Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat: Normative und empirische, materielle und prozedurale Aspekte der Legitimation unter Berücksichtigung neuerer Strafgesetzgebungspraxis [1 ed.] 9783428494569, 9783428094561

In der vorliegenden Untersuchung begibt sich der Autor auf die Suche nach den Grenzen legislativer Freiheit bei der Stra

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Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat: Normative und empirische, materielle und prozedurale Aspekte der Legitimation unter Berücksichtigung neuerer Strafgesetzgebungspraxis [1 ed.]
 9783428494569, 9783428094561

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GREGOR STÄCHELIN

Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberbard Schmielhäuser em. onl. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 106

Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat Normative und empirische materielle und prozedurale Aspekte der Legitimation unter Berücksichtigung neuerer Strafgesetzgebungspraxis

Von

Gregor Stächelin

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Klaus Lüderssen, Frankfurt am Main

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Stächelin, Gregor: Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat : normative und empirische, materielle und prozedurale Aspekte der Legitimation unter Berücksichtigung neuerer Strafgesetzgebungspraxis I von Gregor Stächelin. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 106) Zug!.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09456-5

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Peinted in Germany

© 1998 Duncker &

ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-09456-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Meinen Eltern

Vorwort Die folgende Untersuchung ist im Sommersemester 1997 von der Juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen worden. Mein Dank gilt in erster Linie Herrn Professor Dr. Klaus Lüderssen, der mir während meiner Assistententätigkeit die notwendigen Freiräume gelassen hat, um an der Fertigstellung zu arbeiten, mich zugleich aber in vielfaltigster Weise angeregt und gefördert hat. Ein erheblicher Teil der Substanz dieser Arbeit ist dem inspirierenden Kontakt mit ihm geschuldet. Mein Dank gilt weiter Herrn Professor Dr. Dirk Fabricius, der das Zweitgutachten übernommen hat, und Herrn Professor Dr. Herbert Jäger, dessen Lehrveranstaltungen letztlich die Idee für diese Untersuchung hervorgebracht haben. Weiter möchte ich den Teilnehmern des "Dienstagsseminars" des Frankfurter kriminalwissenschaftlichen Instituts, insbesondere den Kollegen Dres. habil. Schulz, Nestler und Günther, für die Motivation danken, die ich aus den fachlichen Diskussionen mit ihnen gewinnen konnte. Meiner Frau gebührt Dank für den Verzicht, den sie aufgrund meiner Beschäftigung mit dem Untersuchungsgegenstand geleistet hat, meinen Eltern dafür, daß sie mir meine Ausbildung ermöglicht und mich stets und in jeder Hinsicht unterstützt haben. Auch den Herausgebern dieser Reihe, den Herrn Professoren Dres. Friedrich-Christian Schroeder und Eberhard Schmidhäuser, will ich für die Annahme der Abhandlungen in die vorliegende Reihe danken. Frankfurt, im November 1997

Gregor Stäche1in

Inhaltsübersicht

Einleitung ............................................. .............................. .. ......................................... 25 1. Teil: Anforderungen an eine verfassungsgemäße Strafgesetzgebung ...... .. ........... 30

I.

Der Rechtsgutsbegriff .............................................................................................. 30 I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze............................................ 31 2. Der Rechtsgutsbegriff innerhalb der kriminalpolitischen Diskussion .................. 55 3. Vom Interesse zum Rechtsgut ............................................................................. 60 4. Die Verletzung der Interessen als Angriffswege auf Rechtsgüter ........................ 90 5. Zusammenfassung ............................................................................................... 99

II. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ........................................................................... I 01 I. Grundrechtliche Maßstäbe für die Strafgesetzgebung ......................

00 . .

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102

2. Zweckbestimmung des Gesetzgebers................................................................. 11 9 3. Geeignetheit.. ..................................................................................................... 123 4. Erforderlichkeit. ................................................................................................. 126 5. Das Übermaßverbot ..............

oo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . oo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . oo . . oo . . . . . . . . . .

161

6. Zusammenfassung ............................................................................................. 165 III. Der Umgang mit empirischen Voraussetzungen .................................................... 167 I. Allgemeine Rationalitätsanforderungen ............................................................ 168 2. Tatsachenermittlungen ..............

00 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 0 0 00 . . . . . . . .

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171

3. Prognoseentscheidungen ................................................................................... 184 4. Abwägungspflichten .......................................................................................... 189 5. In dubio pro libertate? ....................................................................................... 192 6. Nachbesserungspflicht ....................................................................................... 200 7. Zusammenfassung .................

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IV. Das Bestimmtheitsgebot.. .........................................................................

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205 207

I . Rekonstruktion .................................................................................................. 207

10

Inhaltsübersicht 2. Theoretische und praktische Friktionen ............................................................. 213 3. Der Bestimmtheilsgrundsatz des Bundesverfassungsgerichts ............................ 216 4. Utopie oder Näherungsziel? .............................................................................. 221 5. Zusammenfassung ............................................................................................. 227

V. Implementierbarkeit ............................................................................................... 228 I. Ausgangsüberlegung ......................................................................................... 229 2. Materiell-rechtlicherinputund justitielle Verarbeitung .................................... 230 3. Relativierungen der ultima ratioFunktiondes Strafrechts ................................ 236 4. Exkurs: Mißbrauch des Strafrechts zu verfahrensfremden Zwecken ................. 239 5. Implementierbarkeitsvorbehalt .......................................................................... 239 VI. Das Schuldprinzip .................................................................................................. 242 I. Absieherungen des Schuldprinzips .................................................................... 242 2. Schuld als Frage des allgemeinen Teils ............................................................. 245 3. Das Schuldprinzip und die strafbewehrten Verbotsnormen .............................. 246 4. Zusammenfassung ............................................................................................. 252 2. Teil: Die Praxis der Strafgesetzgebungsverfahren............................................... 254

I.

Normative Vorgaben für das Verfahren der Strafgesetzgebung ............................. 256 I. Die Rechtsquellen für das Gesetzgebungsverfahren .......................................... 256 2. Das formelle, wahrgenommene Verfahren ........................................................ 259 3. Das Vorverfahren .............................................................................................. 264

II. Der informelle Gesetzgeber- ein Gewaltenteilungsproblem? ............................... 268 I. Die Ministerialbürokratie .................................................................................. 268 2. Parteipolitik in den Gesetzgebungsverfahren .................................................... 268 3. Die öffentliche Meinung und gesetzgebenscher Handlungsbedarf.................... 270 4. Die Rolle der dritten Gewalt in der Strafgesetzgebung ...................................... 276 5. Verbände und Sachverständige ......................................................................... 281 6. Exkurs: Gesetzgebung unter dem Einfluß der Internationalisierung ................. 285 7. Zusammenfassung ............................................................................................. 292 III. Exemplarische Untersuchungneuerer Gesetzgebungsakte .................................... 294 I. Das strafbewehrte Vermummungs- und Schutzwaffenverbot.. .......................... 294

2. § 109 b - spezieller Ehrschutz für Soldaten oder Iex Tucholsky ....................... 303

Inhaltsübersicht

II

3. Das Korruptionsbekämpfungsgesetz ................................................................. 308 3. Teil: Strategien der Verbesserung der Strafgesetzgebung ............... ........ ..... ..... . 317 I.

Materielle Regelungen ........................................................................................... 318 I. De lege lata: "Ausbeutung der Verfassung" ...................................................... 318 2. Verfassungsrechtliche Festlegungen eines Straftatbegriffes .............................. 319 3. Sozialschädlichkeitsvorbehalt. ........................................................................... 320

II. Verfahrensbezogene Lösungen .............................................................................. 322 I. Das Strafgesetzgebungsverfahren als Entscheidungsfindungsmodell.. .............. 322 2. Zwischenziele und Mittel einer Verfahrensoptimierung .................................... 324 3. Zusammenfassende Überlegungen .................................................................... 336 Verzeichnis der verwendeten Literatur ......................... ............................ ............... 337

Inhaltsverzeichnis

Einleitung .... ............... ......... ............................................ ................ .............................. 25 1. Teil: Anforderungen an eine verfassungsgemäße Strafgesetzgebung ........ ........... 30 I.

Der Rechtsgutsbegriff .............................................................................................. 30 I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze ............................................ 31 a) Zweigleisigkeil des Begriffes .......................................................................... 31 aa) Methodologischer Begriff ....................................................................... 32 bb) Substanzieller Begriff... ........................................................................... 33 b) Zur historischen Rekonstruktion des Begriffes: einige Eckpunkte ................. 35 aa) Naturrechtliche Verbrechensbegriffe ...................................................... 35 bb) Subjektive Rechte ................................................................................... 36 cc) Birnbaumscher Rechtsgutsbegriff ........................................................... 37 dd) Empirisch geprägter Rechtsgutsbegriff ................................................... 38 ee) Systemtheoretische Orientierung............................................................. 39 ff) Prägung des Rechtsgutsbegriffes durch konsensuale Merkmale ............. 40 gg) Ontologisch geprägter Rechtsgutsbegriff ................................................ 41 c) Gegentendenzen .............................................................................................. 42 aa) Drohender Paradigmenwechsel -der Rechtsgutsbegriff als Kriminalisierungstopos ..................................................................................... 42 bb) Konzepte, die sich vom Rechtsgutsbegriff als Argumentationsfigur entfernen ............................................................... 45 (I) Die Wiederbelebung des Konzepts der subjektiven Rechte ............. 45

(2) Systemtheoretisch orientierte Begründungen .................................. 47 (3) Strafadäquität: Das Konzept von Frisch .......................................... 48 (4) Verfassungsrechtliche Position (O.Lagodny) .................................. 50 cc) Pluralismus oder die zunehmende Unverbindlichkeit scheinbar verbindlicher Wertorientierungen ................................................................ 51

14

Inhaltsverzeichnis 2. Der Rechtsgutsbegriff innerhalb der kriminalpolitischen Diskussion .................. 55 a) Die Notwendigkeit einer Trennung von Rechtsgut und Angriffswegen ......... 55 aa) Was sind Angriffswege? .......................................................................... 55 bb) Gründe für die Differenzierung zwischen Rechtgütern und Angriffswegen ...................................................................................................... 56 b) Notwendigkeit einer systematischen Trennung von Rechtsgütern einerseits und sonstigen kriminalpolitisch relevanten Topoi andererseits ...................... 58 3. Vom Interesse zum Rechtsgut ............................................................................. 60 a) Interessen und ihr Schutz ................................................................................ 60 aa) Interessen ................................................................................................ 61 bb) Normativierung von Interessen ............................................................... 62 cc) Notwendigkeit der öffentlichen Anerkennung von Interessen ................ 62 (1) Anerkennung als rechtlich schützenswert ........................................ 63

(2) Anerkennung als strafrechtlich schützenswert ................................. 63 b) Fragmentarietät des Strafrechts- Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit? .... 64 c) Begrenzbarkeil der Interessen, die Strafrechtsrechtsgut sein können?............ 67 aa) Personale Rechtsgutslehre ....................................................................... 69 (I) Vorstellung der personalen Rechtsgutslehre .................................... 69 (2) Kritik an der personalen Rechtsgutslehre ........................................ 71 (a) Müssig ...................................................................................... 71 (b) Schünemann .............................................................................. 74 (c) Kuhlen ...................................................................................... 76 (3) Begrenztheit der kriminalpolitischen Reichweite der personalen Rechtsgutslehre ................................................................................ 79 bb) Verfassungsrechtliche Argumente ........................................................... 80 (I) Der Verfassungstext-Stellungnahmen zum Strafrecht.. ................. 81

(a) Unmittelbare Stellungnahmen ................................................... 82 (b) Mittelbare Stellungnahmen ....................................................... 83 (aa) Das Grundgesetz als Verfassung der Grundrechte des einzelnen.......................................................................... 83 (bb) Die grundgesetzliche Konzeption der Institutionen ......... 84 (cc) Das besondere historische Erbe des Grundgesetzes ........ 85

Inhaltsverzeichnis

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(dd) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ...... 86 (a) Zum Unterschied zwischen Individual- und

Kollektivrechtsgütern ............................................... 86 (ß) Zu den Pönalisierungspflichten ................................ 87

(2) Verfassungsgestützte Zentralgehalte der personalen Rechtsgutslehre ................................................................................................. 88 4. Die Verletzung der Interessen als Angriffswege auf Rechtsgüter ........................ 90 a) Die eigenständige Betrachtung der Angriffswege: mehr als eine Frage der Gesetzgebungstechnik .................................................................................... 90 b) Die unterschiedlichen Angriffswege ............................................................... 91 aa) Handlungen, die eine Rechtsgüterverletzung bewirken .......................... 91 bb) Handlungen, die eine konkrete Rechtsgutsgefährdung bewirken ....... .... 92 cc) Handlungen, die eine abstrakte Rechtsgutsgefährdung bewirken ........... 93 (I) Beschränkung auf "deliktstypische Gefahren" ................................. 95

(2) Die Position des Bundesverfassungsgerichts zu abstrakten Gefährdungsdelikten im Strafrecht .................................................. 95 (3) Der Maßstab der Willkürfreiheit ...................................................... 96 dd) Eignungsdelikte ....................................................................................... 98 5. Zusammenfassung ............................................................................................... 99 II. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ........................................................................... 101 I. Grundrechtliche Maßstäbe für die Strafgesetzgebung ....................................... 102 a) Schutzbereich ............................................................................................... I 02 aa) Eingangsfrage: Grundrechtlicher Schutz für "kriminelles Handeln"?... 103 (I) Enge Auslegung: neminem laedere als Konkretisierung der grundrechtlich geschützten Freiheit? ............................................. I 03 (2) Weiteres Grundrechtsverständnis .................................................. 104 (3) Stellungnahme ............................................................................... I 05 bb) Spezielle Freiheitsgrundrechte .............................................................. I 07 cc) Allgemeine Freiheitsgewährleistung ..................................................... I 08 dd) Gleichheit .............................................................................................. 109 b) Eingriff ......................................................................................................... 110 aa) Charakteristika eines Grundrechtseingriffs ........................................... 110

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Inhaltsverzeichnis bb) Die Differenzierung im Prüfungsmaßstab nach den Bestandteilen einer Strafrechtsnorm ............................................................................ II I (I) Eingriff durch die Verhaltensnorm ................................................ II! (2) Eingriff durch die besondere strafrechtliche Qualität des Vorwurfs .............................................................................................. 112 (3) Eingriff durch die Sanktion selbst ................................................. 114

c) Schranken ..................................................................................................... 115 d) Schranken-Schranken ................................................................................... 116 aa) Die Schranken-Schranken des Art. 19 I und II GG ............................... 116 (I) Allgemeine Gesetze ....................................................................... 116 (2) Das Zitiergebot .............................................................................. 117 (3) Die Wesensgehaltsgarantie ............................................................ 117 bb) Die Schranken-Schranke des Bestimmtheitsgebotes ............................. 119 cc) Die Schranken-Schranke des Verhältnismäßigkeitsprinzips ................. 119 2. Zweckbestimmung des Gesetzgebers ................................................................. 119 a) Klassische Position ....................................................................................... 120 b) Zum Zweck der Strafgesetze im Sinne der Zweck-Mittel-Relation des Verhältnismäßigkeitsprinzips ....................................................................... 121 c) Relationalität des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ..................................... 121 3. Geeignetheit.. ................................................................. .................................... 123 a) Rekonstruktion der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ..................... 123 b) Zusammenhang mit der Zwecksetzung ......................................................... 124 c) Geeignetheit im Sinne der Differenzierung von Verhaltens- bzw. Sanktionsnorm ..................................................................................................... 124 4. ErforderlichkeiL ................................................................................................ 126 a) Zur Notwendigkeit eines anspruchsvollen Effektivitätsbegriffes .................. 127 aa) Wider die Vermutung, der intensivste Eingriff verspreche prinzipiell die höchste Effektivität.. ........................................................................ 127 bb) Relative Milde des Mittels: Wirkungen und Nebenwirkungen ............. 129 b) Ein Freiheitsdilemma? .................................................................................. 133 aa) Wider die Vermutung, der Verzicht auf Strafgesetze garantiere prinzipiell ein Mehr an Freiheit... .......................................................... 133 bb) Modelle der gesellschaftlichen Freiheitsverteilung ............................... 134

Inhaltsverzeichnis

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(I) Präventive oder repressive Reaktionen .......................................... 134 (2) Differenzierung nach Regelungsadressaten und Zurechnungsstrukturen ....................................................................................... 134 (3) Die Art der Reaktionen .................................................................. 136 (4) Verfahren ...................................................................................... . 136 c) Alternativen zur strafbewehrten Verhaltensnorm ......................................... 137 aa) Nichtrechtliche Lösungen ..................................................................... 137 (I) Die Macht des Marktes .................................................................. 138

(2) Beispiel technische Prävention ...................................................... 139 bb) Gratifizierende oder feststellende anstelle von sanktionierenden Modellen ............................................................................................... 140 cc) Zivilrechtliche Lösungen ...................................................................... 142 (I) De lege lata .................................................................................... 144 (a) Vertragsstrafen ........................................................................ 144 (b) Deliktsrecht; speziell Schmerzensgeld .................................... 145 (2) De lege ferenda .............................................................................. 146 (a) Punitive damages .................................................................... 147 (b) Freiwillige Leistung doppelten Schadenersatzes .................... 149 dd) Öffentlichrechtliche, insbesondere verwaltungsrechtliche Lösungen .... 150 ee) Steuer- und abgabenrechtliche Lösungen ............................................ 152 ff)

Lösungen im Ordnungswidrigkeitenrecht ............................................. 154

gg) Ein Modell de lege ferenda: Das Interventionsrecht ............................. 156 d) Exkurs: experimentelle Strafgesetzgebung ................................................... 156 aa) Begriffliche Klärung ............................................................................. 157 bb) Zulässigkeil von Gesetzesexperimenten ................................................ 158 5. Das Übermaßverbot ........................................................................................... 161 a) Herkömmliche Konkretisierungen ................................................................ 161 b) Wiederaufnahme: Das Konzept des Strafrechtsgutes aus Sicht der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeilsprüfung ............................................ 163 c) Die Strafrechtsgutstheorie als Konkretisierung des Übermaßverbotes ......... 163 6. Zusammenfassung ............................................................................................. 165 111. Der Umgang mit empirischen Voraussetzungen .................................................... 167 2 Stächelin

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Inhaltsverzeichnis I. Allgemeine Rationalitätsanforderungen ............................................................ 168 2. Tatsachenermittlungen ....................................................................................... 171 a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ................................... 172 b) Der ,.Tugendlehreansatz" von Gusy ............................................................. 174 c) Der Pflichtenansatz von Schwerdtfeger ........................................................ 175 d) Stellungnahme .............................................................................................. 177 e) Exurs: Das in der Asylentscheidung des Bundesverfassungsgerichts geprägte Konzept der normativen Vergewisserung ...................................... 182 3. Prognoseentscheidungen ................................................................................... 184 a) Prognose der Entwicklung tatsächlicher Gegebenheiten .............................. 185 b) Prognose der Wirkung von Mitteln der Verhaltensbeeinflussung ................ 186 aa) Maßstäbe der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte ......................... 187 bb) Der für die Strafgesetzgebung einschlägige Kontrollmaßstab ............... 187 cc) Konkretisierung des Kontrollmaßstabes ................................................ 188 4. Abwägungspflichten .......................................................................................... 189 a) Darstellung der Alternativen ......................................................................... 190 b) Maßstäbe der Ermessensentscheidung .......................................................... 191 5. In dubio pro libertate? ....................................................................................... 192 a) non Iiquet-Situationen .................................................................................. 193 aa) Rechtliche Gründe ................................................................................. 193 bb) Uneinigkeilen ........................................................................................ 194 b) Beweislastverteilungen ................................................................................. 194 aa) In dubio pro autoritate ........................................................................... 195 bb) Differenzierung nach den Beweisgegenständen .................................... 196 cc) Das status quo Argument ...................................................................... 197 dd) Strafrechtsspezifische Differenzierung nach den Details der Freiheitszuteilung ................................................................................................ 198 6. Nachbesserungspflicht ....................................................................................... 200 a) Nachbesserungspflicht als milderes Mittel der Gesetzeskritik ...................... 200 aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ............................ 20 I bb) Bestätigung durch die Literatur. ............................................................ 201 b) Grund der Nachbesserungspflicht ................................................................. 202

Inhaltsverzeichnis

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c) Gegenstand der Pflicht. ................................................................................. 202 aa) Evaluation als Produktbeobachtungspflicht .......................................... 203 bb) Korrekturpflicht .................................................................................... 204 (I) Verfassungsgerichtliche Aufträge .................................................. 204

(2) Pflicht zur Eigeninitiative .............................................................. 204 7. Zusammenfassung ............................................................................................. 205 IV. Das Bestimmtheitsgebot.. ....................................................................................... 207 I. Rekonstruktion .................................................................................................. 207 a) Das Bestimmtheitsgebot innerhalb des Gesetzlichkeitsprinzips ................... 207 b) Historische Herleitung .................................................................................. 208 c) Absieherungen .............................................................................................. 208 d) Ausformungen .............................................................................................. 209 aa) Adressierung des Prinzips ..................................................................... 209 bb) Inhaltliche Präzisierung ......................................................................... 210 cc) Exkurs: Zur Konsistenz gesetzlicher Wertungen .................................. 211 dd) Reichweite ............................................................................................. 212 2. Theoretische und praktische Friktionen ............................................................. 213 a) Sprache ......................................................................................................... 213 b) Flexibilisierungsbedürfnisse ......................................................................... 214 3. Der Bestimmtheitsgrundsatz des Bundesverfassungsgerichts ............................ 216 a) Fallanalysen .................................................................................................. 216 aa) Extremfälle ............................................................................................ 216 bb) Vereinbarkeitsentscheidungen .............................................................. 218 (I) Generalklauselfälle ........................................................................ 218 (2} Blankettfälle................................................................................... 219 b) Folgen dieser Rechtsprechung für die Gesetzgebung ................................... 220 4. Utopie oder Näherungsziel? .............................................................................. 221 a) Utopie ........................................................................................................... 221 b) Näherungsziel ............................................................................................... 221 c) Remeduren .................................................................................................... 222 5. Zusammenfassung ............................................................................................. 227 2*

20

Inhaltsverzeichnis

V. lmplementierbarkeit ............................................................................................... 228 I. Ausgangsüberlegung ......................................................................................... 229 a) Exposition der These .................................................................................... 229 b) Reichweite der These .................................................................................... 229 c) Dunkelfeldeinwand ....................................................................................... 230 2. Materiell-rechtlicher input und justitielle Verarbeitung .................................... 230 a) Auflösung prozeduraler Garantien ................................................................ 230 aa) Opportunität .......................................................................................... 230 bb) Verständigung im Strafverfahren .......................................................... 231 cc) Wiedergutmachung ............................................................................... 232 dd) Verfahrensvereinfachungen ................................................................... 233 ee) Effektive, gegebenenfalls heimliche Ermittlungsverfahren ................... 234 b) Zunahme privater Sicherheitsangebote ......................................................... 235 3. Relativierungen der ultima ratioFunktiondes Strafrechts ................................ 236 a) Strafrecht als ultima ratio .............................................................................. 236 b) Zusammenhang mit dem Legalitätsprinzip ................................................... 236 c) Auswirkungen auf die Strafzwecke .............................................................. 237 d) Zusammenhang mit den schützenden Formen des Strafverfahrens .............. 238 4. Exkurs: Mißbrauch des Strafrechts zu verfahrensfremden Zwecken ................. 239 5. lmplementierbarkeitsvorbehalt .......................................................................... 239 VI. Das Schuldprinzip .................................................................................................. 242 I. Absieherungen des Schuldprinzips .................................................................... 242 a) Das Schuldprinzip als ethisches Minimum ................................................... 242 b) Die Begründung des Bundesverfassungsgerichtes ........................................ 243 c) Das Schuldprinzip als ungeschriebenes Justizgrundrecht.. ........................... 244 2. Schuld als Frage des allgemeinen Teils ............................................................. 245 3. Das Schuldprinzip und die strafbewehrten Verbotsnormen .............................. 246 a) Relativierungen des Schuldgrundsatzes in den Deliktsfestlegungen ............ 246 aa) Gefährlichkeilshaftung statt Tatschuld .................................................. 246 bb) Objektive Bedingungen der Strafbarkeit ............................................... 248 b) Schuldmaß als gesetzgeberische Ordnungsgröße? ........................................ 250

Inhaltsverzeichnis

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aa) Ausschluß von schlichtem Verwaltungsungehorsam ............................ 250 bb) Schuldangemessenheit der speziellen Sanktion .................................... 252 4. Zusammenfassung ............................................................................................. 252

2. Teil: Die Praxis der Strafgesetzgebungsverfahren ............................................ 254 I.

Normative Vorgaben für das Verfahren der Strafgesetzgebung ............................. 256 I. Die Rechtsquellen für das Gesetzgebungsverfahren .......................................... 256 a) Das Grundgesetz ........................................................................................... 257 b) Die Geschäftsordnung des Bundestages ....................................................... 258 c) Die gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien ......................... 258 d) Der ministerielle Prüffragenkatalog .............................................................. 258 2. Das formelle, wahrgenommene Verfahren ........................................................ 259 a) Das Einleitungs- und lnitiativverfahren ........................................................ 259 b) Das Haupt- oder Beschlußverfahren ............................................................. 260 aa) Erste Lesung .......................................................................................... 261 bb) Ausschüsse ............................................................................................ 261 cc) Weitere Lesungen und Beschluß ........................................................... 261 dd) Die Rolle des Bundesrates .................................................................... 262 c) Das Abschlußverfahren ................................................................................. 264 3. Das Vorverfahren .............................................................................................. 264

II. Der informelle Gesetzgeber- ein Gewaltenteilungsproblem? ............................... 268 I . Die Ministerialbürokratie .................................................................................. 268 2. Parteipolitik in den Gesetzgebungsverfahren .................................................... 268 3. Die öffentliche Meinung und gesetzgeberischer Handlungsbedarf.. .................. 270 a) Kriminalität als Medienthema ...................................................................... 271 b) Strukturelle Defizite ..................................................................................... 272 c) Überlegungen zur Wirkungsweise der Medien auf den Gesetzgebungsprozeß ........................................................................................................... 273 aa) Die Genese des Strafgesetzgeberischen Handlungsbedarfes .................. 274 bb) Der politisch-publizistische Verstärkerkreislauf ................................... 274 4. Die Rolle der dritten Gewalt in der Strafgesetzgebung ...................................... 276 a) Die fachgerichtliche Rechtsprechung ........................................................... 276

22

Inhaltsverzeichnis b) Das Bundesverfassungsgericht ..................................................................... 277 aa) Unmittelbare "Gesetzgebung" durch das Bundesverfassungsgericht .... 277 bb) Friktionen mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz? .................................. 278 5. Verbände und Sachverständige ......................................................................... 281 a) Lobbyismus und sachverständige Beratung .................................................. 281 aa) Lobbyismus in der Gesetzgebung ......................................................... 281 bb) Wissenschaftliche Beratung des Gesetzgebers ...................................... 282 b) Lobbyismus in der Strafgesetzgebung: einseitig oder mangelhaft ................ 282 c) Kompensation durch wissenschaftliche Beratung? ....................................... 284 6. Exkurs: Gesetzgebung unter dem Einfluß der Internationalisierung ................. 285 a) Völkerstrafrecht ............................................................................................ 286 b) Internationalisierung des ius puniendi? ........................................................ 287 aa) Unmittelbare Inanspruchnahme von Strafrechtssetzungskompetenz durch supranationale Organisationen .................................................... 287 bb) Mittelbare Rechtssetzung ...................................................................... 289 (I) Neue "Rechtsgüter" ....................................................................... 289

(2) Vertragliche Pönalisierungspflichten ........................... .................. 289 (3) Übernationale Inhaltsbestimmungen nationaler Strafnormen ........ 291 c) Der Einigungsvertrag .................................................................................... 291 7. Zusammenfassung ............................................................................................. 292 111. Exemplarische Untersuchungneuerer Gesetzgebungsakte .................................... 294 I. Das strafbewehrte Vermummungs- und Schutzwaffenverbot.. .......................... 294 a) Die Rechtsgüter ............................................................................................ 294 b) Die Angriffswege .......................................................................................... 294 c) Empirie im Gesetzgebungsverfahren ............................................................ 295 aa) Der Handlungsbedarf ............................................................................ 296 bb) Die Schädlichkeitshypothese ................................................................. 297 d) Grundrechtsprüfung ...................................................................................... 298 aa) Betroffener Schutzbereich und Schranke .............................................. 298 bb) Bestimmtheilsgrundsatz ........................................................................ 299 cc) Verhältnismäßigkeitsprinzip ................................................................. 300

Inhaltsverzeichnis

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0 Ergebnis ........................................................................................................ 303 2. § 109 b - spezieller Ehrschutz für Soldaten oder Iex Tucholsky ....................... 303 a) Die Rechtsgüter ............................................................................................ 303 b) Die Angriffswege .......................................................................................... 304 c) Der Umgang mit den "legislative facts" ....................................................... 304 d) Die Regelungssystematik .............................................................................. 305 e) Verborgene, aber intendierte Funktionen der Vorschrift.. ............................ 305

0 Grundrechtliche Bedenken ........................................................................... 306 g) Ergebnis ........................................................................................................ 307 3. Das Korruptionsbekämpfungsgesetz ................................................................. 308 a) Die Regelungsgegenstände, insbesondere die Submissionsabsprachen und das sogenannte "Anfüttern" ................................................................... 309 aa) Submissionsabsprachen ......................................................................... 309 bb) Das "Anfüttern" .................................................................................... 310 b) Das Rechtsgut ............................................................................................... 311 c) Die Angriffswege .......................................................................................... 312 d) Der Handlungsbedarf.. .................................................................................. 312 e) Grundrechtsprüfung ...................................................................................... 314

0 Ergebnis ........................................................................................................ 316 3. Teil: Strategien der Verbesserung der Strafgesetzgebung ................................ 317 I.

Materielle Regelungen ........................................................................................... 318 1. De lege lata: "Ausbeutung der Verfassung" ...................................................... 318 2. Verfassungsrechtliche Festlegungen eines Straftatbegriffes .............................. 319 3. Sozialschädlichkeitsvorbehalt............................................................................ 320

II. Verfahrensbezogene Lösungen .............................................................................. 322 1. Das Strafgesetzgebungsverfahren als Entscheidungsfindungsmodell ................ 322 a) Das Modell Jägers: Strafgesetzgebung und Strafprozeß ............................... 322 b) Das Gesetzgebungsverfahren zwischen Sachkompetenz und Mehrheitsprinzip ........................................................................................................... 323 2. Zwischenziele und Mittel einer Verfahrensoptimierung .................................... 324 a) Verbreiterung der Wissensbasis .................................................................... 324 aa) Planspiele .............................................................................................. 324

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Inhaltsverzeichnis bb) Evaluation ............................................................................................. 326 cc) Wissenschaftliche Politikberatung ........................................................ 327 b) Rationalisierung ............................................................................................ 330 aa) Stärkung der diskursiven Momente ....................................................... 331 bb) Vermehrung der Begründungsptlichten ................................................ 332 cc) Gesetzgebungswettbewerb und Rechtsvergleichung ............................. 333 c) Transparenz .................................................................................................. 334 d) Stetigkeit. ...................................................................................................... 335 3. Zusammenfassende Überlegungen .................................................................... 336

Verzeichnis der verwendeten Literatur .............................. ........................ .......... .... 337

Einleitung Das Bedürfnis, Strafgesetzgebung auf ihre Legitimität hin zu untersuchen, dürfte so alt sein, wie positiviertes Strafrecht selbst. Als ein denkwürdiges Datum in der Geschichte der Bemühungen um die Kriterien, die den Inhalt der Strafgesetze bestimmen sollten, kann der Gesetzgebungswettbewerb der Ökonomischen Gesellschaft zu Bern gelten, 1 der 1782 mit der Preisverleihung an die Arbeit von Globig und Huster endete. 2 Bemerkenswert an solchen historischen Arbeiten ist die Klarheit und Unbefangenheit, mit der auch gegenüber der dritten Gewalt, also der Legislative die "richtigen" Strafgesetze und damit die "richtige" Gesetzgebung eingefordert wurde. Die damaligen Bemühungen um die Sache hier hervorzuheben, bedeutet natürlich keineswegs, die heute naiv wirkende Perspektive der (französichen) Enzyklopädisten einnehmen zu wollen. Bewundernswert und insoweit auch nachahmenswert erscheint aber die damals geübte Offenheit, mit der die Argumente vorgebracht und deren Herkunft offengelegt wurde. Die heute relativ zur damaligen Zeit bestehenden Gewißheilsverluste und das Verständnis unserer modernen Rechtsgesellschaft als verfassungsrechtlich bestimmt, sind geeignet, die "direkten" Zugänge zur Beschreibung "richtigen" Rechts und dem richtigen Weg zu dessen Setzung zu versperren, jedenfalls aber die Rückbesinnung auf Unhinterfragbares so weit als möglich herauszuzögern. Wie wichtig es ist, zum erschöpfenden Verständnis des Phänomens der Kriminalität auch den Akt der Gesetzgebung zu beobachten, hat der labeling approach gezeigt. Geht man im Sinne dieses inzwischen häufig in Vergessenheit geratenen Ansatzes davon aus, daß strafrechtliches Unrecht nicht etwa eine dem menschlichen Handeln immanente Dimension ist, so müßte sich das Interesse sogleich auf den Prozeß der Strafgesetzgebung richten. Hier nämlich ist der Ort, wo die Grundentscheidungen für unser Kriminaljustizsystem fallen, wo die Kriminalität gemacht oder doch zumindest ihr Gegenstand bestimmt wird. Und um diese Produktion strafrechtlicher Normen ist es schlecht bestellt. Es fällt auf, daß Gesetzgebung heute weitgehend perspektivlos als politisches Tagesgeschäft betrieben und zumeist auch so verstanden wird. Man kann behaupten, die Strafgesetzgebung der jüngeren Vergangenheit stecke in einer Krise und

Dazu Schmidt, Abhandlung, S. 28 ff. Die preisgekrönte Schrift ist erhalten: Globig/ Huster, Criminalgesetzgebung, 1783 [Nachdruck 1969]. Ebenfalls eingereicht wurde von Jean Paul Marat: Plan de legislation criminelle; dazu Lohmann, Marat. 1

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sei eher dabei, sich in dieser zu etablieren, als Auswege zu suchen oder gar zu finden. Die Indizien dafür sind vielfältig. Auch im materiellen Strafrecht, vor allem im sogenannten Nebenstrafrecht ist eine Gesetzesflut bis hin zur Überregulierung feststellbar. Das Kriminaljustizsystem kommt den dadurch gestellten Implementierungsanforderungen nicht nach, ist überlastet. Es scheint der Strafgesetzgebung an einer Gesamtperspektive zu fehlen. Kodifikationen sind "aus der Mode geraten". 3 Während das 19. Jahrhundert und sogar die drei Nachkriegsdekaden noch von Kodifikationen oder Reformen einzelner Rechtsgebiete und auch des Strafrechts geprägt waren,4 herrscht heute "Instantgesetzgebung" vor. "Reformen", die diesen Namen verdienen, sucht man vergebens. Der Unterschied zu einer Zeit, in der die Gesetzgebungsinitativen unter Titeln wie "Artikelgesetz"5 oder "Verbrechensbekämpfungsgesetz"6 realisiert werden, ist augenfällig. Dabei erschöpft sich die Forderung nach einer behutsameren, reflektierten und perspektivischen Reform7 keineswegs in ästhetischen Bedürfnissen, obwohl solche auch im Gesetzgebungsprozeß durchaus eine Rolle spielen könnten.8 Vielmehr gilt es die Veränderungen im Blick zu halten. Die an Stelle von Reformen praktizierte "Salamitaktik"9 birgt die Gefahr, daß Entwicklungen verschleiert und somit grundsätzlicher Kritik entzogen werden, womit noch nicht behauptet ist, dies sei ein Ziel der so agierenden Kriminalpolitik. 10 Die letzte Tagung einer Forschungsgruppe, die sich regelmäßig mit Gesetzgebung beschäftigt, trug den bezeichnenden Titel "Das mißglückte Gesetz". 11 Die Stellungnahmen der Literatur zum Gesetzgebungsstil 12 der jüngeren VerKarpen, Gesetzeskodifikation, S. 181 ff. und 352. Krauß, Strafgesetzgebung, S. 184, geht davon aus, daß dies mit dem freiheitlichen Selbstverständnis des (Rechts-) Staates einhergeht. 5 BGBI. I 1989, S. 1059 ff. 6 BGBI. I 1994, S. 3186 ff. 7 Vergleiche zum Unterschied zwischen Reformgesetzgebung, deren Ende er 1975 ansiedelt, und solchen Gesetzesänderungen, die den Namen "Reform" nicht verdienen, Richter 1/, Strafgesetzgebung, S. 440 ff. (441 ). 8 So meint Hettinger, Strafgesetzgebung, S. 403, der eigentliche Grund der Angleichung verschiedener Strafrahmen durch das "Verbrechensbekämpfungsgesetz" (BGBI. I 1994, S. 3186) sei vielleicht die "Harmonie der Zahlen". 9 Dencker, Gefährlichkeitsvermutung, S. 266. 10 Immerhin scheint sich die Erkenntnis, daß eine immer weiter getriebene, stückweise Ergänzung jedenfalls im Strafverfahrensrecht auf Dauer nicht die geeignete Lösung darstellt, auch bei der Bundesregierung durchgesetzt zu haben. Auf eine diesbezügliche kleine parlamentarische Anfrage antwortete sie nämlich, daß eine Gesamtreform durch Bildung einer Großen Strafverfahrensrechtskommission erwogen würde (BT-Drs. 13/ 2328). 11 Diederichsen, mißglückte Gesetz, S. 359 ff. 12 Als Teil des von Naucke, Stil des Rechts, S. 189 ff., beklagten aktuellen Stil des Rechts im allgemeinen. 3

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gangenheit fallen dementsprechend kritisch, zum Teil sogar polemisch aus. Es ist mit Blick auf den Gesetzgeber und seine Arbeit die Rede von "flickwerkartigen Gesetzesveränderungen", 13 "Rattenfängern", 14 "Gesetzgebungsmüll", 15 "Kuhhandel" 16 und "populistischen Zugriff' auf das Strafrecht. 17 Strafgesetzgebung mutiert zu hektischem Aktionismus, orientiert sich an politischen Geltungsbedürfnissen und anstehenden Wahlterminen. 18 Die immer wieder beklagte Politikverdrossenheit der Bürger mag auch in solcher Gesetzgebung einen ihrer Gründe finden. 19 Mit solcher Gesetzgebung umzugehen, muß selbstredend nicht zu der Forderung führen, unter Rückgriff auf derartige Traditionen in der griechischen Antike,20 schlechte oder verfassungswidrige Gesetzgebung ihrerseits unter Strafandrohung zu stellen. Versuche einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Strafgesetzgebungsverfahren in tatsächlicher und normativer Hinsicht bleiben dennoch vereinzelt. Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Monographie von Noll, 21 die in den seit der Publikation verstrichenen Jahren ohne Entsprechung geblieben ist, ihrerseits jedoch noch aus einer Zeit stammt, in der sich die beschriebene Krise wohl erst andeutete. Die Bemühungen der Soziologen, etwa Floerecke22 und Lüdemann, 23 lassen zumeist die notwendige Sensibilität für die strafrechtlichen Detailfragen vermissen. Die professionell-juristische Annäherung leidet, wenn sie von Verfassungsoder Verwaltungsjuristen kommt, die mit den Verfahren der Strafgesetzgebung

13 Freund, Stellungnahme, S. 272, zum geplanten 2. Rechtspflegeentlastungsgesetz, vergleichbar das Verdikt von Pestalou;a, Gesetzgebung, S. 2086. 14 Hassemer, Perspektiven, S. 487, zum OK-Gesetzgeber. 15 Sonnen, Gesetzgebungs-Müll, S. 13, zur Hauptverhandlungshaft 16 Schüler-Springorum, Kriminalpolitik, S. 52, zur Demonstrationsgesetzgebung. 17 Albrecht, Strafrecht im Zugriff, S. 265 ff., zur Erweiterung des Strafrechts auf der Basis von- teilweise geschürter- Verbrechensfurcht 18 Dahs, Superwahljahr, S. 553 ff. 19 Hili, schlechte Gesetzgebung, S. 513 ff.; Zippelius, Politikverdrossenheit, S. 243; Hettinger, Strafrecht als Büttel, S. 2273 und Comelia Peters, Politikverdrossenheit, S. 198 f. 20 Vgl. bei Lipsius, Das Attische Recht, S. 382 ff. 21 Noll, Gesetzgebungslehre, 1973. 22 Floerecke, Entstehung, 1989 und ders. , Anatomie, 1992. 23 Besonders die Versuche von Lüdemann, Gesetzgebung, 1986, sich der Materie zu nähern, können nur als enttäuschend bezeichnet werden; vgl. dazu die Kritik von Albrecht, Buchbesprechung, S. 123 ff.

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in Theorie und Praxis vertraut sind, an einem vergleichbaren Mangel. Soweit sie von Strafjuristen stammt, widmen sich diese zumeist einzelnen Gesetzgebungsverfahren, "alleine" dem Rechtgutskonzept, der Symbolik24 oder eröffnen einen allgemeineren, kriminalpolitischen Horizont, 25 lassen hingegen die die Verfahren betreffenden juristischen und praktischen Probleme zu sehr im Dunkeln,26 oder aber widmen sich mit solcher Intensität den nichtstrafrechtlichen Fragen, daß die normativen Besonderheiten gerade dieses Rechtsgebietes zu kurz kommen.Z7 Gerade weil es m.E. darauf ankommt, Aspekte aus den tatsächlichen Gesetzgebungsabläufen, deren (verfassungs-) rechtlichen Grenzen und den Spezifika des Strafrechtes zusammenzuführen, ist das so entstehende Arbeitsprogramm immens. Es handelt sich insofern um - immer noch - zu leistende Pionierarbeit, deren vordringlichste Aufgabe die Herstellung von Bezügen ist, und die an vielen Stellen mehr Fragen aufwirft, als Antworten geben zu können. Beschränkungen tun deshalb not. So wird diese Untersuchung die Legiferierung zum materiellen Strafrecht, insbesondere zum besonderen Teils focussieren. Strafrechtliche Zurechnung und Strafzweckdebatten werden als Gegenstände der Gesetzgebung also ebenso ausgeblendet bleiben müssen, wie das Strafverfahrensrecht und das Strafvollzugsrecht, deren Bedeutung in einer gesamten Strafrechtswissenschaft damit keineswegs relativiert werden soll. Die Arbeit ist insgesamt in drei Teile untergliedert. Der erste interessiert sich für einige der zentralen Kandidaten oder Kriterien, die das Denken über Strafrecht bestimmen und bezieht dabei den verfassungsrechtlichen Hintergrund mit ein. Diese werden in Erinnerung gerufen und /oder rekonstruiert sowie in ihrer Bedeutung für die Legislative reflektiert. Von besonderer Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang immer wieder die Verbindlichkeit der Kriterien, die zwar vielleicht großenteils als "common sense" gelten können, der freiesten der drei Staatsgewalten aber bei näherer Betrachtung oft nur mit politischen, selten hingegen mit rechtlichen Gründen zur Berücksichtigung angeboten werden können. Der zweite Teil versucht dann, sich den realia des Strafgesetzgeberischen Tagesgeschäfts zu nähern. Dabei geht es einerseits darum, die Verfahren und deren normative Vorgaben kennenzulernen, andererseits aber auch darum, die handelnden Akteure zu identifizieren. Er schließt mit einem exemplarischen

24 Monilw Voß, Symbolische Gesetzgebung, 1989.

Schüler-Springorum, Krimina1politik, 1991. Monika Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 175 ff., beleuchtet immerhin kurz die Verfahrensrealia. 27 Lagodny, Schranken, 1996. 25

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Blick auf neuere Gesetzgebungsakte. Es handelt sich insoweit um einen empirischer Teil, der allerdings nur die allgemein zugänglichen Daten, also insbesondere die parlamentarischen Materialien heranzieht. Damit ist nicht behauptet, daß der Versuch einer weitergehenden Untersuchung der Motive, Denk- und Arbeitsweisen der handelnden (oder darstellenden) Akteure nicht lohnend wäre; allerdings würde dies den vorliegenden Rahmen sprengen. Im dritten Teil werden dann Möglichkeiten diskutiert, die Probleme der Umsetzung der Kriterien aus dem ersten Teil, wie sie sich in der Aufarbeitung der konkreten Gesetzgebungsbedingungen - inclusive der betrachteten Exempel im zweiten Teil gezeigt haben, zu bewältigen. Die dabei zu entwickelnden Ideen drohen regelmäßig, da sie die Staatsgewalt der Legislative einschränken könnten, undemokratisch zu wirken. Aber: "Demokratie kann nicht bedeuten, daß einem nichts mehr einfallen dürfe."

1. Teil: Anforderungen an eine verfassungsgemäße Strafgesetzgebung I. Der Rechtsgutsbegriff Eine typische Begründungsstrategie für die Erweiterung des materiellen Strafrecht nach den gerade gegebenen politischen Bedürfnissen scheint es zur Zeit zu sein, ein neues Rechtsgut zu erfinden, zu kreieren oder sonst zu behaupten.1 Insoweit stellt sich die Frage, was die Argumentation mit dem Rechtsgut heute noch verspricht. Der Ausgangspunkt soll hier jedoch zunächst die Vermutung sein, daß, wenn die Aufgabe des Strafrechts der Rechtsgüterschutz ist, durch die Etikettierung eines Interesses als Rechtsgut oder genauer Strafrechtsgut, eine folgenreiche Festlegung getroffen wird. Daß Sinn des Strafrechts der Rechtsgüterschutz sei, entspricht nicht nur der vorherrschenden Meinung in der (strafrechtlichen) Literatur/ sondern ist auch die Position des Bundesverfassungsgerichts: ,.Das strafrechtliche Delikt ist schuldhafte Verletzung eines für alle gewährleisteten Rechtsgutes. " 3 Zweifel waren jedoch schon früh mit diesem Begriff verbunden und sind es auch heute noch; gleichzeitig gilt er als Teil des klassischen Repertoires an Argumenten, wenn Debatten um Kriminalisierung oder Entkriminalisierung geführt werden. Unbestreitbar wäre, wenn man ihm Relevanz für die Kriminalisierungsentscheidung des Gesetzgebers zubilligen könnte, mit dem Rechtsgutsbegriff ein erstes zentrales Kriterium für die Frage nach der Legitimität von Strafgesetzgebungsentscheidungen gefunden. Dies allerdings nur, wenn Grenzen gefunden und begründet werden könnten, die einer willkürlichen Güterinflation entgegenstehen. Jedenfalls erscheint es lohnend, dem Rechtsgutsbegriff nachzugehen und ihn dabei auf seine Brauchbarkeit im soeben angedeuteten Sinne hin zu untersuchen.

1 Hassemer, Krisen, S. 381; Weigend, Beweisschwierigkeiten, S. 699 weist auf diese Praxis für die Fälle der Beweisschwierigkeiten hin. 2 Zu den Ausnahmen dann im Sachzusammenhang. 3 BVerfGE 25, 269, 286 (Berechnung strafrechtlicher Verjährungen). Jüngst hat Lagodny, Schranken, S. 138 ff. und passim zu zeigen versucht, daß damit etwas gänzlich anderes gemeint sei, als mit dem Rechtsgutsbegriff, wie er in der strafrechtlichen Diskussion verstanden wird. Darauf ist später im Sachzusammenhang einzugehen.

I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze

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Dabei will ich in vier Schritten vorgehen. Zunächst ( l.) folgt eine - wegen des diesbezüglich reichhaltigen Schrifttums - kurze Rekonstruktion einiger Rechtsgutskonzeptionen und konkurrierender Modelle. Hintergrundinteresse ist es einerseits, die Basis für das begrenzende Potential des Begriffes Rechtsgut zu studieren, andererseits zentrale Einwände gegen seine kritische Verwendung aufzuzeigen und diesen argumentativ zu begegnen. Der nächste Schritt (2.) bemüht sich um eine Abschichtung. Steht das Rechtsgut im Blickpunkt, so müssen andere, die Kriminalisierungsentscheidungen bestimmenden Einflußgrößen analytisch neutralisisert werden. Erst dann (3.) erscheint es gewinnbringend zu untersuchen, welche Anhaltspunkte gegen eine willkürliche Vermehrung der Rechtsgüter sprechen. Dort wird die Aufmerksamkeit einer bestimmten Ausprägung der Rechtsgüterkonzeptionen gewidmet sein. Einerseits, weil die vorherigen Auseinandersetzungen dafür die Basis gelegt haben, andererseits, weil diese Lehre, die sogenannte personale Rechtsgutslehre, mit Blick auf die Begrenzung der in Frage kommenden Interessen vielversprechend erscheint. Im Focus der Überlegungen soll die Frage stehen, ob und gegebenenfalls wie eine Begrenzung der Rechtsgütern verbindlich behauptet werden kann. Dazu können insbesondere verfassungsrechtliche Überlegungen beitragen. Abschließend (4.) bleibt zu erörtern, welche Verhaltensweisen gegenüber den Rechtsgütern strafbewehrt verboten werden und welcher Begründungen es hierfür bedarf. Die dort vorgeschlagene strenge Trennung von Rechtsgüter und Angriffswegen ist zur Zuspitzung und Klärung der kriminalpolitischen Debatten geeignet.

1. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze

a) Zweigleisigkeit des Begriffes Aufgabe des Strafrechts ist es, so lautet die gängige Losung, Rechtsgüter zu schützen. 4 Je nachdem, ob der Blick sich bei dieser Aussage auf das positive Recht richtet, oder auf kriminalpolitische Fragen, ist der grundsätzliche Bedeutungsgehalt des Rechtsgutsbegriffes unterschiedlich. Auch wenn der Kontext schon nahelegt, welcher Bedeutungsgehalt im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein soll, ist diese bedeutende Weichenstellung hier kurz nachzuzeichnen.5

4 Beispielsweise Roxin, AT, 2. A., § 2 Rz. I (der schon hier auf die Subsidiarität hinweist); Jescheck, AT, S. 6; Maurach/ Zipf, AT Tb. I, S. 266. 5 V gl. den Hinweis von Lüderssen, Kriminologie, Rz. I 00 zur Bedeutung dieser Selbstversicherung der Perspektive.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

aa) Methodologischer Begriff Nahezu jede komplexe Auslegung eines Straftatbestands führt zu der Frage, welches Rechtsgut von der Vorschrift geschützt werden soll. Man ist sich etwa weitestgehend einig darüber, daß der§ 263 StOB zwar das Vermögen in seiner Substanz schützen soll, nicht aber die Dispositionsfreiheit über dasselbe. 6 Dies hat dann zur Folge, daß beispielsweise ein Vermögensschaden vorliegt, wenn eine Spende ihren vermeintlich karitativen Zweck nicht erreicht und der Täter den Verfügenden über diesen Zweck getäuscht hat. 7 Anders liegt der Fall, wenn eine Spende dadurch verursacht wird, daß dem Verfügenden vorgespiegelt wird, andere - etwa Nachbarn oder Kollegen - hätten ihrerseits auch gespendet.8 Hier wird der Zweck der einseitigen Vermögenshingabe nicht verfehlt, das Saldo ergibt also keinen Schaden an der Substanz des Vermögens; verletzt ist vielmehr die Dispositionsfreiheit des Verfügenden durch täuschungsbedingte Motivierung. 9 Die dogmatisch "richtige" Lösung des Beispiels ist durchaus umstritten, worauf es im vorliegenden Zusammenhang allerdings nicht ankommt. Es kommt vielmehr darauf an zu zeigen, daß die Heranziehung des von der Vorschrift geschützten Rechtsgutes der Auslegung zuträglich ist. Das Rechtsgut fungiert in diesem Zusammenhang als Teil der ratio legis; 10 soziologisch gewendet beschreibt er das "soziale Substrat der Delikte des besonderen Teils." 11 Sein Bedeutungsgehalt verläßt die Ebene der Deskription und Interpretation des positiven Rechts nicht. Diese Bedeutung des Begriffes wird allgemein gesehen und gegen eine andere Bedeutung abgegrenzt. Die Umschreibungen, die diese Abgrenzung charakterisieren, sind allerdings verschieden, ohne daß die grundsätzliche Differenzierung davon berührt würde: nach Roxin 12 ist es der rein hermeneuthische im Gegensatz zum kriminalpolitischen Begriff; nach Lüderssen 13 der methodologische im Gegensatz zum substanzorientierten Begriff; Hassemer 14 spricht vom syste-

Vgl. statt Vieler LK-Lackner, Rz. 4 zu§ 263. Das Ergebnis ist weitgehend unstreitig, nicht aber die Begründung; vgl. Gerhold, Zweckverfehlung; Rudolphi, Spendenbetrug, S. 315 ff. und LK-Lackner, Rz. 164 ff. zu § 263. 8 Beispiel nach BayObLG NJW 1952, S. 798, welches allerdings vom Vorliegen eines Betruges ausgeht. 9 Vgl. wiederum LK-Lackner, Rz. 167 zu§ 263. 10 Vgl. Lüderssen, Kriminologie, Rz. 101. 11 Balog, Theorie und Praxis, S. 52. 12 Ro:xin, AT,§ 2 Rz. 7. 13 Lüderssen, Kriminologie, Rz. 101. 14 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 28. 6

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I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze

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matischen Interesse am Rechtsgut einerseits und vom kritischen Interesse andererseits. 15 bb) Substanzieller Begriff Von kriminalpolitischem Interesse ist ein Rechtsgutsbegriff, der über das einfache, positive (Straf-) Recht hinauszuweisen geeignet ist. Er kann zweierlei leisten. Zunächst kann er kritische Meßlatte für bestehende Straftatbestände sein, wenn Einigkeit über den Satz "Strafrecht, welches kein Rechtsgut schützt, ist illegitim" herzustellen ist 16 und gleichzeitig eine Begrenzung dessen möglich ist, was als Rechtsgut in diesem Sinne firmieren soll. Im Kontext von Überlegungen zur Strafgesetzgebung erfüllt der Begriff dann eine entsprechende Funktion, allerdings eben in einer de lege ferenda Perspektive.17 An der Berechtigung den Rechtsgutsbegriff in solcher Weise zu verwenden, ihn also schwerpunktmäßig als Maßstab dem Gesetzgeber vorzuhalten, ist vehement Kritik geäußert worden. Diese Kritik läßt sich historisch in zwei Abschnitte einteilen, nämlich die Einwände der methodologischen 18 Schule einerseits und die moderne Kritik am Rechtsgutsbegriff als die Freiheiten des Strafgesetzgebers begrenzender Topos andererseits. In einer ersten Annäherung interessieren hier zunächst diejenigen Einwände, die beispielweise Grünhut und Honig, aber auch Schwinge vorgebracht haben. Die anderen können an dieser Stelle nur andedeutet werden und müssen an der systematisch relevanten Stelle wieder aufgenommen werden. 19 Der methodologischen Schule ist gemeinsam, daß sie die Leistungen des Rechtsgutsbegriffes auf seine Bedeutung für die Auslegung einer bestehenden

15

Ähnlich und unter Bezugnahme auf Hassemer Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 9.

16 Anzeichen dafür, daß eine solche Einigkeit vorhanden ist, ergeben sich überra-

schenderweise etwa in der forensischen Praxis. So zeigt sich gerade in den Bereichen positiven Rechts, in denen Verhaltensweisen bestraft werden sollen, die zunächst nur moralwidrig erscheinen, eine intensive Bemühung um Benennung von Rechtsgütem. Dies hat Balog, Theorie und Praxis, S. 61 anhand der BGH-Rechtsprechung zu den Straftaten gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung nachgewiesen. Auch wenn diese als Rechtsgüter beschriebenen Interessen außerordentlich vage und in ihrer Tendenz unbegrenzbar erscheinen, so zeigt sich doch als Kern das Bedürfnis nach Legitimierung der Strafnormen durch den schützenden Bezug auf ein Rechtsgut. 17 Dazu Rudolphis Ausführungen zum liberalen Rechtsgutsbegriff in ders., Aspekte, s. 155 ff. 18 Diese Bezeichnung hat sich inzwischen - mehr oder weniger variiert - eingebürgert; vgl. die Übersicht bei Hohmann , Umweltdelikte, S. 26 Fn. 3. 19 Die in dieser Darstellung notwendige Vereinfachung der Debatte wird später aufzulösen sein (Teil I. I. c )). 3 Stächelin

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

Vorschrift reduziert. Für Honig ist das Rechtsgut ausschließlich "diejenige kategoriale Synthese, mit welcher juristisches Denken Sinn und Zweck der einzelnen Strafrechtssätze zu erfassen bestrebt ist. " 20 Grünhut wird die Formulierung zugeschrieben, das Rechtsgut sei die Abbreviatur des Zweckgedankens einer Strafrechtsnorm. 21 Schwinge bezeichnet es als die "ratio der Einzelrechtssätze".Z2

Substrat dieser Perspektiven ist es, dem Rechtsgut jede kritische Potenz abzusprechen. Nach den genannten Autoren generiert die Verabschiedung einer Strafrechtsnorm zugleich ein Rechtsgut Der Begriff des Rechtsgutes enthält demnach keinerlei Funktion, die dem Gesetzgeber als Maßstab entgegengehalten werden könnte. Er wäre damit für die vorliegende Untersuchung nicht von Interesse. Der generelle Nachteil einer solchen Begriffsbildung ist aber seine völlige BeliebigkeiL Der Versuch, legitime von illegitimen Strafnormen zu unterscheiden, Reflektionen über die Aufgabe des Strafrechts in einer Gesellschaft anzustellen und dem Gesetzgeber insoweit Anleitungen zu geben, wäre im Keim erstickt. Eine solche Sichtweise mag man auf den ersten Blick als dem Demokratieprinzip in der gewaltengeteilten Form kongruent halten. Daß dieser erste Blick trügerisch ist, zeigt sich aber an zweierlei. Einerseits am historischen Kontext, der die grenzenlose Verwertbarkeit dieses Begriffsentwurfes für autoritäre Systeme, speziell den Nationalsozialismus aufgezeigt hat, 23 bis hin zur Annahme, auch hinter den strafrechtlichen Normen der Nürnberger Rasse-Gesetze wären legitime - Rechtsgüter denkbar. Andererseits kann man den Fehlschluß des ersten Blickes auch an den Entwürfen der genannten Autoren aufzeigen. Schwinge etwa präzisiert die Abgehobenheil der Wertkomponente seines methodologischen Rechtsgutsbegriffes dahingehend, daß es auf eine Kongruenz der Wertvorstellungen des Gesetzgebers mit denen der Allgemeinheit in ihrer Funktion als Normadressaten- nicht einmal als Normgeber- nicht ankäme. 24 Die anderen, moderneren Zweifel an der kritischen Potenz des Rechtsgutsbegriffes tragen keine derartige historische Last. Sie bringen von zwei Seiten Bedenken gegen die Geeignetheil des Rechtsgutsbegriffs zur kritischen Anleitung

Honig, Einwilligung, S. 94. Grünhut, Methodische Grundlagen, S. 8. 22 Schwinge, Begriffsbildung, S. 25. 23 Die Tatsache, daß der substanzbereinigte Rechtsgutsbegriff später dem Konstrukt des strafrechtlichen Unrechts als reine Pflichtverletzung weichen mußte (vgl. insoweit die Auseinandersetzungen zwischen der Kieler und der Marburger Schule), tut dem Argument keinen Abbruch, da die Entäußerung jeder Andeutung von Substantiiertheil des Rechtsgutes notwendige Voraussetzung zum Paradigmenwechsel war. 24 Schwinge, Begriffsbildung, S. 22. 20

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I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze

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des Gesetzgebers vor. Die eine Seite ist eine individualisierende, die letztlich das Konzept der Verletzung subjektiver Rechte als Substanz des strafrechtlichen Unrechts wiederbeleben will; 25 die andere ist im Gegenteil systemisch orientiert und hält den Rechtsgutsbegriff für untauglich, die komplexen kommunikativen Vorgänge, die in einer modernen Gesellschaft zur Genese von Strafrechtsnormen notwendig sind, adäquat zu beschreiben.26 Ob diese neueren Einwände zutreffend sind, kann erst nach einer vertieften Befassung mit den unterschiedlichen Rechtsgutskonzeptionen beurteilt werden. Die vorliegende Untersuchung geht folglich von der Arbeitshypothese aus, dem Rechtsgutsbegriff könne dem Prinzip nach kritisches Potential mit Blick auf die Freiheit des Gesetzgebers Strafrechtsnormen zu erlassen zukommen; wobei diese Hypothese noch keineswegs vorwegnehmen will, welche Verbindlichkeit ein solches Potential entwickeln kann. b) Zur historischen Rekonstruktion des Begriffes: einige Eckpunkte Die Anzahl an jüngeren Monographien, die sich mehr oder weniger ausführlich der historischen Rekonstruktion des Rechtsgutsbegriffes- von seinen Vorläufern bis zur aktuellen Diskussion - widmen, ist so bedeutend, daß auf eine weitere ausführliche Darstellung hier verzichtet werden kann.27 Da das Interesse an der Sache besteht, also einer Untersuchung dessen, was dem Gesetzgeber im Strafrecht als - gegebenenfalls verbindlicher - Orientierung angegeben werden kann, nicht aber am Begriff, erstrecken sich die folgenden Äußerungen auch auf andere als Rechtsgutskonzepte. Die Übersicht ist, auch aus Gründen des überbordenden Schrifttums, bewußt exemplarisch gehalten. Dies gilt einerseits für die aufzuzeigenden Richtungen, aber auch für die behandelten Autoren. aa) Naturrechtliche Verbrechensbegriffe Entsprechend der oben angedeuteten Doppelpoligkeit des Rechtsgutsbegriffes sollte, im Kontext eines naturrechtliehen Verbrechensbegriff, zunächst zwi-

25

Beispielsweise Naucke, Legitimation. Beispielsweise Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 205. 27 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hier verwiesen auf die Arbeiten von Sina, Dogmengeschichte; Hassemer, Theorie und Soziologie; Amelung, Rechtsgüterschutz; Müssig, Rechtsgüterschutz; Hohmann, Umweltdelikte; Marx, "Rechtsgut"; Jäger, Rechtsgüterschutz; Rudolphi, Aspekte. 26

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

sehen dem formellen und dem materiellen differenziert werden. Hier gilt die Aufmerksamkeit den Versuchen einer Annäherung an den letztgenannten. 28 Orientiert an den Positionen der französischen Aufklärung, insbesondere an Programmsätzen wie: "La Ioie n'a Je droit de defendre les actions nuisibles a Ia societe''29 wird als Verbrechen ein Pflichtenverstoß gegenüber dem Staat, beziehungsweise dann enger eine Gesellschaftsschädigung verstanden. Weniger empirisch, sondern an der Vernunft orientiert Kant seinen Verbrechensbegriff. Das Ende des 18. Jahrhunderts kennt eine Vielzahl von Verbrechensbegriffen, die sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten an der Gesellschaftsschädlichkeit, der Vernunft oder der Natur der Sache anlehnen. 30 Den Details hier nachzuforschen ist nicht Ziel der Untersuchung. Bemerkenswert ist aber, und deshalb hier festzuhalten, daß der- politischen- Willkür in der Bestimmung der Verbrechensgegenstände eine durch die Natur der Sache vorgegebene Grenze des Verbrechensbegriff entgegenzuhalten versucht wurde. Dieser Gedanke ist, vor allem in Bezug zur dadurch zu verwirklichenden Freiheitsgarantie besonders einprägsam von Montesquieu formuliert worden: "C' est Je triomphe de Ia liberte lorsque !es loies tirent chaque peine de Ia nature particuliere du crime. Tout I' arbitraire cesse, Ia peine ne descend point du caprice du legislateur, mais de Ia nature de Ia chose .... ". 31 bb) Subjektive Rechte Die Tradition, den Verletzungsgegenstand des Strafgesetzes nicht als Gut, sondern als Recht zu verstehen; ist bei Feuerbach ausgeprägt. In Anlehnung an das kantische Verständnis des Rechts als Gesamtheit der Bedingungen, die nach einem allgemeinen Freiheitsgesetz die wechselseitigen Willkürfreiheiten der einzelnen garantieren sollen, wird als Verbrechen die Läsion gleicher Freiheitsrechte bestimmt. Das staatliche ius puniendi leitet sich aus dem Staatszweck, also dem Gesellschaftsvertrag ab.32 Dieser garantiert vorpositive Rechte objektiv und öffentlich, die dem einzelnen in der Gesellschaft als subjektive Rechte ga-

28 Vgl. zur inhaltlichen Differenzierung zwischen formellem und materiellem Verbrechensbegriff Maier-Weigt, Verbrechensbegriff, S.3-6. 29 Artikel 5 der Erklärung der Menschenrechte von 1789; mit Blick auf eine Definition des Verbrechens wie folgt von den französischen Enzyklopädisten konkretisiert: "action atroce comise par dol et qui blesse directement I' interet ou Jes droits du citoyen"- zitiert nach Maier-Weigt, Verbrechensbegriff, S. I. 30 Vgl. erneut Maier- Weigt, Verbrechensbegriff, S. 52 f. und 82 f., aber auch Sina, Dogmengeschichte, S. 7. 31 Montesquieu, DeI' Esprit des Loies, Chapitre IV du Livre XII. 32 Feuerbach, Lehrbuch, §§ 8 und 9.

I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze

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rantiert werden. 33 Die Verletzung der Rechte, genauer der subjektiven Rechte, macht das Verbrechen aus. Ansonsten ist das, was wir heute abweichendes Verhalten nennen würden, Sache der Polizei 34 und rechtlich nicht spezifisch begrenzt.35

cc) Birnbaumscher Rechtsgutsbegriff Als Pate der Lehre vom Rechtsgut, dessen Verletzung Gegenstand des Verbrechens sei, gilt gemeinhin Birnbaum, an dessen Bedeutung jedoch auch begründete Zweifel erhoben worden sind. 36 Er bemängelt an der Rechtsverletzungslehre zweierlei. Einerseits überzeugten ihn die Wertungen nicht, die sich aus der Zweiteilung in Verbrechen und Polizeivergehen ergeben. 37 Andererseits erscheint es ihm dogmatisch unbefriedigend, von der Verletzung eines Rechtes auszugehen, welches nach der verbrecherischen Handlung als solches eigentlich unversehrt ist. 38 Seine Konsequenz ist es, dem Recht einen Gegenstand zuzuführen und in diesem, den er als Gut bezeichnet, das Objekt der kriminellen Handlung zu sehen. Das führt ihn auch zu einer Differenzierung zwischen "natürlichen" und "sozialen" Verbrechen, 39 nach heutiger Beschreibung zur Unterscheidung zwischen Verletzungen individueller und kollektiver Rechtsgüter. Zugleich sagt er sich jedoch auch von der Abhängigkeit des Verbrechensbegriffes von einer staatstheoretischen Konzeption los. 40 Damit legt er einerseits die Bestimmung der Rechtsgüter in die Hand des Gesetzgebers, argumentiert also positivistisch, setzt andererseits aber transpositive Fixpunkte für die Bestimmung des Verbrechens, argumentiert also wiederum naturrechtlich. 41 Zu einer umfassenden, oder jedenfalls stringenten Definition 33 Feuerbach, Lehrbuch, § 22. 34 Frommet, Strafjustiz, S. 192. 35 Überblicke und teilweise weiterführende Darstellungen bei Sina, Dogmengeschichte, S. 11 ff.; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 28 ff.; Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 34 ff. ; Hohmann, Umweltdelikte, S. 10 f.; Klaus Günther, Pflichtverletzung, S. 445 ff.; Frommet, Präventionsmodelle, S. 151 ff.; dies., Strafjustiz, S. 191 ff. ; Schutz, "Rechtsgut", S. 270 ff.. 36 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 45 stellt Bindings Birnbaumrezeption in den Vordergrund, wohingegen Frommet, Präventionsmodelle, S. 155, die Weiterentwicklung des Rechtsgüterdenkens durch Mittermaier für wichtiger hält. 37 Birnbaum, zum Begriffe des Verbrechens, S. 166 f. 38 Birnbaum, zum Begriffe des Verbrechens, S. 171 ff. 39 Birnbaum, zum Begriffe des Verbrechens, S. 177. 40 Ebd. 41 Deutlich wird dies bei Birnbaum, Bemerkungen, S. 570 ff. : Deswegen ist die kriminalpolitische Bewertung seiner Position im Sinne liberalen oder strafrechtsbegren-

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

des Gutes kommt Birnbaum jedoch nicht. 42 Somit kann von einem ausformulierten Theoriegebäude nicht die Rede sein, wohl aber von der Abwendung von der Rechtsverletzungsdoktrin. dd) Empirisch geprägter Rechtsgutsbegriff Nach den Verunsicherungen, die die Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus mit sich brachte, erlebte das Naturrechtsdenken in der Nachkriegszeit in Deutschland eine gewisse Renaissance. 43 Damit einhergehend wurden das Sittengesetz und die Sittlichkeit feste Größen, mit denen unbefangen argumentiert wurde.44 Die Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen diesem Sittlichkeitsdenken und dem, was man zu dieser Zeit über Sexualität und insbesondere sexuelle Entwicklung wissen konnte, führte Jäger 1957 zu einer stark empirisch ausgerichteten Sicht des Rechtsgutsbegriffes.45 Jäger stellt fest, daß es spezifische Rechtsgüter der Sittlichkeit nicht gebe, ja nicht einmal einen Wertekonsens gebe, der dem Programm des strafrechtlichen Umgangs mit den damals sogenannten "Sittlichkeitsdelikten" entspricht.46 Sein Fazit lautet insoweit: "Die Sittlichkeit der hier beschriebenen Art kann aber deshalb auch nicht Gegenstand des Rechtsschutzes sein, weil sie nicht, wie wir es für den Begriff des Rechtsgutes voraussetzen, eine empirische Wirklichkeit ist. "47 Dieses Plädoyer für einen stark empirisch geprägten Rechtsgutsbegriff, welches nicht ohne Kritik geblieben ist,48 führt ihn zur Ablehnung eines erheblichen Teils des damals geltenden Sexualstrafrechts, namentlich der strafbewehrten Verbote des Inzests, der Homosexualität und der Kuppelei, soweit durch diese Verhaltensweisen nicht Jugendliche in ihrer Entwicklung gestört würden. 49 Wenngleich ein bedeutender Teil dieser Vorschriften später weitgehend in Jägers Sinn geändert

zenden Gehalts auch umstritten; vgl. die Darstellung bei Staechelin, "Untermaßverbot", S. 275 f. und daran anschließend Schutz, .,Rechtsgut", S. 271, Fn. 46. 42 So auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 45; Hohmann, Umweltdelikte, S. 14; Sina, Dogmengeschichte, S. 22. 43 Weinkaujf, Naturrechtsgedanke, S. 1689 ff. 44 BGHSt 6, 46, 52; dazu wiederum (affirmativ) Weinkauff, Naturrechtsgedanke, S. 1691. 45 Jäger, Rechtsgüterschutz; speziell zu der gerade zitierten BGH-Entscheidung S. 33/34. 46 Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 33, 36 ff. 47 Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 38. 48 Bocke/mann, Buchbesprechung, S. 311 ff. 49 Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 56 ff., 68 ff., 85 ff. und wiederum 56.

I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze

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oder abgeschafft worden ist, kann aus der heutigen Iex lata50 keineswegs gefolgert werden, daß der Gesetzgeber einen solchen empirischen Rechtsgutsbegriff angenommen hätte. ee) Systemtheoretische Orientierung Amelung konstatiert in seiner Monographie51 eine verbreitete "Hilflosigkeit bei der Handhabung des Rechtsgutsbegriffes". 52 Seine zentrale These ist, daß Aufgabe des Strafrechts nicht Rechtsgüterschutz, sondern Sicherung der Bedingungen menschlichen Zusammenlebens sei.53 Diese Bedingungen sucht er auf der Basis systemtheoretischer Überlegungen zu benennen. 54 Danach kommt es für die strafbewehrte Verbietbarkeil auf die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens an. Als sozialschädlich werden Phänomene angesehen, die dysfunktional sind, also den Fortbestand der Gesellschaft verhindern oder erschweren. 55 Der Schutz des einzelnen durch Strafrecht erfolgt damit nicht um seiner selbst willen, sondern im Interesse der Gesellschaft.56 Für Jakobs wird das Vertrauen in die Einhaltung des wesentlichen normativen Programms selbst zum - strafrechtlich - schützenswerten Gut. 57 Er meint, die Schutzbedürftigkeit fundamentaler Interessen wie Leben, Gesundheit und Eigentum sei intuitiv zugänglich. Weitere Interessen, denen sich Staat oder Verwaltung annehmen, weil Selbstregulierungsmechanismen in komplexen Gesellschaften nicht mehr funktionieren, rücken aber gleichfalls in den Rang von Rechtsgütern auf: " ... schlechthin jede Institutionalisierung von Staatstätigkeit kann zum Rechtsgut werden", 58 wenn sie als Funktionseinheit eine Aufgabe für die Gesellschaft oder eines ihrer Subsysteme rechtlich beschreibt. 59 Allerdings sieht Jakobs, daß diese Beschreibung die gleichen Schwächen hat, wie die herkömmliche Beschreibung als Interesse: denn ob ein Interesse oder eine Aufgabe rechtlich legitim seien, bleibe offen. Diese Schwäche sei jedem Begriff vom Rechtsgut "konstitutionell mitgegeben" .60

50 51 52

53 54

55 56 57 SR

59 60

Vgl. insoweit beispielsweise die Vorschriften der§§ 130, 166, 189 StGB. Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972. Ebd., S. 305. Ebd., Einleitung, S. 4 ff. und öfter. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 350 ff. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 361. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 389. Jakobs, AT, 212. Jakobs , AT, 2111. Jakobs, AT, 2115. Jakobs, AT, 2115.

Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

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Anspruchsvoller ist insoweit der Versuch von Müssig, den Rechtsgutsbegriff auf der Basis eines gesellschaftstheoretisch abgesicherten Normbegriffs zu rekonstruieren.61 Müssig nimmt die Wichtigkeit der Legitimation strafbewehrter Verhaltensnormen ernst und schlägt vor, an die Stelle der Rechtsgutsanalyse eine "institutionelle Deutung der Norm als Struktur der Gesellschaft" zu setzen. 62 Seine Deutung der (Strafrechts-) Norm entwickelt er auf der Basis der positiven Generalprävention. 63 Danach ist der Rechtsgutsbegriff die Synthese der Funktion der Verhaltensnorm, die strafbewehrt ist. Die Verhaltensnorm wiederum versteht er als Teil des gesellschaftlichen Subsystems Kommunikation. 64 Legitimationsgrenze für die gesellschaftliche Funktion der Verhaltensnorm bilden die Identitätskriterien der Gesellschaft.65 ff) Prägung des Rechtsgutsbegriffes durch konsensuale Merkmale Hassemers Anliegen ist es, den Rechtsgutsbegriff auf gesellschaftlich nachweisbare Wertschätzungen der durch die strafbewehrten Normen zu schützenden Objekte zurückzubeziehen.66 Der Interaktionsprozeß zwischen Staat und Gesellschaft bestimme nicht nur das, was gesellschaftlich als abweichendes Verhalten angesehen werde, sondern auch die eventuelle Kriminalisierung dieser Verhaltensweisen.67 Er eröffnet deshalb eine weitere Perspektive, versteht die Rechtsgutstheorien als materielle Substrate einer (jeweiligen) Theorie des Verbrechens68 und bezieht insbesondere die Mechanismen sozialer Kontrolle ein,69 wie auch bei seiner Variante der positiven Generalprävention. 70 Als Merkmale, in denen sich die gesellschaftlich erkennbare Wertschätzung von Objekten äußert, benennt Hassemer Häufigkeit des bedrohenden Verhaltens,

Müssig, Rechtsgüterschutz, passim; zusammenfassend S. 234. Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 171. 63 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 137 ff. 64 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 234. 65 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 165 ff. Ob Müssig dabei den normativ vertypten Identitätskriterien - insbesondere dem Text des Grundgesetzes - eine besondere Bedeutung beimißt, sich also insoweit Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 305, annähert, ist mir unklar geblieben, vermutlich, weil Müssigs Konkretisierung anhand der§§ 129, 129a und 324 StGB (S. 209-224) in ihrer Kürze mit Blick auf die Ergebnisse kaum zwingend erscheinen. 66 Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 130 ff. 67 Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 131, 147. 6R Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 16. 69 Ebd., S. 194 ff. 70 Hassemer, Einführung, S. 326. 61

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I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze

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Bedarfsintensität mit Blick auf das Objekt und die Intensität der Bedrohung. 71 Diese sind, mit gewissen Ausnahmen bei der Bedrohung, auf die potentiellen Opfer hin orientiert und auf gesellschaftlicher Ebene erfahrbar und diskursfähig.72 Die erfahrungswissenschaftliche Einbettung der Bestimmung der Rechtsgüter in das gesellschaftliche Denken erlaubt es, die strafrechtliche Wertschätzung und den allfälligen strafrechtlichen Schutz normativ gesellschaftlichen Verständigungen zugänglich zu machen. Darin liegt ein demokratisches Moment. Die Einbettung führt jedoch auch in eine gewisse Abhängigkeit von unter Umständen - irrationalen Werterfahrungen 73 innerhalb der Gesellschaft, muß sich deshalb um rationale Wertungen bemühen, Tabuisierungen vermeiden und erforderlichenfalls auf die Zweifelhaftigkeit von fingierten Erkenntnissen hinweisen. 74 gg) Ontologisch geprägter Rechtsgutsbegriff Einen Versuch, Grenzen des Strafrechts durch die Wiederbelebung der Orientierung am Sein der Person zu finden, hat jüngst Ute Döpfer vorgelegt. 75 Es kommt ihr darauf an, aus der personalen Relation, die die Grenzlinie zwischen Sein und Sollen markiere,76 eine Personenorientierung im strafrechtlichen Denken zu entwickeln, die methodische und Ergebnisfehler wie rein systematisches, rein phänomenologisches, rein funktionales und rein empirisches Denken 77 vermeidet. Insoweit wendet sie sich auch gegen das Rechtsgutsdenken, welches durch .die Etablierung des Gutes als zunächst von der Person abgekoppelten Wertes, nicht nur die Basis, sondern auch die unverfügbare Grenze des Strafrechts mißachte. 78 Gleichzeitig beharrt Döpfer aber darauf, daß in ihrer, von der Ontologie der sozialen Rolle ausgehenden Sichtweise der strafrechtlichen Fragen, die personale Relation keineswegs unbegründbare Letztbegründung sei,79 wohl aber ein

Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 130 ff; speziell S. 147 ff. Lüderssen, Kriminologie, Rz. 155-160. 73 Beispiel bei Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 239 ist die "schwarze Magie". 74 Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 241 ff. 75 Döpfer, Ontologie, 1994. 76 Döpfer, Ontologie, S. 97. 77 Döpfer, Ontologie, S. 55. 78 Döpfer, Ontologie, S. 104 ff. Die Versuche der personalen Rechtsgutslehren (dazu weiter unten), die Güter durch Bezug auf die Person und ihre fundamentalen Interessen wiederum zu begrenzen, weist sie dabei als unzulänglich zurück (ebd.). 79 Döpfer, Ontologie, S. 97. 71

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

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Wert an sich,80 sowohl im Sinne von Wertmaßstab als auch im Sinne der wertsetzenden Instanz. 81 Was daraus für die Frage der legitimen Gegenstände strafrechtlichen Schutzes zu gewinnen ist, bleibt allerdings offen und wird von Döpfer auch "nur angedeutet". 82 Es mag der Unterschied zu anderen personalen Wertorientierungen sein, der nach ihrer Sicht darin liegen soll, daß die Rolle der Person als wertbestimmendes Moment nicht "zufällig", also eher von der Seite hinzukommt, 83 sondern systematisch angelegt ist. Als Grund für dies systematische Angelegtsein kann die Autorin allerdings nur auf die schlichte Existenz der Person und ihrer sozialen Rolle, sowie auf die intersubjektive Wahrnehmbarkeil rekurrieren. Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, daß auch Döpfer, um Kritik am Absolutheitsanspruch der Ontologie entgegenzutreten, sehr wohl andere Wertorientierungen als die Person und ihre soziale Rolle zulassen will, um legitime Kriminalisierung von solcher, die nicht mehr dem ultima ratio Anspruch entspricht, abzugrenzen. 84 c) Gegentendenzen

Diese tour d'horizon hat gezeigt, daß diejenigen Autoren, die sich mit dem Verletzungsgegenstand als potentiell begrenzendem Parameter befassen, verschiedene Wege vorschlagen, die Interessen zu begrenzen, die als Rechtsgut oder verletzbares Substrat bezeichenbar sein sollen. Es sind dies ontolgische, empirische, systemtheoretische, naturrechtliche und konsensuale Orientierungen. Bevor der argumentativen Kraft dieser Begrenzungsversuche und ihren Verbindlichkeiten nachgespürt werden soll, ist eine Auseinandersetzung mit prinzipiellen Einwänden gegen das Konzept des Rechtsgutes vorzunehmen. aa) Drohender Paradigmenwechsel -der Rechtsgutsbegriff als Kriminalisierungstopos Zweifel an der begrenzenden Kraft des Rechtsgutsbegriffes werden in jüngerer Vergangenheit auch von solchen Autoren geäußert, die sich um dessen liberalen Gehalt bemüht haben. So befürchtet Hassemer,85 der Rechtsgutsbegriff mutiere zu einem Wolf im Schafspelz, wandele sich also von einem begrenzen-

80 81

82 83

84 85

Ein wesensgemäß intersubjektiver (ebd., S. 97). Döpfer, Ontologie, S. 98. Ebd., S. I 04. Döpfer, Ontologie, S. 105. Döpfer, Ontologie, S. 98. Hassemer, Krisen, S. 380 und ders., Sozialtechnologie, S. 331.

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den Kriterium zu einer Argumentationshilfe für den strafrechtlich intervenierenden Staat. Die Bezeichnung eines Interesses als Rechtsgut löse geradezu einen Schutzreflex aus, dem durch Einsatz des Strafrechts nachgekommen werde. Zu beobachten sei diese Tendenz speziell beim strafrechtlichen Umgang mit der Abtreibung. 86 Der Grund dieser Tendenzen liege in einem gewandelten Selbstverständnis des Staates, der sich nicht mehr als liberaler "Nachtwächterstaat" verstanden wissen will, sondern zum Sicherheitsstaat wird. 87 Seine Aufgabe ist in stärkerem Maße die Gewährleistung von Sicherheit, auch zu Lasten von Freiheit.88 Die Moderne bemächtige sich der Tendenzen und Argumentationsmuster des klassischen, machtbegrenzenden, rechtsgüterschützenden Strafrechts, teile aber nicht die Traditionen und Kontexte, sondern gebrauche sie unter anderen Vorzeichen. 89 Ähnlich meint auch Vormbaum, der hergebrachte Umgang mit dem Rechtsgüterschutzprinzip, besonders der Einfluß der methodologischen Deutung führe zu einer extremen Vorverlagerung des Einsatzes strafrechtlicher Mittel, bis hin zur- theoretisch - denkbaren Kriminalisierung gefahrliehen Denkens.90 Seine Konsequenz ist es aber nicht, vom Denken und Argumentieren in Rechtsgüterschutzkategorien Abstand zu nehmen, sondern er schlägt vor, den Versuch zu unternehmen, die Rechtsgüter eng an die subjektiven Rechte heranzuführen und insoweit mengen- und umfangsmäßig zu begrenzen. 91 Die Beobachtung sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundesverfassungsgericht machten von der Begrifflichkeil Rechtsgut Gebrauch, um entweder den Bedarf nach strafbewehrtem Schutz dieser als Rechtgüter bezeichneten Interessen zu begründen oder aber, im Falle des Bundesverfassungsgerichts, um Pöna-

So auch Kayßer, Prinzipien, S. 155 ff. Vgl. die staatsrechtliche Ausarbeitung dieser These bei Denninger, PräventionsStaat, S. I ff. (insbesondere S. 10 f.), der begrifflich zwar anders akzentuiert, indem er den auf umfassende Sicherheit orientierten Staat als Rechtsgütersicherheitsstaat bezeichnet, den liberal orientierten dagegen als Rechtssicherheitsstaat, in der Sache jedoch ebenfalls vor dem Primat der Sicherheit gegenüber der Freiheit warnt; Grimm, Prävention, S. 38 ff. und ders., Zukunft, S. 159 ff., 221 ff. und, mit Blick auf die zu erwartende Entwicklung, S. 415 ff; strafrechtlich bei Albrecht, Prävention, S. 55 ff. und ders., Interventionsstaat, S. 182 ff. 88 Dies habe ich am Beispiel der zweiten Abtreibungsentscheidung in dem Artikel "Untermaßverbot", S. 267 ff. (speziell S. 272 ff.) darzustellen versucht. 89 Hassemer, Krisen, S. 380, nennt dies die "Dialektik der Modeme". 90 Vormbaum, "Politisches" Strafrecht, S. 752. Ähnlich Jakobs, Rechtsgutsverletzungen, S. 753, der deswegen moniert, zur Begrenzung des Strafbaren müßten externe, also nicht zum Rechtsgüterschutzprinzip zugehörige Kriterien mobilisiert werden. 9 1 Vormbaum, "Politisches" Strafrecht, S. 752. 86 87

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

lisierungspflichten, die dem Grundgesetz entnommen werden, 92 auf rechtliche Werte beziehen zu können, 93 ist offensichtlich zutreffend. Daraus folgt jedoch noch nicht, daß eine solche Kriminalisierungstendenz im Begriff selbst angelegt ist. Zunächst ist die Benennung eines Interesses als Rechtsgut für die diesen Begrenzungsversuchen anhängenden Autoren zwar notwendige, nicht aber auch hinreichende Bedingung94 für die Entscheidung, dieses Interesse auch mit strafrechtlichen Mitteln zu schützen.95 Hinzu kommt, daß dies gar keine "mißbräuchliche" Verwendung der Begrifflichkeil darstellen muß. Soweit es, was weiter unten zu behandeln ist, gelingen sollte, Kriterien für die Aufnahme eines Interesses in die Gruppe der Strafrechtsgüter zu benennen und vielleicht sogar verbindlich zu behaupten, dann ist der gesetzgeberische Zugriff auf strafbewehrte Verhaltensnormen zum Schutze dieser Güter gerade legitim. Mit anderen Worten: Der Rechtsgutsbegriff entzieht sich seiner Nutzung zur Legitimation strafrechtsausweitender Kriminalpolitik alleine und soweit er materiellen Gehalt aufweisen kann, also Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um ein Interesse als Strafrechtsgut bezeichnen zu können. Soll sich diese Benennung nicht auf Wortklauberei reduzieren, so ist sie Ergebnis einer stattgefundenen Prüfung und darauffolgender Bewertung eines Interesses. Jedoch ist, dies sei nochmals hervorgehoben, nach der hier vertretenen Ansicht mit dieser Prüfung und Bewertung noch keine Entscheidungsgrundlage erreicht, die eine hinreichende Basis für die Schaffung einer strafbewehrten Norm zum Schutze dieses Gutes bedeutet. Umgekehrt wäre jedoch der Ausschluß einer solchen Norm begründbar, wenn die substantielle Bezeichnung eines Interesses als Rechtsgut nicht begründet werden könnte. Genau dies entspräche dem immer wieder beschworenen kritischen Potential des Rechtsgutsbegriffes.

92 Vgl. zu ersten Abtreibungsentscheidung insoweit Denninger, Freiheitsordnung, S. 545 ff; Krumbiegel, Verfassungsauftrag, S. 550 ff. und Müller-Dietz, Pönalisierungsgebote, S. 97 ff. 93 Dies skandalisiert Lübbe, Embryonen, S. 313 ff; jedoch mit Schwerpunktbezug auf die Rechtsträgerschaft der Embryonen. 94 Dieser Aspekt wird sogleich (unter I. 2.) zu vertiefen sein; Andeutungen meiner Sicht bereits in Staechelin, "Untermaßverbot", S. 279 und ders., Interdependenzen, passim. 95 So seinerseits Hassemer, Rechtsgutslehre, S. 88.

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bb) Konzepte, die sich vom Rechtsgutsbegriff als Argumentationsfigur entfernen

(I) Die Wiederbelebung des Konzepts der subjektiven Rechte Die Lehren, die den Gesetzgeber über die subjektiven Rechte zu binden suchen, erleben in letzter Zeit eine erstaunliche Renaissance. 96 Einige Autoren sehen - in der zu Bindings Zeiten bereits totgeglaubten Beschränkung des Strafgesetzes auf die Verletzung subjektiver Rechte - die überzeugensie und wohl auch effektivste Begrenzung des Gesetzgebers, dessen Aufgabe sich danach auf die Positivierung des überpositiv Vorgegebenen beschränkt. 97 Man verspricht sich davon die Eingrenzung strafbewehrter Pflichten,98 eine Rückkehrmöglichkeit zum Kernstrafrecht, 99 insbesondere aber die Reduzierung des Strafrechts auf seine freiheitssichernde Funktion. 100 In diesem Sinne zur Freiheitssicherung notwendig sei alleine die Bestrafung der Verletzung der Rechte des einzelnen und des Staates. 101 Der Gutsbegriff sei hingegen schon bei Birnbaum unklar, weil dieser teilweise noch naturrechtlich argumentierte, spätestens aber bei Binding und v.Liszt dann sozialutilitaristisch. 102 Das Konzept der subjektiven Rechte besticht zunächst durch seine Radikalität und ästhetische Klarheit. Bei genauerer Betrachtung sind jedoch diverse Einwände von erheblicher Tragweite zu begründen. Das Konzept beschränkt die Freiheiten der Legislative in einer Intensität, daß die Vereinbarkeit mit unserem an Demokratie und Gewaltenteilung orientierten Staatsverständnis kaum noch herstellbar ist. 103 Staatstheoretisch erscheint es eher mit einer aufgeklärten Monarchie vereinbar, als mit einer demokratischen Republik. 104 Als historisch angelegtes Modell trägt die Konzeption die Lasten

96 Vgl. Naucke, Schwerpunktverlagerungen, S. 137 f.; Klaus Günther, Pflichtverletzung, S. 445 ff.; Frommet, Strafjustiz, S. 191 ff. (unentschlossenener noch dies., Präventionsmodelle, S. 151 ff.); jedenfalls Affinitäten auch bei Vonnbaum, ,.Politisches" Strafrecht, S. 752; besonders deutlich jüngst Ehret, Gesetzlichkeitsprinzip, S. 49 ff., gegen die Rechtsgüterkonzeptionen von Birnbaum und Binding dann S. 151 ff. 97 Naucke, Aushöhlung, S. 485. 98 Klaus Günther, Pflichtverletzung, S. 445 ff. 99 Naucke, Schwerpunktverlagerungen, S. 137 ff. und ders., Aushöhlung, S. 485. 100 Naucke, Aushöhlung, S. 485 und Ehret, Gesetzlichkeitsprinzip, S. 165. 101 Ehret, Gesetzlichkeitsprinzip, S. 155. 102 Ehret, ebd., S. 157 und 161. 103 Vgl. dazu auch Teil 1 IV. 1. d) aa). 104 Insofern mag Ehret, Gesetzlichkeitsprinzip, S. 156 damit Recht haben, daß staatsphilosophische Vorgaben das Strafrecht festzuschreiben geeignet sind, jedoch bleibt klärungsbedürftig, ob wir diesen Vorgaben noch folgen wollen.

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Teil I : I. Der Rechtsgutsbegriff

der Vergangenheit, 105 solange nicht eine zeitgemäße, an unserem Gesellschaftsund Staatsverständnis orientierte Reformulierung vorgelegt werden kann. Auch ihre begrenzende Potenz ist nicht so abgesichert, wie der erste Blick dies zu vermitteln scheint. Einerseits müßte nämlich der Kreis der zu schützenden Rechte präzisiert werden, was weder bei Feuerbach, noch innerhalb der angesprochenen Renaissance 106 geleistet wurde. 107 Soweit dabei alleine die Rechte selbst Mittel der Begrenzung sein sollen, ist diese insoweit defizitär, als verschiedenste Angriffswege 108 oder Verletzungshandlungen geklärt werden müßten. Zweifel ergeben sich, knüpft man an die subjektiven Rechte des einzelnen an, auch mit Blick auf die meines Erachtens notwendige Mindestflexibilität der Bestimmung des Gegenstands strafbewehrter Verhaltensnormen. Die Vertreter der Lehre setzen die subjektiven Rechte zwar überzeitlich unabänderbar, 109 müssen dann aber damit rechnen, daß neue Bedingungen der menschlichen Koexistenz weitere Lebensbedingungen des Menschen verletzbar machen, die von vergleichbarer Bedeutung für den einzelnen in seiner sozialen Existenz sind, wie die ursprünglichen individuellen Rechte. 110 Auch der umgekehrte Vorgang ist denkbar. Die starre Lehre von den subjektiven Rechten kommt mit dem Wandel ihrer Bedeutung nicht ohne weiteres zurecht. So steht die Ehre - oder menschliche Würde - heute in einem anderen gesellschaftlichen Kontext, als zu frühen Aufklärungszeiten, die weder Massenmedien noch politische Auseinandersetzungen um die Gunst der wählenden Staatsbürger in einem mit dem heutigen vergleichbaren Maße kannten. Ein weiterer Einwand scheint mir zentral zu sein. Die Annahme, der Gesetzgeber habe nur Vorpositives zu implementieren, erspart Begründung und Anstregungen zur Herstellung der Vermittelbarkeit dieser normativen Entscheidungen. Der Verzicht darauf, sich insoweit auf überpositive Festlegungen zurückzuziehen, fordert hingegen eine Auseinandersetzung in der Sache und führt, im günstigen Fall zu einer stärkeren, demokratischen Legitimation der Entscheidung über die Reichweite des Strafbaren. Zwar soll hier nicht behauptet

Vgl. Lüderssen, Kemstrafrecht, S. 268 ff. Philosophisch anspruchsvoller Versuch jedoch bei Klaus Günther, Pflichtverletzung, S. 447 ff. 107 Vgl. insoweit bereits die in meinen Beitrag, "Untermaßverbot", S. 276 bezeichneten Bedenken. Soweit sie - nach heutigem öffentlich rechtlichen Verständnis - auf die Notwendigkeit der positivrechtlichen Zusprechung abstellen, findet sich dies bei Bachof, subjektive Rechte, S. 132, bestätigt. 108 Dazu in diesem Teil unter 4. und Staechelin, Interdependenzen, passim. 109 Ehret, Gesetzlichkeitsprinzip, S. 165 ff. 110 Beispiel: Das Recht (sie !) auf informationeile Selbstbestimmung (BVerfGE 65, I ff. [Volkszählung]) kann m.E. nicht Gegenstand strafrechtlichen Schutzes nach dieser Lehre sein. 105

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werden, es käme in diesen Auseinandersetzungen um die beste mögliche Entscheidung nicht irgendwann zu einer Stelle, wo Begründungen durch normative Festlegungen ersetzt werden. Jedoch liegt die entscheidende Frage darin, an welcher Stelle man sich mit dem infiniten Regreß zufrieden gibt. Die Lehre von den subjektiven Rechten tut dies zu früh.

(2) Systemtheoretisch orientierte Begründungen Die systemtheoretisch orientierten Begründungen "ersetzen" den Begriff des Rechtgutes durch den Funktionenbegriff. 111 Die Schwierigkeiten dieser Lehre, den Umfang des strafrechtlich Verbotenen zu bestimmen, ist damit im Funktionenbegriff angelegt. Einerseits besteht die Gefahr, daß der Wert der einzelnen Person hinter gesellschaftlichen Interessen zurücktreten muß, zumal ein einzelnes Individuum mit Blick auf die Funktion des gesellschaftlichen Ganzen regelmäßig von marginalster Bedeutung sein wird, 112 andererseits erlaubt die Differenzierung in funktional/dysfunktional keinerlei Kritik am Zustand des Systems, für welches nach der Funktionalität einer menschlichen Handlung oder der gesellschaftlichen Reaktion hierauf gefragt wird. Die Kritik Amelungs am mangelnden liberalen Potential des Rechtsgutsdenkens113 fcillt insoweit auch auf seine Lehre zurück. Hinzu kommt, daß die Frage nach der Funktionalität weitaus komplexer ist, als sich dies aus Amelungs Arbeit erschließt. 114 Im übrigen zeigt das bereits oben verwendete JakobsZitat, wonach "schlechthin jede Institutionalisierung von Staatstätigkeit" zum Rechtsgut werden kann, 115 wenn sie als Funktionseinheit eine Aufgabe für die Gesellschaft oder eines ihrer Subsysteme rechtlich beschreibt, 116 daß diese Lehre wohl auch nicht ohne normative Bewertungen jenseits der Funktionalität auskommt. Geschieden werden müssen, soll das Strafrecht nicht für den Schutz je-

111 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 350 ff. (insbesondere S. 361, 370 ff.); Jakobs, AT, 2/11 ff., mit Einschränkungen Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 156 ff.; eine gewisse Nähe seiner eigenen Position zu Jakobs Perspektive sieht auch Frisch, der sich in ders., Strafgesetzgebung, S. 205 (Fn. 9), zu dessen Kritik am Rechtsgutsdenken bekennt, dann aber die im Rechtsgutsbegriff zum Ausdruck kommenende wertbeschreibende Komponente als hilfreich bezeichnet (ebd., S. 208). 112 Was Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 388 selbst einräumt, jedoch mit verfassungsrechtlichen Grenzen einfangen zu können glaubt (ebd., S. 388-393). 113 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 273 ff. 114 Vgl. die Kritik bei Hassemer, Buchbesprechung Amelung, S. 163 und Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 65. 115 Jakobs,AT,2111. 116 Jakobs, AT, 2115.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

der gesellschaftlich funktionalen Gegebenheit a priori zuständig sein, wichtige von unwichtigen, oder jedenfalls von weniger bedeutsamen Funktionen. Der dabei angelegte monistische Weg, der den einzelnen gleichsam als Systemeinheit, 117 nicht aber als Eigenwert registriert, erscheint mir dabei keineswegs am Grundgesetz orientiert, was für Amelung jedoch die Stelle ist, wo System und Funktionen ihre normativen Grenzen erfahren können. 118 Nun liest man zwar bei Jakobs neuerdings, daß unsere Gesellschaft auch die Anerkennung des Subjekts im Wege der personalen Korrununikation kenne. 119 Insofern scheint die gesellschaftliche Funktionalisierung des einzelnen auch innerhalb der systemtheoretisch orientierten Lehren Grenzen finden zu sollen. Jedoch trägt diese scheinbare Relativierung des Wertes der Gesellschaft mit Blick auf den Wert des Individuums nicht weit: "Mit anderen Worten", so führt Jakobs fort, "von der Gesellschaft her gesehen begründen nicht etwa Personen personale Korrununikation aus sich heraus, sondern letztere definiert Individuen zu Personen." 120 Diese sind jedoch als Rollenträger von den "begriffenen Normen" konstituiert, 121 also auf ihre Bedeutung innerhalb der Sozialität reduziert.

(3) Strafadäquität: Das Konzept von Frisch Eine neuere, kritische Auseinandersetzung mit dem Rechtsgutsbegriff und seinem Gehalt starrunt aus der Feder von Frisch.122 Nach seiner Ansicht, bleibe von der kritischen Potenz des Rechtsgutsbegriffes wenig übrig, wenn man berücksichtige, daß die Bewertung von Interessen vom jeweiligen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig ist. 123 Insbesondere sei ein enger Rechtsgutsbegriff nicht geeignet, den gegenwärtig zu beobachtenden Vorverlagerungen der Strafgewalt Einhalt zu gebieten. Auch bei der Schaffung neuer, abstrakter Gefährdungsdelikte ständen im Hintergrund regelmäßig greifbare lndividualrechtsgüter, so daß Zweifel an der Legitimierbarkeit der angesprochenen Strafrechtsausdehnungen nicht mit Hilfe des Kriteriums Rechtsgut begründbar seien. 124 Die Konzentration auf den Gedanken des Rechtsgüterschutzes führe vielmehr dazu, daß der Topos Strafe, der für Frisch zentral ist, da er für legitim

117 118 119

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124

Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 389. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 388 ff. Jakobs, Funktionalismus, S. 872 ff., in Anlehnung an Hege/. Jakobs, Funktionalismus, S. 874. Jakobs, Funktionalismus, S. 873. Frisch, Grenzen, S. 69 ff. Frisch, Grenzen, S. 72. Frisch, Grenzen, S. 74.

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kriminalisierbares Verhalten ,,Strafadäquität'" 25 fordert, aus dem Blickfeld gerate.126 Sein Vorschlag ist, wenn nicht die Beibehaltung der Kriterien Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit, 127 eine Bestimmung strafrechtsrelevanten Verhaltens nach einem neuen Kriterienkanon. Auf der Suche nach Verhaltensweisen, die bei Strafandrohung verboten werden können, sei zunächst die Frage zu stellen, ob das Verhalten überhaupt mißbilligt werden kann. 128 Sodann käme aus dem Kreis dieser mißbilligten Verhaltensweisen nur eine Klasse in Frage, die in einer Art Kernbereich strafrechtliche Reaktion herausfordert. Diesen Zusammenhang aber bestimmt Frisch so, daß er einen (personal zurechenbaren) "negativen Bezug des Verhaltens auf ein besonders wichtiges Gut" 129 verlangt. Offenbar kommt auch Frisch nicht daran vorbei, eine Auswahl mißbilligenswerter, und damit potentiell der Kriminalstrafe zugänglicher Verhaltensweisen unter dem Merkmal der Güterverletzung zu rubrizieren. 130 Insoweit beschreibt er die Notwendigkeit der Bildung von Güter- oder Interessensgruppen, die entweder von solcher Wertigkeit sind, daß das Recht überhaupt zu ihrer Bewahrung eingesetzt werden sollte, oder gar das Strafrecht zuständig sei, weil strafrechtliche Reaktion auf diese Verhaltensweise adäquat erscheint. Hierin kann ich, trotz der - durch den Autor selbst propagierten - Abgrenzung vom Rechtsgüterdenken, nichts weiter als den Versuch einer anspruchsvolleren Reformulierung dieses Denkens erkennen, berechtigterweise unter Rekurs auf die Grenzen, die der Einsatz des Mittels Strafe schon im Vorfeld eventueller Verhältnismäßigkeitsabwägungen ergeben muß. 131 Zu der anspruchsvolleren Rekonstruktion nunmehr weiterer Bedingungen der Strafbewehrung von Verhaltensweisen gehöhren die normative Konsistenz 132 der Strafbarkeilserklärung und die Differenzierung zwischen verschiedenen Angriffswegen auf ein Gut. 133 Seiner Kritik am gängigen Rechtsgutsbegriff vermag ich deshalb soweit zu folgen, als er zurecht fordert, nicht allein den negativen Bezug eines Verhaltens zu dem für fundamental erachteten Gut für die Pönalisierung ausreichen zu lassen. 125 Zum Begriff der Strafadäquität Frisch, Grenzen, S. 79. 126 Frisch, Grenzen, S. 75 ff. (insbesondere S. 85, Fn. 62). 127 Frisch, Grenzen, S. 77 ff. 128 Frisch, Grenzen, S. 82. 129 Frisch, Grenzen, S. 86/87. 130 Im dargestellten Sinne. 131 In der späteren Arbeit von Frisch, Strafgesetzgebung, S. 203 ff., bleibt zwar eine vorsichtige Skepsis gegenüber dem Rechtsgutsbegriff als vermeintlichem Passepartout, eine nachhaltige Abkehr von der Argumentation mit diesem ist jedoch nicht erkennbar. 132 Frisch, Grenzen, S. 88 f.; ausführlicher dazu bereits Noll, Gesetzgebungslehre, S. 104 ff. 133 Frisch, Grenzen, S. 88; in dieser Arbeit sogleich unter 4. 4 Stächelin

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(4) Verfassungsrechtliche Position (O.Lagodny) Lagodny bestreitet in seiner jüngst erschienenen Habilitationsschrift Versuchen, die Gesetzgebungsfreiheit mit Hilfe des Rechtsgutsbegriffes beschränken zu wollen, jegliche Überzeugungskraft und Richtigkeit. 134 Sein Ausgangspunkt ist dabei ein verfassungsrechtlicher. Die von ihm vorgelegte Arbeit untersucht die Schranken, die die Verfassung den strafrechtlichen Normen entgegenstellt. Dabei trennt er, zurecht und sowohl der verfassungsrechtlichen Literatur, als auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend, bei seiner Prüfung nach den verschiedenen Bestandteilen der Normen. 135 Jeweils gesondert werden zum Gegenstand der Erörterung die Verhaltensvorschrift einerseits und die Sanktionsvorschrift andererseits gemacht. 136 Diese werden am Maßstab des einschlägigen Grundrechtes, gegebenenfalls am auffangenden Art. 2 I GG mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffes einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen. Durch diese - an sich - höchst sinnvolle und analytisch wertvolle Unterscheidung geraten Lagodny jedoch streckenweise die spezifisch strafrechtlichen Probleme aus dem Blickfeld. Es ist ja nun gerade die Rechtsfolgenseite der Normen des materiellen Strafrechts, die sie zu solchen macht. Insofern erscheint es nur begrenzt ergiebig, in großem Umfange die Verhaltensnorm unter Ausblendung der Sanktion als strafrechtlich interessanten Gegenstand zu behandeln. 137 Man kann allgemein, soweit Gegenstände oder Interessen überhaupt rechtsförmig bewahrt werden sollen, zunächst von Rechtsgütern sprechen. Diese sind dann jedenfalls nur negativ begrenzt, also durch die Spielräume, die das Grundgesetz offen läßt. Deshalb hat Lagodny mit der Feststellung, daß das "Bemühen der Strafrechtslehre um einen positiv bestimmten Rechtsgutsbegriff' aus heutiger Sicht sinnlos ist, "soweit es um die verfassungsrechtliche Legitimation von Verhaltensvorschriften geht", 138 recht. Für die Rechtsgutsfragen des Strafrechts ist damit jedoch keine bedeutende Erkenntnis gewonnen. Unterscheidet man nämlich, und dies erscheint mir, wenn die Konzeption des Strafrechts als Fragment aufrechterhalten werden soll, zwischen Rechtsgütern einerseits, in der gerade angesprochenen Bedeutung, und Strafrechtsgütern andererseits, so stellt sich eine ganz andere Frage. Es ist dies die Frage, ob es eine spezifische Korrelation zwischen den erhaltens- oder

134 135

136

wgodny, Schranken, S. 147 und öfter.

Meinerseits dazu in diesem Teil unter II. I. b) bb).

wgodny, Schranken, S. 6 und passim; im späteren Verlaufe wird wiederum im

Rahmen der Sanktionsvorschrift nach der tadelskommunizierenden (vgl. ebd. § 12) und der sanktionierenden Bedeutung (vgl. ebd. § 16) der Norm unterteilt. 137 So aber wgodny, Schranken, §§ 7-11. 13R wgodny, Schranken, S. 147 (Hervorhebung im Original).

I. Auslegungskriterium oder Kriminalisierungsgrenze

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schützenswerten Gütern und dem Einsatz gerade des Strafrechts als Mittel zur Erhaltung und zum Schutz dieser Güter gibt. Eine weitere Frage ist dann, welches der Zusammenhang sein könnte, und nach welchen - philosophischen, verfassungsrechtlichen, kulturellen, tradierten, funktionalen, konsensualen oder sonstigen - Maßgaben die Beschreibung dieser Besonderheiten erfolgen soll. Kann man solche Besonderheiten feststellen und zur notwendigen Bedingung des Einsatzes von Strafrecht erklären, legitimiert durch eine oder mehrere der bezeichneten Maßgaben, so hat man eine positive Begrenzung dessen, was Strafrechtsgut ist, und insofern etwas, relativ zum Gegenstand irgendeiner Verhaltensvorschrift, Spezifisches. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß die zitierte Aussage von Lagodny nur zutrifft, soweit sie die Spezifika des Strafrechts ausblendet, also von den Sanktionen absieht. 139 Hier kann festgestellt werden, daß die Verfassung kein Denkverbot ausspricht. Sie macht die strafrechtliche Rechtsgüterdebatte keineswegs zu einem Kategorienfehler, schon gar nicht mit Blick auf die Verhaltensnorm, von der meines Wissens nach keiner der Vertreter der Rechtsgüterlehren behauptet hat, die bereits dort zu beachtenden Güter könnten positiv begrenzt werden. Inwieweit jedoch verfassungskonform, oder gerade mit Hilfe verfassungsrechtlicher Argumente die angedeutete Unterscheidung zwischen schlichten Rechtsgütern und Strafrechtsgütern durchgeführt werden kann, bedarf weiterer Erörterungen 140 und ist hier noch nicht zu entscheiden.

cc) Pluralismus oder die zunehmende Unverbindlichkeit scheinbar verbindlicher Wertorientierungen Unsere Gesellschaft wird heute immer wieder als wertepluralistisch dargestellt. Dazu gehört auch, daß Zweifel an der Möglichkeit geäußert werden, eine allgemein gesellschaftlich verbindliche Einigung auch über solche Werte herbeizuführen, die ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen strafrechtlichem Schutz anheimgestellt werden sollen. Unterstellt man nun, wofür Vieles spricht,

139 Deshalb wäre zu erwarten gewesen, daß Lagodny an späterer Stelle seiner Untersuchung die Bezüge zwischen Verhaltensnorm und Sanktionsteil der Strafrechtsnorm wiederherstellt, und die Frage nach der Begrenzbarkeil dessen, was man Strafrechtsgut nennen kann, erneut zum Gegenstand macht. Sein analytisch trennender Ansatz scheint sich aber derart verselbständigt zu haben, daß es dazu nicht mehr kommt, sondern die Erörterungen der Verhaltensnorm und der Strafzwecke nicht hinreichend verbunden werden, was mit Blick auf die strafrechtliche Ergiebigkeit des Werkes zu bedauern ist. 140 Dazu weiter unten, in diesem Teil unter I. 3. c) bb).

4•

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daß dieser Wertepluralismus besteht, 141 so ließen sich daraus Argumente gegen den Versuch einer Strafrechtskonzeption ableiten, die auf allgemeinverbindliche Wertorientierungen setzt. Denn in der gerade geführten Auseinandersetzung mit Kritiken an der Rechtsgutslehre ist jedenfalls schon erkennbar geworden, daß der hier im Mittelpunkt stehende Rechtsgutsbegriff eine werteorientierte Selektion abbildet. Aus der großen Gruppe irgendwelcher Interessen werden zunächst solche ausgewählt, die rechtlich schutzwürdig erscheinen und sodann wird eine weitere Untergruppe von Interessen gebildet, die darüber hinaus von derartiger Bedeutung sind, daß gerade strafrechtlicher Schutz angemesen erscheint. Sähe sich eine Gesellschaft nun außer Stande, eine Einigung über die für den Selektionsprozeß notwendigen Wertentscheidungen zu treffen, so wäre dem Rechtsgüterkonzept der Boden entzogen. Diese Überlegungen haben streng genommen eine weitgehende Konvergenz der Moralvorstellungen der Bürger - beziehungsweise der Sozialnormen derselben -mit den normativen Entscheidungen des Gesetzgebers zur Prämisse. 142 Obwohl diese Prämisse außerordentlich zweifelhaft ist, kann die Frage hier nicht vertieft werden. 143 Daß der bestehende Wertepluralismus auch die Gesetzgebung beeintlußt, äußert sich in verschiedenen Kontexten. Einerseits werden politische Mehrheitsentscheidungen nicht mehr hingenommen, sondern zunehmend rechtlich überprüft, 144 in der Hoffnung, in einem weiteren Gesetzgebungsverfahren der eigenen Position Durchsetzung verschaffen zu können. Damit geht ein faktischer Kompetenzzuwachs des Bundesverfassungsgerichts einher, der alsbald wieder kritisiert wird. 145 Gegebenenfalls wird auch versucht, ein föderalistischer 141 Vgl. Hili, Gesetzgebung, S. 82, mit Ausblick auf die Folgen für die Gesetzgebung; mit Blick auf die Folgen für das Verfassungsrecht und Verfassungsverständnis Denninger, Verfassung, S. 95 ff. 142 Das Fehlen dieser Übereinstimmung konstatiert am Beispiel der Korruptionsdelikte Braum, Korruption, S. 453. 143 Hinweise bei Driendl, Strafgesetzgebungswissenschaft, S. 46 ff. und Denninger, Anmerkungen, S. 282 ff. Denninger weist etwa, anhand des berühmten Blaise Pascal Zitats: "Plaisante justice qu'une riviere bome! Verite au de~a des Pyrenees, erreur au deJa", darauf hin, daß die moralischen Vorstellungen der Staatsbürger mit Blick auf den Schwangerschaftsabbruch sich keineswegs an Ländergrenzen und die dort oktroyierten (Straf-) Normen halten. 144 Beispiele sind die Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, z.B. BVerfGE 65, I ff. (Volkszählung); 88, 203 ff. (Abtreibung II) und Organstreitigkeiten, z.B. BVerfGE 90, 286 ff. (Adria-, AWACS- und Somalia-Einsatz der Bundeswehr). 145 Simon, Ersatzgesetzgeber, S. 169 ff. ; v.Hippel, Rechtspolitik, S. 134 ff.; Lamprecht, Erosion, S. 3272 ff; Eylmann, Gesetzgebung, S. 921 ff.; Kutscha, Götterdämmerung, S. 1213 ff. und Tröndle, Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz, S. 3009 ff.

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Staat eröffnet - freilich begrenzt - die Möglichkeit dies zu unternehmen, eine Parallelrechtsordnung zu etablieren, 146 wenn die eigene Werteposition keine Mehrheit finden konnte. 147 Schließlich werden die Positionen von Minderheiten auch gegen die große Masse geschützt, sei es in Glaubensfragen, 148 oder mit Blick auf Meinungsäußerungen. 149 Jedoch hat der Wertepluralismus noch keineswegs zu den Folgen geführt, die denkbar erschienen. Darunter verstehe ich Regelungsverzichte, oder jedenfalls die Nichtbedienung von - partiell - geäußertem Regelungs bedarf. 150 Daß es solche partiellen oder sektoralen Regelungsbedürfnisse auch im Strafrecht gibt, ist evident. Besonders augenfällig werden sie, wenn sie innerhalb der sie äußernden Werteverbundes -jedenfalls für den außenstehenden Betrachter - inkonsistent erscheinen. Das ist neuen sozialen Bewegungen wie der Ökologiebewegung151 und dem Feminismus 152 immer wieder vorgeworfen worden. 153 Besonders plastisch hat dies bereits vor gut I 0 Jahren Sebastian Scheerer beschrieben und den Begriff der "atypischen Moralunternehmer" dafür geprägt. 154 Soweit eine gesetzgeberische Reaktion auf solche Phänomene zu entdecken ist, besteht die Tendenz jedoch eher in dem Versuch, möglichst viele Moralunternehmer zu bedienen, als in einem Verzicht auf (strafrechtliche) Regelungen,

146 Rehbinder, Gesetzgebung, S. 127, sieht deshalb vor allem die Verbindlichkeit des Gleichheitsatzes gefährdet. 147 So kann man Bayerns Schwangerenberatungsgesetz als Korrekturversuch des gegenwärtigen Abtreibungsrechts verstehen; vgl. Fromme/, Schlechte Verlierer, S. 7 ff. 14R Vgl. die sogenannte Kruzifix-Entscheidung (BVerfGE 93, I ff.). 149 Beispielhaft die "Soldaten sind (potentielle) Mörder" Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 93, 266 ff.), die wiederum von einer anderer Gruppe (der aktuellen Mehrheit des deutschen Bundestages) nicht akzeptiert werden konnte, sondern mit der Lex-Tucholsky (dazu beispielhaft weiter unten im 2. Teil unter 111. 2.) beantwortet wurde. Bezeichnend, im Sinne des hier behaupteten Zusammenhangs mit dem Aufkommen des Wertepluralismus, ist es, daß Denninger, Der Einzelne, S. 425 ff., diese Entscheidung in Beziehung zum Begriff des allgemeinen Gesetzes stellt. 150 Allerdings sieht Rehbinder, Gesetzgebung, S. 125 f., im Wertepluralismus die Chance, sich von gesetzlicher Überregulierungen zu entfernen; nur die gesellschaftlichen Grundentscheidungen wären danach in Gesetzesform starr zu regeln, während die Sozialbereiche, die nur einzelne Segmente betreffen, für unmittelbarere (Selbst-) Regelungsmechanismen offen wären. 151 Steinert, "grüne" Kriminalpolitik, S. 41. 152 Diesen Vorwurf differenziert aufnehmend aber vehement zurückweisend: Karstedt, Frauenbewegung, S. 143 ff. 153 Vgl. Hess, Moralunternehmer, S. 329 ff. und Lüderssen, Tendenzen, S. 163 ff. 154 Scheerer, Atypische Moralunternehmer, S. 133 ff. (insbesondere S. 146); weiterführend Hess, Moralunternehmer, S. 329 ff.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

die Verunsicherungen mit Blick auf eine verbindliche Wertorientierung geschuldeten wären. 155 Eine andere Reaktion, die man erwarten könnte, wäre der Verzicht auf "moralisierendes" Strafrecht. Die Folge davon wäre die Begrenzung des Strafrechts auf die Bereiche, wo - empirisch abgesichert - Schäden bezeichnet und bewiesen werden können. 156 Aber auch dies ist nicht die Tendenz der jüngeren Kriminalpolitik. Typisch für diese sind auf praktischer Ebene 157 vielmehr Delikte wie die Volksverhetzung neuer Fassung, 158 oder Wirtschaftsdelikte, die auf den Nachweis eines· wirtschaftlichen Schadens verzichten. 159 Auch innerhalb der Literatur ist keine Tendenz zur Abwendung von Moralargumenten zur Bestimmung der Reichweite der Strafbarkeit erkennbar. 160 Die gesetzgeberische Reaktion auf die normative Unsicherheit ist also keineswegs durch den Verzicht auf Festlegungen gekennzeichnet, sondern stellt eher den Versuch dar, unterschiedlichen Wertekonzeptionen nebeneinander zu entsprechen. Eine Abwendung von moralisch orientierten Strafrechtskonzeptionen, hin zu empirisch orientierten, ist jedenfalls als genereller Trend ebensowenig festzustellen. Insofern scheint der Wertepluralismus nicht gegen eine Rechtsgüterlehre zu sprechen, die dem Versuch anhängt, jedenfalls im strafrechtlichen Bereich W ertungssyteme anzubieten, die erklären könnten, warum eine bestimmte und begrenzte Anzahl von Werten durch strafrechtlichen Schutz gegenüber anderen hervorgehoben werden.

155 Jäger, Irrationale Kriminalpolitik, S. 232 f., zeigt am Beispiel der Strafbewehrung des Besitzes von kinderpornographischem Material, wie schnell manche Forderungen vom Gesetzgeber im Einzelfall angenommen und umgesetzt werden. 156 Innerhalb der Rechtsgutstheorie müßte dies mit einer Renaissance der Arbeit von Jäger, Rechtsgüterschutz, einhergehen (vgl. soeben unter I. 1. b) dd)). 157 Vgl. zum diesbezüglichen kriminalpolitischen Diskurs den Aufsatz von Klaus Günther, Thesen, S. 135 ff. 158 § 130 StGB, in der Fassung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes (BGBI. 1994, S. 3186 ff.) 159 Beispiele sind §§ 264, 264 a und 265 b StGB; als neuestes prominentes Beispiel kann der "Submissionsbetrug" gelten; vgl. dazu - auch zur Problematik des fehlenden Schadens - Lüderssen, Gutachten, S. 13. lliO Besonders deutlich Papageorgiou, Schaden und Strafe, 1994, insbesondere S. 98 ff. und S. 246, wo er empirische Vorfestlegungen abwehrt. Seine Kritik wendet sich gegen solche Autoren (er benennt keine namentlich), die aus empirischen Befunden Gesetzmäßigkeiten derart abzuleiten versuchen, daß damit bereits normative Entscheidungen vorweggenommen würden (dazu in dieser Arbeit unter 111. I. in diesem Teil). Vgl. außerdem Hoerster, Moral, S. 538 ff., in klarer Abgrenzung zu Jäger, Rechtsgüterschutz (vgl. Hoerster, ebd., S. 541); er fordert insbesondere eine Rezeption der angelsächsischen Moralphilosophie, ähnlich wie Merket, Zaungäste, S. 171 ff. , dies für die Anwendungsdogmatik des § 34 StGB reklamiert.

2. Der Rechtsgutsbegriff innerhalb der kriminalpolitischen Diskussion

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2. Der Rechtsgutsbegriff innerhalb der kriminalpolitischen Diskussion

Aus den bisher reflektierten Eckdaten der strafrechtsgeschichtlichen Bemühungen um die Annäherung an einen materiellen Verbrechensbegriff hat sich der Rechtsgutsbegriff als ein traditioneller Kandidat herausgestellt. Die fundamentalen Einwände gegen ein - noch nicht im Detail präzisiertes - Rechtsgüterkonzept, haben sich keineswegs als zwingend, sondern als widerlegbar herausgestellt. Um die Eingrenzung der Leistungsfähigkeit dieses Kandidaten voranzutreiben, erscheint es mir nunmehr notwendig, seine Rolle innerhalb der kriminalpolitischen Diskussion zu präzisieren. 161 Dabei kann es an dieser Stelle nur darum gehen, plausibel zu behaupten, daß ein am Rechtsgutsbegriff orientiertes Konzept nicht alljenes leisten kann, was überhaupt als Begrenzung der Normierungsfreiheit des Strafgesetzgebers behauptet werden kann. Denn was Kriterien wie das Bestimmtheitsgebot, 162 der Verweis des Gesetzgebers auf einen bestimmten Umgang mit der Empirie, 163 das Verhältnismäßigkeitsprinzip, 164 der Implementierbarkeitsvorbehalt 165 und der Schuldbegriff166 im Detail leisten können, vermag ich hier nicht vorwegzunehmen. Mit dieser Auflistung ist bereits beschrieben, was aus der Debatte um den Rechtsgutsbegriff herausgehalten werden soll. Ein Weiteres kommt hinzu, welches mit dem Rechtsgutsbegriff jedoch so eng zusammenhängt, daß, den gängigen Darstellungen insofern folgend, hier kein eigener Abschnitt vorgesehen ist. Es handelt sich um die Angriffswege auf die Rechtsgüter. 167 a) Die Notwendigkeit einer Trennung von Rechtsgut und Angriffswegen

aa) Was sind Angriffswege? Unter den Angriffswegen verstehe ich die Modalitäten der Verletzung des für wertvoll erachteten Gutes. Der Begriff der Verletzung ist dabei vorläufig ganz weit zu verstehen, umfaßt also nicht nur Verletzungen im engeren Sinne, sondern auch Gefährdungen, seien sie konkret, abstrakt oder auch nur potentiell.

161 162 163 164 165 166

167

Vorarbeiten hierzu in meinem Beitrag Interdepenzen. Dazu in diesem Teil unter IV. Dazu in diesem Teil unter 111. Dazu in diesem Teil unter II. Dazu in diesem Teil unter V. Dazu in diesem Teil unter VI. Dazu in diesem Teil unter I. 4.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

Da die Angriffswege schon begrifflich ein "telos" voraussetzen, sind inhaltlich vertiefende Aussagen dazu, welche Angriffswege hier für strafwürdig erachtet werden, natürlich erst zu entwickeln, wenn die Klärung des "telos", also des Rechtsgutsbegriffes vorangetrieben worden ist. Ebenso zur Frage der Angriffswege, also zu der kriminalpolitischen Frage, welche Verhaltensweisen mit Blick auf ein zu schützendes Gut- aus normativer Sicht 168 - bei Strafe verboten werden sollten, gehören Differenzierungen zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit, Vorbereitung, Versuch und Vollendung, Tun und Unterlassen, Täterschaft und Teilnahme. Es handelt sich dabei um verschieden intensive Grade des "fehlenden Respekts" gegenüber der Integrität des Gutes, die im jeweiligen Verhalten zum Ausdruck kommen. Insbesondere der allgemeine Teil des Strafgesetzbuches bildet die Einsicht ab, daß diese unterschiedlichen Angriffswege nicht im gleichen Maße für strafwürdig gehalten werden. Die Unterscheidung wird dabei nicht alleine in Strafzumessungsvorschriften abgebildet, wie zum Beispiel dem § 49 I StOB und den auf ihn verweisenden Vorschriften, sondern findet auch darin Ausdruck, daß bestimmte Verhaltensweisen gegenüber einem Rechtsgut als strafrechtlich relevante Angriffswege beschrieben werden, während dieselben mit Blick auf andere Güter ohne strafrechtliche Relevanz bleiben sollen. Hält man dies nicht für willkürlich, so muß man Gründe angeben können. Diesen Gründen vollständig nachzugehen, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Im Blickpunkt stehen hier, wie zu Beginn bereits erklärt, die Normen des besonderen Teils des StOB. Deshalb werden sich die folgenden Ausführungen darauf beschränken, die Differenzierungen nach Angriffswegen innerhalb der Deliktsbeschreibungen des besonderen Teils zu reflektieren. Über die genannten positiv rechtlichen Fakten hinaus möchte ich jedoch kurz demonstrieren, worin ich den Grund für eine Differenzierung von Rechtsgut und Angriffswegen innerhalb der kriminalpolitischen und speziell strafgesetzgebungsorientierten Debatte sehe. bb) Gründe für die Differenzierung zwischen Rechtgütern und Angriffswegen Einerseits ist Ziel dieser Differenzierung eine analytische Absicherung der normativen Entscheidungen. Allein mit dem Rechtsgüterschutz als programmatischer Vorgabe läßt sich nicht begründen, warum ein bestimmtes Verhalten,

168 Zu unterscheiden hiervon ist wiederum z.B. die Frage der Notwendigkeit des Schutzes eines Gutes vor gerade dieser Verhaltensweise: sie kann durch empirische Gegebenheiten zu beantworten sein, deren Relevanz im Rahmen von Verhältnismäßigkeitserwägungen zum Tragen kommen.

2. Der Rechtsgutsbegriff innerhalb der kriminalpolitischen Diskussion

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und das Strafrecht knüpft für die Rechtsfolge - bislang jedenfalls 169 - an Verhaltensweisen, Handlungen an, während andere Rechtsgebiete auch an rechtliche Zuordnung zu Gegenständen anknüpfen, 170 strafwürdig sein soll. Genausowenig erklärt der Rechtsgutsbegriff alleine schon, welche Angriffe das Gut tatsächlich schädigen. 171 Kein Rechtsgut, nicht einmal das menschliche Leben, wird umfassend, also vor jedem "respektlosen Verhalten" geschützt, schon gar nicht unter Strafandrohung.172 Ein Beispiel dafür, daß der strafrechtliche Schutz eines Interesses nicht so umfassend gewährt wird, wie etwa im bürgerlichen Recht, ist die Reichweite strafrechtlichen Schutzes der körperlichen Integrität mobilen Eigentums: "Die Vorschrift des § 303 StOB schützt nicht, wie § 1004 BGB , die Belange des Eigentümers in umfassender Weise." 173 Dies bildet den fragmentarischen Charakter des Strafrechts ab. Danach werden nicht alle, sondern nur bestinunte Angriffe für strafwürdig erachtet. Wenn dies so ist, so folgt daraus beispielsweise, daß Beweisschwierigkeiten keine Argumente für die Pönalisierung entfernter Angriffswege sein können, da die Strafwürdigkeit davon nicht berührt ist, 174 folglich also nicht ein schwer beweisbarer Angriff auf ein anerkanntes Rechtsgut durch einen leichter beweisbaren, aber eigentlich nicht strafwürdigen ersetzt werden kann. 175 Indem also nicht nur das Strafrechtsgut selbst, sondern auch der Angriffsweg auf dieses, der bei Strafe verboten werden soll, in den Blick genonunen wird, kann dem Einwand Jakobs, das Rechtsgüterschutzprinzip sei der Grund für im-

169 Zweifel könnte man innerhalb der Iex lata bei den Besitzdelikten begründen; dazu Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 66 f. und Lagodny, Schranken, S. 344 ff. sowie viele der Darstellungen der abstrakten Gefahrdungsdelikte. Mit Blick auf die Iex ferenda ist ein Trend zur Abwendung vom- individuellen- Verhalten innerhalb der Debatte um die Unternehmensstrafbarkeit zu verzeichnen. 170 Die Stichworte Halterhaftung im Zivilrecht und Zustandsstörerhaftung im Polizeirecht müssen hier genügen. 171 Vgl. Jäger, Strafgesetzgebung, S. 88, der deshalb die Beschränkung des Tatbestandes auf "deliktstypische Gefahren" verlangt. Der Sache nach ähnlich Rudolphi, Handlungsunwert, S. 72, der gleichfalls die Strafbarkeit auf die unmittelbare Güterschädigung beschränken will und vor diesem Hintergrund darüber hinausgehende Präventionsansätze zurückweist. 172 Schön formuliert von Pohl, Strafgesetzgebungstheorie, S. 176 f.: ,.Es gibt keinen absoluten Rechtsgüterschutz." 173 BGHSt 29, 133. 174 Papageorgiou, Schaden, S. 235 (Fn. 385) unter Berufung auf einen schwer zugänglichen Artikel von Arthur Kaufmann in der Süddeutschen Zeitung Nr. 38 vom 15116.02.1975. 175 Ausführlich zu dieser Problematik Weigend, Beweisschwierigkeiten, S. 695 ff.

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mer weiter zunehmende Vorverlagerungen des Strafrecht, entgegnet werden. 176 Ob dessen Vorhalt, daß solche Grenzen - vom Rechtsgüterschutz her gesehen "extern" seien, 177 zutrifft, nach dem bisher Entwickelten läßt sich diese These mit guten Gründen bestreiten, oder nicht, ist allenfalls von marginaler Bedeutung. Wichtiger als die ästhetische Geschlossenheit eines Kriterienkanons ist nämlich dessen Leistungsfähigkeit und, soweit man dies einigermaßen fundiert behaupten kann, seine Richtigkeit. Allerdings wird die analytische Differenzierungsmöglichkeit der Trennung in Rechtsgüter und Angriffswege partiell relativiert, wenn die Rechtsgüter diffus sind, so daß eine kaum sinnvoll begrenzbare Anzahl von Verhaltensweisen diese Güter zu beeinflussen geeignet sind. Kann man diese Beeinflussung dann als Störung einer abstrakt bleibenden Funktion oder gar eines Funktionszusammenhangs beschreiben, so fällt es relativ leicht, diese Verhaltensweisen als Angriffswege zu bezeichnen. Dies betrifft jedoch wiederum die Begrenzbarkeil der Auswahl der Interessen, die Strafrechtgüter sein sollen, ist also nicht primär eine Frage der Angriffswege. Extreme Fälle werden außerdem am Bestimmtheilserfordernis scheitern. Eine bislang kaum beachtete Rolle spielt die Differenzierung zwischen Rechtsgütern und Angriffswegen innerhalb der Debatte um die Kriminalisiserung der ehelichen Vergewaltigung. 178 Behauptet man nicht, daß das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung dem Ehepartner gegenüber keine Geltung hat, was schon deshalb einigermaßen absurd erschiene, weil persönliche Rechtsgüter jedem gegenüber respektiert werden müssen, soweit der Träger nicht von seinen Dispositionsbefugnissen Gebrauch macht, so handelt es sich bei der Erweiterung des strafrechtlichen Schutzes um die Erweiterung der strafbewehrten Angriffswege. Das Gut, also die sexuelle Selbstbestimmung, bleibt unverändert. Das Interesse, die Leistungsfähigkeit einer Rechtsgutskonzeption beurteilen zu können, fordert jedoch noch weitere Differenzierungen, als die zwischen Rechtsgütern und Angriffswegen. b) Notwendigkeit einer systematischen Trennung von Rechtsgütern einerseits und sonstigen kriminalpolitisch relevanten Topoi andererseits Verschiedene Autoren sehen in der Debatte um die Begrenzungsfunktion des Rechtsgutsbegriffes offenbar bereits alle relevanten Argumente der Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung vereint.

176 Dieser Einwand ist bei Jakobs, Rechtsgutsverletzungen, S. 751 ff. (insbesondere 7521753), entwickelt worden. 177 Jakobs, Rechtsgutsverletzungen, S. 753. 178 Vgl. ausführlicher als hier Staechelin, Interdependenzen (sub. III. 2. d)).

2. Der Rechtsgutsbegriff innerhalb der kriminalpolitischen Diskussion

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Arzt etwa beschreibt den Rechtsgutsbegriff als "Parallelogramm der Kräfte. " 179 Seine Wiedergabe der Bedeutung des Rechtsgutsbegriffes für die Entkriminalisierungsdebatte kulminiert in einer Beschreibung desselben als Produkt einer Güterabwägung. 180 Bereits hier seien relative Wertigkeiten zu entscheiden, wie etwa Konflikte zwischen der Ehre und der Meinungsäußerungsfreiheit, Landesverrat und Pressefreiheit. 181 Dem Rechtsgutsbegriff wird dabei so viel aufgeladen, daß eine Einigung darüber, was Rechtsgut oder genauer Strafrechtsgut sein soll, kaum mehr möglich erscheint. Insofern ist es nicht überraschend, wenn Arzt an anderer Stelle äußert, der Rechtsgutsbegriff liefere "keine eindeutigen Ergebnisse." 182 Müssig sieht die Rechtsgutslehre als "Reflektionstheorie des Strafrechtssytems durch eine - wenn auch positivistisch verkürzte - Rekonstruktion der Gesellschaft". 183 Soweit damit gefordert wird, für die normativen Entscheidungen, die Grundlage der Beschreibung eines Interesses als Rechts- und sodann Strafrechtsgut sind, die Rolle des Strafrechts in unserer Gesellschaft zu reflektieren, soll dem hier nicht entgegengetreten werden. Darüber hinausgehend andere Parameter kriminalpolitischer, insbesondere strafgesetzgeberischer Entscheidungen im Rechtsgutsbegriff zu verorten, so daß dieser zur Abreviatur all dieser notwenigen Prüfungen, Abwägungen und Entscheidungen würde, halte ich für verfehlt. Die Argumente dafür sind rasch genannt: Zunächst gilt auf allgemeiner Ebene jenes, was auch für die Unterscheidung zwischen Rechtsgütern und Angriffswegen gilt. Die Ausdifferenzierung der unterschiedlichen, für die Kriminalisierungsentscheidung relevanten Kriterien bietet die Basis, in detaillierter Weise kenntlich zu machen, wo Empirie, Rechtsgründe, verfassungsrechtliche Argumente oder normative Entscheidungen Grund dafür sind, sich in der einen oder anderen Weise zu entscheiden, also für oder gegen Kriminalisierung. Unternimmt man hingegen den Versuch, alle diese Kriterien im Rechtsgutsbegriff aufgehen zu lassen, so wird dieser unter der Hand wieder zum methodologischen Rechtsgutsbegriff. Denn dann steht das Rechtsgut für die gesamte Entscheidung über die Strafbarkeit, hat also keinerlei eigenständige Bedeutung oder argumentative Kraft mehr. Sich zur Ablehnung eines geplanten Tatbestandes auf den Rechtsgutsbegriff zu berufen, würde dann einer a limine Abweisung gleichkommen.

179

118).

180 181

182 183

Arzt, Kriminalisiserung und Entkriminalisierung, S. 117 ff. (das Zitat auf S. Arzt, Kriminalisiserung und Entkriminalisierung, S. 118. Arzt, Kriminalisiserung und Entkriminalisierung, S. 118. Arzt in Arztl Weber, LH 1, Rz. 7. Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 157; ähnlich S. 174.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

Als Fazit läßt sich festhalten, daß das Vorliegen eines negativen Verhaltens einem Rechtsgut gegenüber zwar vielleicht notwendige, jedenfalls aber nicht hinreichende Bedingung für eine positive Kriminalisierungsentscheidung sein kann. 184

3. Vom Interesse zum Rechtsgut Wie in den vorangegangenen Ausführungen angedeutet, soll es nun um den Versuch gehen zu bestimmen, was aus welchen Gründen Rechtsgut und schließlich Strafrechtsgut werden kann. Wenn unter Rechtsgütern solche Gegebenheiten verstanden werden, die mit einer gewissen gesellschaftlichen Anerkennung verknüpft sind, Strafrechtgüter darunter dann eine - auch bezogen auf die Voraussetzungen der gesellschaftlichen Anerkennung - besondere Gruppe bilden, so erscheint es notwendig, eine, den Prozessen, die zur Anerkennung führen, vorgelagerte Beschreibung dieser Gegebenheiten vorzuschlagen. Dies geschieht hier mit dem Begriff des Interesses. Der Grund für diese Auswahl liegt einerseits darin, daß insofern eine Tradition besteht, 185 auf die man zurückgreifen kann, ohne sie unkritisch übernehmen zu müssen, und andererseits darin, daß der Begriff des Interesses in besonderem Maße an das einzige ursprünglich anerkannte Rechtssubjekt, also die Person anknüpft. 186 Daß der Begriff auch im positiven (Straf-) Recht, und zwar in durchaus vergleichbarer Bedeutung in § 34 StOB Verwendung findet, spielt für seine Auswahl hier keine erhebliche Rolle. a) Interessen und ihr Schutz Mit dem Begriff des Interesses ist zunächst, anders als mit dem Rechtsgutsbegriff, noch keine Idee des Schutzes oder auch nur der Schutzwürdigkeit verbunden. Ein Interesse an der Respektierung der körperlichen Unversehrtheit, an der sexuellen Selbstbestimmung, kann der einzelne ebenso haben, wie am größten Reichtum, an der Gemäldesammlung seines Nachbarn oder an einer guten Flasche Wein.

Hassemer, Rechtsgutslehre, S. 88. Liszt, Zweckgedanke, S. 451: " ...darum ist die Geschichte des Strafrechts die Geschichte der zu Rechtsgütern erklärten Interessen der Menschheit; das Strafrecht einer bestimmten Periode die Bilanz aus ihrem menschheitlichen Soll und Haben." 186 Dazu Mittelstraß, Über Interessen, S. 126 ff. (S. 129); Karg/, Friedenssicherung, S. 489 ff. und Papageorgiou, Strafe, S. 105 ff. 184 185

3. Vom Interesse zum Rechtsgut

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aa) Interessen Interessen sind also einer Bewertung vorgelagert und können als personale Wünsche, bezogen auf bestehende oder noch kommende Gegebenheiten verstanden werden. 1s7 Sie können aus der Sicht eines Dritten ganz irrational oder kurzsichtig erscheinen. Ihre rechtliche Anerkennungsfähigkeit muß dies nicht ausschließen, solange nicht solche Interessen anderer Personen betroffen sind, die für wertvoll und schutzwürdig erachtet worden sind. Vor einer Anerkennungsentscheidungiss sind sie jedoch schutzlos. Der "Weg" vom Interesse zum Rechtsgut führt deshalb über Bewertungsstadien. Dazu kann einerseits eine Art Konsistenzprüfung gehören, die danach fragt, ob das behauptete Interesse nach Maßgabe längerfristiger Lebensentwürfe des sie äußernden einzelnen diesen Entwürfen "objektiv" dienlich ist. 1s9 Der Versuch einer Objektivierung der personalen Interessen muß aber andererseits auch dem Umstand Rechnung tragen, daß es Bereiche gibt, wo der einzelne seine Interessen nur zu Lasten anderer verwirklichen kann. Anders als bei einem Rechtsgutsbegriff, der als "Parallelogramm der Kräfte" 190 bereits die relative Wertigkeit verschiedener, konkurrierender und, worauf es hier ankommt, bereits als objektiv werthaft und rechtlich schutzwürdig anerkannter Werte zum Ausgleich zu bringen trachtet, steht hier allein die gesellschaftliche Anerkennungsfähigkeit eines individuell geäußerten personalen, also menschlichen Interesses zur Debatte. 191 Dafür ist, nach demokratischer Manier, die objektivierende Anerkennung eines personalen Interesses als gesellschaftlich relevant notwendig. Hierfür müssen Gründe angegeben werden können, die erklären, warum ein Interesse nicht nur besteht, sondern auch bestehen soll. 192 Bevor dies ein wenig vertieft werden kann, erscheint es zur Vermeidung von Mißverständnissen notwendig, einen Blick auf die Normativierung der Interessen selbst zu werfen.

187

PI.

In diesem Sinne Papageorgiou, Schaden, S. 109 in seiner Beschreibung von

188 Es sei denn, man hält eine solche Anerkennungsentscheidung für überflüssig oder jedenfalls nicht konstitutiv, wie Anhänger naturrechtlicher oder naturrechtsnaher Lehren dies behaupten (würden), was aber die Begründung der Legitimität eines möglichen rechtlichen oder sogar strafrechtlichen Schutzes grob verkürzt; vgl. dazu die Auseinandersetzung mit solchen Positionen soeben unter I. c) bb) (1). 189 Bei Papageorgiou, Schaden, S. 110 wäre dies die Stufe P 3. 190 Vgl. insoweit die an der Konzeption Arzts geübte Kritik soeben unter 2. b). 191 Nochmals Papageorgiou, Schaden, S. 106 und Mittelstraß, Über Interessen, S. 139 ff., zu Kriterien der Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Interessen. 192 Mittelstraß, Über Interessen, S. 141 ff. und Karg/, Friedenssicherung, S. 495.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

bb) Normativierung von Interessen Für die Frage nach dem Interesse, dessen Schutz Gegenstand einer strafgesetzliehen Vorschrift sein kann, ist auch relevant, wie dieses Interesse beschreibbar und/oder feststellbar ist. Während im Ausgangspunkt, und also auch historisch, eine naturalistische Betrachtungsweise vorherrschte, kann man heute feststellen, daß die Interessen selbst ebenso wie ihre möglichen Verletzungen normativiert werden. 193 Dies gilt sowohl für- historisch gesehen- neuere Interessen, wie jenes an der Sauberkeit der Umwelt, als auch für klassische Interessen, wie die körperliche Unversehrtheit. 194 Während bei dem ersten Interesse der gewollte Zustand beispielsweise eines Gewässers zunächst definiert werden muß, um zurechenbare Abweichungen von diesem Zustand erkennen und definieren zu können, wird das zweite Interesse, also die körperliche Unversehrtheil, zunehmend aus der Sphäre der äußerlich erkennbaren körperlichen Konstitution herausgelöst. An die Stelle einer naturalistischen Betrachtung tritt eine definitorische, die nur über Expertenwissen konstruierbar, erkenn- und beschreibbar ist. Die schützbaren Interessen werden also normativiert; in Kellers Ausdruckweise heißt dies: "Ein relevantes Interesse am Körper muß erst, wissenschaftlich aufgeklärt, mit (nicht vorab eingegrenzten) Gegeninteressen korreliert werden, um daraus konstruktiv den achtenswerten Gegenstand zu erschließen."195 Die Re- oder Dekonstruktion dieser Normativierung ersetzt jedoch nicht die Beachtung derjenigen, die hier für die Bestimmung eines Interesses als Rechtsgut und gegebenenfalls Strafrechtsgut für notwendig gehalten wird. cc) Notwendigkeit der öffentlichen Anerkennung von Interessen Die Fixierung von Rechtsgütern 196 setzt die öffentliche Anerkennung der Interessen notwendig voraus. 197 Der Sache nach impliziert dies zuerst die Objektivierung der subjektiven Einzelinteressen, 198 und dann ihre positiv rechtliche

193 Dazu ausführlich Keller, Normativismus, S. 457 ff. 194 Keller, Normativismus, S. 476 ff., zu den ökologischen Gütern und S. 473 ff.,

die Gesundheit betreffend. 195 Keller, Normativismus, S. 475. 196 So die Formulierung von Lüderssen, Kriminologie, Rz. 178. 197 Man rufe sich die Beschreibung des Bundesverfassungsgerichts: "Das strafrechtliche Delikt ist schuldhafte Verletzung eines für alle gewährleisteten Rechtsgutes" (BVerfGE 25, 269, 286 [Berechnung strafrechtlicher Verjährungen]/ kursiv nur hier) in Erinnerung. 198 Soeben unter aa).

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Fixierung als werthaft und deshalb schutzwürdig. Dazu sind Verfahren einzuhalten,199 die ihrerseits nur in geringem Maße positiv rechtlich fixiert sind, 200 in manchen Teilaspekten durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vertieft worden sind, 201 die jedoch vielfach noch nicht in einer der Be-

deutung dieser Verfahren angemessenen Weise durchdacht und deren zu fordernde hohe Legitimationsstandards zu wenig thematisiert werden. 202

( 1) Anerkennung als rechtlich schützenswert Dabei ist die allgemeine rechtliche Anerkennung eines Interesses ein erster Schritt. Er sichert gegebenenfalls die rechtliche Behauptung des Interesses inter pares im Bereich des bürgerlichen Rechts oder zwischen dem einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft im öffentlichen Recht. Insbesondere sichert die positiv rechtliche Anerkennung die Gewährleistung von Verfahren zur Durchsetzung dieses nunmehr zum Recht erstarkten Interesses. 203 Für die hier relevanten Verhaltensnormen bedeutet dies zumeist ein Verhaltensverbot, im Einzelfall auch ein Verhaltensgebot Mit Blick auf das Interesse, handelt es sich um das Verbot es - in einer bestimmten Art - zu beeinträchtigen oder das Gebot - sich in einer bestimmten Situation -für dessen Erhaltung einzusetzen.

(2) Anerkennung als strafrechtlich schützenswert Zur strafrechtlichen Norm wird die Verhaltensnorm erst, wenn ihre Nichtbeachtung mit einer spezifischen, eben der strafrechtlichen Sanktion bedroht ist. Die Etablierung einer solchen Sanktion als Rechtsfolge setzt wiederum einen Auswahlprozeß voraus. Die Auswahl ist dabei eine solche unter verschiedenen Interessen und Ausdruck besonderer Wertschätzung der ausgewählten Interessen. Bezogen auf die Gesetzgebung findet im Einzelfall ein Prozeß statt, der in jüngerer Zeit aus prinzipieller, historischer Sicht auf vertieftes Interesse gestoßen ist. 204 Es entsteht in diesem Prozeß jeweils ein Teil des Strafrechts, und Hinweise bei Lüderssen, Kriminologie, Rz. III ff. m Zu Verfahrensregeln der Gesetzgebung im allgemeinen später im 2. Teil unter I. 201 Verfahrensaspekte mit Blick auf den Umgang mit den tatsächlichen Gegebenheiten später in diesem Teil unter III. 202 Überlegungen dazu in dieser Arbeit im 3. Teil. 203 Ganz grundsätzliche Orientierung bei Kausch, Funktionen, S. 13 ff. 204 Einschlägig Lüderssen, Krise, der die historischen, ideengeschichtlichen, aber auch theologischen Bedingungen für die "Entstehung" oder vielleicht Etablierung des öffentlichen Strafanspruchs nachzeichnet. 199

2

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

zwar des öffentlichen Strafrechts. Das bedeutet, wenn man den Blick wieder auf die Auswahl von Interessen, also die Etablierung von Rechtsgütern richtet, daß die Interessen nicht nur objektiviert wurden, sondern die Öffentlichkeit deren Mißachtung als eigene, sie selbst betreffende Sache versteht. 205 Dazu gehört insbesondere auch, daß man - von wenigen Ausnahmen206 abgesehen - die Initiative für eine Reaktion auf die Interessensverletzung nicht mehr dem Verletzten überläßt, sondern die Allgemeinheit sich ihrer annimmt, 207 die Beschädigung des individuellen Interesses zum sozial relevanten Schaden erklärt.

b) Fragmentarierät des Strafrechts- Strafwürdigkeit und Strajbedürftigkeit? Das Strafrecht fragmentarisch zu konzipieren, ist eine bewußte, systemtragende Entscheidung, 208 die außerdem sowohl in normativer, wie auch in zweckrationaler Hinsicht notwendig ist. Bevor nun Orientierungs- oder Argumentationshilfen für die Bildung der Fragmente angeboten werden sollen, möchte ich kurz nachvollziehen, warum diese Begrenzung notwendig ist und sich bereits bei der Auswahl der als Strafrechtsgüter infragekommenden Interessen auswirkt. Einerseits usurpiert die unbegrenzte Ausweitung der strafrechtlich zu schützenden Interessen die Wirksamkeit des Instruments?09 Andererseits bleibt die Lüderssen, Krise, S. 25. Ausnahmen oder Relativierungen finden sich vor allem im Bereich der Strafanträge und bei den Privatklagedelikten. 207 Wenn heute die Einführung der "Widerspruchsklausel" (vgl. dazu Oberlies, Anmerkung, S. 107 und Helmken, Vergewaltigung, S. 461), der "Versöhnungsklausel" (dazu Helmken, Vergewaltigungsreform, S. 305 ff.) oder von Abarten derselben bei der Vergewaltigung in der Ehe so umstritten ist, so liegt dies gerade daran, daß bei einer gewichtigen Unrechtsbedeutung, und damit einer besonders hohen Bewertung der verletzten Interessen, abweichend vom Üblichen, der öffentliche Strafanspruch in Frage gestellt wird, der Konflikt also in gewisser Weise reprivatisiert wird. Das halten diejenigen, die eine solche Lösung teils vehement bekämpfen, zwar vielleicht nicht im Grundansatz für falsch, jedenfalls aber in einer Situation für verfehlt und das Opfer gefährdend, wo gerade derjenige, der der Interessensverletzung verdächtig ist, einen so hohen Einfluß auf die Verletzte hat, daß von ihrer Seite eine Entscheidung (eben der Widerspruch) zu besorgen ist, die sich weit von den gesellschaftlichen Anschauungen entfernt. Hat nämlich der (potentielle) Täter bestimmenden Einfluß auf das Opfer, dann bedeutet die Reprivatisierung des - in diesem Unrechtsschwerebereich üblicherweise uneingeschränkt - öffentlichen Strafanspruchs eine Übertragung der Entscheidung über die Durchsetzung der Rechtsfolge der - vermutlich - verletzten Verhaltensnorm auf gerade denjenigen, der dieser Interessensverletzung verdächtig ist. 208 Kar/ Peters, Beschränkung, S. 471 und 475; Maiwald, Zum fragmentarischen Charakter, S. 10 f. 209 Kar[ Peters, Beschränkung, S. 471 und Frisch, Grenzen, S. 95 ff. und ders., Strafgesetzgebung, S. 222. 205

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symbolisch-expressive Funktion des Strafrechts, also die Kommunikation des Tadels auf der Strecke, wenn die Beeinträchtigung einer überwiegenden Anzahl -auch marginaler- Interessen eine Reaktion mit Strafe möglich macht. 210 Üblicherweise werden diese beiden Aspekte unter den Rubriken Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit reflektiert, oder neuerdings in der Terminologie Frischs als Strafadäquität211 bezeichnet. Inwieweit gerade die beiden erstgenannten Begriffe zur Beurteilung legitimer Strafgesetzgebung hilfreich sind, kann hier nicht erschöpfend untersucht werden. Um die Bezüge zu den sich daran orientierenden traditionellen Argumenten herstellen zu können, erscheint es jedoch notwendig, hier kurz zu verweilen. Beide Begrifflichkeilen sind erheblich durch die Arbeit von Sax geprägt. 212 Er versteht unter Strafbedürftigkeit eine Situation, wo die Reaktion auf ein Verhalten Strafe sein muß, "weil Strafe das einzige zweckmäßige Mittel ist, um die Gemeinschaftsordnung ... zu schützen und zu bewähren."213 Verfassungsrechtlich gewendet handelt es sich insoweit um eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Mittels Strafe, insbesondere der Notwendigkeit des dadurch bewirkten Grundrechtseingriffes, was bereits daran erkennbar wird, daß Sax selbst im Strafbedürfnis die Rechtfertigung für die Beeinträchtigung der Menschenwürde des Täters sieht. 214 Gibt es ein milderes Mittel, so fehlt es an der Strafbedürftigkeit, die sich also als Konkretisierung von Erwägungen der Zweckrationalität unter Beachtung grundrechtlicher Grenzen darstellt. 215 Unter Strafwürdigkeit im engeren Sinne versteht Sax hingegen ein Verhalten, welches "Strafe verdient, weil ihr Wertbezug hinreichend erkennbar nachhaltig ist, um zu der nachhaltigen Unwertbeurteilung des Täters durch die Strafe in eine erträgliche Proportion zu treten".216 Der darin liegende Gedanke der Proportionalität drückt aus, daß eine vergleichende Bewertung stattfindet, ebenso wie bei Autoren, die den Zusammenhang zwischen strafrechtlicher Reaktion und dem die Reaktion herausfordernden Verhalten mit Angemessenheil oder Ad210 Darauf abstellend u.a. Kar/ Peters, Beschränkung, S. 474 f.; Maiwald, Zum fragmentarischen Charakter, S. 10; Sax, Grundsätze, S. 913; Hamann, Strafgesetzgebung, S. 24; Frisch, Grenzen, S. 82 ff. (S. 95); ders., Strafgesetzgebung, S. 223. 211 Frisch, Grenzen, S. 79; der Begriff wird im Übrigen bereits von Hamann, Strafgesetzgebung, S. 27 (Fn. 12) vorgeschlagen. 2 12 Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 909 ff.; ihm ausdrücklich folgend Hamann, Strafgesetzgebung, S. 25. 213 Sax, Grundsätze, S. 933 (Hervorhebung nur hier). 214 Sax, Grundsätze, S. 933. 215 Ebenso Frisch, Grenzen, S. 77; Hans Ludwig Günther, Genese, S. 8 ff. ; Hamann, Strafgesetzgebung, S. 27 f. und Maiwald, Beschränkung, S. 20, um nur einige zu nennen. 216 Sax, Grundsätze, S. 923 ff. (wörtliches Zitat in der Zusammenfassung S. 933).

5 Stächclin

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

äquanz beschreiben. 217 Da Strafrecht nun nicht irgendeine Reaktion, sondern bereits die ultima ratio der rechtlichen Mittel ist, kann eine solche Proportionalität nur hergestellt werden, wenn auch gewichtige Interessen durch das Verhalten, an welches dann angeknüpft wird, angegriffen werden. Nach Altpeter218 gibt es hingegen kein Unterscheidungsbedürfnis zwischen Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit Diese These bezieht Altpeter aber auf das Straftatsystems, hat also innerhalb der Anwendung des positiven Rechts die Frage im Blick, ob über die bisherige Straftatsystematik hinaus noch eine weitere "Prüfungsebene" erforderlich ist, die dann, nach Altpeter, die beiden hier getrennt behandelten Topoi gemeinsam berücksichtigen könnte. Ob man mit Blick auf die Ergänzung der konkreten Deliktsprüfungen auf die gerade nachvollzogene Trennung verzichten kann, mag hier offen bleiben. Innerhalb einer Analyse der Kriterien, die der Gesetzgeber bei einer Kriminalisierungsentscheidung zu berücksichtigen hat, ist die Trennung jedoch schon deshalb notwendig, weil dessen Freiheiten je unterschiedlich weit gehen, konkret gesprochen bei wertenden Entscheidungen weiter sind, als bei der Auswahl der Mittel zum Schutze eines bereits zum Strafrechtsgut verdichteten Interesses am Maßstab der Verhältnismäßigkeit. Hier beschäftigt uns nun die Frage, warum als Reaktion auf die Verletzung mancher Interessen mit Strafe reagiert werden können soll. Deshalb spielt alleine die Strafwürdigkeit, Strafangemessenheil oder Strafadäquität eine Rolle. Sie ist auf einer wertenden Ebene Maßstab der Auswahl einer nur beschränkten Anzahl von Interessen, die als Strafrechtsgüter in Frage kommen und somit der normative Grund für die Fragmentarietät des Strafrechts sind, wohingegen sich die Strafbedürftigkeit als spezieller Unterfall von Verhältnismäßigkeilserwägungen herausgestellt hat, weshalb sie nicht hier, sondern, jedenfalls der Sache nach, in einem späteren Abschnitt behandelt werden soll. 219 Die Bezeichnung des Strafrechts als fragmentarisches Instrument stellt die Anerkennung der Tatsache dar, daß eine normativ motivierte Selektion besonderer Interessen als solche, die strafrechtlichem Schutz zugänglich sein können, stattgefunden hat oder, auf die Gesetzgebung gewendet, stattzufinden hat. Dies bedeutet andererseits wiederum nicht, daß diese Interessen auch strafrechtlich geschütz werden müssen, und dies schon gar nicht vor allen denkbaren Beeinträchtigungen. Anders als bei Binding220 liegt aus dieser - hier vertretenen -

217 Frisch, Grenzen, S. 79; ders., Strafgesetzgebung, S. 216 und 218 ff. sowie bereits Hamann, Strafgesetzgebung, S. 27. 218 Altpeter, Strafwürdigkeit, S. 26 ff (ausdrücklich etwaS. 43). 219 In diesem Teil unter II. 4. 220 Binding, Lehrbuch, S. 20.

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Perspektive das Fragmentarische des Strafrechts nicht darin, daß nur "Fragmente" des Strafwürdigen auch strafrechtlich sanktioniert werden, sondern gerade darin, daß nur die strafwürdigen Fragmente strafrechtlich sanktioniert werden?21 Es handelt sich also nicht um einen gewichtigen Mangel des positiven Strafrechts,222 sondern um ein begrüßenswertes Merkmal, welches dem angestrebten Sinn des Strafrechts entspricht: "Lückenhaftigkeit und Unvollständigkeit gehören zur Natur des Strafrechts. Die Ansicht, Gesetzgebung und Auslegung müßten Lückenlosigkeit und Vollständigkeit gewährleisten, ist grundsätzlich falsch. Sie ist weder gesetzespolitisch noch als wissenschaftliche Auslegungmethode richtig."223 Bislang ist jedoch alleine begründet worden, daß eine wertorientierte Selektion der infragekommenden Gesamtzahl der denk- und objektivierbaren Interessen stattfinden muß, damit der fragmentarische Charakter des Strafrechts erhalten bleibt. Nunmehr ist zu untersuchen, ob dem Gesetzgeber Vorgaben für die Wertungen gemacht werden können, die er zur Auswahl derjenigen Interessen, die strafrechtlichem Schutz zugänglich sein können sollen, beachten müßte.

c) Begrenzbarkeif der Interessen, die Strafrechtsrechtsgut sein können? Hier liegt eine für die liberale Kriminalpolitik entscheidende Frage. Eine Rechtsgutstheorie setzt für sich genommen dem Gesetzgeber keine Grenzen. Gelingt es aber zu begründen, warum manche Interessen zu Strafrechtsgütern werden können, andere dagegen nicht, so kommt der dies konturierenden Rechtsgüterlehre begrenzende Kraft zu, sei es als "Argumentationstopos",224 sei es als rechtlich verbindliche Grenze der Legiferierungsfreiheit des Gesetzgebers. Wie bereits in Zusammenhang mit dem Interessensbegriff erläutert, kommt es bei der Fixierung eines Rechtsgutes zu einem Zusammenspiel einerseits personaler Ansätze, insofern das Interesses als eine individual geprägte Konzeption des Sollens verstanden wird, andererseits aber auch öffentlicher Ansätze, da diese Subjektivismen öffentlicher Anerkennung bedürfen. Das hat zur Folge, daß die so konzipierten Güter zum Teil am Individuum orientiert bleiben, zum Teil aber auch vom Individuum abstrahiert als kollektiv behauptet werden. In

221 Es sei denn, man würde begründen, daß die wertorientierte Auswahl unzutreffend ist. Man müßte dann aber die fehlerhafte Orientierung des Strafrechts beklagen, nicht aber seine mangelnde Reichweite. 222 So aber Binding, Lehrbuch, S. 20. 223 Kar[ Peters, Beschränkung, S. 475. 224 Hassemer, NK, Rz. 289 vor § I.

5*

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der Strafrechtsdogmatik bezeichnet man sie -je nach Träger - deshalb als Individualrechtsgüter oder Kollektiv- beziehungsweise Universalrechtsgüter. Für ein Modell der Strafrechtsgüter bieten sich danach zwei Ausgangspunkte an, nämlich eine dualistische Konzeption, die sich mit der Parallelität oder Kontrarietät225 der Resultate abfindet, oder aber eine monistische Konzeption, die, wie Hassemer es formuliert, den ,,Schlußstein über den beiden Säulen" sucht. 226 Die dualistische Konzeption nähert sich dabei weitgehend dem methodologischen Begriff an, verzichtet auf weitere analytische Untersuchungen und verspielt so frühzeitil 27 die gesuchte kritisch begrenzende Potenz des Rechtgüterdenkens. Dabei liegt ihre Schwäche weniger in dem Mangel an ästhetischer Geschlossenheit,228 als vielmehr darin, daß sie entgegengesetzte Entwicklungen mit Blick auf fundamentale Wertpräferenzen zuläßt und kaum brauchbare Aussagen zur relativen Wertigkeit von Gütern begründen kann, soweit sie aus je verschiedenen Strängen stammen. Innerhalb der monistischen Konzeption bieten sich - nach dem bislang Ausgeführten jedoch nur noch theoretisch - zwei Orientierungen an. Zum einen kann der personale Ausgangspunkt in den Vordergrund gestellt werden, zum anderen wiederum die kollektive Komponente, also die notwendige Objektivierung der Einzelinteressen, deren Anerkennungsbedürftigkeit und deren Funktion für Staat und Gesellschaft. In bewußter Opposition zur ,,Modernisierung" des Strafrechts in der jüngeren Geschichte, 229 befürwortet Hassemer eine monistisch personale Konzeption der Rechtsgüter. 230 Neben dieser eher defensiven Begründung, lassen sich jedoch weitere Argumente anführen. Zum einen ist nicht einzusehen, warum das Recht als Instrument der Organisation des Zusammenlebens der einzelnen in der Gemeinschaft nunmehr deren Interessen wertmäßig hintanstellen sollte, zugunsten der relativen Bevorzugung kollektiver und verselbständigt kollektiver Einrichtungen, deren Zweckhaftigkeit auf die Bereitstellung von Organsisationsformen vergesellschafteten Lebens der einzelnen beschränkt ist. Anders, und einfacher ausgedrückt ist hier zu entscheiden, ob die kollektiven Einrichtungen als Teilausprägungen der (staatlichen) Vergesellschaftung für den einzelnen da sind, oder umgekehrt der einzelne für das KotSo Klaus Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 6 und öfter. Hassemer, NK, Rz. 271 vor § 1. 221 Ebenfalls Hassemer, NK, Rz. 273 vor § I. 228 Diese scheint in den Einwänden Hohmanns, Umweltdelikte, S. 59 f. eine große Rolle zu spielen. 229 Diese analysiert Hassemer, Symbolisches Strafrecht, S. 553 ff; ders., Sozialtechnologie, S. 331 ff. und ders., Krisen, S. 378 ff. 230 Hassemer, NK, Rz. 274 vor § 1. 225

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lektiv. Nicht nur die Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte, die den Wert der einzelnen gegenüber dem Kollektiv bis zur Disponierbarkeit über deren schlichte Existenz herabgewürdigt hat, sprechen gegen die zweite, etatistische Variante. Des Weiteren haben wir oben gesehen, daß der Interessensbegriff als Basis seinerseits an die personalen Sollenskonzeptionen anknüpft, die kollektiven Güter also ihrerseits auf personale Interessen rückführbar sind, nicht jedoch umgekehrt das personale Interesse aus einer prädominanten Rolle des Kollektivs gegenüber dem einzelnen konstruiert werden kann. aa) Personale Rechtsgutslehre Die Konsequenz einer monistischen Lehre auf der Basis der Interessen ist die personale Rechtsgutslehre. Nach "Vorarbeiten" von Michael Marx 231 ist sie von Winfried Hassemer entwickelt worden. 232 Olaf Hohmann hat sie am Anwendungsfall der Umweltdelikte monographisch ausformuliert. 233

( 1) Vorstellung der personalen Rechtsgutslehre Die personale Rechtsgutslehre sieht als Rechtsgüter die "verletzbaren, realen Gegebenheiten an, die sich in der historischen Situation als personale Entfaltungsvoraussetzungen und -bedingungen darstellen. " 234 Sie definiert die Güter der Allgemeinheit in ihrer Funktion für die Person, 235 bemißt die Legitimität staatlichen Handeins von der Person her. 236 Während die personalen Rechtsgüter fundamental sind, ihr strafrechtlicher Schutz zwar keine Selbstverständlichkeit, wohl aber naheliegend ist, ist die Sachlage bei überindividuellen Gütern komplexer. Diese werden zwar nicht von der Möglichkeit staatlichen Schutzes ausgenommen, sind mit Blick auf die personalen Güter jedoch Medien 237 und als solche auch nur derivativ geschützte Interessen. Der (strafrechtliche) Schutz

Marx, "Rechtsgut". Hassemer, Rechtsgutslehre, S. 85 ff; ders., AK, Rz. 285 ff; nunmehr ders., NK, Rz. 274 ff. Für diese Lehre ist durchaus die Basis in Hassemers Monographie, Theorie 231

232

und Soziologie, gelegt worden. 233 Hohmann, Umweltdelikte, insbesondere S. 61 ff., aber auch ders., Rechtsgutsbestimmung, S. 76 ff. 234 Hohmann, Rechtsgutsbestimmung, S. 77; Hassemer, Rechtsgutslehre, S. 91. 235 Hassemer, NK, Rz. 275 vor § I. 236 Hassemer, ebd., Rz. 276. 237 Hassemer, Rechtsgutslehre, S. 92.

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von Institutionen muß deshalb jeweils im Interesse der Person sein, 238 denn nur und soweit die überindividuellen Werte sich von den personalen Interessen ableiten lassen, sind sie so schutzwürdig, daß das Strafrecht das adäquate Mittel sein kann. 239 Die Konsquenzen dieser Lehre treffen also in besonderem Maße die kollektiven Interessen, deren strafrechtlicher Schutz einer "selbstgenügsamen" Legitimation verlustig geht. Die Konsequenzen können durchaus als erheblich bezeichnet werden. 240 Innerhalb der vergleichenden Bewertung von Rechtsgütern, etwa bei der Abwägungsdogmatik des § 34 StGB besteht nach dieser Lehre ein gewisser Vorrang für die fundamental personalen Güter, zu Lasten der abzuleitenden kollektiven Güter, deren Bedeutung für die Interessen des einzelnen jeweils zu überprüfen ist. Gleichzeitig mutieren all diejenigen Delikte, die dann als Schutz der Medien der personalen Interessen verstanden werden müssen, zu Vorfeldkriminalisierungen.241 Die Schutzgegenstände solcher Delikte können dann als "Zwischenrechtsgüter" bezeichnet werden. 242 Die Frage nach der verletzenden Beeinträchtigung stellt sich dann anders, 243 die Angriffswege rücken verstärkt ins Blickfeld. Wer sich dieser Rechtsgutslehre anschließt, wird insbesondere dann, wenn die Schritte zur Rückführung eines Gutes auf menschliche Interessen zahlreich sind, vorsichtiger mit "dem Ob und Wie der Strafandrohung" sein?44 Sie ist unmittelbarer Ausdruck einer liberalen Staatskonzeption. 245 Mit Blick auf die Frage, welche Interessen zu Strafrechtsgütern werden können, ergibt sich ein differenziertes Bild. Zunächst sind es natürlich die personalen Interessen selbst, also die fundamentalen Entfaltungsbedingungen des ein-

Hassemer, NK, Rz. 281 vor § I. Hassemer, NK, Rz. 280 vor § I. 240 Hassemer, NK, Rz. 280 vor § I betont, daß der Streit unter den monistischen Lehren keineswegs akademisch sei, was jedoch voraussetzt, daß solche Lehren auch als kriminalpolitische Handlungsanweisung verstanden werden. 241 Hassemer, Rechtsgutslehre, S. 92. 242 Lüderssen, Gutachten, S. 7, unter Bezugnahme auf die personale Rechtsgutslehre und die von ihr behauptete Ableitungsnotwendigkeit aller Rechtsgüter, die nicht zum Kreise "höchster" Rechtsgüter wie Leib, Leben, Freiheit, Ehre und Eigentum gehören (ebd., S. 6). 243 Vgl. Hohmann, Umweltdelikte, S. 139 ff. bezeichnet dies, offenbar in Anlehnung an Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 17, als Problem der "realen Verletzungskausalität". 244 Hassemer, Rechtsgutslehre, S. 92. 245 So Hassemer, NK, Rz. 276 vo § I. Einen Zusammenhang zwischen liberalem Staatsverständnis und Rechtsgutstheorien habe ich, mit entsprechendem Ergebnis, in dem Artikel "Untermaßverbot", S. 267 ff., aufzuzeigen versucht. m

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zeinen in seinem gesellschaftlich verfaßten Dasein. Dazu gehören die sogenannten höchsten Individualgüter, also Leben, Gesundheit, Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung, Ehre und Eigentum, wobei die Frage, inwieweit die Ehre über die menschliche Würde hinaus fundamentale Entfaltungsbedingung des einzelnen ist, monographischer Klärung harrt. Für die anderen Werte, ist der Ableitungszusammenhang entscheidend. Nur soweit sie zur Sicherung der Entfaltungsbedingungen der Person notwendig sind, sind sie auch strafrechtlich schützenswert Geht man von einer derartigen Beschränkung der Güter aus, von denen die geforderte Ableitung vorzunehmen ist, so spielen die Beeinträchtigungen der strafbewehrt zu verbietenden Verhaltensweisen eine maßgebliche Rolle, was jedoch erst vertieft werden soll, 246 nachdem einige Einwände gegen die personale Rechtsgutslehre erörtert worden sind und die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Absicherung dieser Lehre untersucht worden ist.

(2) Kritik an der personalen Rechtsgutslehre Diese Rechtsgutslehre ist bereits auf einige Kritik gestoßen. Sie speist sich vor allem aus der Bedeutung, die diese Lehre dem Individuum, insbesondere in Relation zur Gesellschaft beimißt Diese Kritik erscheint in einzelnen Teilen berechtigt, an anderer Stelle aber überzogen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen hier drei kritische Stellungnahmen herausgegriffen und debattiert werden; es sind die Stellungnahmen des Jakobs-Schülers Müssig, von Schünemann und Kuhlen. (a) Müssig Müssig wirft der personalen Rechtsgutslehre vor, mit einem unterkomplexen Subjektsbegriff zu arbeiten. 247 Sein Interesse ist es, die Konstitutionskriterien der (abstrakten) Rechtsgüter anhand der gesellschaftlichen Realität zu rekonstruieren?48 Dafür sieht er die Notwendigkeit, die Bedeutung der Norm als Funktionsbedingung des Strafrechtssystems und als Basis der gesellschaftlichen Realität der Konstitutionsbedingungen der Rechtsgüter zu klären. 249 Er vermißt

246 Dazu unten 4. 247 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 192. Dies ist wohl auch der Kern der Ausführungen von Schulz, "Rechtsgut", S. 276 ff., der in seiner Untersuchung der Rechtsgüter-, Rechte- beziehungsweise Interessenkonzeption mit Blick auf die Umwelt zur Forderung eines "anthroporelationalen" Rechtsgutes kommt, das aus seiner Sicht wohl eine fortentwickelte Variante der (schlicht) personalen Orientierung darstellt. 248 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 67 f. 249 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 69 und öfter.

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bei der personalen Rechtsgüterlehre die Formulierung der personalen Güter als normative Kriterien der Identität der Gesellschaft. 250 Nach seiner Sicht verharrt die personale Rechtsgüterlehre in einem überholten Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum; sie könne deswegen beispielsweise nicht ohne Weiteres zum Schutz von Partizipationschancen durch Strafrecht kommen. 251 Müssig kritisiert damit gerade das, was man der personalen Rechtsgüterlehre als Verdienst gutschreiben kann. Sie postuliert nämlich einen Vorrang für das Subjekt. Damit nimmt sie auch klar zum Verhältnis Individuum und Gesellschaft Stellung, jedoch in anderer Weise, als dies für diejenigen naheliegend ist, die der Systemtheorie nahestehen. 252 Damit eignet sie sich aber gerade dazu, die - ohne Zweifel - vielschichtigen Ausprägungen der komplexen modernen Gesellschaft, sei es nun in Sozialsystemen, abstrakten Gütern oder Funktionseinheiten daraufhin zu befragen, welchen existentiellen Wert sie für die Person haben. Insofern formuliert sie durchaus, wie es Müssig fordert, normative Kriterien einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, die dem Individuum besondere Bedeutung beimißt, seine klassischen, höchstpersönlichen Güter in den Vordergrund stellt, wohingegen für Medien dieser Werte der "Nachweis" ihrer fundamentalen Bedeutung für die Existenzbedingungen des einzelnen jeweils erst zu erbringen ist. Der Vorwurf Müssigs, die personale Lehre hätte Schwierigkeiten, die Sphären des Individuums gegen komplexe Sozialsysteme abzugrenzen, 253 beachtet nach meiner Meinung nicht hinreichend, daß diese Lehre grundsätzlich offen ist. Die Etablierung eines Ableitungszusammenhangs von der Person zum - gegebenenfalls abstrakten - Gut negiert nicht die Möglichkeit der Strafwürdigkeit der Verletzung von Partizipationschancen oder nützlichen Systemeinheiten. Man kann dies an einem Beispiel illustrieren, welches Müssig selbst anführt, um die Defizite der personalen Rechtsgüterlehre zu zeigen? 54 Müssig meint, es gelänge der Lehre nicht, zur Frage des strafrechtlichen Schutzes des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung befriedigend StelMüssig, Rechtsgüterschutz, S. 194. Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 192. 252 Vgl. insoweit Müssig, Rechtsgützerschutz, S. 110, mit deutlichen Anleihen bei Luhmann, jedoch auch mit Kritik an demselben. Ausführlich zu diesem Problem auch Jakobs, Funktionalismus, S. 849 ff. Ich halte es insoweit für alles andere als einen Zufall, daß die Bonner Strafrechtsschule, verkörpert durch Jakobs nunmehr den Topos "personale Kommunikation" in ihr systemtheoretisches Theoriegebäude einfügt und auf diesem Wege den Versuch unternimmt, in dem für Legitimationsfragen zentralen Verhältnis Individuum - Gesellschaft dem Subjekt einen höheren Stellenwert einzuräumen; vgl. Jakobs, Funktionalismus, S. 872 ff. 253 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 192. 254 Gerade dieses Beispiel habe ich übrigens (bereits im Frühjahr 1994) aus der Sicht der personalen Rechtsgutslehre behandelt; vgl. Staechelin, Interdependenzen, (Manuskript) S. 13. 250

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Jung zu nehmen. 255 Zunächst ist an dieser Stelle die Notwendigkeit gerade strafrechtlicher Sicherung der Respektierung des Rechtes auf informationeile Selbstbestimmung nicht Stellung zu nehmen. Nach dem hier zugrundegelegten Verständnis ist dies eine Frage des Verhältnismäßigkeilsprinzips und deshalb an anderer Stelle zu debatieren. 256 Jedoch bleibt die Frage virulent, wie die personale Rechtsgutslehre zu einem strafrechtlichen Rechtsgut der informationellen Selbstbestimmung steht. Die Vorgehensweise der personalen Rechtsgutslehre wäre es hier zu untersuchen, welche Bedeutung der informationellen Selbstbestimmung für die Rolle des Individuums in der Gesellschaft zukommt, inwieweit sie aus der - insbesondere - verfassungsrechtlich festgelegten Bedeutung des Individuums, seinem Anspruch auf Respektierung und gegebenenfalls Schutz der fundamentalen Bedingungen personaler Existenz, ableitbar ist. Mit Blick auf das konkrete Beispiel fallt dies leicht. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Volkszählungsentscheidung257 ausführlich begründet, inwieweit das Interesse des einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung notwendige Voraussetzung der Realisierung bereits anerkannter personeller Fundamentalinteressen (hier insbesondere der Handlungsfreiheit und der menschlichen Würde) ist. Deswegen ist es leicht zu begründen, daß das fragliche Gut aus personalen Gütern ableitbar ist, wenn es schon nicht selbst als solches gelten kann. 258 Das Recht auf informationeile Selbstbestimmung ist also auf der normativen Ebene durchaus strafrechtlichem Schutz zugänglich, also Strafrechtsgut Ob es geschützt werden muß, 259 und wenn ja, vor welchen Beeinträchtigungen beziehungsweise - in der hier verwendeten Diktion - Angriffswegen, bleibt auf dieser Stufe offen. Um es zu wiederholen: Gerade die Tatsache, daß die personale Rechtsgüterlehre zur Anerkennung eines strafrechtlich zu schützenden Gutes auf eine solche Ableitung angewiesen ist, halte ich für ihre Stärke, im Sinne eines - gegenüber der Gesetzgebung - kritischen Gehalts. Die Aufnahme eines Interesses in die Gruppe der personalen Güter oder die Ableitung von solchen, verlangt mehr an Begründung für den Gesetzgeber, soweit er sich auf diese Legitimationsebene einzulassen bereit ist. Denn die schiere Existenz eines sozialen Subsystems

Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 192, Fn. 48. Vgl. in diesem Teil unter IV. 257 BVerfGE 65, I, 42 ff. 25 K Dies zu begründen halte ich keineswegs für ausgeschlossen, zumal der Vorwurf, die personalen Güter lägen fest, allein deshalb unzutreffend ist, weil sie anhand der faktisch aktuellen Lebenswelt der Person definiert werden, nicht aber an einer historisch abgeschlossenen Rolle des Individuums in der Vergangenheit. 259 Die Bedrohung eines Rechtsgutes ist notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung der Verhaltenskriminaliserung, vgl. im Kontext der personalen Rechtsgutslehre Hassemer, Rechtsgutslehre, S. 88. 255

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sagt aus normativer Perspektive noch nichts über seine Schutzwürdigkeit; diese ist vielmehr erst zu ermitteln. (b) Schünemann Schünemanns Kritik an der personalen Rechtsgutslehre als dem Herzstück der monistisch-individualistischen Strafrechtstheorie mündet in der These, es handele sich um eine "Sackgasse", die den vorherrschenden legislativen Tendenzen und Begehrlichkeilen nichts entgegenzusetzen hätte und sie gerade dadurch stärke. 260 Man mag in der Tat daran zweifeln, ob sich die formell beziehungsweise informell am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten über die theoretischen Konzeptionen deutscher Strafrechtswissenschaftler in der Weise Gedanken machen, daß sie versuchen würden, den Schritt vom einzelnen kriminalpolitischen Argument zu den abstrakten Grundlagen zu machen. Dies ist allgemein zu bedauern, richtet sich aber nun keineswegs gegen eine spezifische theoretische Ausrichtung, sondern drückt vielmehr Defizite in den Verständigungsbemühungen zwischen praktischen Kriminalpolitikern einerseits und Wissenschaftlern andererseits aus. Vor solchen Verständigungsschwierigkeiten ist nur derjenige gefeiht, der - etwa als Sachverständiger in einer Anhörung des RechtsausschuBes des deutschen Bundestages - den kriminalpolitischen Begehrlichkeiten nach- oder zuvorkommt und den konkret formulierten politischen Handlungsbedarf abstrakt strafrechtlich, verfassungsrechtlich und/oder gesetzgebungstheoretisch reformuliert. Schünemanns Polemik aus Anlaß des Rostocker Strafrechtslehrertages von 1995 nur auf dieser Ebene zu diskutieren hieße aber, ihn bewußt mißzuverstehen. Denn er kritisiert die von ihm als fundamentalistisch und teilweise auch als atavistisch261 bezeichnete strafrechtliche Richtung auch sachlich. Diese sachliche Kritik kann aber in der dargebotenen Form nur bestehen, wenn man Schünemann darin folgt, die Prinzipien und Vorschläge der personalen Rechtsgutslehre bis hin zur Karrikatur zu überzeichnen. Daß es sich bei der Schünemannschen Wiedergabe um eine besonders heftige Verzerrung handelt, zeigt sich insbesondere, wenn dieser versucht die theoretisch konstruierbare Gegenposition zum Modell der personalen Rechtsgutslehre zu entwerfen. 262 Hier behauptet

Schünemann, Situation, S. 217. Ders., ebd., S. 207. 262 Dazu kommt Schünemann, weil er, der Themenstellung der Rostocker Tagung folgend, im Rahmen des Gegensatzes zwischen dem Funktionalismus und dem alteuropäischen Prinzipiendenken, nunmehr Jakobs systemtheoretische Position derjenigen der monistisch-individualistischen Strafrechtstheorie entgegesetzen will. 260

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Schünemann implizit, die personale Rechtsgutslehre lehne den Schutz reiner Kollektivinteressen a limine ab, indem er sagt, ein Gegenmodell müsse reine Individualinteressen unberücksichtigt lassen. 263 Dagegen sind zumindest zwei Einwände naheliegend. Zunächst halte ich es für ein Verdienst gerade der personalen Rechtsgutslehre aufgezeigt zu haben, daß alle (straf-) rechtlich zu schützenden Werte vom Wertbezugspunkt Individuum abgeleitet werden können, in je verschiedenen Abstraktionsstufen, so daß es gerade nicht um die Ausgrenzung von rein kollektiven Interessen geht, sondern um die Klärung der Frage, welche Bedeutung diese Interessen für den einzelnen haben. Reine Kollektivinteressen in dem Sinne, daß sie nur für sich von Wert wären, und keinerlei Funktion oder Wert für ein Subjekt haben könnten, erscheinen, soweit sie überhaupt im Hirne eines Subjekts konstruierbar sind, auf einer gleitenden Skala zwischen etatistisch und totalitär. Bezeichnend ist dabei, daß kein Vertreter der personalen Rechtsgutslehre bislang behauptet hat, der Gegenpol des Monismus im Sinne einer Konstruktion, wie Schünemann sie durchspielt, würde wissenschaftlich vertreten. 264 Es ist also schon die Prämisse, daß eine solche Wertehierarchie intersubjektiv konstruier-oder gar beschreibbar seien, außerordentlich zweifelhaft. Hinzu kommt, daß es sich die personale Rechtsgutslehre keineswegs aufs Panier geschrieben hat, den Wert von solchen Interessen, die nur vermittelt das Individuum betreffen, von jeglichem Schutz ausschließen zu wollen.265 Das Interesse dieser Lehre ist es vielmehr, eine Hierarchisierung zu begründen, die im Rahmen der argumentativen Auseinandersetzung über die Frage der Reichweite des Strafrechts einen Anhaltspunkt bieten kann, der mit Blick auf das gesellschaftliche Selbstverständnis und grundlegende normative Vorgaben der Verfassung nun alles andere als fernliegend erscheint. Daß einer solchen Hierarchisierung auch in der Dogmatik, etwa bei Abwägungsentscheidungen im Rahmen des § 34 StGB eine erhebliche Bedeutung zukommen kann, ist eine willkommene Begleiterscheinung. Die Schünemannsche Polemik erscheint also keineswegs geeignet, die vorsichtigen Relativierungen diskutierter kriminalpolitischer Desiderate, die die

263 Ders., Situation, S. 218; in ähnlicher Richtung dann ders., Kriminalpolitik, S. 442, wo er dem von der personalen Rechtsgutslehre geforderten Ableitungszusammenhang vom Individualinteresse ökologische Legitimitätsvoraussetzungen vom Range überpositiver Naturrechtsprinzipien entgegensetzt. 264 So ist auch Hohmanns Einordnung der Schrift von Klaus Tiedemann (vgl. Hohmann, Umweltdelikte, S. 59 f.) nicht zu verstehen. 265 So auch das Kuhlens Verständnis dieses Ansatzes; vgl. ders., Umweltstrafrecht, s. 697 ff. (703).

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personale Güterlehre aus dem Bezug der Wertbestimmungen auf das Subjekt herleitet, als unbrauchbar oder gar kontraproduktiv dastehen zu lassen.Z66 (c) Kuhlen Kuhlen hat zurecht darauf hingewiesen, daß die konsequente Verfolgung einer personalen Rechtsgutslehre zu einer anderen strafrechtlichen Schwerpunktsetzung führen würde, als es der heutigen normativen Situation entspricht. Zu zeigen versucht hat er dies beispielhaft am Rechtsgut der § § 331 ff. StGB, also einem solchen Kollektivgut, welches aus seiner Sicht, und dabei ohne weiteres nachvollziehbar, strafrechtlich schutzwürdig erscheint. Sein erstes Argument rekuriert dabei auf die mangelnde Vereinbarkeil der personalen Rechtsgutslehre mit dem positiven Recht. 267 Dieser Einwand betrifft diese Lehre jedoch nur insoweit, als sie eine Interpretation der de lege lata strafrechtlich geschützten Rechtsgüter versucht. Soweit das Interesse wie hier auf eine legitime Begründung strafbewehrter Verbotsnormen de lege ferenda gerichtet ist, bleibt der Einwand unbeachtlich. Es kommt vielmehr, wie Kuhlen auch ergänzt, auf die sachliche Vorzugswürdigkeit der diskutierten Systeme an.268

Der sachliche Einwand KuhJens besteht zunächst darin, daß jedenfalls einzelne kollektive Rechtsgüter des geltenden Rechts auch unabhängig von ihrer Positivität und insbesondere unabhängig von ihrer Ableitbarkeil von personalen Rechtsgütern erhöht schutzwürdig sind, also dem strafrechtlichen Schutz aus normativer Perspektive269 prinzipiell zugänglich sein müßten.Z70 Andererseits wendet sich Kuhlen gegen die - aus dem von der personalen Rechtsgutslehre behaupteten Ableitungszusammenhang folgenden - Hierarchisierung. 271 Eingangs ist der Hinweis zu wiederholen, daß diese Lehre nicht mit einem absoluten Geltungsanspruch zu versehen vorgeschlagen wurde, sondern als

266 Lüderssen, Funktionalismus, S. 899 weist außerdem darauf hin, daß die Konzeption der Güter der Allgemeinheit von ihrer Bedeutung für das Subjekt gerade dem Begriff der Allgemeinheit entspricht, der tragendes Element in dem - demokratischen Konstruktionsprinzip des öffentlichen Strafanspruchs ist. 267 Kuhlen, Umweltstrafrecht, S. 703. 268 Kuhlen, Umweltstrafrecht, S. 704. 269 Ich sehe hier die später unter II. 4. in diesem Teil zu erörternde Frage der Notwendigkeit gerade strafrechtlichen Schutzes im Vergleich mit der Effektivität anderen rechtlichen oder außerrechtlichen Schutzes, also die Fragen der Verhältnismäßigkeit, noch nicht tangiert. 27 Kuhlen, Umweltstrafrecht, S. 704. 271 Ebd., Fn. 35.

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,,Argumentationstopos". 272 Hinzu kommt, daß diese Lehre keineswegs den gegebenenfalls auch strafrechtlichen Schutz - von Kollektivgütern a limine abgewiesen hat. 273 Sie hat vielmehr immer nur auf den legitimatorischen Vorsprung der Individualgüter hinzuweisen versucht, indem sie betont hat, daß die kollektiven Güter anhand einer "qui bono"-Frage besonders zu rechtfertigen wären.

Kuhlens Einwand, daß die Schutzwürdigkeit einiger zentraler Kollektivgüter dennoch in einer besonderen, über den schlichten Ableitungszusammenhang hinausgehenden Weise erklärungsbedürftig ist, bleibt aber bestehen. Nach dem hier vorzuschlagenden, modifizierten Verständnis der personalen Rechtsgutslehre, gilt die Notwendigkeit der Ableitung zwar für alle Kollektivgüter, erscheint aber nicht bei allen gleichermaßen zu bewerkstelligen. Auch unter den Kollektivgütern gibt es vielmehr fundamentale und akzidentielle. Fundamental sind, im Vokabular einer staatsrechtlichen oder ideengeschichtlichen Staatsvertragstheorie diejenigen Güter, die die Funktionen des staatlichen Gewaltmonopols beschreiben. 274 Das staatliche Gewaltmonopol bietet Strukturen und Techniken an, die dem einzelnen die Verfolgung seiner Interessen, soweit sie von der Gemeinschaft als schutzwürdig anerkannt wurden, ermöglicht. Dieses bedeutet für das Individuum umgekehrt, daß es, von den Ausnahmefällen abgesehen, die strafrechtlich üblicherweise als Rechtfertigungsgründe diskutiert werden, auf die Durchsetzung seiner legitimen Interessen mit dem Mittel der Gewalt verzichtet hat. Der Monopolisierung der Gewalt in der Hand des Staates entspricht also die Überantwortung der Interessensdurchsetzung auf die Gesellschaft als Kollektiv, wenn diese Durchsetzung eine bestimmte Schwelle der Respektierung der Rechte oder Interessen anderer überschreitet. Die Kollektivierung der Gewalt bedeutet insoweit eine Verschiebung von ursprünglich personalen Interessen zu kollektiven. Die dafür notwendigen Strukturen und Techniken sind deshalb für den einzelnen unersetzbar. Er ist auf sie - gewissermaßen - ebenso angewiesen, wie auf seine personalen Güter. Sie können deshalb als fundamental bezeichnet werden. Für die Aufnahme in die Gruppe der Werte und Interessen, die wegen ihrer personalen Gebundenheit einen Legitimationsvorsprung mit Blick auf den

Hassemer, AK, vor§ I, Rz. 289. Vgl. schon oben; so gesehen auch von Kuhlen, Umweltstrafrecht, S. 703. 274 Die Beziehungnahme auf den Gesellschaftsvertrag setzt dabei weder die historische Existenz eines solchen, noch die, in welcher Form auch immer ständig und individuell erneuerte Schließung eines solchen voraus. Bezug genommen wird vielmehr auf das theoretische Konstrukt des staatlich verfaßten, gesellschaftlichen Zusammenlebens in der politischen Tradition der Aufklärung. 272 273

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strafrechtlichen Schutz genießen, besteht also ein besonderer Grund. Ein solcher Grund besteht jedoch nicht für alle kollektiven Güter und Interessen. Ohne Zweifel ist für die Bereitstellung der meisten kollektiven Strukturen, gegen deren Funktionsstörungen heute strafbewehrte Verhaltensnormen aufgeboten werden, ein Interesse gegeben. Die Funktionstüchtigkeit des Kreditwesens, die Reinheit des Wettbewerbs und die Allokationseffizienz des Kapitalmarktes sind für den einzelnen auch wegen der kollektivierten Organisationsformen als kollektive Güter von Interesse. Anders als bei den Funktionseinheiten der staatlichen Verfaßtheit und ihren Ausprägungen durch die Monopolisierung der Gewalt in der Hand des Sta!ltes, bleibt das Interesse an diesen kollektiven Strukturen aber im Bereich des Könnens. Das Interesse des einzelnen reduziert sich darauf, daß er an diesen wirtschaftlichen Strukturen teilhaben können will, weil er sie als personale Strukturen nicht bereitstellen kann, deshalb also die Verbundenheit im Kollektiv sucht. Bei den Ausprägungen des staatlichen Gewaltmonopols handelt es sich hingegen um die Frage des rechtlichen Dürfens. Der einzelne ist nicht nur qua individueller Fähigkeit an der Etablierung eigener, gewaltsamer Durchsetzung seiner anerkannten Interessen zu Lasten anderer gehindert, sondern dies ist ihm verboten. Weil er sich nicht anders organisieren darf, ist sein Interesse, etwa an der "Lauterkeit der Amtsführung", also dem von Kuhlen für das Rechtsgut der§§ 331 ff. StGB angebotenen Beispie1,275 ein anders zu bewertendes, als das an der Reinheit des Wettbewerbs. Natürlich kommt es insoweit noch auf eine Spezifizierung an, die hier jedoch, wegen der generellen Orientierung im Einzelnen nicht durchführbar ist, sondern am speziellen Beispiel zu versuchen wäre. Richtschnur ist jedoch das staatliche Gewaltmonopol, und darauf fußend, der Unterschied zwischen der Kollektivierung von Individualinteressen wegen der mangelnden Fähigkeit individueller Bewerkstelligung des einzelnen einerseits, und wegen des rechtlichen Verbotes dieser auf der anderen Seite. Auf dieser Basis ist auch dem von Kuhlen vorgebrachten Hierarchieeinwand276 zu begegnen. Er relativiert sich weitgehend, wenn für kollektive Güter der gerade beschriebenen Art die Ableitung vom einzelnen, personalen Gut durch die Betrachtung als Ausdrucksform des staatlichen Gewaltmonopols ersetzt wird. Die danach im Bedarfsfall - etwa des § 34 StGB - vorzunehmende Hierarchisierung der Güter ist ebenso arm an fixen Anhaltspunkten, wie bislang. Dies ist beklagenswert, kann jedoch der - so modifizierten - Lehre von den personalen Rechtsgütern nicht zum Vorwurf gemacht werden. Behält man, was auch in der hier verfochtenen Modifikation dieser Lehre naheliegend bleibt,

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Kuhlen, Umweltstrafrecht, S. 704. Ebd., Fn. 35.

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weiterhin die Person als Fixpunkt rechtlicher Festlegung von Werten bei, so entscheidet sich mit Blick auf denkbare Hierarchisierungen Vieles anband der Angriffswege, und ist deshalb später zu klären. 277

(3) Begrenztheit der kriminalpolitischen Reichweite der personalen Rechtsgutslehre

Die Darstellung der personalen Rechtsgutslehre und der daran geübten Kritik hat bereits gezeigt, daß sich damit kein Passepartout anbietet. 278 Einerseits bestreitet diese Lehre nicht die Existenzberechtigung kollektiver Rechtsgüter, kann insofern auch dem Gesetzgeber keine absoluten Grenzen aufgeben. Andererseits ist ihre Verbindlichkeit für die Legislative bislang weitgehend offen geblieben. Mit Blick auf das erste Problem kann man jedoch feststellen, daß sich zwar die Hoffnungen auf ein materielles Fixum für eine positive Bestimmung der Strafrechtsgüter nicht erfüllt haben, sich gleichzeitig aber für eine bestimmte Gruppe von - im übrigen relativ umstrittenen - Rechtsgütern ein erhöhter Begründungsaufwand zur Legitimation ihres Schutzes durch strafbewehrte Verhaltensnormen ergeben hat. Bedenkt man, in welchem Umfang materiale Rechtfertigungen prozeduralen gewichen sind, 279 so ist damit für den Gesetzgebungsprozeß als ein - konzeptionell -öffentlich ablaufendes Verfahren bereits Manches gewonnen. Mit Blick auf die Frage nach der Verbindlichkeit der monistisch personalen Rechtsgüterlehre ist nun im Folgenden zu untersuchen, ob es den Gesetzgeber bindende Festlegungen gibt, die diese Lehre stützen. Eingeführt worden ist sie keineswegs mit dem Anspruch absoluter Verbindlichkeit, 280 wohl aber in der Absicht, das theoretische Konstrukt einer liberalen Strafrechtspolitik, auch mit Blick auf Fragen der Gesetzgebung anzubieten, um derart der theorielosen Beliebigkeit der (praktischen) Kriminalpolitik etwas entgegenzusetzen, was zu ei-

Vgl. unten 4. Ebenso Hassemer, NK, Rz. 289 vor § I. 279 Mit Blick auf das Gesetzgebungsverfahren Monika Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 210 ff.; am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs Hassemer, Prozedurale Rechtfertigungen, S. 731 ff.; ganz gegen solche Konzepte Arzt, Gerechtigkeit, S. 527 ff. Vertiefung innerhalb dieser Untersuchung in diesem Teil unter III. und im 3. Teil unter li. 280 Nochmals sei erinnert an Hassemers Bezeichnung der Lehre als Argumentationstopos (Hassemer, AK, vor § I, Rz. 289). 277

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ner Auseinandersetzung auffordert. 281 Der Versuch, die personale Rechtsgutslehre verfassungsrechtlich abzusichern, steht noch aus. 282 bb) Verfassungsrechtliche Argumente Das Interesse an verfassungsrechtlichen Argumenten beschränkt sich hier auf die Frage, inwieweit das der personalen Rechtsgüterlehre zugrunde liegende Verhältnis von Person und Gesellschaft sich in der Wertordnung des Grundgesetzes wiederfindet, die Lehre also mit Blick auf ihre Wertpräferenzen hier und ihre erhöhten Begründungsanforderungen dort, verfassungsrechtlich untermauert werden kann. Das Verfassungsrecht hat heute in strafrechtlichen Diskussionen Konjunktur.283 Nachdem lange Zeit das Strafverfahrensrecht unter grundrechtliehen Gesichtspunkten debattiert worden ist, 284 gelten die Überlegungen neuerdings vermehrt dem materiellen Strafrecht als "Ausführungsgesetz zum Grundgesetz".285 In der Sache führt dies dazu, daß versucht wird, die allgemeinen strafrechtlichen Lehren verfassungsrechtlich zu begründen286 und dabei die Zahl der Monographien sowohl zu materiell strafrechtlichen Einzelfragen, 287 als auch zu generell prinzipienorientierten Fragen, 288 die sich vermehrt dem Verfassungsrecht zuwenden, enorm steigt. Das mag einerseits verwundern, da der Text des Bonner Grundgesetzes auf den ersten Blick wenig ergiebig ist. 289 Es erscheint andererseits naheliegend,

Zur erhofften praktischen Relevanz Hassemer, NK, Rz. 289 und 290 vor§ I. Einige Ansätze aber bereits bei Hohmann , Umweltdelikte, S. 66 ff. 2R3 Dazu, mit sehr kritischem Unterton Naucke, Legitimation, passim. 284 Und noch debattiert wird, wie unter anderem das Generalthema des 20. Strafverteidigertages in Essen ("Aktuelles Verfassungsrecht und Strafverteidigung") zeigt. 285 Hermann, Aussagetatbestände, S. 105. 2R6 Beispielsweise im Lehrbuch des allgemeinen Teils von Roxin, Allgemeiner Teil, S. 14. Zu dessen verfassungsrechtlicher Orientierung vergleiche die Würdigung von Wolter, Strafrechtssystem von Claus Roxin, S. 207 ff. 287 Copic, Grundgesetz, 1967; Hermann , Aussagetatbestände, 1973; Worms, Bekenntnisbeschimpfung, 1984; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, 1989; Böllinger, Drogenpolitik, S. 393 ff.; Kissel, Aufrufe, 1996. 2R8 Sax, Grundsätze, 1959; Stree, Deliktsfolgen, 1960; Hamann, Strafgesetzgebung, 1963; Klose, "ius puniendi", S. 33 ff. (1974); Driendl, Strafgesetzgebungswissenschaft, 1983; Marxen, Straftatsystem, 1984; Klaus Tiedemann, Verfassungsrecht, 1991; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, 1992; Lewisch, Verfassung, 1993; Wolter, Verfassungsrecht, S. I ff. (1993); Krüger, Entkriminalisierung, S. 306 ff. (1995); Lagodny, Schranken, 1996. 289 Dazu sogleich. 2R1 282

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den entstandenen Gewißheilsverlusten mit Vorgaben begegnen zu wollen, die zwar hierarchiemäßig über dem einfachen Recht, also auch dem einfachen materiellen Strafrecht angesiedelt werden, gleichzeitig aber nicht die relative Beliebigkeit rechtstheoretischer oder rechtsphilosophischer Bezugnahmen haben.290 Natürlich sind die Aussagen des Grundgesetztextes nicht so eindeutig, daß die schlichte Lektüre alle Probleme lösen könnte. Dennoch bietet der Text immense Vorteile. Denn er kann, anders als theoretische Stellungnahmen, eben weil er als Normentext gefaßt und konzipiert ist, Gegenstand der tradierten und prinzipiell abgesicherten Normtextinterpretation sein. So kann er etwa im Rahmen von dann zu bemühenden Auslegungen der Bedeutung der abstrakten Stellungnahme für das konkrete Strafgesetzgebungsproblem, die Wortlautgrenze für angebotene Exegesen sein. Diese Exegesen können dabei natürlich das gesamte rechtstheoretisch gedachte Arsenal und Potential an Argumenten bemühen.291 Sie begegnen sich dann aber, anders als dies ohne den Text des Grundgesetzes als Orientierungsmaßstab möglich wäre, nicht mehr im freien Spiel der Kräfte, sondern haben eine Bezugsebene, an der ihre jeweilige Relevanz und Legitimationskraft im (verfassungs-) rechtlich verfaßten, demokratischen Rechtsstaat erörtert werden kann. 292

( 1) Der Verfassungstext - Stellungnahmen zum Strafrecht Die Verfassung bindet, soweit sie reicht, auch den Strafgesetzgeber. Dies ergibt sich für die Grundrechte aus Art. I III GG, für die verfassungsmäßige Ordnung aus Art. 20 III GG. Die Stellungnahmen des Verfassungstextes zum Strafrecht sind jedoch im Umfang bescheiden und in der Sache nicht so ergiebig, wie man es sich wünschen mag, wenn man berücksichtigt, daß das Strafrecht die eingriffsintensivste Sanktion, also die Beschränkung der menschlichen Freiheit, als eine Regelsanktion vorsieht. In Anbetracht dieser besonderen Tragweite der strafrechtli-

290 Damit soll keineswegs der Ertrag solcher Überlegungen in Frage gestellt werden, wohl aber darauf hingewiesen werden, daß in einem modernen Verfassungsstaat die Verbindlichkeit eines Normtextes höher ist, als die verschiedener konkurrierender Theorieentwürfe. 291 Insofern zutreffend Naucke, Legitimation, Manuskript S. 6, der daraufhinweist, daß die Verfassung häufig nur Anlaß zu überpositiven Argumenten ist, diese aber nicht ersetzt. Dennoch halte ich es für ergiebiger, den Versuch zu unternehmen, Argumente durch Verfassungsstellen zu stützen, anstau frei darauf zu verzichten. 292 Jedoch bleibt mit Blick auf die Legitimationsbedürfnisse das Problem bestehen, daß das Bonner Grundgesetz nie vom Volk durch Abstimmung bestätigt wurde.

6 Siächclin

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chen Normen würde man sich wünschen, daß eine Verfassung der Freiheit und der Menschenrechte, eine moderne Verfassung also, klarere Aussagen zu Grund und Grenzen des Strafrechts vorgibt. Daß dies nicht so ist, findet seinen Grund vielleicht gerade in der Modernität des Grundgesetzes. Das Strafrecht war zur Zeit der Schaffung des Grundgesetzes wohleingeführtes und unbestrittenes Element des vorkonstitutionellen - einfachen - Rechts; die verfassungsgebende Versammlung hatte insofern keinen unmittelbaren Anlaß, sich in grundsätzlicher und progranunatischer Weise zu diesem Rechtsgebiet zu äußern, sondern war allenfalls bemüht, dem Strafrecht, vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auch durch eben dieses, einige "inhumane" Spitzen zu nehmen. 293 Soweit das Grundgesetz zum Strafrecht Stellung nimmt, ist im hier interessierenden Kontext zwischen zweierlei Formen der Stellungnahme zu differenzieren.

(a) Unmittelbare Stellungnahmen Das Grundgesetz benennt kein ius puniendi des Staates294 und folglich auch keine expliziten Grenzen desselben. 295 Die normative Entscheidung, in welchem Bereich der Gesetzgeber das Mittel Strafrecht zum Schutz von Gütern einsetzen darf und in welchem nicht, bleibt offen. Das Grundgesetz setzt insoweit das Strafrecht als existierend voraus/96 etwa in dem es auf das Strafrecht oder die Strafe als Institut verweist, 297 äußert sich zu seiner verfassungsrechtlich gewollten Reichweite im allgemeinen und dem Einsatz im konkreten Einzelfall nicht. Insofern nimmt es, bezogen auf die Frage einer strafrechtsspezifischen Bewertung von Gütern oder Werten nicht unmittelbar Stellung. 293 Ich denke hier an die Abschaffung der Todesstrafe: Art. I 02 GG; anders interessanterweise noch die- ältere (1946)- hessische Landesverfassung, deren Art. 2I I Satz 2 für besonders schwere Verbrechen die Todesstrafe zulassen will. 294 Insbesondere kann ein solches nicht in Art. 74 Nr.l GG gesehen werden. Dabei handelt es sich vielmehr um eine Norm mit formalem Kompetenzverteilungscharakter, nicht aber um eine Eingriffsermächtigung; ebenso Klose, "ius puniendi", S. 59 f. ; Degenhart in Sachs, GG Kommentar, Rz. 59 ff. zu Art. 70 (insbesondere Rz. 63, wo der Unterschied zur Ermächtigungsnorm hervorgehoben wird) und Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 70. 295 Auf die Ausnahme in Form des Todesstrafenverbotes ist schon hingewiesen worden. 296 Hili, Gewährleistungen, Rz. 3. 297 Vergleiche Art. 911, II II, 26 I, 46 GG, in dem die Gesetzgebungskompetenz für Strafrecht zuweisenden Art. 74 Nr.l GG sowie im Regelungsbereich der sogenannten Justizgrund rechte: Art. I02, I03 II und I 04 GG.

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Eine Ausnahme ist insoweit die Anweisung der Kriminalisierung der Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen in Art. 26 I GG. 298 Dieser Pflicht zur Kriminalisierung ist der Bundesgesetzgeber an prominenter Stelle, 299 nämlich in § 80 StGB nachgekommen. Andere Pönalisierungspflichten für den Gesetzgeber sind dem Grundgesetz nicht unmittelbar zu entnehmen. 300 Auch in Art. 26 I GG ist keine verallgemeinerungsfähige Stellungnahme zu der hier interessierenden Frage der relativen Wertigkeit von Gütern des einzelnen und solchen der Gemeinschaft zu sehen. Diese Vorschrift entspringt vielmehr der historischen Besonderheit,301 daß die im Entstehen begriffene Bundesrepublik sich nach außen hin klar und dauerhaft, folglich also durch eine Verfassungsbestimmung von der agressiven Außenpolitik des Deutschen Reiches als ihrer Rechtsvorgängerin lossagen wollte. (b) Mittelbare Stellungnahmen Jedoch erscheint es lohnend den Versuch zu unternehmen, den Text des Grundgesetzes - und in gewissen Grenzen seine Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht - auf mittelbare Stellungnahmen zu der hier relevanten Frage zu untersuchen. Die relative Bedeutung von personalen Gütern und von institutionalisierten kollektiven Werten im Grundgesetz, das besondere historische "Erbe" des Grundgesetzes und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Unterschieden in der Pönalisierung von Individual- beziehungsweise Kollektivgütern sowie zu Pönalisierungspflichten sollen das Material zu dieser Untersuchung abgeben. (aa) Das Grundgesetz als Verfassung der Grundrechte des einzelnen Die dominierende Rolle der Grundrechte des einzelnen innerhalb des Verfassungstextes, wo sie zunächst den ersten Abschnitt bilden, aber auch über den weiteren Text "verstreut" sind,302 ist unbestritten. 303 In bewußter Abgrenzung zu

298 Art. 26 I GG wird als absolutes Pönalisierungsgebot verstanden; vgl. dazu Holthausen, Verfassungsauftrag, S. 284 ff. und Paulduro, Verfassungsgemäßheit, s. 85 ff. 299 Prominent ist die Stelle insoweit, als mit eben diesem § 80 der besondere Teil des Strafgesetzbuches beginnt. 300 Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 89. 301 Vgl. Pau/duro, Verfassungsgemäßheit, S. 85 und Holthausen, Verfassungsauftrag, S. 285. 302 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rz. 277. 303 Statt Vieler Stern, Staatsrecht, S. 1751.

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früheren Verfassungen erhob der parlamentarische Rat die Grundrechte zu unmittelbar verbindlichen Rechtsnormen. 304 Eine geschichtliche Betrachtung des Grundgesetzes wird deshalb die Machtbegrenzungsfunktion und damit den Schutz der Gewährleistungen individueller bürgerlicher Freiheiten an die erste Stelle setzen. 305 Dagegen spricht auch nicht die Verbreitung einer Interpretation der Grundrechte als institutionelle Garantien oder objektiv rechtliche Festlegungen.306 Grundrechtsträger ist der einzelne, also die Person; nur im Einzelfall ist es auch die juristische Person. "Die Person und ihre Würde sollten den Bezugsund Grenzpunkt aller staatlichen Machtausübung bilden. " 307 Denninger spricht deshalb von einem "Personalismus" des Grundgesetzes. 308 Die Rechte und die zu Gütern gewordenen Interessen spielen also - sei es in ihrem abwehrrechtlichen oder objektivrechtlichen Gehalt - die erste und wichtigste Rolle innerhalb der W ertfestlegungen der Verfassung. Sie schützen die Rechte der Person, deren Eigenwert insbesondere in der Menschenwürdegarantie zum Ausdruck kommt. 309 (bb) Die grundgesetzliche Konzeption der Institutionen "Individuelle Rechte sind ... nicht über eine Zweck/ Mittel-Relation auf kollektive Güter reduzierbar, wenn es Gründe dafür gibt, die der Idee Ausdruck geben, daß der einzelne als einzelner ernst zu nehmen ist."310 Solche Gründe hier umfassend auszuarbeiten würde den Rahmen der Untersuchung sprengen, ist aber auch nicht notwendig. Denn unsere Frage lautet ja, ob es insoweit grundgesetzliche Festlegungen gibt. Solche sind unbestreitbar im Grundrechtsteil des Grundgesetzes vorgenommen; die Würde des Menschen als Ausdruck des Respekts vor der eigenständigen Bedeutung der Person leitet den Grundrechtskatalog ein (Art. I I GG) und ist durch die "Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 III GG abgesichert. Dem Staat und den institutionell zusammengefaßten Kollektivierungen der Interessen des einzelnen kommt damit im "Verhältnis

Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes, Rz. 56. Denninger, Verfassung, S. 97. 306 Dazu Denninger, Verfassung, S. 100; Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529 ff.; lsensee, Schutzpflichten, S. 143 ff. und Dreier, Dimensionen der Grundrechte, passim. 307 AK-GG-Denninger, Rz. 6 vor Art. I. 308 AK-GG-Denninger, Rz. 7 vor Art. I. 309 Maihofer, Rechtsstaat, S. 44 ff. 310 Alexy, kollektive Güter, S. 253. 304 305

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zum Menschen keine herrschende, sondern eine dienende Aufgabe" zu.311 Die Insitutionen des Staates und der Gemeinschaft beziehen ihre Wertigkeit deshalb alleine aus ihrer Funktion für den einzelnen, dem nach dem Menschenbild des Grundgesetzes aufgegeben ist, sich frei zu verwirklichen. 312 Auch staatliche Einrichtungen sind an den Grundrechten zu messen. 313 Dies führt jedoch nicht zu einer transpersonalen, institutionellen Garantie für solche Einrichtungen und folglich auch zu keiner Wertung als eigenständig wertvolle Verkörperung kollektivierter Einzelinteressen. Statt dessen ergibt sich aus dem grundrechtliehen Maßstab eine Absicherung der Funktionen solcher Institutionen, jedoch alleine zur abwehrenden und fördernden Sicherung individueller Interessen, insbesondere der Freiheit der Person.314 (cc) Das besondere historische Erbe des Grundgesetzes Die konstituierende Bedeutung der Grundrechte für den einzelnen ist die Konsequenz der Mißachtung dieser Rechte und damit des Wertes der Person durch das nationalsozialistische Regime. 315 Bei aller Unsicherheit über den Rechtsstaatsbegriff unserer Zeie 16 kann man für das Grundgesetz eine Verständigung behaupten, die inhaltlich besagt, daß der grundgesetzliche Rechtsstaat mit dem "Ordnungsystem des Dritten Reiches nichts zu tun haben darf, ... als Kontrapunkt zu nationalsozialistischem Unrecht gesehen werden muß." 317 Dieses wiederum war strafrechtlich unter anderem durch eine Abwendung vom Individuum und durch eine Hinwendung zu einem mystisch überhöhten Gemeinschaftsprinzip, mit den bekannten Folgen bezüglich des Verständnisses der Straftat als Pflichtverletzung geprägt. 318 Die Untersuchung der antiliberalen Strafrechtstendenzen durch Marxen hat zu Tage gefördert, daß einer der Hauptangriffspunkte der Verfechter des autoritären Strafrechts die individualistische Konzeption der Rechtsgüterordnung war. 319 Eine ihrer dringensten Reformbestrebungen war es, im Strafrecht "die gebührende Zurücksetzung" des Individuums gegenüber Staat und Gemeinschaft zu realiseren. 320 Im besonderen

311 3 12 313 314 315 316 317 318 319 320

Maihofer, Rechtsstaat, S. 44 und Kniesel, Grundgesetz, S. 484. Marx, "Rechtsgut", S. 44 f. und Hohmann, Umweltdelikte, S. 69 ff. Kniesel, Grundgesetz, S. 484. Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rz. 102. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, Rz. 8. Illustriert in der umfangreichen Monographie Kunigs, Rechtsstaatsprinzip. Braum, Kontinuitätsphänomen, S. 21 . Instruktiv Marxen, Kampf, S. 182 ff. (zum Verbrechensbegriff). Marxen, Kampf, S. 108 f. Marxen, Kampf, S. 123.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

Teil des Strafgesetzbuches bedeutete dies den - teilweise verwirklichten - Plan, die kollektiven Güter stärker zu schützen und verstärkt deren überpersonale Werte zur Grundlage pönalisierender Gesetzgebungsentscheidungen zu machen.321 Die Vertreter des autoritären Strafrechts wehrten sich gegen die dominierende Rolle inidvidueller Interessen bei der Bewertung zu schützender und bereits strafrechtlich geschützter Güter. 322 Ihre eigenen, dem autöritären Strafrecht entsprechenden Vorstellungen gründeten auf "transpersonalen" Werten und setzten die "Würde des Staates" an die erste Stelle. 323 Gerade einer solchen Werthierarchie hat sich das Grundgesetz bewußt und gezielt entgegengestellt, indem es den Eigenwert der Person in der Würde des Menschen anerkannt hat. 324 Die grundgesetzliche Wertordnung stellt also die Person und ihre Interessen in den Vordergrund und relativiert den sozialen Wert der Institutionen als Vergegenständlichung kollektiver Interessen mit Blick auf ihre Bedeutung für den einzelnen. (dd) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Da das Grundrechts- und Verfassungsverständnis in Deutschland in erheblichem Maße durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt ist, soll auch diese kurz beleuchtet werden. (a) Zum Unterschied zwischen Individual- und Kollektivrechtsgütern

Zur Differenzierung zwischen Individual- und Kollektivgütern mit Blick auf die grundrechtliche Bedeutung hatte das Bundesverfassungsgericht mehrfach Stellung zu nehmen. Der eine Kontext war dabei die Frage, inwieweit auch juristische Personen des öffentlichen Rechts Träger von Grundrechten sein können (Art. 19 III GG). Hier hat das Gericht betont, daß die Grundrechte primär als subjektive Abwehrrechte verstanden werden müßten, 325 eine kollektive Grundrechtsträgerschaft deshalb nur und insoweit in Frage käme, wie die Bildung juristischer Personen 321 Auch insofern sei auf den Bericht von Marxen, Kampf, S. 125 ff. verwiesen. Am Beispiel des Wirtschaftsstrafrechts hat Wemer, Wirtschaftsstrafrecht, S. 549 ff. , ebenfalls den Vorrang der kollektiven vor den individuellen Gütern innerhalb der nationalsozialistischen Kriminalpolitik gezeigt. 322 Dahm/ Schaffstein, autoritäres Strafrecht, S. 24. 323 Dahm/ Schaffstein, autoritäres Strafrecht, S. 50. 324 Vgl. bereits oben zu aa) und AK-GG-Podlech, Rz. 5 und 9 zu Art. I GG. 325 BVerfGE 50, 290, 336 f. (Mitbestimmung); 61, 82, 100 f. (Atomanlagen-Verordnung); 68, 193, 205 f. (Kostendämpfungsergänzungsgesetz).

3. Vom Interesse zum Rechtsgut

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des öffentlichen Rechts zur Durchsetzung der Interessen einzelner, also natürlicher Personen erfolgt. 326 Der andere Kontext betrifft konkret die relative Wertigkeit individueller und kollektiver Güter mit Blick auf deren strafrechtlichen Schutz. Paulduro hat in ihrer breit angelegten Untersuchung der Verfassungsgemäßheil strafbewehrter Verhaltensnormen festgestellt, daß das Bundesverfassungsgericht generell "in favore boni iuris individualis" entscheide.327 Belegt wird dies anhand einer Analyse verfassungsrechtlicher Prüfungen von Strafnormen zum Schutze individueller und kollektiver Güter. Dabei ergab sich eine klare Tendenz der Zurückhaltung des Gerichtes bei individuellen Rechtsgütern im Vergleich zu einer größeren Bereitschaft strafrechtliche Sanktionierung der Verletzung universaler oder kollektiver Güter als verfassungswidrig zu betrachten. Die strafgesetzgeberische Freiheit wird also von seiten des Bundesverfassungsgerichts zum Schutze personaler Interessen höher angesiedelt. 328 Strafrechtlichen Schutz auf diese zu konzentrieren entspricht auch dem ultima ratio Gebot. 329 (ß) Zu den Pönalisierungspflichten

Soweit das Verständnis der Grundrechte sich von der alleinigen Gewährleistung des Grundrechtes als Abwehrrecht abgewendet hat und nunmehr den objektiv rechtlichen Gehalt berücksichtigt,330 spielen für das Strafrecht die daraus entwickelten Schutzpflichten die bedeutsamste Rolle. 331

BVerfGE 68, 193, 205 f. (Kostendämpfungsergänzungsgesetz). Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 433. 328 Zusammenfassend Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 433. 329 Hohmann, Umweltdelikte, S. 72. 330 Dieses Grundrechtsverständnis hat sich inzwischen etabliert; vergleiche zur Entwicklung und Begründung dieses Verständnisses, unter besonderer Berücksichtigung der im Folgenden interessierenden Frage der daraus zu begründenden Schutzpflichten: /sensee, Schutzpflichten, S. 143 ff; Götz, Innere Sicherheit, S. 1007 ff; Hennes, Grundrecht auf Schutz; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, der versucht zu zeigen, daß die Grundrechte auch historisch so konzipiert wurden; Dietlein, Untermaßverbot, S. 131 ff. und ders., Schutzpflichten. Gegen ein solches Grundrechtsverständnis bereits Denninger, Staatsrecht 1, S. 27, der solche Tendenzen als die Bereitstellung von ,,Leerformeln" bezeichnet; Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 159 ff; Lübbe-Wolf, Eingriffsabwehrrechte, S. 147 ff. und 222 ff. Mit Blick auf strafrechtliche Parallelen vgl. meine Ausführungen in dem Artikel "Untermaßverbot", S. 267 ff. Die Debatte kann hier nicht aufgenommen werden, jedoch kann untersucht werden, was für die Frage der relativen verfassungsrechtlichen Bewertung von individuellen und kollektiven Gütern daraus folgt. 331 Der objektiv rechtliche Gehalt umfaßt nach heutigem Verständnis a) die Ausstrahlungswirkung, b) die Teilhabe und Leistungsdimension und eben c) die Schutz326

327

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

Bedeutung haben die staatlichen Schutzpflichten gegenüber Personen und Einflüssen, die selbst nicht Adressaten der Grundrechte des Grundgesetzes sind, jedoch sind sie bezogen auf Grundrechte und somit Individualgüter des einzelnen.332 Beispiele sind der Schutz des ungeborenen Lebens, 333 der Schutz der Gesundheit vor Beeinträchtigungen des Flug- und Verkehrslärms, 334 der Schutz der menschlichen Gesundheit und des Lebens vor Beeinträchtigungen durch die Kernenergie, 335 den Schutz des Lebens vor terroristischen Bedrohungen336 und der Gefährdung durch die Stationierung von chemischen Waffen. 337 Solche Schutzpflichten für kollektive Interessen, etwa wirtschaftstruktureller Art wie die Funktionstüchtigkeit des Kreditwesens, 338 sind nicht bekannt.339 Als Güter, für die eine grundrechtliche Schutzpflicht des Staates bestehen kann, kommen auch nach Ansicht eines der anerkanntesten Protagonisten dieser Grundrechtsinterpretation alleine Freiheitsrechte des einzelnen in Betracht. 340 Der "Anspruch auf Schutz inividueller Rechtsgüter vor Übergriffen Dritter ... ist der Kern der Lehre von den grundrechtliehen Schutzpflichten. " 341

(2) Verfassungsgestützte Zentralgehalte der personalen Rechtsgutslehre Sowohl aus dem Grundgesetz selbst, als auch seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht haben sich eine Fülle von Hinweisen ergeben, daß die Grundorientierung der personalen Rechtsgutslehre verfassungsrechtlich abgesichert ist. Die personalen Interessen des einzelnen erfahren durch ihre grundrechtliche Absicherung eine besondere Wertschätzung innerhalb des Grundgesetzes. Dagegen sind die Interessen der Gemeinschaft jeweils nur in ihrer den Einzelinteressen dienenden Funktion grundgesetzlich hervorgehoben. Gerade die Distanzierung des Grundgesetzes von der Staatsordnung des Nationalsozialismus führt zu einer besonders ausgeprägten, unmittelbaren Wertschätzung der pflichten des Staates für bestimmte grundrechtliche Wei1verbürgungen (vgl. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 42.). 332 Hesse, Bedeutung der Grundrechte, Rz. 50. 333 BVerfGE 39, I. 42 ff. und 88, 203, 251 ff. (Abtreibung I und II). 334 BVerfGE 56, 54, 73 (Fluglärm); 79, 174, 201 f. (Verkehrslärm). 335 BVerfGE 49, 89, 142 (Kalkar) und 53, 30, 57 ff. (Mülheim-Kärlich). 336 BVerfGE 46, 160, 164 (Schleyer). 337 BVerfGE 77, 170,214 ff. (Lagerung von C-Waffen). 338 Welches u.a. Rechtsgut des § 265 b StGB sein soll; vgl. Dreher/ Tröndle, Strafgesetzbuch, Rz. 6 zu § 265 b. 339 Schon weil das Grundgesetz keine Wirtschaftsverfassung festlegt: Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes, Rz. 60 und BVerfGE 50, 290, 337 (Mitbestimmung). 340 /sensee, Schutzpflicht, Rz. 86 und 93. 341 Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 48.

3. Vom Interesse zum Rechtsgut

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Güter des einzelnen, wohingegen die Bedeutung der Universal- oder Kollektivgüter jeweils nur in ihrer vermittelnden Bedeutung für den Menschen eine besondere Wertschätzung erfahren. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entnimmt dem Grundgesetz klare Wertpräferenzen für die Güter des einzelnen. Der Gesetzgeber ist also an eine Vorfestlegung des Verfassungsgebers gebunden. Diese Festlegung zwingt dazu, die Wertigkeit von kollektiven Gütern in Abhängigkeit von deren Bedeutung zur Realisierung personaler Interessen zu bestimmen. Damit ist der strafrechtliche Schutz personaler Güter aus verfassungsrechtlicher Sicht relativ gut begründbar, wenngleich solange keineswegs zwingend, wie nicht die Notwendigkeit gerade dieses Schutzes begründet werden kann. 342 Wesentlich schwerer begründbar ist - wiederum auch aus verfassungsrechtlicher Sicht - der strafrechtliche Schutz kollektiver Güter. 343 Dafür kommt es auf die Nähe zu den höchsten, den personalen Werten an, insbesondere darauf, inwieweit diese Werte als Medien personaler Interessen notwendige Bedingungen zur Realisierung dieser Interessen sind. Als Eigenwert, also unabhängig von dieser letztgenannten Bedeutung, erscheinen kollektive Güter nicht strafrechtlich schutzwürdig. Der Sache nach kommt das Ergebnis demjenigen nahe, welches die Protagonisten einer Beschränkung des Strafrechts auf die Verletzung subjektiver Rechte vorschlagen. 344 Jedoch sehe ich zwei entscheidende Unterschiede. Einerseits ermöglicht die Exponierung der Angriffswege auf die personalen Interessen einen gerade diesen gerechter werdenden Umgang mit deren mittelbaren Nichtrespektierung in Form von Beeinträchtigungen der kollektivierten Medien der Güter des einzelnen. Die personale Rechtsgutslehre erweist sich deshalb als flexibler, ohne jedoch uferlos zu werden. Andererseits stützt sich die Begründung nicht auf vorpositive Festlegungen, sondern auf die normative Selbstbeschreibung der rechtlichen Verfassung der Gesellschaft, also das Grundgesetz. Sie führt die Probleme der Auswahl der Strafrechtsgüter also soweit zurück, wie dies - verbindlich - möglich und im Verfassungsstaat notwendig ist.

342 Dies ist keine Frage der Rechtsgüterbestimmung oder -begrenzung, sondern der Verhältnismäßigkeit des Mittels zur Realisierung des angestrebten Zieles. Sie wird weiter unten (in diesem Teil unter II. 3. und 4.) zu untersuchen sein. 343 Jedoch mit den in der Auseinandersetzung mit Kuhlens Kritik gemachten Einschränkungen (vgl. oben 3. c) aa) (2) (c)). 344 Vgl. dazu oben I. c) bb) (I).

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

4. Die Verletzung der Interessen als Angriffswege auf Rechtsgüter Die Relevanz einer differenzierten Betrachtung der Angriffswege auf die Rechtsgüter ist, vor allem wenn man der personalen Rechtsgutslehre folgt, erheblich. Wie gesehen 345 wirkt sich gerade dort der fragmentarische Charakter des Strafrechts aus. Gleichzeitig richtet sich ein bedeutender Teil der jüngeren Kritik am materiellen Strafrecht gerade gegen dessen Vorverlagerung. 346 Schon der Begriff der Vorverlagerung zeigt, daß hier nicht die Wahl eines neuen Schutzgutes Gegenstand der Betrachtungen ist, sondern die Auswahl der für strafwürdig gehaltenen Beeinträchtigungen. a) Die eigenständige Betrachtung der Angriffswege: mehr als eine Frage der Gesetzgebungstechnik Andererseits beachtet die allgemeinen Gesetzgebungsdiskussion die Verletzungsmodalitäten kaum; auch im Strafrecht führt die Frage der Angriffswege zu Unrecht ein Schattendasein. Hat man ein schutzwürdiges Gut erstmal analytisch oder deskriptiv isoliert, so bleiben scheinbar nur noch Operationlisierungsfragen übrig. Jedoch sind auch bei einem feststehenden, im Prinzip strafrechtlich schutzwürdigen Rechtsgut mit Blick auf dessen Beeinträchtigung noch normative Entscheidungen notwendig, die sich keineswegs im rechtsfreien Raum bewegen. Herbert Jäger hat dies dadurch herausgestellt, daß er auf die Unzulänglichkeit "formelhafter Schadensbehauptungen" hingewiesen hat. 347 Eine seiner daraus abgeleiteten Forderungen an den Gesetzgebungsprozeß ist es, die strafbewehrten Verhaltensnormen derart zu konzipieren, daß die Präzisierung der Schädlichkeitshypothese überprüfbar ist. 348 Dies hat Konsequenzen für die Genese des Tatbestandes und den Tatbestand selbst. Die eine betrifft die Möglichkeit, im Gesetzgebungsverfahren empirische Überprüfungen zu ermöglichen. 349 Oben 2. a). Nur als Beispiele: Jakobs, Rechtsgutsverletzungen, S. 751 ff; Weber, Vorverlagerung, S. I ff; Herzog, strafrechtliche Daseinsvorsorge, passim; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 153 ff. und 368; Berz, materialer Rechtsgüterschutz, S. 101 ff; Monika Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 144 ff; Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 65 ff; Lagodny, Schranken, S. 327 ff. 347 Jäger, Strafgesetzbung, S. 87. Jäger propagiert zwar weder hier noch in seiner Monographie aus dem Jahre 1957 die personale Rechtsgutslehre (vgl. zu seiner Position oben I. I. b) dd)). Die hier behandelte Forderung läßt sich jedoch ohne Weiteres darin integrieren. 348 Ebd. 349 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 87 f. 345 346

4. Die Verletzung der Interessen als Angriffswege auf Rechtsgüter

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Da hier die Aspekte des Umgangs mit den empirischen Voraussetzungen einer Kriminalisierungsentscheidung in einem eigenen Abschnitt zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden, 350 bleibt hier die zweite Komponente der Jägersehen Überlegungen zu behandeln. Sie besteht darin, daß eine Verhaltensnorm, um nicht der Sache nach willkürlich zu sein, so gefaßt werden muß, daß nur diejenigen Handlungen oder Unterlassungen von ihr erfaßt werden, die das zu schützende Rechtsgut tatsächlich in erheblichem Maße negativ beeinflussen. Hohmann nennt dies die "reale Verletzungskausalität".351 b) Die unterschiedlichen Angriffswege Am Beispiel der "echten" Verletzungsdelikte, der konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikte und der Eignungsdelikte will ich nunmehr den Zusammenhang zwischen dem - personalen - Rechtsgut und den Angriffswegen aus der Gesetzgebungsperspektive aufzeigen. aa) Handlungen, die eine Rechtsgüterverletzung bewirken Die Besonderheit des Verletzungsdelikts ist es, daß alleine diejenigen Handlungen vom Tatbestand umfaßt werden, die das zu schützende Rechtsgut auch "verletzen". Diese Verletzung muß als Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes in foro bewiesen werden. Insoweit sind diese Delikte im Prinzip zunächst legitimatorisch unproblematisch. Dies gilt nach der hier zugrundegelegten Rechtsgutslehre jedoch uneingeschränkt nur, soweit es sich bei dem verletzten Gut um ein fundamentales im Sinne der personalen Lehre handelt. Ist der Wert, dessen Verletzung der Tatbestand einer strafbewehrten Verhaltensvorschrift zur notwendigen aber auch hinreichenden Vorausssetzung der Rechtsfolge Kriminalstrafe macht, hingegen ein nur abgeleiteter, ein "Zwischenrechtsgut" oder das Medium eines personalen Gutes, so liegt nach der personalen Rechtsgutslehre kein Verletzungsdelikt, sondern zumeist ein abstraktes Gefährdungsdelikt vor. Die gesetzgeberische Schutzlogik stellt sich nach dieser Lehre dann so dar, daß der abgeleitete Wert mit Blick auf die höhere Wertigkeit des personalen Strafrechtsgutes schutzwürdig ist, jedoch auch nur insoweit. Der strafrechtliche Schutz des Mediums ist also vorverlagerter Schutz des personalen Interesses, welches als Strafrechtsgut anerkannt ist. Er ist nur mittels Präventionslogik begründbar und wird von den Einwänden und Bedenken, die sich gegen Vorverlagerungen, Präventionsstraf-

350 351

In diesem Teil unter III.

Hohmann, Umweltdelikte, S. 139 ff. und öfter.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

recht352 und abstrakte Gefährdungsdelikte im allgemeinen richten, unmittelbar getroffen. Die Konsequenzen für die Beschreibung der Rechtsgüter eines großen Teils des heute geltenden besonderen Teils des Strafgesetzbuches, aber auch - nahezu ohne Ausnahme - der Deliktsbeschreibungen des sogenannten Nebenstrafrechts, sind erheblich. Denn die Beeinträchtigung ist nun jeweils mit Blick auf das fundamentale Strafrechtsgut zu formulieren. Die Konsequenz aus diesem Paradigmenwechsel ist ein enormer Anstieg der abstrakten Gefährdungsdelikte. Dies mag man als unerheblich für die hier eingenommene Gesetzgebungsperspektive halten. Führt man sich jedoch vor Augen, daß nur die unmittelbare Substanzbeeinträchtigung dieser als fundamental verstandenen personalen Güter im Sinne der herkömmlichen Dogmatik als Verletzungsdelikt zu verstehen ist, und die konkreten Gefährdungsdelikte jeweils die unmittelbare Beeinträchtigung der Medien als Voraussetzung der konkreten Gefährdung der personalen Interessen bedingt, so zeigt sich, daß der strafrechtliche Güterschutz radikal begrenzt werden muß, bis eine Art "Kernstrafrecht" übrig bleibt, oder aber der Anteil an abstrakten Gefährdungsdelikten massiv steigt und steigen wird. Dies ist, von den Vertretern der personalen Rechtsgutslehre bislang nicht hinreichend herausgearbeitet, 353 eine notwendige Konsequenz dieser Lehre. bb) Handlungen, die eine konkrete Rechtsgutsgefährdung bewirken Auch die konkreten Gefährdungsdelikte machen die Beeinträchtigung des Rechtsgutes zur tatbestandliehen Voraussetzung. Der Eintritt der konkreten Gefahr ist Tatbestandsmerkmal.354 Auch hier gilt das soeben zu den "echten" Verletzungsdelikten Ausgeführte. Soweit ein personales Rechtsgut konkret gefährdet ist, läßt sich die Zuständigkeit des Strafrechts plausibel vermuten. Ist hingegen das strafbewehrt verbotene Verhalten ein solches, welches zwar Medien eines personalen Rechtsgutes konkret gefährdet, nicht hingegen das Strafrechtsgut selbst, so ist das so konzipierte Delikt aus der Sicht dieser Lehre wiederum eine 352 Es geht nicht um Präventionswirkung der Strafe, sondern in der Sache um die Frage der Zuständigkeit von Polizeirecht einerseits und Strafrecht andererseits, um die Frage ob ein drohender Schaden abzuwenden ist, oder die zurechenbare Verursachung eines Schadens strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen soll und - nach Kriterien der Erforderlichkeil - muß. Vergleiche zum historischen Ursprung der abstrakten Gefährdungsdelikte im Polizeirecht Herzog, strafrechtliche Daseinsvorsorge, S. 74 ff. 353 Mit Ausnahme der Arbeit von Hohmann, Umweltdelikte, der die Konsequenzen dieser Lehre am Beispiel der §§ 324 ff. StGB (in der Fassung vor dem zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität, BGBI. 19941, S. 1440- dazu Müller-Tuckfeld, Probleme, S. 69 ff.) aufzeigt (Hohmann , ebd., S. 196 ff.). 354 Jescheck/ Weigend, Strafrecht, S. 264.

4. Die Verletzung der Interessen als Angriffswege auf Rechtsgüter

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Vorverlagerung. Es ist jedoch insofern "weniger" als ein abstraktes Gefährdungsdelikt, wie die gesetzgeberische Behauptung, die Verhaltensweise bedeute regelmäßig und im Einzelfall unwiderleglich die konkrete Gefahr einer Schädigung des personalen Rechtsgutes nicht behauptet worden ist. Der Normalfall im positiven Recht ist jedoch die konkrete Gefährdung eines personalen Rechtsgutes. cc) Handlungen, die eine abstrakte Rechtsgutsgefährdung bewirken All die Delikte, die bislang als echte Verletzungsdelikte oder konkrete Gefährdungsdelikte verstanden worden sind, jedoch kein personales Rechtsgut vor Verletzungen oder konkreten Gefährdungen schützen, sondern nur vor abstrakten Gefahren, müssen also als abstrakte Gefährdungsdelikte verstanden werden. Hinzu kommt - nach der Logik der personalen Rechtsgutslehre - ein weiterer Typus. Es sind die Delikte, deren strafbewehrt verbotenes Verhalten vom Gesetzgeber mit einer abstrakten Gefährlichkeilsbehauptung begründet worden ist, bei denen diese abstrakte Gefahr aber nicht für ein personales Rechtsgut, sondern für das oder die Medien eines solchen personalen Rechtsgutes angenommen wurde. Zur Absicherung zwei Beispiele: Während in § 306 Nr. 2 StGB der Strafgrund für die erhöhte Unrechtsbedeutung der schweren Brandstiftung die abstrakte Gefahr ist, einen Menschen in seinen personalen Gütern Leben oder Gesundheit zu beeinträchtigen,355 wenn man Gebäude oder andere regelmäßige Aufenthaltsorte von Menschen in Brand setzt, ist die Sache beispielsweise beim strafbewehrten Verbot der öffentlichen Aufforderung zur Teilnahme an einer verbotenen Versammlung (§ 23 Versammlungsgesetz) schwieriger. Reduziert man dessen Unrechtsgehalt nicht auf den schlichten Polizei- oder Verwaltungsungehorsam, so wäre der "Strafgrund" nach der personalen Rechtsgutslehre die Gefahr der Gefährdung dessen, was bei einer außer Kontrolle geratenen Demonstration an personalen Rechtsgütern verletzt werden kann. Man kann solche Vorschriften -wegen der notwendigen Zwischenkonstruktionen356 -als potentielle Gefährdungsdelikte bezeichnen. 357 Der Typus der abstrakten Gefährdungsdelikte birgt aber in seiner Urform schon ein Problem, welches zwar bereits häufig vorgestellt und diskutiert wor-

355 Unstreitig, vgl. etwa Dreher/ Tröndle, Strafgesetzbuch, Rz. 3 zu § 306 und Rz.l vor§ 306. 356 Seien sie nun Unterstellungen im subjektiven Bereich oder anderer Art; dazu Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen, S. 232 ff. 357 Vielsagend deshalb die Formulierungsversuche von Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 67, wo die Rede von "potentielle(r) Beeinträchtigung" beziehungsweise von "Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsgefährdung" (S. 68) ist.

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

den ist, hier aber, weil ich es für ein originäres Gesetzgebungsproblem halte, und nicht etwa ein originär dogmatisches, 358 in Erinnerung gerufen werden muß. Während bei verschiedenen Vorschriftstypen eine Einzelfallkorrektur des rechtsanwendenden Richters möglich ist, etwa weil die vom Gesetzgeber angenommene Verletzung oder konkrete Gefahrdung des vermeintlich bedrohten Rechtsgutes im Einzelfall doch nicht eingetreten ist, ist dies bei den Delikten, die abstrakte Rechtsgutsgefährdungen pönalisieren, gerade nicht möglich. Konstituierendes Typusmerkmal ist nämlich gerade, daß der Gesetzgeber selbst und für alle konkreten Einzelfalle im Voraus und absolut festgelegt hat, welche Fälle als Gefahrdung eines Rechtsgutes zu gelten haben. Dabei legiferiert er notwendig allgemein, also abstrakt, was wiederum bedeutet, daß die Gefährdung im Einzelfall vielleicht gerade nicht vorliegt, obwohl dieser Einzelfall vom Gesetzgeber ex ante als abstrakt gefährlich beurteilt wurde. Eine Abweichung des Rechtsanwenden wegen konkreter Widerlegung dieser Prognose des Gesetzgebers ist nicht möglich; sie würde vielmehr in die Zuteilung der Kompetenzen nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz verletzend eingreifen.359 Dies zwingt meines Erachtens dazu, die Legitmierbarkeit dieses Regelungstypus erneut zu überdenken, 360 insbesondere vor dem Hintergrund einer möglichen Korrektur durch Vorschriften, die auf allgemeiner Ebene die Widerlegung der im Einzelfall unzutreffenden Gefahrdungsprognose des Gesetzgebers umzusetzen geeignet sind, 361 wenn sich nicht die Bereitschaft zum Verzicht auf diesen Regelungstypus, jedenfalls bei strafrechtlichen Sanktionsvorschriften durchsetzen sollte. 362

358 Insofern ist die Kritik Schünemanns, Tendenzen, S. 435, die Gefährdungsdelikte seinen "Stiefkinder Dogmatik" geblieben, zu relativieren; wichtiger erscheint mir, daß sie "Lieblingskinder des Gesetzgebers" zu sein scheinen, sich nach den Worten Lackners, Verkehrsstrafrecht, S. 1 (bezogen auf die konkreten Geflihrdungsdelikte), wie "ein Ölfleck" ausbreiten. 359 Daran hat jüngst, auch aus der gesetzgebensehen Sichtweise Lagodny, Schranken, zusammenfassend S. 508 f. (und öfter) hingewiesen. Berz, materialer Rechtsgüterschutz, S. 116-118, verlangt dennoch - für die Fälle objektiver Ungefahrlichkeit ex ante - eine teleologische Reduktion der abstrakten Gefährdungsdelikte vorzunehmen. 360 Frisch, Strafgesetzgebung, S. 214 f. umschreibt diesen Befund sehr treffend damit, daß die abstrakten Gefährdungsdelikte tendenziell einen "nicht legitimierbaren Überhang" aufweisen. 361 Ausführliche Diskussion solcher Möglichkeiten bei Lagodny, Schranken, S. 451

ff.

362 Oder man, wie Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, eine Art Metarechtsgut der Sicherheit (im Sinne der ungefährdeten Verfügbarkeil der Einzelrechtsgüter) mit Eigenwert einführt und so einen Schaden sui generis (Kindhäuser, Legitimität, S. 133), einen "Gefährdungsschaden" behauptet.

4. Die Verletzung der Interessen als Angriffswege auf Rechtsgüter

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Der Typus der abstrakten Gefährdungsdelikte, deren Anzahl Cramer schon im Jahre 1962 für einerseits erheblich und andererseits weitgehend unerkannt hielt, 363 begegnet in letzter Zeit wiederum vermehrter Kritik, insbesondere soweit er im Wirtschaftsstrafrecht Einsatz findet. 364 Diese Kritik ist durchaus begründet. Mit Blick auf die Gesetzgebung liegt die Crux eben darin, daß konkrete Rechtsanwendung entgegen der - potentiell fehlerhaften - Prognose abstrakter Gefährlichkeit nicht möglich ist. ( 1) Beschränkung auf" deliktstypische Gefahren" Aus Sicht der Strafgesetzgebung hat Jäger wiederholt auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß eine Kongruenz zwischen der Gefährlichkeit eines Verhaltens im Sinne des Schutzzweckdenkens und der tatbestandliehen Fassung eines strafbewehrten Verbotes bestehen muß. 365 "Eine Strafvorschrift, die gefahrliehe und ungefährliche Verhaltensweisen gleichermaßen umfaßt ... ist jedenfalls nicht zu rechtfertigen."366 Nach den gerade gemachten Ausführungen liegt es auf der Hand, daß die Gefahr von in diesem Sinne nicht hinreichend differenzierenden Regelungen dann besonders groß ist, wenn der Gesetzgeber sich dazu entschließt, eine abstrakte Gefährdung als Angriffsweg strafbewehrt zu verbieten. Man ist deshalb geneigt anzunehmen, daß diese Problematik auch schon Gegenstand verfassunggerichtlicher Begrenzungsversuche der Normierungsfreiheit des Strafgesetzgebers gewesen ist. (2) Die Position des Bundesverfassungsgerichts zu abstrakten Gefährdungsdelikten im Strafrecht Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahre 1970367 die Gelegenheit, sich zu § lOOe StGB 368 mit Blick auf die verfassungsrechtliche Vertretbarkeil eines

Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 50 f. Ein Schalk, wer sich dabei Böses denkt. Die erwähnte Kritik findet sich bei Lüderssen , Gutachten, S. 7, zu den Submissionsabsprachen; Herzog, strafrechtliche Daseinsvorsorge, S. 122 zu § 264 StGB und Kindhäuser, Legitimität, S. 134 zu den "Derivaten des Betruges" (mit durchaus kritischerem Unterton im Vergleich zu seiner Monographie (GeHihrdung als Straftat aus dem Jahre 199 I); allgemeinere Kritik bei Weber, Vorverlagerung, S. 29 ff.; Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtion. 365 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 88; ders., Strafrechtspolitik, S. 273 ff. und ders., Veränderungen, S. 12. 366 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 88. 367 BVerfGE 28, I 75 ff. (Staatsgeheimnisverrat). 363

364

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Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

strafbewehrten Verbotes abstrakter Gefahrdungen von universalen Rechtsgütern zu äußern. Sein Fazit lautete: "§ l OOe StGB enthält ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Es kann keine Rede davon sein, daß derartige Strafvorschriften, weil sie sich nicht gegen die konkrete Gefährdung eines Rechtsgutes richten, schlechthin verfassungswidrig sind. "369 Daraus wird gefolgert, daß Gericht habe keinerlei Bedenken gegen den Typus der abstrakten Gefährdungsdelikte im Strafrecht. 370 Ich halte diese Verallgemeinerung jedoch für voreilig. Zunächst nämlich fallt auf, daß das Bundesverfassungsgericht sich in der Entscheidung um die verfassungskonforme Auslegung einer Vorschrift bemüht, die bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung in dieser WOrtlautfassung nicht mehr in Kraft war. Das Gericht führt aus, die fragliche Norm bedrohte "nicht jegliche geistige Auseinandersetzung mit Personen, Personenvereinigungen und -einrichtungen außerhalb des Bundesgebietes mit Strafe, sondern nur bestimmte für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefahrliehe Beziehungen."371 Das scheint sich von selbst zu verstehen, läuft aber auf Seiten des Verfassungsgerichts darauf hinaus, daß nur solche Verhaltensweisen von der Strafandrohung umfaßt sein dürfen, die tatsächlich gefahrlieh für das zu schützende Rechtsgut sind. Daraus kann man leicht ableiten, daß verfassungsrechtliche Bedenken bestehen können, soweit dies nicht gewährleistet ist, also gefährliche und faktisch (ex ante) ungefährliche Verhaltensweisen strafbewehrt verboten werden. 372 Da das Verfassungsgericht dies jedoch nicht ausgeführt hat, ist hier die Stelle, sich über verfassungsrechtliche Gründe Gedanken zu machen. (3) Der Maßstab der Willkürfreiheit Das in Art. 3 GG enthaltene objektive Willkürverbot richtet sich auch an den Gesetzgeber. 373 Es verlangt eine sachgerechte Gesetzgebungsentscheidung, insbesondere eine solche, die zwingenden Differenzierungsgeboten Rechnung trägt. Unter Sachgerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang die gerecht diffe-

368 In der - heute nicht mehr geltenden - Fassung des Strafrechtsänderungsgesetzes von 1951 (BGBI. I, S. 739). 369 BVerfGE 28, 175 188 (Staatsgeheimnisverrat). 370 Vogel, Rechtsgüterschutz, S. 113. 371 BVerfGE 28, 175, 189 (Staatsgeheimnisverrat). 372 Auch wenn die Interpretation dieser Entscheidung hier vielleicht weiter geht, als das Gericht dies stützen würde, halte ich dies für unschädlich, da nicht einzusehen ist, daß ein Gericht das Auslegungsmonopol für das Grundgesetz auch innerhalb wissenschaftlicher Auseinandersetzungen haben muß. 373 Osterloh in Sachs, GG Kommentar, Rz. 75 zu Art. 3; AK-GG-Stein, Rz. 8-10 und 42 zu Art. 3; Schwertfeger, Methodik, S. 178; v.Münch/ Kunig-Gubelt, Rz. II zu Art. 3 und BVerfGE 78, 232, 248 (Aitershilfe für Landwirte).

4. Die Verletzung der Interessen als Angriffswege auf Rechtsgüter

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renzierende Würdigung der Wirklichkeit zu verstehen. 374 Typisierende Maßnahmen sind dann nicht von vorneherein ausgeschlossen, wenn "die durch sie auftretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist. " 375 Bezieht man diese Grundsätze nun auf die hier infragestehenden abstrakten Gefährdungsdelikte, so liegt die Typisierung in der tatbestandliehen Beschreibung von Handlungen, die als generell abstrakt gefährlich beschrieben werden, es im Einzelfall jedoch nicht sein müssen. 376 Daraus muß man folgern, daß eine solche Regelung, die keine Ausnahmen vorsieht, nicht sachgerecht ist. Denn akzeptiert man als Strafgrund die Möglichkeit des Eintrittes einer konkreten Gefahr für ein Rechtsgut oder sogar eines Schadens an einem Rechtsgut, so fällt dieser weg, wenn sicher ausgeschlossen werden kann, daß diese Möglichkeit nie eintreten kann. Die Regelung ist damit nicht mehr sachgerecht. Die Typisierung läßt sich auch nicht durch den Verweis auf Marginalität der betroffenen Personengruppe retten, denn hier ist die Handlungsweise des Betroffenen entscheidend. Der Kreis der nicht mehr sachgerecht behandelten Bürger ist also offen.377 Da die gesetzgeberische Entscheidung, die die abstrakte Gefährlichkeit ex ante und absolut festlegt, wie erwähnt wegen des Gewaltenteilungsgrundsatzes für den Rechtsanwendenden absolut bindend ist, 378 kann Abhilfe nur seitens des Gesetzgebers selbst geschaffen werden. Für die gerade debattierte Fallgruppe läge die Einführung einer Rückausnahme nahe, die nach einem umgekehrten Fahrlässigkeitsmaßstab festlegt, bei welchem individuellen Verhalten die Re-

Osterloh in Sachs, GG Kommentar, Rz. 103 zu Art. 3. BVerfGE 84, 348, 360 (Veranlagung zur Einkommenssteuer). 376 Vgl. etwa den vom BGH (NJW 1975, S. 1369 mit Anm. Brehm, ungefährliche Brandstiftung, S. 22 ff.) entschiedenen Fall des lnbrandsetzen eines Objektes im Sinne des § 306 Nr. 2 StGB, wo die faktische Handlung deshalb dem Typus nicht entsprach, weil der Täter dafür Sorge getragen hat, daß sich keine Personen in den Räumlichkeiten aufhielten. Der BGH hat damals entschieden, daß dies nur dann erheblich sein könnte, wenn der Täter aufgrund äußerer Gegebenheiten sichergehen konnte, die gesetzgebensehe Gefährlichkeilsprognose mit Blick auf Leben und Gesundheit von Menschen widerlegen zu können. 377 Im Übrigen erscheint mir im Strafrecht die Vorstellung eines "Sonderopfers" auch nur eines einzigen Bürgers nicht haltbar, ungeachtet der Tatsache, daß, wie Osterloh in Sachs, GG Kommentar, Rz. 93 zu Art. 3, feststellt, daß das Strafrecht bislang kaum Gegenstand der Gleichheitsdogmatik war. 378 Die erwähnte BGH-Entscheidung (NJW 1975, S. 1369) zu § 306 Nr. 2 StGB verstößt bereits gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz, so sinnvoll sie der Sache nach im Ansatz auch sein mag. Hier ist jedoch erheblicher Nachholbedarf anzumelden. 374 375

7 Stächclin

Teil I: I. Der Rechtsgutsbegriff

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gelverrnutung der abstrakten Gefährlichkeit durchbrochen wird. 379 Kann der Handelnde die von ihm geschaffenen Gefahrenlage beherrschen,380 so kann man ihm nicht die Schädigung eines Rechtsgutes vorwerfen. 381 Strafbegründung für die Gefährdung eines Rechtsgutes ist ja die Möglichkeit eines Schadenseintrittes. Fällt diese weg, so fällt auch der "Unwert" als Begründung in sich zusammen.382 Größer noch werden die Bedenken mit Blick auf die Sachgerechtigkeit, wenn man die Schuld als notwendige Voraussetzung der Strafe383 - nulla poena sine culpa- mit hinzudenkt. Wirft man dem Täter gerade die fehlerhafte Einstellung gegenüber den personalen Rechtsgütern seiner Mitmenschen vor, so kann der sozialethische Tadel für Verhaltensweisen, bei denen der Handelnde ex ante sicher ausschließen kann, daß ein Schaden am Rechtsgut entsteht, nicht dem entsprechen, wo der Handelnde dies in Kauf nimmt oder sogar anstrebt. Jedenfalls als Differenzierungskriterium muß die Schuld, die ihrerseits schon wegen des Menschenwürdegrundsatzes conditio sine qua non für die Androhung und Verhängung der Strafe ist,384 für den Gesetzgeber eine entscheidungsleitende Rolle spielen. dd) Eignungsdelikte Die Eignungsdelikte sind, soweit sie die Eignung zur Verletzung eines personalen Rechtsgutes bezeichnen, innerhalb der hier angelegten Perspektive ähnlich unproblematisch, wie Verletzungsdelikte und diejenigen konkreten Ge379 Ähnlich der Lösungsvorschlag von Brehm, Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts, S. I 23 ff. Ob ein solcher umgekehrter Fahrlässigkeitsmaßstab als sedes materiae angemessen ist, oder aber sicheres Wissen der Unmöglichkeit eines Rechtsgutsschadens zu verlangen ist, kann hier nicht entschieden werden. 38 Frisch, Strafgesetzgebung, S. 214 spricht von "erfolgsparalysierenden Vorkehrungen". 381 Ähnlich Monika Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 145, die allerdings davon ausgeht, daß die Fälle des § 306 StGB nicht beherrschbar sind, sowie LAgodny, Schranken, S. 480 ff., wo er darauf hinweist, daß nicht nur der Normalfall einer abstrakten Gefährdung legitimierbar sein muß, sondern auch der Ausnahmefall; schließlich argumentiert in ähnlicher Richtung wohl auch Jakobs mit dem forum intemum, in Jakobs, Rechtsgutsverletzungen, S. 767 ff., mit dem Beispiel der Herstellungsvariante im § 267 I StGB. 382 Hoyer, Eignungsdelikte, S. 38. 383 Hier soll die Schuld nur im engen Zusammenhang mit dem objektiven Willkürverbot eine Rolle spielen; ob und gegebenenfalls welche Begrenzungen der Strafgesetzgebungsfreiheit sich aus dem Schuldprinzip im Speziellen ergeben, soll weiter unten (Teil I VI.) Gegenstand meiner Überlegungen sein. 384 BVerfGE 20, 323, 331 (Mitgliederwerbung für Lesering) und 25, 269, 285 (Ruhen der Verjährungsfristen).

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5. Zusammenfassung

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fahrdungsdelikte, die als Angriffsgut ein personales haben. Anders als bei den abstrakten Gefährdungen ist der Bezugssachverhalt jeder Eignungsklausel das Ereignis der Rechtsgutsverletzung. 385 Der Gesetzgeber stellt also keine abstrakte Regel der Gefährlichkeit auf, unter deren Undifferenziertheit der einzelne leiden muß, wenn das Verhalten sich- sogar ex ante- im Einzelfall als nicht tatsächlich rechtsgutsgefährdend herausstellt, sondern verknüpft mit den Ausgangssachverhalten386 die konkrete Einzelfallprüfung der tatsächlichen Gefährlichkeit. Der Gefährdungsmaßstab ist also ein konkreter, 387 denn die Ausgangssachverhalte werden nicht wie beim abstrakten Gefährdungsdelikt über einen Kamm geschoren, sondern ihre Unterschiedlichkeil wird aufgenommen, indem die Notwendigkeit des konkret negativen Rechtsgutsbezuges zur Tatbestandsvoraussetzung gemacht wird. 388 Nur der Vollständigkeit halber sei daran erinnert, daß das Eignungsdelikt seinen Charakter als solches innerhalb einer personalen Rechtsgutslehre verliert, wenn der Bezugssachverhalt nicht die Beeinträchtigung eines personalen Rechtsgutes voraussetzt, sondern auf ein Medium abzielt, wie dies etwa in §§ 27 II i.V.m. 17 a Versammlungsgesetz der Fall ist. Hier liegen der Sache nach wiederum abstrakte Gefahrdungen personaler Rechtsgüter vor. 5. Zusammenfassung

Der kritische Gehalt des Rechtsgutsbegriffes liegt in der Verallgemeinerung der wertenden Kriterien, die die Zuweisung eines menschlichen Interesses zu den rechtlich oder sogar strafrechtlich schutzwürdigen Gütern begründen kann. Ein in sich stimmiges und konsequent durchgehaltenes Rechtsgutskonzept, welches sich mit bestehenden Festlegungen rechtlicher Werthierarchien stützen läßt, begrenzt die Strafgesetzgebungsfreiheit auf die Umsetzung dieser Werthierarchien auch im Bereich strafrechtlicher Verhaltensnormen. Dabei zwingt der fragmentarische Charakter des Strafrechts zu einer Beschränkung der schutzwürdigen Güter. Die wertfestlegenden Anhaltspunkte für diese Beschränkung durch die personale Rechtsgutslehre konnten im Grundgesetz gefunden werden. Dieses weist auf einer wertenden Ebene den personalen Inten!s-

385 Hoyer, Eignungsdelikte, S. 17. Die Begrifflichkeilen Ausgangs- und Bezugssachverhalt sind aus seiner Schrift übernommen. 386 Hoyer, Eignungsdelikte, S. 16. 387 Hoyer, Eignungsdelikte, S. 37. 388 Dies setzt natürlich voraus, daß nicht über den Begriff der Eignung wiederum Elemente abstrakter Gefährlichkeit eingefügt werden und der Deliktscharakter mit Blick auf die Angriffswege und speziell in seinen Unterschieden zum abstrakten Gefahrdungsdelikt konterkariert wird.

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Teil I : I. Der Rechtsgutsbegriff

sen einen Vorrang ein, leitet hingegen den Wert der kollektivierten Interessen jeweils von den fundamentalen Individualinteressen ab. Dies sichert die personale Rechtsgutslehre ab, die strafrechtlichen Schutz kollektiver Interessen jeweils nur in Abhängigkeit der Bedeutung dieser Medien für die personalen Interessen für legitim erachtet. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Angriffswege auf die so beschriebenen Rechtsgüter. Danach sind nämlich nur personale Rechtsgüter, und diese nur gegenüber Verletzungen und konkreten Gefahrungen a priori strafrechtlich schutzwürdig, noch nicht jedoch schutzbedürftig. Alle Beeinträchtigungen von Medien der personalen Güter stellen sich der Sache nach als abstrakte Gefährdungen der fundamentalen Güter dar; sie sind so auch zu legitimieren und zu interpretieren, wobei diejenigen kollektivierten Interessen, deren personale Durchsetzung in der staatlichen Vergesellschaftung als Teilausprägung des Gewaltmonopols verboten sind, aus diesem Grund einen Strafwürdigkeitsvorrang gegenüber denen haben, die der einzelne nur nicht individuell verfolgen kann. Damit weist die personale Rechtsgutslehre sowohl de lege lata, als auch de lege ferenda den weiten Umfang der Vorverlagerung strafrechtlichen Schutzes fundamentaler Rechtsgüter aus. Die Vorverlagerung des Rechtsgüterschutzes durch Strafbewehrung von abstrakt gefährlichen Verhaltensweisen begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken, soweit sie nicht bereits auf der Normenebene Mechanismen zur Korrektur objektiv ex ante feststellbarer Fehlbewertungen zuläßt. Da die abstrakte Gefährlichkeilshypothese als Strafgrund in foro, also durch die Judikative nicht mehr überprüf- und korrigierbar ist, folgen besondere Beweispflichten für den Gesetzgeber, denen im Sachzusammenhang des III. Abschnitts dieses ersten Teils nachzuspüren sein wird.

II. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip In nahezu allen Versuchen, Grenzen der Strafgesetzgebungsfreiheit zu beschreiben, spielt das Verhältnismäßigkeilsprinzip eine prominente Rolle. 1 Dies ist auch naheliegend, wird doch, wenn man nach der Geeignetheit, der Erforderlichkeil und der Angemessenheil (oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) einer strafbewehrten Norm fragt, die freiheitsverteilende Rolle strafrechtlich sanktionierter Verhaltensnormen erst richtig deutlich. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schenkt dem Übermaßverbot große Aufmerksamkeit/ ohne jedoch hohe Anforderungen zu stellen.3 Gleichzeitig ist der Ertrag der Verhältnismäßigkeilsprüfung regelmäßig durch die Relationalität des Übermaßverbotes begrenzt. 4 Geeignetheil und Erforderlichkeit sind immer auf die gesetzgeberische Zielvorgabe bezogen; ihr begrenzender Gehalt ist von der Weite dieser Zielvorgabe abhängig. Auf der Stufe der Angemessenheil besteht dann regelmäßig die Gefahr, Wertungsakte, die dem Gesetzgeber obliegen durch eigene Wertungen zu ersetzen. Diese Einschränkungen sollten jedoch nicht Grund zur Zurückhaltung sein. Denn im Rahmen der Erforderlichkeilsprüfung stellt sich die Frage nach den Alternativen zum Strafrecht, also ein solche, die zu den besonders nachhaltig dethematisierten Fragen der gesamten Strafrechtswissenschaften gehört. 5 Natürlich ist je im konkreten Einzelfall nach Alternativen zu suchen. Der Mangel der Befassung mit Alternativen zum Strafrecht läßt es hier aber angezeigt erscheinen, den bunten und reichhaltigen Strauß denkbarer anderer, nicht strafrechtlicher Lösungen anzudeuten (dazu unter 4.). Dabei muß auch eine Rolle spielen, welche Kriterien den "milderen Eingrifr' bestimmen sollen, denn der 1 Lagodny, Schranken, passim; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 109 ff.; Hans Ludwig Günther, Genese, S. 9 ff.; Lewisch, Verfassung, S. 194 ff.; Lüderssen, Gutachten, S. 5; Hamann, Strafgesetzgebung, S. 31 ff.; Zipf, Kriminalpolitik, S. 105 f. 2 Vgl. die Darstellung bei Vogel, Rechtsgützerschutz, S. 113 ff. ; Lagodny, Schranken, S. 9 f. und öfter. 3 Kritische Anmerkungen dazu bei Lagodny, Schranken, S. 71 ff. Allerdings erscheint mir seine These, daß die Cannabis-Entscheidung (BVerfGE 90, 145 ff.) eine Art Wendepunkt darstellt (Lagodny, ebd., S. 74) eher zweifelhaft, was bereits aus dem Beitrag Haffkes, Drogenstrafrecht, S. 761 ff., zu erkennen ist. 4 Vgl. allgemein die Andeutungen von Naucke, Schwerpunktverlagerungen, S. 143 ff. und ders., Strafrecht, § 2, Rz. 93; spezieller Kissel, Aufrufe, S. I 10 (insbs. Fn. 390 mit weiteren Hinweisen). 5 Verdienstvoll deshalb Lüderssen, Alternativen, S. 487 ff., auf der Basis historischer Erkenntnisse dazu bereits ders., Krise, S. 37 ff.

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Teil 1: II. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip

Verzicht auf Strafrecht muß im Einzelfall nicht a priori zu einer Zunahme gesellschaftlicher Freiheit führen . Zuvor ist jedoch zu klären, wie sich die strafbewehrten Verbotsnormen zu den Schutzbereichen der Grundrechte verhalten ( 1.). Sodann kann das klassische Prüfprogramm des Verhältnismäßigkeitsprinzips entfaltet werden (3.-5.), nachdem die gerade schon angesprochene Rolle der gesetzgeberischen Zielbestimmung zum Gegenstand der Überlegungen gemacht worden ist (2.). AmEnde dieses Abschnittes soll die Brücke geschlagen werden zum Gegenstand des ersten Abschnittes, also den Rechtsgutsfragen (5.).

1. Grundrechtliche Maßstäbe für die Strafgesetzgebung Der Maßstab der Verhältnismäßigkeit setzt jeweils voraus, daß eine Beeinträchtigung schützenswerteT Rechtspositionen besteht oder geschaffen werden soll, also zu klären ist, ob dieser Eingriff geeignet, erforderlich und angemessen ist. Deshalb stellt sich hier die Frage, ob bereits der Erlaß eines Strafgesetzes, sowie später seine Anwendung einen Grundrechtseingriff darstellen können. Dazu sind die infragekommenden Schutzbereiche zu umschreiben und ist zu klären, ob die grundrechtliehen Freiheitsverbürgungen ihren Schutzbereich jeweils auch für "kriminelles Handeln" öffnen. a) Schutzbereich

Die jeweilige Weite, mit der man den Schutzbereich der Grundrechte zieht, hat erhebliche Konsequenzen für die Intensität und Häufigkeit, in der sich der Gesetzgeber für sein Handeln vor der Verfassung rechtfertigen muß. Konzipiert man den Schutzbereich eines Grundrechtes weit, so wächst der Rechtfertigungsdruck, zugleich besteht aber die Gefahr, daß der Schutzbereich so häufig als betroffen angesehen wird, daß die Grundrechte ihren besonderen Charakter verlieren 6 und die Rechtfertigungen für Eingriffe in den Schutzbereich in "kleiner Münze" möglich werden. 7

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BVerfGE 80, 137, 164 (Reiten im Walde/ abweichendes Votum Grimm). Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rz. 245.

I. Grundrechtliche Maßstäbe für die Strafgesetzgebung

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aa) Eingangsfrage: Grundrechtlicher Schutz für "kriminelles Handeln"? Vor diesem Hintergrund ist die Frage von besonderer Brisanz, ob "kriminelles Handeln" überhaupt als Ausdruck grundrechtlich geschützter Freiheit angesehen werden kann, der Schutzbereich von Grundrechten also überhaupt eröffnet ist. ( 1) Enge Auslegung: neminem laedere als Konkretisierung der grundrechtlich geschützten Freiheit?

Die enge Auslegung der Grundrechte will kriminelles Handeln nicht als Inanspruchnahme grundrechtlicher Freiheiten anerkennen. Die Argumente dafür sind einerseits solche der Plausibilität, andererseits rekurrieren einzelne Autoren auf den naturrechtliehen Gedanken des neminem laedere. 8 Daraus folge, daß eine Rechtsgarantie, die die Interessen anderer umfasse, schon konstruktiv ausgeschlossen sei. Die verstaatlichte Gemeinschaft der einzelnen Bürger sei durch den Gewaltverzicht konstituiert, weswegen diese staatliche Gemeinschaft gewalttätiges Handeln einzelner gegenüber anderen "Vertragspartnern" des Gesellschaftvertrages nicht schützen wollen kann, als Umkehrschluß aus dem staatlichen GewaltmonopoL Nun würde zwar das Gewaltargument nur einen bestimmten Teil denkbarer Rechtsgutsverletzungen berücksichtigen, nämlich solche, deren Angriffswege Gewalt als Tatmittel voraussetzen. Jedoch bezieht diese Lehre auch solche Verhaltensweisen in den Grundrechtsausschluß mit ein, die durch "vorpositive rechtsethische Schranken",9 z.B. in Form des Vorbehalts der "Friedlichkeit"10 gekennzeichnet sind. Zu klären wäre insoweit jedoch noch, ob sich diese Position alleine auf die Verhaltensnorm bezieht, oder auch für die Sanktionsteile der Norm gelten sollte. Dann nämlich wäre ein Ergebnis erzielt, welches der Sache nach der Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG) entspräche. Weitere Stellungnahmen halten es für schwer erträglich, wenn eindeutig kriminelles Handeln zunächst Grundrechtsschutz genießen soll, die staatliche Re-

8 Jsensee, Schutzpflicht, Rz. 97 ff., insbesondere Rz. 102-105, erneut dann Rz. 171 ff.; MI D/ Hf S-Maunz, Grundgesetz, Rz. 76 zu Art. 2 I, deralljene Strafrechtsnormen als "immanente Schranken" aller Grundrechte ansieht, die aus der Sicht der "Rechtsgenossen" ein "crimen" darstellen. 9 Jsensse, Schutzpflicht, Rz. 105. 10 Dies betrifft insbesondere die Frage, ob der Schutzbereich des Art. 8 GG eröffnet ist.

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Teil I: II. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip

aktion darauf hingegen einer Rechtfertigung bedürfe. Dabei wird bevorzugt mit eindeutigen Bildern gestritten, etwa dem "kaltblütigen Killer". 11

(2) Weiteres Grundrechtsverständnis Die andere Sichtweise sieht den Schutzbereich auch bei kriminellem Handeln - potentiell - eröffnet und vertraut auch die Abwägungsergebnisse der Grundrechtsdogmatik, insbesondere des Verhältnismäßigkeitsprinzips. 12 Denn gerade wenn man Vertrauen in die Richtigkeit der Ergebnisse der hergebrachten Grundrechtsdogmatik von Schutzbereich, Eingriff und Schranken 13 (gegebenenfalls auch Schranken-Schranken) setzt, wäre es doch verwunderlich, wenn ausgerechnet bei den strafbewehrten Verbotsnormen diese Dogmatik kein akzeptables Ergebnis hervorbringen sollte. Die Abwägungsergebnisse, die diese Dogmatik liefere, seien ja auch "evident". 14 Dennoch sei auch kriminelles Verhalten zunächst ein Grundrechtsfall, eine Abwägung mit kollidierenden Interessen deshalb unausweichlich; 15 aus dem "prima-facie" Grundrechtsfall muß ein aktueller Grundrechtsfall werden können. 16 Dies ist nach der weiten (Grundrechts-) Tatbestandslösung keineswegs grotesk, 17 sondern die konsequente Fortsetzung des abstrakt-theoretischen Modells, welches im methodischen Ansatz der Intuition durchaus entgegengesetzt sein können muß. 18 Daraus folgt jedoch nicht, daß der Schutzbereich der einschlägigen Grundrechte uferlos erweitert werden müßte. Man kann dies am Beispiel des Art. 2 I GG erläutern, der, wenn nicht ein Spezialgrundrecht einschlägig ist, regelmäßig als sogenanntes "Auffanggrundrecht" in Frage kommt. Hier lassen sich mit Blick auf unsere Fragestellung drei Schutzbereichkonzepte unterscheiden. Das erste wäre ein prinzipiell offenes Konzept, welches schier jede Verhaltensweise als vom Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit umfaßt ansieht.19 Die zweite Lösung ist die bereits vorgestellte, die einen engeren Schutz-

Dieses Beispiel bringt offenbar auch Lagodny, Schranken, S. 92 ins Schwanken. So im Ergebnis Lagodny, Schranken, S. 93, in Anlehnung an Alexy, Grundrechte, S. 296. 13 Vgl. Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rz. 243 ff. 14 Alexy, Grundrechte, S. 296. 15 Alexy, Grundrechte, S. 111. lfi Alexy, Grundrechte, S. 297. 17 Ebd., S. 297 f., zu derartigen Einwänden. 18 Alexy, Grundrechte, S. 298. 19 So wohl das Bundesverfassungsgericht in E 54, 143 ff. (Taubenfüttem in öffentlichen Anlagen) und E 80, 137 ff. (Reiten im Walde), auf der Basis der Entscheidung E 6, 32 ff. (Elfes). 11

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I. Grundrechtliche Maßstäbe für die Strafgesetzgebung

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bereicheröffnet sieht und jedenfalls kriminelles Verhalten aus diesem ausscheiden will. Die dritte Variante stellt sich zunächst dem Argument entgegen, allein die Bezeichnung eines Verhaltens als kriminell schließe es aus dem Schutzbereich aus. Das heißt jedoch noch nicht, daß deshalb auch ein grenzenlos ausgedehnter Schutzbereich etwa des Art. 2 I GG eröffnet werden müßte, nachdem schlicht jedes Handeln Ausdruck der umfassend gewährten allgemeinen Handlungsfreiheit wäre. Vielmehr käme es dann darauf an, Kriterien anzugeben, die entscheiden lassen, ob jenes Handeln gerade als Ausdruck der von Art. 2 I GG zu schützenden Handlungsfreiheit zu verstehen ist, etwa weil es hohe Bedeutung für die personale Entfaltung hat20 und seine beliebige Beschränkbarkeil "einem System Vorschub leistete, welches nicht mehr beanspruchen könnte, auf die Achtung der Menschenwürde gegründet zu sein. " 21

(3) Stellungnahme Nun könnte auf eine Stellungnahme verzichtet werden, unter Hinweis auf die Tatsache, daß hier nicht das positive (Straf-) Recht zur Debatte steht, sondern die Gesetzgebung. Kriminelles Handeln im Sinne von als kriminell definiertem Handeln kann also noch nicht vorliegen, wenn im Gesetzgebungsverfahren zu erörtern ist, ob nicht ein Grundrechtseingriff mangels Verhältnismäßigkeit verfassungswidrig sei. Auch wenn man sich vom positiven Recht derart abwenden würde, daß man, ganz im Sinne des neminem laedere Gedankens von einem naturrechtliehen Strafunrechtsbegriff ausgehen würde, ließe sich eine Stellungnahme mit der Behauptung umgehen, das bestehende positive Strafrecht sei bereits derart ausgebildet, daß jedes denkbare Verhalten, welches einem naturrechtlichen Verbrechensbegriff unterfallen könnte, bereits positiv rechtlich fixiert sein müßte. Jedoch ist mit diesen knappen Ausführungen schon ein erstes Argument für die Entscheidung des vorgestellten Streites geliefert. Denn versteht man kriminelles Verhalten nicht als naturgegeben, sondern als jenes Verhalten, welches von dem hierzu berufenen Gesetzgeber als kriminell definiert worden ist, so liegt in der Weigerung überhaupt zu erwägen, daß das fragliche Verhalten auch die Inanspruchnahme grundrechtlicher Freiheiten sein könnte, eine petitio principii. Ein zentraler Begründungsstrang dafür, daß jenes Verhalten als kriminell zu definieren sei, wäre dann nämlich die Behauptung, es könne schon deshalb nicht rechtmäßig sein, weil es kriminell ist. Die gesamten Erkenntnisse der modernen Kriminologie, die unter der Überschrift labeling approach diskutiert worden sind, würden damit begründungslos und methodolo20 BVerfGE 80, 137, 169 (Reiten im Walde/ abweichendes Votum Grimm) und Hesse, Grundzüge, S. 185. 21 . BVerfGE 80, 137, 169 (Reiten im Walde/ abweichendes Votum Grimm).

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Teil I: II. Das Verhältnismäßigkeilsprinzip

gisch naiv ad acta gelegt. 22 Wenn man sie zu Ende denkt, so eröffnet die enge (Grundrechts-) Tatbestandstheorie dem Strafgesetzgeber die Möglichkeit der Umgehung der aus Art. I III GG folgenden Grundrechtsbindung durch die schlichte Etikettierung23 eines Verhaltens als kriminell. 24 Argumentiert man hingegen in diesem Kontext naturrechtlich, also mit dem neminem laedere Prinzip, so ist völlig unklar, warum die Grundrechte des Grundgesetzes eine für den Gesetzgeber bindende Rolle haben können sollen; die Berufung auf überpositive Rechtsgrundsätze zur Begründung der prinzipiellen Nichtanwendbarkeit von positiven Grundrechten und Grundfreiheiten stellt sich insofern als eine Art Kategorienfehler dar. Stellt man, wie die oben vorgestellte enge Tatbestandslehre, auf die Notwendigkeit eines prinzipiellen Gewaltverzichtes ab, so gerät man auch mit den auszisselierten Feinheiten der Strafrechtsdogmatik, insbesondere des Zurechnungssystems im Deliktsaufbau in Konflikt. Verdeutlichen kann man dies an der Notwehr. Denn diese rechtfertigt die tatbestandlieh kriminelle Handlung in besonderen Situationen. Nun steht man vor der - unnötigen - Schwierigkeit, entweder die grundrechtliehen Schutzbereiche für tatbestandlieh kriminelle Handlungen im Falle einer Notwehrsituation kasuistisch zu reaktivieren, oder aber man verzichtet auf die Grundrechte und den damit verbundenen Verhältnismäßigkeitsmaßstab zur verfassungsrechtlichen Bewertung der infragestehenden Handlung, 25 und folglich der entsprechenden gesetzgeberischen Wertung. Darüber hinaus entzieht sich das subtile strafrechtliche Programm von Rechtsgütern und Angriffswegen insoweit dem groben Maßstab des neminem laedere Prinzips. Ein erheblicher Teil der strafbewehrten Verhaltensweisen, die nach heutiger Zuordnung zum Strafrecht gehören, lassen sich nicht pauschal unter dieses Verletzungsverbot rubrizieren, etwa weil Rechtsgüterschutz im Vorfeld betrieben wird oder aber Gefahrenabwehr betrieben wird. 26 Deswegen wäre hier ein anderer grundrechtsdogmatischer Ausgangspunkt zu wählen, es

22 Zum labeling approach und seiner Bedeutung auch für den Strafgesetzgebungsprozeß vgl. Stangl, Strafrechtsreform, S. 4 und Lüderssen, Kriminologie, Rz. 492; grundlegend Becker, Außenseiter, S. 7. Zur Stellung und Bedeutung des labeling approach innnerhalb der aktuellen Diskussion vgl. Helge Peters, Partisanenwissenschaft, s. 107 ff. 23 Was die Bedeutung der Etikettierungstheorien erneut unter Beweis stellt. 24 So auch Lagodny, Schranken, S. 93. 25 Dies wird von den Vertretern der engen Tatbestandslehre zwar gesehen und mit einer faktischen Ausnahme zum staatlichen Gewaltmonopol gelöst (so im Prinzip Isensee, Schutzpflichten, Rz. 144 ff.). 26 Dies gesteht Isensee, Schutzpflichten, Rz. 181, ein, ohne darin jedoch eine Schwäche der von ihm vertretenen engen Tatbestandstheorie zu sehen.

I. Grundrechtliche Maßstäbe für die Strafgesetzgebung

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sei denn, man würde bestreiten, daß solche Verhaltensweisen strafrechtlich relevant sein könnten. Versucht man hingegen, im Sinne der oben genannten drei Optionen eine Entscheidung in der Sache zu treffen, so reicht es nicht aus, in fundamentaler Manier Ausschlüsse vorzunehmen. Man muß sich dann, über die Detailfrage der schutzbereichsmäßigen Spezifika kriminellen Verhaltens hinaus, die Frage stellen, welcher Verhaltensweisen denn abstrakt generell als Ausdruck grundrechtlich prima facie schutzwürdiger Handlungsfreiheit zu verstehen sein sollen. Dabei wird man auf die Bedeutung der Verhaltensweisen für den einzelnen abstellen müssen. Die Verhaltensweisen, die als potentiell kriminell in den Blick genommen werden, sind jedoch regelmäßig solche, die sich als zwischenmenschliche Interaktion darstellen, was sie nicht moralisch hervorheben muß, wohl aber zum Ausdruck einer persönlichkeitsbestimmenden Inanspruchnahme der Handlungsfreiheit des einzelnen macht. Mit anderen Worten ursurpiert ein einzelner die Interessenssphäre eines oder mehrer anderer in der Weise, daß er von der Möglichkeit der Durchsetzung seiner Interessen zu Lasten des oder der anderen Gebrauch macht. Dies ist in einer solchen Weise interpersonell, daß mir die Grundnormen der Verfassung der einschlägige Ort zu sein scheinen, wo die Freiheitsverteilungsargumente, die die richtige Strafgesetzgebungsentscheidung alleine begründen können, ihren Anfang nehmen müssen. 27 Die prinzipielle Exklusion von Verhaltensweisen die als kriminell bezeichnet werden können aus dem Schutzbereich der Grundrechte ist aus den genannten Gründen nicht überzeugend. Vielmehr ist auch bei diesen Verhaltensweisen der erprobten grundrechtliehen Abwägungsdogmatik Raum zu geben. bb) Spezielle Freiheitsgrundrechte Als relevante Schutzbereiche kommen dabei an erster Stelle die speziellen Freiheitsrechte in Frage. Die Einschlägigkeil im Detailläßt sich nur beispielhaft erörtern. Deshalb sollen hier einige Andeutungen genügen:

27 Nun mag man einwenden wollen, jedes Recht, ob ziviles oder öffentliches, teile Freiheitssphären zu. So richtig dieser Einwand auch ist, so wenig überzeugt er, wenn der ultima ratio Charakter des Strafrechtes in Erinnerung gerufen wird. Dieser und der strafrechtliche Schuldvorwurf, also die besondere sittliche Mißbilligung eines persönlich zurechenbaren Fehlverhaltens verlangen eine solidere Fundierung der Freiheitsverteilung im Bereich des Strafrechts, im Vergleich mit anderen Rechtsgebieten. Dies gilt im Übrigen sowohl für die Täterperspektive, als auch für die des Opfers, welches antritt um vorzubringen, daß der Täter es so sehr in seinen Interessen geschädigt hat, daß eine öffentliche Reaktion im Namen der Allgemeinheit erforderlich ist.

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Teil I: II. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip

-Für all diejenigen Verhaltensweisen, die im weitereren Sinne durch Kornmunikationsakte gekennzeichnet sind, kann der Schutzbereich des Art. 5 I 00 eröffnet sein. 28 Entsprechendes gilt für die sogenannten "Klimadelikte" .29 -Für die Verhaltensweisen, die in unmittelbarer Weise Ausdruck der Manifestation politischer Meinungen in der Öffentlichkeit sind, kann (darüber hinaus) der Schutzbereich des Art. 8 I 00 eröffnet sein. - Entsprechendes kann man von der Vereinigungsfreiheit des Art. 9 I 00 für diejenigen Verhaltensweisen sagen, die durch personale Zusammenschlüsse geprägt sind. - Ein gleichfalls zentraler Schutzbereich ist derjenige der Berufsfreiheit (Art. 12 I 00). 30 - Aber auch in die Schutzbereiche anderer spezieller Freiheitsrechte, wie beispielsweise Art. 5 III, 11 1,31 14 132 00 können strafbewehrte Verhaltensvorschriften eingreifen.33

cc) Allgemeine Freiheitsgewährleistung Ansonsten und gegenüber den speziellen Freiheitsgrundrechten subsidiär kommt der Schutzbereich des Art. 2 I 00 in Frage. Selbst wenn man diesen, wie oben angedeutet nicht uferlos weit zieht, können davon doch in erheblichem Umfang Verhaltensweisen betroffen sein, die heute bereits strafbewehrt sind.

28 Vgl. beispielhaft die Auswirkungen des Art. 5 I GG auf den Tatbestand des § III StGB bei Kissel, Aufrufe, insbesondere S. 147 ff. und BVerfGE 87, 209, 230 (Gewaltdarstellung i.S. des§ 131 StGB). 29 Vgl. zum Begriff und den Eigenarten dieser Delikte Müller-Dietz, Marginalien, S. 173 ff. 30 Beispiel aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung ist hier die Entscheidung zur Entgeltklausel des§ 184 I Nr. 7 StGB (vgl. BVerfGE 47, 109, 116 [Vorführung pornographischer Filme]). 31 Erinnert sei nur an das DDR-Beispiel der Grenzverletzungsdelikte. 32 Man denke an das Umweltstrafrecht und die aktuell geplanten Delikte gegen den Wettbewerb. 33 Eine gut informierende Übersicht über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu strafrechtlichen Gegenständen liefert, unter Bezeichnung des jeweils betroffenen Schutzbereiches Paulduro, Verfassungsgemäßheit, im Anhang (S. I- L).

I. Grundrechtliche Maßstäbe für die Strafgesetzgebung

109

dd) Gleichheit Der Erlaß einer strafbewehrten Verhaltensnorm kann auch den Schutzbereich des Gleichheitssatzes betreffen. Nach klassischer Auslegung verbietet dieser die Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte, solange und soweit hierfür kein sachlicher Grund besteht.34 Hier werden im Gesetzgebungsbereich nur selten Probleme auftauchen, da Gesetze als allgemeine, abstrakte Regelungen in dem genannten Sinne kaum je vergleichbare Sachverhalte ungleich behandeln, oder aber in einer die Wahlfreiheiten des Gesetzgebers übersteigenden Art Gleiches ungleich behandeln. Immerhin stand aber in der Cannabis-Entscheidung35 jüngst ein Fall zur Beurteilung, wo der Vorwurf erhoben worden war, verschiedene Betäubungsmittel mit gleichem Gesundheitsgefährdungspotential würden ungleich behandelt: der Umgang mit Cannabis kriminalisiert, derjenige mit Nikotin beispielsweise nur besteuert. Hier hätte für das Bundesverfassungsgericht die Chance bestanden, die Kriterien des Gleichheitssatzes auf ein konkretes Strafgesetz - hier den § 29 I BtmG- anzuwenden. Dem ist das Gericht jedoch durch eine zirkelschlüssige Argumentation entgangen. "Was den Vergleich zwischen Cannabisprodukten und Nikotin angeht, liegt ein hinreichender Grund für die unterschiedliche Behandlung schon darin, daß Nikotin kein Betäubungsmittel ist. " 36 Betäubungsmittel im rechtlich relevanten Sinne wird ein Stoff jedoch, wie das Bundesverfasungsgericht kurz vorher selbst betont, durch die Aufnahme in die sogenannte "Positivliste" der Anlagen I-III zum BtmG.37 Das Argument erschöpft sich bei genauerer Betrachtung also in dem Vorbringen, Nikotin sei rechtlich nicht als Betäubungsmittel zu behandeln, weil es rechtlich nicht als Betäubungsmittel behandelt würde, was aus der Tatsache der Nichtaufnahme in die die Betäubungsmittel legaldefinierenden Anlagen zum BtmG erkennbar sei. 38 Inzwischen wird jedoch auch ein objektiver Willkürmaßstab zum Schutzbereich des Art. 3 I GG gehörig in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts39 und der Literatur weitgehend anerkannt.40 Dieser bedeutet, daß eine Re-

34 Beispie.Jsweise BVerfGE 10, 234, 246 (Straffreiheitsgesetz) und BverfGE-26, 302, 310 (Einkommenssteuer). 35 BVerfGE 90, 145 ff. 36 BVerfGE 90, 145, 197 (Cannabis). 37 BVerfGE 90, 145, 196. 38 Die ansonsten vorgebrachten, nicht nikotinspezifischen Argumente erscheinen allenfalls als Hilfskonstruktion mit Blick auf das konkrete Problem der Vergleichbarkeit. 39 Aus jüngerer Zeit BVerfGE 66, 190, 206 (§ 42 Strafvollzugsgesetz); 70, 93, 97 (hess. Nachbarrechtsgesetz); 74, 102, 127 (Erziehungsmaßregeln im Jugendgerichtsge-

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Teil I: II. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip

gelung als den Schutzbereich des Art. 3 I GG verletzend anzusehen ist, die für sich alleine, also ohne vergleichenden Maßstab betrachtet, willkürlich ist, daß heißt als Entscheidung schlechthin unverständlich oder nicht sachgerecht ist. 41 Dabei stellt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Sache auf Kriterien materieller Gerechtigkeit ab, die sie über die Topoi der Systemgerechtigkeit, Sachgerechtigkeit und Folgerichtigkeit, aber auch über Härtefallklauseln implementiert.42 Im Ganzen wird man den Gleichheitssatz wohl als den schwächsten Grundrechtsmaßstab mit Blick auf die Strafgesetzgebung ansehen müssen.43 b) Eingriff

Nunmehr steht fest, daß die grundrechtliehen Schutzbereiche auch für strafbewehrte Verhaltensnormen prinzipiell offen sind. Jedoch muß auch ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegen. aa) Charakteristika eines Grundrechtseingriffs

Der Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechtes muß nach unbestrittener Ansicht zumindest intendiert sein, also nicht bloß unbeabsichtigte Folge staatlichen Handeins sein, unmittelbar sein, ein Akt mit rechtlicher Wirkung und mit Zwangselementen angeordnet oder durchgesetzt worden sein.44 Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß auch darüber hinaus verschiedene staatliche Handlungen als Eingriffe verstanden werden müssen.45 Danach hat als

setz); 75, 329, 347 (genehmigungsbedürftige Anlagen) und 78, 232, 248 (Altershilfe für Landwirte). 40 Hili, Gewährleistungen, Rz. 25; Osterloh in Sachs, GG Kommentar, Rz. 90 ff. zu Art. 3; AK-GG-Stein, Rz. 42 ff. zu Art. 3; Hans Schneider, Gesetzgebung, S. 41 f.; vgl. in dieser Untersuchung bereits oben (I. Teil I. 4. b) cc) (3)). 41 Vgl. HiLI, Gewährleistungen, Rz. 25-27; Andeutungen auch bei Niemöller, Strafgerichtsbarkeit, Rz. 74. 42 Osterloh in Sachs, GG Kommentar, Rz. 98 ff. zu Art. 3; siehe zu einem denkbaren Anwendungsfall das Erfordernis der Rückausnahme bei abstrakten Gefahrdungsdelikten (soeben I. 4. b) cc) (3)). 43 Niemöller, Strafgerichtsbarkeit, Rz. 74. Dies hat unter anderem tradierte Gründe (vgl. Hili, Gewährleistungen, Rz. 25 und Osterloh in Sachs, GG Kommentar, Rz. 93 zu Art. 3). 44 Vgl. die knappe und übersichtliche Darstellung bei Pierothl Schlink, Grundrechte, Rz. 256. 45 Beispiele: Nebenfolgen, auch für sogenannte Drittbetroffene innerhalb der Leistungsverwaltung; faktische Eingriffe durch Telefonüberwachung und mittelbare Folgen staatlicher Informationspolitik.

I. Grundrechtliche Maßstäbe für die Strafgesetzgebung

III

Grundrechtseingriff jenes staatliche Handeln zu gelten, welches dem Grundrechtsträger die Verhaltensweisen, die vom Schutzbereich des Grundrechtes erfaßt sind, unmöglich macht, solange die zurechenbare Ursache für diese Wirkung staatliches Handeln ist. 46 bb) Die Differenzierung im Prüfungsmaßstab nach den Bestandteilen einer Strafrechtsnorm Für die Erörterung der Verhältnismäßigkeit eines möglichen Eingriffes kommt es hier gerade darauf an, die spezifisch strafrechtlichen Besonderheiten zu berücksichtigen, also die Verhaltensnorm einerseits und die sanktionierenden Teile der Norm andererseits. Auf die Notwendigkeit dieser Differenzierung hat jüngst Lagodny47 - in Übereinstimmung mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung- hingewiesen.48 Die Normen des besonderen Teils des Strafgesetzbuches und des sogenannten Nebenstrafrechts enthalten also zumindest zwei Bestandteile, nämlich Verhaltensvorschrift und Rechtsfolge. Bei genauerer Betrachtung läßt sich eine dritte Ebene analytisch isolieren. Es ist die Aufnahme der Verhaltensbeschreibung in den Kanon derjenigen Verhaltensweisen, auf die die staatliche Gemeinschaft mit der ultima ratio der rechtlichen Reaktionsformen, also dem Strafrecht reagiert. Auf den darin enthaltenen Tadel der Person mit Blick auf ihre Handlung ist gesondert einzugehen.49 ( 1) Eingriff durch die Verhaltensnorm Die Verhaltensnorm ist eine Gebots- oder Verbotsnorm. Verhaltensnormen bestehen unabhängig von den im Strafrecht angedrohten spezifischen Rechtsfolgen. Diese Einsicht ist zwar banal, jedoch immer wieder in Erinnerung zu rufen, um dem Mißverständnis begegnen zu können, die Entkriminalisierung eines Verhaltens bedeute zugleich auch dessen Billigung. 5° Auf die Isolierbarkeit der Vgl. erneut Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rz. 259. Lagodny, Schranken, S. 55 ff. 4 ~ Vgl. die kurze Darstellung bei Vogel, Rechtsgüterschutz, S. 113 ff. 49 So auch bei Lagodny, Schranken, S. 102 ff. 511 Unter diesem Gesichtspunkt ist die zweite Abtreibungsentscheidung (BVerfGE 88, 203 ff.) in ihrer systematischen Klarheit hervorzuheben. Zwar soll Abtreibung kein strafrechtliches Unrecht, wohl aber Unrecht sein; vgl. dazu auch Eser, Prüfstand, S. 2924. Ansonsten und auch mit Blick auf die faktische Sanktionierung des verbotenen Verhaltens (also der Abtreibung) ist durchaus Kritik an der Entscheidung angebracht; dazu Kayßer, Prinzipien, S. !51 ff. und Schutz, Verschlungene Wege, S. 38 ff. 46 47

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Teil I: 11. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip

Verhaltensnorm wird bei der Frage der Erforderlichkeil zurückzukommen sein, da gerade die Abkoppelung den Weg für Überlegungen frei macht, andere Rechtsfolgen als eine Strafandrohung mit dem Ge- oder Verbot zu verbinden, was umso leichter f