Versgestaltung gefunden werden. Ein durchgängiges Satzmodell trägt deshalb die ganze Komposition. Lediglich themengeprägte Abschnitte deuten innerhalb des Gesamtgebildes eine strophische Untergliederung an. Kontrapunktische Ausarbeitung und Vielstimmigkeit („wir“ – „er“) sowie die Betonung der Motivschwerpunkte auf der Grundlage eines einprägsamen rhythmischen Systems ergeben eine in Sprache überführte ‚Kunst der Fuge‘. Deswegen war es auch unumgänglich, den ursprünglichen, viel zu grellen Titel des Gedichts – „Todestango“ – fallen zu lassen12. Eine solche Überschrift zu wählen, lag zunächst nahe, weil die KZ-Schergen mancherorts auf die perverse Idee verfielen, bei Märschen, Folterungen, beim Gräberschaufeln und sogar bei Hinrichtungen ‚zum Tanz aufspielen‘ zu lassen, so daß gelegentlich ein Tango wirklich zum „Todestango“ wurde. Die Gestaltung Celans läßt jedoch die Ebene des Tatsächlichen hinter sich. Das war für ihn deshalb zwingend, weil es ihm mit seiner poetischen Botschaft um andere Dimensionen geht. Er wollte kein Gedicht über Auschwitz schreiben, wie gelegentlich behauptet wird, sondern eine poetische Fuge der Erinnerung an die Toten der Vernichtungslager, aber ebenso der Erinnerung an die ‚meisterlichen‘ Mörder. Alles an diesem Gedicht ist gewollt und geformt. Die bis ins Detail durchkomponierte Wortpartitur arbeitet, wie bereits angedeutet, mit der steigernden Wirkung von Wiederholung, Antithetik und einer kompliziert vermischten Anordnung der simultanen Textkonfiguration. Vorrangig ist die lyrische Strategie abgestellt auf kontrapunktische Gegenüberstellung. Das zeigt sich zunächst in der thematischen Exposition von „wir trinken“ einerseits, und andererseits „ein Mann wohnt im Haus, ferner durch kontrastierenden Parallelismus: („dein goldenes Haar Margarete / dein „Todesfuge“  

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aschenes Haar Sulamith“) oder durch Modulation („Grab in der Erde“ > „Grab in den Lüften“ > „Rauch in der Luft“ > „Grab in den Wolken“ > „Grab in der Luft“). Aus diesem Verfahren resultiert ein konsequent umgesetztes parataktisches Darstellungssystem. Gekennzeichnet ist es durch die radikale Nebenordnung der Sätze, Teilsätze und Satzteile, ebenso durch gleitende Übergänge und durch die ausgesparte Interpunktion. Der sich über 36 Verse hinziehende Gesamttext besteht aus freirhythmischen, vorwiegend daktylischen Langzeilen. Allerdings ist das nur eine tendenzielle Beobachtung, denn es gibt auch kürzere Verse darunter („wir trinken und trinken“). An den Strophenanfängen mit der Zentralmetapher „Schwarze Milch der Frühe“ dominiert indes das fallende trochäische Metrum. Häufige Enjambements und die ihnen zugrundeliegende fließende Gesamtbewegung unterstreichen die vom Autor verabschiedete Ordnung konventioneller Versschemata. An deren Stelle tritt der vom Sprechrhythmus getragene, assoziativ angelegte, zum Leser hin offene Gesamttenor des Textes. Vom gleichen Ausdrucksstreben her erklärt sich auch die lediglich angedeutete strophische Gliederung. Erst bei genauerem Hinsehen wird der sorgfältig überlegte Bau des Gedichts in zweimal 18 Verse erkennbar. Vier Teile zeichnen sich insgesamt ab: die neun Verse der ersten Strophe, die sechs Verse der zweiten Strophe zusammen mit den drei Versen der dritten Strophe, danach die fünf Verse der vierten Strophe zusammen mit den drei Versen der fünften Strophe, schließlich noch die acht Verse der sechsten Strophe, eng verbunden mit dem letzten Verspaar der Schlußstrophe. Am Beginn aller vier Teile steht die Zentralmetapher „Schwarze Milch der Frühe“. Dieses Leitmotiv hält das ganze Gedicht klammerartig zusammen (9 + 9 + 8 + 10). Mit der Titelgebung erfolgt sogleich eine für die Interpretation des Textes entscheidende Festlegung. Ersichtlich soll die endgültige Überschrift („Todestango“ > „Todesfuge“) der Assoziation des zynisch mißbrauchten Musizierens in den Vernichtungslagern und erst recht der des argentinischen Modetanzes entgegenwirken. Selbstverständlich soll der hier ablaufende perverse Totentanz aber auch kein allgemeines ‚memento mori‘ vermitteln. Er ist konkreter Ausdruck von Totenklage und Totengedächtnis für die ermordeten Juden. Stimme und Gegenstimme, Bild und Gegenbild erzeugen im Wechsel die thematisch vorgegebene extreme Spannung. Sukzessiv werden die Gegensatzpaare einander konfrontiert: „wir“ – „er“, „schwarz“ – „blau“, „Sulamith“ – „Margarete“, „aschen“ – „golden“, „wir schaufeln ein Grab in den Lüften“ – „ein Mann wohnt im Haus“, „wir trinken“ – „er pfeift“, „er befiehlt“, er ruft“. Aus dem Zusammenwirken der antithetischen Motive und Bilder ergeben sich klare Bezugslinien einer grausigen Todes- und Mord-Allegorie. Die eine Seite bilden dabei die „Trinkenden“, das heißt die Objekte deutscher Judenvernichtung; 268  

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auf der anderen Seite steht der als „ein Meister aus Deutschland“ verkörperte „Tod“. Überdies ergänzt eine metaphorische Linie die Beschreibung des im Haus wohnenden Mannes. Er ist derjenige, der „mit den Schlangen“ spielt (Urmotiv der Versuchung des Bösen), der „seine Rüden herbeipfeift „ (‚Rüden‘ als die ‚Hetzhunde‘ der Jägersprache; aber auch die adjektivische Bedeutung des ‚Gefühllosen‘ schwingt hier mit) und sogar den perversen Befehl erteilt, „nun zum Tanz“ aufzuspielen (Perversion und Banalität des Bösen). All dies im Verein mit dem Bild vom „Meister aus Deutschland“, in dem erreichte handwerkliche Leistung in Meisterschaft des Tötens umschlägt13, veranschaulicht sein unmenschliches Treiben Herausragend ist sodann die Initialmetapher der „schwarzen Milch der Frühe“, die für den Leser als Kernmotiv ins Bewußtsein tritt. Dieses Oxymoron14 vermittelt nicht etwa ein ‚unbegreifliches Schicksalsgeschehen‘, denn das würde dem realhistorischen Verbrechen des im deutschen Namen begangenen Massenmords in keiner Weise gerecht; vielmehr versinnbildlicht es, so umfassend und exakt wie geboten, den mitzudenkenden Leidensvorgang der Opfer jenes primitiven, zynischen und bestialischen Ausverkaufs der Humanität im ‚Dritten Reich‘. „Schwarz“ als die Nichtfarbe ohne Lichtenergie zerstört in der Funktion des adjektivischen Beiworts zum Substantiv „Milch“ radikal dessen positive Implikationen. Die lebensspendende Kraft der weißen Flüssigkeit verkehrt sich in ihr verdorbenes und Verderben bringendes Gegenteil. Was Celan anspricht, ist die ‚Milch des Todes‘, und sie ist eben schwarz. Ganz entsprechend muß die genitivische Zuordnung „Milch der Frühe“ abgelöst werden von üblichen temporalen Zuweisungen (wie ‚Tagesanbruch‘, ‚Morgenbeginn‘ oder im Sinne einer ‚früheren Zeit‘). Was hier gemeint ist, zielt auf die anders schwer oder gar nicht zu bestimmende Grenzzone der Zeit des Übergangs vom Leben zum Tod, aber auch umgekehrt vom Tod zu neuem Leben. Die paradoxe Verkehrung erfaßt gegenwärtiges Leben als Leiden, Sterben und Tod, mithin als Fremdsein. Im Sterben liegt indes zugleich die Möglichkeit eines jenseits der Leiden angesiedelten Lebens im Sinne eines innerlich produktiven Unterwegs-Seins. An anderer Stelle nannte Celan das eine auch der Dichtung entspringende „Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst“ 15. Für ihn gab es keinen Lebensmoment, den er nicht sofort wieder in Frage stellte. Immer aber rechnete er ebenso mit der „Atemwende“ 16 eines stimmigen Lebens. Darum die ständige Kopplung des Lebens mit dem Tod: „Beim Tode! Lebendig“ 17. Im tragenden Bild „Schwarze Milch der Frühe“ ist die Tatsache der Menschenvernichtung literarisch präsent, ohne daß von ‚Gaskammern‘ oder ‚Verbrennungsöfen‘ die Rede sein muß. Das in seiner Totalität sonst Unsagbare kann auf diese Weise, genauer: einzig auf diese Weise, zur Sprache gebracht werden. Allein die alogische Metapher vermag die Realität dessen zu treffen, was die Mordbürokraten der ‚Herrenrasse‘ in den Todesfabriken „Todesfuge“  

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angerichtet haben. Celans lyrische Praxis lebt aus der Symbiose von Genauigkeit und Gleichnis. Was er im Gedicht festhält, ist leidend erfahrenes Resultat seines schonungslosen Blicks und zugleich poetische Erkundung des Unsäglichen. Darum konnte er sagen: „das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht“ 18. Poetische Gestaltung des Faktischen prägt ebenso die Formulierung: „wir schaufeln ein Grab in den Lüften“. Auf die Frage nach eventuellen literarischen Vorbildern hierfür erwiderte Celan vehement: „Das Grab in der Luft (…), das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher“ 19. Es hätte dieses Hinweises auf die nazistischen Verbrennungsöfen kaum bedurft, wenn nicht manche Interpreten den genauen Sinn der Celanschen Bildlichkeit unnötig aufgeweicht hätten (Luft als ‚Haus der Toten‘, ‚Grabmal‘ und anderes mehr.). Selbst dort, wo im Gedicht ganz unmittelbar archetypische Zusammenhänge einbezogen werden, wie etwa beim ‚Spiel‘ „mit den Schlangen“, kann es für den mitarbeitenden Leser keinen Zweifel geben darüber, was konkret gemeint ist. Da zudem jener ‚Spielende‘ identisch ist mit dem makabren ‚Zeremonienmeister‘ des mörderischen Totentanz-,Rituals‘, erklärt sich das ‚Schlangenspiel‘ von selbst. Vor uns ersteht die signifikante Inkarnation jener diabolischen Spannung von Ästhetik einerseits, Barbarei, Verbrechen, Gewalt, Perversion und Vernichtung andererseits. Dergestalt wurde das Schöne zum Greuel denaturiert. Man merkt, Celan nimmt eine „archetypische Verwandlung“ 20 vor. Über die kontextuelle Vernetzung verleibt er die traditionsreiche SchlangenMetapher der Sinnebene des Gedichts organisch ein. Besonderes Augenmerk verdient die detailgetreue Darstellung des Mörders mit den „blauen Augen“. Sie geht in dem Augenblick in den Singular über („sein Auge ist blau“), wo der Todesschütze, ein Auge zukneifend, tatsächlich abdrückt. Die Ausdruckswirkung wird noch verstärkt durch den einzigen Reim des Gedichts („blau“ – „genau“). Der „deutsche“, der „schmerzliche Reim“ 21 ist hier zum tödlichen Reim gesteigert22. Aber noch etwas kommt hinzu: Der ‚Spielende‘ erscheint nicht einfach schematisch auf das Böse festgelegt. „Er schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland“ zärtliche Briefe an seine „Margarete“ mit dem „goldenen Haar“ und betrachtet den ‚gestirnten Himmel‘ über sich. Offensichtlich legte Celan Wert darauf, die ungute Mischung von ‚romantischer‘ Sentimentalität und unmenschlicher Gewaltbereitschaft, Untertanengesinnung und Arroganz, Idealismus und Nihilismus wirklichkeitsgetreu vorzuführen. Wie konkret er gerade dadurch die Realität anspricht, wird besonders sinnfällig daran, daß er den Gestus des herkömmlichen Abendgedichts23 unter dem Anspruch seines Themas umpolt zum unkonventionellen Sachverhalt einer düster verschatteten „Nacht“, die wiederum dem „aschenen Haar Sulamiths“ entspricht.

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Besondere Bedeutung kommt dem nur dreimal und erst ab dem zweiten Teil beschworenen „aschenen Haar“ der „Sulamith“ zu. Es steht für das jüdische Schicksal generell. Allerdings war es darum nötig, die Sulamith des Hohen Lieds substantiell zu verändern. Der biblischen Beschreibung („Das Haar auf deinem Haupt ist wie der Purpur des Königs, in Falten gebunden“; Hohes Lied 7,6) setzt der Autor nach dem Holocaust konsequenterweise das „aschene Haar Sulamiths“ entgegen. Ergänzend hierzu ist die Metapher des kontrastierenden „goldenen Haars Margaretes“ zu sehen. Ersichtlich orientiert Celan sich dabei am wohlbekannten Schema der idealen Bräute des Alten und des Neuen Testaments, Sulamith und Maria. Allerdings substituiert er der neutestamentlichen Maria Goethes Gretchen-Figur als deutsches Idealbild des golden-haarigen Mädchens. Der Parallelismus zielt nicht auf Übereinstimmung. Er unterstreicht im Gegenteil den beklagenswerten Befund: „Deutsches und jüdisches Ideal werden nicht nebeneinander existieren“ 24. Aufschlußreich ist gerade unter dieser Vorgabe der Ausgang des Gedichts. Die Doppelfügung – „dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“ – rückt den unerträglichen Gegensatz in den Blickpunkt: „goldenes Haar“ hier, „aschenes Haar“ dort. Das zweifache biblische Idealmotiv stimmt nicht mehr, weil all das passiert ist, was Sulamiths Haar „aschen“ werden ließ. Dieser Schluß vermittelt keine Harmonie, sondern im Gegenteil quälende Dissonanz. Auffallendstes Gestaltungsmittel der „Todesfuge“ ist, wie erwähnt, die Wiederholung. Vornehmlich mit diesem Ausdrucksmittel erreicht der Autor die kommunikative Intensivierung seines Textes. Die Wortpartitur erweist sich, genau betrachtet, als indirekte Leseanweisung. Getragen wird die aktivierende Wirkungsstrategie in erster Linie von der perspektivischen Ausrichtung. Sie ist so angelegt, daß der Gedichttext insgesamt als eine Art Sprechchor der Leidenden aufzufassen ist. In direkter Vergegenwärtigung kommt ihr Sterben zum Ausdruck: „wir trinken“ (in den vier Gedichtteilen je fünfmal). Die chorisch vorgetragene Leidensgeschichte impliziert den in der dritten Person gehaltenen Bericht über den Verursacher des Mordens, jenem widerspruchsvollen „Mann (…) im Haus“, der zwar „mit den Schlangen“, das heißt mit dem Bösen „spielt“, jedoch ebenso romantisch-sentimentale Anwandlungen hat. Dieser menschliche Vulgärromantiker ist, wie bereits angedeutet, ein unmenschlicher Mord-,Ästhet‘, ein menschlich Entmenschter. Zwangsläufig wird er zur Bezugsperson des chorischen Leidensgesangs. Er verkörpert den Prototyp der mordenden deutschen „Meister“. Diejenigen, die von ihm singen, beschließen dann ihren Gesang mit der kontrastierenden Gegenüberstellung von Tätern und Opfern durch die Symbolfiguren Margarete und Sulamith. Noch etwas kommt hinzu. Die textimmanent verankerten personalen Perspektiven werden nämlich dadurch aufgerissen, daß die Stimmen der Leidenden („wir“) nicht allein ihren gewaltsamen Tod beschreiben, sondern durch den vergegenwärtigenden Gestus gleichsam auf„Todesfuge“  

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bewahren. Diese haltbar gemachte, den Text öffnende Kommunikationsstruktur ist für jeden Leser unmittelbar aktualisierbar. Damit erst fassen wir die dialogische Ausrichtung des Gedichts in ihrer vollen Dimension. Es hält für die Nachwelt fest, wie weit der Verrat des Menschen am Menschen gehen kann. Konzentrierter, eindringlicher, emotionaler als jede dokumentarische Wiedergabe, dabei ohne Pathos, Larmoyanz und Innerlichkeit, hat Celan den deutschen Judenmord für alle Zeiten festgeschrieben.

Anmerkungen 11 Celan, Paul: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. 3. Bd.: Gedichte III, Prosa, Reden. Frankfurt/M. 1983, S. 185 f. (Sigle: GW). 12 GW I, S. 39–42 und GW III,S. 63 f. 13 Im Gespräch mit Hugo Huppert sagte Celan u.a.: „Auch musiziere ich nicht mehr, wie zur Zeit der vielbeschworenen ‚Todesfuge‘, die nachgerade schon lesebuchreif gedroschen ist“ (zit. n.: Paul Celan. Hrsg. v. Werner Hamacher und Winfried Menninghaus. Frankfurt/M. 1988, S. 320). ‚Celans ästhetische Umorientierung erfolgte im Zuge der Arbeit an den Gedichten, die dann 1959 in der Sammlung „Sprachgitter“ veröffentlicht wurden. 14 GW III, S. 167 (‚Antwort auf eine Umfrage der Pariser Librairie Flinker‘). 15 Brief Celans an die Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart vom 14.3.1962 (Verlagsarchiv der DVA). 16 Chalfen, Israel: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend (= st 913). Frankfurt/M. 1983, S. 19. 17 Celan, Paul: Der Sand aus den Urnen. Gedichte. Wien 1948, S. 59–61. 18 Celan, Paul: Mohn und Gedächtnis. Gedichte. Stuttgart 1952, S. 37–39. 19 Neumann, Peter Horst: Schönheit des Grauens oder Greuel der Schönheit? In: Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen. Hrsg. v. Walter Hinck (= es 721). Frankfurt/M. 1979 S. 220–237 (Zitat: S. 234). 10 Felstiner, John: Paul Celan. Eine Biographie. München 1997, S. 53 (Sigle: Felstiner). 11 Vgl. hierzu: Buck, Theo: Muttersprache, Mördersprache. Celan-Studien I. Aachen 1993, S. 73–76. 12 Noch weniger angemessen ist die Annahme von Matts, das Gedicht „hätte auch ‚Bolero‘ heißen können“. Wenn er meint, hier einen „Bolero-Effekt“ ausmachen zu können, so muß man dem entgegenhalten, daß der andalusische Werbetanz, den Maurice Ravel zur Kunstform erhoben hat, mit Celans lyrischem Kaddisch nicht das Geringste gemein hat (Matt, Peter von: Wie ist das Gold so gar verdunkelt. In: ders.: Wörterleuchten. Kleine Deutungen deutscher Gedichte. München 2009, S. 164 f.; Zitate: S. 164 und 165; Sigle: Matt).

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13 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch, daß Eichmanns Mitarbeiter ihren Chef ‚Meister‘ nannten. 14 Oxymoron nennt man die ausdrucksintensivierende Stilfigur für die Verbindung zweier eigentlich sich ausschließender Vorstellungen. 15 GW III, S. 200 („Der Meridian“). 16 GW III, S. 195 („Der Meridian“); ebenso machte Celan aus dem Wort den Titel einer Gedichtsammlung („Atemwende“, 1967: GW II, S. 7–107). 17 GW I, S. 135 („Sprich auch du“). In die gleiche Richtung gehende Formulierungen u.a.: GW I, S. 20, 34 und 35, vor allem GW I, S. 28: „Wir waren tot und konnten atmen“. 18 GW III, S. 196 („Der Meridian“). 19 Brief Celans an Walter Jens vom 19.5.1961; zit. n.: Wiedemann-Wolf, Barbara: Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk. Tübingen 1983, S. 85 (Sigle: Wiedemann). 20 Diese Formulierung gebraucht Celan gleichfalls im Brief an Walter Jens (Wiedemann, S. 56). 21 GW III, S. 20 („Nähe der Gräber“). 22 Vgl. hierzu auch: Matt, S. 164 („Ein einziger Reim! Er steckt im Gedicht wie die Kugel im Erschossenen“). 23 Die Assoziationsskala ist denkbar breit. Sie reicht von Eichendorffs „So sternklar war die Nacht“ im Gedicht „Mondnacht“ über Puccinis „Tosca“ („Es blitzen die Sterne“) bis hinab zum sentimentalen Landser-Schlager „Heimat, deine Sterne“. 24 So Felstiners treffende Auswertung des Sachverhalts (Felstiner., S. 69). Die Grundelemente dieser Interpretation wurden schon in unterschiedlichen Zusammenhängen veröffentlicht. Zuerst erschien der Text „Lyrik nach Auschwitz. Zu Paul Celans ‚Todesfuge‘“ in den ‚Akten des Internationalen Paul Celan-Kolloquiums Haifa 1986‘ (Datum und Zitat bei Paul Celan. Hrsg. v. Chaim Shoham und Bernd Witte. Bern, Frankfurt/M. 1987, S. 11–41) sowie in dem von Hans Otto Horch herausgegebenen Band Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Tübingen 1988, S.  375–402. Danach folgte ein Artikel unter dem Titel „Die ‚Todesfuge‘ oder Lyrik nach Auschwitz“ als Teil des im Rimbaud-Verlag erschienenen Buches: Muttersprache, Mördersprache. CelanStudien I. Aachen 1993, S. 55- 92. Es folgte eine Sonderausgabe in der Reihe ‚Texte aus der Bukowina‘ (Paul Celan: Todesfuge mit einem Kommentar von Theo Buck und fünf Gouachen von K.O. Götz), Aachen 1999. Schließlich wurde die Version „Todesfuge“ publiziert im Rahmen des von Hans-Michael Speier herausgegebenen Interpretationsbandes bei Reclam (= RUB 17518): „Gedichte von Paul Celan“. Stuttgart 2002, S. 11–27.

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„Früher Mittag“ (1952)

I

m Rahmen der Entwicklungen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur kommt dem lyrischen Werk der Österreicherin Ingeborg Bachmann (1926– 1973) besondere Bedeutung zu. Ihr Landsmann Thomas Bernhard stand bei ihrem Tode nicht an festzuhalten, daß „die intelligenteste und bedeutendste Dichterin, die unser Land in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat“, gestorben sei1. Ihr künstlerischer Rang beruht in erster Linie auf der überzeugenden Darstellung eigener traumatischer Lebenserfahrungen. Literarische Gestaltung und Lebensgeschichte sind in ihrem Werk untrennbar ineinander verwoben. Sie betonte einmal im Blick auf den französischen Romancier Louis-Ferdinand Céline, es sei unzulässig, „daß wir zwischen Autor und Ich einen Trennungsstrich ziehen“ 2. Das gilt in hohem Maße ebenso für sie selbst. Immer ist ihr Schreiben auch ein Sich-Erinnern. Zurecht bezeichnete Hans Höller deswegen ihre Dichtung als eine „innere Biographie“ 3. Als sie zu schreiben anfing, sah Ingeborg Bachmann sich von Menschen umgeben, die ihre gerade durchlebte schlimme Vergangenheit vergessen wollten und bloß an Restauration und Wirtschaftswunder interessiert waren. Im Bereich der Literatur war es nicht viel anders. Auf der einen Seite dominierte das Bedürfnis, mit Naturlyrik eine unglaubwürdige Idylle herbeizubeschwören, auf der anderen die ästhetisch dürftige Reduktion auf ausgenüchterte Kahlschlag-Texte. Ingeborg Bachmann ging einen ganz eigenen Weg des lyrischen Sprechens. Ähnlich wie Paul Celan, den sie bei seinem kurzen Aufenthalt in Wien kennenlernte, stellte sie sich schreibend der schwer lastenden Geschichtserfahrung, ohne dabei auf ästhetischen Anspruch zu verzichten. Völlig unangemessen interpretierte Karl Krolow diese Haltung noch in den siebziger Jahren als „Spannung zwischen (…) artifizieller Schönheit und existentiellem Engagement“ 4. Bachmanns engagierte Verse sind in der Tat hochgradig „geschichtshaltig“ 5. Schon deshalb können sie nicht ,schön‘ sein, erst recht nicht „artifiziell schön“. Die inhaltlich bedingte Härte macht sie ästhetisch stimmig. Wir begegnen bei ihr, wie Walter Höllerer richtig erkannt hat, einer Form der „Häßlichkeit“, die jeglicher „Schönheit der Utopie“ entgegensteht, „weil sie bei der Wahrheit bleiben will“ 6. Das sei sogleich am Beispiel des 1952 entstandenen Gedichts „Früher Mittag“ praktisch demonstriert.

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Früher Mittag Still grünt die Linde im eröffneten Sommer, weit aus den Städten gerückt, flirrt der mattglänzende Tagmond. Schon ist Mittag, schon regt sich im Brunnen der Strahl, 5 schon hebt sich unter den Scherben des Märchenvogels geschundener Flügel, und die vom Steinwurf entstellte Hand sinkt ins erwachende Korn. 10

Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt, sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß und reicht dir die Schüssel des Herzens. Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel.

Sieben Jahre später fällt es dir wieder ein, 15 am Brunnen vor dem Tore, blick nicht zu tief hinein, die Augen gehen dir über. Sieben Jahre später, in einem Totenhaus, 20 trinken die Henker von gestern den goldenen Becher aus. Die Augen täten dir sinken. Schon ist Mittag, in der Asche krümmt sich das Eisen, auf den Dorn 25 ist die Fahne gehißt, und auf den Felsen uralten Traums bleibt fortan der Adler geschmiedet. Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht.

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Lös ihr die Fessel, führ sie die Halde herab, leg ihr die Hand auf das Aug, daß sie kein Schatten versengt!

Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt, sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen, 35 eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt. Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land: Schon ist Mittag. 7 1952 war das Jahr der ,Entdeckung‘ Ingeborg Bachmanns. Ihre Teilnahme bei der Tagung der ,Gruppe 47‘ in Niendorf an der Ostsee8 brachte den Durchbruch. Im November des gleichen Jahres widmete ihr der damalige NWDR eine ausführliche Hörfunksendung, in der unter dem Titel „Sieben Jahre später“ auch das Gedicht „Früher Mittag“ zu hören war9. Gleich danach erfolgte im Dezember der Erstdruck des Textes in den ,Frankfurter Heften‘, diesmal unter der nicht gerade aufschlußreichen Überschrift „Gedicht“. Im Jahr darauf wurde „Früher Mittag“ dann mit dem endgültigen Titel in die Sammlung „die gestundete zeit“ aufgenommen10. Leicht auszumachen ist an diesem Gedicht, daß dunkle Töne vorherrschen. Die anfangs angesprocherne sommerliche Naturkulisse verdüstert sich rasch durch den Umschlag vom „eröffneten Sommer“ (V. 1) zum „geschwärzten Himmel Deutschlands“ (V. 9). Entscheidend ist demnach weniger die Naturkulisse als vielmehr die dadurch verstärkte Kontrastwirkung der unmittelbar zurückliegenden Verbrechen, Unmenschlichkeiten und Katastrophen des Dritten Reiches. Auf diese Weise will die Dichterin, wie sie sagte, einprägsame „Formeln in ein Gedächtnis (legen)“ 11. Wie sie in ihrer Dissertation über Heidegger am Beispiel eines Gedichts von Charles Baudelaire bekundete, geht es ihr im Endeffekt um das „Zeugnis äußerster Darstellungsmöglichkeit des ,Unsagbaren‘“ 12. Sie wollte keine direkt eingreifende ,politische Lyrik‘ verfassen, die auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Situation abzielt. Ihr aufklärerisches Engagement geht in eine wesentlich andere Richtung. Sie versucht nämlich, das Bewußtsein des einzelnen Lesers oder Hörers anzusprechen, indem sie einen imaginären Raum öffnet, der Platz läßt für „das Unsägliche, das, leise gesagt, übers Land geht“ (V. 36). Ihr Ziel ist das einer „utopischen Existenz“ 13 im Sinne einer neu zu bestimmenden Lebenssituation.. Sie bringt das in einer dieser Forderung gemäßen Sprache zum Ausdruck, die angereichert ist mit Bildern, Klängen, Verfremdungen, Anspielungen, Varianten und einer Fülle stilistischer Feinheiten. Dezidiert bleibt ihr so ausgerichtetes ,öffentliches‘ Sprechen poetisches Sprechen. 276  

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Deutlich erkennbare Ausgewogenheit charakterisiert die Komposition des Gedichts. Um einen Mittelteil von drei fünfzeiligen Strophen (IV-VI) gruppieren sich 12, beziehungsweise 10 auf jeweils drei Strophen verteilte Verse (8 + 3 + 1 + 3 x 5 + 1 + 4 + 3 + 2). Dreizeiler (II und IX) und Einzeiler III und VII) entsprechen sich genau. Lediglich die im Vergleich zur achten Strophe doppelt so lange erste Strophe und die beiden isolierten Schlußverse (X) verhindern eine völlige Symmetrie (I/ II – III – IV – VI – VII – VIII/IX – X). Das klar einsichtige Bauprinzip zeigt, daß die Autorin ihren Standpunkt leicht nachvollziehbar darlegen will. Der Wechsel der Überschrift („Sieben Jahre später“ > „Früher Mittag“) macht die thematische Spannweite des Textes einsichtig. Mit dem Ersttitel kam die zeitgeschichtliche Verankerung des Inhalts direkt zum Vorschein. Sieben Jahre nach dem Ende Hitlerdeutschlands ist das Gedicht entstanden. Sieben Jahre dauerte die Hitlerdiktatur für die Österreicher vom ,Anschluß‘ bis zur bedingungslosen Kapitulation. Danach, eben „sieben Jahre später“, kann Bilanz gezogen werden. Offenkundig ist das Gedicht als Abrechnung mit der Vergangenheit gedacht. Zweimal taucht dieser wichtige Hinweis darum im Gedichttext noch auf (V. 13 und 18). Daß schließlich doch der Endtitel „Früher Mittag“ gewählt wurde, hat sicher den Grund, die offenere Wirkungsabsicht hervortreten zu lassen. Natürlich denkt die Autorin dabei nicht an die einfache Mittagszeit, sondern an einen entscheidenden Wendepunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie will bewußt machen, daß es zu leben gilt zwischen Erinnerung an die „geschwärzte“ Geschichte (V. 9 und 33) und „Hoffnung“ (V. 28), zwischen dem, was unbedingt zu sagen ist und dem „Unsäglichen“ (V. 36). An mehreren Stellen knüpft deshalb der Text direkt an diese Überschrift an (V. 3, 23, 37, in gewisser Weise auch V. 4 und 5). Die in der Titelfrage getroffene Entscheidung entspricht offensichtlich mehr dem vielschichtigen Gesamtanliegen der Autorin, ihr Publikum am Vergessen zu hindern. Gleich die erste Strophe macht den perspektivischen Wechsel deutlich. Unversehens tauchen hinter dem Naturbild einer beglückenden Sommerlandschaft „Scherben“, ein „geschundener Flügel“ und eine „entstellte Hand“ auf. Der harmonisch erscheinende Natureindruck verfremdet sich schlagartig zu einer Szenerie des Schreckens, in der sich indes ebenso ein verändernder Neubeginn abzuzeichnen beginnt. In den ersten drei Versen wird eine sommerliche Idylle ausgebreitet: „Still grünt die Linde im eröffneten Sommer, / weit aus den Städten gerückt, flirrt / der mattglänzende Tagmond“ (V. 1–3). Fern vom Menschen-Betrieb der Städte, in der frühsommerlichen Natur, kann noch stimmiges Leben registriert werden. Die „still grünende Linde“ gehört genau so dazu wie der universale Harmonie verbürgende „mattglänzend flirrende Tagmond“. Natur erscheint so als idyllische Utopie. Wäre sie Abbild der Realität, könnte wirklich gesagt werden: „schon ist Mittag“ (V. 3). Im Augenblick „Früher Mittag“  

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jedoch kann bestenfalls der auf eine frühzeitige Entscheidung dringende „frühe Mittag“ vermerkt werden. Die zweite Strophenhälfte ist zwiespältig gehalten. Das Enjambement vom dritten zum vierten Vers akzentuiert den zu registrierenden Bruch mit dem idyllischen Auftakt: „schon regt sich im Brunnen der Strahl, / schon hebt sich unter den Scherben / des Märchenvogels geschundener Flügel, / und die vom Steinwurf entstellte Hand / sinkt ins erwachende Korn“ (V. 4–8). Zunächst drängt sich dem Leser das Gegenbild zum „eröffneten Sommer“ auf. Hinter der sommerlichen Harmonie lauern offenbar Abgründe. „Scherben“ deuten auf gewollte Zerstörung hin, wie dann gleichfalls der „geschundene Flügel“ auf bewußt herbeigeführte Verletzung. Auch die Ursache dieser Gewaltaktionen wird benannt. Es ist „die vom Steinwurf entstellte Hand“. Vorderhand sind das historisch unscharfe Zeichen menschlicher Vernichtungsenergie. Sie bezeugen eine höchst unheilvolle Vergangenheit, die zur Stellungnahme herausfordert. In welche Richtung der Versuch einer Bewältigung des angerichteten Schadens gehen müßte, zeigt das parallel damit gekoppelte Bildfeld aufbauender Kräfte an. Sie umreißen für den Leser, was zu tun wäre. Tragend ist hierbei das dreimal gesetzte vorausweisende und in gewisser Weise vorwegnehmende Zeitadverb „schon“. Ein wieder funktionierender „Brunnen“ sowie das „erwachende Korn“ stehen für eine nicht näher bestimmte, mögliche Regeneration. Allein das Symbol des „Märchenvogels“ mit dem „geschundenen Flügel“ gibt, freilich noch verdeckt, zu erkennen, daß sich die Bilder der Zerstörung auf den „geschundenen“ deutschen Adler beziehen. Jedenfalls hat das Wappentier seinen Märchencharakter entschieden eingebüßt und deutet so, wenngleich noch eher vage, den für die Wirkungsabsicht des Gedichts entscheidenden konkreten Sachverhalt an. Völlige Klarheit stellt sodann die mit der ersten eng verbundene zweite Strophe her: „Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt, / sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß / und reicht dir die Schüssel des Herzens“ (V. 9–11). Nunmehr ist mit einem Schlag gewiß, daß von den deutschen Verbrechen im Dritten Reich Adolf Hitlers die Rede ist. Zum Himmel schreiendes Unrecht wurde in jener schlimmsten Phase der deutschen Geschichte in nie zuvor gekanntem Ausmaß angerichtet. Das ist die in ein schroffes Bild gesetzte Aussage des Verses: „Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt“. Was unter dem Himmel Deutschlands geschehen konnte, verdüstert das Land unauslöschlich. Allein ein „enthaupteter Engel“ bleibt noch, um die schwer vorstellbare Versöhnung vorzunehmen, „ein Grab für den Haß“ zu suchen und dem dafür offenen Leser („dir“) die ausgleichende „Schüssel des Herzens“ zu reichen. Mit Recht hat man auf die „Ambivalenz“ dieser „Versöhnungsgeste“ hingewiesen14. In keiner Weise will die Aussage auf unangebrachte Verzeihung hindeuten. Vielmehr soll ein still revolutionierender Impuls ausgelöst werden, der dem verheerenden Untergang und der herrschenden Gleichgültigkeit entgegen278  

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zuwirken vermag. Nach Vorstellung der Dichterin ist das nicht möglich, ohne das Schwierigste zu leisten, nämlich auf der Grundlage des Gedächtnisses praktizierte Nächstenliebe zu entwickeln. Allein eine solche, alles umwälzende Verankerung des „Herzens“ im Leben erlaubte wahre Menschwerdung. Bezeichnenderweise hebt Bachmann gerade an dieser Stelle auf ihre lyrische Sprecherrolle ab. Ihr Sprechen nimmt gleichsam vorweg, was jeder Leser für sich leisten sollte: – eine Art von Anverwandlung an die Haltung des „enthaupteten Engels“, der es immerhin vermag, dem „Haß“ entgegenzuwirken und das „Herz“ sprechen zu lassen. Danach folgt eine strophisch herausgehehobene einzelne Verszeile. Kompositionell leitet sie organisch zu den drei Mittelstrophen über. Der knapp gefaßte Satz verkündet die überraschende Botschaft: „Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel“ (V. 12). Mit diesem suggestiven Bild kündigt sich die mögliche Kraft zu einem vertretbaren Neubeginn an. Voraussetzung dafür ist es allerdings, die nicht verdrängte, sondern intensiv erinnerte Vergangenheit zur Grundlage des Weiterlebens zu erheben. So nur, in bewußtem Eingedenken, kann der „Schmerz“ über das Geschehene wenigstens bis zu einem gewissen Grad gemildert werden. Der Mittelteil des Gedichts umfaßt drei Strophen mit jeweils fünf Versen. Ausdrucksmäßig unterscheiden sie sich stark von den Rahmenstrophen (I-III und VII-IX). In ihnen schwingt absichtsvoll etwas vom „Klang des Volksliedes“ 15 mit. Indes geschieht das in der klaren Absicht bitter-ironischer Verfremdung des Vertrauten. Besonders gilt das für die beiden Strophen IV und V, die schon durch den Parallelismus von Anfangs- und Schlußvers enger miteinander verbunden sind. Unbedingt gehört aber auch die etwas abgesetzte sechste Strophe zum Kernstück des Ganzen. Um zwei Zitate herum ist der Text der vierten Strophe entwickelt: „Sieben Jahre später / fällt es dir wieder ein, / am Brunnen vor dem Tore, / blick nicht zu tief hinein, die Augen gehen dir über“ (V. 13–17). Was „sieben Jahre später“ der österreichischen Sprecherin wieder „einfällt“, ist, wie schon angedeutet, die ,normale‘ Zeit vor der nationalsozialistischen Diktatur, in der man sich noch „am Brunnen vor dem Tore“ in wie selbstverständlicher zwischenmenschlicher Nähe versammeln konnte. Zu Anfang des Gedichts hatte schon die „still grünende Linde“ auf den friedlichen Lindenbaum beim „Brunnen“ vorbereitet. Absichtsvoll wählte Bachmann nunmehr das allbekannte Zitat aus der Vertonung Franz Schuberts des volkstümlichen Liedes aus dem Zyklus „Die Winterreise“ von Wilhelm Müller. Sie illustriert damit, wozu Menschen, die dieses Lied anstimmen, dennoch fähig sind, und wie deshalb aus dem „Märchenvogel“ ein entstelltes, schreckerregendes Wesen werden konnte. Was dem Betrachter „sieben Jahre später“ vor Augen kommt, ist kaum zu verkraften, weil einem, mit Martin Luther zu sprechen, dabei „die Augen über gehen“ 16. Gemeint ist ersichtlich ein Weinen über das vorzufindende verheerende Ausmaß des Verrats am „Früher Mittag“  

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Menschen. Die Tatsache, daß „sich im Brunnen der Strahl“ überhaupt wieder „regt“, wie im vierten Vers gesagt wurde, muß mehr als verwunderlich erscheinen. Weiter gesteigert erscheint die verfremdend herbeizitierte Ironie in der fünften Strophe. Sie steht, wie gesagt, in enger Verbindung mit der vierten Strophe. Der gleiche Anfang und der nur leicht variiert wiederholte Schlußvers tragen wesentlich zu dieser Übereinstimmung bei. Allerdings wird hier mit noch größerer Deutlichkeit verfahren. Die kraß vorgestellte Szenerie ist „in einem Totenhaus“ angesiedelt. Überlegt spielt Bachmann dabei auf den Romantitel Dostojewskis an. Was sich konkret abspielt, bezeugen die fünf Verse: „Sieben Jahre später, / in einem Totenhaus, trinken die Henker von gestern / den goldenen Becher aus. / Die Augen täten dir sinken“ (V. 18–22). Durch das in den üblen Kontext eingebaute Zitat aus Goethes Ballade vom „König in Thule“ („goldener Becher“ und „die Augen täten dir sinken“ 17) tritt die perverse Verschiebung der ursprünglichen Bedeutung eindringlich hervor. Was bei Goethe Sinnbild liebender Erinnerung ist, der „goldene Becher“, wird hier zum beklemmenden Symbol für das ungetrübte Weitermachen der nazistischen „Henker“ in der Nachkriegszeit. Das verstärkt aufgegriffene Bild der weinenden Augen („die Augen gehen dir über“ > „die Augen täten dir sinken“) unterstreicht diese unerträgliche Sachlage. Insistierend macht Bachmann uns so bewußt: Diejenigen, die aus Deutschland ein „Totenhaus“ gemacht haben, leben „sieben Jahre später“ ungestört und höchst munter weiter. In der den deprimierenden Mittelteil abschließenden sechsten Strophe erinnert Bachmann gleich einleitend abermals an die bereits in der Überschrift sowie im dritten Vers der ersten Strophe angemahnte Wende im Verhalten: „Schon ist Mittag“ (V. 23). Daß jedoch das genaue Gegenteil eintritt, wird sogleich schmerzlich demonstriert: „in der Asche / krümmt sich das Eisen, auf den Dorn / ist die Fahne gehißt, und auf den Felsen / uralten Traums bleibt fortan / der Adler geschmiedet“ (V. 23–27). Weitermachen statt Umdenken, bedeutet das. Diese deprimierende Erkenntnis vermittelt die aufgeführte Bildfolge: „gekrümmtes Eisen“, „auf den Dorn gehißte Fahne“, „auf den Felsen uralten Traums bleibt der Adler geschmiedet“. Zur Waffe geschmiedetes „Eisen“, die an einer stechenden Spitze befestigte „Fahne“ und der nicht von Machtgelüsten lassende „Adler“ symbolisieren jene Geschichte, die Deutschlands „Himmel“ und „Erde schwärzte“. Die Beispiele zeigen, daß keine Lehre aus der traumatischen historischen Katastrophe gezogen wird. Gegen Menschen gerichtete Gewaltinstrumente werden wiederum vorbereitet, Machtbedürfnis will erneut Flagge zeigen, und alte Herrschaftsträume geistern, auf neue Gelegenheit lauernd, herum. Wahrlich eine ernüchternde Bilanz. Die völlig fehlgeleitete Restauration verrät ein gewissenloses Verharren in der Starre abgestorbener Gefühle und „uralter Träume“. Für den unerbittlichen Blick der Autorin ist die ausbleibende Umkehr im Denken ein schwer lastender „Nachtmahr“ 18. Trotz der alles sagenden Hinterlassenschaft von 280  

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„Scherben“, „Asche“ und „Kratern“, trotz der deprimierenden Deformation Deutschlands in ein „Totenhaus“, in welchem es sich die „Henker“ von gestern über Gebühr wohl sein lassen können, erfolgt keine Umkehr. Deswegen muß die Hoffnung auf ein Umdenken als „erblindet“ (V. 28) und „gefesselt“ (V. 29) angesehen werden. Würde das Gedicht an dieser Stelle abbrechen, müßte alle Hoffnung begraben werden. Die Verdränger der Vergangenheit würden sich dann als die Stärkeren erweisen. Aber der Text wird noch über vier Strophen weitergeführt. Die in der sechsten Strophe artikulierte deprimierende Erkenntnis dem Leser nahe zu bringen, ist Gegenstand des zweiten Einzelverses. Auch er hat Strophencharakter (VII). Mit ihm setzt der auf vier Strophen verteilte Schlußteil ein. Das Bisherige bilanzierend, wird festgehalten: „Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht“ (V. 28). Wenn „im Licht“ der Wirklichkeit die „Hoffnung“ nur noch „kauernd“, also in sich zurückgezogen dasitzen kann, liegt vieles im Argen. Das läßt auf völliges Versagen der Gesellschaft schließen. Einer derartigen kollektiven Verirrung kann lediglich vom Einzelnen her begegnet werden. Darum überzeugt die von Höller vorgebrachte These. Er billigt, wie das in der Folge auch im Text geschieht, die einzig vertretbare „Hoffnung“ allein „dem angesprochenen Du“ zu19. Diese individuell ausgerichtete Überzeugung vertritt Ingeborg Bachmann entschieden. Jeder einzelne Leser soll sich mit der „erblindeten“ und „gefesselten Hoffnung“ identifizieren. Daraus entwickelt sich in der achten Strophe der mit dreifachem Imperativ nachhaltig vermittelte Auftrag, endlich die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Die in Vers 11 angedeutete Kommunikationsstruktur des Textes kommt in dieser Strophe voll zur Geltung. Hierzu wählt Ingeborg Bachmann nunmehr die direkte Anrede der Lerserschaft: „Lös ihr (der Hoffnung) die Fessel, führ sie / die Halde herab, leg ihr / die Hand auf das Aug, daß sie / kein Schatten versengt!“ (V. 29–32). Dergestalt freigesetzt, könnte – leider muß der Modus des Möglichen gebraucht werden! – wirklich „Hoffnung“ aufkommen. Daß es sich dabei um einen verzweifelten Versuch handelt, der jederzeit an den herrschenden Verhältnissen scheitern kann, belegt die schmerzlich ausgesprochene Warnung, man müsse der Hoffnung „die Hand auf das Aug“ legen, weil sonst der die Wirklichkeit bestimmende „Schatten“ übermächtig zur Wirkung käme. Wir sehen uns hier dem ebenso schwachen wie zugleich starken Glauben Bachmanns konfrontiert, die in dieser Hinsicht einmal äußerte: „Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich ,ein Tag wird kommen‘. Und eines Tages wird es kommen. Ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört; seit so viel tausend Jahren hat man es immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran. Denn wenn ich nicht mehr daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben“ 20. Wie schon in der sechsten Strophe sorgt auch hier die konsequente Unterbrechung des Satzflusses durch Enjambements dafür, daß der Leser zum Aufhorchen und Nachdenken gebracht werden soll. „Früher Mittag“  

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Derart unsicher hoffendes Schreiben bestimmt die Aussage der direkt anschließenden neunten Strophe. „Früher Mittag“ ist demzufolge auch ein hochgradig poetologisches Gedicht im Sinne von Dichtung als „Sprachutopie“. Es ist so wie Mechtenberg in seiner Untersuchung zur „Negativität der Welt als sprachlicher Impuls“ nachgewiesen hat: „daß die Sprache durch die Negation in Bewegung versetzt und gehalten wird. Die Negation erweist sich als das sprachliche Movens; sie erzeugt die utopische Spannung und treibt als Impuls den Gedanken auf sein Ultimum zu“ 21. Ganz in diesem Sinne läß sich die Dichterin hier vernehmen: „Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt, / sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen, / eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt“ (V. 33–35). Das ist Ingeborg Bachmanns Plädoyer zu ihrem poetischen Auftrag. Gegen herrschendes Unrecht und gegen Unmenschlichkeit anzugehen, wird von ihr als vornehmste Aufgabe der Dichter angesehen, jedenfalls der Dichter deutscher Sprache, dieser sie umgebenden „verfinsterten Wolke“ 22. Denn die von Deutschland ausgegangenen Verbrechen „schwärzen den Himmel“ über allen Menschen. Die Umstellung – „Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt“ > „Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt“ – macht das unmittelbar sinnfällig. Daß die zu jenem „Himmel“ gehörende „Wolke nach Worten suchen“ muß und dabei zunächst bloß „den Krater mit Schweigen füllen“ kann, erweist sich als tiefer Ausdruck für die nach angemessenen, nämlich „wahrhabenden“ und „wahrmachenden“ 23 Worten suchende Sprache. Nur mühsam füllt sich der die ganze Zerstörung signalisierende „Krater“. Das darin „schweigend“ bewahrte Heillose kann allein freigesetzt werden von einem Leser, der das „Unsägliche“ wahr zu machen gewillt ist. Diese ungewisse Wirkung der im „Schweigen“ angesiedelten Worte unterstreicht der Schlußvers: „eh sie (die Worte) der Sommer im schütteren Regen vernimmt“. Der gerade erst „eröffnete Sommer“ der Hoffnung muß sich noch weiter entwickeln, um gleichsam von der Gehörlosigkeit geheilt zu werden. Nur allmählich ergießt sich der „schüttere Regen“ auf die dafür Empfänglichen. Im gleichen Sinne spricht Bachmann im erwähnten Gedicht „Exil“ von den „dunklen, (den) Regentön(n)“, die aus der ,Wolke‘ der Dichtung „fallen“. Dichtung und speziell ihre Dichtung setzt eben Fühlsamkeit voraus. Die kurze Schlußstrophe faßt die vorgeführten Bilder, Gedanken und Forderungen provokativ zusammen: „Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land: / schon ist Mittag“ (V. 36/37). Ein drittes und letztes Mal wird dem Leser nahegelegt, die gebotene Wende zu vollziehen, weil eben „schon Mittag“, es also höchste Zeit ist. Insofern stellt das Gedicht den Versuch dar, das „leise gesagte Unsägliche“ an uns weiterzugeben, in uns wirken zu lassen. Kaum vernehmbar, geht es „übers Land“ und konfrontiert uns dennoch unausweichlich mit der Alternative, entweder uns hörend menschlich zu bewähren oder aber, nicht hinhörend, zu versagen. Nur die innerlich nachvollzogene „Bewegung aus Leiderfahrung“ 24 kann uns dazu verhelfen, 282  

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die Alternative produktiv zu beantworten. Ingeborg Bachmann unterstützt uns dabei, weil sie, unter Berufung auf den französischen Dichterkollegen René Char, stets der Maxime folgte: „Auf den Zusammenbruch aller Beweise antwortet der Dichter mit einer Salve Zukunft“ 25.

Anmerkungen 11 Bernhard, Thomas: Der Stimmenimitator. Frankfurt/M. 1978, S. 167 („In Rom“). 12 Bachmann, Ingeborg: Werke. Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. 4 Bde, München, Zürich 1978 (Sigle: W); hier: W IV, S. 196. 13 Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum ‚Todesarten‘-Zyklus. Frankfurt/M. 1987, S. 170 (Sigle: Höller).. 14 Krolow, Karl: Nach zwei Jahrzehnten (1974). In: Schardt, Michael Matthias (Hrsg.): Über Ingeborg Bachmann. Rezensionen – Porträts – Würdigungen (1952–1992). Paderborn 1974, S. 19. 15 Wiederholt unterstrich Bachmann die „Geschichtshaltigkeit“ ihrer Gedichte; vgl. hierzu: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hrsg. v. Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München, Zürich 1983, S. 32, 42, 77 und 133. 16 Höllerer, Walter: Nach der Menschheitsdämmerung. Notizen zur zeitgenössischemn Lyrik. In: Akzente 1/1954, S. 423–435; Zitat: S. 434. 17 W I, S. 44. Es gibt eine 1955 erstellte Tonaufnahme auf der Schallplatte Ingeborg Bachmann liest Ingeborg Bachmann, erschienen 1983 bei Deutsche Grammophon, Nr. 25.700.25. 18 Die Niendorfer Tagung fand im Mai 1952 statt. 19 Sendetermin war der 3. November 1952, Sendeort war Hannover. 10 Bachmann, Ingeborg: die gestundete zeit. Gedichte. München 1953, S. 25 f. 11 W IV, S. 303 („Wozu Gedichte?“). 12 Zit. n.: Michel, Christoph: Die zweite Fahrt. In: Interpretationen. Werke von Ingeborg Bachmann. Hrsg. v. Mathias Mayer (= RUB 17517). Stuttgart 2002, S. 11–26; Zitat: S. 25 (Sigle: Mayer). 13 W IV, S. 271 („Literatur als Utopie“). 14 Olschner, Leonard: Ein Dialog mit der Zeit. Bachmanns Gedicht „Früher Mittag“. In: Mayer, S. 51. 15 Mechtenberg, Theo: Utopie als ästhetische Kategortie. Eine Untersuchung der Lyrik Ingeborg Bachmanns. Stuttgart 1978, S. 46 (Sigle: Mechtenberg).. 16 Beispiele für diese Wendung finden sich im Grimmschen Wörterbuch, unter anderem bei Grimmelshausen (Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1. Leipzig 1854, S. 98). 17 Bachmann bezieht sich auf Goethes Ballade (V. 7: „die Augen gingen ihm über“, V. 23: „die Augen thäten ihm sinken“). Goethe läßt seine Ballade auch von Gretchen im „Faust“ anstimmen . Vgl. hierzu: WA I.1,171 und WA I.14, 136. „Früher Mittag“  

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18 So in der Büchner-Preis-Rede „Ein Ort für Zufälle“ (W IV, S. 278). 19 Höller, S. 25. 20 Äußerung Bachmanns in einem der „Vier Statements“ zum Fernsehfilm ,Ingeborg Bachmann in ihrem erstgeborenen Land‘ vom Juni 1973; zit. n.: Höller, S. 155 und 328 (Anm. 62). 21 Mechtenberg, S. 38 und 90. 22 So heißt es im Gedicht „Exil“ am Ende: „Ich mit der deutschen Sprache / dieser Wolke um mich / die ich halte als Haus / (…) O wie sie sich verfinstert“ (W I, S. 153), V. 10–12 und V. 14). 23 In der Rede bei der Verleihung des Horspielpreises der Kriegsblinden betonte Bachmann zur Aufgabe des Schriftstellers: „Er muß (den Schmerz) wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen“ (W IV, S. 275, „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“). 24 W IV, S. 208 („Über Gedichte“). 25 W IV, S. 271 („Literatur als Utopie“).

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„Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“ (1953)

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ie Sommermonate des Jahres 1953 verbrachte Brecht in seinem Landhaus in Buckow, inmitten der reizvollen Hügellandschaft der märkischen Schweiz am Schermützelsee. Er hatte dort im Jahr davor, zur „Isolierung“ von den zermürbenden „politischen und ästhetischen Auseinandersetzungen“ 1 in Berlin, ein ihm zusagendes Anwesen erworben. Der Blick ins „Arbeitsjournal“ klärt darüber auf, wie schwierig und aufreibend sich während der ganzen Zeit die unumgänglichen Debatten Brechts über seine ästhetische Position und die von der Partei ‚importierte‘ stalinistische Kulturpolitik im Zeichen des ‚Sozialistischen Realismus‘ gestalteten. Brecht wußte sehr wohl, warum er nach seiner Flucht 1941 aus Finnland das Sowjetimperium so schnell wie möglich durchquerte, um von Wladiwostok aus möglichst rasch in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Im Blick auf die Sowjetunion kritisierte er 1943 „die umwandlung des berufsrevolutionärs in den bürokraten, einer ganzen revolutionären partei in einen beamtenkörper“ 2. In Ostberlin hatte er nun täglich mit den Ablegern solcher „Bürokraten“ und mit einem gleich gearteten „Beamtenkörper“ in Gestalt der für kulturelle Fragen zuständigen Apparatschiks zu tun. Gleich beim ersten Ostberliner Kontakt verspürte er „den stinkenden Atem der Provinz“ 3. Daran änderte sich auch in der Folgezeit nichts. Im Gegenteil. Im März 1951 rief das Zentralkomitee der Partei die ‚Kampagne gegen den Formalismus‘ aus. Nicht zuletzt war das auch gegen Brechts Konzeption des ‚epischen Theaters‘ gerichtet. Zermürbende Debatten in der Sektion ‚Darstellende Kunst‘ der ‚Deutschen Akademie der Künste‘ und vor allem ständige Auseinandersetzungen mit der ideologisch bornierten ‚Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten‘ waren die Folge. Im Juni 1953 war Brecht mit der Arbeit am „Turandot“-Projekt beschäftigt, einer Wiederaufnahme des ‚Tui-Komplexes“ 4 in Form einer satirischen Komödie („Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher“). Mitten hinein in diese Aktion platzten die Ereignisse um den 17. Juni. Dieser erste Aufstand gegen die kommunistische Diktatur im Ostblock wirkte auf den überzeugten Kommunisten geradezu umwerfend. Vielsagend notierte er dazu: „der 17. juni hat die ganze existenz verfremdet“ 5. Offensichtlich machte ihm schwer zu schaffen, daß es zu einem Protest der Arbeiter gegen das kommunistische Regime kommen konnte. Seine Reaktion darauf ist ei„Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“  

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nem der Briefe an den Verleger Peter Suhrkamp zu entnehmen. Er schrieb da: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat Fehler begangen, die für eine sozialistische Partei sehr schwerwiegend sind und Arbeiter, darunter auch alte Sozialisten, gegen sie aufbrachten. Ich gehöre ihr nicht an. Aber ich respektiere viele ihrer historischen Errungenschaften, und ich fühlte mich ihr verbunden, als sie – nicht ihrer Fehler, sondern ihrer Vorzüge wegen – von faschistischem und kriegstreiberischem Gesindel angegriffen wurde. Im Kampf gegen Krieg und Faschismus stand und stehe ich an ihrer Seite“ 6. Das heißt: Aus dem Kritiker der „Murxisten“, wie Brecht zu sagen pflegte, wurde in gewisser Weise ein an der Weisheit der Partei zweifelnder, ‚ungläubiger Thomas‘, jedoch nicht etwa ein Dissident. Brecht setzte sich gegen den bornierten kaderkommunistischen Parteiapparat zur Wehr. Ihm war klar geworden, daß ohne einen radikalen Bewußtseinswandel keine produktive Veränderung der Massen und ebenso keine wahre ‚Regierung des Volkes‘ entstehen kann. Aber er fürchtete zugleich das Hochkommen faschistischer Gegenkräfte. Deswegen blieb er als Marxist konsequent bei der Parteinahme gegen den Kapitalismus und für den Kommunismus, – allerdings für einen Kommunismus wie er ihn sah. Daß seine Utopie einer sozialistischen Gemeinschaft fern von der Realität angesiedelt war, gehört zu den läßlichen Sünden dieses ‚eingreifenden Denkers‘. Die Erfahrungen von Massenflucht, Mauerbau, Mängelverwaltung und totaler Überwachung hat er nicht mehr erlebt. Derartige Entwicklungen sind jedenfalls mit seiner Hoffnung auf eine Welt, in welcher „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“ 7, keineswegs zu vereinbaren. Unter den verstörenden Eindrücken des 17. Juni 1953 entstand, hauptsächlich im Juli und August, eine Reihe von Gedichten, die Brecht in einer Mappe als „Buckower Elegien“ sammelte. Sechs der Gedichte erschienen sogleich in der Zeitschrift „Sinn und Form“ 8 und dann im ersten Halbjahr 1954 in den „Versuchen“ 9. Zu weiteren 17 Gedichten, eingeschlossen das Motto-Gedicht, existieren Abschriften des Autors auf Einzelblättern vom zweiten Halbjahr 1954. Die Reihenfolge hat er nicht selbst festgelegt, sondern die Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann. Sie veröffentlichte acht Jahre nach dem Tode Brechts 18 Elegien im 7. Band der Werkausgabe sowie vier weitere als Nachtrag im 8. Band10. 1980 kamen noch zwei Elegien hinzu, die vorher aus politischen Gründen zurückgehalten worden waren11. Alle 24 Elegien versammelte Jan Knopf 1986, neu angeordnet, in der ‚Edition Suhrkamp‘, während er zwei Jahre später in die ‚Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe‘ nur 23 Gedichte in erneut veränderter Anordnung aufnahm12. Soweit der Überblick über die zum Teil stark verzögerte Publikation von Brechts „Buckower Elegien“. Warum gerade Elegien? Bereits 1942 hatte Brecht für den Komponisten Hanns Eisler die „Hollywood-Elegien“ verfaßt, einen Zyklus ‚höllischer‘ Visionen über seinen schein-paradiesischen, hochkapitalistischen Exilort13. Er charakterisierte diese 286  

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Gedichte mit dem Hinweis, „daß sie eine eigentümliche Haltung der Distanz hätten“ und „zu einem studierenden Lesen anhalten“ sollten14. Dabei schwebten ihm als Muster hauptsächlich die Elegien von Lukrez und Horaz vor. Die Wahl des Titels für die Sammlung von 1953 zeigt jedoch, daß Brecht auch eine Weiterführung der „Römischen Elegien“ Goethes und der „Duineser Elegien“ Rilkes vorschwebte. Allerdings wollte er, wie bereits Rilke, nicht an das etablierte Formmerkmal anknüpfen, also nicht in Distichen15 schreiben. Er ging in erster Linie thematisch vor und dachte dabei an die von Horaz eingeführte Zuschreibung der Elegie als Vehikel klagender Trauer und Besinnung, wie sie gleichfalls auf die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes ‚elegisch‘ übergegangen ist. Freilich wollte er nicht etwa resignative Trauerlieder verfassen, sondern eher zum Nachdenken auffordernde, lyrisch-didaktische Betrachtungen und Ermahnungen vorlegen, die haltloser Klage und ‚elegischer‘ Empfindungsweise entgegenstehen. Seine Elegien sind im Zeichen verändernder politischer Lebensweisheit angelegt. Für sie gilt Goethes beschreibendes Distichon in „Alexis und Dora“: „Vorwärts dringt der Schaffenden Geist, wie Flaggen und Wimpel, / Einer nur steht rückwärts traurig gewendet am Mast“ 16. Brecht will beides: Nach-Denken und Weiter-Denken. In dieser Hinsicht ist der These, es „handle sich um politische Lyrik“ 17, unbedingt zuzustimmen. Grundthemen der Sammlung sind nämlich, neben der „elegischen Natur- und Menschenbetrachtung“ 18, zweifellos die gesellschaftlichen Mißstände in Gestalt fortwirkender faschistischer Tendenzen sowie Schwierigkeiten und Irrtümer beim vorgeblichen Aufbau des Sozialismus. So gesehen, wirkte der 17. Juni auf Brecht in der Art eines künstlerischen Katalysators. Die „Buckower Elegien“ spiegeln in erster Linie die verschiedenen Facetten der Reaktion Brechts auf jene fundamentale Krise der noch jungen DDR, seine bohrenden, sehr prinzipiellen Zweifel, aber gleichermaßen seine Entschlossenheit, die negativen Erfahrungen nutzbar zu machen für eine produktive gesellschaftliche Weiterentwicklung. In starkem Maße fließen deshalb in einen Teil der Elegien persönliche Empfindungen ein, wie sonst nur bei den Liebesgedichten. Das und mehr noch eine durchgängige konzentrierende Verknappung charakterisiert die Spätstufe der Brechtschen Lyrik. Ein signifikantes Beispiel aus dem Zyklus sei nun herausgegriffen – die Elegie „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“. Hier der überraschende Text: Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters In den Tagen, als ihr Fall gewiß war Auf den Mauern begann schon die Totenklage Richteten die Troer Stückchen grade, Stückchen „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“  

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Auch die Troer also … 19

Was daran überrascht, wird noch zu ermitteln sein. Denn in formaler Hinsicht unterscheidet sich das Gedicht keineswegs von den anderen Elegien. Hier wie dort haben wir es mit ‚reimloser Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen‘ zu tun. Das gleiche Wort am Ende des dritten und vierten Verses („Stückchen“) ist in diesem Falle nicht etwa ein ‚identischer Reim‘, sondern eine einfache, argumentativ bedingte Wiederholung. Zwischen den Versen herrscht kein beziehungsloses Nebeneinander. Vielmehr ist strenge Gesamttektonik und eine genaue Bildwahl auszumachen. Daraus entsteht im bewußt unpersönlich gehaltenen Textfluß eine lapidare aphoristische Parabel. Die „bei der Lektüre“ erinnerte Vergangenheit wird zum Urteilsspruch über sehr gegenwärtige „Stückchen“-Betreiber. Unversehens entpuppt sich die lyrische Argumentation als ein brisantes und höchst aktuelles Rollengedicht. Sachlichdistanziert argumentiert der eine Gegen-Geschichte anstrebende Autor in nur fünf Versen sowie in der gezielt offen gelassenen Schlußwendung, die sogar vom übrigen Text ‚strophisch‘ abgesetzt wird. Wir erleben eine extrem konzentrierte, dennoch ausgesprochen lyrische Diktion mit offenkundig didaktisch-fordernder Absicht. Wenn Brecht von einem „spätgriechischen Dichter“ spricht, denkt man natürlich zunächst an einen antiken Vorläufer, zumal er in einer anderen Elegie an Horaz und damit an die altrömische Elegientradition erinnert („Beim Lesen des Horaz“). Hinzu kommt ferner, daß er hier das Thema des Untergangs der Stadt Troja aufgreift, der uns durch das „Ilias“-Epos des Homer geläufig ist. Bekanntlich endete die zehnjährige vergebliche Belagerung der Stadt durch die List mit dem ‚trojanischen Pferd‘ mit ihrer völligen Vernichtung. Das ist festzuhalten, weil darauf zurückzukommen sein wird. Lange suchte man vergeblich nach dem altgriechischen Vorbild, dessen „Lektüre“ den Verfasser der Elegie zu seiner Gestaltung hätte anregen können. Bis dann 1960 das von Hans Magnus Enzensberger eingerichtete „Museum der modernen Poesie“ in die Rubrik „Klagen“ einige Gedichte von Konstantinos Kavafis (1863–1933) enthielt, die so einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Denn die 1953 im Suhrkamp-Verlag veröffentlichte Sammlung „Gedichte des Konstantinos Kavafis“ blieb weithin unbeachtet. Brecht bekam diesen Band vom Verlag zugeschickt. Offensichtlich hat er ihn sogleich gründlich durchgelesen und sich vor allem mit dem Gedicht „Troer“ beschäftigt. Die Verse des Griechen wurden sogar zum direkt auslösenden Moment für die Elegie „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“. Daß hier die Quelle zu suchen ist, aus der Brecht schöpfte, kann in der Tat keinem Zweifel unterliegen. Allerdings hat der „spätgriechische Dichter“ sei288  

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nen Text wesentlich breiter angelegt. Hier der Gesamtwortlaut in der etwas schwerfälligen Übertragung von Helmut von den Steinen: Troer Unsre Bemühungen, die von Schicksalsduldern, unsre Bemühungen sind wie jene der Troer. Stückchen richten wir grade, Stückchen Nehmen wir über uns und beginnen, Mut zu haben und gute Hoffnungen. Immer doch steigt etwas auf und heißt uns stillstehn. Aufsteigt in dem Graben uns gegenüber Er, Achill, und schreckt uns mit großen Schreien. – Unsre Bemühungen sind wie jene der Troer. Kühn gedenken wir, mit Entschluß und Wagmut Fallenden Schlag des Geschickes zu ändern, und wir stellen uns draußen auf zum Kampfe. Aber sobald die große Entscheidung nahkommt, geht uns der Wagmut und der Entschluß verloren, unsere Seele erbebt, fühlt Lähmung, und in vollem Kreis um die Mauern laufen wir, durch die Flucht zu entrinnen bestrebt. Dennoch ist unser Fall gewiß. Dort oben Auf den Mauern begann schon die Totenklage. Unsrer Tage Erinnerungen weinen, Gefühle weinen. Priamos bitter um uns und Hekabe weinen. 20 Die nicht zu übersehende Anregung, ja Übernahme (im Text durch Unterstreichungen hervorgehoben) blieb noch längere Zeit unbemerkt. Kavafis war einfach zu wenig bekannt. Bis dann 1980 Dieter Thiele in seiner Dissertation „Der Autor als Produzent. Studien zum Selbstverständnis Brechts“ auf einen Artikel des Komparatisten Theodore Fiedler hinwies, der den Zusammenhang freier Montage einiger Kernelemente des „Troer“-Gedichts als Erster bemerkte21. Er vermutete in der Brechtschen Variante „eine kritische Glosse auf Kavafis“ unter dem Eindruck des 17. Juni. Brecht folge nicht der fatalistischen Perspektive des Vorläufers, sondern deute mit dem offenen Schluß „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“  

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eine Alternative an, der zufolge die „Menschen auch anders reagieren könnten“ 22. Seine von Thiele übernommene Deutung schreibt Brecht „ein realistisches Verhältnis zum Aufbau“ des Sozialismus zu, das im Gegensatz zu den „Aufbau-Propagandisten“ der Partei stehe23. Daran läßt sich anknüpfen. Denn die Ironie auf „Mut“ und „Hoffnung“ der Troer ist eindeutig genug. Aber verfahren wir der Reihe nach. Zunächst ist zu klären: Wer war eigentlich dieser „spätgriechische Dichter“, der also ein neugriechischer Dichter ist? Einer reichen Familie von Levante-Griechen aus Konstantinopel entstammend, die dann in Alexandria ansässig wurde, konnte der gründliche Kenner der griechischen Antike ganz seinen historischen und literarischen Interessen leben. Nur einmal, bereits schwer krank, hielt Kavafis sich kurz im griechischen Mutterland auf. Er starb 1933 mit siebzig Jahren in seiner Geburtsstadt Alexandria. Obwohl er zu Lebzeiten kein einziges Gedicht veröffentlichte, war er in Griechenland hoch angesehen. Er galt und gilt dort als Wegbereiter der literarischen Moderne. Erst nach seinem Tod erschienen nacheinander Ausgaben seiner Gedichte. Häufig nimmt Kavafis den historischen Rahmen der Antike, um distanziert seine persönlichen Erlebnisse und Gefühle ausdrücken zu können. Ihn störten die lang anhaltenden, fruchtlosen innenpolitischen Auseinandersetzungen nach der Niederlage der griechischen Armee im griechisch-türkischen Krieg 1920–1922, die zur Vertreibung von 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien führte. Darauf bezogen, kritisiert er in seinem Gedicht die Troer als die „Schicksalsdulder“. Er sieht in ihnen die griechische Situation in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gespiegelt. Mit großen „Bemühungen“ einsetzend, wurden daraus „Lähmung“, „Flucht“, „Weinen“ und Untergang. Gestützt auf den Bericht in der „Ilias“-Dichtung evoziert Kavafis das furchterregende „große Schreien“ des Heerführers Achill, der bekanntlich im Zweikampf Hector tötete und dann um die Mauern Trojas schleifte, aber mehr noch das „Weinen“ des trojanischen Königs Priamos, und seiner Frau um die vielen Toten. Der „spätgriechische Dichter“ sieht darin nicht nur die griechische Szenerie, sondern letztlich die ganze blutige Menschheitsgeschichte abgebildet („wie jene der Troer“). Deswegen spricht er von „unsren Bemühungen“ und „unserem Fall“. Das durchgängig gebrauchte Personalpronomen der ersten Person des Plurals weitet die konkrete historische Perspektive zum allgemeinen Los der „Schicksalsdulder“ aus. Brecht interessierte an diesem Gedicht wohl in erster Linie der erzählerische Grundduktus, der den Leser einer lyrisch dargestellten Aktion konfrontiert und so zum Nachdenken anregt. Was hat er in seiner Variante daraus gemacht? Sogleich fällt auf: Er sagt nur das Nötigste. Die von ihm verfertigte Version im Lapidarstil ist eine gezielte Reduktion. Sie zeugt von hoher Bearbeitungskunst. Im Gegensatz zum Prätext fällt kein einziger Name. Alles historische Beiwerk wird bei dieser Konzentration auf den „Fall“ der Stadt Troja weggelassen. Allein ihr sicherer Untergang kommt zur Darstellung und dazu ihr ebenso blinder wie selbstgewisser „Mut“ und 290  

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die darauf begründete, unverbesserlich optimistische „gute Hoffnung“, den „Fall“ mit unzulänglichen Mitteln („Stückchen“) aufhalten zu können. Unter sorgfältig überlegter Verwendung des brauchbaren Wortmaterials der griechischen Vorlage bringt Brecht in wenigen Versen am historischen Beispiel Trojas seine aktuelle Kritik an den Mißständen des Regimes und die fällige Abrechnung mit den „Murxisten“ vor. Dadurch wird die Aussage völlig umakzentuiert. Zur Frage steht die gesellschaftspolitische Situation nach dem 17. Juni 1953. Die Partei versuchte, mit „Stückchen“ in Gestalt der unzureichenden Reformen des ‚Neuen Kurses‘ die Krise zu meistern, mußte dann aber zur Gewalt übergehen, um Herr der Lage zu bleiben. Ohne als elegisches Ich direkt in Erscheinung zu treten, betreibt der Autor hier seine Fundamentalkritik an den politischen Maßnahmen der Partei. Der Schlußvers („Auch die Troer also …“) ist auffällig vom übrigen Text abgesetzt. Er soll Eigengewicht bekommen. Brecht erinnert so daran, daß Unbelehrbarkeit zu Scheitern und Untergang führt. Wie eine Ergänzung dazu liest sich der Anfang des Gedichts „Die Wahrheit einigt“. Es heißt da: „Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie! / Nicht wie fliehende müde Cäsaren: ‚Morgen kommt Mehl‘ / So wie Lenin: Morgen abend / Sind wir verloren, wenn nicht …“ 24. Es schmerzte Brecht, daß die Genossen sich „wie fliehende müde Cäsaren“ verhielten. In seiner Sicht verrieten sie damit die Einlösung des marxistischen Versprechens eines ‚Reichs der Freiheit‘. Er vermied es freilich, seine Kritik an die Öffentlichkeit zu tragen, weil er die produktive Arbeit als künstlerischer Leiter des ‚Berliner Ensembles‘ und damit die Durchsetzung seiner ästhetischen Prinzipien nicht auf ’s Spiel setzen wollte. Wer darin Charakterlosigkeit sehen will, sei zum Nachdenken über den Vers aus der Elegie „Eisen“ aufgefordert. Er lautet: „Doch was da aus Holz war / Bog sich und blieb“ 25. Wie man sieht, vertraute Brecht seine enttäuschte Hoffnung den „Buckower Elegien“ an. Nicht ohne Grund gestand er im Gedicht „Böser Morgen“: „Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend / Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und / Sie waren gebrochen. // Unwissende! Schrie ich / Schuldbewußt“ 26. In diesem Selbstkommentar spricht einer, dessen Existenz durch die Ereignisse des 17. Juni wirklich „verfremdet“ wurde. Mit Recht bemerkte Ingeborg Bachmann über Brechts ambivalente Position: „Es ist ein ironischer, ein katastrophischer, ein zerrissener, ein grandioser Rettungsversuch“ 27. In der Tat ging es Brecht, bei allem Ausweichen vor einem Konflikt mit der Partei, um die Rettung der ihm vorschwebenden sozialistischen Idee. Deswegen grenzt es an gewollte Blindheit, wenn der Kommentator Jan Knopf diese Seite der Brechtschen Kritik über den gleichen Leisten schlägt wie die in anderen Gedichten tatsächlich vorzufindende vehemente Kritik an neofaschistischen Umtrieben und am Fortwirken nazistischer Strukturen in der Gesellschaft („Vor acht Jahren“, „Gewohnheiten, noch immer“, „Der Einarmige im Gehölz“, „Der Him„Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“  

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mel des Sommers“). Knopf brachte es tatsächlich fertig, das Gedicht „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“ folgendermaßen zu interpretieren: „Im Kontext des Jahres 1953 (…) spiegelt sich im mythischen Fall der überwunden geglaubte Faschismus, dessen Aktivitäten (‚Mut‘ und ‚gute Hoffnung‘) Brecht am 17. Juni am Werk sah. Das Gedicht gibt sich überzeugt, daß der Faschismus zusammen mit dem Spätbürgertum auf die Dauer keine Überlebenschance hat“ 28. Der verbrecherische Stalinist Erich Mielke, einer der besonders abstoßenden Repräsentanten des Unrechtsstaates, hat Brecht entschieden besser verstanden. In einer Rede vor seinen Vasallen rügte er Brechts Kritik am Umgang der Stasi mit den zu ‚Konterrevolutionären‘ gestempelten Systemkritikern Wolfgang Harich und Walter Janka. Besonders empört war der ‚Minister für Staatssicherheit‘ darüber, daß „Brecht Strafantrag stellen wollte gegen einen (…) leitenden Funktionär der Staatssicherheit!“ 29. Gelesen vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung bis zum Ende der DDR erscheint das elegische Gedicht Brechts eher als die feste Meinung eines Desillusionierten, der ahnte, daß den schlechten ‚Volksdemokraten‘ der DDR-Führung eines Tages der Ruf entgegentönen würde: ‚Wir sind das Volk‘. So gesehen, scheint es mir geboten, das Gedicht „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“ im Wissen um Brechts skeptische Beurteilung der Lage in den Blick zu nehmen. Gleich im ersten Vers wird die Situation der Troer gegen Ende der zehnjährigen Belagerung als hoffnungslos erklärt: „In den Tagen, als ihr Fall gewiß war“. Geradezu signalartig ist damit eine herausfordernde Sachlage an den Anfang gesetzt. Das ganze Ausmaß der herrschenden Verzweiflung präzisiert sodann der zweite Vers: „Auf den Mauern begann schon die Totenklage“. Im Gegensatz zur griechischen ‚Quelle‘ unterläßt Brecht den Hinweis, daß sich die Totenklage auf den Bericht Homers über die Tötung Hectors im Kampf mit Achill bezieht. Die überlieferten Umstände sollen auf keinen Fall Eigengewicht bekommen. Entscheidend ist allein der durch die Totenklage vorweggenommene Untergang der Troer. Noch stärker wird die nicht mehr zu rettende Situation bewußt gemacht durch das unüberlegte Tun der dem Untergang Geweihten. Statt sich auf sinnvolle Maßnahmen wirksamer Verteidigung zu konzentrieren, verlieren sie sich in punktuelle Aktionen mit fruchtlosen Ausbesserungen. Sie richten „Stückchen grade, Stückchen / In den dreifachen Holztoren, Stückchen“ (V. 3/4). Die im Vergleich zur Vorlage noch mehr gesteigerte Worthäufung (dreimal „Stückchen“, dreimal Diminutiv“) zeigt die selbstmörderische Absurdität dieser Maßnahme, die zwangsläufig Stückwerk bleiben muß. Damit ist das Versagen der Troer hinreichend dargelegt. Geradezu töricht ist es darum, daß ausgerechnet bei diesem aussichtslosen Stand der Dinge „Mut“ und „Hoffnung“ aufkommen („Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung“, V. 5). In sarkastischer Zuspitzung gelingt es Brecht, die komplexen historischen Abläufe auf ihren strukturellen Kern zu konzentrieren. Gezeigt wird in der eingangs 292  

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erwähnten „Haltung der Distanz“, daß unverbesserlich blinder Optimismus von der Wirklichkeit bestraft wird. Mit keinem Wort braucht er die Situation der DDR im Jahr 1953 anzusprechen. Ohne weiteres kann er die Anwendung dieses Warngedichts auf die politische Lage des SED-Staates dem denkenden Leser überlassen. Deutlich genug erscheint diese kritische Textkomponente im verfremdenden Gestus eines objektivierend-lehrhaften Beiseite-Sprechens. Michael Hamburger hat richtig erkannt: „Wie bei vielen späten Gedichten Brechts stehen solche Bezüge nicht im Text, sondern vor und hinter dem Gesagten“ 30. Was aber vermittelt uns die auf vier Worte und ein vielsagendes Verstummen verkürzte zweite ‚Strophe‘? Mit bitter-ernster Ironie wird da herausfordernd festgehalten: „Auch die Troer also …“ (V. 6). Das besagt nicht weniger als die Bekundung, daß unverzeihliches gesellschaftliches Fehlverhalten zwingend Scheitern und Untergang herbeiführt. Man hat den nicht zu Ende geführten und doch hinreichend eindeutigen Satz nicht nur, wie erwähnt, auf den drohenden, aber zum Untergang verurteilten Faschismus bezogen, sondern auch auf die verfahrene „Lage Deutschlands nach dem Ausgang des zweiten Weltkriegs“ 31. Dabei liegt es auf der Hand, hinter dem Schicksal der Troer das den historisch blinden DDR-Bonzen unweigerlich drohende Ende auszumachen. Nicht ohne Grund schickte Brecht im August 1953 das thematisch gleichgerichtete Gedicht „Die Wahrheit einigt“ an den nach Brechts Auffassung ansprechbaren Funktionär Paul Wandel mit der ausdrücklichen Bemerkung „ich schicke dir ein Gedicht, das ich nicht veröffentlichen will, sozusagen zu innerem Gebrauch“, will sagen: zur Diskussion innerhalb der Partei. Im Begleitschreiben wies der Verfasser listig darauf hin, die Partei müsse der Arbeiterschaft nach den Vorkommnissen des 17. Juni klarmachen, „daß sie in tödlicher Gefahr ist, von einem neu erstarkenden Faschismus in einen neuen Krieg geworfen zu werden; daß sie alles tun muß, um die kleinbürgerlichen Schichten unter ihre Führung zu bringen. Kurz, wir dürfen nicht wieder den Kopf in den märkischen Sand stecken“ 32. Gemeint war natürlich etwas ganz anderes, nämlich die eindringliche Warnung an die Partei, es nicht bei fruchtlosen Teilreformen („Stückchen“) zu belassen, sondern der kommunistischen Selbstverpflichtung zum Wohle des Volkes nachzukommen und darum eine grundsätzlich andere, humane, gerechte und insofern radikal entstalinisierte Politik zu betreiben. Damit stieß Brecht an eine Grenze. Die Partei machte weiter wie gewohnt. Das genau wollte Brecht anprangern mit dem beißend ironischen Vers- und Strophenansatz „Auch die Troer also …“. Es sollte heißen: „Auch die Partei also …“. In seiner Aussage artikuliert der Dichter mit wissender Ironie den ihn tief enttäuschenden Sachverhalt eines unbelehrbaren Politbüros. Um so mehr legte er Wert darauf, diesen klagend-anklagenden Akzent unbedingt seinen „Buckower Elegien“ beizugeben. Der weitere Verlauf der Geschichte hat die Berechtigung seiner Warnungen in vollem Umfang bestätigt. Wir wissen heute: „Auch die DDR also …“. „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“  

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Anmerkungen 11 Hecht, Werner: Brechts Leben in schwierigen Zeiten. Frankfurt/M. 2007, S.  259 (Sigle: Hecht). Vgl. hierzu u.a.: Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar und Frankfurt/M. 1988 ff. (Sigle: GBA); hier: GBA 27, S. 307 (12.10.1949), S. 318 (25.3.1951), S. 325 (22.8.1951), S. 346 (4.3.1953). 12 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. Zweiter Band 1942 bis 1955. Hrsg. v. Werner Hecht. Frankfurt/M. 1973, S. 589 (Sigle: AJ); ebenso: GBA 27, S. 158 (19.7.1943); 13 AJ, S. 889; ebenso: GBA 27, S. 296 (6.1.1949). 14 Das von Brecht gerne gebrauchte Kunstwort „Tui“ ist Ergebnis einer Silbenmischung des Wortes ‚intellektuell‘ zu ‚tellekt-uell-in‘ = ‚Tui‘. Er bezeichnete damit den Mißbrauch des Intellekts und ebenso ideologische Fehlleistungen. 15 AJ, S. 1009 ; ebenso: GBA 27, S. 346 (20.8.1953) sowie GBA 12, S. 445. 16 GBA 30, S. 184 f. (Brief an Peter Suhrkamp vom 1.7.1953). 17 So heißt es in der Schlußstrophe des Gedichts „An die Nachgeborenen“ (GBA 12, S. 87, V.73). 18 Sinn und Form, Heft 6/1953, S.  119–121. Vgl. hierzu auch: Bertolt Brechts Buckower Elegien. Mit Kommentaren von Jan Knopf (= es 1397). Frankfurt/M. 1986, S. 121 f. (Sigle: Knopf ); ebenso: GBA 12, S. 445; ebenso: Brecht, Bertolt: Aus letzten Gedichten. In: Sinn und Form. Zweites Sonderheft Bertolt Brecht. Hrsg. v. Peter Huchel. Berlin 1957, S. 340 f. 19 Versuche, Heft 13, S. 111–113. 10 Brecht, Bertolt: Gedichte, Bd. 7. Frankfurt/M. 1964, S. 6–23, Bd. 8. Frankfurt/M 1965, S. 207 f. 11 Gerhard Seidel veröffentlichte die Gedichte „Die neue Mundart“ und „Lebensmittel zum Zweck“ in ‚Sinn und Form‘ (Heft 5/1980, S. 1091; Kommentar: S. 1087–1090). 12 GBA 12, S. 307–315. Das Weglassen des Gedichts „Die Kelle“ bleibt ohne klare Begründung. Knopf merkt lediglich an: „Die Zuordnung weiterer Gedichte (z.B. von „Die Kelle“, von Elisabeth Hauptmann den postumen Drucken der ‚Buckower Elegien eingefügt) ist nicht nachweisbar“ GBA 12, S. 446). 13 Eine der Elegien lautet: „Die Stadt Hollywood hat mich belehrt / Paradies und Hölle / Können eine Stadt sein: für die Mittellosen / Ist das Paradies die Hölle“ (GBA 12, S. 116). 14 Bunge, Hans: Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch. München 1970, S. 19 und 21. 15 Ein Distichon ist ein Zweizeiler aus Alexandrinern oder ungleichen Versen, meist einem Hexameter und einem Pentameter. 16 WA I.1, S. 265 (V. 7/8). 17 Link, Jürgen: Die Struktur des literarischen Symbols. Theoretische Beiträge am Beispiel der späten Lyrik Brechts. München 1975, S. 94. 18 Hinck, Walter: Das lyrische Subjekt im geschichtlichen Prozeß oder Der umgewendete Hegel. Zu einer historischen Poetik der Lyrik. In: drs.: Von Heine zu Brecht. Lyrik im Geschichtsprozeß (= st 481). Frankfurt/M. 1978, S. 125–137; Zitate: S. 137.

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19 GBA 12, S. 312. 20 Zit. n.: Museum der modernen Poesie. Eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt/M. 1960, S. 211 f. 21 Thiele, Dieter: Bertolt Brecht. Frankfurt/M. 1981, S. 94–96 (Sigle: Thiele) und Fiedler, Theodore: Brecht and Cavafy. In: Comparative literature 3/1973, S. 240–246 (Sigle: Fiedler).. 22 Fiedler, S. 246 (“as a critical gloss on Cavafy”) und S. 245 (“men might act differently”). 23 Thiele, S. 96. 24 GBA 12, S. 315. 25 GBA 12, S.315. 26 GBA 12, S. 310 f. 27 Bachmann, Ingeborg: Werke. Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. München, Zürich 1978, Bd. 4, S. 367. 28 Knopf, S. 98. 29 Zit. n.: Hecht, S. 282. 30 Hamburger, Michael: Schwierige Zeiten. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Ausgewählte Gedichte Brechts mit Interpretationen (= es 927). Frankfurt/M. 1978, S. 147–151; Zitat: S. 149. 31 Mennemeier, Franz Norbert: Bertolt Brecht als Elegiker. In: Der Deutschunterricht 1/1971, S.69. 32 Zit. n.: Brecht, Bertolt: Briefe. Hrsg. v. Günter Glaeser. Frankfurt/M. 1985, S.  701. Hierzu auch: Brecht-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Zusammengestellt von Klaus Völker. München 1971, S. 148 f.

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„In der Flucht“ (1958)

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s ist nicht einfach, die Lebensumstände von Nelly (Leonie) Sachs (1891–1970) zu fassen. Bis zu ihrem Tod lebte diese Frau sehr zurückgenommen und wollte das auch unbedingt. Einen Freund, der Genaueres über ihr Leben zu erfahren suchte, beschied sie mit den Worten: „daß ich mein Letztes und Innerstes für mich behalten werde“. Was sie lediglich einräumte, war „die schmerzgekrümmte Laokoon-Linie“ ihres Lebens, weil sie auch ihre dichterische Arbeit mitbestimmte. Gerade diesen Zusammenhang betonte sie mit der Bemerkung: „Alles was vielleicht in meiner Dichtung aufgespeichert liegt, ist ja entstanden immer nur aus äußerster Not und nur aus dem Bedürfnis, Hilfe zum Weiterleben zu bekommen“ 1. Den äußeren Umständen in der Zeit bis zum Beginn des Dritten Reiches nach überrascht der Hinweis auf die „schmerzgekrümmte Laokoon-Linie“ ihres Lebens. Nelly Sachs wuchs als Einzelkind in der großbürgerlich gediegenen Atmosphäre einer Fabrikantenvilla im Berliner Tiergartenviertel auf. Ihr Vater war Mitglied der jüdischen Gemeinde, gehörte jedoch zu den freigeistig Denkenden, die auf Assimilation setzten. Ihrer schwachen Gesundheit wegen bekam das Mädchen die meiste Zeit Privatunterricht. Schon früh verfaßte sie romantisch angehauchte Gedichte, die auf eine ausgeprägte Empfindsamkeit schließen lassen. Eine leidenschaftliche Liebe der 17-jährigen wurde vom Vater unterbunden. Das führte zu einer schweren psychischen Krise, die erklärt, warum Nelly Sachs einmal die „schon beschattete Blüte“ ihrer Jugend erwähnte2. Nach der Rückkehr aus dem Sanatorium ins Elternhaus führte sie resignativ das „vornehm-zurückgezogene Leben einer Tochter aus begütertem Hause“ 3. Ihre ganze Vorliebe in Literatur und Musik gehörte der Klassik und der Romantik. Vorbild in der Gegenwart war für sie in erster Linie die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf. Zum Literaturgeschehen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte sie so gut wie keine Beziehung. Bis 1933 die Hitlerdiktatur ihren verheerenden Verlauf nahm, hatte Nelly Sachs auch wenig verspürt vom latenten Antisemitismus in der Gesellschaft. Jetzt erst, unter dem Druck der politischen Verhältnisse, begann sie sich für die Wurzeln des Judentums zu interessieren. Vor allem durch die Schriften Martin Bubers wurde sie mit dem Chassidismus vertraut und fand darin mit der Zeit einen „lebendigen Zweig der universalen Mystik“ und „ein Judentum, das mit dem Leiden gleichbedeutend war“ 4. 296  

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Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten begann für Nelly Sachs ein „Leben unter Bedrohung“. So lautete auch der Titel eines Textes über ihre Erfahrungen in den Jahren bis zur Flucht 19405. Sie schreibt da unter anderem: „Zeit unter Diktat. Wer diktiert? Alle! Mit Ausnahme derer, die auf dem Rücken liegen wie der Käfer vor dem Tod“. Und weiter über ihre totale Isolation: „Meine Hand war eine Waise, verlernte den Gegendruck“. Nach einem Gestapoverhör litt sie, Folge der ausgestandenen Angst, mehrere Tage unter einer Kehlkopflähmung. Auch das hat sie festgehalten: „Fünf Tage lebte ich ohne Sprache unter einem Hexenprozeß. Meine Stimme war zu den Fischen geflohen. Geflohen ohne sich um die übrigen Glieder zu kümmern, die im Salz des Schreckens standen. Die Stimme floh, da sie keine Antwort mehr wußte und ,sagen‘ verboten war“ 6. Nelly Sachs gehörte zu den Letzten, die sich retten konnten. Kurz bevor das Auswanderungsverbot erlassen wurde, reiste sie mit ihrer Mutter am 16. Mai 1940 nach Schweden aus. Ohne diesen Flug in die Freiheit wäre eine der wichtigsten Stimmen deutscher Sprache von den braunen Mördern abgewürgt worden. Das Exil in Schweden gestaltete sich vor allem in materieller Hinsicht äußerst schwierig. Nelly Sachs lebte mit ihrer pflegebedürftigen Mutter in einer provisorisch eingerichteten Einzimmerwohnung. Zuerst mußte sie die Sprache ihres Gastlandes erlernen und anfangs als Wäscherin, dann als Übersetzerin arbeiten. Längere Zeit lebte sie an der Grenze des Existenzminimums. Aus dieser äußerst harten Anspannung heraus begann sie wieder zu schreiben. Ihre traditionsgebundenen Anfänge ließ sie dabei hinter sich. Mußte sie doch angesichts der ,Endlösung der Judenfrage‘ das Unsägliche der nationalsozialistischen Mordmaschinerie in Worte fassen. Sie hielt dazu schon 1943 fest: „die geliebtesten Menschen sind mir von der Seele gerissen in Polen dahingegangen, und da waren es einige Nächte, wo ich ihr Sterben fühlte oder vielmehr zerrissen wurde vor Schmerz“ 7. So entstanden die „Elegien von den Spuren im Sand“ und die „Grabschriften in die Luft geschrieben“. Die Dichterin verstand sich als „Heimatlose, die der Trauer um ihr Volk Ausdruck geben möchte“ 8. Sie „tritt“, wie Hans Magnus Enzensberger sagte, „ein für die andern und deren Sache; aus ihrem Mund spricht mehr als sie selbst“ 9. Der poetische Ausdrucksgestus wurde dadurch radikal verändert. Er verhärtete sich. Reim und Versbindung wurden aufgegeben. Eingedenkendes Erinnern kam so angemessen zu Wort. In der Sammlung „In den Wohnungen des Todes“ sind die zwischen 1940 und 1944 entstandenen Gedichte zusammengefaßt. Sie erschien durch die Initiative von Johannes R. Becher und Peter Huchel 1947 im Ostberliner Aufbau-Verlag. Zufrieden war die Autorin darüber, „daß die Gedichte dort sprechen dürfen, wo das Leid seinen Anfang nahm“ 10. Zu einer nennenswerten Resonanz im Gebiet der späteren Bundesrepublik kam es allerdings nicht. Erst ein Jahrzehnt danach wurde man dort auf diese neue Stimme aufmerksam. Mit der Publikation der Sammlung „Flucht und Verwandlung“ 1959 „In der Flucht“  

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in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart, die sechs Jahre zuvor auch Paul Celans „Mohn und Gedächtnis“ verlegt hatte, kam der Durchbruch für die Dichterin. Danach war ihr wachsender Ruhm nicht mehr aufzuhalten, bis dann die Verleihung des Nobelpreises sie auch international berühmt machte. Durch den Tod der Mutter 1950 wurde Nelly Sachs die Isolation ihres Lebens noch schmerzlicher bewußt. Sie äußerte dazu: „Ich fühle mich einsam verwaist auch im Bereich der Ausdrucksweise heutiger Dichtung. Ich ,glaube‘, soweit die Schwäche es mir erlaubt. Ich ,glaube‘ bis in alle Qualen, Schuldbewußtsein in allem und an allem. Und so ist alles, was ich schreiben muß, wie Atmen. Ich müßte ersticken, täte ich es nicht“ 11. Es folgten schwere Jahre mit Krankheit und psychisch lastender Verfolgungsangst und Todessehnsucht. Längere Aufenthalte in Kliniken und Nervenheilanstalten wurden erforderlich. Immerhin durfte sie die bewundernde Anerkennung jüngerer Schriststellerkollegen wie Alfred Andersch, Johannes Bobrowski, Hilde Domin, Hans Magnus Enzensberger, Peter Hamm, Hermann Kasack, Karl Krolow, Karl Schwedhelm sowie der von ihr übersetzten schwedischen Lyriker erleben. Besondere Freude bereitete ihr die Übersetzung einiger ihrer Gedichte ins Hebräische durch den Dichter David Rokeah. Bis zum bitteren Ende führte sie ihre dichterische Arbeit weiter und merkte dazu in einem noch unveröffentlichten Typoskript an: „Der Weg geht immer von außen nach innen. Auch in der Kunst. Am Ende ohne Leib nur Kraft, nur Wesen“ 12. Auf dieser Grundlage konnte sie die Zeichen des kosmischen Zusammenhangs der Welt für uns entschlüsseln und in dichterische Verwandlung übertragen. Dabei gelang es ihr, nicht einfach die Schwärze der Welt nachzuzeichnen, sondern ebenso ein mögliches transzendierendes Licht aufscheinen zu lassen. In dieser Überzeugung schrieb sie das Gedicht „In der Flucht“, wie sie in einem Brief an Hilde Domin unterstrich: „ganz aus innerster Dimension“ 13. Aus dem lyrischen Kosmos der Nelly Sachs ein Gedicht herauszulösen, ist nicht einfach. Dennoch sei es gewagt, weil in dem Beispieltext die Grundthematik von Flucht und Verwandlung angesprochen wird. Gemeint ist das Titelgedicht der 1959 veröffentlichten Sammlung „Flucht und Verwandlung“. Die Verse haben keine Überschrift. Für Nelly Sachs hatten sie besondere Bedeutung. Sie wählte nämlich gerade dieses Gedicht aus für den Vortrag bei der feierlichen Verleihung des Nobelpreises 1966 in ihrem Exilort Stockholm. Hier der Wortlaut: In der Flucht welch großer Empfang unterwegs – Eingehüllt 298  

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in der Winde Tuch Füße im Gebet des Sandes der niemals Amen sagen kann denn er muß von der Flosse in den Flügel 10 und weiter – Der kranke Schmetterling weiß bald wieder vom Meer Dieser Stein mit der Inschrift der Fliege 15 hat sich mir in die Hand gegeben – An die Stelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt – 14 Zum Titelgedicht für die Sammlung „Flucht und Verwandlung“ wurden diese 17 Verse durch den Anfangsvers und die beiden Schlußzeilen: „In der Flucht“ und „An die Stelle von Heimat / halte ich die Verwandlungen der Welt“. Sie geben den Rahmen ab für den in vier ungleich lange Strophen aufgeteilten Text (3 + 7 + 5 + 2 Verse). Eindeutig will die Autorin tradierten Formlösungen entgegenwirken. Deshalb praktiziert sie ,reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen‘ und gibt so dem Gedicht seine ganz eigene Form. Mit der „Flucht“ ist weit mehr angesprochen als bloß das persönliche Exil der Autorin. Gemeint ist zugleich das leidvolle Schicksal des jüdischen Volkes wie überhaupt aller Verfolgten. Aus Leid und Verhängnis der „Flucht“ heraus erwächst den Versen die Kraft, einen Sinn hinter den „Verwandlungen der Welt“ zu ahnen. „Das ist der Erde Vorstoß ins Freie“, heißt es hierzu in einem anderen Gedicht15. Nicht etwa ,Rettung‘ steht am Ende, vielmehr die ungewisse Erwartung einer „Fahrt ins Staublose“. So der Titel einer nachfolgenden Gedichtsammlung16. Mit der vielsagenden Metapher des „Staublosen“ ist der Austritt aus dem dieseitig-vergänglichen Weltzusammenhang gemeint, aus einer Welt des „Staubs“ also, die es angesichts des Sterben-Müssens zu verwandeln gilt, um sie dadurch überwinden zu können. Darin sah die Autorin die eigentliche Aufgabe des Menschen. Sie sagte sogar einmal: „den Staub zu durchseelen, ist eine Mission“ 17. Für diese essentielle Stufe des Seins im Wissen um den Tod fand sie das erhellende Bild des Suchens nach den „inneren Augenstraßen“ 18. Jene ,Straßen‘ führen – gemäß der Glaubenshaltung von Nelly Sachs – ins befreiende, von der Materie befreite „Staublose“. Daran unbedingt festhaltend, betonte sie stets, etwa gegenüber dem zweifelnden Freund Paul Celan, „In der Flucht“  

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ihren Glauben19. Ausdrücklichen Wert legte sie darauf: „Das Verwandlungsthema ist so etwas wie ein centraler Punkt geworden“ 20. Verwandlung bedeutet in ihrer Sicht wahre Gestaltwerdung, gerade über das Leben im „Staub“ hinaus. War es ihr doch wichtig, zu „In der Flucht“ festzuhalten: „Das Gedicht ist ganz auf ‚Verwandlung‘ gestellt. (…) Auf jeden Fall ist eine kosmische ‚Verwandlung‘ gemeint“ 21. Der Anfangsvers der ersten Strophe situiert den Text „In der Flucht“ (V. 1), also im Unterwegs-Sein der Heimatlosen. Damit ist das Leitwort für den Gesamttext ausgesprochen: „Flucht“. Das Initialwort „in“ überrascht insofern, als man normalerweise eine andere adverbiale Bestimmung erwarten würde – nämlich ,auf ‘ (,auf der Flucht‘). Nelly Sachs hat sich für eine zum Nachdenken zwingende Variante entschieden. Sie leistete damit eine aufschlußreiche Intensivierung, die dem Vers eine weitere und tiefere Perspektive eröffnet. „In der Flucht“ zu sein, ist etwas ganz anderes als ,auf der Flucht‘. Anstelle der einmalig erzwungenen Wegbewegung von einem vertrauten Ort kommt damit eine die ganze Existenz betreffende Umkehrung einer Lebenssituation und Lebenshaltung zum Ausdruck. Noch mehr überraschen die beiden folgenden Verse: „welch großer Empfang / unterwegs“ (V. 2/3). Darin äußert sich nämlich nicht etwa Freude und Erleichterung über einen angeblichen „großen Empfang“, den es gar nicht gab. Vielmehr wird mit schmerzlicher Ironie gerade das Fehlen eines über erste Hilfe hinausreichenden Verständnisses angemahnt22. Der wider Erwarten „unterwegs“ ausbleibende, menschlichen Anteil bezeugende „große Empfang“ kann lediglich als enttäuschte Hoffnung registriert werden. Somit erweisen sich „Flucht“ ins Freie und „Unterwegs“-Sein als Faktoren eines den Menschen voll herausfordernen Zustands der Bedrohung. Nicht ohne Grund heißt es in einem anderen Gedicht: „Wie viele Heimatländer / spielen Karten in den Lüften / wenn der Flüchtling durchs Geheimnis geht“ 23. Der Gejagte sieht sich so genötigt, aus dem heillosen Geworfen-Sein mit eigener Kraft das Beste für sich zu machen. Nelly Sachs hatte die gute gestalterische Idee, die landläufige Zeichensetzung hier zu verabschieden. Statt mit einen einfachen Punkt läßt sie den Satz der ersten Strophe – wie dann alle folgenden Sätze – mit einem Gedankenstrich auslaufen. Die außergewöhnliche Lösung hat doppelten Ausdruckswert. Sie zeigt zum einen an, wie groß die existentielle Herausforderung des aus dem „Staub“ der Welt Flüchtenden ist, zum andern, daß der Leser sich auf jedes Wort des Gedichts konzentrieren sollte. Danach können in der zweiten Strophe, der längsten im Text, die Lebensumstände des Menschen „in der Flucht“ genauer umrissen werden. Die Aufzählung beginnt mit dem Hinweis, daß der Flüchtling schutzlos jeder Witterung ausgesetzt ist: „Eingehüllt / in der Winde Tuch“ (V. 4/524). Selbstverständlich ist diese Metapher mehrdeutig. Sie meint nicht nur das atmosphärische Ausgesetzt-Sein, sondern 300  

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den hilflosen Zustand, den ,Boden unter den Füssen verloren‘ zu haben, wie der Volksmund diesen Zustand plastisch beschreibt. Sodann richtet sich der Blick auf die „Füße“ des Fliehenden. Wenn hierbei von „Füßen im Gebet des Sandes / der niemals Amen sagen kann“ (V. 6/7) gesprochen wird, so besagt diese komplexe Chiffre, daß nun die unmittelbare widerspiegelnde Realitätsebene verlassen und eine offenere, transzendierende Dimension gesucht wird25. Das Leitwort „Sand“ gehört zur Sachsschen Verwandlungsmetaphorik. Es taucht zuerst in der Sammlung „In den Wohnungen des Todes“ auf. Daraus stammt der Vers: „Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen / als ihr zum Sterben aufstehen mußtet?“ 26 Ähnlich konkret nachvollziehbare Wendungen finden sich in einer ganzen Reihe von Gedichten27. Mit der Zeit weitet sich jedoch der Worthorizont zur Metapher für das Land Israel, für Vergänglichkeit und Tod, oder auch, wie hier, für die Verunsicherung dessen, der „in der Flucht“ lebt und nicht einmal die zum Gebet nötige Ruhe findet. Weil seine gejagten „Füße“ mit dem betenden „Sand“ als dem Medium des Lichts28 in ewiger Wanderschaft hin und her geweht werden, kann er „niemals Amen sagen“, also sein Gebet nicht zu Ende führen. Welch sehnsuchtsvoll-visionäre Zielsetzung für die Dichterin dahinter steckt, zeigen die folgenden Verse aus den „Glühenden Rätseln“: „ich kann euch nur suchen / wenn ich den Sand in den Mund nehme / um dann die Auferstehung zu schmecken“ 29. Wir stehen vor dem weiten Raum ihres „unsichtbaren Universums“ 30. Beda Allemann hat mit Recht darauf hingewiesen: „dergleichen ist nicht Ausflucht ins Mythisch-Ungenaue, sondern Universalisierung des Aktuellen“, Ausfluß der „konkreten Leid- und Flucht-Erfahrung“ 31. Aber der Weg des Flüchtlings ist noch mehr erschwert, „denn“, so heißt es weiter in der Strophe, „er muß / von der Flosse in den Flügel / und weiter“ (V. 8–10). Damit kommt verstärkt das Zwanghafte der Flucht zur Sprache, nicht etwa im Sinne von „Metaphern des Flüchtigen“, wie Horst Bienek mutmaßte32, sondern durch Bilder des Leidens und des Strebens nach Verwandlung, Bilder demnach der Umdeutung. Die offenkundige bedeutungsmäßige Ausweitung der Metaphern von „Flosse“ und „Flügel“ erbringt die nötige Information. Die Autorin sieht im „Weltall der Sehnsucht“ die Energie, welche „in der Raupe schon dunkel verzaubert / die Flügel spannt“ und „mit den Flossen der Fische / immer den Anfang beschreibt“ 33. Grundfalsch ist es, hier ein „Geheimsystem von Verschlüsselungen“ zu unterstellen34. Es handelt sich im Gegenteil um leitmotivische Bedeutungsfelder im Gesamtwerk der Dichterin, um Schlüsselwörter, um Zeichen poetischer Transformation. Allesamt verweisen sie auf transzendierende Verwandlung und Entgrenzung. Die „Flosse“ ist Teil der von Nelly Sache häufig gebrauchten „Fisch“-Symbolik. Dabei erscheint der Leidende an anderer Stelle als „gekreuzigter Fisch“ 35, so daß Leiden, Tod und Verstummen in diesem Bildfeld zusammenfließen. Aus dem Kontext „in der Flucht“ ergibt sich zwingend, daß die „Flosse“ die erste Station des dem Flüchtling auferlegten Leidens„In der Flucht“  

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weges darstellt. Sie geht direkt über in die zweite Station („von der Flosse in den Flügel“). Verbindet die Autorin bereits mit dem Fisch die Vorstellung eines „Engels der Tiefe“ in der „Mirakelstummheit“ 36, hat der „Flügel“ noch deutlicher entgrenzende Funktion im Sinne des Verses vom „staubgeflügelten Sternbild der Flucht“ 37. Mithin geht es für den Fliehenden um die Befreiung von der „Staub“-Verfallenheit. So ist es nur schlüssig, daß die im Werk auftauchende Formulierung vom „Schulternschmerz der Flügel“ 38 unmittelbar die Erscheinung eines Engelsbilds evoziert. Man denkt sogleich an das Bild des „versteinerten Engels“, der, „noch von Erinnerung träufend“, zu Beginn eines Gedichts dasteht39. Engelsgleiche Stationen sind mithin ebenfalls die durch Stabreim in enger Verbindung stehenden Symbole „Flosse“ und „Flügel“. Sie weisen den Weg aus der „Flucht“, allerdings ohne Schlußgeste. Ein erster Durchblick ist erreicht. Aber die Wanderung geht weiter. Die adverbiale Bestimmung „und weiter“ zeigt an, daß zwar die Verwandlung im Gange ist, die Unendlichkeit aber noch in weiter Ferne liegt. Zur „Flucht“ gehört eben diese Vorläufigkeit. Mit den Worten der Nelly Sachs: „Asche im Mund – die Augen erblindet vom Hiersein – und das Universum der Unsichtbarkeit – nur mit den Gestirnen der Seele“ 40. In gewisser Weise führt die dritte Strophe die Bestimmung der Lebenssituation des Flüchtlings weiter. Sie ist aus zwei Sätzen zusammensetzt. Der erste Satz greift mit dem „Schmetterling“ die schon in Vers 9 angesprochene „Flügel“-Metapher auf.: „Der kranke Schmetterling / weiß bald wieder vom Meer“ (V. 11/12). Wir stoßen damit auf die „zentrale Tier-Metapher“ 41 der Nelly Sachs. Sie ist, wie es im Gedicht „Die Tänzerin“ heißt, „der Verwandlung sichtbarstes Zeichen“ 42. In der Tat versinnbildlichen die Metamorphosen von der Raupe über die Puppe zum Schmetterling die transzendierende Konzeption der Dichterin auf schönste Weise. Sie folgt dabei der antiken Vorstellung, die im Schmetterling sowohl die Seele als auch die Verwandlung im Zeichen von Jenseitserwartung und Wiedergeburt symbolisiert sah. Der noch „kranke Schmetterling“ muß erst gesunden, um sich entfalten zu können. Die Genesung bringende Kraft verheißt das „Meer“ als entgrenzenden Gegenpol zum „Staub“. Wer bewußt „in der Flucht“ lebt, „weiß bald wieder vom Meer“ und kann sich dadurch von der Staubverfallenheit befreien. Das Terrestrische lähmt dann nicht mehr den „Fuß, der fliegen will“ 43. Für den so erlösten Flüchtling gelten die allen Ausgesetzten zugedachten Verse: „Bereit das letzte Schwermutgewicht / im Koffer zu tragen, diese Schmetterlingspuppe, auf deren Flügeln sie die Reise einmal / beenden werden“ 44. Nelly Sachs war davon überzeugt, daß diese Reise nicht mit dem Tod endet, sondern zu verwandelnder Wiedergeburt führt. Nebenbei ist an den aus anderen Texten angeführten Zitaten zu ersehen, wie eng ineinander verzahnt die Gedichte der Nelly Sachs sind, und vor allem wie sie sich wechselseitig erhellen. Der folgende Satz bildet den zweiten Teil der dritten Strophe: „Dieser Stein / mit der Inschrift der Fliege / hat sich mir in die Hand gegeben“ (V. 13–15). Erneut legt 302  

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uns die Dichterin eine signifikante Bezugsmetapher vor. Hier ist es der „Stein“ mit der eingeschlossenen „Fliege“. Das Bild erschließt sich unschwer als Chiffre für die Sehnsucht nach Fortsetzung einer brüsk unterbrochenen Lebens- und Verwandlungsdynamik. Erst an dieser Stelle wird die enge persönliche Verbindung des Flüchtlings mit der exilierten Dichterin als lyrischem Ich offenbar. Sie selbst hält gewissermaßen den „Stein“ der Sehnsucht in Händen. Er erlaubt es ihr, die Sehnsucht in Sprache zu übertragen, ja überhaupt die nötige Luft zum Atmen und damit zum Weiterleben zu finden. Wie intensiv durchlebt ihre Gedichte sind, kann man daran leicht ermessen. Danach schließt sich in der vierten Strophe der Rahmen des Gedichts: Mit den beiden Endversen „An Stelle von Heimat / halte ich die Verwandlung der Welt“ (V. 16/17) schlägt die Autorin den Bogen zurück zum Eingangsvers: „in der Flucht“. Dem Flüchtling geht der tiefere Sinn hinter der erfahrenen „Verwandlung der Welt“ auf. Horst Bienek sah in der verloren gegangenen „Heimat“ mehr eine „ganz private Assoziation (…) an die Kindheit, an das Zuhause als den letzten Ort der Beständigkeit“ und in der „Verwandlung der Welt“ lediglich den „Weg zur ,Verwandlung‘“ 45. Das schwächt die Bedeutung dieses persönlichen Bekenntnisses unnötig ab. Keine individuelle Klage wollte die Dichterin. Der Gedichtschluß ist substantieller und prinzipieller angelegt. Er meint jede „Heimat“ und jede existentielle „Verwandlung“. Ebenso wenig kann auch die von Ehrhard Bahr vorgeschlagene Deutung genügen, Nelly Sachs meine hier „die Summe aller Fluchten Israels vom Auszug aus Ägypten bis zur Gegenwart“ und die „Vorstellung der Seelenwanderung in der jüdischen Mystik“ 46. Nelly Sachs wollte ihre Aussage in diesem Gedicht nicht allein auf das jüdische Schicksal beschränkt sehen. Ihre eigenwillige Symbolik läßt sich nicht auf eine einseitige Tradition festlegen. Insofern ist der von Paul Konrad Kurz erwähnte Zusammenhang mit dem „Stirb und werde!“ Goethes weit eher überzeugend47, obschon dabei zeitbedingt die wesentliche Komponente der Holocaust-Erfahrung bei Nelly Sachs unberücksichtigt bleibt. Immerhin erfaßt Kurz damit genau das für Goethe wie für Nelly Sachs gültige Konzept, dem unvermeidlichen Sterben den festen Willen eines gewandelten Werdens entgegenzusetzen. Damit offenbart uns die Dichterin, daß es darauf ankommt „Immer wieder Sterben zu lernen / am alten Leben“ 48.

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Anmerkungen 11 Brief an Walter A. Berendsohn vom 22.1.1959; zit. n.: Briefe der Nelly Sachs. Hrsg. v. Ruth Dinesen und Helmut Müssener. Frankfurt/M. 1984, S. 12 f. (Sigle: Dinesen/Müssener). 12 Ebd., ibid. 13 Sager, Peter: Nelly Sachs. Untersuchungen zu Stil und Motivik ihrer Lyrik. Bonn 1970, S. 17 (Sigle: Sager). 14 Holmqvist, Bengt (Hrsg.): Das Buch der Nelly Sachs. Frankfurt/M. 1968, S.38 (Sigle: Holmqvist). 15 Diese einzige zu Lebzeiten von Nelly Sachs erschienene Prosaschrift wurde erstmals 1956 in der Zeitschrift „Ariel“ (Heft 3, S. 19) veröffentlicht. 16 Sachs, Nelly: Leben unter Bedrohung. In: Walter A. Berendsohn: Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals. Darmstadt 1974, S. 9–12; Zitate: S. 9 f. (Sigle: Berendsohn). Vgl. hierzu auch die Verse aus der Sammlung „Glühende Rätsel“: „Als der große Schrecken kam / wurde ich stumm - / Fisch mit der Totenseite / nach oben gekehrt“ (Suche nach Lebenden. Die Gedichte der Nelly Sachs. Hrsg. v. Margarethe und Bengt Holmqvist. Frankfurt/M. 1971, S. 50; Sigle: SnL). 17 Brief an Walter A. Berendsohn vom 12.9.1944; zit. n.: Dinesen/Müssener, S. 41. 18 Brief an Moses Pergament vom 5.8.1943; zit. n.: Dinesen/Müssener, S. 33. 19 Enzensberger, Hans Magnus: Nachwort. In: drs. (Hrsg): Nelly Sachs. Ausgewählte Gedichte (= es 18). Frankfurt/M. 1963, S. 85. 10 Brief an Curt Trepke vom 10.10.1946; zit. n.: Dinesen/Müssener, S. 70. 11 Brief an Albrecht Goes vom 16.7.1951; zit. n.: Dinesen/Müssener, S. 130. 12 Selg, Peter: ,Alles ist unvergessen‘. Paul Celan und Nelly Sachs. Dornach 2008, S. 137. 13 Domin, Hilde (Hrsg.): Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische Gedicht zwischen Autor und Leser (= Fischer Bücherei 1060). Frankfurt/M. 1969, S. 114 (Sigle: Domin). 14 Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs. Frankfurt/M. 1961, S. 262 (Sigle: FS). 15 FS, S. 160 („Das ist der Flüchtlinge Planetenstunde“, V. 15). 16 Zur Formulierung „Fahrt ins Staublose“ s. auch: FS, S. 331 („Wer von der Erde kommt“, V. 18). 17 Brief an Walter A. Berendsohn vom 30.10.1957; zit. n.: Dinesen/Müssener, S. 173. 18 Der Vers lautet: „suchend die inneren Augenstraßen“; FS, S.  331 („Wer von der Erde kommt“, V. 14). 19 Vgl. hierzu das Gedicht Celans „Zürich. Zum Storchen“ (GW I,214). 20 Brief an Karl Schwedhelm vom 2.7.1958; zit. n.: Schwedhelm, Karl: Nelly Sachs. Briefwechsel und Dokumente. Hrsg. von Bernhard Albers (= Gesammelte Werke, Bd. 6). Aachen 1998, S. 10. 21 Domin, S. 114. 22 Bahr hat diese Ironie offenbar nicht bemerkt, denn er sieht in den Versen tatsächlich „das unerwartete Erlebnis des Gegenteils“, nämlich „Befreiung von Gefahr“ und wirklichen „,großen Empfang‘“ (Bahr, Ehrhard: Nelly Sachs (= Autorenbücher 16). Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnols und Ernst-Peter Wieckenberg. München 1980, S. 99; Sigle: Bahr).

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23 FS, S. 313 („Wie viele Heimatländer“, V. 1–3). 24 Im Gedicht „Und überall der Mensch in der Sonne“ findet sich die fast synonyme Formulierung: „das Vier-Winde-Tuch“ (FS, S. 288, V. 18; ebenso in „Das Meer“ (SnL, S. 84, V. 5). 25 Vgl. hierzu die Verse aus der Sammlung „Und niemand weiß weiter“: „Da du / unter dem Fuß dir / das staubbeflügelte Sternbild der Flucht gebarst“ (FS, S. 157, V. 1–3). 26 FS, S. 11 („Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen“, V. 1/2). 27 Vgl. hierzu: Sager, S. 113. 28 „Licht wird aus Sand“, heißt es im Gedicht „Die Tänzerin“ (FS, S. 37, V. 10). 29 Sachs, Nelly: Glühende Rätsel. Gedichte, Teil I und II. (= IB 825). Frankfurt/M. 1964, II, S. 189. 30 So die Formulierung Berendsohns (Berendsohn, S. 119). 31 Allemann, Beda: Hinweis auf einen Gedichtraum. In: Holmqvist, S.  291–308; Zitate: S.292 und 299. 32 Bienek, Horst: In der Flucht. In: Domin, S. 115.118; Zitat: S. 116. 33 FS, S. 140 („Wohin o wohin“ , V. 3–6). 34 Kersten, Paul: Die Metaphorik in der Lyrik von Nelly Sachs. Mit einer Wort-Konkordanz und einer Nelly-Sachs-Bibliographie. Hamburg 1970, S. 357. 35 FS, S. 244 („Im blauen Kristall“, V. 18). 36 FS, S. 45 und 338 („Die Ertrunkene“, V. 4 und „Ich weiß nicht mehr“, V. 5) sowie FS, S. 107 („Israel“, V. 9). 37 FS, S. 157 („Da du“, V. 3). 38 FS, S. 364 („Zeit der Verpuppung“, V. 4). 39 FS, S. 345 („Der versteinerte Engel“, V. 1/2). 40 Berendsohn, S. 12. 41 Sager, S. 139. 42 FS, S. 37 („Die Tänzerin“, V. 6). 43 FS, S. 17 („Erde, Planetengreis“, V. 1/2). Dort lautet der Anfang: „Erde, Planetengreis, du saugst an meinem Fuß, / der fliegen will“. 44 FS, S. 186 („Bereit sind alle Länder“, V. 8–11). 45 So Bienek: Domin, S. 117 und 115. 46 Bahr, S. 101 und 102. 47 Kurz, Paul Konrad: Fahrt ins Staublose. Die Lyrik der Nelly Sachs. In: drs.: Über moderne Literatur. Standorte und Deutungen. Frankfurt/M. 1967, S. 226–249; vor allem S. 241. 48 SnL, S. 19 („Immer wieder neue Sintflut“, V. 6/7).

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„Steinschlag“ (1968)

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erjagt aus dir selber, entweichst du dir nicht“ – mit dieser beklemmenden Feststellung beginnt ein von Celan im Oktober 1968 während der Fahrt an die französische Mittelmeerküste verfaßtes Gedicht1. Der Vers umreißt treffend die verfinsterte Lebenssituation des Dichters in den Jahren vor seinem Freitod. Er hatte unter beunruhigenden Krankheitsschüben in Gestalt fortschreitender Symptome einer endogenen Psychose zu leiden und mußte deshalb ständig um die Erhaltung der existentiellen Identität und die Fortdauer seiner poetischen Arbeit kämpfen. Nach einem Selbstmordversuch am 30. Januar 1967, bei dem ein Messerstich nur knapp das Herz verfehlte, konnte durch eine Not­operation an der schwer verletzten linken Lunge sein Leben gerettet werden. Doch mußte er in den beiden Folgejahren fast die Hälfte der Zeit in Kliniken verbringen2. Außerdem wurden ihm danach regelmäßige Kontrollen und Medikamentationen in einer ‚sozialhygienischen Ambulanz‘ auferlegt. Wahrlich eine höllische Anspannung. Es war geradezu ein Euphemismus, wenn Celan einmal bemerkte: „Ich habe nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten mit mir (…) tagauf, tagab“ 3. Hinzu kam die unausweichliche Trennung von seiner Familie. Seit November 1967 lebte er allein in einer dürftig möblierten Einzimmerwohnung in der Rue Tournefort, unweit seiner Arbeitsstelle, der Ecole Normale Supérieure (ENS). Um dem traurigen Ambiente dieser Behausung zu entrinnen, unternahm er so oft wie möglich Reisen nach Deutschland und in die Schweiz, nach London und Südfrankreich, schließlich im Herbst 1969 noch nach Israel. Soweit er dazu gesundheitlich in der Lage war, kam er der Unterrichtsarbeit als Lektor an der Ecole Normale nach. Beachtlich bleibt, wie er unter den extrem belastenden Umständen fortgesetzt Gedichte schreiben konnte. Während dieser Zeit erschien nicht nur sein erster Gedichtband im Suhrkamp-Verlag („Atemwende“). Vor allem entstanden damals, neben etlichen unveröffentlicht bleibenden Gedichten, die bald nach Celans Tod erscheinenden, von ihm noch zusammengestellten Sammlungen „Lichtzwang“ und „Schneepart“. Aus den dort versammelten poetischen Texten, von denen der Autor sagte, er habe sich darin „ausgeschmerzt“ 4, erklingt ein ganz anderer Ton als zuvor, so daß er sich, wie er notierte, „in ein neues Sprachgeschehen“ hineingerissen fühlte5. Er selbst bezeichnete die „kompakte Diktion“ als Merkmal jener Verse im Zeichen der Reduktion und stufte sie sogar ein als „wohl das Stärkste, Kühnste, das ich geschrieben habe“ 6. Wie 306  

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er zu dieser Einschätzung kommen konnte, läßt sich am besten am Objekt, also am konkreten Text ermitteln. Ein Beispiel unter vielen sei herausgegriffen. Mitten in dieser für Celan bedrückenden Lebensphase entstand am 10. August 1968 – zeithistorisch einzuordnen zwischen dem ‚Pariser Mai‘ und dem Ende des ‚Prager Frühlings‘7 – das Gedicht „Steinschlag“. Es kann als Musterfall der erwähnten „kompakten Diktion“ wie dann ebenso der anhaltenden schöpferischen Kraft Celans gelten. In der Sammlung „Schneepart“ gehört dieser Text zum fünften, den Schluß bildenden Teil. Er lautet wie folgt: Steinschlag hinter den Käfern. Da sah ich einen, der log nicht, heimstehn in seine Verzweiflung. 5

Wie deinem Einsamkeitssturm glückt ihm die weit ausschreitende Stille. 8

Gezielt bewegt Celan sich jenseits traditioneller Metrik. Zwei ‚Strophen‘ verteilen sich auf jeweils drei ‚Verse‘. Infolge der eigenwilligen Zeilenbildung, die in erster Linie auf Wortgruppen abhebt, ergibt sich, hauptsächlich durch den syntaktischen Impuls des Enjambements, für die Sprachbewegung des Textkomplexes eine rhythmisch getragene Dynamik, ein insgesamt sehr besonderer ‚Wort-Laut‘. Die freie metrische Rhythmisierung lebt von der plastischen Konfiguration einer durchgängigen Bedeutungslinie der fünf konstitutiven Substantive: „Steinschlag“ – „Käfer“ – „Verzweiflung“ – „Einsamkeitssturm“ – „Stille“. Aus ihrer Wortdynamik erwächst die innere Sprachform der auf drei unterschiedlich lange Sätze verteilten sechs ‚Verse‘. Sie gliedern den Text in eine dreifach gestufte Zeilenfolge: V. 1 (I a: ein Vers) + V. 2/3 (I b: zwei Verse) + V. 4–6 (II: drei Verse). Inhaltlich geht es um eine komplex angelegte existentielle Sprachreflexion des lyrischen Ichs, um Selbstsuche und Selbstbegegnung. Es wird sich nun darum handeln, die bedeutungsmäßige Spannung des Gedichts interpretierend nachzuvollziehen. Das neuerdings vorliegende „Celan-Handbuch“ kann dabei nur wenig weiterhelfen9. Und auch die auszumachenden Interpretationsansätze gelangen über Umschreibungen einzelner inhaltlicher Elemente nicht hinaus10. Allein die allmähliche Erschließung, Wort für Wort, erlaubt einen vertretbaren Zugang. Das soll nun versucht werden. Eine ausdrucksstarke Metapher wird zum titelgebenden Initialwort: „Steinschlag“. Die Wahl eines überraschenden Bildes durch den Autor konfrontiert den Leser mit bedrohlich herabstürzenden Stein- oder Felsformationen, mürbem Gestein also, „Steinschlag“  

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das sich infolge von Verwitterung oder Abspaltung loslöst und dabei die Dimension eines Felssturzes annehmen kann. Der elementare geomorphologische Vorgang potenziert gleichsam die dem ‚Stein‘ zugeschriebene Härte zum gewaltigen ‚Schlag‘. Mit dem bloßen Wort „Steinschlag“ wird alles bisher für unverrückbar Gehaltene aufgesprengt. Die Ausdrucksenergie dieses Wortes machte sich Celan schon zehn Jahre früher im Gedicht „Sommerbericht“ zunutze11. Interessanterweise gibt es im Werk außerdem weitere metaphorische ‚Vorstufen‘. In der Sammlung „Die Niemandsrose“ findet sich der Vers: „Was geschah? Der Stein trat aus dem Berge“ 12. Ebenso taucht unter verschiedenen Aphorismen vom Anfang der fünfziger Jahre die folgende spannungsreiche Metapher auf: „Die Felswand, – durchwuchtet vom Tosen des Ozeans“ 13. Die Bedeutung von „Stein“ und „Fels“ oszilliert demnach zwischen durchaus positiver Ausrichtung und „negativer Härte des Bestehenden“ 14. Keineswegs bedeutet das eine Absage Celans an semantische Eindeutigkeit. Vielmehr geht es ihm um eine metaphorisch sich erschließende Lebens- und Sprachreflexion im Sinne von Hegels „Fließen der Begriffe“ 15. In genauer Mehrdeutigkeit faßt er dadurch den wesentlichen Moment, in dem die elementare Gewalt des „schlag“-artig sich öffnenden16 „Steins“ in einen freien Raum tief verändernder Existenzmöglichkeit übergeht. Im versinnlichenden Kompositum „Steinschlag“ erweist sich – parallel zu Celans Vorstellung einer, wie er betont, „vor-/springenden Seele“ 17 – diese unvorhergesehene Aufsprengung als ein produktiver „Zusammenhang von Seelenund Lichtvorstellungen“ 18. Ein erhelltes Bewußtsein erfährt eine bruchartige Umwandlung, eine radikale Ablösung vom Vertrauten, die freilich auch Ausgesetztsein und Vereinzelung nach sich zieht. Ein derartiger „Steinschlag“ kehrt alles um. Nicht umsonst betonte Celan in der „Meridian“-Rede bei der Verleihung des BüchnerPreises: „wir sind weit draußen“. Er meinte damit den Ort, den „das Gedicht sucht“ 19. Dorthin bringt ihn und gleichermaßen uns der durchaus programmatisch zu verstehende „Steinschlag“. In Bildern Celans ausgedrückt: Wo zuvor lediglich „Zeitstaub“ war, kann unter dem Eindruck dieser Erfahrung der weitere Weg zu „Sonnen-“ und „Herzbahnen“ führen20, will sagen: zur überwindenden Annahme außen wie innen erfahrener „Verzweiflung“ (V. 3), die sich in „ausschreitender Stille“ (V. 6) wieder zu fassen vermag. Allerdings bedarf es hierzu eines mühevollen Sich-Frei-Schaufelns der eigenen Bahn nach dem erfolgten „Steinschlag“. Doch nun zum weiteren Text des ersten Satzes und Verses: „hinter den Käfern“. Die überleitende Präposition („hinter“) soll die Beziehung zwischen beiden Substantiven klären. Konkret geht es sowohl um eine räumliche wie auch um eine kausale Bestimmung. Wir erfahren nämlich, daß der „Steinschlag“ „hinter den Käfern“ niedergeht und diese somit, vom Sprechenden her gesehen, durch den Felssturz abgetrennt sind. Er hat sie, wortwörtlich, hinter sich gelassen. Wie gleich zu belegen sein wird, ist gerade die von den „Käfern“ isolierte Position für das Textverständnis 308  

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besonders wichtig. Wer oder was aber sind die „Käfer“? Darüber gibt es mancherlei Mutmaßungen bis hin zu den Maikäfer-Träumen Freuds und Kafkas21. Derlei lenkt indes nur unnötig ab vom Text. Ohnehin taucht die gleiche Käfer-Metapher auch schon ein Jahr zuvor in der Sammlung „Lichtzwang“ auf. Dort findet sich der verblüffende Vers: „Hinter frostgebänderten Käfern“ 22. Die offenkundige Parallele zeigt, wie sehr dem Autor gerade an diesem Motiv gelegen war. Als Erste hat Barbara Klose 1986 darauf hingewiesen, daß Celan im ‚Spätwerk‘ (er war ja noch nicht fünfzig!) nicht selten auf Wortprägungen naturwissenschaftlicher Provenienz zurückgriff23. Sie belegt das mit Bildern und Begriffen, die unzweifelhaft auf die Beschäftigung mit dem Werk des französischen Insektenforschers Jean-Henri Fabre24 zurückzuführen sind. Allerdings stellt sie in ihrer Entdeckerfreude einen zu kurzschlüssig-direkten Zusammenhang her zwischen dem Celanschen Bild der „frostgebänderten Käfer“ und Fabres winterlichen Versuchen mit Prozessionsspinnern sowie dessen Beschreibung der „gebänderten (!) Spinne“ 25. Sicher ungewollt engt sie dadurch das vom Autor innovativ eröffnete poetische Assoziationsfeld ein. Denn die kontextuelle Situierung ergibt den entschieden weiter ausholenden Satzkern „hinter frostgebänderten Käfern / ballert das fahrende / Leuchtglück. Bedenkt man, daß Celan diese Verse, seiner mentalen Krankheit wegen, im Zustand äußerster psychischer Anspannung schrieb26, wird einsichtig, wie sehr er das hier angesprochene „Leuchtglück“ als irritierenden, ja verunsichernden Schein und insofern als Lüge auffassen mußte. Demzufolge nimmt das Bild der „frostgebänderten Käfer“ eine unverkennbar negative Bedeutungsdimension an. Ihr detailliert nachzugehen, würde indes den Rahmen dieser Interpretation sprengen, weil zudem ein weiterer intertextueller Zusammenhang einzubeziehen wäre. Denn als Verehrer Kafkas war Celan natürlich eng vertraut mit dem Anfangssatz der Erzählung „Die Verwandlung“: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ 27. Wie bei Kafka tritt jedoch auch bei ihm der materielle Bildbezug weithin zurück zugunsten der poetischen Gesamtstruktur des Textes. Deshalb braucht derlei den Interpreten nicht vorrangig zu beschäftigen. Wesentlich ist in erster Linie die den „Käfern“ – nicht ohne eine gewisse ironische Pointe – zuzusprechende Negativität28. An anderer Stelle attackiert der Dichter Verwandte der Käferexistenzen als den „oben flutenden Mob der Gegengeschöpfe“ 29. Verdeutlichend kann man ihnen allen ohne weiteres den gleichen Stellenwert zusprechen wie der Niedertracht („l’infâme“) bei Voltaire, den Fliegen bei Sartre oder der Pest bei Camus30. Hierzu erweist sich ein genereller Wink im „Celan-Handbuch“ als nützlich. Demzufolge sind die Insekten im Werk in der Regel „mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet“ 31. Nicht selten werden dabei pervertierte, defizitäre Existenzen evoziert, deren Tun Lüge, Häme, Gewalt, „Verrat und „Steinschlag“  

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Verwesung“ 32 entspringt. Ihnen gilt die prinzipielle Ablehnung des Autors. Weil sie eine intakte Welt verunmöglichen, will er sich ihnen unbedingt entziehen. Sagte er doch mit Nachdruck, und das wendet sich genauso gegen die „Käfer“: „Mich hält hier nichts, // nicht die Nacht der Lebendigen, / nicht die Nacht der Unbändigen, / nicht die Nacht der Wendigen“ 33. Insofern verschafft ihm die durch den „Steinschlag“ zu den „Käfern“ gefundene Distanz existentiellen Gewinn. Schwerlich können demnach die Koleoptéren mit ihren harten Hautpanzern (übrigens die größte existierende Tierordnung überhaupt), als „vertraute und treue Begleiter“ aufgefaßt werden34. Erst „hinter den Käfern“, also nach dem sie abtrennenden „Steinschlag“, kann der Umschlag zum Wahren hin erfolgen. Es dürfte danach einleuchten: Der erste Vers – zugleich der Anfangssatz – setzt den alles bestimmenden atmosphärischen Rahmen für die nachfolgende Aussage. Im zweiten Vers nimmt der Autor dann sogleich die fällige personale Zuordnung vor. Das sich mitteilende Ich begegnet mit seiner poetischen Verlautbarung dem Leser. Daß es Celan selbst ist, der die dialogische Kommunikation sucht, kann keinem Zweifel unterliegen. Spürbar ist das Gedicht in hohem Maße Selbstbegegnung, Selbstanrede, Selbstreflexion und Selbsterkenntnis. Wir haben es mithin mit einer komplexen Verschränkung von Ich und Du zu tun. Vor allem das personal und possessiv eingesetzte Pronomen „deinem“ (V. 4) unterstreicht die ebenso auf den Autor als den hier Sprechenden wie auf jeden Leser bezogene Funktion. Aus der Zwischensphäre des Raumes „hinter den Käfern“ teilt Celan sich, vom Ballast befreit, als Dichter mit. Was er dort gesehen hat, wird sogleich in seiner Besonderheit hervorgehoben: „Da sah ich einen“ (V. 2). Mit der hier vorgenommenen temporalen und räumlichen Bestimmung situiert er das Geschehen in der Vergangenheit. Die Einstufung ins Präteritum klärt, daß der lyrische Bericht die im ersten Vers geschilderten Vorkommnisse als bereits vollzogen voraussetzt. Die verbale Prädikation führt das Auge als „physiognomisch ‚sprechendes‘ Körperelement“ 35 ein. Das dergestalt aufgewertete Sehorgan erfaßt die Realität hinter der Realität, erschließt sie damit dem Dichter als einem speziell beglaubigten Zeugen des Weltprozesses. Denn die Wirklichkeit war in seiner Sicht etwas Anderes als deren nur scheinhaftes äußeres Er-,scheinungs‘-Bild. Wie um dies zu unterstreichen, heißt es darum im letzten Gedicht Celans: „die Offenen tragen / den Stein hinterm Aug“ 36. Wichtig für das Textverständnis ist, was (oder genauer wer) dem dergestalt „Offenen“ nach dem erfolgten „Steinschlag“ vor Augen kommt. Sehr unpersönlich wird zunächst lediglich angedeutet, daß es „einer“ ist, den der Sprechende sieht. Wer jedoch mit diesem unbestimmten Pronomen gemeint ist, bleibt vorderhand offen. Ein oberflächlich Lesender könnte die Zuschreibung auf die „Käfer“ im Satz davor beziehen und vermuten, ein besonderer Angehöriger dieser kriechenden Spezies werde herausgehoben. Davon kann jedoch keine Rede sein. 310  

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Eindeutig richtet sich der Blick des Autors auf einen Mitmenschen, in dem er sich wiedererkennen kann, einen wahren Mit-Menschen. Die Voraussetzung dafür offenbart der präzisierende Relativsatz: „der log nicht“ (V. 2). Wahrheit hatte für Celan höchsten Stellenwert. Von der Kehrseite des Wahren sagt er: „Ich sehe das Gift blühn. / In jederlei Wort und Gestalt“ 37. Wenn einer nicht lügt, bekräftigt er für den Sprechenden damit den ihm eigenen inneren Wert. Über diese radikal gegen das Lügnerische gewandte Einstellung gelangt die lyrische (Selbst-)-Reflexion zum entscheidenden Punkt. Mit scharfem Blick durch-schaut der Beobachter die Realität einer verkehrten Welt, an der man nur verzweifeln kann. „Verzweiflung“ ist das Resultat erkannter Ohnmacht. Sie erzwingt im Bewußtsein des Verzweifelten den Aufbau eines Gegen-“Reiches“, wo, wie es im Gedicht vom „Stundenglas“ heißt, „du versandend verhoffst“ 38. Dort, in extremster „Verzweiflung“, findet der Dichter seine ganz persönliche Heimstatt als einer, der ohne Lüge ist. Deshalb kann er von dem „Einen“, den er beobachtet, sagen, er habe ihn „heimstehn“ sehen „in seine Verzweiflung“ (V. 3). Absichtsvoll ist dieser Teilsatz als selbständiger Vers ausgewiesen. Doch hält die syntaktische Spannung des Zeilensprungs die Aussage des Satzganzen zusammen. Weil sich darin der Bericht von jenem „Einen“ offenkundig mit auktorialer Selbstreflexion überlagert, gewinnt der tiefe Begriff des „Heimstehns“ eine persönliche Dimension. Hierzu wirkt ein Seitenblick auf das Gedicht „Stehen“ erhellend. Der vielen werkimmanenten Bezüge in den Gedichten Celans wegen empfiehlt es sich ohnehin, so zu verfahren. Dort also lesen wir: „Stehen, im Schatten / des Wundenmals in der Luft. // Für niemand- und nichtsStehn. / Unerkannt, / für dich / allein“ 39. In gewisser Weise ist demnach das „Heimstehn“ ein Selbstzitat, eine Art Leitwort im Celanschen Kosmos. Standhalten in der „Verzweiflung“ wurde für ihn, hauptsächlich in den letzten Jahren äußerster existentieller Gefährdung, zum Lebensprogramm40. Angesichts eines Abgrunds steigert der Neologismus Intention und Qualität des „Stehens“ und Widerstehens zum entfremdeten ‚Daheim-Sein‘. Solches „Heimstehn“ – noch dazu intensiviert durch die akkusativisch eingesetzte Präposition („in“) im Verein mit dem beigefügten Possessivpronomen („seine“) – hat viel zu tun mit der Auffassung Celans vom Dichten. Er entdeckt in dem „Einen“, wie richtig bemerkt wurde, „eine Schicksalsgemeinschaft“ 41. Bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre notierte Celan den grundlegenden Satz: „Die Heimat des Dichters ist sein Gedicht“ und unterstrich dabei die notwendige Loslösung vom „Abgrund der Hoffnung“ 42. Celans „Heimstehn“ eröffnet somit den Weg zur konsequenten Entfaltung und möglichen Verwirklichung seiner in der „Meridian“-Rede an den Künstler erhobenen Forderung: „Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein“ 43. Nur darf dabei nie vergessen werden, daß der Schluß der ersten Strophe im Zeichen der „Verzweiflung“ angesiedelt ist. Solchermaßen „heimzustehen“ bedeutet immer zugleich „fremde Verlorenheit“ 44. „Steinschlag“  

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Zwei Sätze, zu einer Strophe aus bloß fünfzehn Wörtern zusammengefaßt, umreißen die wesentlichen Zeichenstrukturen des Textes. Die entscheidende Erkenntnis daraus liegt im wissenden Umgang mit der erfahrenen und innerlich bewältigten „Verzweiflung“. Um das Abgelehnte und Verworfene produktiv zu wenden, gilt es sich hinauszubegeben „in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich“. Dort, wo begründetes „Heimstehn“ möglich ist, kann die kritische Distanznahme in gegenläufige, weiterführende „Daseinsentwürfe“ umgewandelt werden45. Für Celan als Dichter äußerte sich das im klaren Auftrag zur menschlich, poetisch und „poetologisch relevanten Veränderung“ 46. Damit endet die erste Strophe. Ganz im Sinne der von Celan angestrebten „kompakten Diktion“ ist dann die zweite Strophe (V. 4–6) noch stärker komprimiert auf bloß neun Wörter. Ohne Interpunktion sind sie zu einem einzigen Satzfluß gefügt. Obwohl die dreizeilige Versanordnung einzelne Elemente voneinander trennt, gehört die Aussage dennoch eng zusammen. Ungebrochen wird die lyrische Reflexion als direkte Selbstreflexion weitergeführt. Das Initialwort markiert als vergleichende Konjunktion („wie“) sogleich die gedankliche Kopplung mit der ersten Strophe: „Wie deinem Einsamkeitssturm“ (V. 4). Am Beispiel des „Einen“ geht dem „Ich“ die eigene Situation deutlicher auf. Mit dem possessiven Personalpronomen („deinem“) ordnet der Dichter die zum Ausdruck gebrachte Befindlichkeit des „Einsamkeitssturms“ direkt sich selbst zu. Das „Heimstehn in der Verzweiflung“ spiegelt die eigene Lebensbestimmung. Jener „Eine“ erweist sich als ein innerlich als eigen erkanntes ‚anderes‘ Subjekt. Damit wird die bereits angeführte Verschränkung von Ich und Du ins Extrem gesteigert. Durch den Bruch mit der verdinglichten Welt „hinter den Käfern“ realisiert sich – Ergebnis der schöpferisch gewandten Selbsterfahrung – der Eigenentwurf als Künstler. Freilich ist damit zugleich eine schutzlos-verzweifelte Situation äußerer und innerer Vereinsamung verbunden. In diesem Zusammenhang taucht ein wichtiges neues Kompositum auf: „Einsamkeitssturm“. Es ist mit seiner metaphorischen Verschränkung ein typisches Celan-Wort. Zum einen weckt es in uns die Assoziation eines heftigen Windes, dessen Toben verheerende, aber ebenso reinigende Wirkung haben kann („Sturm“). Zum andern taucht gleichzeitig die Vorstellung von Alleinsein und Kontaktlosigkeit auf („Einsamkeit“), keineswegs im Sinne bloßer Selbstbespiegelung, sondern mit der konsequenten Härte ästhetisch orientierter Individuation. So äußert sich die ganz für sich allein stattfindende Erfahrung eines existentiellen Sturmes, der eine „kahlgeplünderte Phase Dasein“ 47 auslöst, jedoch zugleich eine Grundlage für die schöpferische Energie darstellt. Damit ist die Voraussetzung des dichterischen Sprechens gegeben. Wer ihr nachgeht, bewegt sich zwangsläufig „allein-/gängerisch“ 48. Das ist die Lage dessen, der mit seinem Kunstwillen im „Einsamkeitssturm“ lebt. Es hatte 312  

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seinen tiefen Grund, daß Celan unterstrich: „Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben“ 49. Durch den syntaktischen Schwung des Zeilensprungs wird gleich zu Beginn des fünften Verses der Vergleich zwischen dem „Einen“ und dem sich mitteilenden „Du“ fortgesetzt. Was jenem gelingt („glückt ihm“, V. 5), ist auch das vom „Du“ angestrebte Resultat. Freilich ist es ohne aufrecht ertragene „Verzweiflung“ 50 und ohne ausgehaltenen „Einsamkeitssturm“ nicht zu erreichen. Aus der textuellen Spannung von Ich, Du („deinem“) und dem „Einen“ („ihm“) resultiert letztlich Identifikation. Celan hat darüber gründlich nachgedacht. Unter den Entwürfen für poetologische Texte findet sich die folgende Überlegung zur unendlichen Entfernung zwischen dem Ich des Dichters und „seinem Du: von beiden Seiten, beiden Polen her wird die Brücke geschlagen: in der Mitte, (…) da, wo der tragende Pfeiler erwartet wird, (…) ist der Ort des Gedichts“ 51. Das „Glücken“ hat insoweit auch durchaus poetologische Implikationen. Mit diesen zwei Worten („glückt ihm“) ist die thematische Ausrichtung des Textes definitiv geklärt. Danach trägt die syntaktische Energie den Satzfluß weiter bis zum Ende des Gedichts. Die Schlußwendung „die weit / ausschreitende Stille“ (V. 5/6) lebt ersichtlich von der Spannung zum Gedichtauftakt. „Steinschlag“ als Initialwort und „Stille“ als Schlußwort schaffen die räumliche Struktur des Textensembles. Auf das Ziel der „Stille“ ist die Sprachbewegung insgesamt ausgerichtet. Zum Ende hin wird ihr Fluß noch durch das zweifache Enjambement beschleunigt und dadurch akzentuiert. Das Wort „Stille“ durchzieht Celans Gesamtwerk. Schon in der ersten Sammlung „Sand aus den Urnen“ ist die Rede von den „Körnern der Stille“ 52. Und noch in den aus dem Nachlaß veröffentlichten Gedichten findet sich zur grundsätzlichen Problematisierung des Sprechens die aufschlußreiche Wortprägung des „Schweigewütigen“ 53. Im Schweigen und in der Stille spiegelt sich Celans Verhältnis zur Sprache. Seine „Stille“ hat jedoch nichts zu tun mit Verstummen. Generell ist es ihm als Dichter um „das erschwiegene Wort“ 54 zu tun. Dichten war für ihn ein ständiger Kampf mit dem Unsagbaren. Die der „Stille“ abgewonnene „aktualisierte Sprache“ ist, wie er in der „Meridian“-Rede betonte: „freigesetzt unter dem Zeichen einer (…) der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation“ 55. So entsteht die dichterische Kristallisation. Mit seinem poetologischen Selbstgespräch erklärt Celan den verbalen und ethischen Festigungsprozeß des „Atemkristalls“, jenem sinnfälligen Bild einer vollzogenen Umwandlung der Alltagssprache in Dichtung. Weil die ästhetische Umwandlung ein überaus schwieriges Unterfangen darstellt, muß in der Tat auch in humaner Hinsicht sehr „weit ausgeschritten“ werden. Der Zeilensprung vom fünften zum sechsten ‚Vers‘ weist betont auf die dabei mitzudenkenden weiten, ja unendlichen Dimensionen hin. Insofern fallen „die weit / ausschreitende Stille“ und „ein aufrechtes Schweigen“ 56 zusam„Steinschlag“  

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men. Ihre kreative Richtungsenergie setzt allerdings, daran muß erinnert werden, den bewältigten „Einsamkeitssturm“ voraus. Celan hat den so ermöglichten poetischen und insofern wahren menschlichen Impuls im Gedicht für die Begegnung mit dem Leser als indirekten Imperativ angelegt. So erweist der Text sich wirklich als „Daseinsentwurf “. Es geht dabei um nicht weniger als um das schon von Hegel beschworene „Erwachen der freien Subjektivität“ 57.

Anmerkungen 11 Celan hielt sich vom 21.10. bis etwa zum 11.11.1968 als Stipendiat der ‚Fondation Maeght‘ in Antibes, La-Colle-sur-Loup und in Saint Paul-de-Vence auf. Noch während der Anfahrt, kurz vor Antibes, hielt er in einem Heft den Text fest. Erst 1997 wurde das Gedicht in der Sammlung „Gedichte aus dem Nachlaß“ veröffentlicht (GN,242). 12 Zunächst war Celan im Hôpital Boucicaut (30.1.–13.2.1967), dann im Psychiatriezentrum Sainte Anne (13.2.–17.10.1967, ab Ende April 1967 mit gelegentlicher Ausgangserlaubnis), schließlich im Psychiatrischen Krankenhaus Epinay-sur-Orge (15.11.1968–3.2.1969). 13 Brief an Franz Wurm vom 20.6.1969 (CWB,199). 14 Brief an denselben vom 23.4.1969 (CWB,185). 15 Zit. n.: Paul Celan: ‚Mikrolithen sinds, Steinchen‘. Die Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou.. Frankfurt/M. 2005, S. 102 (Sigle: PN). 16 Brief an Gisèle Celan-Lestrange vom 23.8.1968 (C/CL,543) und an Ilana Shmueli vom 24.1.1970 (C/SH,86). 17 An beiden Ereignissen nahm Celan intensiv Anteil, wie dann ebenso an den Entwicklungen in und um Israel. 18 Schn,74; GW II,400. 19 May, Markus, Goßens, Peter, Lehmann, Jürgen (Hrsg.): Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2008 (Sigle: CH). Immerhin gibt es dort im Kapitel ‚Motive‘ eine Rubrik ‚Botanik und Zoologie‘. 10 Zschachlitz, Ralf: Vermittelte Unmittelbarkeit im Gegenwort. Paul Celans kritische Poetik. Frankfurt/M. 1990, S. 207 f. und Bollack, Jean: Paul Celan. Poetik der Fremdheit. Wien 2000, S. 311 f. (Sigle: Bollack) sowie drs.: Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur. Göttingen 2006, S. 478 f.. 11 Im Gedicht „Sommerbericht“ vom 18.8.1958 lauten die Schlußverse:: „Wieder Begegnungen mit / vereinzelten Worten wie: / Steinschlag, Hartgräser, Zeit“ (Sp,52; GW I,192). Ersichtlich zielt das auf eine Art Wortprüfung. 12 N,67; GW I,269 („Was geschah?“; 1962 im April in Paris und im Juni in Moisville entstanden).

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13 PN,21 (11.5). Die ganze Eintragung lautet: „Die Felswand, – durchwuchtet vom Tosen des Ozeans; der Ozean, durchpflügt von den Stürmen der Unendlichkeit; die Unendlichkeit, aufgerollt vom Geflüster des Einsamen“. 14 Menninghaus, Winfried: Paul Celan. Magie der Form (= es 1026) Frankfurt/M. 1980, S. 172 und 114 sowie 115 (Sigle: Menninghaus). 15 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. 6.A. Hamburg 1952, S. 415 (Sigle: Hegel). 16 Vgl.: „Der Stein, / schläfennah einst, tut sich hier auf “ („Erratisch“: 15–19.4.1961; N,33; GW I,235, V. 6/7). 17 Im Gedicht „Flimmerbaum“ vom 16.3.1961 lautet eine Versgruppe: „lagst / du mir vor / meiner vor- / springenden Seele“ (N,31; GW I,233; V. 15–18). 18 So die Formulierung Speiers im Rahmen seiner Deutung des Gedichts „Erratisch“ (Speier, Hans-Michael: Erratisch. In: Lehmann, Jürgen (Hrsg.): Kommentar zu Paul Celans ‚Die Niemandsrose‘ (Sigle: KN). Heidelberg 1997, S. 144–148; Zitat: S. 148). 19 GW III,199. 20 N,56; GW I,258 („Ein Wurfholz“, 1962) und N,72; GW I,274 („Les Globes“, 1961). 21 Vgl. hierzu: Barnert, Arno: Mit dem fremden Wort. Poetisches Zitieren bei Paul Celan. Frankfurt/M. 2007. 22 L,61; GW II,287 („Hinter frostgebänderten Käfern“: 26.9.1967). 23 Klose, Barbara: ,Souvenirs entomologiques‘. Celans Begegnung mit Jean-Henri Fabre. In: Datum und Zitat bei Paul Celan. Hrsg. v. Chaim Shoham und Bernd Witte. Bern 1987, S. 122–155 (Sigle: Klose). 24 Jean-Henri Fabre (1823–1915) verfaßte zwischen 1879 und 1907 das zehnbändige Grundlagenwerk „Souvenirs entomologiques“ (dt.:“Erinnerungen eines Insektenforschers“). 25 Klose, S. 129 f.. 26 Celan schrieb das Gedicht am 26.9.1967. Er wartete da im Hotel Raspail auf den Psychotherapeuten Moshe Feldenkrais. Nach längeren, mißlungenen klinischen Bemühungen erhoffte er sich, leider vergeblich, von dieser Begegnung eine gewisse Heilung. 27 Zit. n.: Kafka, Franz: Erzählungen. Hrsg. v. Max Brod.. Frankfurt/M. 1955, S. 71. 28 Noch entschiedener äußert sich die Ablehnung der „Käfer“ im Gedicht „Engholztag“. Dort erscheint eine dahinkriechende Gestalt, die mit „tierblütigen Worten“ umgeht, als „schwarzblauer Gedankenkäfer“, der „durch großzellige Leerstunden klettert, im Regen“ (A,42; GW II,46; 15.3.1964). 29 A,25; GW II,29 („Wortaufschüttung“: 24.12.1963). 30 Celan bezeichnete die Anwürfe im Zusammenhang mit der Goll-Affäre immer als „Infamie“ (vgl. hierzu: GA,822). Inwieweit er dabei an Voltaire dachte („Ecrassez l’Infame!“), sei dahingestellt. Ausdrücklich verweist er am Schluß der „Gauner- und Ganovenweise“ auf den Romantitel von Camus (vgl. hierzu: N,28; GW I,230). 31 CH,122. 32 F,13; GW II,119 („Sichtbar“; 14.10.1965). 33 E,31; GW III,146 („Wirfst du“; 27./28.3.1966; aus dem Zyklus „Eingedunkelt“). 34 Gegen Bollack, S. 311. 35 Menninghaus, S. 99. „Steinschlag“  

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Z,61; GW III,123 („Rebleute“; Anfang April 1970). N,18; GW I,220 („Zwölf Jahre“: Sommer 1960). A,46; GW II,50 („Das Stundenglas“: 4.6.1964 in Moisville). A,19; GW II,23 („Stehen“: 11.11.1963). Vgl. hierzu auch: „steht gegen / die Pest“ (N,28; GW I,230); „wir stehn“ (Schn,50; GW II,376); „steh / herein“ (L,102; GW II,328); „ich stand“ (Z,34; GW III,96).; ebenso im Brief Celans vom 6.4.1970 an Ilana Shmueli: „Meine Gedichte schaffen mir augenblicksweise (…) Daseinsmöglichkeit, Stehen“ (C/SH,135). Bollack, S. 312. PN,95 (156). GW III,168. N,21; GW I,223 („Stumme Herbstgerüche“). GW III,192 und 201. So Georg-Michael Schulz in seiner Interpretation des Gedichts „A la pointe acérée“ (KN,209). So im Gedicht „In der fernsten“ (Z,15; GW III,77: „die kahlgeplünderte / Phase Dasein“: 18./19.7.1969). A,11; GW II,15 („Vor dein spätes Gesicht“; vermutlich im Oktober 1963 entstanden). GW III,198 („Der Meridian“). Pajević spricht mit Recht von der „aufrechten Verzweiflung“ bei Celan (Pajević, Marko: Zur Poetik Paul Celans: Gedicht und Mensch – Die Arbeit am Sinn. Heidelberg 2000, S.155). GN,95 (156; 1953/54 entstanden). So im 1944 entstandenen Gedicht „Die Schwelle des Traumes“ (SadU,20; GW III,26). Z,14; GW III,76 („Erst wenn ich dich“: 25.6.1969). Burger, Hermann: Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache. Zürich, München 1974, S. 83. GW III,197. N,71; GW I,273 („Wohin mir“: 15.8.1962). Hegel, S. 420.

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Paul Celan

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Personenregister Bei Nennungen in den Anmerkungsteilen ist neben der Seitenzahl jeweils die Nummer der betreffenden Anmerkung in Klammern angegeben. Zitate ohne direkte Namensnennung sind mit der Nummer im Anmerkungsteil und der zugehörigen Seitenzahl aufgeführt. Autoren, deren Gedichte interpretiert werden, sind kursiv herausgehoben. Abrams, Mike Howard: 145 (26) Adorno, Theodor W.: 29, 31, 52, 56, 128, 131, 147 (6)>157 Alewyn, Richard: 70 Allemann, Beda: 163 (21)>170, 301 Althaus, Thomas: 97 (19) Amann, Maria Rosa: 227, 229, 230, 236 (28, 29), 237 (51) Andersch, Alfred: 298 Andreas-Salomé, Lou: 181 Ansel, Michael: 255 (19)>262 Arndt, Ernst Moritz: 146 Arnim, Achim von: 68, 73, 75 (32), 128 Arnim, Bettina von: 72 Arnold, Arnim: 193 Ausländer, Rose: 266 Bach, Carl Philipp Emanuel: 21 (32) Bach, Johann Sebastian: 266 Bachmann, Ingeborg: 274–284, 291 Bahr, Ehrhard: 303, 304 (22) Bänsch, Dieter: 172, 175, 179 (7, 9) Banholzer, Paula: 227 Barnert, Arno: 315 (21) Barnouw, Dagmar: 125 (10) Baudelaire, Charles: 181 (1)>188, 266, 276 Bauer, Ludwig: 121 Baumgart, Reinhard: 116 (21)>119, 117 (24)>119, 119 (13) Becher, Johannes R.: 191 f., 193, 297 Beethoven, Ludwig van: 56, 65 (1), 130 Beißner, Friedrich: 20 (12), 77, 86 (11), 145 (30, 41) Benjamin, Walter: 233

Benn, Gottfried: 9, 171, 239–250, 251–256, 257, 259–260 Bennholdt-Thomsen, Anke: 88 (51) Berendsohn, Walter A.: 304 (1, 6, 7, 17), 305 (30) Berger, Albert: 222 (28) Berlioz, Hector: 130 Bernhard, Thomas: 274 Bienek, Horst: 301, 303, 305 (45) Binder, Wolfgang: 81, 87 (32) Bismarck, Otto von: 156 Bloch, Ernst: 18, 57, 63, 124, 210, 219, 259 Bobrowski, Johannes: 298 Böckmann, Paul: 111 (26), 170 (21) Böll, Heinrich: 178 Böschenstein, Bernhard: 212 (18) Boisserée, Sulpiz: 111 (26) Bollack, Jean: 310 (34)>315, 311 (41)>316 Borchardt, Rudolf: 87 (30) Bormann, Alexander von: 72, 129 (22)>133 Boyle, Nicholas: 49 Brahms, Johannes: 73, 75 (31), 132 (8) Braungart, Georg: 124 (16)>125 Brecht, Bertolt: 83, 174, 196, 223–238, 251–253, 256–261, 285–295 Brentano, Clemens: 68–75, 101, 128 Breton, André: 192 Bridgewater, Patrick: 220 (29)>222 Brion, Friederike: 35 Bronnen, Arnolt: 233 Buber, Martin: 296 Buck, Theo: 272 (11) Büchner, Georg: 57, 66 (13), 126, 146 Personenregister  

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Bürger, August: 56, 66 (6, 10) Burckhardt, Jacob: 126 Burdach, Konrad: 111 (26) Burger, Hermann: 313 (54)>316 Busch, Ernst: 234 Busch, Wilhelm: 195 Campe, Julius: 149, 158 (19) Camus, Albert: 161, 169 (15), 309, 315 (30), 316 (40) Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar: 46, 54 (7), 111 (35,36), 113, 116, 117, 118 (2) Celan, Paul: 7, 210, 251, 263–273, 274, 298, 299, 304 (19), 306–316 Céline, Louis-Ferdinand: 274 Cézanne, Paul: 182, 183 189 (9) Chalfen, Israel: 265 (6)>272 Char, René: 283 Claes, Astrid: 242 Claudius, Matthias: 21 (32), 22–33 Cocteau, Jean: 184 Conrady, Karl Otto: 43 (18, 19)> 45, 90, 100 (10)>110 Cotta, Johann Friedrich: 47, 59, 66 (9, 19), 90, 99, 125 (8) Dahnke, Hans-Dietrich: 159 (39) Delacroix, Eugène: 126 Dietz, Ludwig: 203 (10)>211 Dilthey, Wilhelm: 80 Doerksen, Victor L.: 144 (15) Domin, Hilde: 298, 304 (13, 21) Dorfman, Ariel: 31, 33 (35) Dostojewski, Fjodor Michajowitsch: 280 Dürrenmatt, Friedrich: 60 Dyck, Joachim: 249 (15) Eichendorff, Joseph Frhr. von: 19, 75 (24), 126–133, 273 (23) Einem, Herbert von: 234 Eisler, Hanns: 234, 257, 262 (28, 29), 286 f. Emrich, Wilhelm: 127 Engels, Friedrich: 149, 152, 156, 158 (22) Enzensberger, Hans Magnus: 68, 70, 73, 74 (16), 200 (23), 288, 297, 298

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Eskin, Michael: 256 (25)>262 Fabre, Jean-Henri: 309, 315 (24) Feldenkrais, Moshe: 315 (26) Felstiner, John: 266, 271 (24)>273 Ficker, Ludwig von: 213, 221 (1, 3, 7), 222 (20) Fiedler, Theodore: 289 f., 295 (21, 22) Fischer-Diskau, Dietrich: 33 (32) Fliegner, Susanne: 141 (38)>145 Frank, Horst Joachim: 97 (11), 104 (31, 32)>111 Franz II., deutscher Kaiser: 78 Freiligrath, Ferdinand: 157 (10) Freud, Sigmund: 309 Friedenthal, Richard: 101 (15, 17)>110 Friedrich, Caspar David: 122 Friedrich Hugo: 145 (30) Frisch, Max: 233 f., 234 Frischmuth, Barbara: 234 Frühwald, Wolfgang: 70, 74 (16), 128 (18)>132, 129 (23)> 133, 132 (18) Fühmann, Franz: 210, 216 (14)>221, 219, 220, 221 (15), 222 (21) Geibel, Emanuel: 157 (10) Gellert, Christian Fürchtegott: 21 (32) Genton, Elisabeth: 150 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von: 21 (32), 23, 32 (10) Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: 16, 21 (32) Gluck, Christoph Willibald: 18, 21 (32) Gnüg, Hiltrud: 44 (11) Goedeke, Karl: 54 (10) Göschen, Georg Joachim: 35, 59, 66 (19) Goethe, Johann Wolfgang: 8, 11,13, 14 f., 21 (28), 34–45, 46–55, 66 (8), 89–98, 99–112, 113–119, 120, 126, 129, 139, 142, 157 (2), 159 (36), 177, 207 f., 266, 271, 280, 283 (17), 287, 303 Gok, Karl: 86 (12, 14), 97 (39) Gontard, Susette: 76, 79, 80, 86 (21) Grab, Walter: 157 (5) Grabbe, Christian Dietrich: 126

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Große, Wilhelm: 11(14)>20 Grosz, George: 196 Grunert, Mark: 82 (42)> 87 Gutzkow, Karl: 126, 132 (2) Haake, Wiemont: 31 (1) Hafis (d.i. Muhammad Schams ad-Din): 90, 92, 97 (6), 99, 100, 110 (4) Hagedorn, Friedrich von: 16, 21 (32) Hamburger, Michael: 293 Hamm, Peter: 298 Hammer-Purgstall, Joseph Frhr. von: 90, 110 (4) Hanschke, Gerhard: 30 (33)>33 Hardouin-Mansard, Jules: 185 Harich, Wolfgang: 292 Hauptmann, Elisabeth: 286, 294 (12) Hauptmann, Gerhart: 147, 157 (10, 11) Heartfield, John: 257 Hecht, Werner: 237 (40), 285 (1)>294, 292 (29)>295 Hefti, David Philip: 178, 180 (27) Hegel, Georg Wilhelm: 294 (18), 308, 314 Heidegger, Martin: 139, 140 f., 141, 142, 144 (15), 145 (30), 276 Heine, Heinrich: 126, 146–159, 266 Heinrich, Karl Borromäus: 215 Hellingrath, Norbert von: 80 Hennenberg, Fritz: 235 (15), 257 (28)>262 Herder, Johann Gottfried: 11, 31 (5), 35, 158 (30) Herwegh, Georg: 158 (26) Heselhaus, Clemens: 173 (11)>179, 177 Hessing, Jakob: 174 (16)>179, 175 (17)>179 Heydebrand, Renate von: 141 Heym, Georg: 194 (22)>200, 204, 211 (14) Heyse, Paul: 139 Hildesheimer, Wolfgang: 31, 33 (35) Hilgers, Klaudia: 98 (19) Hille, Peter: 171 Hillebrand, Bruno: 254 (9)>261, 261 (14) Hillesheim, Jürgen: 235 (10), 236 (26), 237 (49)

Hinck, Walter: 155 (38)>159, 287 (18)>294 Hindemith, Paul: 73 Hitler, Adolf: 156, 251, 277, 278, 296 Hoddis, Jakob van: 178, 191–200 Höhn, Gerhard: 154 (35)>159, 156 (41)>159, 157 (12), 158 (23) Hölderlin, Friedrich: 11,13, 76–88, 139, 209 Höller, Hans: 274, 281, 284 (20) Höllerer, Walter: 215 (13)>221, 217, 218 (23, 25)>222, 222 (21), 274 Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: 91 (12)>97, 92 (13)>97, 95 (17)>97 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: 68 Hoffmann, Werner: 73 Hohenester, Max: 223 (1)>234 Holmqvist, Bengt: 296 (4)>304 Holschuh, Albrecht: 139 (25)>145, 143 Holthusen, Hans Egon: 122 Homer: 21 (29), 288, 290, 292 Horaz (d. i. Quintus Horatius Flaccus): 287, 288 Horkheimer, Max: 56 Hornbogen, Helmut: 192 (8, 11, 12)>199 Huber, Stephan: 180 (26) Huchel, Peter: 294 (8), 297 Huppert, Hugo: 272 (3) Hurlebusch, Klaus: 18 (39)>21 Jacobi, Johann Georg: 35 Jaeger, Hans: 73 Jahn, Friedrich Ludwig: 146 Jandl, Ernst: 88 (50), 182 Janka, Walter: 292 Janssen, Horst: 31, 33 (35) Jelinek, Elfriede: 31, 33 (35) Jens, Walter: 273 (19, 20) John, Ernst Karl: 114 Kafka, Franz: 309 Kaiser, Gerhard: 10 (2)>19, 17 Kaiser, Joachim: 30 (29)>32 Kant, Immanuel: 64 Kasack, Hermann: 183, 298

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Kaufmann, Hans: 146 (3)>157, 154, 156 (39)>159, 158 (15, 30) Kavafis, Konstantinos: 288–290 Kayser, Wolfgang: 111 (31) Kemp, Friedhelm: 70 Kemper, Hans-Georg: 201, 212 (17), 222 (18) Kersten, Paul: 301 (34)>305 Kertheny, Karl Maria: 149 f., 158 (23) Kienzle, Ulrike:50 (21)>55 Killy, Walther: 71, 124 (15)>125 Kindt, Tom: 228 (33)>237 Kipling, Rudyard: 223 Kirsten Wulf: 191 Kleist, Ewald Christian von: 16, 21 (32) Kleßmann, Eckart: 128, 131, 133 (20, 22, 24) Klopstock, Friedrich Gottlieb: 7, 10–21, 22, 174 Klopstock, Margareta (Meta), geb. Moller: 16, 20 (19) Klose, Barbara: 309, 315 (23, 25) Knebel, Carl Ludwig von: 47, 54 (7), 100 Knopf, Jan: 224 (10)>235, 225 (17)>235, 226 (20, 21)>236, 228 (35)>237, 232 (45), 235 (12, 14, 18), 237 (38), 286, 291 f., 294 (12) König, Burghard: 23 (7)>31 Koeppen, Wolfgang: 234 Körner, Christian Gottfried: 56 Kollwitz, Käthe: 157 (10) Koopmann, Helmut: 66 (9), 232 (49)>237 Korff, Hermann August: 50 (26)>55, 108 (44)>112, 111 (26) Kotzebue, August von: 54 (11) Kraft, Werner: 28, 31 (8), 171 Kranefuß, Annelen: 28 (23)>32, 32 (22, 23) Kremer, Detlef: 104 (34)>111, 106 (39)>112, 111 (26) Krolow, Karl: 49, 55 (20), 274, 298 Krummacher, Hans-Henrik: 133 (20), 187 (22)>189 Kühl, Kate: 225

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Kurz, Paul Konrad: 303 Kurzke, Hermann: 165 f. (32)>170, 169 (19), 170 (24) Läufer, Bernd: 200 (39) Lagerlöf, Selma: 296 Lahnstein, Peter: 66 (7) Lange, Victor: 199 (3) Lange-Trakl, Margarethe (‘Grete’): 218, 222 (24) Laroche, Léon: 225 f., 235 (15) Lasker-Schüler, Else: 163, 171–180, 194 Laube, Heinrich: 126 Lessing, Gotthold Ephraim: 11, 16, 25, 32 (15) Lefebvre, Jean-Pierre: 212 (29) Lichtenberg, Georg Christoph: 8 Linde, Hans-Martin: 73 Link, Jürgen: 287 (17)> 294 Linné, Carl von: 105 Liszt, Franz: 54 (18) Livius, Titus: 63 Lönker, Fred: 81 (36)>87 Loewe, Carl: 54 (18) Louis Philippe, französischer König (‘Bürgerkönig’): 126 Lucchesi, Joachim: 233 (57)>238 Ludwig XIV., französischer König: 185, 186 Ludwig XVI., französischer König: 99 Ludwig XVIII, französischer König: 99 Lukrez (d.i. Titus Lucretius Carus): 287 Luther, Martin: 279 Mahler, Gustav: 31, 33 (35) Mahr, Johann Christian: 47, 53, 55 (35) Malo, Charles: 225 f., 235 (15) Malraux, André: 9 Mann, Heinrich: 196, 250 (35) Mann, Klaus: 182, 241, 249 (21, 22, 23, 24) Mann, Thomas: 181 f. Margul-Sperber, Alfred: 266 Martin, Dieter: 64 (25)>67 Marx, Karl: 146, 156, 159 (39), 260, 291 Matt, Peter von: 109 (45)>112, 272 (12), 273 (22)

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May, Kurt: 44 (10) Mayer, Hans: 62 (22), 64 Maync, Harry: 134 (1)>143 Mayröcker, Friederike: 31, 33 (35) Mechtenberg, Theo: 279 (15)>283, 282 Mehring, Walter: 192 Mennemeier, Franz Norbert: 164 (25)>170, 165 (28, 31)> 170, 170 (33), 293 (31)>295 Menninghaus, Winfried: 80 (30)>87, 81 (37, 38)>87, 86 (13), 87 (30, 35), 308 (14)>315, 310 (35)>315 Menzel, Wolfgang:125 (8) Mereau, Sophie: 74 (2) Merten, Kilian: 49 Metternich, Klemenz Wenzel Fürst von: 126, 135, 146, 155 Meyer, Herman: 145 (30) Michel, Christoph: 283 (12) Mielke, Erich: 292 Mörike, Eduard: 120–125, 131, 134–145 Moore, Gerald: 33 (32) Mozart, Wolfgang Amadeus: 120 Müller, Friedrich von: 116 Müller, Hans Harald: 228 (33)>237 Müller, Klaus-Detlef: 223 (4)>234, 230 (41)>237, 232 (49)>237 Müller, Wilhelm: 128, 279 Müller, Wolfgang: 188 (23)>190, 189 (21) Münchhausen, Börries Frhr. von: 240 Münsterer, Hans Otto: 226 (23)>236, 233 (56)>238, 236 (29) Munch, Edvard: 31, 33 (35) Mundt, Georg Wilhelm: 18 f. (40, 41)>21 Mundt, Theodor: 126 Musäus, Johann Karl August: 32 (14) Muschg, Adolf: 53, 89 (2)>97, 95, 108, 110 (17) Musil, Robert: 188 Napoleon Bonaparte: 53, 59, 61, 62, 66 (21), 78, 99, 147 Neher, Caspar: 236 (28, 29)

Nelson, Horatio Viscount: 61 Neuhaus, Volker: 38 (9)>44, 55 (23) Neumann, Peter Horst: 266 Nietzsche, Friedrich: 57, 160–170, 223, 239, 246, 256, 260 Nörtemann, Regina: 193 (16)>199 Novalis (d.i. Hardenberg, Friedrich von): 68, 128, 256 Oelze, Friedrich Wilhelm: 240 f., 253 Olschner, Leonard: 278 (14)>283 Ortega y Gasset, José: 118 (27)>119 Pajević, Marko: 316 (50) Paul I., Zar von Rußland: 60, 61, 66 (21) Paul, Jean: 71 Petrarca, Francesco: 177 Pfemfert, Franz: 194, 200 (21) Pietzcker, Carl: 44 (15), 223 (3)>234 Pindar: 11, 78 Polanski, Roman: 31, 33 (35) Preisler, Johann Martin: 31 (8) Promies, Wolfgang: 18 f.(40)>21 Puccini, Giacomo: 266, 273 (23) Püttmann, Hermann: 150 Pütz. Peter: 160 (2)>169, 170 (27) Rabener, Gottlieb Wilhelm: 21 (32) Raddatz, Fritz J.: 147, 181 Ravel, Maurice: 272 (12) Reed, Terence James: 47 (13)>54 Reger, Max: 54 (18) Rehm, Walther: 145 (30) Reich-Ranicki, Marcel: 230, 234, 236 (32) Reichardt, Johann Friedrich: 18 Reimann, Hans: 225 Reiter, Udo: 192 (10)>199, 193 (15)>199 Riegel, Werner: 196 Rilke, Rainer Maria: 181–190, 251, 266, 287 Rimbaud, Arthur: 204, 211 (14), 223, 266 Ritter, Peter: 68 (6)>74 Rodin, Auguste: 182, 183, 189 (17), 223 f., 234 (6) Roedl, Urban: 27 (21)>32 Rokeah, David: 298 Personenregister  

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Rosenkranz, Moses: 266 Rühmkorf, Peter: 10, 12 (16)>20, 16, 19, 191, 194, 194 f. (25)>200, 196 f., 197 f., 198 Ruttkowski, Wolfgang Victor: 50 (22)>55 Rychner, Max: 254 (14)>261 Sachs, Nelly: 296–305 Sager, Peter: 296 (3)>304, 302 (41)>305, 305 (27) Saint-Simon, Claude-Henri de: 147 Sartre, Jean-Paul: 309 Sattler, Dietrich E.: 77 (8)>85 Sauder, Gerhard: 37 (7)>44 Sautermeister, Gert: 126 (1)>132 Schärf, Christian: 100 (8)>110 Schiele, Egon: 212 (15) Schiller, Friedrich: 11, 56–67, 78, 120 Schiwy, Günther: 126 (4)>132, 127 (5, 12)>132 Schlaffer, Heinz: 120, 137 (13)>144, 138 (18, 20)>144, 144 (13), 145 (38) Schlegel, August Wilhelm: 75 (19) Schlegel, Friedrich: 20 (13), 56, 68, 73, 87 (42) Schlösser, Joachim:31, 33 (35) Schmidt, Jochen: 76 (2)>85, 81 (33, 34)>87, 82 (40, 43)>87, 82 (46, 47)>88, 84 (55, 56), 86 (13), 87 (34), 88 (46) Schneider Hansjörg: 199 (17) Schneider, Karl Ludwig: 11 (12)>20 Schneider, Rolf: 214 (8)>221 Schöne, Albrecht: 69 (11)>74, 70 (20)>75, 72 (25)>75, 73, 229 (36)>237, 230 (37)>237, 236 (21), 237 (35) Schröder, Rudolf Alexander: 56 Schubert, Franz: 29–31, 32 (19), 33 (30, 35), 54 (18), 128, 279 Schünemann, Peter: 214, 250 (29) Schuh, Willi: 54 (18) Schuhmann, Klaus: 225 f., 233 (52)>237, 235 (8) Schulz, Georg Michael: 312 (46)>316

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Schumann, Robert: 54 (18), 132 (8) Schwab-Felisch, Hans: 157 (13, 14) Schwarz, Peter Paul: 130 (25)>133 Schwedhelm, Karl: 298, 304 (20) Schweikert, Alexander: 156 (40)> 159 Schwieder, Gabriele: 103 (30)>111, 105 (37)>111, 109 (46)>112 Segebrecht, Wulf: 54 (5, 6), 55 (35) Seidel, Gerhard: 294 (11) Seidlin, Oskar: 128 )14), 132 (1) Selbmann, Rolf: 138 (22)>144, 144 (13, 22), 145 (40) Selg, Peter: 304 (12) Sengle, Friedrich: 120 (1)>124 Shaftesbury, Antony Earl of: 44 (3) Shull, Ronald K.: 238 (57) Simmel, Georg: 96 Sloterdijk, Peter: 161 (14)>169, 167 (35)>170, 168 Sommer, J. Carl Ernst: 28 (25)>32, 30 (31)>33 Speeth, Margarethe: 135. S. Mörike Speier, Hans Michael: 273, 308 (18)>315 Spiel, Hilde: 44 (16) Spitzer, Leo: 140, 141 (35)>145, 144 (15, 23), 145 (30) Spranger, Eduard: 107, 112 (42), 118 Spring, Rudi: 178, 180 (27) Sprowacker, Leopold: 225 f., 235 (15) Städel, Anna Rosine Magdalena, geb. von Willemer: 100, 110 (13), 111 (21, 25, 38) Städel, Johann Martin: 110 (13) Staiger, Emil: 65, 93 (14, 15)>97, 97 (16), 140, 141 (36), 142, 145 (30) Stauf, Renate: 154 (33)>159, 158 (29), 159 (33, 36) Stein, Charlotte Albertine Ernestine Freifrau von: 44 (2), 46, 47, 53 (2, 3) Stein, Ernst Josias Friedrich, Frhr. von: 46 Stein, Gottlob Friedrich Constantin (Fritz), Frhr von: 47 Steinen, Helmut von den: 289

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Steiner, Uwe C.: 52 f. (34)>55, 55 (23) Steinhagen, Harald: 256 (20, 22)>262 Sternheim, Carl: 196 Stolberg, Christian und Friedrich Leopold von: 21 (32) Strack, Friedrich: 124 (2) Strauss, Ludwig: 80 f., 82 (41)>87, 87 (31) Suhrkamp, Peter: 22, 286 Szondi, Peter: 85 (7) Thadden, Elisabeth von: 232 (50)>237 Theokrit (d. i. Theokritos): 137 f. Thiele, Dieter: 289 f. Tieck, Ludwig: 68, 70, 72, 75 (19), 128 Töpler, Cäcilia: 248 (5) Tournier, Michel: 31, 33 (35) Trakl, Georg: 201–212, 213–222, 251, 266. S. auch: Lange-Trakl Trunz, Erich: 34 (1)>44, 103, 104, 115 (17)>119 Tucholsky, Kurt: 251 Uffhausen, Dietrich: 77, 86 (9) Unseld, Siegfried: 110 (12) Urmoneit, Sebastian: 27 (19)>32, 30 (30)>33 Valentin, Karl: 223, 235 (15) Valéry, Paul: 8, 182 (11) Viëtor, Karl: 119 (14) Villon, François: 223, 228 Vischer, Friedrich Theodor: 124 Voltaire (d. i. François-Marie Arouet): 156, 309, 315 (30) Voß, Johann Heinrich: 14, 17, 18, 19 (3), 20 (27), 21 (32), 23, 32 (11) Wackenroder, Wilhelm Heinrich: 68, 70, 72, 75 (19), 131 Wackwitz, Stephan: 88 (49) Wagner, Richard: 166, 220, 224, 266 Waiblinger, Wilhelm: 86 (10, 11) Walden, Herwarth: 178 Walser, Martin: 31, 33 (35) Wandel, Paul: 293

Weber, Albrecht: 228 (31)>236, 230 (37)>237 Weber, Max: 62 Weber, Werner: 195 (27)>200 Weckler, Simone: 136 (12)>144, 138 (17)>144 Wedekind, Frank: 223 Weerth, Georg: 157 (10) Weichselbaum, Hans: 212 (15), 221 (7) Weill, Alexandre: 147 (12)>157 Weimar, Klaus: 44 (16) Weißglas, Immanuel: 265, 266 Wellershoff, Dieter: 261 (8) Werkman, Hendrik Nikolaas: 210 f., 212 (30) Werner, Michael: 147 (4)>157 Werner, Philipp: 75 (31) Werner, Zacharias : 101 Werner-Jensen, Arnold: 30 (28)>32 Wetzel, Heinz: 222 (16) Wienbarg, Ludolf: 126 Wild, Inge und Rainer: 120 (4)>124,123, 135 (8)>143 Wilhelm II., deutscher Kaiser: 156 Willemer, Johann Jakob von: 100 f., 110 (12),111 (21) Willemer, Marianne von: 100–103, 109, 110 (12), 111 (26), 114 (10)>118, 117 (23, 25), 119 (25) Wilmans, Friedrich: 85 (5), 86 (19) Winckelmann, Johann Joachim: 10 Wölfflin, Heinrich: 43 Wünsch, Marianne: 43 (17)>45 Wunderlich, Uli: 32 (13) Zeller, Bernhard: 134 Zelter, Karl Friedrich: 47, 48, 50, 53, 54 (12, 15, 18), 97 (18), 102, 114, 118 (2, 6) Ziemann, Rüdiger: 165 (26)>170 Zschachlitz, Ralf: 314 (10) Zuberbühler, Johannes: 220

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Sucht man nach einer bestimmenden Konstante im Lebensprozess Johann Wolfgang Goethes, drängt sich vorrangig ein Bedürfnis nach unbedingter Wahrung seiner inneren Freiheit auf. Mit diesem Buch verfolgt der renommierte Literaturwissenschaftler Theo Buck das Ziel, die schwierige Position des Künstlers zwischen engagierter Lebensbewältigung und notwendiger Unabhängigkeit nachzuvollziehen. Ohne sich auf biographische Einzelheiten einzulassen, wird der künstle rische Weg Goethes von den Anfängen bis zu seiner in Italien erreichten Reife beschrieben und durch Analysen seiner wichtigsten Texte einsichtig gemacht. Anders als zahlreiche andere biographische Darstellungen und Einzeluntersuchungen veranschaulicht das Buch die Verbindung zwischen Leben und Werk des Dichters. Theo Buck verschafft damit dem Leser einen vertieften Einblick in den Prozess des dynamisch-kreativen Künstlertums Goethes. Bewusst ist das Buch so angelegt, dass es auch einen breiteren Leserkreis mit Leben und Werk des Weimarer Klassikers vertraut macht. Ö8 ÖÖ3Ö'"Ö)3".Ö    

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