Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar: Band 2 §§ 32 bis 60 [10. völlig neu bearb. Aufl. Reprint 2013] 9783111337333, 9783110105575

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Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar: Band 2 §§ 32 bis 60 [10. völlig neu bearb. Aufl. Reprint 2013]
 9783111337333, 9783110105575

Table of contents :
Inhaltsübersicht
Zweiter Abschnitt. Die Tat
VIERTER TITEL. Notwehr und Notstand
Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff
§ 32, 33
§ 34, 35
FÜNFTER TITEL. Straflosigkeit parlamentarischer Äußerungen und Berichte
§ 36, 37
DRITTER ABSCHNITT. Rechtsfolgen der Tat
ERSTER TITEL. Strafen
Vorbemerkungen zu den §§ 38 – § 45 b
ZWEITER TITEL. Strafbemessung
Vorbemerkungen zu den §§ 46 – § 51
DRITTER TITEL. Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen
Vorbemerkungen zu den §§ 52 ff – § 55
VIERTER TITEL. Strafaussetzung zur Bewährung
Vorbemerkungen zu den §§ 56 bis § 56 c
§ 56 c – § 58
FÜNFTER TITEL. Verwarnung mit Strafvorbehalt Absehen von Strafe
Vorbemerkungen zu den §§ 59 bis 59 c
§ 60

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Großkommentare der Praxis

w DE

G

Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar Großkommentar Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage herausgegeben von

Hans-Heinrich Jescheck Wolfgang Ruß Günther Willms

Zweiter Band §§ 32 bis 60

w DE

_G 1985

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Zitierweise: ζ. Β. Tröndle LK 10. Aufl. § 3 Rdn. 5

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Strafgesetzbuch: Leipziger Kommentar; Großkommentar / hrsg. von Hans-Heinrich Jescheck... — Berlin; New York: de Gruyter (Großkommentare der Praxis) Früher mit d. Angabe: Begr. von Ludwig Ebermeyer... — Teilw. hrsg. von Paulheinz Baldus u. Günther Willms NE: Ebermayer, Ludwig [Begr.]; Baldus, Paulheinz [Hrsg.]; Jescheck, Hans-Heinrich [Hrsg.] Bd. 2. §§ 32 bis 60. — 10., völlig neu bearb. Aufl. - 1985. ISBN 3-11-010557-8

Hinweis Um in der Erscheinungsweise nicht festgelegt zu sein und auf diese Weise Bedürfnissen der Praxis besser gerecht werden zu können, wurde darauf verzichtet, die Bände durchgehend zu paginieren. Durch Verwendung der Randnummern sind Seitenzahlen — vor allem für das Zitieren — entbehrlich. Der Verlag

© Copyright 1978/1979/1980/1983 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: H. Heenemann GmbH & Co, Berlin 42 Bindearbeiten : Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, Berlin 61

Inhaltsübersicht

Band 1 Erschienen Einleitung

8/1979

Bearbeiter Jescheck

ALLGEMEINER TEIL Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Erster Titel. Geltungsbereich §§ 1 - 1 0

2/1978

Tröndle

Zweiter Titel. Sprachgebrauch §§11,12

2/1978

Tröndle

Zweiter Abschnitt. Die Tat Erster Titel. Grundlagen der Strafbarkeit Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff § 13 § 14 Vorbemerkungen zu den §§ 15 ff §§ 1 5 - 1 8 §§ 1 9 - 2 1 Zweiter Titel. Versuch Vorbemerkungen zu den §§ 22 ff §§ 2 2 - 2 4 Dritter Titel. Täterschaft und Teilnahme Vorbemerkungen zu den §§ 25 ff § 25 Vorbemerkungen zu §§ 26, 27 §§ 2 6 - 2 9 §§ 30, 31

(V)

8/1979 8/1979 8/1979 2/1980 2/1980 9/1978

Jescheck Jescheck Roxin Schroeder Schroeder Lange

10/1983 10/1983

Vogler Vogler

2/1978 2/1978 2/1978 2/1978 8/1979

Roxin Roxin Roxin Roxin Roxin

Band 2 Vierter Titel. Notwehr und Notstand Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff §§ 32, 33 §§ 34, 35

12/1984 9/1982 12/1984

H. J. Hirsch Spendel H. J. Hirsch

Fünfter Titel. Straflosigkeit parlamentarischer Äußerungen und Berichte §§ 36,37 2/1978 Tröndle Dritter Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat Erster Titel. Strafen — Freiheitsstrafe — Vorbemerkungen zu den §§ 38 ff §§ 38, 39 — Geldstrafe — Vorbemerkungen zu den §§ 40 ff §§ 4 0 - 4 3 — Nebenstrafe — § 44 — Nebenfolgen — Vorbemerkungen zu den §§ 45—45 b §§ 4 5 - 4 5 b Zweiter Titel. Strafbemessung Vorbemerkung zu den §§ 46 ff §§ 4 6 - 5 0 §51

2/1978 2/1978

Tröndle Tröndle

2/1978 2/1978

Tröndle Tröndle

2/1978

Schäfer

2/1978 2/1978

Tröndle Tröndle

8/1979 8/1979 8/1979

G. Hirsch G.Hirsch Tröndle

Dritter Titel. Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen Vorbemerkungen zu den §§ 52 ff 9/1978 Vogler §§ 5 2 - 5 5 9/1978 Vogler Vierter Titel. Strafaussetzung zur Bewährung Vorbemerkungen zu den §§ 56 ff 3/1981 §§ 5 6 - 5 6 e 3/1981 § 56 f 3/1985 §§ 56 g—57 3/1981 § 57 a 3/1985 § 58 3/1981

Ruß Ruß Ruß Ruß Ruß Ruß

Fünfter Titel. Verwarnung mit Strafvorbehalt. Absehen von Strafe Vorbemerkungen zu den §§ 59 ff 3/1981 Ruß §§ 5 9 - 5 9 c 3/1981 Ruß § 60 9/1982 G. Hirsch

(VI)

Band 3 Sechster Titel. Maßregeln der Besserung und Sicherung Vorbemerkungen zu den §§ 61 ff 9/1978 §§61,62 9/1978

Hanack Hanack

— Freiheitsentziehende Maßregeln — §§63-67 §§ 67 a—67 g

Hanack Horstkotte

9/1978 11/1983

— Führungsaufsicht — Vorbemerkungen zu den §§ 68 ff §§ 6 8 - 6 8 g

9/1978 9/1978

Hanack Hanack

— Entziehung der Fahrerlaubnis — §§ 6 9 - 6 9 b

9/1978

Rüth

— Berufsverbot — §§ 7 0 - 7 0 b

9/1982

Hanack

— Gemeinsame Vorschriften — §§71,72

9/1982

Hanack

Siebenter Titel. Verfall und Einziehung Vorbemerkungen zu den §§ 73 ff §§73-75

12/1979 12/1979

Schäfer Schäfer

— Gemeinsame Vorschriften — §§ 76, 76 a

12/1979

Schäfer

Vierter Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen Vorbemerkungen zu den §§ 77 ff §§ 7 7 - 7 7 e

2/1985 2/1985

Jähnke Jähnke

Fünfter Abschnitt. Verjährung Erster Titel. Verfolgungsverjährung Vorbemerkungen zu den §§ 78 ff §§ 7 8 - 7 8 c

2/1985 2/1985

Jähnke Jähnke

Zweiter Titel. Vollstreckungsverjährung §§ 7 9 - 7 9 b

2/1985

Jähnke

(VII)

VIERTER TITEL Notwehr und Notstand Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff

Vor § 32 Übersicht I. Inhalt und Bedeutung des Titels II. Rechtfertigung

....

A. Systematische Einordnung 1. Grundsätzliches a) Abstufung von Tatbestands· und Rechtfertigungsfrage b) Rechtfertigung und Gesamtrechtsordnung c) Rechtfertigung und Unterscheidung von formeller und materieller Rechtswidrigkeit d) Rechtfertigung, rechtsfreier Raum und Frage schlichten Unrechtsausschlusses.... 2. Einzelfragen der Abgrenzung fehlender Rechtswidrigkeit und schon fehlender Tatbestandsmäßigkeit a) Rechtswidrigkeitsregeln . . b) Spezielle Rechtswidrigkeitsmerkmale c) Sozialadäquanz d) Erlaubtes Risiko B. Allgemeine Fragen der Rechtfertigungsgründe 1. Quellen und Geltung a) Quellen b) Wirkung des Art. 103 Abs. 2 GG c) Sonstige Gültigkeitsfragen . d) Zeitpunkt des Vorliegens . . e) Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen 2. System der Rechtfertigungsgründe? 3. Generelle Erfordernisse der Rechtfertigungsgründe a) Art des tatbestandsmäßigen Verhaltens b) Subjektive Rechtfertigungselemente (1)

Rdn. 1

Rdn. c)

4.

5 10

12

16

19 23 26 30

34 35 42 43 46 47

49 50

Keine absichtliche Herbeiführung einer Rechtfertigungslage Wirkung der Rechtfertigungsgründe

C. Die einzelnen Rechtfertigungsgründe 1. Notwehr 2. Rechtfertigender Notstand . . . 3. Rechtfertigende Pflichtenkollision 4. Widerstandsrecht, Staatsnotstand, Staatsnotwehr 5. Einwilligung (dazu besondere Übersicht vor Rdn. 92) 6. Mutmaßliche Einwilligung . . . 7. Amtsrechte (Waffengebrauchsrecht u. a.) sowie verwandte außerordentliche Zwangsrechte (§ 127 Abs. 1 StPO, § 229 BGB) 8. Behördliche Genehmigung . . . 9. Dienstliche Anordnung und militärischer Befehl 10. Rechtfertigung aufgrund Völkerrechtsnorm 11. Wahrnehmung berechtigter Interessen 12. Rechtfertigung aufgrund besonderen beruflichen Vertrauensverhältnisses 13. Züchtigungsrecht III. Schuldausschluß A. Grundsätzliches 1. Schuld als Deliktsmerkmal . . . 2. Schuld und Tatverantwortung . 3. Elemente des strafrechtlichen Schuldbegriffs B. Gründe fehlender Schuld 1. Fehlen der Möglichkeit der Unrechtseinsicht (Frage des intellektuellen Schuldelements) . 2. Fehlen der Möglichkeit, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu

62 64

68 69 71 83 92 129

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178

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat Rdn.

Rdn. verhalten (Frage des voluntativen Schuldelements — Unzumutbarkeit i n s b e s o n d e r e ) . . . . C. Fälle fehlenden voluntativen Schuldelements 1. Schuldunfähigkeit gemäß § 20, 2. Alt 2. Entschuldigender Notstand . . 3. Notwehrüberschreitung 4. Unzumutbarkeit beim Unter-

181

189 190 191

lassungsdelikt 5. Unzumutbarkeit beim Fahrlässigkeitsdelikt 6. Unzumutbarkeit bei Einzelvorschriften des Besonderen Teils . 7. Übergesetzlicher entschuldigender Notstand D. Sonderproblem Überzeugungstäter IV. Strafausschließungsgründe V. Verfahrensvoraussetzungen

193 194 196 200 209 213 217

I. Inhalt und Bedeutung des Titels 1

1. Der Inhalt des Titels besteht in Regelungen einiger wichtiger Rechtfertigungsund Entschuldigungsgründe, die sämtlich auf einer Notlagensituation beruhen: Notwehr (§ 32), rechtfertigender Notstand (§ 34), entschuldigender Notstand (§ 35) und Notwehrüberschreitung (§ 33). Das Gesetz gibt — im Unterschied zur früheren, lediglich auf das Entfallen der Strafbarkeit hinweisenden Gesetzesfassung — die jeweilige Rechtswirkung präzise an, indem es ausdrücklich sagt, daß das Handeln „nicht rechtswidrig" (§§ 32, 34) oder „ohne Schuld" (§ 35) ist. Lediglich in § 33 verzichtet es auf die ausdrückliche nähere Einordnung und begnügt sich mit der Formulierung, daß der Täter „nicht bestraft" wird.

2

2. Die Bedeutung des Titels liegt über die in ihm aufgeführten Einzelregelungen hinausgehend in folgendem : Das Gesetz bringt durch ihn zum Ausdruck, daß sich die für die Straftat wesentlichen Gesichtspunkte nicht in den Merkmalen der einzelnen Strafbestimmungen des Besonderen Teils und den in §§ 13—21 aufgeführten allgemeinen Tatbestands- und Schuldfragen erschöpfen. Insbesondere wird durch § 32 und § 34 verdeutlicht, daß es auch auf die Rechtswidrigkeitsfrage ankommt, da das Vorliegen des Unrechts sich noch nicht allein aus der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale ergibt, sondern außerdem von der Verneinung des Eingreifens von Rechtfertigungsgründen abhängt. Darüber hinaus wird durch den Titel klargestellt, daß die Schulderfordernisse nicht nur aus den in §§ 17—21 geregelten Gesichtspunkten bestehen.

3

Daß zwischen diesem Titel und dem 1. Titel (Grundlagen der Strafbarkeit) getrennt wird und sich die äußere Reihenfolge der gesetzlichen Vorschriften nicht streng an den Deliktsaufbau hält, hängt damit zusammen, daß das Gesetz, da es nicht die Funktion eines Lehrbuchs hat, systematische Festlegungen vermeiden und so den Weg für die wissenschaftliche Entwicklung der Dogmatik freihalten will (vgl. Niederschriften 4 219 [Dreher], 222 fWelzel], 517 [Vorschläge der Sachbearbeiter]). Eine getrennte Regelung bot sich zudem deshalb an, weil es sich bei den Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen um negative Rechtssätze handelt, auf deren Nichteingreifen es für das Vorliegen der Straftat ankommt. Außer den Kategorien der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe würden hierzu übrigens auch noch die bloßen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe gehören, die das Gesetz aber mit dem Blick auf die engeren Sachzusammenhänge erst an einzelnen anderen Stellen erwähnt. Da ihnen mit den Erstgenannten gemeinsam ist, daß besondere Umstände ausnahmsweise der Strafbarkeit entgegenstehen und sie daher insoweit „jenseits von Unrecht und Schuld die Fortsetzung zu den Rechtfertigungs· und Entschuldigungsgründen" (Sch.-Schröder-Lenckner21 Rdn. 3) bilden, sind sie in der folgenden systematischen Darstellung mit zu berücksichtigen. (2)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Indem der Titel nur einzelne Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe er- 4 wähnt, erhebt er, wie schon der frühere 4. Abschnitt, keinen Anspruch auf Vollständigkeit. So kann ein tatbestandsmäßiges Verhalten durch einen Rechtfertigungsgrund, der im Besonderen Teil des StGB (z. B. § 226 a) oder — wie nicht selten — in einem anderen Gesetz, gerade auch außerstrafrechtlicher Art (z. B. § 127 StPO, § 229 BGB), geregelt ist, gerechtfertigt sein. Es ist dabei auch möglich, daß es sich um einen näher vertypten Unterfall der §§ 32 ff handelt (z. B. in bezug auf § 34 der § 193 [teilw.] sowie im BGB § 228 und § 904). Ebenfalls finden sich Entschuldigungsgründe und die — überhaupt nicht im 4. Titel, sondern erst im Rahmen besonderer Sachzusammenhänge geregelten — bloßen Strafausschließungs- resp. Strafaufhebungsgründe an anderen Stellen des StGB (z. B. § 139 Abs. 3 Satz 1, § 258 Abs. 5 u. 6, § 36, § 24, § 310) oder auch in anderweitigen gesetzlichen Regelungen (z. B. Art. 46 Abs. 1 GG, § 28 Abs. 2 WStG). Darüber hinaus bleibt das Gesetz, indem es sich auf die derzeit für eine gesetzliche Ausformulierung wissenschaftlich hinreichend ausgereiften Gründe beschränkt, der Geltung nicht positivierter Rechtfertigungs- und Entschuldigungsfälle gegenüber offen. Deshalb wird in der Begr. des E 1962 etwa hinsichtlich der rechtfertigenden Pflichtenkollision und der allgemeinen rechtfertigenden Einwilligung gesagt, diese Fragen könnten Lehre und Rspr. überlassen bleiben (E 1962 Begr. § 39, S. 159; § 152, S. 286). Auch die positivrechtliche Regelung des entschuldigenden Notstands in § 35 ist nicht abschließend und steht der weiteren Anerkennung eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstands nicht entgegen (näher hierzu Rdn. 184, 200 ff). Der fragmentarische Charakter des Titels schließt allerdings nicht aus, daß dort Teilbereiche eine abschließende Vertypung gefunden haben (z. B. die Grunderfordernisse der Notwehr, die Differenzierung zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand, die subjektiven Merkmale der Notwehr und des Notstands). Näher zu dem im 4. Titel nicht aufgeführten, aber anderweitig geregelten oder sonst anerkannten Fällen unten Rdn. 70 ff.

II. Rechtfertigung A. Systematische Einordnung 1. Grundsätzliches Schrifttum Baumgarten Notstand und Notwehr (1911); Beling Die Lehre vom Verbrechen (1906); Bindokat Mehrerlei Unrecht? JZ 1958 553; Brauneck Unrecht als Betätigung antisozialer Gesinnung, H. Mayer-Festschr. (1966) S. 235; Comes Der rechtsfreie Raum (1976); Dingeldey Pflichtenkollision und rechtsfreier Raum, Jura 1979 478; Graf zu Dohna Die Rechtswidrigkeit als allgemeingültiges Merkmal im Tatbestande strafbarer Handlungen (1905); Dreher Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, Heinitz-Festschr. (1972) S. 207; Engisch Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht (1930); ders. Die Einheit der Rechtsordnung (1935); ders. Der rechtsfreie Raum, ZStaatsW 108 (1952) 385; ders. Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, DJT-Festschr. I (1960) S. 401 ; Finger Kritische Bemerkungen zur Lehre vom Tatbestand und der Rechtswidrigkeit, GerS 97 (1928) 385; H.A. Fischer Die Rechtswidrigkeit. Mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts (1911); Gallas Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen, ZStW 67 (1955) 1; ders. Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Bockelmann-Festschr. (1979) S. 155; v. Gemmingen Die Erfassung der Rechtswidrigkeit im System eines Willensstrafrechts, DStrR 1935 105 ; Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß (1983); Hardwig Unrecht und Ungerechtigkeit, Dreher-Festschr. (1977) S. 27; Harms Apriorität des Rechts und materielle Rechtswidrigkeit, StrafrAbh. 318 (1933); Heimberger Zur Lehre vom Ausschluß der Rechtswidrigkeit (1907); ders. Rechtmäßi(3)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

ges und rechtswidriges Handeln, VDA 4 1 ; Heinitz Das Problem der materiellen Rechtswidrigkeit, StrafrAbh. 211 (1926); ders. Zur Entwicklung der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit, Eb. Schmidt-Festschr. (1961) S. 266; Hirsch Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960); ders. Strafrecht und rechtsfreier Raum, Bockelmann-Festschr. (1979) S. 89; ders. Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre, ZStW 93 (1981) 831 u. 94 (1982) 239; Hold v. Ferneck Die Rechtswidrigkeit I (1903), II (1905); H.-R. Horn Untersuchungen zur Struktur der Rechtswidrigkeit (1962); Hruschka Der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils nach heutigem Strafrecht, GA 1980 1 ; Armin Kaufmann Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie (1954); ders. Tatbestandseinschränkung und Rechtfertigung, JZ 1955 37; ders. Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht, Welzel-Festschr. (1974) S. 393; Arthur Kaufmann Das Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts (1949); ders. Zur Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, JZ 1954 653 ; ders. Tatbestand, Rechtfertigungsgründe und Irrtum, JZ 1956 353, 393; ders. Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, Maurach-Festschr. (1972) S. 327; Kern Grade der Rechtswidrigkeit, ZStW 64 (1952) 255; Kraushaar Die Rechtswidrigkeit in teleologischer Sicht, GA 1965 1; Lampe Das personale Unrecht (1967); Lang-Hinrichsen Die irrtümliche Annahme eines Rechtfertigungsgrundes in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, JZ 1953 362; Lenckner Der rechtfertigende Notstand (1965); Maihofer Der Unrechtsvorwurf, Rittler-Festschr. (1957) S. 141; M. E. Mayer Rechtsnormen und Kulturnormen, StrafrAbh. 50 (1903); Mezger Wandlungen in der strafrechtlichen Tatbestandslehre, NJW 1953 2; Michaelowa Der Begriff der strafrechtswidrigen Handlung, StrafrAbh. n. F. 1 (1968); J. Minas-v. Savigny Negative Tatbestandsmerkmale, Annales Universit. Saraviensis 68 (1972); Münzberg Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung (1966); Νagier Der heutige Stand der Lehre von der Rechtswidrigkeit, Binding-Festschr. II (1911) S. 273; ders. Der Begriff der Rechtswidrigkeit, Frank-Festgabe I (1930) S. 339; Noll Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe (1955); ders. Tatbestand und Rechtswidrigkeit: Die Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung, ZStW 77 (1965) 1; Nowakowski Zur Lehre von der Rechtswidrigkeit, ZStW 63 (1951) 287; Oehler Das objektive Zweckmoment in der rechtswidrigen Handlung (1959); Otto Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeit (1978); Radbruch Zur Systematik der Verbrechenslehre, Frank-Festgabe I (1930) S. 158; Rödig Zur Problematik des Verbrechensaufbaus, Lange-Festschr. (1976) S. 39; Roxin Zur Kritik der finalen Handlungslehre, ZStW 74 (1962) 515; ders. Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Aufl. (1970); Sauer Tatbestand, Unrecht, Irrtum und Beweis, ZStW 69 (1957) 1 ; Sax „Tatbestand" und Rechtsgutsverletzung, JZ 1976 9, 80, 429; Schaffstein Putative Rechtfertigungsgründe und finale Handlungslehre, MDR 1951 196; ders. Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den Fahrlässigkeitsdelikten, Welzel-Festschr. (1974) S. 557; Schild Die strafrechtsdogmatischen Konsequenzen des rechtsfreien Raumes, JA 1978 449, 570, 631; Schmidhäuser Der Unrechtstatbestand, Engisch-Festschr. (1969) S. 433; Schweikert Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling (1957); Seebald Relative Rechtswidrigkeit und partiell straffreier Raum als Denkmodell zu § 218 StGB, GA 1974 336; Stooß Die Strafrechtswidrigkeit, ZStW 24 (1904) 319; Stratenwerth Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht, SchwZStr. 79 (1963) 233; v. Weber Negative Tatbestandsmerkmale, Mezger-Festschr. (1954) S. 183; Welzel Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939) 491 ; ders. Die Regelung von Vorsatz und Irrtum im Strafrecht als legislatorisches Problem, ZStW 67 (1955) 196; Zielinski Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff (1973). Weitere Schrifttumsnachweise zur Rechtswidrigkeit siehe bei Jescheck LK10 Vor § 13 vor Rdn. 38; außerdem siehe die Nachweise unten vor Rdn. 19 und vor Rdn. 34. a) Abstufung von Tatbestands- und Rechtfertigungsfrage 5

Tatbestandsmäßigkeit (darüber näher Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 41 ff) bedeutet für sich allein noch nicht, d a ß das Verhalten auch rechtswidrig ist. Vielmehr besteht die Möglichkeit, daß ein Rechtfertigungsgrund eingreift u n d deshalb die Rechtswidrigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens fehlt. Demgemäß ist nach der Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit als zweites allgemeines Deliktsmerkmal (4)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

zu prüfen. Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld sind die drei Elemente, die nach dem herrschenden dreistufigen Verbrechensaufbau ein Verhalten zum Delikt machen (RGSt. 61 242, 247; 66 397; BGHSt. 1 131 ; (GrS) 2 194; 9 370, 375f; 11 241; Beling Lehre vom Verbrechen S. 20ff, 145ff; BaumannS § 8 II 2a, § 15 I; Bockelmann AT3 §§ 9 f ; Dreher Heinitz-Festschr. S. 217ff; Dreher-Tröndle41 Vor § 1 Rdn. 2; Gallas ZStW 67 [1955] 19, 27; Bockelmann-Festschr. S. 169 f; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S.331; Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 3; AT3 §21 III [wobei er wegen des Handlungserfordernisses von einer ,viergliedrigen' Verbrechensdefinition spricht], § 25 III; Armin Kaufmann Normentheorie S. 158, 248; JZ 1955 37; Lackner 15 Vor § 13 Bern. III; Maurach-Zipfì § 14 I, § 24 I A; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor§ 13 Rdn. 12ff; Stratenwerthl Rdn. 176ff; Wekeln § 10, § 14 I; ZStW 67 [1955] 210ff; ZStW 76 [1964] 621 ff; auch Schmidhäuser AT2 9 / 1 ff; Engisch-Festschr. S. 433 und Jakobs 6/59, 11/1 ff unterscheiden zwischen Tatbestands· und Rechtfertigungsfrage. Während die Tatbestandsmäßigkeit besagt, daß der in einer Strafbestimmung 6 beschriebene Tatbestand, nämlich die begriffliche Umschreibung eines verbotsoder gebotswidrigen Verhaltens, objektiv und subjektiv verwirklicht ist, das Täterverhalten somit in Widerspruch zum einzelnen abstrakten Verbot resp. Gebot steht (deshalb Tatbestandsmäßigkeit = Normwidrigkeit), bedeutet die Rechtswidrigkeit: das Täterverhalten steht darüber hinaus in Widerspruch zur Rechtsordnung im ganzen und ist daher auch konkret pflichtwidrig. Denn den Verbots- und Gebotsnormen treten in bestimmten Fällen rechtliche Erlaubnissätze — seien sie dem StGB oder sonst der Rechtsordnung zu entnehmen — gegenüber, die ein tatbestandsmäßiges Verhalten (z. B. eine Körperverletzung) ausnahmsweise gestatten, d. h. Rechtfertigungsgründe (z. B. Notwehr). Sie verhindern, daß die einzelne abstrakte Norm zur konkreten Rechtspflicht wird. Greifen sie ein, bleibt das Verhalten also zwar tatbestandsmäßig, aber es ist nicht rechtswidrig. Die Abstufung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit ist dabei nicht im Sinne einer absoluten Trennung zu sehen. Es geht nicht darum, dem Tatbestand alles Tatsächliche, der Rechtswidrigkeit alles Normative zuzuordnen, wie man im Anschluß an die neukantische Antithese von Sein und Sollen gemeint hat (so noch Mezger LK.8 Vor § 51 Bern. III 9 a). Der Tatbestand hat nach heutigem Begriffsverständnis eine durchaus normative Funktion. Da er das verbotene Verhalten beschreibt, auf das sich die Strafdrohung bezieht (man spricht von „Verbotsmaterie" oder „Unrechtstypus"), und die Tatbestandsmäßigkeit somit angibt, daß die Merkmale des betreffenden generellen Verbots verwirklicht sind, handelt es sich um die erste Wertungsstufe im Unrechtsbereich. Vielfach ist deshalb auch vom unrechtsindizierenden Charakter des Tatbestands die Rede. Umgekehrt besteht die Rechtswidrigkeit inhaltlich nicht lediglich im Nichtvorliegen von Rechtfertigungsgründen. Vielmehr hängen alle Verbrechenselemente, weil Wertungsstufen, in der Weise miteinander zusammen, daß jedes spätere das frühere voraussetzt. Die Feststellung, daß ein Verhalten gegen die Rechtsordnung als ganze verstößt und deshalb konkret rechtspflichtwidrig, also rechtswidrig ist, ergibt sich aus der Tatbestandsmäßigkeit und der Verneinung der Rechtfertigungsfrage. Die Tatbestandsmäßigkeit bildet, weil Normwidrigkeit, überhaupt den Kern des Unrechtsbereichs, da es bei der Rechtfertigung nur noch um Ausnahmefälle geht, in denen ein tatbestandsmäßiges Verhalten nicht auch rechtswidrig ist. Indem bei der Rechtswidrigkeit die Bewertung über die Normwidrigkeit hinaus auf die Rechtspflichtwidrigkeit ausgedehnt wird, bildet sie ein positives Deliktserfordernis, wie anschließend auch die Schuld. Nur läßt sie sich, weil das Vorliegen (5)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

der Tatbestandsmäßigkeit bereits voraussetzend, als zweites Verbrechensmerkmal durch ein rein negatives Verfahren ermitteln : die Feststellung, daß kein Rechtfertigungsgrund eingreift. Näher zum vorhergehenden Welzel 11 § 10, § 14 I 1 u. 2; Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 38 ff; AT3 §31 I; Armin Kaufmann Normentheorie S. 138 ff, 248 ff; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 276 f, 309 f. Im einzelnen sind die Erklärungen des dreistufigen Verbrechensaufbaus im Schrifttum jedoch vielfältig, siehe dazu die Übersicht bei Schmidhäuser AT 2 9 / 6 ff. 7

Abw. findet sich in einem Teil des Schrifttums die Ansicht, daß die Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe negative Tatbestandsmerkmale seien (so A.Merkel Lb. [1889] S. 82; FrankVor § 51 Bern. III, § 59 Anm. III 2; Radbruch Frank-Festgabe I S. 164ff; Engisch Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 10 f; ZStW 70 [1958] 583 ff; DJT-Festschr. I S. 406 ff; Arthur Kaufmann Unrechtsbewußtsein S. 66 f, 170 f, 178 ff; JZ 1954 653; 1956 353, 393; ZStW 76 [1964] 564 ff; Lange J Ζ 1953 9; LangHinrichsen JZ 1953 362; Mezger LK8 Einleitung Bern. III, § 59 Anm. II 11; NJW 1953 6; Roxin Offene Tatbestände S. 121 ff, 173 ff; ZStW 74 [1962] 536ff; ZStW 80 [1968] 701 [hier ζ. T. modifizierend]; Samson SK4 Rdn. 9 f f ; Schaffstein M D R 1951 196; ZStW 72 [1960] 386ff; OLG Celle-Festschr. S. 185; Schröder M D R 1953 70; ZStW 65 [1953] 207; auch noch Sch.-SchröderV Vor § 1 Rdn. 6, § 59 Rdn. 21 f [aufgegeben von Sch.-Schröder-Lenckner2i Vor § 13 Rdn. 17]; außerdem v. Weber JZ 1951 260; Mezger-Festschr. S. 183). Durch die Einbeziehung der Rechtfertigungsfrage in den Tatbestand fallen danach Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit zusammen: sog. zweistufiger Verbrechensaufbau (Verbrechen als unrechtstatbestandsmäßiges und schuldhaftes Verhalten). Diese Theorie geht davon aus, daß jede Verbots- oder Gebotsnorm schon das Nichteingreifen von Rechtfertigungsgründen zur inhaltlichen Voraussetzung habe, ein gerechtfertigtes Verhalten also noch gar nicht die Merkmale eines normwidrigen Handelns oder Unterlassens erfülle. Die Unterscheidung von Tatbestandsmerkmalen und Rechtfertigungsgründen beruhe nicht auf einem sachlichen Prinzip, sondern sei nur aus gesetzestechnisch-stilistischen Erfordernissen zu erklären, weshalb Rechtfertigungsgründe jederzeit als Tatbestandsmerkmale geregelt werden könnten und umgekehrt. Diese Lehre, deren frühere Anläufe keine Bedeutung erlangt hatten, ist im Zusammenhang mit der Rspr. des BGH zum Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt (BGHSt. 3 105; 194; 271; 14 52; 22 223), der damit eine theoretische Grundlage gegeben werden soll, wiederbelebt worden. Sie hat sich aber auch jetzt nicht durchzusetzen vermocht.

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Kritik an der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen: Sie verkennt die materielle Funktion des von der Rechtfertigungsfrage abgestuften Tatbestandsbegriffs. Der Wertunterschied zwischen einem Verhalten, das schon nicht tatbestandsmäßig und daher strafrechtlich irrelevant ist, und einem Verhalten, das zwar tatbestandsmäßig, nämlich das geschützte Rechtsgut beeinträchtigend, aber ausnahmsweise gestattet ist, wird von ihr eingeebnet ( Welzel kritisiert deshalb : Die Tötung eines Menschen in Notwehr stellt sich für sie nicht anders dar als die Tötung einer Mücke; ZStW 67 [1955] 210f)· Die Rechtsordnung kennt eben nicht nur Verbote und Gebote, sondern sie enthält auch ausnahmsweise Gestattungen eines an sich normwidrigen Verhaltens: selbständige Erlaubnissätze. Da es sich um eine sachlich bedingte Verschiedenheit handelt, spielt die Gesetzestechnik keine Rolle. Ein Rechtfertigungsgrund bleibt vielmehr auch dann ein Rechtfertigungsgrund, wenn er mit in eine Strafbestimmung des Besonderen Teils aufgenommen worden ist, etwa wenn die Notwehr mit in § 212 geregelt wäre. Die rechtliche Bedeutung der (6)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Trennung von Tatbestand und Rechtfertigungsfrage zeigt sich gerade auch darin, daß ohne die Wertrelevanz des „positiven" Tatbestands gar kein Anlaß bestünde, danach zu fragen und zu prüfen, ob etwa ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Die dem Verhältnis von Tatbestand und Rechtfertigungsgründen innewohnende materielle Kollisionsproblematik tritt zudem deutlich bei den Rechtfertigungsmerkmalen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit zutage. Durch das Eingreifen des Rechtfertigungsgrundes wird das in der Normwidrigkeit zum Ausdruck kommende generelle Unwerturteil nicht wieder zurückgenommen oder eingeschränkt (etwa eine bloße Unrechtsvermutung widerlegt), es bleibt vielmehr dabei, daß eine rechtsgutsbeeinträchtigende und daher tatbestandsmäßige Handlung gegeben ist. Die Rechtfertigung schließt lediglich die Rechtswidrigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens aus. Dem läßt sich nicht entgegenhalten, daß es im Falle der Rechtfertigung am „Handlungsunwert" fehle; denn auch der Inhalt dieses Begriffs bestimmt sich nach den Maßstäben der Wertungsstufen des Delikts, so daß auch bei ihm zwischen nicht tatbestandsmäßigen und nur gerechtfertigten Handlungen abzustufen ist. Die Wertdifferenz spiegelt sich auch in der Wortfassung mehrerer Vorschriften des Gesetzes, z. B. in § 32 und § 34, wider: Wer eine durch Notwehr oder rechtf. Notstand gebotene „Tat begeht", handelt „nicht rechtswidrig" (weitere Gesetzesnachweise bei Dreher Heinitz-Festschr. S. 220 f). Im übrigen führt die Konstruktion negativer Tatbestandsmerkmale zu unhaltbaren Konsequenzen im Bereich der Teilnahme (Dreher aaO S. 222; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 326 ff). Überdies würde sich aus der Gleichstellung mit den „positiven" Tatbestandsmerkmalen ergeben, daß dann nach Art. 103 Abs. 2 GG für die Rechtfertigungsgründe dieselben Bestimmtheitsanforderungen zu gelten hätten. Schließlich ist jene Theorie auch gar nicht in der Lage, der herrschenden Irrtumslehre, nach der bei irriger Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts kein Vorsatzdelikt vorliegen soll (sog. eingeschränkte Schuldtheorie, vgl. die Rspr.-Nachw. Rdn. 7; Sch.-Schröder-Cramerl 1 § 16 Rdn. 13 b ff), eine tragfähige Begründung zu bieten. Denn solche Irrtumsfälle bilden erst ein Schuldproblem (BGH NJW 1981 2831, 2832), während sie auf der Grundlage der Konstruktion negativer Tatbestandsmerkmale bereits den — nach heute ganz h. L. (vgl. Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 40, 42 m. w. Nachw.) schon zum Unrechtstatbestand gehörenden — Tatbestandsvorsatz und damit das Unrecht der Vorsatztat ausschließen würden. Die überwiegende Auffassung innerhalb der eingeschränkten Schuldtheorie (einschl. der sog. rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie) will dem Wertungsunterschied zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsfrage deshalb dadurch Rechnung tragen, daß sie in jenen Irrtumsfällen nicht den Tatbestandsvorsatz, sondern erst eine auf die Rechtfertigungsgründe bezogene spezifische Vorsatzschuld der mit Tatbestandsvorsatz begangenen rechtswidrigen Tat verneint und daher § 16 lediglich analog anwendet (näher zu dieser „Vorsatzschuldtheorie": Jescheck LK 10 Vor § 13 Rdn. 75; AT3 § 24 III 5, § 39 IV 3, §41 III 2 m. w. Nachw.; dagegen für Verneinung schon des Vorsatzunrechts: Sch.-Schröder-Cramer2\ § 15 Rdn. 26, § 16 Rdn. 14 m. w. Nachw.). Die strenge Schuldtheorie (vgl. Schroeder LK10 § 16 Rdn. 47 ff, 52 m. w. Nachw. zieht darüber hinaus die Konsequenz, die fraglichen Irrtumsfälle überhaupt dem § 17 zuzuordnen. Näher zu diesen Fragen Hirsch ZStW 93 [1981] 257 ff m. Nachw. zum Streitstand). Im übrigen hat man ganz allgemein den Eindruck, daß der nur zweistufige Deliktsaufbau wohl von niemand in aller Konsequenz vertreten wird. Auch ist die Anhängerschaft der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen rückläufig (vgl. etwa früher Sch.-SchrödeAl Vor §1 Rdn. 6, §59 Rdn. 21 f, und demgegenüber die heutige Ablehnung bei Sch.Schröder-Lenckner2\ Vor § 13 Rdn. 17). (7)

Vor § 32 9

2. Abschnitt. Die Tat

Im einzelnen zur Kritik der Theorie von den negativen Tatbestandsmerkmalen : Welzel Lb. 11 § 10 III, § 14 I 1 ; ZStW 67 (1955) 208 ff; 76 (1964) 621 ff; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 220ff; Armin Kaufmann JZ 1955 37; Welzel-Festschr. S. 396ff; Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 44; AT3 § 25 III, § 31 I, § 41 III 2 a ; Dreher Heinitz-Festschr. S. 217ff; Bockelmann AT3 § 10; Jakobs 6/54ff. Teilweise wird vorgeschlagen, zwar von einem dreistufigen Deliktsaufbau auszugehen, aber Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung im Sinne eines wertungsmäßigen Plus-MinusVerhältnisses zu sehen (Erlaubnistatbestand als Gegentatbestand, der den Erfolgsund Handlungsunwert aufhebt); vgl. Stratenwerthl Rdn. 178f, 504; Sch.-Schröder2\ Vor § 13 Rdn. 16, 18, 60 (Lenckner), § 16 Rdn. 14 (Cramer) m. w. Nachw. Diese Auffassung führt jedoch zu der verfehlten — daher von der h. M. abgelehnten — Konsequenz, daß die irrige Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts bereits das WoTsatzunrecht ausschließt (hierzu Rdn. 8), und bleibt der Sache nach eben doch der Konstruktion negativer Tatbestandsmerkmale verhaftet.

b) Rechtfertigung und Gesamtrechtsordnung 10

Die Rechtswidrigkeit drückt den Widerspruch zur Rechtsordnung im ganzen aus, so daß ihre Feststellung allgemein und schlechthin gilt. Das Recht bildet eine in sich geschlossene Einheit ( Η . Α. Fischer Rechtswidrigkeit S. 115; Engisch Einheit der Rechtsordnung S. 57 f, passim). Es gibt keine besondere Strafrechtswidrigkeit, nach der ein tatbestandsmäßiges Verhalten innerhalb des Strafrechts rechtswidrig, außerhalb dagegen rechtmäßig wäre, und umgekehrt (vgl. RGSt. 61 242, 247 ; BGHSt. 11 241, 244; Engisch aaO S. 55ff; Kern ZStW 64 [1952] 262; Jescheck AT3 § 31 III 1; Maurach-Zip/6 § 25 IV; Samson SK4 Rdn. 19; Wekeln § 10 II 3; im Grundsatz auch Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 27). Deshalb finden die Rechtfertigungsgründe unabhängig davon Anwendung, an welcher Stelle der Rechtsordnung sie geregelt sind, und jede eingreifende Rechtfertigung steht der Rechtswidrigkeit hinsichtlich der gesamten Rechtsordnung entgegen. Es ist auch nicht möglich, daß ein Verhalten nur unter strafrechtlichem Blickwinkel gerechtfertigt, in bezug auf ein anderes Rechtsgebiet dagegen unzulässig ist. Die Differenzierung zwischen dem Strafrecht und anderen Rechtsgebieten erfolgt vielmehr auf der Tatbestandsebene, ohne daß indes deshalb die einzelnen Verbots- und Gebotsnormen, die den Straftatbeständen zugrunde liegen, als rein strafrechtlich zu klassifizieren wären. Unterschiedlich nach Rechtsgebieten sind nur die Rechtsfolgen (Schadensersatz, Strafe usw.) und die Auswahl der Normverstöße, an welche die jeweilige Rechtsfolge anknüpfen soll. Im Strafrecht tritt das besonders deutlich hervor, da die meisten der von ihm mit Strafdrohungen bewehrten Rechtsnormen bereits umfassend an anderen Stellen der Rechtsordnung auftauchen, insbesondere in § 823 BGB. Es geht im Strafrecht darum, daß aus dem Kreis der allgemein geltenden rechtlichen Verbote und Gebote einige ganz oder teilweise durch Strafandrohung besonders gesichert werden. Man kann daher hinsichtlich des pönalisierten Verhaltens lediglich von strafbedrohtem (strafrechtlich relevantem) Unrecht sprechen. In den Fällen, bei denen das Strafrecht nicht schon jede verbotswidrige Verletzung eines bestimmten Rechtsguts erfaßt, sondern sich auf eine Auswahl von Verletzungen beschränkt (ζ. B. nur auf einige Besitzstörungen), ergibt sich daraus, daß das Verhalten zwar rechtswidrig in bezug auf die umfassende Rechtsnorm sein kann, aber strafrechtlich von vornherein nicht ins Blickfeld tritt, weil es nicht unter die mit strafrechtlichen Rechtsfolgen bedrohten, also tatbestandlich relevanten Normverstöße fällt. Ist dagegen ein Verhalten tatbestandsmäßig, so geht es bei der anschließenden Rechtfer(8)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

tigungsprüfung immer ausschließlich um die Frage, ob ein Erlaubnissatz etwa das normwidrige Verhalten ausnahmsweise mit der Gesamtrechtsordnung für vereinbar erklärt. Abw. wird die Auffassung vertreten, daß ein tatbestandsmäßiges Verhalten nicht strafrechtswidrig, im übrigen aber rechtswidrig sein könne (vgl. Günther Strafrechtswidrigkeit S. 247 f, 257 ff, 394 ff, m. w. Nachw. S. 274 ff; wohl auch Jakobs 11/ 5f)· Es gebe neben allgemeinen Unrechtsausschließungsgründen (Rechtfertigungsgründen), die ein straftatbestandsmäßiges Verhalten für die gesamte Rechtsordnung als rechtmäßig ausweisen, auch „genuin strafrechtliche echte Strafunrechtsausschließungsgründe". Sie regelten, unter welchen Voraussetzungen das Strafrecht auf seine strafrechtsspezifische, gesteigerte Mißbilligung der Tat ausnahmsweise verzichte. Beispiele seien u. a. §§ 193, 218 a, 240 Abs. 2, 253 Abs. 2, Einwilligung, mutmaßliche Einwilligung, Züchtigungsrecht, Nötigungsnotstand (Günther aaO S. 310 ff, 395). Betrachtet man jedoch die angeführten Fälle, so bieten sie keine Veranlassung, vom herrschenden Prinzip der Einheit der Rechtsordnung abzuweichen. Teils geht es um allgemeine Unrechtsausschließungsgründe (§§ 193, 218 a, anerkanntes Züchtigungsrecht, Einwilligung, mutmaßliche Einwilligung), teils um Fragen der Tatbestandsbildung (§§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2), teils um Probleme der Zuordnung zum allgemeinen Unrechtsausschluß oder zur Entschuldigung (so bei den Fällen des Nötigungsnotstands). Indem jene Lehrmeinung auf der Ebene des Unrechtsausschlusses den Gesichtspunkt der Sira/würdigkeit einführt (Günther aaO S. 259, 395), bringt sie das Deliktsmerkmal „Rechtswidrigkeit" um eine eigenständige, nämlich den Verstoß gegen die Gesamtrechtsordnung angebende, Funktion und droht damit die Grenzen zwischen Unrechtsausschluß einerseits und Entschuldigung und persönlicher Strafausschließung andererseits zu verwischen. Ungenau ist es, wenn die Begriffe Rechtswidrigkeit und Unrecht gleichbedeutend 11 verwendet werden (so etwa von Mezger LK.8 Einleitung Bern. III 1, Vor § 51 Bern. 9). Während die Rechtswidrigkeit lediglich den Widerspruch zur Rechtsordnung angibt (ein Verhalten ist rechtswidrig oder nicht rechtswidrig), bedeutet das Unrecht etwas Substantielles, nämlich das als rechtswidrig gewertete Verhalten selbst. Es gibt deshalb zwar keine verschiedenen Grade der Rechtswidrigkeit (eine Tat kann nicht mehr oder weniger rechtswidrig sein), wohl aber — je nach dem Maße des Rechtsgutsangriffs — Unrecht von größerem oder geringerem Gewicht (vgl. WelzelU § 10 II 3; BaumannS § 19 I; Bockelmann AT3 § 12 A IV; Armin Kaufmann Normentheorie S. 147 f; Arthur Kaufmann ZStW 76 [1964] 543, 553; Jescheck AT3 § 24 I 1; Engisch DJT-Festschr. I S.402; Kern ZStW 64 [1952] 255; Krümpelmann Bagatelldelikte [1966] S. 27 ff; Lenckner Notstand [1965] S. 32 ff; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor § 13 Rdn. 53). Außerdem ist der Unterschied zwischen Verhaltens- (Handlungs- oder Unterlassungs-) und Erfolgsunrecht zu beachten. Bei ersterem geht es um die einem Verbot oder Gebot zuwiderlaufende Handlung bzw. Unterlassung, bei letzterem um einen der Rechtsordnung widersprechenden objektiven Zustand. Das strafrechtlich relevante Unrecht knüpft funktionsgemäß stets an das Verhaltensunrecht an. Das Erfolgsunrecht ist beim vorsätzlichen Erfolgsdelikt ein unselbständiges Element des Verhaltensunrechts, beim fahrlässigen Erfolgsdelikt ein zum primären Verhaltensunrecht hinzutretendes zweites Erfordernis (näher WelzelU § 11 II 2; Hirsch ZStW 94 [1982] 240ff m. Nachw. zum Meinungsstand). Möglich ist aber auch Verhaltensunrecht ohne gleichzeitiges Erfolgsunrecht (z. B. beim Versuch) und — strafrechtlich irrelevant — reines Erfolgsunrecht. Die Rechtfertigungsfrage bezieht sich auf das Verhaltensunrecht. Deshalb ist es möglich, daß eine üble Nachrede (§ 186) gemäß § 193 gerechtfertigt ist, durch (9)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

diese aber, wie sich später klärt, objektiv die Unwahrheit gesagt und daher — zivilrechtlich für die quasinegatorische Unterlassungsklage bedeutsam — ein ehrverletzender Zustand entstanden ist (vgl. Münzberg Verhalten und Erfolg S. 377, 394, 417; Hirsch Dreher-Festschr. S. 231). Praktische Bedeutung hat die Frage der Einheit der Rechtsordnung vor allem für die Notwehr (Rechtswidrigkeit des Angriffs), aber auch für die Irrtumslehre: Beachtlich ist nur der Irrtum über das Unrecht der mit Strafe bedrohten Tat, nicht aber der Irrtum über die Strafbarkeit. c) Rechtfertigung und Unterscheidung von formeller und materieller Rechtswidrigkeit 12 Im Schrifttum wird teilweise zwischen formeller Rechtswidrigkeit — als dem Verstoß gegen das positivrechtlich Gesollte — und materieller Rechtswidrigkeit unterschieden, wobei letztere der ersteren übergeordnet und deshalb ein Verhalten trotz formeller Rechtswidrigkeit gerechtfertigt sein soll, weil es an der materiellen Rechtswidrigkeit fehle (v. Liszt 12/13 S. 140f; Graf Dohna Rechtswidrigkeit S. 38ff; Heinitz StrafrAbh. 211 [1926] 118; Eb. Schmidt-Festschr. S. 285 ff), „wegen Sozialschädlichkeit und Sittenwidrigkeit mit dem rechtlich geordneten Zusammenleben in unerträglichem Widerspruch stehend" (Kohlrausch-Lange Syst. Vorbem. III 2), als „unerträgliche Verletzung der Gemeinschaftsordnung" (Jescheck AT 3 § 24 I 2) oder gegen die „Sozialethik" verstoßend (Nagler GerS 111 [1938] 41, 80; siehe aber auch ders. Frank-Festgabe I S. 339, 343 ff; Mezger LK» Vor § 51 Bern. 9f)· Als Gesichtspunkte einer aus dem Gedanken der materiellen Rechtswidrigkeit abgeleiteten überpositiven Rechtfertigung finden sich u.a.: das Prinzip „angemessenes Mittel zum richtigen Zweck" (v. Liszt-Schmidt § 32 Β II), der Grundsatz „des mangelnden und des überwiegenden Interesses" (Mezger Lb. § 27), der „Mehr-Nutzen-als-Schaden"-Grundsatz (Sauer AT § 13 I 3 f; ZStW 33 [1912] 785, 794) und das „Rechtsgefühl, daß die der Strafrechtsnorm zugrunde liegenden Zwecke und Wertvorstellungen hinter anderen berechtigten Interessen, denen die Handlung diente, zurücktreten müssen" (Jescheck AT 3 § 24 I 3 b). 13

Gegenüber dem Begriffspaar erheben sich Bedenken, es kann zudem als überflüssig und überholt gelten (krit. insbesondere Hafter AT § 18 I; Kern ZStW 64 [1952] 255; Bockelmann AT3 § 15 A III; Maurach-Zipf6 § 24 III 2; Sch.-SchröderLenckner2\ Vor § 13 Rdn. 52). Die im Mittelpunkt stehende Frage, nach welchen Maßstäben die Rechtsprechung den Katalog der gesetzlichen Rechtfertigungsgründe ergänzen kann, ist entschärft, seit der übergesetzliche rechtfertigende Notstand zum Gewohnheitsrecht erstarkte, zusätzlich, seit er in § 34 gesetzlich geregelt worden ist. Auch ist jene Antithese schon im Ansatz abzulehnen, da es nur einen einheitlichen Begriff der Rechtswidrigkeit gibt. Entweder verstößt ein Verhalten gegen das geltende Recht oder nicht. Und was das Ausfüllen von Lücken des Rechtfertigungskatalogs angeht, unterliegt das Strafrecht den allgemeinen Regeln der juristischen Hermeneutik. Der Strafrichter ist dort, wo er, weil es sich um Strafeinschränkung handelt, zur Lückenausfüllung berufen ist, methodisch nicht freier gestellt als ein Richter in anderen Rechtsgebieten. Soweit Rechtfertigungsgründe über die gesetzlich geregelten Fälle hinaus bejaht werden sollen, muß das deshalb durch zulässige Analogie oder sonstige vom geltenden Recht ausgehende, anerkannte hermeneutische Verfahrensweisen gedeckt sein (was auf Grund von Rechtsanalogie beim übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand der Fall war). Zur Gefahr, sich auf dem Wege über die materielle Rechtswidrigkeit aus der Bindung an das gel(10)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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tende Recht zu lösen, siehe auch die Kritik von Jescheck AT3 § 24 I 3 b an Tie dentanti JZ 1969 721 f, 726. Im übrigen zu diesen Fragen noch Rdn. 34, 47 f. Soweit der Unterscheidung von formeller und materieller Rechtswidrigkeit au- 14 ßerhalb der Rechtfertigungsproblematik Bedeutung zugemessen wird (vgl. insbesondere Jescheck LK.10 Vor § 13 Rdn. 38; AT3 § 2 4 I 3 a m. Nachw.), erscheint sie ebenfalls ungenau und überflüssig. Denn teils handelt es sich um Fragen, die in die schon der formellen Rechtswidrigkeit vorgelagerte Rubrik der (restriktiven) teleologischen Auslegung der Tatbestände gehören, teils geht es, nämlich bei der Abstufung der Schwere des Rechtsverstoßes, um den Unterschied von Rechtswidrigkeit und (graduierbarem) Unrecht (Rdn. 11). Teilweise wird dem Begriffspaar auch eine von der herkömmlichen Sinngebung 15 abweichende Bedeutung beigemessen (so bei Baumann$ § 19; Maurach-Zipf6 § 24 III 2 [ausführlicher noch 5. Aufl. ebendort]). Formell rechtswidrig sei ein Verhalten, wenn es den Tatbestand erfüllt, materiell rechtswidrig, wenn es nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. Indes, zum einen drückt die Tatbestandsmäßigkeit ganz unabhängig von der Rechtfertigungsfrage materiell eine erste negative Bewertung aus, nämlich daß die Handlung ein tatbestandlich geschütztes Rechtsgut beeinträchtigt (Rdn. 8), zum anderen kann von einer Rechtswidrigkeit im formellen Sinne nicht gesprochen werden, ohne daß das NichtVorliegen von Rechtfertigungsgründen, d. h. die Voraussetzung jeder Rechtswidrigkeit, feststeht. Daher ist auch dieser Sprachgebrauch als mißverständlich abzulehnen (wie hier Bockelmann AT3 § 15; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor § 13 Rdn. 52).

d) Rechtfertigung, rechtsfreier Raum und Frage schlichten Unrechtsausschlusses Tatbestandsmäßiges Verhalten ist nach herrschender Auffassung entweder 16 rechtswidrig oder gerechtfertigt (Baumann% § 19 II 2 a ; Jescheck AT3 § 31 VI 2; Maurach-Zipfì § 24 III 1 ; Sch.-Schröder-Lenckner21 Rdn. 8). Eine Reihe von Autoren bejaht als dritte Möglichkeit, daß eine Tatbestandsverwirklichung lediglich „unverboten" und deshalb aus diesem Grunde als nicht rechtswidrig einzustufen sei. Man beruft sich dabei zumeist ausdrücklich auf die Lehre vom rechtsfreien Raum (so bereits Binding Handb. I S. 765 f; Nagler Frank-Festgabe I S. 341; H. Mayer AT S. 191 ; neuerdings eingehend Arthur Kaufmann Maurach-Festschr. S. 327; JuS 1978 366; Comes Rechtsfreier Raum S. 94 ff; ferner Dingeldey Jura 1979 482; Schild JA 1978 449, 570, 631); im Ergebnis stimmen damit auch die Anhänger der „Neutralitätslehre" überein (vgl. Beling Lehre vom Verbrechen, S. 168; Grundriß 11 [1930] S. 14f; Baumgarten Notstand S. 30; Mezger LK8 Vor § 51 Bern. 10 1 [S. 353]; Kern ZStW 64 [1952] 257; Blei AT 18 § 63 II; Otto Pflichtenkollision S. 108, 122ff). Zur Begründung wird angeführt, daß es Konfliktlagen gebe, in denen eine Bewertung des Verhaltens als rechtswidrig oder gerechtfertigt von Rechts wegen nicht getroffen werden könne und eine Einordnung als „nur entschuldigt" nicht sachgemäß wäre. Hierzu zählten jene „rechtlich wie auch menschlich problematischen" Lebenssachverhalte, in denen „gleichwertige oder rational nicht bewertbare Güter bzw. Pflichten miteinander kollidieren", wobei heute nicht nur Fälle, welche die h. M. dem entschuldigenden Notstand oder der Pflichtenkollision zuordnet, sondern auch und gerade der sonst als Rechtfertigungsfrage betrachtete indizierte Schwangerschaftsabbruch genannt werden (vgl. Arthur Kaufmann MaurachFestschr. S. 338 ff). Mangels rational einsichtiger, allgemeinverbindlicher Entscheidungskriterien ziehe die Rechtsordnung in solchen Fällen ihre Normen zurück und (11)

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2. Abschnitt. Die Tat

verzichte auf eine Wertung. Es fehle insofern sowohl an einem Verbot als auch an einer Erlaubnis, vielmehr bleibe ein rechtsfreier R a u m , in d e m es der freien sittlichen, allein vor d e m eigenen Gewissen zu verantwortenden Entscheidung des einzelnen überlassen sei, was er zu tun habe. 17

Diese deliktsrechtliche Version der Lehre vom rechtsfreien R a u m ist nicht haltbar. Der G e d a n k e des rechtsfreien Raumes ist entwickelt worden mit dem Blick auf Lebensbereiche, die — wie m a n meint — das Recht von vornherein, weil einer rechtlichen Regelung nicht zugänglich oder bedürftig, als „tatbestandsfreien" oder „rechtssatzfreien" R a u m ungeregelt läßt (vgl. Bergbohm, Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie I [1892] S. 375 ff, 386 A n m . ; Lorenz M e t h o d e n l e h r e 4 S. 355 0 · Als Beispiele werden g e n a n n t : Liebe, Freundschaft, Erholung, Vergnügen sowie Religion u n d Kunst (vgl. Engisch ZStaatsW 108 [1952] 389, 409 f). Eine A u s d e h n u n g auf deliktsrechtliche Konfliktfälle ist nicht möglich. Die A n n a h m e , d a ß sich die Rechtso r d n u n g hier jeder Bewertung enthalte, ist schon deshalb verfehlt, weil tatbestandsmäßiges Verhalten gegen ein Rechtsgut gerichtet ist. W e n n die Rechtsordnung ein G u t unter ihren generellen Schutz g e n o m m e n hat — durch die Aufstellung der hinter d e m Tatbestand stehenden generellen N o r m —, ist es in den rechtlich erfaßten Bereich getreten, u n d es bedarf n u n einer ausnahmsweisen rechtlichen Gestattung (Eingriffsbefugnis), wenn die rechtlich grundsätzlich negativ beurteilte u n d deshalb normalerweise rechtswidrige H a n d l u n g ausnahmsweise nicht rechtswidrig sein soll. Infolgedessen läßt sich nicht d a v o n sprechen, d a ß hier eine R ü c k n a h m e der rechtlichen Wertung zugunsten des rechtsfreien R a u m e s erfolge. I n d e m vielmehr die Ausn a h m e an das Vorliegen einer Rechtsgutsverletzung, d. h. eine dem generellen N o r m b e f e h l unterfallende H a n d l u n g g e k n ü p f t ist, bleibt sie dem rechtlichen Regelungsbereich verhaftet. U n d eben weil in den fraglichen Fällen ein rechtlich grundsätzlich negativ beurteiltes Verhalten nicht als rechtswidrig eingestuft wird, m u ß eine rechtliche Bewertung der betreffenden Konfliktlage tatsächlich stattgefunden haben, damit die A u s n a h m e u n d der Übergang von der normalerweise sich ergeb e n d e n Rechtswidrigkeit zu deren Fehlen erklärt werden kann. Es geht also dort, wo die Rechtswidrigkeit eines tatbestandsmäßigen Verhaltens verneint wird, um nichts anderes als „weitere Akte einer rechtlichen Regelung" (Lenckner N o t s t a n d S. 20). Im übrigen wird bei der deliktsrechtlichen Heranziehung der Lehre vom rechtsfreien R a u m übersehen, d a ß gerade deshalb, weil das H a n d e l n gegen ein Rechtsgut gerichtet ist, die Rechtsordnung sich nicht einfach zurückziehen k a n n , sondern eine Entscheidung der Konfliktlage treffen m u ß . So m u ß beim indizierten Schwangerschaftsabbruch rechtlich entschieden werden, innerhalb welcher Grenzen Eingriffe in das Rechtsgut gestattet sein sollen. Sonst würde eine f ü r Schwangere u n d Ärzte untragbare „Rechtslage" entstehen, die dem Bestreben des Gesetzgebers, den Schwangerschaftsabbruch in den in § 2 1 8 a StGB anerkannten Indikationsfällen zu ermöglichen, widerspräche. Andererseits läuft in den Fällen, in denen die h. M. einen n u r entschuldigenden Notstand bejaht, die unter Berufung auf einen rechtsfreien R a u m erfolgende Verneinung der Rechtswidrigkeit darauf hinaus, d a ß m a n den Betroffenen hier hinsichtlich seines Lebens u n d seiner Gesundheit — den insbesondere in Betracht k o m m e n d e n Rechtsgütern — rechtlich schutzlos stellen u n d ihm damit das Notwehrrecht abschneiden würde. Die heutigen Bemühungen, dem Gesetzgeber u n d der Rspr. mit Hilfe der Lehre vom rechtsfreien R a u m ein Alibi zu liefern, sich bei schwierigen u n d umstrittenen Kollisionsproblemen aus der Verantwortung herauszuhalten, übersehen daher auch die der Rechtsordnung aufgegebene Schutzfunktion (Hirsch Bockelmann-Festschr. S. 106 ff, 115). (12)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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Die Anhänger der deliktsrechtlichen Lehre vom rechtsfreien Raum resp. „Neu- 18 tralitätstheorie" verkennen außerdem, daß es keinen Unterschied zwischen Rechtfertigung und bloßem Unrechtsausschluß gibt. Sie sind der Meinung, daß die Begriffe „Rechtfertigung" und „Erlaubnis" nur in dem Sinne zu verstehen seien, daß die Rechtsordnung eine positive Bewertung des Handelns vornehme, während sie sich beim „einfachen" Unrechtsausschluß neutral verhalte (Beling Lehre vom Verbrechen S. 168; Mezger LK8 Vor § 51 Bern. 10 1 [S. 353]; Kern ZStW 64 [1952] 257; Arthur Kaufmann Maurach-Festschr. S. 335, 336, 341 f)· Durch diese Differenzierung werden jedoch die Begriffe „Rechtfertigung" und „Erlaubnis" inhaltlich überfrachtet. Es geht bei ihnen nur darum, daß eine rechtsgutsverletzende (tatbestandsmäßige) Handlung wegen des Vorliegens eines von der Rechtsordnung respektierten Ausnahmegrundes als nicht rechtswidrig eingestuft, eben dem Makel des ihr sonst anhaftenden Unrechts entzogen wird (vgl. Lenckner Notstand S. 22 f; Gimbernat Ordeig Welzel-Festschr. S. 495 f; Hirsch Bockelmann-Festschr. S. 100). Deshalb bedeutet beispielsweise die Rechtfertigung (Erlaubnis) einer in erforderlicher Notwehr begangenen Tötung nicht, daß der Notwehrtäter einen rechtlich erwünschten Erfolg oder eine positiv zu wertende Handlung vorgenommen habe. Wenn in der Praxis Notwehrfälle auftauchen, tritt das auch regelmäßig deutlich zutage. Da das Recht „nicht mehr sein will als eine Ordnung sozialer Beziehungen, genügt für die rechtliche Bewertung die Feststellung, daß das fragliche Verhalten dieser Ordnung nicht zuwiderläuft" {Lenckner aaO). Für eine Unterscheidung von Rechtfertigungsund „einfachen" Unrechtsausschließungsgründen bestehen also weder qualitative noch quantitative Gesichtspunkte; Rechtfertigung und Unrechtsausschluß bezeichnen ein und dasselbe. Im einzelnen zur Kritik der deliktsrechtlichen Version der Lehre vom rechtsfreien Raum und der Differenzierung von Rechtfertigung und bloßem Unrechtsausschluß: Hirsch Bockelmann-Festschr. S. 89 ff; Lenckner Notstand S. 18 ff; Jakobs 13/3 m. w. Nachw. 2. Einzelfragen der Abgrenzung fehlender Rechtswidrigkeit und schon fehlender Tatbestandsmäßigkeit Schrifttum Baumann Die Rechtswidrigkeit der fahrlässigen Handlung (Bemerkungen zur Sozialadäquanz und zur Plenarentscheidung des BGH v. 4. 3. 57), M D R 1957 646; Bergmann Das Unrecht der Nötigung (§ 240 StGB), StrafrAbh. n. F. 49 (1983); Binavince Die vier Momente der Fahrlässigkeitsdelikte (1969); Dreher Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, HeinitzFestschr. (1972) S. 208; ders. Die Sphinx des § 113 Abs. 3, 4 StGB, Schröder-Gedächtnisschr. (1978) S. 359; Engisch Die normativen Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, Mezger-Festschr. (1954) S. 127; ders. Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, DJT-Festschr. I (1960) S. 401 ; Gallas Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen, ZStW 67 (1955) 1; Geppert Rechtfertigende Einwilligung des verletzten Mitfahrers bei Fahrlässigkeitsstraftaten im Straßenverkehr?, ZStW 83 (1971) 947; Hansen Die tatbestandliche Erfassung von Nötigungsunrecht (1972); Hirsch Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960); ders. Soziale Adäquanz und Unrechtslehre, ZStW 74 (1962) 78; ders. Zur Reform der Reform des Widerstandsparagraphen (§ 113 StGB), Klug-Festschr. II (1983) S. 235; Jakobs Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt (1972); Armin Kaufmann Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie (1954); ders. Das fahrlässige Delikt, ZfRV 1964 41; ders. Rechtspflichtbegründung und Tatbestandseinschränkung, Klug-Festschr. II (1983) S. 277; Kienapfel Körperliche Züchtigung und soziale Adäquanz im Strafrecht (1961); ders. Das erlaubte Risiko im Strafrecht (1966); Klug Sozialkongruenz und Sozialadäquanz im Strafrechtssystem, Eb. Schmidt-Festschr. (1961) S. 249; Krauß Erfolgsunwert und Handlungsunwert im Unrecht, ZStW 76 (1964) 19; (13)

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Kunert Die normativen Merkmale der strafrechtlichen Tatbestände (1958); Lang-Hinrichsen Tatbestandslehre und Verbotsirrtum, JR 1952 302; Lenckner Technische Normen und Fahrlässigkeit, Engisch-Festschr. (1969) S. 490; Naucke Straftatsystem und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 3 u. 4 StGB), Dreher-Festschr. (1977) S. 459; Oehler Die erlaubte Gefahrsetzung und die Fahrlässigkeit, Eb. Schmidt-Festschr. (1961) S. 232; Peters Sozialadäquanz und Legalitätsprinzip, Welzel-Festschr. (1974) S. 415; Preuß Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht (1974); Rehberg Zur Lehre vom „erlaubten Risiko" (1962); Roeder Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969); Roxin Verwerflichkeit und Sittenwidrigkeit als unrechtsbegründende Merkmale im Strafrecht, JuS 1964 373 ; ders. Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Aufl. (1970); ders. Literaturbericht, ZStW 82 (1970) 675; ders. Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. (1973); ders. Bemerkungen zur sozialen Adäquanz im Strafrecht, Klug-Festschr. II (1983) S. 303; Sax „Tatbestand" und Rechtsgutsverletzung, JZ 1976 9, 80, 429; Schaffstein Soziale Adäquanz und Tatbestandslehre, ZStW 72 (1960) 369; ders. Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum, OLG Celle-Festschr. (1961) S. 175; Hilde Vianden-Grüter (Hilde Kaufmann) Der Irrtum über die Voraussetzungen, die für § 240 II StGB beachtlich sind, GA 1954 359; v. Weber Negative Tatbestandsmerkmale, MezgerFestschr. (1954) S. 183 ; Welzel Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939) 491 ; ders. Der Irrtum über die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung, JZ 1952 19; ders. Der Irrtum über die Zuständigkeit einer Behörde, JZ 1952 133; ders. Anm. zu BGH JZ 1953 117, JZ 1953 119; ders. Die Regelung von Vorsatz und Irrtum im Strafrecht als legislatorisches Problem, ZStW 67 (1952) 196; ders. Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte (1961); Wimmer Ambivalenz der verkehrsrichtigen Gefahrhandlung, ZStW 75 (1963) 420; Würtenberger Vom Rechtsstaatsgedanken in der Lehre der strafrechtlichen Rechtswidrigkeit, Rittler-Festschr. (1957) S. 125; Zipf Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten im Strafrecht, ZStW 82 (1970) 633; ders. Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht (1970). Siehe außerdem das Schrifttum vor Rdn. 5 und bei Jescheck LK.10 Vor § 13 vor Rdn. 38.

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a) Sog. Rechtswidrigkeitsregeln finden sich in § 240 Abs. 2 (hierauf bezugnehmend §§ 105,106, 108) und § 253 Abs. 2. Es geht um Delikte, bei denen sich der Gesetzgeber außerstande sah, die verbotenen Handlungen ausreichend durch Tatumstände zu vertypen. Er hat die gesetzlichen Handlungsbeschreibungen (Abs. 1 der Vorschriften) deshalb zu weit formuliert (vgl. etwa H. Mayer Mat. 1 267 ff; Welzel 11 § 14 I 2b; Roxin JuS 1964 373). Ganz besonders gilt das für die Nötigung, wo die in § 240 Abs. 1 angeführten Tatumstände zahlreiche alltäglichste Verhaltensweisen umfassen, die unmöglich Gegenstand eines Verbots sein können; in gewissem Grade hat das aber auch für die Erpressung zu gelten (Zusammenstellung von Fällen Niederschriften 6 276 ff; Welzel11 § 55 III). Um eine Limitierung zu erreichen, wurden die Generalklauseln („Rechtswidrigkeitsregeln") der zweiten Absätze geschaffen, nach denen der Richter die Verwerflichkeit (des Einsatzes des Zwangsmittels zu dem angestrebten Zweck) und damit die Rechtswidrigkeit der Tat feststellen soll. Die Rspr. und ein Teil des Schrifttums sehen die Tatbestandsmäßigkeit bereits als gegeben an, wenn die im Gesetz (Abs. 1) aufgeführten Tatumstände objektiv und subjektiv verwirklicht sind ; die in Abs. 2 genannten Erfordernisse sollen dagegen nicht mehr die Frage der Tatbestandsverwirklichung, sondern allein die der Rechtswidrigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens betreffen (BGHSt. 2 194, 195f; BaumannS § 19 III 2; Busch Mezger-Festschr. S. 180; Schäfer LK9 §240 Rdn. 57; Schmidhäuser AT2 9/11; Welzein § 14 I 2 b, § 43 I 3 [anders § 55 III bzgl. § 253]; Bergmann Unrecht der Nötigung S. 171 ff, 176). Sieht man von der nicht haltbaren Ansicht Schmidhäusers und Bergmanns (dazu auch Rdn. 22 a. E.) ab, daß die gesetzlichen Tatumstände des § 240 Abs. 1 schon einen „unrechtsbegründenden" Tatbestand ergäben, so lautet die Begründung: es handele sich um „offene Tatbestände", denen ein sachliches Leitbild für eine richterliche Tatbestandsergän(14)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

zung fehle, so daß hier von einem nicht unrechtsindizierenden Tatbestand ausgegangen werden müsse (vgl. Welze! U § 14 I 2b). Gegen diese Verkürzung der Tatbestandserfordernisse wendet sich zu Recht, frei- 20 lieh mit unterschiedlichen Lösungsvorstellungen, die h. L.: Engisch DJT-Festschr. I S.411f; Gallas ZStW 67 (1955) 24f; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 289 ff; ZStW 74 (1962) 117 ff; Jakobs 6/61 ff; Jescheck AT3 § 25 I 2 u. II ; LK10 Vor § 13 Rdn. 43; Hilde Kaufmann G A 1954 362; Kohlrausch-Lange §240 Anm. V; LangHinrichsen JR 1952 304f; Roxin Offene Tatbestände S. 154; ZStW 82 (1970) 682f; Samson SK4 Rdn. 17f; Sch.-Schröder21 Vor § 13 Rdn. 66 (Lenckner), § 240 Rdn. 16 (Eser); Stratenwerthl Rdn. 353 ff; Z/>/ZStW 82 (1970) 653 ; Maurach-Zipfì § 24 Β 2. Mit der materiellen Abstufungstheorie ist auf der Grundlage der herrschenden, 21 die Tatbestandsmäßigkeit von der Rechtswidrigkeit abstufenden Tatbestandslehre (Rdn. 5 0 gegen „offene Tatbestände" einzuwenden : Wenn die Funktion des Tatbestandsbegriffs darin besteht, das generell verbotene Verhalten anzugeben, so läßt sich der Tatbestand stets nur als „geschlossener" denken, weshalb die Rechtswidrigkeit von keiner anderen Voraussetzung als der Entscheidung der Rechtfertigungsfrage mehr abhängig sein darf. Nur dann hat die Tatbestandsmäßigkeit die Funktion einer ersten Wertungsstufe des Delikts, und es wird vermieden, daß sich aus einer nur gesetzestechnischen Frage sachliche Konsequenzen für den Umfang des Vorsatzes, des Versuchs usw. ergeben. Es geht hier vielmehr ebenso wie bei sonstigen „ergänzungsbedürftigen" gesetzlichen Tatbestandsbeschreibungen (vgl. die Beispiele bei Welzel^ § 14 I 2a u. c, § 67 V 2 B) darum, daß der Richter anhand eines vom Gesetz in Bezug genommenen Auslegungsmaßstabs die Arbeit der Tatbestandsbildung fortsetzen muß, die der Gesetzgeber nicht vollständig bewältigt hat. Daß das Gesetz, indem es hier auf den unspezifizierten Begriff der Verwerflichkeit verweist, einen sehr unscharfen Maßstab zur Verfügung stellt, ist zwar unter dem Blickwinkel des verfassungsrechtlichen Gebots der Tatbestandsbestimmtheit bedenklich, vermag aber an Begriff und Funktion der Verbrechensmerkmale nichts zu ändern. Der mithin auch bei der Anwendung der Rechtswidrigkeitsregeln zu beachtenden Notwendigkeit, daß die Tatbestandsmäßigkeit unrechtsindizierend sein muß, läßt sich in der Weise Rechnung tragen, daß die Verwerflichkeit zunächst generell, nämlich unter Absehen von Gesichtspunkten, die erst für eine etwaige Rechtfertigung interessant werden, ζ. B. Notwehr- oder Notstandsvoraussetzungen, zu entscheiden ist (Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 291 ff; ZStW 74 [1962] 118ff; zust. Jescheck AT3 § 25 II 2; LK10 Vor § 13 Rdn. 43; Maurach-Zipf6 § 24 Rdn. 8f; WelzelW § 55 III [bzgl. § 253]). Alles, was völlig sozialkonforme, nicht lediglich ausnahmsweise zulässige Zwangsanwendung ist, wird damit bereits aus dem Bereich des Tatbestandlichen eliminiert. Führt die Prüfung dagegen zur Bejahung der generellen (abstrakten) Verwerflichkeit, womit der unrechtsindizierende Tatbestand erfüllt ist, dann schließt sich im Rahmen der Rechtswidrigkeitsregel als zweite Stufe die Frage an, ob ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Ist das zu verneinen, so liegt auch konkrete Verwerflichkeit und damit die Rechtswidrigkeit der Tat vor. Die Rechtswidrigkeitsregeln lassen sich auf diesem Wege vom herrschenden Deliktsaufbau erfassen. Andere Richtungen innerhalb der die Konstruktion „offener Tatbestände" ableh- 22 nenden h. L. wollen hier überhaupt auf die Unterscheidung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit verzichten, also von einem nur zweistufigen Deliktsaufbau (Rdn. 7) ausgehen. Und zwar wird einmal die Auffassung vertreten, daß alle sachlichen Voraussetzungen der konkreten Verwerflichkeit — damit der Rechtswidos)

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2. Abschnitt. Die Tat

rigkeit — zum Tatbestand zu rechnen seien (Lang-Hinrichsen, Hilde Kaufmann, Kohlrausch-Lange, Samson, Sch.-Schröder-Lenckner, Stratenwerth, sämtlich aaO [siehe Rdn. 20], auch Hansen Nötigungsunrecht S. 116 f). Eine andere Lehrmeinung will die Verwerflichkeit selbst als normatives Tatbestandsmerkmal ansehen (Engisch DJT-Festschr. I S. 411 f; Gallas ZStW 67 [1955] 24 f; Roxin Kriminalpolitik S. 25 Anm. 56; ZStW 82 [1970] 682 f [dagegen noch wie die vorgenannte Auffassung: Offene Tatbestände S. 154]). Indes, während die Lehre von den offenen Tatbeständen die Erfordernisse des Tatbestandsbegriffs unangemessen verkürzt, werden sie von den beiden letztgenannten Auffassungen überdehnt. Alle von der herrschenden Verbrechenslehre gegen eine Einebnung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit erhobenen grundsätzlichen Bedenken (Rdn. 5, 8) greifen Platz. Darüber hinaus bedeutet die Richtung, die in der Verwerflichkeit ein normatives Tatbestandsmerkmal sehen will, daß man das mit der Gesamtwertung „rechtswidrig" hier identische Werturteil „konkret verwerflich" zur Voraussetzung seiner selbst macht und daß der Irrtum über die mit der Rechtswidrigkeit identische Verwerflichkeit zum Vorsatzausschluß, ihre irrtümliche Annahme zum untauglichen Versuch führen würde (gegen eine solche Lösung deshalb schon ausdrücklich Schaffstein ZStW 72 [1960] 3950· Es findet sich daher bestätigt, daß sich die „Rechtswidrigkeitsregeln" nur auf die von der materiellen Abstufungstheorie bezeichnete Weise ohne Spannung für die Irrtums- und Versuchsfragen sowie die speziellen Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe lösen lassen (Jescheck AT3 § 25 II 2). Eine solche Abstufung ist entgegen Roxin (aaO), Sch.-Schröder-Lenckner2\ (Vor § 13 Rdn. 66) und Hansen (aaO S. 91) praktisch durchführbar, da wegen des im wesentlichen feststehenden Katalogs der Rechtfertigungsgründe immerhin deutlich ist, wo der Bereich der Rechtfertigungsfrage beginnt. Die eigentliche Problematik der „Rechtswidrigkeitsregeln" liegt nicht bei dieser Differenzierung, sondern allgemein in der Unbestimmtheit des für ein Strafgesetz ungeeigneten und dort verfassungsrechtlich bedenklichen Begriffs der Verwerflichkeit (zur Frage der .Verfassungsmäßigkeit ausführliche Nachw. bei Busse Nötigung im Straßenverkehr [1968] S. 81 ff). Wenn daher Roxin (aaO) den § 240 Abs. 2 sogar als Beispiel für die Richtigkeit der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (zu ihr Rdn. 7 f) herausstellt, so bestärkt diese Bezugnahme auf eine fast allerseits als fragwürdig angesehene Gesetzeskonstruktion wohl eher die Ablehnung einer solchen Tatbestandslehre. Zudem würde man sich auf der Grundlage des von ihr vertretenen „UnrechtsGesamttatbestands" von vornherein des Orientierungspunkts für die kriminalpolitisch und verfassungsrechtlich dringliche Forderung nach exakter gesetzlicher Vertypung berauben. Im übrigen finden sich übergreifende Gesetzesbegriffe, die mehrere Deliktsmerkmale betreffen, auch im Verhältnis von Tatbestandsmäßigkeit und Schuld (näher Jescheck AT3 § 42 II 3 a), ohne daß deshalb behauptet worden wäre, man müsse ihretwegen allgemein auf die Unterscheidung dieser Deliktsmerkmale verzichten, vielmehr geht es auch dort darum, systematisch aufzugliedern (Stratenwerth v. Weber-Festschr. S. 188; Welzel^ § 13 II 2 c ; Jescheck aaO m. w. Nachw.). De lege ferenda sollten „RechtsWidrigkeitsregeln" aber jedenfalls vermieden werden (Jescheck AT3 § 25 II 2 Fußn. 17). Die demgegenüber neuerdings von Bergmann (Unrecht der Nötigung, S. 200 ff) vertretene Ansicht, daß die gegenwärtige Konzeption der Nötigungsvorschrift „grundsätzlich zu billigen" sei, vermag nicht zu überzeugen. Er meint, daß der Tatbestand des § 240 Abs. 1 bei richtiger, restriktiver Auslegung, insbesondere unter dem einschränkenden Gesichtspunkt der Sozialadäquanz, durchaus nicht zu weit und konturenlos sei (S. 172 ff, 200) und daß die Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 sich nur auf echte Rechtfertigungsgründe (16)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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beziehe (S. 197). Indem Bergmann bei § 240 zwischen Tatbestands- und echter Rechtfertigungslage abstuft, entspricht seine Deutung zwar der Sache nach weitestgehend der hier de lege lata vertretenen Auffassung (nur mit der Abweichung, daß er die einschränkende Auslegung des Absatzes 1 aus diesem selbst heraus begründen will und deshalb die Funktion des Absatzes 2 auf die Rechtfertigungsfrage beschränkt). Aber eine solche de lege lata angezeigte Konstruktion ändert nichts daran, d a ß die gesetzliche Formulierung des § 240 Abs. 1 erheblich zu weit geraten ist und es deshalb nicht lediglich um eine Typenkorrektur geht, sondern darum, daß — ohne präzisen Maßstab (die „Sozialinadäquanz" ist das ebensowenig wie die „Verwerflichkeit") — der Tatbestand überhaupt erst inhaltlich konstituiert werden muß. b) Eine durch die Neufassung des § 113 erneut ins Blickfeld getretene Lehre will 2 3 bei einigen Strafbestimmungen spezielle Rechtswidrigkeitsmerkmale („Rechtspflichtmerkmale") annehmen, die spezielle Aspekte der Rechtswidrigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens betreffen sollen (so insbesondere Welzel Lb. 11 § 14 I 2 c ; J Z 1952 19 u. 133; 1953 119; ZStW 67 [1955] 224; Armin Kaufmann Normentheorie S. 101, 257, 285 f; siehe bzgl. § 113 auch Jescheck A T 3 § 53 I 2 b Fußn. 16; MaurachZipf6 § 37 II Β 3). N a c h d e m der Kreis in Betracht kommender Fälle zunächst weiter gesteckt worden war (siehe Welzel aaO), geht es heute im wesentlichen um die Merkmale „rechtmäßig" in § 113 Abs. 3 und „eigenmächtig" in §§ 15 f WStG (zu diesem Welzel aaO). Von der h. M. wird die Lehre abgelehnt: BGHSt. 3 248, 253; Baumann% § 2 6 II 4 a ; Engisch Mezger-Festschr. S. 157f; DJT-Festschr. I S. 41 l f ; Gallas ZStW 67 25 ; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 296 f f ; Jakobs 6 / 6 4 ; Kohlrausch-Lange § 59 Anm. V 3 b ; Roxin Offene Tatbestände S. 132ff, 187f; Schaffstein O L G Celle-Festschr. S. 187ff; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor § 13 Rdn. 67; Schröder ZStW 65 (1953) 185; v. Weber Mezger-Festschr. S. 188; siehe auch Kunert Normative Tatbestandsmerkmale S. 63 ff. Die Begründung der Theorie von den speziellen Rechtswidrigkeitsmerkmalen 24 lautet in ihrem wichtigsten Anwendungsfall, dem Merkmal „rechtmäßig" m § 113 Abs. 3, wie folgt: Das Widerstandleisten sei rechtswidrig, wenn das Vorgehen des Amtsträgers als Diensthandlung gerechtfertigt, mithin rechtmäßig ist. Fehle es dagegen an letzterem, stehe dem Widerstandleistenden Notwehr zur Seite und seine Verwirklichung des Tatbestands des § 113 sei nicht rechtswidrig. Also hebe das Merkmal der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung die Frage der Rechtswidrigkeit der tatbestandsmäßigen Widerstandshandlung hervor ( Welzel11 § 14 I 2 c, § 73 III 2 b u. c). Es erheben sich jedoch Bedenken, ob diese Überlegung d a f ü r spricht, eine selbständige, zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsfrage stehende systematische Kategorie zu bilden. Zwar ist einleuchtend, d a ß es hier um den Zusammenhang mit der Notwehrfrage geht. In der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung lediglich eine objektive Strafbarkeitsbedingung zu sehen, scheidet aus (weil sonst der Widerstand gegen eine rechtswidrige Amtsausübung stets rechtswidrig und der Amtsträger daher gegen ihn stets zur Notwehr berechtigt, überdies die Irrtumsregelung des § 113 Abs. 4 ohne Basis wäre); auch ist einsichtig, daß das Fehlen der Rechtmäßigkeit nicht einfach als negativer Rechtfertigungsgrund erklärt werden kann (weil durch eine derart unspezifizierte „Rechtfertigung", die sich als bloße Negation auch gar nicht als Erlaubnissatz begreifen ließe, dem f ü r Rechtfertigungsgründe typischen Erforderlichkeitsgesichtspunkt der Boden entzogen sein würde; abw. aber v. Bubnoff LK10 § 113 Rdn. 23 m. w. Nachw.; kritisch dazu Hirsch KlugFestschr. II S. 247); außerdem ist einzuräumen, d a ß „rechtmäßig" kein Tatbe(17)

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2. Abschnitt. Die Tat

standsmerkmal ist (weil andernfalls das in § 113 geschützte Rechtsgut verkürzt, zudem Abs. 4 nicht erklärbar wäre; vgl. Dreher Schröder-Gedächtnisschr. S. 365, 379 und näher Hirsch aaO S. 245ff [anders noch LK.9 Vor § 51 Rdn. 17]; abw. Sch.Schröder-Eser2\ § 113 Rdn. 20 m. w. Nachw.). Jedoch führt das nicht zur Bejahung eines besonderen Rechtswidrigkeitsmerkmals, sondern angesprochen ist die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs und deshalb die Rechtfertigungsebent. Die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung wird innerhalb der Prüfung, ob dem Widerstandleistenden Notwehr zur Seite stand, bei der Frage der Rechtswidrigkeit des in der Vollstreckungshandlung bestehenden Angriffs erörtert, was auch ohne die ausdrückliche gesetzliche Erwägung zu geschehen hätte. Es handelt sich lediglich um einen gesetzlichen Hinweis auf das normale Zusammenspiel der Rechtfertigungsfragen (hier von staatlicher Eingriffsbefugnis einerseits und Notwehr andererseits), der für die Prüfung, ob die Widerstandshandlung gerechtfertigt war, klarstellt: Ist die Diensthandlung nicht rechtmäßig, dann liegt ein rechtswidriger Angriff des Amtsträgers vor, so daß eine Notwehrlage für den Widerstandleistenden gegeben ist (näher Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 299 f ; Klug-Festschr. II S. 247 ff [unter gleichzeitiger Darlegung der bei der geltenden Fassung des § 113 Abs. 3 zusätzlich erforderlichen Differenzierung zwischen Rechtfertigung nach § 32 und nur entschuldigender Notwehrüberschreitung]). — Ebenfalls läßt sich das Merkmal „eigenmächtig" nicht als besonderes Rechtswidrigkeitsmerkmal erklären. Es bedeutet „ohne Genehmigung" und bildet bereits ein essentielles Erfordernis der betreffenden Tatbestandshandlungen (vgl. Scholz2 WStG § 15 Rdn. 18). — Für eine systematische Kategorie spezieller Rechtswidrigkeitsmerkmale verbleibt daher kein Raum. Es geht vielmehr um Rechtfertigungs- oder Tatbestandsfragen. Die kritisierte Lehre birgt nicht nur die Gefahr, daß Rechtfertigungserfordernisse unbeachtet bleiben (und damit — wie im Falle der Anwendung auf § 113 — die Abstufung von Rechtfertigung und Schuld eingeebnet werden würde; vgl. Hirsch Klug-Festschr. II S. 248, 251), mehr noch droht von ihr eine Aushöhlung der Tatbestandsmäßigkeit in Richtung auf nicht mehr ausreichend umschriebene unrechtsindizierende Tatbestände. Das wurde besonders deutlich bei den Tätermerkmalen (ζ. B. Amtsträger bei den Amtsdelikten), die von den Anhängern der Theorie anfänglich als spezielle Rechtswidrigkeitsmerkmale eingestuft wurden (vgl. Welzel Lb.4 § 27 III, § 77 2 [anders Lb. 11 § 12 III]; Armin Kaufmann Normentheorie S. 149 ff). Es geriet aus dem Blick, daß durch die Herausnahme aus dem Kreis der Tatbestandsmerkmale (ζ. B. des Tatbestands der Falschbeurkundung im Amt) und die Verlagerung erst auf die Ebene der Rechtswidrigkeit tatbestandsmäßigen Verhaltens ein die Tatbestandsmäßigkeit der betreffenden Delikte prägendes Element eliminiert wurde. Das dabei im Hintergrund stehende Bestreben, die Fälle irriger Annahme eines Tätermerkmals aus dem Bereich des untauglichen Versuchs herauszuhalten, läßt sich nicht auf solche Weise lösen, sondern bildet ausschließlich ein Problem der Versuchslehre.— Siehe zur Gesamtproblematik aber auch noch die kürzliche Verteidigung der Theorie durch Armin Kaufmann Klug-Festschr. II S. 277 (m. w. Beispielen). 25

Während die Existenz eigenständiger „spezieller Rechtswidrigkeitsmerkmale" zu verneinen ist (Rdn. 23 f), finden sich in einigen Strafbestimmungen gesetzliche Hervorhebungen des allgemeinen Deliktsmerkmals Rechtswidrigkeit, ζ. B. in §§ 239 und 303. Es handelt sich darum, daß der Gesetzgeber hier Anlaß sieht, ausdrücklich auf die Möglichkeit des Eingreifens von Rechtfertigungsgründen hinzuweisen. Die Terminologie ist dabei nicht einheitlich. Neben dem Begriff „rechtswidrig" ist gleichbe(18)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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deutend von „widerrechtlich" (§§ 123, 239) und „unbefugt" (z. B. § 203) die Rede. Bei „unbefugt" verhält es sich allerdings nicht immer so ; der Begriff taucht auch in speziellerer Sinngebung auf und ist dann in seiner speziellen Bedeutung Tatbestandsmerkmal (z. B. heißt „unbefugt" in § 107 a „ohne Wahlberechtigung"). Sonderprobleme ergeben sich auch bezüglich der gesetzlichen Verwendung des Begriffs „rechtswidrig" in §§ 242, 246 und 263 (dazu Heimann-Trosien § 242 Rdn. 69ff und Lackner LK10 § 263 Rdn. 275 ff). Im übrigen ist es möglich, daß ein einzelner Rechtfertigungsgrund mit in einer Strafbestimmung des Besonderen Teils geregelt wird. Das würde ihn nicht zu einem (negativen) Tatbestandsmerkmal machen, da der Tatbestand ein Begriff des Deliktsaufbaus ist und daher von einer derartigen, nur stilistisch bedingten Gesetzestechnik unberührt bliebe. c) Nach der Lehre von der Sozialadäquanz (sozialen Adäquanz) fallen Handlun- 26 gen, die zwar vom Wortlaut einer Strafbestimmung umfaßt sind, sich aber völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewordenen sozialen Ordnung des Lebens bewegen, aus dem Bereich des Unrechts heraus ( Welzel ZStW 58 [1939] 516 ff, 527; Lb. 11 §10 IV; Dreher-Tröndle41 Rdn. 12; Jescheck AT3 §25; LK10 Vor §13 Rdn. 45; Armin Kaufmann ZfRV 1964 50; Klug Eb. Schmidt-Festschr. S. 255 ff (mit abw. Terminologie); Krauß ZStW 76 [1964] 45ff; LacknerlS Anm. II 14; Peters Welzel-Festschr. S.419ff; Schaffstein ZStW 72 [1960] 369; Schmidhäuser AT2 9 / 26ff; Stratenwerthl Rdn. 337ff; Zip/ZStW 82 [1970] 633,647ff; Maurach-Zip/6 § 17 II B). Als Fälle der Sozialadäquanz sind beispielsweise angeführt worden: Übliche Neujahrsgeschenke an den Postboten, Verletzungen, die bei ordnungsgemäßer Teilnahme am modernen Straßen-, Schienen- oder Flugverkehr eintreten, Ausschenken von Alkohol an Kraftfahrer (vgl. Welzel^ § 10 IV; siehe auch die Nachw. weiterer Beispiele bei Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 45 und Hirsch ZStW 74 [1962] 87 ff). Streitig ist unter den Anhängern der Theorie, auf welcher Stufe der Unrechtsvoraussetzungen die systematische Einordnung der Sozialadäquanz erfolgen soll. Für Tatbestandsfrage: Welzel (in 4. bis 8. Aufl. des Lehrbuchs aber zeitweilig für gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgrund), Jescheck, Armin Kaufmann, Lackner, Stratenwerth, Zipf (sämtlich aaO); siehe auch Klug aaO S. 262 ff (bzgl. „Sozialkongruenz") und der Sache nach Sax JZ 1975 143 f. Dagegen sind für Einordnung erst als Rechtfertigungsgrund: Dreher-Tröndle aaO; Schmidhäuser AT2 9/27. Offengelassen wird die Frage von Schaffstein aaO S. 393 (als vom „Gesamttatbestand" aus gegenstandslos) und BGHSt. 23 226, 228. Wenn man jedoch überhaupt mit dem Begriff der Sozialadäquanz (Sozialkongruenz) arbeitet, so betrifft er auf der Grundlage der herrschenden, zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsebene abstufenden Verbrechenslehre (Rdn. 5 f), da völlig normale Handlungsweisen eliminierend, bereits die Tatbestandsmäßigkeit. Er dient dann als Maßstab für eine restriktive Auslegung des Tatbestands (vgl. im einzelnen Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 285ff; ZStW 74 [1962] 81, 132; Roxin Klug-Festschr. II S. 310 ff). Nicht prinzipiell durchgesetzt hat sich die Lehre von der Sozialadäquanz in der 27 strafrechtlichen Judikatur. Zurückgegriffen wird auf sie in BGHSt. 23 226, 228; 31 383, was jedoch mit der speziellen Konstruktion des § 86 Abs. 3 zusammenhängt. Außerdem wird der Begriff im Rahmen der Ingerenzfrage bei den unechten Unterlassungsdelikten erwähnt (BGHSt. 19 152, 154; 26 35, 38). Indem es dort aber um den speziellen Gesichtspunkt der Bestimmung des relevanten gefährdenden Vorverhaltens geht, läßt diese Verwendungsart die grundsätzliche Problematik eines Tatbestandskorrektivs Sozialadäquanz unberührt. Beiläufig taucht der Begriff ferner in BGHSt. 31 264, 279 auf (bzgl. §§ 331, 332). Im Schrifttum stehen der Theorie kri(19)

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2. Abschnitt. Die Tat

tisch gegenüber: Baumann8 § 15 III 3 b ; GallasZStW 67 (1955) 22; Hirsch ZStW 74 (1962) 133 ff; Kienapfel Erlaubtes Risiko S. 10, 29 (einschränkend schon in: Körperliche Züchtigung und Sozialadäquanz S. 98ff); H. Mayer StudB § 13 II 2 c ; Roeder Sozialadäquates Risiko S. 27 ff (hält ihn nur bzgl. des „sozialadäquaten Risikos" für fruchtbar); Roxin Klug-Festschr. II S. 310, 313 (keine selbständige Bedeutung); Samson SK4 Rdn. 15; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 107a, Vor §13 Rdn. 70; Würtenberger Rittler-Festschr. S. 129. 28

Auch in der Rspr. der Zivilgerichte findet der Begriff der Sozialadäquanz nur vereinzelt Erwähnung (so in OLG München NJW 1966 2406, während BGHZ (GrS) 24 21, 26 sich nicht auf ihn stützt). Zur zivilrechtlichen Diskussion näher Deutsch Welzel-Festschr. S. 237 ff mit Nachweisen. Zu beachten ist zudem, daß im Zivilrecht unter Sozialadäquanz vielfach nur der Bereich des sog. erlaubten Risikos (Rdn. 30 ff) verstanden wird (siehe etwa Hanau MünchKomm. §276 BGB Rdn. 134). In der arbeitsrechtlichen Judikatur und Lehre dagegen war die Sozialadäquanz zeitweilig zum dogmatischen Zentralbegriff des Arbeitskampfrechts geworden (vgl. BAG [GrS] 1 291, 300, 306f [Rechtmäßigkeit des Arbeitskampfes]; 14 174 [Haftung für wilden Streik]; 14 202 [Gewerkschaft und wilder Streik]; [GrS] 20 175 [Differenzierungsklausel]; Hueck-Nipperdey Arbeitsrecht 11/27 § 49 Β I; Nipperdey NJW 1967 1992 f; Bulla RdA 1962 6; Nipperdey-Festschr. II S. 93 ff; Galperin Nipperdey-Festschr. II S. 197). Inzwischen setzt sich jedoch die Auffassung durch, daß dieser Begriff wegen seiner Unschärfe nicht als Rechtmäßigkeitskriterium des Arbeitskampfes geeignet ist (ausdrücklich ablehnend: Bernert Zur Lehre von der „sozialen Adaequanz" und den „sozialadaequaten Handlungen" [1966] S. 91 f; Ramm AuR 1966 161; Richardi Arbeitsrechtliche Fälle4 S. 113ff; Rüthers AuR 1967 129; Zöllner Arbeitsrecht 2 § 40 I 2 m. w. Nachw.; überhaupt nicht mehr erwähnt wird der Begriff von Hanau-Adomeit Arbeitsrecht6 C III 5; auch stellt die Aussperrungsentscheidung BAG [GrS] 23 292 nur noch auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab).

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Bei der Kritik an der Lehre von der Sozialadäquanz geht es nicht darum, die Tatbestandsmäßigkeit oder sogar Strafbarkeit der von dieser Lehre gemeinten Fälle zu behaupten. Vielmehr bestehen Bedenken, sich zur Begründung unmittelbar auf einen Maßstab zu stützen, der ebenso unbestimmt ist wie die Gesichtspunkte der Sittengemäßheit und der mangelnden Verwerflichkeit. Angesichts der Unsicherheit (oder auch Verunsicherung) darüber, was sich im Rahmen der sozialen Ordnung hält (vgl. auch die parallelen Schwierigkeiten bei § 226a und besonders §240 Abs. 2), würde das Arbeiten mit einem so schillernden Gesichtspunkt bedeuten, daß der untere Bereich der Strafbarkeit weithin ins Schwimmen geriete. Die Gefahren liegen auf der Hand. Nicht nur, daß Staatsanwaltschaften auf diese Weise die Voraussetzungen (gerade auch die formellen) der §§ 153 f StPO unterlaufen könnten (bedenklich daher Peters Welzel-Festschr. S. 425 ff), mehr noch würde damit manche Strafverfolgungsbehörde der Versuchung ausgesetzt werden, unter Berufung auf die Möglichkeit des Vorliegens „sozialer Adäquanz" am Gesetzgeber vorbei ihre eigene „Strafrechtsreform" zu betreiben oder sogar, insbesondere in Zeiten innenpolitischer Spannungen, den für die Behörde mit der Anklageerhebung verbundenen Ungelegenheiten aus dem Wege zu gehen. Ebensowenig, wie man die einzelnen Rechtfertigungsgründe durch eine Generalklausel der materiellen Rechtswidrigkeit ersetzen könnte (Rdn. 13), dürfen die präzisen Gesichtspunkte der restriktiven Tatbestandsauslegung einschließlich der systematischen Aspekte durch eine so vage Generalklausel wie die der Sozialadäquanz aufgeweicht werden (Roxin Klug(20)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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Festschr. II S. 310 ff betont deshalb, daß uns exaktere Methoden der Tatbestandsbegrenzung zur Verfügung stehen). Lehrreich ist auch, daß der Begriff im Arbeitsrecht an seiner Unbestimmtheit gescheitert ist (siehe Rdn. 28). Er gehört nach Wiethölter „zu jenen verführerischen Vokabeln, die bei der Auslegung nur das enthüllen, was vorher an wünschenswertem Ergebnis in sie hineingelegt worden ist" (Der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens [1960] S. 57). Bedenken angesichts der Garantiefunktion des Tatbestands erhebt Wiirtenberger RittlerFestschr. S. 129. Wo der Begriff bisher bei Vorsatzdelikten verwandt worden ist, lief das zudem häufig darauf hinaus, daß an die Stelle exakter wissenschaftlicher Begründung und Differenzierung einfach das Schlagwort „Sozialadäquanz" trat (vgl. die Erörterung der einzelnen Fälle bei Hirsch ZStW 74 [1962] 87 ff). Außerdem führt der Gesichtspunkt der Sozialadäquanz zu Fehldeutungen, wenn es dem Gesetzgeber darum geht, ein Verhalten, das herkömmlich als im Rahmen der sozialen Ordnung liegend gilt, aufgrund neuer Erkenntnisse zu untersagen. Jedenfalls aber wird man sich angesichts der Tatsache, daß diese Lehre in all den Jahren kaum für die strafrechtliche Judikatur akut geworden ist, die Frage vorlegen müssen, ob der Gewinn, den man sich von ihrer allgemeinen Anerkennung verspricht, in angemessenem Verhältnis zu den evidentermaßen von ihr ausgehenden Gefahren stehen würde. Der Verzicht auf die Lehre verursacht keine Schwierigkeiten beim fahrlässigen Delikt. Zwar enthält der beim fahrlässigen Delikt auftauchende generalklauselhafte Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (näher zum sog. erlaubten Risiko unten Rdn. 30 ff) Berührungspunkte mit dem Begriff der Sozialadäquanz. Hier geht es aber eben nicht um die Anwendung eines allgemeinen strafrechtlichen Tatbestandskorrektivs „Sozialadäquanz", sondern um den Inhalt eines tatbestandskonstitutiven — in § 276 BGB formulierten — spezifischen Fahrlässigkeitsmerkmals (zust. Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor § 1 3 Rdn. 70; anders jedoch Maurach-Zipf6 § 17 II B). Auch ist fraglich, ob alles, was als verkehrsgerecht aus dem Fahrlässigkeitsbegriff ausscheidet, als sozialadäquat eingestuft werden könnte. Denn der Begriff der Sozialadäquanz hat im Gegensatz zu dem der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt herkömmlich akzentuiert sozialethische K o m p o n e n t e n („völlig innerhalb der sozialethischen O r d n u n g liegend"). Andererseits birgt er wegen seines schlagwortartigen Charakters die Gefahr, daß die Grenze zur Rechtfertigungsfrage ins Fließen gerät, was beim Gesichtspunkt der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt weniger der Fall ist. d) N a c h der Lehre vom erlaubten Risiko sollen Rechtsgutsverletzungen, die auf 3 0 sozial normalen Verhaltensweisen beruhen, welche zwar der Natur nach gewisse Risiken für die Rechtsgüter anderer unvermeidlich mit sich bringen, aber die geforderten Sicherungsvorkehrungen und Kunstregeln beachten, aus dem Bereich des Unrechts ausscheiden. Das wichtigste Beispiel bildet der Straßenverkehr; in ihm ist es unmöglich, gewisse maßvolle Risiken f ü r Leben, Körper u n d Sachgüter Dritter völlig auszuschließen. Weiterhin gehören hierher die unvermeidlichen Risiken des Luft-, See- u n d Eisenbahnverkehrs, der industriellen Produktion, des Abbaus von Bodenschätzen, der Verwendung moderner Energiequellen, ärztlicher Operationen, einiger Sportarten usw. (Zusammenstellung der Fälle bei Schroeder LK10 § 1 6 Rdn. 195 ff). D a ß bei derartigen (maßvollen) Risikohandlungen kein Unrecht vorliegt, ist ganz herrschende Auffassung (vgl. Mezger L K 8 Vor § 51 Anm. 10 h cc [mit Nachw. älteren Schrifttums]; Welzel 11 § 18 I l a ; Samson S K 4 Rdn. 53; Schmidhäuser A T 2 9 / 3 0 f f ; Sch.-Schröder-Cramer! 1 § 15 Rdn. 142ff; Stratenwerthì Rdn. 337 ff, 1101 ff; ohne Berufung auf den Begriff „erlaubtes Risiko" B G H Z [GrS] (21)

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2. Abschnitt. Die Tat

24 21; OLG Köln NJW 1956 1848 sowie Jescheck AT3 § 36 I, § 55 I 3 b ; MaurachZipf6 § 28 III [welche die Bezeichnung den unten Rdn. 33 erwähnten Fällen vorbehalten]; ablehnend dagegen noch Maurach AT 4 § 43 II Β 2 und Rehberg Erlaubtes Risiko S. 179, 185, 247 [die zwar den Risikobetrieb in seiner Gesamtheit als erlaubt ansehen, jedoch bei der einzelnen, das maßvolle Risiko einhaltenden, erfolgsverursachenden Betriebshandlung erst die „Tatverantwortung" verneinen] sowie Roeder Sozialadäquates Risiko S. 65 ff, 94 [nach dem die Einhaltung des „sozialadäquaten Risikos" bei Eintritt des Erfolges nur einen Schuldausschließungsgrund ergeben soll]; gegen die letztgenannten Stellungnahmen treffend Blei AT 18 §82 I; Sch.Schröder-Cramerll § 15 Rdn. 144; Jakobs Fahrlässiges Erfolgsdelikt S. 50ff; zu diesen Fragen auch Wimmer ZStW 75 [1963] 420). Innerhalb der h. M. ist jedoch streitig, ob es bereits um ein Tatbestands- oder erst um ein Rechtfertigungsproblem geht (dazu Rdn. 31, 32), außerdem, ob es sich um eine systematisch eigenständige Kategorie handelt oder ob die Fälle nicht schon auf andere Weise erfaßt werden (dazu Rdn. 32, 33). 31

Die systematische Einordnung innerhalb des Unrechts erfolgt zumeist auf der Tatbestandsebene, indem das Unrecht jener (maßvollen) Risikohandlungen schon mangels Tatbestandsmäßigkeit verneint wird ( WelzelLb. 11 § 18 11 a; Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 14ff; Engisch DJT-Festschr. I S. 418f [anders früher in: Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 286, 344]; Hirsch ZStW 74 [1962] 94ff; 94 [1982] 276; Armin Kaufmann ZfRV 1964 50; Lenckner Engisch-Festschr. S. 499 Fußn. 26; Sch.Schröderll Rdn. 94 [Lenckner], § 15 Rdn. 143 [Cramer]; Zipf Einwilligung S. 79 ff; Stratenwerthi Rdn. 1101, 1107; Jakobs 7 / 3 9 f f ; Geppert ZStW 83 [1971] 994). Abw. stufen andere die Fälle erst als Rechtfertigungsgrund ein (Mezger LK8 Vor §51 Anm. 10h cc; H. Mayer StudB § 20 III 4; Oehler Eb. Schmidt-Festschr. S. 243ff; Samson SK4 Rdn. 53 [offenlassend SK3 Anh. § 16 Rdn. 18]; Schaffstein ZStW 72 [1960] 385 [bei gleichzeitiger Annahme eines die Rechtfertigungsfrage einbeziehenden Gesamttatbestands]; Schmidhäuser AT2 9/31; auch BGHZ 24 21 sowie mit Einschränkungen Klug Eb. Schmidt-Festschr. S. 264). Im übrigen wird im erlaubten (maßvollen) Risiko vielfach ein Anwendungsfall der Lehre von der Sozialadäquanz gesehen (so insbesondere Welzel 11 § 10 IV, § 18 I l a ; Engisch aaO; Klug aaO S. 260, 264; Schaffstein aaO; Sch.-Schröder-Cramer2\ § 15 Rdn. 144; Jakobs 7/30; Maurach-Zipf6 § 28 Rdn. 23; siehe aber Hirsch ZStW 74 [1962] 95 ff; Kienapfel Erlaubtes Risiko S. 9 ff, 22 ff).

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Eine Klärung und Präzisierung ist vor allem durch die neuere Fahrlässigkeitslehre erfolgt. Indem sie zur Tatbestandsmäßigkeit des fahrlässigen Delikts den Verstoß gegen die „im Verkehr erforderliche" Sorgfalt verlangt (vgl. die Nachw. LK10 § 230 Rdn. 5), finden die Fälle des „erlaubten Risikos", in denen es — wie zumeist — um die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit geht, ihre sachgemäße Lösung: Es fehlt am Tatbestandserfordernis der Sorgfaltswidrigkeit (Engisch DJT-Festschr. S. 418 f; Welzel Lb.ll § 18 11 a; Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 14ff; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 308 Fußn. 122; ZStW 74 [1962] 94ff; 94 [1982] 276; Armin Kaufmann ZfRV 1964 50; Blei AT 18 § 82 II 1 ; Bockelmann AT3 § 15 D ; Jescheck AT3 § 36 I 2, § 55 I 3b, § 56 III 1; Lenckner Engisch-Festschr. S. 499 Fußn. 26; Sch.-Schröder2\ Rdn. 94 [Lenckner], § 15 Rdn. 143 [Cramer]). Handlungen, die nicht gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verstoßen (näher zu diesem Begriff und seiner Anwendung Welzel^ § 18 I l a ) , unterfallen nicht der Verbotsnorm und sind daher, auch wenn etwas passiert, nicht tatbestandsmäßig. Damit aber zeigt sich, daß es hier beim „erlaubten Risiko" um keinen systematisch selbständigen Gesichtspunkt, (22)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

sondern um die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen eines spezifischen Elements des Fahrlässigkeitsbegriffs, eben die Nichteinhaltung der verkehrserforderlichen Sorgfalt geht. Aber auch in den praktisch weniger bedeutsamen Fällen, in denen das „erlaubte Risiko" bei Vorsatzdelikten angeführt wird (so nennt Schaffstein ZStW 72 [1960] 373 Fußn. 11 das Beispiel, daß beim Bau von Alpentunneln aufgrund statistischer Erfahrung in Rechnung zu stellen ist, daß trotz aller Sicherheitsvorkehrungen Bauleute zu Tode kommen, und sich das auch tatsächlich ereignet), entfällt der Tatbestand infolge Fehlens eines anderen Erfordernisses, nämlich des Vorsatzes. Denn von Vorsatz kann keine Rede sein, wenn die Vorstellung von der Möglichkeit eines tatbestandsmäßigen Erfolges eine bloß generelle ist (Binding Normen II S. 859; Frank § 59 Anm. V [191]; Bockelmann AT3 § 14 IV 2a). Die allein auf dem allgemeinen Wissen um die Gefährlichkeit des Lebens in dieser Welt beruhende Voraussicht möglicher künftiger Unglücksfälle genügt nicht für die Annahme eines Verwirklichungswillens (vgl. im einzelnen Bockelmann aaO; anders Krauß ZStW 76 [1964] 46). Die Lehre vom erlaubten Risiko, die also eigentlich keine Lehre vom „erlaubten", sondern schon vom unverbotenen, d. h. gar nicht tatbestandsmäßigen Risiko ist, hat nach alledem, weil die von ihr aufgeworfenen Fragen unter präziserem Blickwinkel bereits bei bestimmten anderen Deliktserfordernissen beantwortet werden, keine selbständige Funktion und ist daher systematisch entbehrlich (so auch ausdrücklich Bockelmann AT3 § 15 D; Binavince Die vier Momente der Fahrlässigkeitsdelikte S. 69 ff ; Preuß Erlaubtes Risiko S. 226 f ; siehe außerdem Kienapfel Erlaubtes Risiko S. 27 f). Sie beruht auf der älteren Systematik, die den gesamten Fahrlässigkeitsbegriff und den Vorsatz bei der Schuld einordnete und deshalb, wollte sie das mangelnde Unrecht dieser Fälle nicht ignorieren, auf die Konstruktion eines Rechtfertigungsgrundes „erlaubtes Risiko" ausweichen mußte. — Zur zivilrechtlichen Problematik siehe Deutsch Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt (1963); Hanau MünchKomm. § 276 BGB Rdn. 134 m. w. Nachw. Von diesen herkömmlich die Lehre vom „erlaubten Risiko" prägenden Fällen 33 (Rdn. 30—32), bei denen es schon um fehlende Tatbestandsmäßigkeit geht (unverbotenes Risiko), sind Sachverhalte lediglich ausnahmsweise gerechtfertigter riskanter Handlungen (z. B. riskante Rettungshandlungen), damit im strengen Sinne erlaubtes Risiko, zu unterscheiden (Hirsch ZStW 74 [1962] 99 f; zust. Blei AT 18 § 82 II 1 u. 2; Geppert ZStW 83 [1971] 995 ff; Jescheck AT3 § 36 I 3, § 55 I 3 b, § 56 III 1 ; Lenckner Engisch-Festschr. S. 499 Fußn. 26; Maurach-Zipß §28 III 2; anders Schaffstein ZStW 72 [1960] 385). Während sich bei den erstgenannten Fällen die hier vertretene Auffassung, daß der Begriff „erlaubtes Risiko" keine eigenständige Funktion hat, zunehmend durchsetzt (vgl. die Nachw. Rdn. 32), wird ihm in dem engeren Verständnis echter Rechtfertigung teilweise die Bedeutung eines selbständigen Rechtfertigungsgrundes zugesprochen (so insbesondere Jescheck AT 3 § 36 I 3 u. II; Klug Eb. Schmidt-Festschr. S. 264; Maurach-Zipfì § 28 Rdn. 25). Es geht dabei um die Einordnung folgender Sachverhalte: Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 (Gallas Niederschriften 9 S. 71; Dreher-Tröndle41 § 193 Anm. 1; Jescheck AT3 §36 II 2 a ; Lenckner H. Mayer-Festschr. S. 180; Schmidhäuser AT2 9/55 ; Wekeln §42 III 2; dagegen: Hirsch Ehre und Beleidigung [1967] S. 201 f; Maurach-Zipfì § 28 III 1 ; Preuß Erlaubtes Risiko S. 220 ff; Rudolphi SK2 § 193 Rdn. 1), riskante Rettungshandlungen (Jescheck AT3 § 36 II 1, § 56 III), gewisse Fälle einverständlicher verkehrswidriger Lebensgefährdungen ( H . M a y e r AT §28 III 2; Sch.-Schröder-Eser2\ § 222 Rdn. 3; Langrock M D R 1970 984) und - bzgl. § 266 die Vornahme gefährlicher, aber dem Unternehmensleiter nicht schlechthin unter(23)

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2. Abschnitt. Die Tat

sagter Spekulationsgeschäfte, die jenseits der normalen kaufmännischen Risiken der Unternehmensführung oder Vermögensverwaltung liegen, aber den Umständen nach erheblichen Gewinn versprechen (Klug Eb. Schmidt-Festschr. S. 260; Jescheck AT3 § 36 II 2b). Jedoch geht es in diesen Fällen nicht um ein selbständiges und auf präzisere Voraussetzungen verzichtendes Rechtfertigungsprinzip des erlaubten Risikos, sondern um Unterprobleme des rechtf. Notstands, des § 186, der rechtf. Einwilligung und der rechtf. mutmaßlichen Einwilligung (siehe dazu Rdn. 95, 139, 167 sowie § 34 Rdn. 59, 61). Einer eigenständigen Rechtsfigur des erlaubten Risikos bedarf es mithin auch insoweit nicht (Hirsch ZStW 74 [1962] 100; wie hier Baumann% § 21 II 4 a ; Blei AT18 § 82 II 2; Bockelmann AT3 § 15 D ; Kienapfel Erlaubtes Risiko S. 26 f ; Preuß Erlaubtes Risiko S. 226 ff; Sch.-Schröder-Lenckner21 Rdn. 107 b). B. Allgemeine Fragen der Rechtfertigungsgründe Schrifttum Bockelmann Notwehr gegen verschuldete Angriffe, Honig-Festschr. (1970) S. 19; Graf zu Dohna Die Rechtswidrigkeit als allgemeingültiges Merkmal im Tatbestande strafbarer Handlungen (1905); Engels Der partielle Ausschluß der Notwehr bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Ehegatten, GA 1982 109; Engisch Die Einheit der Rechtsordnung (1935); Fincke Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen Teil des Strafrechts (1975); Gallas Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Bockelmann-Festschr. (1979) S. 155; Himmelreich Notwehr und unbewußte Fahrlässigkeit (1971); Hirsch Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960); ders. Rechtfertigungsgründe und Analogieverbot, Tjong-Gedächtnisschr. (1984) S. 172; Höpfel Zu Sinn und Reichweite des sog. Analogieverbots, JurBl. 1975 505, 575; Hruschka Extrasystematische Rechtfertigungsgründe, Dreher-Festschr. S. 189; Armin Kaufmann Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht, Welzel-Festschr. (1974) S. 393; Kern Grade der Rechtswidrigkeit, ZStW 64 (1952) 255; Kratzsch § 53 und der Grundsatz nullum crimen sine lege, GA 1971 65; Krey Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht (1977); ders. Zur Einschränkung des Notwehrrechts bei der Verteidigung von Sachgütern, JZ 1979 702; Lange Gesetzgebungsfragen bei den Rechtfertigungsgründen, v. Weber-Festschr. (1963) S. 162; Lenckner Notwehr bei provozierten! oder verschuldetem Angriff, G A 1961 299; ders. Der rechtfertigende Notstand (1965); ders. Die Rechtfertigungsgründe und das Erfordernis pflichtgemäßer Prüfung, H. Mayer-Festschr. (1966) S. 165; Niese Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951); Noll Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe (1955); ders. Übergesetzliche Milderungsgründe aus vermindertem Unrecht, ZStW 68 (1956) 181; ders. Die Rechtfertigungsgründe im Gesetz und in der Rechtsprechung, SchwZStr. 80 (1964) 160; ders. Tatbestand und Rechtswidrigkeit: Die Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung, ZStW 77 (1965) 1 ; Paeffgen Der Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheimnisses (§ 97 b StGB) und die allgemeine Irrtumslehre, StrafrAbh. n. F. 35 (1979); PrittwitzZum Verteidigungswillen bei der Notwehr, GA 1980 381; Roxin Die provozierte Notwehrlage, ZStW 75 (1963) 541; ders. Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Aufl. (1970); ders. Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. (1973); ders. Die „sozialethischen Einschränkungen" des Notwehrrechts, ZStW 93 (1981) 68; Rudolphi Inhalt und Funktion des Handlungsunwerts im Rahmen der personalen Unrechtslehre, Maurach-Festschr. (1972) S. 51; ders. Die pflichtgemäße Prüfung als Erfordernis der Rechtfertigung, Schröder-Gedächtnisschr. (1978) S. 73; Schaffstein Putative Rechtfertigungsgründe und finale Handlungslehre, MDR 1951 196; ders. Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den Fahrlässigkeitsdelikten, WelzelFestschr. (1974) S. 557; Eb. Schmidt Das Reichsgericht und der „übergesetzliche Notstand", ZStW 49 (1928) 350; R. Schmitt Subjektive Rechtfertigungselemente bei Fahrlässigkeitsdelikten? JuS 1963 64; Seelmann Das Verhältnis von § 34 zu anderen Rechtfertigungsgründen (1978); Sieverts Beiträge zur Lehre von den subjektiven Unrechtselementen im Strafrecht (1934); Stockei Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht (1966); Stratenwerth Prinzipien der Rechtfertigung, ZStW 68 (1956) 41; Suppert Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage" (1973); Waider Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfer(24)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

tigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafrechts (1970); Warda Die Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen, Maurach-Festschr. (1972) S. 143; v. Weber Der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund, JZ 1951 260; ders. Negative Tatbestandsmerkmale, MezgerFestschr. (1954) S. 183; Widmaier Die Teilbarkeit der Unrechtsbewertung - OLG Celle, NJW 1969 1775, JuS 1970 611. Siehe außerdem das Schrifttum vor Rdn. 5 und 19. 1. Quellen und Geltung a) Die Rechtfertigungsgründe sind dem Gesamtbereich der Rechtsordnung zu ent- 34 nehmen (z. B. RGSt. 59 404, 406; 61 242, 247; 63 215, 218; BGHSt. 11 241, 244; Engisch Einheit der Rechtsordnung S. 55 ff; Jescheck A T 3 § 31 III 1 ; allg. Auffassung). Denn die Frage der Rechtswidrigkeit ist einheitlich f ü r die gesamte Rechtsordnung zu beantworten: Prinzip der Einheit der Rechtsordnung (vgl. Rdn. 10). Deshalb hieß es ausdrücklich in § 20 E 1925: „Eine strafbare Handlung liegt nicht vor, wenn die Rechtswidrigkeit der Tat durch das öffentliche oder bürgerliche Recht ausgeschlossen ist." Außer den im StGB geregelten Rechtfertigungsgründen, z. B. §§ 32, 34, 193, sind also ebenfalls die in anderen Gesetzen, gleichgültig welchen Rechtsgebiets, enthaltenen Rechtfertigungsgründe strafrechtlich erheblich, z.B. §§ 81 a Abs. 1 Satz 2, 127 StPO, §§ 228, 229, 859, 904 BGB, § 808 ZPO. Dabei können sich auch aus dem Landesrecht Rechtfertigungsgründe f ü r Tatbestände des Bundesrechts ergeben, soweit die Materie, welcher der fragliche Erlaubnissatz angehört, in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt (BGHSt. 11 241, 244; RGSt. 47 270, 276f; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 27). Da kein numerus clausus der Rechtfertigungsgründe besteht ( B G H Z 24 21, 25), können sich über die positivrechtlich ausdrücklich geregelten Fälle hinaus weitere Rechtfertigungsgründe bilden. Als außergesetzliche Rechtsquelle kommt Gewohnheitsrecht in Betracht, z. B. die allgemeine rechtfertigende Einwilligung (Rdn. 92), das frühere schulische Züchtigungsrecht (BGHSt. 11 241, 244; zu dessen Fortfall LK10 § 223 Rdn. 24), die gewohnheitsrechtliche Erlaubnis zur Einleitung nicht ölhaltiger Schiffsabwässer (vgl. zu § 324: BayObLG J R 1983 120), auch das Völkerrecht (Jescheck AT3 § 31 III 2). Darüber hinaus werden überpositive Prinzipien als Quelle genannt, so etwa das „an den obersten Wertvorstellungen der Gemeinschaft ausgerichtete überpositive Recht (Naturrecht)" ( Jescheck aaO), die „ethischen Grundlagen des Rechts" (Mezger LK 8 Vor § 51 Bern. 9 e bb) oder schlicht „allgemeine Erwägungen" {Schröderin Sch.-Schröd e r l 7 Vor § 51 Rdn. 10). Das Hauptbeispiel bildet dabei der übergesetzliche rechtfertigende Notstand, wie er von RGSt. 61 242 entwickelt worden ist. Aber abgesehen davon, daß diese Problematik an Bedeutung verloren hat, seitdem der rechtfertigende Notstand in § 16 O W i G und § 34 allgemein gesetzlich geregelt worden ist, bestehen ernste Bedenken gegen die unmittelbare A n k n ü p f u n g an vorrechtliche Wertmaßstäbe. Auch f ü r die Rechtswidrigkeit gelten die allgemeinen Regeln der juristischen Hermeneutik, soll nicht die Rechtsetzungskompetenz des Gesetzgebers unterlaufen werden (näher Rdn. 13). Lücken im Katalog der gesetzlichen Rechtfertigungsgründe sind deshalb aus Zusammenhang und Zweck der geltenden Rechtssätze, vor allem im Wege der Gesetzes- und Rechtsanalogie, zu schließen (vgl. RGSt. 61 242, 247). b) Die Rechtfertigungsgründe unterliegen, jedenfalls soweit sie strafgesetzlich 35 geregelt sind, dem f ü r Strafgesetz geltenden Art. 103 Abs. 2 GG ( Württenberger Rittler-Festschr. S. 133; Sch.-Schröder-Eser2\ § 1 Rdn. 17, § 2 Rdn. 4; Stratenwerthi Rdn. 169; WelzelM § 5 II 1). Denn durch sie wird der U m f a n g der Strafbarkeit mitbestimmt, so daß für sie prinzipiell nichts anderes gilt als für andere strafgesetzliche (25)

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2. Abschnitt. Die Tat

Vorschriften. Es ergeben sich aber gegenüber dem Tatbestandsbereich, bedingt durch die Natur der Rechtfertigungsgründe als Ausnahmesätzen, erhebliche Abweichungen, insbesondere Umkehrungen. 36

aa) Analogieverbot. Es ist zu unterscheiden zwischen Erweiterung und Einschränkung von Rechtfertigungsgründen. Nicht gegen das Analogieverbot verstößt eine Erweiterung der Rechtfertigungsfälle durch Gewohnheitsrecht, Analogie u. dgl. da es sich dabei in bezug auf die Strafbarkeit um eine Einschränkung (Analogie zugunsten des Täters) handelt. Zwar bewirkt eine solche Erweiterung der Rechtfertigungsfälle zwangsläufig eine Ausdehnung der Duldungspflicht des durch die Täterhandlung Betroffenen und erweitert damit faktisch dessen Strafbarkeitsbereich. Ausschlaggebend ist jedoch, daß sich diese Strafbarkeitserweiterung lediglich mittelbar über das Merkmal „Rechtswidrigkeit des Angriffs" der Notwehrvorschrift durch Rezeption einer in anderem Zusammenhang getroffenen rechtlichen Wertung ergibt. Art. 103 Abs. 2 G G will aber nach Sinn und Zweck solche nur indirekten Strafbarkeitserweiterungen nicht erfassen (so auch Suppert Studien S. 297 ; Rudolphi SK3 § 1 Rdn. 20; Sch.-Schröder-Eser2\ § 1 Rdn. 17 u. 33; anders Gribbohm JuS 1966 159 Fußn. 15). Das zeigt sich übrigens auch schon auf der Tatbestandsebene, wo normative Tatbestandsmerkmale (ζ. B. Eigentum, Vermögen) mittelbar durch die Auslegung anderer Rechtssätze, etwa zivilrechtlicher Vorschriften, umfangmäßig beeinflußt werden können.

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Ein Verstoß gegen das Analogieverbot liegt dagegen vor, wenn ein Strafrichter einen strafgesetzlich geregelten Rechtfertigungsgrund entgegen dem Wortlaut einschränkt, also eine Korrektur des Strafgesetztextes zu Lasten des Täters vornimmt (wie hier H. Mayer KT § 30 IV 4 b ; Engisch Mezger-Festschr. S. 131; Würtenberger Rittler-Festschr. S. 133; Baumanni § 12 I 2 a ; Bockelmann AT3 § 4 C I 3; MaurachZipf6 § 10 II Β 3; Schmidhäuser StudB2 3/21; Kratzsch GA 1971 72; Krause GA 1979 330; Engels GA 1982 109ff; grundsätzlich auch Wessels AT 13 § 2 I 3). Beispielsweise wäre es unzulässig, als zusätzliche Erfordernisse für § 32 allgemein eine Güterabwägung und für § 34 die pflichtmäßige Prüfung der Sachlage zu verlangen. Durch die Festschreibung einiger wichtiger Rechtfertigungsgründe im Strafgesetz ist insoweit eine strafgesetzliche Bestimmung des Rechtfertigungsumfangs und damit des Umfangs der Strafbarkeit erfolgt. Es wäre ein Widerspruch, im Strafgesetz geregelte Rechtfertigungsgründe anders unter dem Blickwinkel des Analogieverbots zu behandeln als die dort festgeschriebenen sonstigen nicht schon den Tatbestandsbereich betreffenden Rechtssätze. Unerheblich ist es auch, ob ein Rechtfertigungsgrund im Allgemeinen oder im Besonderen Teil des Gesetzes steht, denn zwar § 193 und § 226 a, nicht aber § 32 und § 34 dem Analogieverbot zu unterwerfen, liefe auf die Orientierung an einer nur gesetzestechnischen Frage und damit auf eine formale, sachlich nicht zu stützende Unterscheidung hinaus {Maurach-Zipfö § 10 II Β 3; Finche Verhältnis S. 13 ff; Engels GA 1982 119). Das Spannungsverhältnis zwischen dem Analogieverbot und dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung, also der einheitlichen Entscheidung der Rechtswidrigkeitsfrage (Rdn. 10), löst sich wie folgt: Das Analogieverbot wirkt sich nur dahingehend aus, daß hinsichtlich der Sira/barkeit des Betreffenden das Verhalten so zu beurteilen ist, als sei es bereits gerechtfertigt. Dagegen bleibt unberührt, daß die fragliche Rechtfertigung außerhalb der strafrechtlichen Beurteilung des Täters, namentlich im Zivilverfahren, aufgrund eines dort nach allgemeinen rechtsmethodischen Grundsätzen zulässigen Analogieschlusses abzulehnen ist und folglich ein Verstoß gegen die Rechtsordnung bejaht wird (näher dazu Hirsch Tjong-Gedächtnisschr. S. 182 f)· Im übrigen werden die (26)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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Auswirkungen des strafrechtlichen Analogieverbots dadurch entschärft, daß § 3 2 durch das Erfordernis des Gebotenseins (Absatz 1) und § 34 durch die Interessenabwägung ausreichenden Entwicklungsspielraum belassen. Deshalb besteht auch zu der theoretisch bedenklichen Forderung, bei strafgesetzlich geregelten Rechtfertigungsgründen trotz Analogieverbots doch eine über die mögliche Wortbedeutung hinausgehende einschränkende Auslegung zuzulassen, schon kein praktischer Anlaß (anders Lenckner GA 1968 9; Roxin Kriminalpolitik S. 31 f; ZStW 93 [1981] 80; zu ihnen kritisch Engels GA 1982 123 ff). Abw. findet sich die Ansicht, daß die Rechtfertigungsgründe überhaupt nicht 38 dem Analogieverbot unterlägen. Im Anschluß an die ältere Auffassung, die auf dem IV. Int. Strafrechtskongreß 1937 zum Beschluß erhoben worden war (Actes du Congrès, 1939, S. 442), sagt eine Richtung, daß das Analogieverbot nicht im Bereich des Allgemeinen Teils eingreife (Tröndle LK10 § 1 Rdn. 38; Hardwig ZStW 78 [1966] 8 f ; Suppert Studien S. 299). Diese Meinung vernachlässigt jedoch, daß gerade auch die im Allgemeinen Teil geregelten Rechtssätze unmittelbar den Umfang der Strafbarkeit mitbestimmen, und hat deshalb heute nur noch wenige Anhänger. Eine andere Richtung stellt deshalb zwar nicht grundsätzlich in Abrede, daß das Analogieverbot auch für den Allgemeinen Teil Bedeutung hat, sie will aber Rechtfertigung und Entschuldigung (i. e. S., z. B. § 35) davon ausnehmen (Jescheck AT3 §§ 15 III 2c, 32 III 1; Krey Gesetzesvorbehalt S. 234ff; JZ 1979 712; Stockei Gesetzesumgehung S. 105). Diese Begrenzungen verschieben indes die Gewichte und relativieren bedeutsame strafgesetzliche Festlegungen. Für den Täter und die strafgesetzliche Rechtssicherheit macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob über die mögliche Wortbedeutung hinaus ein Straftatbestand ausgedehnt oder die Schuldfähigkeit, ein persönlicher Strafausschließungsgrund oder eben auch ein im Strafgesetz geregelter Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund eingeschränkt wird. Die Herausnahme von Rechtfertigung und Entschuldigung kann insbesondere nicht darauf gestützt werden, daß sich diese Rechtssätze nur indirekt auf die Strafbarkeitsgrenze auswirkten und nicht — wie die Regelungen von Versuch, Schuldfähigkeit und persönlichen Strafausschließungsgründen — den Strafwürdigkeitsgehalt und die Rechtsfolge unmittelbar mitbestimmten (so aber Jescheck AT 3 aaO). Denn die Rechtswidrigkeit spielt ersichtlich eine zentrale Rolle für die Strafwürdigkeit einer Tat, und zwar eine gewichtigere als die sich erst an ihr Vorliegen anschließenden Fragen der Schuldfähigkeit oder eines persönlichen Strafausschließungsgrundes. Auch ist die kritisierte Auffassung deshalb bedenklich, weil sie sich zu einer Differenzierung innerhalb des Schuldbereichs genötigt sieht. Die von ihr vertretene unterschiedliche Behandlung von Schuldunfähigkeit und Verbotsirrtum einerseits und entschuldigendem Notstand u. dgl. andererseits vernachlässigt, daß sich beide Bereiche auf einer Bewertungsstufe bewegen, nämlich auf der Ebene der Frage, ob der Täter das Unrecht einsehen oder nach dieser Einsicht handeln konnte. Ebenfalls ist die unterschiedliche Behandlung von Entschuldigungsgründen und persönlichen Strafausschließungsgründen nicht einleuchtend. Der offenbar hinter der Konstruktion stehende Gedanke, daß im einen Fall spezifisch strafrechtliche Gesichtspunkte, im anderen allgemeine rechtliche Aspekte eine Rolle spielen, bildet kein geeignetes Abgrenzungskriterium. Denn auch die meisten Straftatbestände sind — insbesondere durch die Vorschriften des zivilen Schadensersatzrechts — ohnehin schon verboten, und die Schuldfähigkeit hat ebenfalls in weiten anderen Bereichen der Rechtsordnung Bedeutung. Außerdem überzeugt nicht der hinter der Differenzierung zwischen direktem und nur indirektem Einfluß auf die Strafbarkeitsgrenze wohl auch stehende Gedanke, daß es sich im einen Fall um „strafbegründende", im (27)

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2. Abschnitt. Die Tat

anderen um „strafausschließende" Rechtssätze handele; denn Schuldunfähigkeit, Verbotsirrtum und persönliche Strafausschließungsgründe sind ihrer Natur nach gleichfalls negative Rechtssätze (vgl. die Wortfassung der §§ 17, 20 und 36 StGB). Da aus allen diesen Gründen für Entschuldigungsgründe (§ 35 u. a.) nichts anderes zu gelten hat als für die letztgenannten allgemeinen Gesichtspunkte, ergibt sich, daß dann — wegen ihres Vorrangs — doch erst recht die strafgesetzlich geregelten Rechtfertigungsgründe dem Analogieverbot unterliegen müssen. Dazu, daß der Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung nicht durch die Geltung des Analogieverbots im Bereich der Rechtfertigungsgründe in Frage gestellt wird (so aber Krey aaO S. 236), siehe Rdn. 37 und 39. Näher zum ganzen Hirsch Tjong-Gedächtnisschr. S. 181 ff. 39

Nicht jedoch gilt das Analogieverbot für die Einschränkung außerstrafgesetzlich geregelter oder nur gewohnheitsrechtlicher Rechtfertigungsgründe (für eine unterschiedliche Behandlung von strafgesetzlich geregelten und anderen Rechtfertigungsgründen schon ausdrücklich Kratzsch GA 1971 72 und andeutungsweise Engels G A 1982120;näherdazu 77i>icÄTjong-Gedächtnisschr. S. 185 ff). Zwar haben alle Rechtfertigungsgründe Einfluß auf den Umfang der Strafbarkeit. Wenn sie nicht in einem Strafgesetz geregelt sind, ist dieser Einfluß jedoch ein nur mittelbarer. Damit, daß keine strafgesetzliche Festlegung erfolgt ist, beschränkt sich das StGB insoweit durch das von ihm genannte Deliktserfordernis „Rechtswidrigkeit" auf eine Blankettlösung. Ebensowenig aber, wie bei den Tatbeständen ein Blankettmerkmal oder ein normativer Tatumstand dazu führen, daß auch die ausfüllenden außerstrafrechtlichen Rechtssätze dem Analogieverbot unterliegen (vgl. Sch.-Schröder-Esercì § 1 Rdn. 36; Höpfel JurBl. 1979 585f), sind die das Deliktsmerkmal der Rechtswidrigkeit ausfüllenden außerstrafrechtlichen Rechtssätze diesem Verbot unterworfen. Die außerhalb der Strafgesetze geregelten Rechtfertigungsgründe entziehen sich weitgehend einer strafgesetzlichen Festlegung, da ihre Zahl unbestimmt und ihr Anwendungsbereich nicht selten spezieller Natur ist. Daß hier für das Analogieverbot kein Raum ist, bedeutet kein Abstellen auf äußere, zufällige Kriterien. Die Grenzziehung berücksichtigt vielmehr den Umstand, daß im einen Fall der Gesetzgeber ausdrücklich eine strafgesetzgeberische Festlegung getroffen hat, für die nichts anderes gelten darf als für die übrigen strafgesetzlichen Regelungen, es dagegen in den anderen Fällen allein bei der pauschalen strafgesetzlichen Angabe des Rechtswidrigkeitserfordernisses geblieben ist.

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bb) Hinsichtlich des Bestimmtheitsgebots unterliegen die Rechtfertigungsgründe ihrem Wesen nach weniger strengen Erfordernissen als die Tatbestandsmerkmale. Eine strenge Garantiefunktion haben insoweit nur die Tatbestände. Bei den Rechtfertigungsgründen bedarf es ihrer nur in geringerem Maße, da es bei ihnen lediglich um ausnahmsweise Einschränkungen der Strafbarkeit geht. Technisch ist es auch gar nicht möglich, alle denkbaren Ausnahmesituationen exakt zu vertypen, so daß hier ohne generalklauselartige Begriffe (z. B. derzeit beim rechtfertigenden Notstand) nicht auszukommen ist und darüber hinaus sogar — weil Ausdehnung zugunsten des Täters — auf ungeschriebene Rechtssätze zurückgegriffen werden darf. Jedoch schließt Art. 103 Abs. 2 G G aus, daß an die Stelle ausformulierter, wenn auch wesensmäßig weitgefaßter Rechtfertigungsgründe lediglich eine Generalklausel gesetzt wird, z. B. pauschal „materielle Rechtswidrigkeit" (vgl. Rdn. 13). Der Rückgriff auf nur pauschale Rechtfertigungsformeln verstößt auch dann gegen das Bestimmtheitsgebot, wenn sie anderen Rechtsgebieten entnommen werden. Denn (28)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

aus dem Blankettcharakter des Straftaterfordernisses „rechtswidrig" folgt gerade, daß auf ausformulierte Rechtssätze Bezug genommen wird. Welche Schwierigkeiten schon leitbildlose Merkmale innerhalb von Rechtfertigungsgründen heraufbeschwören können, ist bei §226 a allgemein deutlich geworden (näher dazu LK.10 § 2 2 6 a R d n . 2 m. Nachw.). cc) Das Rückwirkungsverbot besagt bei Rechtfertigungsgründen, daß ein im Zeit- 41 punkt der Tat geltender gesetzlicher oder sonst anerkannter Rechtfertigungsgrund vom Gesetzgeber nicht rückwirkend aufgehoben oder eingeschränkt werden kann. Anders als beim Analogieverbot geht es hier nicht nur um strafgesetzlich geregelte Rechtfertigungsgründe, sondern um alle. Insoweit gilt auch hier nichts anderes als bei Änderungen der Ausfüllungsnorm eines Blankettstrafgesetzes, für welche die Geltung des Rückwirkungsverbots heute einhellig anerkannt ist (vgl. Sch.-SchröderEser2\ § 2 Rdn. 23 m. w. Nachw.). Denn ein deliktischer Verstoß gegen die Rechtsordnung setzt sachlich voraus, daß der Rechtsbefehl, gegen den zuwidergehandelt wird, bereits existent ist. In der Auswirkung auf das Strafrecht ist dies zusätzlich durch Art. 103 Abs. 2 GG garantiert, da es für die Bestimmtheit der Tat notwendig darauf ankommt, daß die Rechtswidrigkeit im Zeitpunkt der Begehung gegeben ist. c) Über den praktisch wenig bedeutsamen Fall hinaus, daß ein Rechtfertigungs- 42 grund wegen Verstoßes gegen das (hier stark abgeschwächte) Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verfassungswidrig ist, kann sich die Ungültigkeit auch aus dem Widerspruch zu anderen Normen des GG ergeben, so wenn ein im Wortlaut von der Prozeßordnung gedecktes Haftrecht verfassungswidrig ist. Zur Frage der Auswirkung der MRK auf den Umfang des Notwehrrechts siehe Jescheck AT3 § 32 V. Ungültigkeit aufgrund überpositiver Rechtsgedanken kommt dagegen de lege lata nicht in Betracht, da die Verfassung und damit das positive Recht umfassende rechtliche Sicherungen enthalten. Anders liegt es bei der Beurteilung von Straftaten, die vor Inkrafttreten des GG oder außerhalb seines Geltungsbereichs begangen sind. An der Gültigkeit eines Rechtfertigungsgrundes fehlt es, wenn, wie es insbesondere in der Zeit des Dritten Reiches vorkam, die Form eines Gesetzes oder einer Verordnung zu Unrechtszwecken mißbraucht wird. In dem Fall, daß eine Regelung dem überpositiven „Kernbereich des Rechts" widerspricht (BGHSt. 2 234, 237; KG NJW 1956 1570), „die Gerechtigkeit nicht einmal anstrebt" (BGHSt. 3 357, 363), entbehrt sie der Gültigkeit und scheidet deshalb als Rechtfertigungsgrund aus (im einzelnen Maurach AT 4 § 25 IV 2). Praktisch bedeutsamer sind in Unrechtsregimen die Fälle geheimer Befehle, Erlasse und Ermächtigungsschreiben. Hier fehlt bereits das für einen Rechtssatz bestehende formelle Erfordernis der Verkündung. Zu geheimen Führerbefehlen: OHGSt. 1 324 mit Anmerkung Eb. Schmidt SJZ 1949 563 und Anmerkung Welzel MDR 1949 375; OLG Frankfurt SJZ 1947 621, 623f mit Anmerkung Radbruch; außerdem Arndt NJW 1964 486 u. 1310; Baumann NJW 1964 1398; Henkys-Scharf-Baumann-Goldschmidt Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (1964); Lewald NJW 1964 1658; Radbruch SJZ 1946 105; Redeker NJW 1964 1097; Welzel NJW 1964 521 ; teilweise anders Rittler SchwZStr. 62 (1946) 271 ; Roesen NJW 1964 133 u. 1111. Aber auch eine abstrakt gültige Rechtsnorm kann in concreto solche Maßnah- 43 men der Exekutive nicht rechtfertigen, die als Willkürakte einen Mißbrauch der gesetzlich eingeräumten Befugnisse enthalten (OLG Braunschweig NdsRpfl. 1948 48, 50). Das gleiche gilt für den Bereich der Rspr. (BGHSt. 3 110; 4 66). Schon zur Zeit des 1. Weltkrieges hatte das RG entschieden, daß eine Schutzhaft, die nicht nach (29)

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2. Abschnitt. Die Tat

pflichtgemäßem Ermessen, sondern willkürlich angeordnet wurde, eine rechtswidrige Freiheitsentziehung darstellt (RGZ 92 242; 101 325). 44

d) Da die Rechtswidrigkeit stets als Eigenschaft einer tatbestandsmäßigen Handlung auftritt, kann für die Rechtswidrigkeitsbewertung allein die Tatzeit i. S. der Zeit der Ausführungshandlung (vom ersten Versuchsakt bis zur abschließenden Tätigkeit) entscheidend sein (ζ. B. RGSt. 25 375, 383; 60 37; 61 393). Bei den relativ selbständigen Akten einer rechtlichen Einheit (ζ. B. des fortgesetzten oder des Dauerdelikts) ist jeder Einzelakt für sich zu bewerten (Mezger LK8 Vor § 51 Bern. 9d). Da die Tatzeit (im Gegensatz zu der Zeit des eintretenden Erfolgs) maßgebend ist, kann es keine bedingte Rechtswidrigkeit dergestalt geben, daß sich durch nachträgliche Ereignisse eine nicht widerrechtliche Handlung zur widerrechtlichen oder eine zur Tatzeit widerrechtliche Handlung zur nicht widerrechtlichen wandelt. Der zur Tatzeit bestehende Rechtscharakter der Tat kann sich also nachträglich nicht umgestalten. Mithin gibt es im Unterschied zu der gem. § 184 BGB für Rechtsgeschäfte geltenden Regelung auch keine Genehmigung des Delikts mit der Wirkung, daß seine Rechtswidrigkeit ex tunc entfiele (RGSt. 25 375, 383; über Einzelfragen Mezger aaO). Zu dem bereits die Tatbestandsmäßigkeit betreffenden Problem, ob das Rechtsgut eines Zustandsdelikts im Zeitpunkt der Einwirkung auf das Tatobjekt bereits vorhanden sein muß oder ob genügt, es von vornherein gemindert entstehen zu lassen, siehe LK10 Vor § 223 Rdn. 7.

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Wird nachträglich durch den Gesetzgeber der Umfang der Rechtfertigung erweitert, so greift zwar § 2 Abs. 3 ein. Jedoch hebt er nicht die zur Tatzeit bestehende Rechtswidrigkeit auf (wichtig für die Notwehrrechte anderer), sondern besagt nur, daß in bezug auf die Bestrafung des Täters so zu entscheiden ist, als habe der Rechtfertigungsgrund schon gegolten.

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e) Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen. Es ist möglich, daß bei einer tatbestandsmäßigen Handlung mehrere Rechtfertigungsgründe zusammentreffen. In der Regel sind sie nebeneinander anwendbar, da die Rechtfertigungsgründe grundsätzlich voneinander unabhängig sind. Ausnahmsweise kann jedoch ein Rechtfertigungsgrund unter dem Gesichtspunkt der Spezialität andere Rechtfertigungsgründe verdrängen, wenn sich seine Ausschlußwirkung unter Berücksichtigung von Wortlaut und Zweck der Vorschriften ergibt (näher Warda Maurach-Festschr. S. 143 ff). Ein solcher Fall kommt in Betracht, wenn ein Rechtfertigungsgrund für einen bestimmten Teilbereich die Voraussetzungen spezieller regelt, so z. B. : gegenüber § 34 der §218a, der § 193 (bezüglich der in ihm enthaltenen Notstandsfälle) und die §§ 228, 904 BGB (näher LK 10 § 34 Rdn. 82 ff); gegenüber § 226a StGB das KastrG; gegenüber § 228 BGB der § 26 BJagdG. Die Spezialität kann ihren Grund sowohl darin haben, daß die Rechtfertigungsvoraussetzungen gegenüber der allgemeinen Regelung spezifiziert werden sollen, als auch darin, daß für einen bestimmten Sachbereich eine Verdeutlichung der Rechtfertigungsmöglichkeit erfolgen soll. Ist dagegen ein derartiges Verhältnis nicht gegeben, so können mehrere Rechtfertigungsgründe gleichrangig nebeneinander stehen, wobei jeder schon für sich allein die Rechtfertigung stützt. Keinen Spezialfall des rechtfertigenden Notstands stellt die Notwehr dar (anders jedoch Seelmann Verhältnis S. 46 ff). Bei ihr geht es nicht wie in § 34 um eine auf den Einzelfall bezogene Interessenabwägung, sondern um eine vom Gesetzgeber vorgenommene Wertabwägung zugunsten der Bewährung der Rechtsordnung. Zur Frage, wie sich § 32 und die Besitzwehrvorschrift des § 859 Abs. 1 BGB zueinander verhalten, siehe unten Rdn. 68. (30)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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2. System der Rechtfertigungsgriinde In der Wissenschaft hat man immer wieder versucht, ein System der Rechtferti- 47 gungsgründe zu entwickeln. Dabei geht es darum, durch Herausarbeitung allgemeiner Prinzipien nicht nur die bestehenden Rechtfertigungsgründe zu systematisieren, sondern auch den Weg zum Erkennen und Formulieren neuer Rechtfertigungsgründe aufzuzeigen. Von den „monistischen" Theorien, die alle Rechtfertigungsgründe einem einzigen Prinzip unterordnen wollen, sind zu nennen: die Zwecktheorie, nach der solche Eingriffe nicht rechtswidrig sind, die sich als angemessenes Mittel zur Erreichung eines berechtigten Zweckes darstellen ( Graf Dohna Rechtswidrigkeit S. 48, 54; v. Liszt-Schmidt § 32 II, § 35 III; Eb. Schmidt ZStW 49 [1928] 350), das „Mehr-Nutzen-als-Schaden"-Prinzip {Sauer AT § 13 I 3 f), das Prinzip des „in der konkreten Situation vorgehenden Gutsanspruchs" (Schmidhäuser AT 2 9/13) oder des „im konkreten Fall überwiegenden Interesses, Rechtsguts oder Werts" (Seelmann Verhältnis S. 32) und schlicht die „Wertabwägung" (Noll ZStW 68 [1956] 183; 77 [1965] 9; SchwZStr. 80 [1964] 160). Andere Systematisierungsversuche zielen auf Zusammenfassung der Rechtfertigungsgründe in mehreren Gruppen („pluralistische" Theorien). So wird neben das „Prinzip des mangelnden Interesses" das „Prinzip des überwiegenden Interesses" (Mezger AT §27; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 7) oder neben das „Prinzip des mangelnden Unrechts" das „Prinzip des überwiegenden Rechts" (Blei AT 18 § 36 I) gestellt. Zu den Systematisierungsversuchen siehe weiterhin Schröder SchwZStr. 76 (1960) 8; Stratenwerth ZStW 68 (1956) 41. Da die von den monistischen, aber auch die von den pluralistischen Theorien 48 aufgestellten Prinzipien zu allgemein und formal sind, um aus ihnen konkrete Ergebnisse ableiten zu können, haben sich diese Einteilungsversuche bisher als wenig fruchtbar erwiesen. Man ist über „sehr formale Abstraktionen oder lockere Aneinanderreihungen" nicht hinausgekommen (Roxin Kriminalpolitik S. 26). Überdies hat durch die Schaffung von § 16 OWiG und § 34 das Interesse, mit Hilfe der Aufstellung allgemeiner Rechtfertigungsprinzipien Quellen neuer Rechtfertigungsgründe zu erschließen, stark an Bedeutung verloren. Auch ist dogmatisch unerheblich, wie man den Katalog der Rechtfertigungsfälle gruppiert und an welcher Stelle man einen Rechtfertigungsgrund in ihn einordnet. Die h. L. verzichtet deshalb darauf, eine allgemeingültige Systematisierung der Rechtfertigungsgründe zu versuchen (BaumannS § 19 III 3a; Bockelmann AT3 § 15 II; Jescheck AT3 §31 II 3; Maurach-Zipf6 § 25 III; Welzel 11 § 14 I 3). Dagegen bezeichnet Roxin eine von der kriminalpolitischen Funktion ausgehende Systematisierung als noch zu lösende Aufgabe (aaO). Der Verzicht auf die fragliche Systembildung schließt nicht aus, daß sich in der Rechtfertigungslehre einzelne allgemeine Erfordernisse herausarbeiten lassen, wie die subjektiven Rechtfertigungselemente und — bei den meisten Rechtfertigungsgründen — der Gesichtspunkt der konkreten Erforderlichkeit (zu diesem Armin Kaufmann Normentheorie S. 254). 3. Generelle Erfordernisse der Rechtfertigungsgriinde a) Die Rechtfertigungsfrage hat zur Voraussetzung, daß der Täter überhaupt ei- 49 nen Tatbestand verwirklicht hat. Es kann sich dabei um einen Vorsatz- oder auch Fahrlässigkeitstatbestand handeln, wobei im zweiten Fall genau zu prüfen ist, ob tatbestandlich überhaupt ein Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt vorliegt (zur Bedeutung der Lehren von der „Sozialadäquanz" und vom „erlaubten Risiko" siehe Rdn. 29 u. 32). Für die Möglichkeit der Rechtfertigung von fahrlässi(31)

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2. Abschnitt. Die Tat

gen Handlungen auch die h. M.: BGHSt. 25 229; B G H 2 StR 310/57 bei Daliinger M D R 1958 12; R G J W 1925 962; O L G H a m m N J W 1962 1169; Dreher-Tröndle41 § 15 Rdn. 15; Jescheck AT3 § 56 11 ; Maurach-Gössel-Zipf6 § 44 I D ; Samson S K 3 Anh. § 16 Rdn. 31; Schaffstein Welzel-Festschr. S. 562; Schmidhäuser A T 2 9 / 1 8 ; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 92; WelzelU § 18 II; anders früher O L G Frankfurt N J W 1950 119; wohl auch RGSt. 56 285). War ζ. B. mit dem Risiko des Eintritts ungewollter Folgen behaftete konkrete Verteidigungshandlung ex ante erforderlich, so ist damit auch der Eintritt der Folgen durch Notwehr gerechtfertigt. Es zeigt sich gerade auch bei diesem Punkt, daß Vorsatz und objektive Fahrlässigkeit (Sorgfaltswidrigkeit) schon Tatbestandselemente sind, da sich andernfalls die Frage, ob auch eine fahrlässige Handlung gerechtfertigt sein kann, im R a h m e n der Rechtfertigungsprüfung gar nicht ergeben könnte. Eine exakte Entscheidung über die Rechtfertigung (dabei speziell über das zumeist notwendige Merkmal der Erforderlichkeit) ist nicht möglich, ohne daß zuvor geklärt worden ist, ob es um die Rechtfertigung einer vorsätzlichen oder einer (objektiv) fahrlässigen Tatbestandshandlung geht. Andererseits liefe eine Auffassung, die weitergehend die Rechtfertigungsfrage beim fahrlässigen Delikt schon zur Voraussetzung des Tatbestandserfordernisses der Sorgfaltswidrigkeit machen würde, darauf hinaus, daß man die Wertdifferenz zwischen einer erfolgsverursachenden Handlung, die sich noch im Rahmen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hält, und einer, die gegen diese Sorgfaltsanforderungen verstößt, aber ausnahmsweise gerechtfertigt ist (etwa durch rechtfertigenden Notstand, Notwehr oder rechtfertigende Einwilligung), einebnet, dabei auch die spezifischen Rechtfertigungsvoraussetzungen leicht vernachlässigt.

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b) aa) Die Rechtfertigungsgründe verlangen außer dem Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsmerkmale stets, daß auch das jeweilige subjektive Rechtfertigungselement, ζ. B. bei der Notwehr der Verteidigungswille, gegeben ist. So die st. Rspr., nämlich zur Notwehr (BGHSt. 3 194; 5 245; 25 229, 232; B G H bei Holtz M D R 1978 279; B G H G A 1980 67; B G H N J W 1983 2267; B G H NStZ 1983 117; RGSt. 54 196; 56 259, 268; 60 261 ; R G G A 45 [1897] 272; R G JW 1938 657), zum rechtfertigenden Notstand (BGHSt. 2 111, 114; 3 7; RGSt. 62 137; jetzt auch ausdrücklich § 34), zur rechtfertigenden Einwilligung (vgl. die Rspr. zur [modifizierten] Erklärungstheorie [siehe Rdn. 109]; abw. K G J R 1954 428 [Willensrichtungstheorie]); zum Züchtigungsrecht (BGHSt. 11 241, 257; RGSt. 67 324, 327; O L G H a m m N J W 1956 169); zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 (BGHSt. 18 182, 186; RGSt. 61 400; 66 1; R G J W 1936 1909); zur vorläufigen Festnahme gemäß § 127 StPO (RGSt. 71 49). Allgemein anerkannt werden subjektive Rechtfertigungselemente ebenfalls von der herrschenden Lehre (Bockelmann AT3 § 15 Β I 2 d ; DreherTröndle41 § 16 Rdn. 28; Jakobs 1 1 / 1 9 f f ; Jescheck AT3 § 31 IV 1 ; Kohlrausch-Lange Syst. Vorbem. III 2 b [S. 18]; Lackner 15 Bern. II; Lenckner H. Mayer-Festschr. S. 165; Maurach N J W 1962 771; Maurach-Zipß § 25 V Β; H. Mayer AT § 26 I I ; Niese Finalität S. 17 f ; Rudolphi Maurach-Festschr. S. 57 ; Sieverts Subj. Unrechtselemente S. 199ff; Welzein § 14 I 3 b ; siehe außerdem Schaffstein M D R 1951 196; Samson S K 4 Rdn. 23 ff; Sch.-Sch rôder- Lenckn er 21 Rdn. 13 ff; S tra ten wert hl Rdn. 487, die sich bezüglich des Vorsatzdelikts überhaupt für eine Subjektiverung der Frage des Unrechtsausschlusses aussprechen (näher dazu Rdn. 52). Nicht bei allen, jedoch einer Reihe von Rechtfertigungsgründen werden subjektive Rechtfertigungselemente bejaht von Baumann& § 2 1 I 3 c ; Gallas Bockelmann-Festschr. S. 172ff; Schmidhäuser AT2 9 / 1 7 ; Waider Subj. Rechtfertigungselemente S. 170ff. (32)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Abw. findet sich eine rein objektive Rechtfertigungsauffassung, herrührend von 51 der früheren objektivistischen Unrechtslehre, bei Beling Lehre vom Verbrechen S. 141 ; Mezger L K 8 Vor § 51 Bern. 9 b ; Lb. § 20; Nowakowski ZStW 63 (1951) 319 (siehe aber auch JurBl. 1972 27); Oehler Zweckmoment S. 165ff; Rittler AT2 § 18; Roxin Offene Tatbestände S. 161 ; Rudolphi Maurach-Festschr. S. 58; Spendei LK10 § 3 2 Rdn. 138ff; D R i Z 1978 333; Bockelmann-Festschr. S. 245. Ebensowenig jedoch, wie die Verwirklichung objektiver Tatbestandsmerkmale ein Verbot erfüllt, wenn nicht die subjektive Handlungsseite vorliegt, ist ohne das subjektive Rechtfertigungselement ein Erlaubnissatz gegeben (Niese Finalität S. 17). Das zeigt auch die ausdrückliche Hervorhebung in §§ 32 und 34 sowie § 16 OWiG und §§ 228, 229 und 904 BGB u. a. Im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut gerade des neu geschaffenen § 34 wird man die rein objektive Auffassung als durch die Gesetzgebung überholt ansehen müssen. Heute geht es nur noch um die Frage des inhaltlichen Umfangs der einzelnen subjektiven Rechtfertigungselemente (dazu Rdn. 53 ff)· Umgekehrt will eine akzentuiert subjektiv ausgerichtete Lehrmeinung die Vor- 5 2 Stellung vom Vorliegen der objektiven Merkmale eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes als tatbestandsausschließendes negatives Vorsatzelement betrachten, indem sie die objektiven Rechtfertigungsmerkmale als negative Tatbestandsmerkmale ansieht und gleichzeitig den Vorsatz zum Tatbestand zählt (Kombination der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen mit der personalen Unrechtslehre); subjektive Rechtfertigungsseite und „negative Seite" des Vorsatzes sollen identisch sein (v. Weber Grdr. S. 88; Mezger-Festschr. S. 191; Schaffstein MDR 1951 196; in dieser Richtung auch Samson S K 4 Rdn. 5, 9 f f , 24; Rudolphi SK.3 § 16 Rdn. 10, 12). Diese Auffassung bedeutet, daß das Unrecht der Vorsatztat unabhängig vom Gegebensein der objektiven Rechtfertigungsmerkmale allein schon aufgrund der subjektiven A n n a h m e ihres Vorliegens entfällt. Zu einem solchen Ergebnis führt auch eine Auffassung, nach der ebenfalls die Vorstellung des Vorliegens der objektiven Rechtfertigungsmerkmale subjektive Rechtfertigungsseite sein und, auch wenn nur irrige Annahme, als „Gegenstück zum Vorsatz" zwar nicht den Vorsatz selbst, aber das Handlungsunrecht der Vorsatztat ausschließen soll (so Stratenwerth3 R d n . 4 8 4 f f , 504; der Sache nach auch Sch.-Schröder2\ Rdn. 13ff, Vor § 13 Rdn. 18, 60 [Lenckner], § 15 Rdn. 26, § 16 Rdn. 13ff [Cramer]; Jakobs l l / 2 0 f f ; Prittwitz G A 1980 386 [siehe aber auch S. 389]). Derartige Konstruktionen widersprechen aber den im geltenden Recht aufgestellten Voraussetzungen der Unrechtsausschlußgründe, wonach die Rechtfertigung sachentsprechend von objektiven und subjektiven Erfordernissen abhängig ist. Denn jene Thesen laufen darauf hinaus, daß die subjektive Rechtfertigungsseite schon für sich allein zum Rechtfertigungsgrund der Vorsatztat wird, also bereits die Putativrechtfertigung unrechtsausschließend wirkt. Durch einen solchen Subjektivismus werden die Voraussetzungen der Rechtfertigung verkürzt und der Unterschied zwischen Unrechts- und Schuldfragen verwischt. Dazu näher Armin Kaufmann Normentheorie S. 246 f, 258; WelzelFestschr. S. 398 ff; Gallas Bockelmann-Festschr. S. 166 ff; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 245 ff; ZStW 94 (1982) 257 ff. bb) Inhalt des subjektiven Rechtfertigungselements. Der Täter muß subjektiv das 5 3 Ziel verfolgen, um dessen rechtliche Ermöglichung es bei der jeweiligen Erlaubnisnorm geht, also die Verteidigung, Gefahrabwendung, Selbsthilfe, Erziehung u. dgl. beabsichtigen. Es handelt sich um das finale Element des betreffenden Rechtfertigungsaktes, nämlich die Absicht, die dem betreffenden Verhalten Inhalt und Bedeutung verleiht (vgl. Niese Finalität S. 17ff; Baldus L K 9 § 53 Rdn. 16). Ein Täter, (33)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

der ungewollt kausal wird in bezug auf eine Angriffsabwehr, hat damit noch keine auf Verteidigung gerichtete (der Verteidigung gewidmete) Handlung vorgenommen. Hierzu gehört vielmehr der Abwendungszweck, was um so deutlicher wird, wenn man beachtet, daß die Rechtfertigung nicht von der Zielerreichung abhängig ist, sondern schon das Unternehmen der Zielverwirklichung erfaßt. Diesen Standpunkt nimmt auch ausdrücklich das Gesetz ein, so §§32 und 34 sowie §228 BGB (um abzuwenden), § 904 BGB (zur Abwendung), § 229 BGB (zum Zwecke der Selbsthilfe). Bei der rechtfertigenden Einwilligung gilt, wie in anderen Punkten, eine Besonderheit: Da sie nicht das Ziel des Handelns ist, sondern dessen Voraussetzung, geht es bei ihr subjektiv nicht um den jeweiligen Rechtfertigungszweck, sondern darum, daß der Täter subjektiv aufgrund der Einwilligung handelt (dazu noch Rdn. 57). Im übrigen ist allgemein bei den subjektiven Rechtfertigungselementen zu beachten, daß sie von anderen Zwecken begleitet sein können, solange diese sie nur nicht völlig in den Hintergrund drängen (BGHSt. 3 194, 198; BGH bei Dallinger M D R 1969 16; 1972 16; BGH bei Holtz M D R 1979 634; BGH GA 1980 67; BGH NStZ 1983 117; RGSt. 54 196ff, 199; 60 261, 262). Das gilt auch, wenn Zorn, Wut, das Streben nach Rache oder Ekel bei der Tat eine Rolle spielen (BGH bei Holtz M D R 1979 634; BGH GA 1980 67; BGH NStZ 1983 117). 54

Abw. Auffassungen wollen über den jeweiligen Rechtfertigungszweck hinausgehend die subjektive Seite der Rechtfertigung an zusätzliche Erfordernisse knüpfen. Hierbei geht es einmal um die Ansicht, die bei einigen Rechtfertigungsgründen die pflichtmäßige Prüfung als zusätzliches subjektives Rechtfertigungselement verlangt. So hat die Rspr. zum früheren übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand, der heute in § 34 gesetzlich vertypt ist, neben dem Gefahrabwendungswillen die pflichtmäßige Prüfung der Sachlage gefordert (RGSt. 62 137; 64 101, 104; BGHSt. 1 329; 2 111, 114; 3 7; 14 1). Hiergegen wandte sich zuletzt mit Recht die h. L., weil damit sachwidrig die Frage der Vermeidbarkeit des Putativnotstands mit der des subjektiven Rechtfertigungselements verquickt wurde (näher LK.10 § 34 Rdn. 77, 90 f)· Für § 34 kann die frühere Judikatur auch deshalb nicht mehr gelten, weil der Gesetzgeber ausdrücklich nur den Gefahrabwendungswillen als subjektives Erfordernis aufstellt (wie hier die h.L.: Baumann8 §22 112; Jescheck AT3 §1 IV3; Maurach-Zip/6 §27 III 7 b ; Rudolphi Schröder-Gedächtnisschr. S. 73; Samson SK4 Rdn. 26; Sch.-Schröder-Lenckner2\ § 34 Rdn. 49; anders aber Blei AT 18 § 44 V). — Auch die Ansicht, beim Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung sei die pflichtmäßige Prüfung als subjektives Rechtfertigungselement zu verlangen (Jescheck AT 3 §34 VII 3; Roxin Welzel-Festschr. S. 453; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 58 m. w. Nachw.), vermag nicht zu überzeugen, weil dabei ebenfalls Rechtfertigungsvoraussetzungen und die Frage des vermeidbaren Irrtums über deren Vorliegen vermischt werden (näher Rdn. 140). — Von der vorstehenden Problematik sind die Fälle zu unterscheiden, in denen schon für einen Rechtfertigungsgrund genügt, daß der Täter bei sorgfältiger Prüfung der Sachlage die Voraussetzungen des Einschreitens als gegeben annimmt, so bei Amtsrechten (z. B. bei vorläufiger Festnahme durch Beamte nach § 127 StPO). Bei ihnen schränkt die pflichtmäßige Prüfung im Gegensatz zu jenen Auslegungen die Rechtfertigungsbefugnis nicht zusätzlich ein, sondern umgekehrt erweitert sie einen Rechtfertigungsgrund, indem für die Rechtfertigungslage schon die pflichtmäßige Bejahung der Voraussetzungen ausreicht (dazu Lenckner H. Mayer-Festschr. S. 165).

55

Ein Teil des Schrifttums verlangt, daß außer dem speziellen Rechtfertigungszweck (Verteidigungsabsicht u. dgl.) auch die Kenntnis von der Rechtsfertigungslage (34)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

(gegenwärtiger Angriff u. dgl.) gegeben ist (Blei AT 18 § 39 II 1 ; Jescheck AT3 § 31 IV 1 ; Welzel 11 § 14 I 3 b). Bei dieser Kenntnis handelt es sich jedoch, soweit sie relevant wird, nur um eine unselbständige Voraussetzung des Zweckmoments : Wer nicht die Vorstellung hat, angegriffen zu werden, hat auch keinen Verteidigungswillen. Im übrigen wäre der Täter, insbesondere in den Fällen der Notrechte, überfordert, wenn er sich die Rechtfertigungslage in allen ihren Voraussetzungen exakt bewußt machen müßte. Dies zu verlangen, widerspräche überdies den einschlägigen Vorschriften, da sie subjektiv lediglich den zielgerichteten Willen fordern und die Hinzunahme der fraglichen Kenntnis eine über den möglichen Wortsinn hinausgehende und deshalb nicht nur sachlich zu weitgehende, sondern auch unzulässige Einschränkung des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes bilden würde. Noch weitergehend findet sich die Ansicht, daß die subjektive Seite der Recht- 56 fertigungsgründe grundsätzlich nicht in einem Zweckmoment, sondern bei Vorsatztaten in der Kenntnis der objektiven Merkmale des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes bestehen müsse (vgl. die Nachw. Rdn. 52). Nur ausnahmsweise, nämlich bei „unvollkommen zweiaktigen Rechtfertigungsgründen", z. B. § 127 StPO bezüglich der Ermöglichung der Strafverfolgung, komme es auf eine Absicht an (vgl. Lampe GA 1978 7; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 16). Aber abgesehen davon, daß der Rechtfertigungstäter damit noch stärker psychisch überfordert wäre — zumal Rechtfertigungsgründe nicht selten eine ganze Reihe, teilweise nicht unkomplizierter Voraussetzungen aufweisen (z. B. § 34) —, ist zu bedenken, daß Rechtfertigungsmerkmale wie „erforderlich" oder „Abwägung der widerstreitenden Interessen" überhaupt nicht Elemente der RechtfertigungsAa«i//wHg sind, sondern erst deren rechtlicher Bewertung dienen. Hinzu kommt, daß jene Konstruktion ebenfalls in deutlichem Gegensatz zu den nur den jeweiligen Rechtfertigungszweck in subjektiver Hinsicht erfordernden positivrechtlichen Regelungen steht; diese dürfen nicht zuungunsten des Täters verändert werden. Auch ist der Einwand von Stratenwerthl Rdn. 489, daß die auf den Rechtfertigungszwecfc abstellende h. M. die Grenze zur bloßen sittlichen Beurteilung überschreite, nicht einsichtig. Denn es geht lediglich um das finale Moment des Rechtfertigungsaktes. Zum Wesen eines auf Verteidigung gerichteten Handelns gehört die Verteidigungsabsicht. Außerdem geht Stratenwerth, indem er bei Vorsatztaten Kenntnis aller objektiven Rechtfertigungsmerkmale verlangt, hinsichtlich der subjektiven Anforderungen viel weiter als die h. M.; er ist überdies zu Ausnahmen gezwungen, bei denen auch er auf die spezifische Willensrichtung zurückgreift (aaO Rdn. 491). Bei der rechtfertigenden Einwilligung ist notwendig, daß der Täter subjektiv auf- 57 grund der Einwilligung handelt (Dreher-Tröndle41 Rdn. 3 b ; Jescheck AT3 § 34 V; Wekeln § 14 VII 2 b ; Wessels AT 13 § 8 I 2). Abw. will ein Teil des Schrifttums bloße Kenntnis der Einwilligung genügen lassen (Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 51; widersprüchlich Blei AT 18 § 37 II 2) oder sie sogar als ganz entbehrlich betrachten (Baumann8 § 21 II 5 c). Hiermit würde jedoch die notwendige Verknüpfung von Täterverhalten und Rechtfertigungsgrund aufgehoben werden, es wäre ohne Bedeutung, ob der Täter überhaupt von der Eingriffsbefugnis Gebrauch gemacht hat. Außerdem ergäbe sich ein Widerspruch zur Struktur der subjektiven Rechtfertigungselemente anderer Rechtfertigungsgründe, da dort gerade nicht schlicht die Kenntnis genügt (Rdn. 53). Vielmehr entspricht dem Handeln wegen der Zielerreichung (Handeln zum Zwecke der Verteidigung u. dgl.), wie es bei den anderen Rechtfertigungsgründen notwendig ist, hier das Handeln wegen (aufgrund) der vorliegenden Einwilligung. Das zeigt sich auch positivrechtlich bei der tatbe(35)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

standlichen Unrechtsprivilegierung in § 216, die ausdrücklich erfordert, d a ß der Täter durch die Einwilligung „bestimmt" worden ist. Es kommt aus den genannten Gründen f ü r die rechtfertigende Einwilligung darauf an, ob der Täter auch gehandelt haben würde, wenn die Einwilligung nicht gegeben wäre; in solchem Fall stützt er sich bei seinem Vorgehen nicht auf die Eingriffsbefugnis. 58

Auch zur Rechtfertigung fahrlässigen Verhaltens bedarf es des subjektiven Rechtfertigungselements (OLG H a m m N J W 1962 1169; Baldus L K 9 § 53 Rdn. 16; Dreher-TröndleM § 32 Rdn. 14 u. 16; Geppert ZStW 83 [1971] 979; Jescheck AT3 § 5 6 I; Lackner§32 Bern. 2 g aa; Maurach-Gössel-Zipfi §44 I D l c ; WelzelU § 14 VII 3; Wessels Ατη § 8 V 2; anders O L G Dresden JW 1929 2760; O L G Frankfurt N J W 1950 199; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 97 ff; Schaffstein WelzelFestschr. S. 574; R. Schmitt JuS 1963 64; Stratenwerthl Rdn. 1119; Himmelreich Notwehr S. 100 ff)· Daß insoweit kein Unterschied gegenüber der Rechtfertigung vorsätzlicher Handlungen besteht, beruht darauf, daß es nicht um Fälle unbewußter Rechtfertigungslage, sondern fahrlässigen Handelns im Rahmen eines willentlichen Rechtfertigungsakts geht (vgl. die Sachverhalte in BGHSt. 25 229 und 27 313).

59

cc) Rechtswirkung bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements. D a nur die objektiven Rechtfertigungsmerkmale vorliegen, ist der Rechtfertigungsgrund nicht erfüllt und somit die Rechtswidrigkeit der tatbestandsmäßigen Handlung gegeben. Der Täter ist, falls sich nicht die Rechtfertigungsfrage auf eine nur versuchte Tatbestandsverwirklichung bezog (dann deshalb Versuch), wegen vollendeter Tat zu bestrafen (BGHSt. 2 111, 115; Dreher-Tröndle^l § 3 2 Rdn. 14; Gallas BockelmannFestschr. S. 172ff [anders bei Einwilligung]; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale S. 254 f; Maurach N J W 1962 772; Niese Finalität S. 18; Paeffgen Verrat S. 156; Schmidhäuser StudB2 6 / 2 4 ; R. Schmitt JuS 1963 65; WelzelU § 14 I 3 b ; Zielinski Handlungsunwert S. 259 ff; Foth J R 1965 369).

60

Abw. will die heute insbesondere im Schrifttum vorherrschende Ansicht mit Rücksicht auf das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsmerkmale nur wegen untauglichen Versuchs strafen ( K G GA 1975 215; Bockelmann AT3 § 15 I 2 c ; Jakobs 11/23; Jescheck AT3 § 31 IV 2; Lackner 15 § 22 Anm. 2 d ; Maurach-Zipf6 § 25 V C 1; Samson S K 4 Rdn. 24; Sch,-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 15; Stratenwerthl Rdn. 492ff [in einigen Fällen jedoch für Bestrafung wegen Vollendung]; Vogler LK10 § 2 2 Rdn. 140; u.a.). Überwiegend beruft man sich dabei auf Analogie (so etwa Jescheck, Maurach-Zipf Sch.-Schröder-Lenckner, Stratenwerth, sämtlich aaO). Für Autoren dagegen, welche die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen vertreten oder ihr nahestehen, ergibt sich konsequenterweise, auch sachlich vom Vorliegen eines untauglichen Versuchs auszugehen (vgl. etwa v. Weber Grdr. S. 88 ; JZ 1951 263; Schaffstein M D R 1951 199).

61

Gegen eine Bestrafung wegen Versuchs anstatt Vollendung spricht jedoch, daß man dabei den Boden der Realität verläßt. Denn der tatbestandsmäßige Erfolg ist eingetreten. Wer beispielsweise vorsätzlich einen anderen Menschen tötet, vollendet einen Totschlag und versucht ihn nicht nur. Auch gehört zum Wesen des Versuchs, daß man etwa verwirklichen will, ohne daß dies erreicht wird, während es sich hier hinsichtlich der objektiven Rechtfertigungsmerkmale gerade umgekehrt darum handelt, daß die Merkmale zwar objektiv gegeben sind, eine entsprechende subjektive Beziehung aber fehlt. Diese Sachgesichtspunkte lassen sich schwerlich als nur formal bezeichnen und auch nicht durch den Hinweis verdrängen, es gehe nur um Analogie. Zudem orientiert sich der Kreis der Versuchsstrafbarkeit an anderen Wertungsmaßstäben, als sie bei den Fällen fehlender subjektiver Rechtfertigungs(36)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

elemente anzulegen sind. So ist bei den Delikten, die für die Notwehr im Vordergrund stehen, der Versuch oft nicht pönalisiert (z. B. der Versuch von einfacher Körperverletzung und Freiheitsberaubung). Will man das notwendige Maß an Rationalität der Strafbarkeit nicht unterschreiten, müßte der Ruf nach dem Gesetzgeber, der in der Irrtumslehre seitens der eingeschränkten Schuldtheorie wegen des Umfangs der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit erhoben wird (vgl. Dreher HeinitzFestschr. S. 227, der eine allgemeine Fahrlässigkeitsvorschrift für die Fälle der vermeidbaren irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts fordert), daher ausgedehnt werden auf die parallele Schaffung einer allgemeinen Versuchsvorschrift für die Fälle des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements (für Sonderregelung konsequent Jakobs 11/23 Fußn. 35). Aber auch dann führt die Bestrafung wegen Versuchs zu unlösbaren Schwierigkeiten bei der Anwendung der Rechtfertigungsgründe auf fahrlässige Taten. Will man nicht auf die juristische Absonderlichkeit eines Versuchs des fahrlässigen Delikts abkommen, bliebe nur der — von einer Lehrmeinung vertretene (Rdn. 58) — Verzicht auf das subjektive Rechtfertigungselement bei fahrlässigen Delikten, was wiederum die gesamte Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen in Frage stellen würde (vgl. Baldus LK9 § 53 Rdn. 16). Ebenfalls gerät die Bestrafung wegen Versuchs in Probleme, wenn schon die tatbestandsmäßige Handlung nur ein Versuch ist. Da es einen Versuch des Versuchs nicht gibt und deshalb die nächste Tatreduktion im Entfallen der Strafbarkeit besteht, wäre die Konsequenz, die Strafbarkeit hier überhaupt zu verneinen. Ein solches Ergebnis würde jedoch ganz unbefriedigend sein, weil das auf Erfolgsverwirklichung gerichtete Täterverhalten überhaupt nicht durch das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen beeinfiußt ist. Allgemein verbirgt sich hinter dem Gedanken, es komme nur eine Bestrafung wegen untauglichen Versuchs in Betracht, die dogmatische Vorstellung, daß durch die objektiven Merkmale des Rechtfertigungsgrundes die Rechtsgutsverletzung oder der Erfolgsunwert ausgeschlossen oder doch völlig aufgewogen werde (siehe etwa Stratenwerthl Rdn. 493). Die Rechtswidrigkeit entfällt bei Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes aber nicht deshalb, weil tatbestandlich nichts passiert ist, sondern weil der Täter die objektiven und subjektiven Merkmale eines Ausnahmesatzes realisiert. Das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen läßt sich nur in der Weise sachentsprechend berücksichtigen, daß man von der Möglichkeit der Strafmilderung für das vollendete Delikt (resp. eine zusätzliche Strafmilderung im Falle strafbarer versuchter Tatbestandsverwirklichung) nach dem Milderungsschlüssel des § 49 Abs. 1 ausgeht. Damit wird einerseits dem Bestreben der h. M., eine Strafmilderungsmöglichkeit wie beim Versuch zu schaffen, Rechnung getragen. Andererseits werden die geschilderten Friktionen vermieden. c) Wird die Rechtfertigungslage (zu Besonderheiten bei der Einwilligung unten) 62 vom Täter absichtlich herbeigeführt, um auf diese Weise „rechtmäßig" die Tat begehen zu können, so bleibt die dem Plan gemäß ausgeführte Tat rechtswidrig (BGH NJW 1983 2267; BGH bei Dallinger MDR 1954 335; RG DR 1939 364 Nr. 11 ; RG H RR 1940 Nr. 1143; OLG Braunschweig NdsRpfl. 1953 166; Baldus LK9 §53 Rdn. 37; Baumann 8 § 21 I 3 b ; Dreher-Tröndle41 § 32 Rdn. 23; Κ ohlrausch-Lange43 § 53 Anm. V; LencknerGA 1961 299ff; in Sch.-Schröder21 Rdn. 23; § 32 Rdn. 54ff; Maurach-Zipfì § 25 V A 5 ; Roxìn ZStW 75 [1963] 556ff; 93 [1981] 85 f; Samson SK4 § 32 Rdn. 24ff; Stratenwerthi Rdn. 436; Welze!U § 14 II 3; einschränkend Bockelmann AT3 § 15 Β I 2c; Jescheck AT3 III 3 a ; abl. Spendei LK10 § 32 Rdn. 282ff). Die Begründungen sind unterschiedlich. Vielfach beruft man sich auf den allgemei(37)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

nen Rechtsgedanken, daß der offenbare Mißbrauch eines Rechts keinen Rechtsschutz beanspruchen kann (so RG DR 1939 364 Nr. 11; BGH NJW 1983 2267; Baldus aaO; Lenckner aaO [bei bestehender Ausweichmöglichkeit]; Roxin aaO; Rudolphi JuS 1969 464 m. Fußn. 26; Wessels AT 13 § 8 V 3). Eine andere Hauptrichtung stützt sich auf „actio illicita in causa" (Kohlrausch-Lange, Baumann, DreherTröndle, Lenckner [bei fehlender Ausweichmöglichkeit]). Eines Rückgriffs auf diese teils unscharfen, teils dogmatisch angreifbaren Gesichtspunkte bedarf es jedoch nicht; denn es fehlt in diesen Fällen (sog. Absichtsprovokation) regelmäßig schon am subjektiven Rechtfertigungselement. So wird bei der absichtlichen Notwehrprovokation ein Verteidigungswille nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit will der Provozierende den Gegner „in geschickt versteckter Weise angreifen" (BGH NJW 1962 308, 309). Auf das Fehlen des Verteidigungswillens weisen deshalb hin: BGH NJW 1983 2267; BGH bei Dallinger M D R 1954 335; RG HRR 1940 Nr. 1143; Blei AT 18 § 39 II 1 ; Kratzsch Grenzen der Strafbarkeit im Notwehrrecht [1968] S. 39. Bei der absichtlichen Herbeiführung einer Notstandslage, um diese zur Zerstörung eines Rechtsgutes auszunutzen, verhält es sich entsprechend mit dem Rettungswillen ; bei der absichtlichen Provozierung eines Züchtigungsfalles, um sadistischen Neigungen zu genügen, entsprechend mit dem Erziehungswillen. Für die rechtfertigende Einwilligung bildet den Parallelfall zu den oben genannten Sachlagen, daß der Täter absichtlich einen für die Erteilung der Einwilligung erheblichen Irrtum hervorruft, um unter Ausnutzung der erschlichenen Einwilligung die Tat begehen zu können. Hier fehlt es bereits an einer wirksamen Erteilung der Einwilligung (näher Rdn. 119). 63

Zu den Fragen, die bei Änderung der Willensrichtung des Täters auftauchen, namentlich wenn sich der zunächst vorhandene Angriffswille des Täters in einen Verteidigungswillen wandelt, näher Baldus LK9 § 53 Rdn. 37 (der jedoch der veränderten Motivationslage zu wenig Gewicht beilegen dürfte; vgl. auch Bockelmann Honig-Festschr. S. 29ff; Jescheck AT3 § 32 III 3 a ; Maurach-Zipf6 § 26 II Β 2c).

64

4. Wirkung der Rechtfertigungsgründe. Sind die Merkmale eines Rechtfertigungsgrundes erfüllt, so fehlt damit die Rechtswidrigkeit. Das Handeln bleibt zwar tatbestandsmäßig, es ist jedoch mangels Rechtswidrigkeit nicht strafbar. Die Rechtfertigungsgründe haben sämtlich die gleiche Wirkung: Rechtmäßigkeit des Verhaltens. Eine Unterscheidung zwischen Rechtfertigungsgründen im engeren Sinne, die ein Verhalten rechtmäßig machen, und bloßen Unrechtsausschließungsgründen mit nur neutralisierender Wirkung, bei denen also das Recht im Konflikt widerstreitender Interessen keine positive oder negative Bewertung ausspricht (vgl. insbesondere Kern ZStW 64 [1952] 255 ff m. Nachw.), ist abzulehnen (näher dazu Rdn. 18 m. Nachw.). Zwar ist es unmöglich, allen Konfliktsfällen, in denen normgemäßes Verhalten des Täters nicht erwartet wird, den Charakter echter Notrechte zu verleihen. Jedoch ist die notwendige Differenzierung nicht innerhalb der Rechtswidrigkeit vorzunehmen. Es handelt sich vielmehr um die Aufgliederung zwischen Fällen rechtmäßigen und nur entschuldigten Verhaltens. Auf der Ebene des rechtlichen Sollens muß eine klare Entscheidung Für oder Gegen ergehen. Zum Wesen der Rechtfertigung gehört auch nicht, daß mit ihrem Eingreifen der tatbestandsmäßige Erfolg zu einem von der Rechtsordnung erwünschten wird. Vielmehr heißt Erlaubtsein nur, daß die Rechtsordnung in solchen Fällen einen Ausnahmegrund respektiert und deshalb eine ausnahmsweise Gestattung einräumt (näher Hirsch Bokkelmann-Festschr. S. 100). Selbst wenn mit dieser ein Gebot (ζ. B. bei Dienstpflicht (38)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

zur Festnahme) einhergeht, handelt es sich um eine nur ausnahmsweise notwendige Eingriffsbefugnis in ein grundsätzlich geschütztes Rechtsgut. Ebensowenig läßt sich zwischen allgemeinen Rechtfertigungsgründen und nur strafrechtlichen Unrechtsausschließungsgründen unterscheiden (näher Rdn. 10) und daraus auf unterschiedliche Rechtswirkungen schließen. Das gilt auch für § 193; er rechtfertigt die Beleidigungshandlung für die gesamte Rechtsordnung. Davon zu unterscheiden ist die Möglichkeit, daß durch eine gemäß § 193 gerechtfertigte und im Zeitpunkt der Begehung deshalb nicht durch Selbstverteidigung abwehrbare Handlung eine Beeinträchtigung eintreten kann, die als Zustand dem materiellen Recht widerspricht und gegen die daher die quasinegatorische Unterlassungsklage zur Verfügung steht (vgl. Rdn. I l m . Nachw.). Rechtliche Konsequenzen der Rechtmäßigkeit. Notwehr gegenüber gerechtfertig- 65 ten Handlungen ist nicht möglich, da keine Rechtswidrigkeit des Angriffs vorliegt. Die Eingriffsrechte begründen mithin eine Duldungspflicht des Betroffenen. In den Fällen der rechtfertigenden Einwilligung läßt sich zwar wegen der Möglichkeit des Widerrufs regelmäßig nicht von einer „Duldungspflicht" sprechen, jedoch ist der Einwilligungsempfänger während des Bestands der Einwilligung zum Eingriff berechtigt, und ein Dritter kann keine zulässige Nothilfe leisten. Eine weitere Konsequenz besteht in der Unmöglichkeit einer strafbaren Teilnahme; denn dazu bedürfte es einer rechtswidrigen Haupttat; es kann aber mittelbare Täterschaft, begangen durch ein rechtmäßig handelndes Werkzeug, in Betracht kommen. Die Rechtfertigung schließt auch Maßregeln der Besserung und Sicherung aus, so daß sie nicht verhängt werden können, selbst wenn der gerechtfertigte Täter bei der Tat geisteskrank oder volltrunken gewesen ist (vgl. §§ 63 ff). Der Rechtfertigungsgrund steht der Rechtswidrigkeit nur hinsichtlich derjenigen 66 Tatbestandserfüllung entgegen, auf die er sich bezieht. So rechtfertigt die Notwehr nur die Verletzung des Angreifers, nicht die Verletzung unbeteiligter Dritter (insoweit könnte nur ggf. rechtfertigender oder entschuldigender Notstand in Betracht kommen). Ebenfalls kann sich eine Beschränkung der Anwendung durch die Verschiedenartigkeit der betroffenen Rechtsgüter ergeben ; so bezieht sich § 226 a nur auf die §§ 223 ff, nicht dagegen auf § 315 c (BGHSt. 23 261; OLG Hamm MDR 1971 67). Eine Ausnahme wollen OLG Celle NJW 1969 1775 und Jescheck AT 3 § 31 VI 3 bei der Notwehr annehmen, wenn durch die gerechtfertigte Handlung zugleich Vorschriften verletzt werden, die überwiegend dem Schutz der öffentlichen Ordnung i. w. S. dienen, z. B. §§ 316, 315 b Abs. 1 Nr. 2. Dabei werden jedoch rechtfertigender Notstand und Notwehr unzutreffend vermengt, wofür auch wegen des gleichen Ergebnisses kein Grund ersichtlich ist ( Widmaier JuS 1970 614). Bei nur teilweisem Vorliegen der Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes 67 tritt zwar keine Rechtfertigung ein, doch kann dieser Umstand für die Strafzumessung eine Rolle spielen (Sch.-Schröder-Lenckner^ Rdn. 22). So kann z. B. bei der nicht schon durch § 33 entschuldigten Überschreitung der Notwehrgrenzen die Tatsache, daß der Täter immerhin aus einer Notwehrsituation heraus gehandelt hat, strafmildernd berücksichtigt werden (Lenckner Notstand S. 35 ff ; Noll ZStW 68 [1956] 181; 77 [1965] 17 ff).

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Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

C. Die einzelnen Rechtfertigungsgründe Namentlich folgende Rechtfertigungsgründe kommen in Betracht: 68

1. Die Notwehr ist in § 32 strafgesetzlich, außerdem inhaltlich übereinstimmend in § 15 OWiG und § 227 BGB geregelt. Sie beruht auf dem Grundsatz, daß das Recht dem in einem gegenwärtigen Angriff bestehenden Unrecht nicht zu weichen braucht (RGSt. 21 168, 170; 55 82, 85). Im einzelnen siehe zu ihr unten die Kommentierung von § 32, außerdem — auf der Grundlage der heute herrschenden Unrechtslehre den im vorhergehenden vertretenen grundsätzlichen Standpunkten näherstehend — die Darstellung bei Sch.-Schröder-Lenckner^X §32. Der in §859 Abs. 1 BGB enthaltene Rechtfertigungsgrund der Besitzwehr läßt den § 32 unberührt, so daß sich die Rechtmäßigkeit bei Vorliegen der Voraussetzungen beider Bestimmungen auf zwei nebeneinander stehende Rechtfertigungsgründe, bei Erfülltsein nur der Merkmale des § 32 (der § 859 Abs. 1 BGB umfaßt nicht die Nothilfe) allein auf die Notwehrvorschrift, bei Vorliegen nur der des § 859 Abs. 1 BGB (die Besitzwehr reicht weiter als die Notwehr; vgl. RGRK BGB 12 § 859 Anm. 2; SoergelSiebert BGB 11 § 859 Rdn. 1) allein auf die Besitzwehrvorschrift stützt.

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2. Der Rechtfertigende Notstand ist seit dem 2. StrRG in § 34 allgemein strafgesetzlich geregelt. Eine gleichlautende Regelung findet sich in § 16 OWiG für das Ordnungswidrigkeitenrecht. Dem rechtfertigenden Notstand liegt der Gedanke zugrunde, daß bei einer für ein Rechtsgut bestehenden gegenwärtigen Gefahr die ein anderes Rechtsgut beeinträchtigende Rettungshandlung zulässig und damit vom Betroffenen zu dulden sein muß, wenn die Gefahr nicht anders abwendbar ist und das Interesse an der Zulassung der Notstandshandlung das Interesse an der Respektierung des durch sie beeinträchtigten Rechtsguts deutlich überwiegt. Im Vordergrund stehen dabei Fälle des sog. aggressiven Notstands, d. h. Sachverhalte, bei denen sich die Notstandstat gegen ein an der Gefahr unbeteiligtes Gut richtet (Opfergedanke). Daneben sind auch die Fälle des sog. defensiven Notstands erfaßt, also die Situationen, in denen die Notstandstat auf das Gut zielt, von dem die Gefahr ausgeht. Der rechtfertigende Notstand (§ 34) besteht nur im sog. Gutsnotstand, d. h. des als Mittel zur Rettung eines bedrohten Rechtsguts begangenen tatbestandsmäßigen Verhaltens, während die Fälle der echten rechtfertigenden Pflichtkollision, nämlich der Kollision von zwei Handlungsgeboten, einen selbständigen Rechtfertigungsgrund bilden (Rdn. 74). Außerdem sind rechtfertigender Notstand und nur entschuldigender Notstand (§ 35) zu unterscheiden. Während bei § 34, weil es sich um eine vom Betroffenen zu duldende Eingriffsbefugnis handelt, ein wesentliches Überwiegen des gewahrten Interesses gegeben sein muß, kommt es hierauf beim entschuldigenden Notstand nicht an. Andererseits läßt § 35 nicht eine Gefahr für jedes Rechtsgut genügen, sondern verlangt, daß es sich um eine Gefahr für Leben, Leib oder Bewegungsfreiheit des Notstandstäters oder einer ihm nahestehenden Person handelt. Zu unterscheiden ist vom rechtfertigenden Notstand auch das Widerstandsrecht gemäß Art. 20 Abs. 4 G G (siehe Rdn. 83). Im einzelnen zum rechtfertigenden Notstand unten bei § 34.

70

Spezialfälle des rechtfertigenden Notstands finden sich im StGB in § 218 a für den gerechtfertigten Schwangerschaftsabbruch und — innerhalb einer Generalklausel für die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei §§ 185, 186 — in § 193. Als Spezialregelungen außerhalb des StGB sind hervorzuheben § 228 BGB (Sachwehr, Verteidigungsnotstand [gegenüber Sachen]), § 904 BGB (Angriffsnotstand [gegenüber Eigentum]) und §§ 700 ff HGB (große Haverei). Weitere Spezialfälle siehe unten bei § 34 Rdn. 87 f. (40)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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3. Rechtfertigende Pflichtenkollision Schrifttum Dingeldey Pflichtenkollision und rechtsfreier Raum, Jura 1979 478; End Existentielle Handlungen im Strafrecht. Die Pflichtenkollision im Lichte der Philosophie von Karl Jaspers (1959); Evers Existenzphilosophie und rechtliche Pflichtenkollision, JR 1960 369; Gallas Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, Mezger-Festschr. (1954) S. 311; Jansen Pflichtenkollisionen im Strafrecht, StrafrAbh. 269 (1930); Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959); Arthur Kaufmann Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, Maurach-Festschr. (1972) S. 327; Kühn Pflichtenkollision im Strafrecht (1908); Küper Noch einmal : Rechtfertigender Notstand, Pflichtenkollision und übergesetzliche Entschuldigung, JuS 1971 474; ders. Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht (1979); Lenckner Der rechtfertigende Notstand (1965); Mangakis Die Pflichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, ZStW 84 (1972) 447; Otto Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil (1965), mit Nachtrag (1978); Scheel Oie übergesetzlichen Unrechts-, Schuld- und Strafausschließungsgründe (1957); v. Weber Die Pflichtenkollision im Strafrecht, Kiesselbach-Festschr. (1947) S. 233. Siehe außerdem das Schrifttum vor Rdn. 5 sowie vor Rdn. 200.

a) Grundsätzliches Treffen zwei (oder mehrere) rechtliche Handlungsgebote derart zusammen, daß 71 nur entweder das eine oder das andere erfüllbar ist (echte Pflichtenkollision), so hat der Normadressat bei Verschiedenwertigkeit der Handlungsgebote das Höherwertige, bei Gleichwertigkeit eines von beiden zu erfüllen. Die Nichtbefolgung des anderen ist dann nicht rechtswidrig. Bei Verschiedenwertigkeit der Handlungsgebote (z. B. wenn für einen Garanten, dessen Fürsorge fremdes Leben und Eigentum anvertraut sind, bei einem Brand nur die Möglichkeit besteht, die Lebensrettung auf Kosten der ihm ebenfalls gebotenen Eigentumsrettung vorzunehmen) entspricht dies allgemeiner Auffassung (vgl. RGSt. 20 190, 192; 36 78, 81; 38 62; 56 168; 60 295, 296; 61 242, 254 [grundlegend]; 64 91; 74 350, 353; BGHSt. 1 366; 2 242; BGHZ 24 72; BGH [Z] NJW 1968 2288; BayObLG DAR 1958 106; OLG Stuttgart MDR 1956 245; DAR 1958 222; OLG München MDR 1956 565 m. Anm. Mittelbach; außerdem Dreher-Tröndle41 Rdn. 11; Jakobs 15/6 f; Jescheck AT3 § 33 V 1; Maurach-Zipf 6 §27 IV 1; Samson SK4 §34 Rdn. 28; Sch.-Schröder-Lenckner21 Rdn. 73). Aber auch bei Gleichwertigkeit der sich ausschließenden Handlungsgebote (z. B. 72 der Zeuge eines Bootsunglücks kann von zwei Ertrinkenden nur einem Rettung bringen) rechtfertigt die Befolgung des einen die Nichtbefolgung des anderen (Binding Handb. I S. 162; Baumann 8 §22 III 1 b; Hruschka Dreher-Festschr. S. 210; Armin Kaufmann Unterlassungsdelikte S. 137; Küper JuS 1971 475; Pflichtenkollision S. 118; Lackner 15 § 34 Anm. 4; Mangakis ZStW 84 [1972] 447; Maurach-Zipf6 § 27 IV 3; Otto Pflichtenkollision S. 18 ff; Samson SK4 § 34 Rdn. 29; Schmidhäuser AT2 16/78; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 71; Stratenwerth 3 Rdn. 471; Welzein § 28 A II; Wessels AT13 § 16 III; abw. nur für Schuldausschluß: Dreher-Tröndle41 Rdn. 11; Gallas Mezger-Festschr. S. 332; Jescheck AT3 § 33 V 2; keine Rechtfertigung, sondern fehlende Rechtswidrigkeit wegen rechtsfreien Raumes nehmen an: Blei AT 18 § 63 II u. § 88 I 4 c; Comes Rechtsfreier Raum S. 94 f; Dingeldey Jura 1979 478, 485; Arthur Kaufmann Maurach-Festschr. S. 337; JuS 1978 361, 366; Schild JA 1978 631, 635). Gegen bloße Entschuldigung in Fällen gleichwertiger Handlungsgebote spricht, 73 daß der Täter hier eine der beiden gebotenen Handlungen unterlassen muß, um (41)

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2. Abschnitt. Die Tat

überhaupt eine von ihnen vornehmen zu können. Wenn es in der betreffenden Situation objektiv nur möglich ist, das Gebot der einen oder der anderen zu befolgen, so kann auch die Rechtsordnung nur auf der Vornahme einer von ihnen bestehen. Andernfalls würde sich zudem ergeben, daß zugunsten desjenigen, dessen Rettung wegen der Alternativität der Rettungsmöglichkeiten unterbleibt, ein Notwehrrecht (und Nothilferecht Dritter) bestünde. Das aber hieße, daß gar keine Rettungshandlung zulässigerweise vorgenommen werden könnte, weil in ihr in bezug auf den anderen ein rechtswidriges Verhalten läge; die Pflichten würden sich also gegenseitig aufheben. Aber auch der Gedanke, daß zwar die Rechtswidrigkeit entfalle, dies jedoch nicht mit der Rechtfertigung der unterlassenen Handlung gleichbedeutend sei, bietet keine Lösung. Im Bereich des Sollens muß eine klare Entscheidung Für oder Gegen ergehen (Rdn. 64, 17 f)· Es bedeutet ein Mißverständnis, wenn man meint, Rechtfertigung drücke das Erwünschtsein eines Zustande aus; sie bezeichnet vielmehr nur die äußersten Grenzen des nicht rechtspflichtwidrigen Verhaltens. 74

Die rechtfertigende Pflichtenkollision zeigt zwar als Kollisionsfall gewisse Verwandtschaft mit dem rechtfertigenden Notstand, ist aber ein selbständiger Rechtfertigungsgrund (Blei AT 18 § 88 I 4 c; Dreher-Tröndle41 Rdn. 11; Hruschka DreherFestschr. S. 192; Jakobs 15/6; Armin Kaufmann Unterlassungsdelikte S. 135 f; Lackner 15 § 34 Anm. 4; Küper JuS 1971 475; Pflichtenkollision S. 118; Schmidhäuser AT2 18/83; Sch.-Schröder-Lenckner21 Rdn. 71; Wekeln §28 A II; Wessels AT 13 § 16 III; so wohl auch Baumann 8 § 22 III 1 b; Samson SK.4 § 34 Rdn. 29). Anders die Rspr. vor Inkrafttreten von § 34, nach der die rechtfertigende Pflichtenkollision mit dem rechtfertigenden Notstand (Gutsnotstand) durch den „Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung" im übergesetzlichen Notstand verbunden sein sollte (vgl. RGSt. 61 242, 254; BGHSt. 2 242; st. Rspr.; ebenso zum früheren Rechtszustand Mangakis ZStW 84 [1972] 456). Auch weiterhin betrachten die rechtfertigende Pflichtenkollision als Unterfall des rechtfertigenden Notstands: Jescheck AT3 § 33 V 1 ; Maurach-Zipf6 § 27 IV 2; ebenfalls geht Stratenwerth 3 Rdn. 468 von einer übereinstimmenden Grundstruktur aus.

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Die im herkömmlichen Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung vorgenommene Verquickung ist jetzt auch positivrechtlich durch § 34 überholt, da diese Vorschrift die rechtfertigende Pflichtenkollision nicht in den Begriff des rechtfertigenden Notstands einbezieht (vgl. dazu auch E 1962 Begr. S. 159). Der sachliche Unterschied der beiden Rechtfertigungsgründe besteht in folgendem: Die rechtfertigende Pflichtenkollision setzt im Gegensatz zum Notstand nicht voraus, daß ein Rechtsgut in Gefahr geraten ist. Zwar wird es im Strafrecht regelmäßig so liegen, daß ein Handlungsgebot zum Schutze eines gefährdeten Rechtsguts aufgestellt ist. Aber die Pflichtenkollision ist kein spezifisch deliktsrechtliches Problem, und in anderen Rechtsgebieten wird es an einer Gefahr für ein Rechtsgut nicht selten fehlen (z. B. jemand bekommt zwei sich zeitlich ausschließende Vorladungen von verschiedenen Amtsstellen). Darüber hinaus besteht bei der rechtfertigenden Pfiichtenkollision im Unterschied zum Notstand von vornherein ein Entweder-Oder, so daß hier eine Entscheidung zwischen den alternierenden Möglichkeiten getroffen werden muß (Handlungszwang). Außerdem geht es allein um die Kollision von zwei Geboten, also Rechtsbefehlen, deren Verletzung in einem Unterlassen besteht. Aus den vorgenannten Gesichtspunkten folgt gleichzeitig, daß es im Gegensatz zum rechtfertigenden Notstand nicht darauf ankommt, daß das wahrgenommene Interesse wesentlich überwiegt, vielmehr ist umgekehrt nur von Bedeutung, daß es nicht das (42)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

geringerwertige ist. Bei gleichwertigen Handlungsgeboten hat der Täter eine Wahlmöglichkeit, welchen der beiden Rechtsbefehle er befolgen will. Deshalb haben auch die diffizilen Interessenabwägungsüberlegungen, deren Notwendigkeit sich beim rechtfertigenden Notstand daraus ergibt, daß in ein anderes Gut durch positives Tun eingegriffen wird, hier keine annähernde Entsprechung. Eine gesetzliche Regelung der rechtfertigenden Pflichtenkollision ist bewußt unterblieben. Da der Positivierung „unüberwindliche Hindernisse" entgegenstünden, wollte man der Rspr. nicht vorgreifen (vgl. E 1962 Begr. S. 159). Die Rechtfertigung stützt sich daher auf die obengenannten normlogischen Erwägungen (Rdn. 73). Hinsichtlich der Fälle, in denen ein geringerwertiges Handlungsgebot zugunsten eines höherwertigen nicht befolgt wird, besteht zudem aufgrund der anerkannten jahrzehntelangen Judikatur Gewohnheitsrecht.

b) Die Erfordernisse im einzelnen aa) Es muß eine Kollision von zwei (oder mehreren) rechtlichen Handlungsgeboten 76 vorliegen. Eine Kollision ist gegeben, wenn der Rechtsunterworfene zwei Normbefehlen gegenübersteht, von denen er einen verletzen muß, um den anderen erfüllen zu können. Die kollidierenden Rechtsbefehle müssen Handlungsgebote sein, wobei es ebenso um schlichte Handlungsgebote (z. B. nach § 323 c) wie um solche aus Garantenstellung gehen kann. Die rechtfertigende Pflichtenkollision wird dementsprechend nur bei der Alternative zwischen zwei (oder mehreren) Unterlassungen relevant, weshalb der Rechtfertigungsgrund im Strafrecht auch immer nur in bezug auf ein (echtes oder unechtes) Unterlassungsdelikt praktisch wird. Die Kollision eines Handlungsgebots mit einem Verbot (z. B. ein Garant rettet den seiner Obhut Unterstellten durch Verletzung des Rechtsguts eines Dritten) fällt von vornherein nicht in den Bereich der rechtfertigenden Pflichtenkollision (Armin Kaufmann Unterlassungsdelikte S. 135 ff; Blei AT 18 § 88 I 4; Küper JuS 1971 475 f; Pflichtenkollision S. 33f; Lenckner Notstand S. 5; in Sch.-Schröder21 Rdn. 71; Samson SK4 §34 Rdn. 26; WelzelU § 14 IV; anders Baumann8 §22 III l a ; Jakobs 15/8; Jescheck AT 3 § 33 V 1 ; Maurach-Zipß § 27 IV 1 ; Otto Pflichtenkollision S. 76 ff). In solchen Fällen kommt vielmehr nur, bei Vorliegen aller seiner Voraussetzungen, rechtfertigender Notstand in Betracht. Unterliegt jemand dem Gebot, ein fremdes Rechtsgut zu retten, so ist er dabei hinsichtlich der zur Rettung vorgenommenen Eingriffe in Rechtsgüter Dritter nicht anders zu beurteilen als jeder sonstige Notstandstäter. Indes hat auch die Rspr. nicht klar darauf abgestellt, daß es um eine Kollision von Handlungsgeboten gehen muß. Vielmehr betrafen die von ihr entschiedenen Fälle zum größten Teil Sachverhalte, in denen ein Begehungsdelikt, also ein Verstoß gegen ein Verbot, zum Zwecke einer Gebotsbefolgung begangen worden war (siehe etwa BGHSt. 1 366; BGH [Z] NJW 1968 2288; RGSt. 20 190; 38 62, 64; 59 404). Der Sache nach ging es um echten rechtfertigenden Notstand. Gerade die praktisch bedeutsamen Fälle, in denen die ärztliche Schweigepflicht gebrochen wird, um andere Personen vor Schäden an Gesundheit oder Leben zu bewahren (vgl. RGSt. 38 62, 64 [Gefahr der Ansteckung von Hausbewohnern]; OLG München MDR 1956 565 m. Anm. Mittelbach und zuletzt BGH [Z] NJW 1968 2288 [Mitteilung von einer die Fahrtauglichkeit ausschließenden Krankheit an Behörde, um Erteilung des Führerscheins zu verhindern]), haben mit rechtfertigender Pflichtenkollision nichts zu tun. Sie sind vielmehr nach den Interessenabwägungsmaßstäben des rechtfertigenden Notstands („Gutsnotstands") zu entscheiden. Daß man sich hier auf rechtfertigende Pflichtenkollision gestützt hat, hängt damit zusammen, daß man Schwei(43)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

gepflicht und Offenbarungspflicht gegenüberstellte. Schweigepflicht heißt aber nicht, daß etwas getan werden soll, sondern umgekehrt, daß das Offenbaren zu unterlassen ist (Verbot). In Wahrheit handelt es sich also um die typische Situation des rechtfertigenden Notstands, daß eine Gefahr für ein Rechtsgut (Gesundheit oder Leben Dritter) durch ein Begehungsdelikt abgewendet wird. Wenn den Arzt eine rechtliche Anzeigepflicht trifft, besagt dieses Handlungsgebot nur, daß in einer Notstandslage das anvertraute Geheimnis zum Schutze überwiegender Interessen Dritter oder der Allgemeinheit, soweit erforderlich, zu verletzen ist; es ist also nur ein Gebot zur Wahrnehmung einer Notstandsbefugnis. Um die Frage des rechtfertigenden Notstands, nicht aber der rechtfertigenden Pflichtenkollision ging es auch in den Fällen OLG Stuttgart M D R 1956 245; BayObLG DAR 1958 106, in denen ein Unfallbeteiligter den Unfallort verlassen hatte (Begehungsdelikt), weil eine wichtige geschäftliche Angelegenheit zu erledigen war. 77

Es müssen rechtliche Handlungsgebote miteinander kollidieren. Der Widerstreit einer nur sittlichen Handlungspflicht genügt nicht ( M a u r a c h - Z i p f ì § 27 IV 3; Sch.Schröder-Lenckner2\ Rdn. 72). Daß ein Arzt das Berufsgeheimnis verletzt, um einer sittlichen Pflicht folgend andere Hausbewohner vor der ansteckenden Krankheit der Patientin zu warnen, scheidet jedoch nicht erst aus diesem Grunde, sondern bereits aufgrund der in Rdn. 76 genannten Erwägungen aus dem Bereich der rechtfertigenden Pflichtenkollision aus (entgegen RGSt. 38 62 und Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 72). Auch vermag eine zivilrechtliche Herausgabepflicht die Ermöglichung einer strafbaren Handlung nicht zu rechtfertigen (vgl. den Fall RGSt. 56 169). Hier fehlt es schon an einem Pflichtenwiderstreit, da in solchen Fällen wegen § 134 BGB gar keine Herausgabepflicht besteht (RG aaO; Blei AT 18 § 88 I 2 [sog. logische Kollision]; Sch.-Schröder-LencknerU Rdn. 72; Hruschka Dreher-Festschr. S. 192 f)· Darüber hinaus ginge es bei der Herausgabe um eine Beihilfehandlung, so daß hier auch gar nicht die Befolgung eines Handlungsgebots, sondern die Verletzung eines Verbots in Widerstreit stehen würde.

78

bb) Kollidieren verschiedenwertige Handlungsgebote, so ist das Nichtbefolgen des minderen gerechtfertigt, wenn der Täter nur dadurch das höhere erfüllen kann (vgl. die Rspr.-Nachw. oben Rdn. 71). Dementsprechend ist das Nichtbefolgen des höherwertigen Gebots rechtswidrig, wenn der Täter statt dessen das geringere erfüllt. Für die Bewertung der widerstreitenden Handlungsgebote ist nicht nur der abstrakte Rang der durch sie geschützten Rechtsgüter maßgebend, sondern ebenso wie beim rechtfertigenden Notstand sind alle sonstigen Umstände (Interessen), die für die Schutzwürdigkeit in der konkreten Situation bedeutsam sein können, einzubeziehen {Jescheck AT3 § 33 V l a ; Küper Pflichtenkollision S. 33; Lenckner Notstand S. 107; in Sch.-Schröder21 Rdn. 75; Maurach-Zipf6 §27 III 5; Stratenwerth3 Rdn. 454; Wessels AT 13 § 16 III). Insbesondere sind Grad und Nähe der Gefahr zu berücksichtigen. So hat der Verursacher eines Verkehrsunfalls, der sowohl dem Verletzten helfen als auch die Unfallstelle absichern muß, zuerst dasjenige zu tun, was die akutere und größere Gefahr beseitigt (vgl. OLG Stuttgart DAR 1958 222; Sch.-Schröder-Lenckner2i Rdn. 75). Daß bei der Bestimmung des Werts der kollidierenden Gebote ebenso wie beim rechtfertigenden Notstand konkrete Interessengesichtspunkte zu berücksichtigen sind, heißt jedoch nicht, daß auch die Abwägung weitgehend den dort geltenden Grundsätzen zu entsprechen habe. Da es sich bei der rechtfertigenden Pflichtenkollision anders als beim rechtfertigenden Notstand von vornherein um die Situation des Handlungszwangs handelt, braucht das Übergewicht des befolgten Gebots kein wesentliches zu sein, zumal bei rechtfertigender (44)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Pflichtenkollision nach h. L. (Rdn. 71 ff, 75) ein Übergewicht überhaupt entbehrlich ist. Es geht bei der Abwägung des Werts der widerstreitenden Gebote lediglich darum, ob der Täter etwa das leichtere anstatt des wenigstens gleichwertigen befolgt hat. Kollidieren gleichwertige Handlungsgebote miteinander, so hat der Gebotsadres- 79 sat die Wahl, welches von beiden er erfüllen will. Er muß diese Wahl treffen, soll wenigstens eines der beiden Gebote erfüllt werden. Sie bewirkt, daß hinsichtlich der Nichtbefolgung des vernachlässigten Gebots Rechtfertigung eintritt, d. h. die Nichtbefolgung dieses Gebots ist nicht konkret pflichtwidrig (so die h. L. im Schrifttum; Nachw. und Näheres zum Streitstand oben Rdn. 72f). Ein Spezialproblem bildet die Kollision zwischen einem Garantengebot bezüg- 80 lieh des einen und dem Hilfeleistungsgebot des § 323 c bezüglich des anderen Objekts. Teils heißt es ohne weitere Differenzierung, daß die Befolgung des ersteren stets den Vorrang beanspruche (Armin Kaufmann Unterlassungsdelikte S. 137; Jakobs 15/7; Stratenwerthï Rdn. 470; wohl auch Sch.-Schröder-Lenckner21 Rdn. 76; ebenfalls früher Hirsch LK9 Vor § 51 Rdn. 89). Eine andere Auffassung will bei der Abwägung von den gefährdeten Rechtsgütern ausgehen {Blei AT 18 §88 I 4 a ; Schmidhäuser AT2 16/81). Beide Ansichten sind zu einseitig. Es kommt für das Bestimmen der konkret zu befolgenden Pflicht vielmehr auf eine Abwägung aller rechtmäßigkeitsrelevanten Umstände des jeweiligen Kollisionsfalles an (vgl. Rdn. 78). Daß das Abstellen lediglich auf die Garantenstellung die abwägungserheblichen Gesichtspunkte verkürzt, wird deutlich, wenn verschiedenwertige Rechtsgüter in Gefahr geraten sind. Kollidiert beispielsweise ein Garantengebot bezüglich des Eigentums mit dem Hilfeleistungsgebot aus § 323 c hinsichtlich des gefährdeten Lebens, würde die Orientierung an der Garantenstellung zu dem anstößigen Ergebnis führen, daß die Rechtsordnung den Täter verpflichtete, nicht der Rettung des Lebens, wie es allein sachentsprechend wäre, sondern der des Sachwerts den Vorzug zu geben. Aber auch wenn es sich zwar um gleichwertige Rechtsgüter handelt, diese jedoch nicht gegeneinander abwägbar sind, versagt der Gesichtspunkt der Garantenstellung (z. B. das Leben von zwei Personen ist in Gefahr geraten, wobei hinsichtlich des einen eine Garantenstellung, bezüglich des anderen allein das Gebot des § 323 c besteht). Hier darf nicht das Garantengebot den Ausschlag geben, sondern es ist von einer Wahlmöglichkeit auszugehen. Sonst ergäbe sich die sachwidrige Konsequenz, daß die Rechtsordnung, obwohl rechtlich nicht Leben gegen Leben abwägbar ist (vgl. §§ 34, 35), durch Bevorzugung des Garantengebots eine vorrangige rechtliche Schutzwürdigkeit des einen der beiden Leben bejahen würde (das war auch von Schröder in Sch.-Schröder 17 Vor § 51 Rdn. 65, der „jedenfalls bei gleichwertigen" Rechtsgütern Priorität des Garantengebots annahm, übersehen worden). Ebenfalls versagt die Ansicht, die von den gegenüberstehenden Rechtsgütern ausgeht. Wenn es sich nämlich um abwägbare gleichwertige Rechtsgüter handelt (z. B. auf beiden Seiten Eigentum), geht die Garantenstellung regelmäßig vor. Denn der Garant ist für die Unversehrtheit des einen der beiden abwägbaren Rechtsgüter in besonderem Maße verantwortlich, so daß dieses Rechtsgut auch das bessere Recht auf Schutz durch den Betreffenden haben muß. Ferner gerät eine auf den Rang der Rechtsgüter abstellende Auffassung leicht dort in Schwierigkeiten, wo es sich zwar um verschiedenrangige, aber nicht abwägbare Rechtsgüter handelt (z. B. das eine Unfallopfer befindet sich in Lebensgefahr, das andere in der Gefahr einer schweren Körperschädigung). Hier hat, auch wenn es bezüglich des Lebens (45)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

besteht, nicht das Garantengebot die Priorität, sondern es ist eine Wahlmöglichkeit gegeben. 81

cc) Wird keines der kollidierenden Handlungsgebote erfüllt, handelt der Täter bezüglich aller pflichtwidrig und damit rechtswidrig. Denn nur deshalb, weil der Rechtsunterworfene ein Gebot nicht befolgt, um auf diese Weise ein anderes (höher- oder gleichwertiges) erfüllen zu können, entfällt die Pflichtwidrigkeit. Gegenüber dem ganz untätig bleibenden Erfolgsabwendungspflichtigen darf zugunsten jedes der durch das Unterlassen betroffenen Rechtsgüter Notwehr (Nothilfe) geübt werden. Eine andere Frage ist, ob der Täter, wenngleich hier die Nichtbefolgung aller widerstreitenden Gebote rechtswidrig (und schuldhaft) ist, wegen mehr als derjenigen bestraft werden kann, die erfüllbar war. Mezger LK8 § 54 Anm. 10 bemerkt dazu, daß nur im Umfang des für den Täter Befolgbaren, also wegen Nichterfüllung der höherwertigen oder einer der mehreren gleichwertigen Pflichten, Bestrafung möglich ist. Allerdings läßt sich das nicht auf die Fälle erstrecken, in denen der Täter die Befolgung aller Pflichten für möglich hielt.

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dd) Als subjektives Rechtfertigungselement ist erforderlich, daß die Nichtbefolgung des einen Gebots zum Zwecke der Befolgung des anderen geschieht, genauer: daß das Unterlassen erfolgt, um die Vornahme der anderen (rettenden) Handlung zu ermöglichen (vgl. Rdn. 53; anders Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 77, der auf Kenntnis der rechtfertigenden Sachlage abstellt). Unerheblich ist, daß der Unterlassende daneben, etwa bei der Auswahl im Falle gleichrangiger Handlungsgebote, von anstößigen Beweggründen geleitet wird (Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 77; Küper Pflichtenkollision S. 29). Ist der Täter fälschlich der Meinung, beide Gebote erfüllen zu können, will er aber nur das höherwertige oder eines von beiden gleichwertigen befolgen, so bewirkt die Realisierung dieses Willens keine Rechtfertigung der Nichtbefolgung des anderen Gebots. Im Gegensatz zur früheren Lehre, die Güter· und Pflichtenkollision im übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand miteinander verband und dabei für diesen die pflichtmäßige Prüfung der Sachlage als zusätzliches Rechtfertigungserfordernis aufstellte (Rdn. 54), ist die rechtfertigende Pflichtenkollision ebensowenig wie der Gutsnotstand des § 34 von einer solchen Prüfungspflicht abhängig (wie hier Küper aaO). Dieser Gesichtspunkt betrifft vielmehr erst die Vermeidbarkeitsfrage im Irrtumsfall (Rdn. 54). 4. Widerstandsrecht, Staatsnotstand, Staatsnotwehr Schrifttum Bertram Berufung auf das Widerstandsrecht im unbeteiligten Staat, GA 1967 1 ; ders. Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes (1970); T. Blank Die strafrechtliche Bedeutung des Art. 20 IV G G (Widerstandsrecht), (1982); Böckenförde Die Kodifizierung des Widerstandsrechts im Grundgesetz, JZ 1970 168; Boldt Staatsnotwehr und Staatsnotstand, ZStW 56 (1937) 183; Doehring Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes und das überpositive Recht, Staat 1969 429; Herzog Das positivierte Widerstandsrecht, Merkl-Festschr. (1970) S. 99; Heyland Das Widerstandsrecht des Volkes (1950); Isensee Das legalisierte Widerstandsrecht (1969); Kempen Widerstandsrecht, in: Sterzel, Kritik der Notstandsgesetze (1968) S. 65; Klein Der Gesetzgeber und das Widerstandsrecht, DÖV 1968 865; Kröger Widerstandsrecht und demokratische Verfassung (1971); Oetker Hilfeleistung in Staatsnotwehr und Staatsnotstand, GerS 97 (1928) 411; v. Peter Bemerkungen zum Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG, DÖV 1968 719; Reicht Widerstandsrecht und politischer Streik in der neuen Verfassung und im neuen Strafrecht, Betr. 1968 1312; Ritter Der Volksgenosse als Helfer in Volksnot, GerS 115 (1941) 239; Scheidle Das Widerstandsrecht (1969); H. Schneider Widerstand im Rechtsstaat (1969); P. Schneider Widerstandsrecht und Rechtsstaat AöR 89 (1964) 1 ; Schönfeld Zur Frage des Wi(46)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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derstandsrechts (1955); Scholler Widerstand und Verfassung, Staat 1969 19; Schubert Staatsnothilfe, StrafrAbh. 311 (1933); Stock Über Staatsnotwehr und Staatsnotstand, GerS 101 (1932) 148; Weinkauff Über das Widerstandsrecht (1956); Wertenbruch Zur Rechtfertigung des Widerstandes, v. Hippel-Festschr. (1965) S. 318; v. Winterfeld Grundlagen und Grenzen des Widerstandsrechts, NJW 1956 1418. a) Allgemeines: Im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung des Jahres 8 3 1968 wurde in Art. 20 Abs. 4 G G das sog. politische Widerstandsrecht positiviert. Im Hinblick auf die in Art. 20 Abs. 1—3 G G definierte freiheitliche demokratische G r u n d o r d n u n g bestimmt die Vorschrift: Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Näher zur Gesetzgebungsgeschichte Böckenförde J Z 1970 168 ff; T. Blank Widerstandsrecht S. 15 f m. w. Nachw. Verschiedene Landesverfassungen enthielten schon vorher Regelungen des Widerstandsrechts; vgl. Art. 23 Abs. 3 Beri. Verf., Art. 19 Brem. Verf., Art. 147 Abs. 1 Hess. Verf.; deren Reichweite bemißt sich nunmehr nach dem Bundesrecht (Art. 31 GG). Die Rspr. hatte bereits seit den zwanziger Jahren die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch Staatsnotstand grundsätzlich anerkannt (RGSt. 56 259; 63 215; 64 101 ; B G H N J W 1966 310; B V e r f G E S 85, 376 ff)· Dabei wurden Gesichtspunkte der Nothilfe (sog. Staatsnothilfe) und des Notstands miteinander verflochten. Durch die Einführung des Art. 20 Abs. 4 G G ist der zulässige Bereich des von Deutschen zugunsten der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik vorgenommenen politischen Widerstands erschöpfend positiviert, so daß insoweit f ü r den bisherigen übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund des Staatsnotstands (einschl. Staatsnothilfe) kein Anwendungsgebiet mehr besteht. Zur dogmatischen Einordnung als Rechtfertigungsgrund vgl. T. Blank a a O S. 35 ff. Offengeblieben sind lediglich die Fälle, in denen ein Ausländer eine Handlung i. S. des Art. 20 Abs. 4 G G vornimmt, und diejenigen, in denen ein Deutscher oder ein in der Bundesrepublik befindlicher Ausländer eine Widerstandshandlung in bezug auf einen fremden Staat begeht. Hier wird die Heranziehung überpositiver Rechtsgrundsätze für möglich erklärt (vgl. WelzelW § 14 II 7 [bzgl. der i. S. des Art. 20 Abs. 4 handelnden Ausländer]; T. Blank aaO S. 80f; B G H N J W 1966 310 [bei Widerstandshandlung in bezug auf fremden Staat]). Nach der gesetzlichen Fixierung des rechtfertigenden Notstands sind diese Fälle nun aber im Rahmen des § 34 zu entscheiden (wie hier Maurach-Zipfö § 27 III 6 c ; wohl auch Sch.-Schröder-Lencknerll § 34 Rdn. 10). Dabei sind besonders der Erforderlichkeitsgesichtspunkt u n d der Grundsatz zu beachten, d a ß sich Widerstandshandlungen niemals gegen Unbeteiligte richten dürfen (vgl. schon B G H N J W 1966 310). Außerdem m u ß auch hier berücksichtigt werden, daß Staatsnotstand und -nothilfe sich nur auf die Rettung oder Wiederherstellung einer staatlichen Ordnung beziehen können, also kein auf Veränderung abzielendes Revolutionsrecht gewähren. Schon von vornherein fallen aus dem Bereich von Widerstandsrecht, Staatsnot- 84 stand und Staatsnothilfe alle Handlungen heraus, die nicht den Schutz der Grundwerte der staatlichen Ordnung, sondern lediglich den Schutz fiskalischer Interessen betreffen. Hier geht es allein um das Vorliegen der gewöhnlichen Notwehr- oder Notstands Voraussetzungen, wobei dem Merkmal der Erforderlichkeit bzw. der Nicht-anders-Abwendbarkeit besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. Gleiches gilt bereits nach allgemeinen Grundsätzen für Handlungen, die sich gegen Unternehmen schwächerer als der in Art. 20 Abs. 4 G G geforderten Intensität richten (ebenso Jakobs 15/2, der allerdings die Vorauflage als Gegenauffassung mißdeutet). (47)

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2. Abschnitt. Die Tat

b) Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 GG im einzelnen : 85

aa) Der Täter muß Deutscher i. S. des Art. 116 G G sein und dem Geltungsbereich des Grundgesetzes zugehören (näher Stern Staatsrecht II § 57 III 5 b ; MaunzDürig-Herzog G G Art. 20 IX Rdn. 51 ff). Nicht auf Art. 20 Abs. 4 GG berufen können sich daher in der D D R ansässige Deutsche (vgl. Stern aaO; T. Blank aaO S. 81 ff m. w. Nachw.; a. A. v. Peter DÖV 1968 721; Scholler Staat 1969 36 Fußn. 83). Wie für Ausländer kommt auch für sie nur die allgemeine Notstandsregelung (§ 34) in Betracht (Rdn. 83).

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bb) Das Gut, zu dessen Schutz Widerstand geleistet werden darf, ist die in Art. 20 Abs. 1—3 definierte freiheitliche demokratische Grundordnung (BT-Drucks. V/2873 S. 9); Jescheck AT3 §35 IV 4; Maunz-Dürig-Herzog G G Art. 20 IX Rdn. 13; Welzel 11 § 14 II 7). Damit sind insbesondere die Verfassungsgrundsätze der Demokratie, des Sozialstaates, einer bundesstaatlichen Gliederung, der Volkssouveränität und der Mitwirkung des Volkes an der politischen Willensbildung in Wahlen und Abstimmungen, der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates und auch der Bindung der Staatsgewalt an Grundrechte gemeint (BT-Drucks. V/2873 S. 9). Das Widerstandsrecht setzt also einen rechtswidrigen Angriff auf den eng umrissenen Kreis der höchsten Güter der Rechtsordnung der Bundesrepublik voraus, wobei es gleichgültig ist, ob der Angriff allen tragenden Verfassungssätzen oder nur einem von ihnen gilt (BT-Drucks. V/2783 S.9). Durch eine bloße Störung der öffentlichen Ordnung kann es nicht ausgelöst werden (vgl. bereits BGHSt. 5 245, 247 für die Staatsnothilfe). Ebensowenig kann das Widerstandsrecht herangezogen werden, um demokratisch legitimierte Entscheidungen zu unterlaufen, selbst wenn diese im Einzelfall subjektive Rechte verletzen (vgl. Stern Staatsrecht II § 57 III 4 c). Die in BVerfGE 5 85, 377 schon vor Einführung des Art. 20 Abs. 4 GG ausgesprochene weitere Einschränkung, daß sich das Widerstandsrecht durch eine rein bewahrende Zielrichtung auszeichnet, d. h. nur ein Notrecht zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Rechtsordnung gibt, behält ihre Bedeutung auch nach der Positivierung {Leibholz-Rinck G G 6 Einf. Rdn. 45; Schmidt-Bleibtreu-Klein G G 6 Art. 20 Rdn. 21).

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cc) Das Widerstandsrecht richtet sich gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen. Es ist also gleichgültig, ob die Bestrebungen unter Mißbrauch oder Anmaßung staatlicher Machtbefugnisse („Staatsstreich von oben") oder durch revolutionäre Kräfte aus dem nichtstaatlichen Bereich („Staatsstreich von unten") erfolgen (BT-Drucks. V/2873 S.9; Jescheck AT3 §35 IV 4; Maunz-Dürig-Herzog G G Art. 20 IX Rdn. 30ff; Schmidt-Bleibtreu-Klein G G 6 Art. 20 Rdn. 23; Sch.Schröder-Lenckner2l Rdn. 65). Eine Rechtfertigung der Verletzung Unbeteiligter wird durch den Wortlaut des Art. 20 Abs. 4 G G ausgeschlossen (teilweise abw. T. Blank Widerstandsrecht S. 122 ff). Liegen sämtliche Voraussetzungen des Abs. 4 vor, können alle Widerstandshandlungen bis einschließlich der erforderlichen Tötung von aktiven Verfassungsfeinden gerechtfertigt sein ( Welzel11 § 14 II 7; Stern Staatsrecht II § 57 III 9 m. w. Nachw.). Unternehmen setzt voraus, daß bereits der Grad des Versuchs einer Beseitigung der Ordnung erreicht ist (vgl. die Definition des Unternehmensbegriffs in § 11 Abs. 1 Nr. 6). Das Widerstandsrecht wird also noch nicht von Vorbereitungshandlungen ausgelöst (vgl. Jescheck AT3 § 35 IV 4; abw. Jakobs 15/2, wonach ausnahmsweise ein Widerstandsrecht bereits vor Versuchsbeginn möglich sein soll). Nicht ausreichend ist auch die Äußerung von Meinungen, die den geschützten Grundsätzen zuwiderlaufen (vgl. OLG Köln [Z] NJW 1970 1322). (48)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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Es muß offenkundig sein, daß die verfassungsfeindliche Handlung auf die Besei- 88 tigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzielt (vgl. BVerfGE 5 85, 376). Zur Begründung dieser im Gesetzeswortlaut nicht enthaltenen Einschränkung wird sowohl auf die Schwierigkeit, das Vorliegen der Voraussetzungen des Widerstandsrechts im konkreten Fall objektiv zu bestimmen (Jescheck AT3 § 35 IV 4; Maunz-Dürig-Herzog-Scholz Art. 20 IX Rdn. 28), als auch auf den Umstand, daß sonst die aus dem Rechtsstaatsprinzip gefolgerten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens entwertet werden würden (Hamann-Lenz G G 3 Art. 20 Anm. 10), hingewiesen. dd) Ein Widerstandsrecht kommt erst in Betracht, wenn andere Abhilfe nicht 89 möglich ist. An dieses Erfordernis sind äußerst strenge Anforderungen zu stellen (vgl. schon BGH NJW 1953 1639). Die Tat muß ultima ratio sein (Blei AT 18 § 43 III; Dreh er- Tröndle 41 Rdn. 10; Leibholz- Rinck G G 6 Einf. Rdn. 45; Maunz-DürigHerzog-Scholz Art. 20 IX Rdn. 34; auch bereits BVerfGE 5 85, 377). Alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe müssen so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, daß die Ausübung des Widerstandes das letzte verbleibende Mittel zur Erhaltung und Wiederherstellung des Rechts ist (BVerfGE 5 85, 377). Eine Berufung auf das Widerstandsrecht kann erst erfolgen, wenn selbst die Notstandsbefugnisse des Staates den Schutz des Kernbestandes der Verfassung nicht mehr aufrechtzuerhalten in der Lage sind (Jescheck AT3 § 35 IV 4). ee) Subjektiv muß die Widerstandshandlung darauf gerichtet sein, die freiheitli- 90 che demokratische Grundordnung zu verteidigen oder wiederherzustellen (vgl. Leibholz-Rinck G G 6 Einf. Rdn. 45; Schmidt-Bleibtreu-Klein G G 6 Art. 20 Rdn. 24; auch bereits BVerfGE 5 85, 379). Es handelt sich um das subjektive Rechtfertigungselement, entsprechend dem Verteidigungswillen bei der Notwehr und dem Rettungswillen beim Notstand. ff) Während die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 GG schwerlich praktisch 91 werden, wird mit der Berufung auf das vermeintliche Vorliegen, also auf ein putatives Widerstandsrecht, zu rechnen sein. Die Behandlung der Irrtumsfälle bildet daher das im Vordergrund stehende Problem. Die Voraussetzungen des Widerstandsrechts, gerade auch die Frage, ob andere Abhilfe möglich ist, bedürfen wegen der weitgehenden Befugnisse, die der Rechtfertigungsgrund einräumt, strenger Vergewisserung durch den Handelnden. Dieser ist dazu um so mehr imstande, als ihm zumeist hinreichend Zeit bleibt, die Sach- und Rechtslage genauer zu prüfen. Soll die mißbräuchliche Berufung auf das Widerstandsrecht verhindert werden, muß deshalb gewährleistet sein, daß der verschuldete Irrtum stets und angemessen bestraft werden kann. Die Gründe, die RGSt. 61 242, 258 und 62 137 dazu bewogen haben, die „Prüfungspflicht" in den übergesetzlichen Notstand einzubauen (vgl. LK10 § 34 Rdn. 90 f), treffen hier daher in noch verstärktem Maße zu ( Welzel 11 § 14 II 7). Nachdem inzwischen beim Putativnotstand erkannt worden ist, daß die vorwerfbaren (auf nicht „pflichtmäßiger Prüfung" beruhenden) Irrtumsfälle nicht über die Konstruktion einer zusätzlichen Rechtfertigungsvoraussetzung, als welche die „Prüfungspflicht" sachwidrig ist, gelöst werden können (vgl. LK10 §34 Rdn. 77, 91), läßt sich auch beim Putativwiderstand nur auf das Instrumentarium der Irrtumslehre zurückgreifen. Hier aber ist allein die sog. strenge Schuldtheorie in der Lage, die Irrtumsproblematik befriedigend zu lösen, da nach ihr jeder Rechtfertigungsirrtum ein Verbotsirrtum ist und deshalb bei Vorwerfbarkeit des Irrtums lediglich eine Schuldminderung des vorsätzlichen Delikts in Betracht kommt. Wollte man beim Putativwiderstand die von der Rspr. vor allem bei der Putativnotwehr praktizierte (49)

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2. Abschnitt. Die Tat

sog. e i n g e s c h r ä n k t e S c h u l d t h e o r i e ( V e r n e i n u n g d e r V o r s a t z t a t , S t r a f b a r k e i t n u r bei E i n g r e i f e n eines F a h r l ä s s i g k e i t s t a t b e s t a n d s ) a n w e n d e n , läge d a r i n n i c h t n u r e i n e Verkennung des tatsächlichen Geschehens, sondern auch die Bejahung der Straflosigkeit d e s v e r s c h u l d e t e n p u t a t i v e n W i d e r s t a n d s r e c h t s bei allen r e i n e n V o r s a t z d e likten. A b e r a u c h d o r t , w o ein F a h r l ä s s i g k e i t s t a t b e s t a n d z u r V e r f ü g u n g steht, w ä r e d e r R ü c k g r i f f a u f i h n eine B a g a t e l l i s i e r u n g d e r T a t . D a es e i n e n f a h r l ä s s i g e n Vers u c h n i c h t gibt, m ü ß t e z u d e m n a c h d e r sog. e i n g e s c h r ä n k t e n S c h u l d t h e o r i e t r o t z k l a r e n W i d e r s p r u c h s z u r W i r k l i c h k e i t ein V e r s u c h f ü r u n m ö g l i c h e r k l ä r t u n d d e r V e r s u c h s t ä t e r d e s h a l b stets s t r a f f r e i gelassen w e r d e n . N ä h e r z u m G a n z e n Welzel^ § 14 II 7, § 22 III 1 f ; e b e n s o T. Blank W i d e r s t a n d s r e c h t S. 1 3 4 f f . D e r V o r s c h l a g v o n Dreher-Tröndle4\ R d n . 10, d i e S u b s i d i a r i t ä t s k l a u s e l des Art. 20 Abs. 4 G G als obj e k t i v e B e d i n g u n g d e r R e c h t f e r t i g u n g zu w e r t e n , ist n u r als „ N o t b e h e l f ' ( W e l z e l a a O ) zu s e h e n , mit d e m d i e u n t r a g b a r e n K o n s e q u e n z e n d e r e i n g e s c h r ä n k t e n S c h u l d t h e o r i e a b g e f a n g e n w e r d e n s o l l e n ; er l ä u f t a u f e i n e d u r c h d a s G e s e t z n i c h t gestützte E i n s c h r ä n k u n g d e s S c h u l d g r u n d s a t z e s h i n a u s .

5. Einwilligung des Verletzten Schrifttum Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972); ders. Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981); ders. Die Zulässigkeit der Einwilligung bei den Amtsdelikten, Dünnebier-Festschr. (1982) S. 487; ders. Das Problem der Freiwilligkeit bei der Einwilligung eingesperrter Personen, ZStW 95 (1983) 1; Arzt Willensmängel bei der Einwilligung (1970); Berz Die Bedeutung der Sittenwidrigkeit für die rechtfertigende Einwilligung, GA 1969 145; Bickelhaupt Einwilligung in die Trunkenheitsfahrt, NJW 1967 713; Boehmer Zum Problem der „Teilmündigkeit" Minderjähriger — Bemerkungen zu dem Urt. des 4 . Z S des BGH v. 5. 12. 1958, M D R 1959 705; Bohne Anmerkung zu RG 1 D 865/27 v. 3. 1. 1928, JW 1928 2229; Creifelds Wird bei einem Verstoß gegen die guten Sitten die Einwilligung im Strafrecht irrelevant? StrafrAbh. 266 (1929); Engisch Ärztlicher Eingriff zu Heilzwecken und Einwilligung, ZStW 58 (1939); Firnhaber Rechtsgeschäft und Einwilligung bei Vermögensdelikten, Diss. Bonn (1956); Frisch Das Fahrlässigkeitsdelikt und das Verhalten des Verletzten (1973); Geerds Einwilligung und Einverständnis des Verletzten, Diss. Kiel (1953); ders. Einwilligung und Einverständnis des Verletzten im Strafrecht, G A 1954 262; ders. Einwilligung und Einverständnis des Verletzten im Strafgesetzentwurf, ZStW 72 (1960) 42; Geppert Rechtfertigende „Einwilligung" des verletzten Mitfahrers bei Fahrlässigkeitstaten im Straßenverkehr? Zur dogmatischen Struktur der Einwilligung, ZStW 83 (1971) 947; Gerland Die Selbstverletzung und die Verletzung des Einwilligenden, VDA 2 (1908) S. 487; Haefliger Über die Einwilligung des Verletzten im Strafrecht, SchwZStr. 67 (1951) 92; Hansen Die Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitsdelikten, im besonderen das bewußte Eingehen eines Risikos durch den Geschädigten, Diss. Bonn (1963); Hirsch Einwilligung und Selbstbestimmung, Welzel-Festschr. (1974) S. 775; Holer Die Einwilligung des Verletzten (1906); Honig Die Einwilligung des Verletzten (1919); F. Kellner Die Einwilligung in die Lebensgefährdung, Diss. Regensburg (1974); Keßler Die Einwilligung des Verletzten in ihrer strafrechtlichen Bedeutung (1884); Kientzy Der Mangel am Straftatbestand infolge Einwilligung des Rechtsgutsträgers (1970); Klee Selbstverletzung und Verletzung eines Einwilligenden, GA 48 (1901) 177, 337; 49 (1903) 246; 50 (1903) 364; Kohlhaas Strafrechtlich wirksame Einwilligung bei Fahrlässigkeitstaten? DAR 1960 348; Kühne Die strafrechtliche Relevanz eines auf Fehlvorstellungen gegründeten Rechtsgutsverzichts, JZ 1979 240; Langrock Zur Einwilligung in die Verkehrsgefährdung — BGH M D R 1970, 689, MDR 1970 982; Lenckner Die Einwilligung Minderjähriger und deren gesetzlicher Vertreter, ZStW 72 (1960) 446; M. Marx Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut" (1972); Noll Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, im besonderen die Einwilligung des Verletzten (1955); ders. Tatbestand und Rechtswidrigkeit: Die Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung, ZStW 77 (1965) 1 ; ders. Begriff und Funktion (50)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

der guten Sitten im Strafrecht, OLG Zweibriicken-Festschr. (1969) S. 2061 Roedenbeck „Volenti non fit iniuria", GerS 37 (1885) 124; Roxin Verwerflichkeit und Sittenwidrigkeit als unrechtsbegründende Merkmale im Strafrecht, JuS 1964 373 ; ders. Zum Schutzzweck der Norm bei fahrlässigen Delikten, Gallas-Festschr. (1973) S. 241; Sauer Tatbestand und Rechtswidrigkeit, Heilbehandlung und Einwilligung, GerS 113 (1939) 79; Sax „Tatbestand" und Rechtsgutsverletzung, JZ 1976 9; Schaffstein Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den Fahrlässigkeitsdelikten, Welzel-Festschr. (1974) S. 557; Schlosky Die Einwilligung des Verletzen in die Begehung einer Straftat, DStR 1943 19; R. Schmitt Strafrechtlicher Schutz des Opfers vor sich selbst? Gleichzeitig ein Beitrag zur Reform des Opiumgesetzes, MaurachFestschr. (1972) S. 113; Schrey Der Gegenstand der Einwilligung des Verletzten, StrafrAbh. 248 (1928); Schuknecht Einwilligung und Rechtswidrigkeit bei Verkehrsdelikten, DAR 1966 17; Hans Stoll Das Handeln auf eigene Gefahr (1961); Stratenwerth Prinzipien der Rechtfertigung, ZStW 68 (1956) 41 ; B. Thiele Die Einwilligung des Sexualpartners bei Unzucht mit Abhängigen, § 174 StGB, Diss. Hamburg (1971); Traeger Die Einwilligung des Verletzten und andere Unrechtsausschließungsgründe im zukünftigen Strafgesetz, GerS 94 (1927) 112; K. Wimmer Die Bedeutung des zustimmenden Willens und anderer positiver Stellungnahmen des Berechtigten sowie die Wirkung seiner Täuschung bei ausgewählten strafrechtlichen Deliktsdefinitionen (1980); Zipf Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht (1970); ders. Die Bedeutung und Behandlung der Einwilligung im Strafrecht, ÖstJZ 1977 379; Zitelmann Ausschluß der Widerrechtlichkeit, AcP99 (1906) 1. Siehe außerdem das Schrifttum zu § 226 a vor Rdn. 1 und 14.

Übersicht Rdn. a) Allgemeines aa) Rechtsgrund und Anwendungsbereich bb) Unterschied von rechtfertigender und tatbestandsausschließender Einwilligung cc) Wesen der rechtfertigenden Einwilligung dd) Gegenstand der Einwilligungserklärung b) Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes im einzelnen aa) Erklärung, die vor der Tat abgegeben und nicht zwischenzeitlich wi-

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96 104 106

derrufen ist bb) Dispositionsbefugnis des Einwilligenden bezüglich der Schutznorm . cc) Einsichtsfähigkeit dd) Fehlen von Willensmängeln . . . . ee) Keine Sittenwidrigkeit der Tat bei Körperverletzung und Lebensgefährdung ff) Subjektives Rechtfertigungselement c) Notwendige Teilnahme d) Putativeinwilligung e) Strafrechtsreform

Rdn. 109 114 118 119

124 125 126 127 128

a) aa) Bei e i n e r R e i h e v o n D e l i k t e n ( i n s b e s o n d e r e §§ 223 ff, 300, 303, 308 1. Alt.) 9 2 k o m m t d i e Einwilligung als Rechtfertigungsgrund in B e t r a c h t . E i n e a u s d r ü c k l i c h e Vorschrift enthält das StGB zwar nur für den wichtigsten u n d regelungsbedürftigsten Fall, d e r w e g e n E i n w i l l i g u n g g e r e c h t f e r t i g t e n K ö r p e r v e r l e t z u n g , in § 226 a ( z u m A n w e n d u n g s b e r e i c h siehe L K J 0 § 226 a R d n . 1), u n d a u c h d a s 2. S t r R G h a t auf e i n e a l l g e m e i n e R e g e l u n g verzichtet ( d a z u R d n . 128). J e d o c h ist a n e r k a n n t , d a ß d i e E i n w i l l i g u n g d e s Verletzten a u c h bei a n d e r e n g e g e n d e n e i n z e l n e n g e r i c h t e t e n S t r a f t a t e n als R e c h t f e r t i g u n g s g r u n d e i n g r e i f e n k a n n . D i e E r h e b l i c h k e i t d e r Einwilligung w i r d seit J a h r h u n d e r t e n b e j a h t ( n ä h e r Honig E i n w i l l i g u n g S. 32 f f ) u n d h e u t e so e i n m ü t i g v e r t r e t e n , d a ß sich o h n e w e i t e r e s v o n G e w o h n h e i t s r e c h t s p r e c h e n l ä ß t . D a b e i ist zu b e a c h t e n , d a ß d e r Satz „ v o l e n t i n o n fit i n i u r i a " ( D i g . 47, 1 0 , 1 § 5) n i c h t w ö r t l i c h zu v e r s t e h e n ist, s o n d e r n i m m e r G r e n z e n u n t e r w o r f e n w a r ( M e z g e r Lb. 2 § 28 III). (51)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

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Einige Fälle, in denen es genau betrachtet um die Frage der rechtfertigenden Einwilligung geht, werden teilweise auf anderem Wege zu lösen versucht: Bei vorsätzlichen Verletzungshandlungen, die im Zusammenhang mit einer den Regeln entsprechenden Ausübung eines Sports stehen, der Sportart adäquat sind und zwischen den an der Sportausübung Beteiligten erfolgen, wird häufig nicht auf den Rechtfertigungsgrund der Einwilligung, sondern auf Sozialadäquanz abgestellt (Kohlrausch-Lange Syst. Vorbem. III 2 a ; Mezger LK8 Vor § 51 Bern. 10h cc; Jescheck AT3 §25 IV 1; Klug Eb. Schmidt-Festschr. S. 264; Nipperdey NJW 1957 1778; Schaffstein ZStW 72 [1960] 379; Zipf Einwilligung und Risikoübernahme S. 92 ff). Abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken, die gegenüber der Verwendung des Begriffs der Sozialadäquanz bestehen (siehe Rdn. 29), ist seiner Heranziehung in diesen Fällen entgegenzuhalten, daß die Beteiligung an der konkreten Sportausübung an eine individuelle Zustimmung geknüpft ist, deren Inhalt sich auf das der betreffenden Sportart Wesensmäßige bezieht. Da es um vorsätzliche Rechtsgutsbeeinträchtigungen (Kampfsport) geht, ist auch unter normativem Aspekt nicht einsichtig, weshalb hier schon die Tatbestandsmäßigkeit und nicht erst die Rechtswidrigkeit entfallen soll.

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Größere Bedeutung haben Bestrebungen beim fahrlässigen Delikt, Einwilligungsfälle mit Hilfe andere Rechtsinstitute zu lösen. Nach Frisch Fahrlässigkeitsdelikt S. 118 ff soll das Verhalten des Opfers, das sich bewußt der Gefährdung durch einen anderen aussetzt, bewirken, daß auf seiten des Gefährdenden die Sorgfaltswidrigkeit (und damit die Tatbestandsmäßigkeit) entfällt. Er stützt dies auf eine grundsätzliche Abwägung zwischen dem Verstoß des Opfers gegen die eigenen Interessen und dem Wert der Interessen an der Handlungsfreiheit des Gefährdenden. Dieser Auffassung steht aber entgegen, daß sie letztlich das Mitverschulden des Opfers zum Tatbestandskorrektiv erhebt (was auch in der parallelen Bewertung des Falles deutlich wird, daß Täter und Opfer sich des Risikos aus Unbesonnenheit nicht bewußt waren, aaO S. 125 f)- Das reicht für sich allein nicht aus, um den Sorgfaltsverstoß des Täters entfallen zu lassen (näher zur Kritik F. Kellner Diss. Regensburg 1974 S. 64 ff). Weiterhin findet sich die Ansicht, daß die Einwilligung des Opfers beim fahrlässigen Delikt Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt des erlaubten Risikos ermögliche (Sch.-Schröder2\ Rdn. 100, 102 [Lenckner]; § 222 Rdn. 3 [Eser]; Krey JuS 1971 250; Langrock M D R 1970 984). Da das Institut der rechtfertigenden Einwilligung daneben bestehen bleibt, hat diese Konstruktion nur bei der Frage der Einwilligung in die Lebensgefährdung praktische Bedeutung (vgl. Sch.-SchröderEserli §222 Rdn. 3, Stratenwerth AT3 Rdn. 1116). Ein Rechtfertigungsgrund des erlaubten Risikos ist jedoch nicht anzuerkennen (im Unterschied zu den anders gearteten Fällen des schon nicht sorgfaltswidrigen Risikos, näher dazu Rdn. 30 ff). Es handelt sich vielmehr um die Entscheidung der Frage, ob und ggf. inwieweit die Einwilligung in eine tatbestandsmäßige Lebensgefährdung (damit auch in § 222) rechtfertigt. Die Berufung auf erlaubtes Risiko dient hier nur dazu, die dogmatischen Schwierigkeiten, die sich nach der herkömmlichen Einwilligungslehre ergeben, zu umgehen. Noch unbefriedigender ist es, wenn Geppert ZStW 83 (1971) 996 bei Einverstandensein des Opfers mit der Gefährdung unverbotenes Risiko, nämlich das Tatbestandserforderais der Sorgfaltswidrigkeit ausschließendes Risiko, annehmen will; denn die Sorgfaltswidrigkeit bildet doch gerade den Gegenstand der Zustimmung. Nach Roxin Gallas-Festschr. S. 242 bedarf es nicht des Rückgriffs auf die rechtfertigende Einwilligung, wenn eine einverständliche Fremdgefährdung unter allen relevanten Aspekten einer Selbstgefährdung gleichsteht. Angesprochen sind (52)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

hier die Fälle der Beteiligung (im natürlichen Sinne) an tatbestandsloser willentlicher Selbstgefährdung und diejenigen gemeinsamer Selbstgefährdung. Bei ihnen ist der Tatbestand des fahrlässigen Delikts nicht erfüllt, weil es keine Sorgfaltswidrigkeit darstellt, fremde voll verantwortliche Selbstgefährdung zu fördern (Rudolphi JuS 1969 557; Hirsch JR 1979 430; Sch.-Schröder2\ Rdn. 107 [Lenckner], § 15 Rdn. 155 [Cramer]; im Ergebnis auch Roxin aaO S.2; Samson SK3 Anh. § 16 Rdn. 33). Es kommt nicht einmal darauf an, daß überhaupt tatsächlich eine Einwilligung erklärt worden ist. Die Fälle haben daher von vornherein nichts mit dem Anwendungsgebiet der rechtfertigenden Einwilligung zu tun. Allerdings ist es nicht angängig, Sachverhalte einwilligungsbedürftiger Fremdgefährdung in solche tatbestandsloser Beteiligung an einer Selbstgefährdung umzudeuten. Schließlich hat die Rspr. in dem speziellen Fall der einverständlichen Lebensge- 95 fährdung (bei § 222) einen Lösungsweg außerhalb der Einwilligungslehre zu finden versucht. Danach soll „unter besonderen Voraussetzungen . . . die Pflichtwidrigkeit eines Verhaltens zu verneinen sein, wenn jemand eine gewisse Gefahr in deren klarer Erkenntnis in Kauf genommen und der Täter seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht genügt hat" (BGHSt. 4 88, 93; 7 112, 115, RGSt. 57 172; RG JW 1925 2250; BayObLGSt. 57 75; OLG Karlsruhe NJW 1967 2321 ; vgl. auch BGHSt. 6 232, 234 f; zust. Dreher-Tröndle41 § 222 Rdn. 5; Jescheck AT3 §57 IV; Stratenwerth AT3 Rdn. 1116; grundsätzlich abl. Zi/j/Einwilligung und Risikoübernahme S. 73). Diese Rspr. ist zwar im praktischen Ergebnis, nicht aber in der Begründung überzeugend (vgl. Schaffstein Welzel-Festschr. S. 568 ff; Jähnke LK10 § 222 Rdn. 21). Denn es handelt sich in den Fällen nicht um eine Frage der Sorgfaltspflicht. Die Sorgfaltswidrigkeit ist vielmehr damit gegeben, daß der Täter die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verletzt, und das wiederum ist Voraussetzung dafür, daß die Fälle überhaupt tatbestandlich in den Blick kommen. Auch bezieht sich die bewußte Inkaufnahme eben gerade auf diese Sorgfaltswidrigkeit. Das von der Rspr. hier aufgestellte Erfordernis, daß der Täter seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht genügt haben müsse, bezeichnet lediglich, daß er über die Grenzen des Inkaufgenommenen nicht hinausgehen darf. Der Sache nach handelt es sich also um echte Einwilligungsfälle, die lediglich anders etikettiert werden, weil man sich durch Satz, daß eine Verfügungsbefugnis über das Rechtsgut Leben nicht bestehe, an der offenen Einordnung bei der rechtfertigenden Einwilligung gehindert sieht. Die Hindernisse der Einwilligungslehre sind jedoch nur scheinbare, da es bei ihr nicht um die Verfügungsbefugnis bezüglich des Rechtsguts, sondern hinsichtlich der einzelnen Schutznorm geht (Rdn. 105, 114). Daß in eine vorsätzliche Tötung nicht rechtfertigend eingewilligt werden kann, besagt daher noch nichts über die Zulässigkeit der Einwilligung in eine nur lebensgefährdende — im Falle der Realisierung der Gefahr nach § 222 strafbare — Handlung (vgl. Schaffstein aaO; Hirsch Welzel-Festschr. S. 797 Anm. 69; Samson SK3 Anh. zu § 16 Rdn. 33). Das Problem liegt nicht in der Bejahung der Einwilligungsbefugnis, deren materielle Berechtigung im übrigen durch die obengenannte Rspr. und das ihr folgende Schrifttum bestätigt wird, sondern bei den Grenzen, die der Einwilligung in eine lebensgefährdende Handlung zu setzen sind. Anknüpfungspunkt ist dabei ebenso wie in § 226 a der Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit der Tat, wobei zu beachten ist, daß die Bewertung ausschließlich die gefährliche Handlung betrifft, also nicht den tatsächlich eingetrenen unvorsätzlichen Todeserfolg einbezieht (siehe Rdn. 107; vgl. zur Einwilligung in die Lebensgefährdung auch F. Kellner Diss. Regensburg 1974).

(53)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

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bb) Von der rechtfertigenden Einwilligung ist die schon tatbestandsausschließende Einwilligung („Einverständnis") zu unterscheiden. Während in den Fällen rechtfertigender Einwilligung der Tatbestand objektiv und subjektiv (ζ. B. der Tatbestand der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung) erfüllt ist, schließt das Einverständnis bereits den Tatbestand aus, wo ein Handeln gegen den Willen des Betroffenen zum Tatbestand gehört, ζ. B. bei den Nötigungsdelikten, dem Hausfriedensbruch und der Verletzung der persönlichen Geheimsphäre, aber etwa auch beim Diebstahl, wo der Gewahrsamsbruch und damit das Tatbestandsmerkmal Wegnahme entfällt, wenn der Gewahrsamsinhaber mit der Entziehung einverstanden ist. Für diese Unterscheidung die h. M.: BGHSt. 23 1, 3; 26 70; BayObLG JZ 1979 146; Geerds Einwilligung S. 142 ff; GA 1954 262; ZStW 72 (1960) 43; Baumann% §21 II 4 e ; Blei AT 18 §37 I 1; Bockelmann AT3 §15 C I 1; DreherTröndleM Rdn. 3 a; Geppert ZStW 83 (1971) 959; Hirsch Welzel-Festschr. S. 799 Fußn. 75; Jescheck AT3 § 34 I 3; Kohlrausch-Lange Vor § 51 Bern. II 3 a ; LacknerlS Bern. II 5 b ; Lenckner ZStW 72 (1960) 448; in Sch.-Schröder21 Rdn. 29, 34; Noll Überges. Rechtfertigungsgründe S. 72ff; Otto GrdK. AT2 § 8 III 2; Samson SK.4 Rdn. 36; Welzein § 14 VII l a ; Wessels AT 13 § 9 1 1 ; siehe auch Jakobs 7/104 ff, 11 I f f , 14/1 (der jedoch den Bereich des Tatbestandsausschlusses zu Lasten der rechtfertigenden Einwilligung teilweise ausdehnt [dazu Rdn. 98]).

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Abw. wird die Ansicht vertreten, daß jede wirksame Einwilligung bereits die Tatbestandserfüllung verhindere: Kientzy Mangel am Straftatbestand S. 65ff, 82f; Kühne JZ 1979 242; Roxin Kriminalpolitik S. 25 Fußn. 57; ZStW 85 (1973) lOOf; Rudolphi ZStW 86 (1974) 87; Sax JZ 1976 9; Schmidhäuser StudB2 5/106ff; Zipf Einwilligung und Risikoübernahme S. 28 ff, 59; JZ 1977 380 f; in Maurach-Zipfö § 17 III Β 1 u . 3 .

98

Praktische Relevanz hat die Kontroverse für den Vorsatzinhalt, die Irrtums- und Versuchslehre sowie die Beachtung der allgemeinen Rechtfertigungserfordernisse. Die gegen die h. M. vorgebrachten Einwände erscheinen nicht haltbar. Es bedeutet eine entscheidende sachliche Verschiedenheit, ob der Wille des einzelnen oder ein unabhängig vom Willen des Inhabers bestehendes, für sich allein einen Wert verkörperndes Gut geschützt wird. Während eine mit Einverständis des Betroffenen begangene „Nötigung" schon keine Rechtsgutsverletzung darstellt, bildet die mit Einwilligung erfolgte Körperverletzung immer eine Verletzung des geschützten Rechtsguts. Der Unterschied spiegelt sich auch deutlich in dem zu verlangenden Vorsatzinhalt wider. Hinter der Gegenmeinung stehen insbesondere subjektive Tendenzen innerhalb der Rechtsgutslehre. Begreift man das Rechtsgut als die objektsbzw. verhaltensbezogene Autonomie des Berechtigten (Schmidhäuser StudB2 5/107) oder als ein Objekt, das gerade wegen seiner Beziehung zum Rechtsgutsträger geschützt wird ( M a u r a c h - Z i p f 6 § 17 III Β 1), so sind nicht mehr Körper, Bewegungsfreiheit usw. Rechtsgüter, sondern Rechtsgut ist dann der Wille zur Wahrung dieser Werte (Bedenken gegenüber einer generellen Subjektivierung der Rechtsgüter jetzt auch bei Stratenwerthl Rdn. 362). Eine solche Rechtsgutsauffassung steht bereits im Widerspruch zum positivrechtlichen Begriffsverständnis in § 34. Körper, Bewegungsfreiheit, Ehre, Eigentum und andere Rechtsgüter des einzelnen sind für sich allein Werte, die den grundsätzlichen Schutz der Rechtsordnung genießen und zumeist auch durch die Verfassung garantiert werden. Die Einwilligung, soweit sie rechtlich beachtlich ist, hat deshalb hier im Gegensatz zu den Fällen, in denen erst der Wille Schutzobjekt ist, nur den Charakter einer ausnahmsweisen Gestattung des Eingriffs. Auch entsteht die Frage des Umfangs der Dispositionsmöglichkeit des (54)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Einwilligenden (vgl. § 226 a) gerade dadurch, daß diese Rechtsgüter bereits unabhängig vom Willen des Inhabers einen rechtlich erheblichen Wert verkörpern. Vgl. zum vorhergehenden Amelung Einwilligung S. 26 f; Dreher Heinitz-Festschr. (1972) S. 219f; Geppert ZStW 83 (1971) 968; Hirsch Welzel-Festschr. S. 782ff; Jescheck AT 3 §34 13; Noll OLG Zweibrücken-Festschr. S. 222; S trat en werthi Rdn. 362 ff. Nicht überzeugend ist deshalb auch die von Jakobs 7/104 ff, 111 ff, 14/1 vertretene Dreiteilung in tatbestandsausschließendes Einverständnis, tatbestandsausschließende Einwilligung und rechtfertigende Einwilligung; sie entbehrt zudem klarer Abgrenzungsgesichtspunkte. Auch beim fahrlässigen Delikt wird die rechtfertigende Einwilligung nicht zu ei- 99 ner tatbestandsausschließenden. Ihr Vorliegen läßt den Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt, damit die tatbestandsmäßige Sorgfaltswidrigkeit unberührt. Vielmehr bildet gerade diese den Gegenstand der Einwilligung beim fahrlässigen Delikt. Erst recht läßt sich nicht behaupten, daß es einen „Bruch" für die Einwilligungslehre darstelle, wenn man zwischen tatbestandsausschließender und rechtfertigender Einwilligung differenziert. Denn hinter dem Oberbegriff „Einwilligung" stehen zwei sachlich verschiedene Rechtsinstitute. Die Voraussetzungen der tatbestandsausschließenden Einwilligung stimmen nicht 100 mit denen der rechtfertigenden Einwilligung überein, sondern ergeben sich aus dem Wesen des geschützten Rechtsguts und der Funktion des einzelnen Tatbestands. Nach einer häufig vertretenen Ansicht soll das die Tatbestandserfüllung hindernde Einverständnis im Gegensatz zur rechtfertigenden Einwilligung rein tatsächlicher Natur sein (Bockelmann AT3 § 15 C I l b bb; Geerds GA 1954 265; Wekeln § 14 VII l a ; Wessels AT 13 § 9 I 1). Hierzu wird etwa auf den Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit hingewiesen, der beim Einverständnis von vornherein keine Rolle spielt (vgl. die Beispiele bei Welzel aaO). Auch ist ein Einverständnis nicht notwendig deshalb unbeachtlich, weil es durch Täuschung erschlichen worden ist. Allgemein von einer rein tatsächlichen Natur zu sprechen, bedeutet jedoch eine zu weitgehende Aussage. Vielmehr bestimmen sich die Voraussetzungen des Einverständnisses nach den Erfordernissen des jeweiligen Tatbestands, insbesondere dem Wesen des geschützten Rechtsguts (wie hier Jakobs 7/105ff; Jescheck AT3 §34 I 2a; Kientzy Mangel am Straftatbestand S. 65 ff; Samson SK4 Rdn. 37; Sch.-SchröderLencknerll Rdn. 32; Stratenwerthl Rdn. 370; Zipf Einwilligung und Risikoübernahme S. 15 ff). Die tatbestandliche Verschiedenheit zeigt sich einmal daran, daß der Druck, mit 101 Hilfe dessen der Täter noch ein wirksames Einverständnis des Betroffenen erzwingen kann, in den einzelnen Tatbeständen unterschiedlich bemessen ist. Während bei § 177 die Freiwilligkeit erst bei Gewalt oder bei Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben entfällt, schließt bei § 123 auch schon geringerer Zwang ein einverständliches Betreten aus. Ebenfalls ist das Maß der für ein wirksames Einverständnis erforderlichen Einsichtsfähigkeit bei den einzelnen Tatbeständen verschieden: Für die Freiheitsdelikte kommt es stets nur auf die natürliche Willensfähigkeit an, weshalb ein Kind oder ein Geisteskranker (BGHSt. 23 1) nicht genötigt werden können, wenn sie mit dem Verhalten des Täters einverstanden sind. Gleiches gilt für die an ein faktisches Herrschaftsverhältnis anknüpfenden Tatbestände, z. B. die Wegnahme in § 242. Dagegen ist bei Vorschriften, die rechtsgeschäftlich bedeutsame Positionen schützen, die natürliche Willensfähigkeit eines Minderjährigen nicht ausreichend. So wird bei § 142 zumindest verlangt, daß der Minderjährige eine genügende Vorstellung von der Bedeutung seines Verzichts hat (OLG Hamm (55)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

VRS 23 [1962] 102, 104; OLG Karlsruhe GA 1970 311, 312 [im Alter von 9 Jahren kein wirksamer Verzicht auf Feststellungen nach § 142 möglich]; Rüth LK10 § 142 Rdn. 52; strenger Jakobs 7/106 [Geschäftsfähigkeit]). Noch weitergehend ist beim Mißbrauchstatbestand des § 266 Geschäftsfähigkeit für das Einverständnis notwendig, weil hier die Überschreitung rechtsgeschäftlicher Befugnisse Tatbestandsmerkmal ist (Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 32; Jakobs 7/106). 102

Entsprechend zu differenzieren ist auch bei den weiteren Erfordernissen des Einverständnisses. Während in der Regel eine (ausdrückliche oder konkludente) Einverständniserfc/ärwng nicht notwendig ist, sondern schon das bloße innere Einverstandensein mit der Handlung des Täters genügt, ist sie bei solchen Tatbeständen erforderlich, die eine rechtsgeschäftlich bedeutsame Position schützen (so §§ 142 und 266). Auch der Umstand, daß ein Einverständnis auf Täuschung oder Irrtum beruht, hat lediglich dort Bedeutung, wo es um den Schutz des rechtsgeschäftlichen Bereichs geht. Ist sich demgegenüber der Hausrechts- oder der Gewahrsamsinhaber der Öffnung des Zugangs zu den Räumlichkeiten bzw. der Aufhebung seines Gewahrsams bewußt, dann scheidet wegen Einverständnisses ein Eindringen bzw. ein Gewahrsamsbruch aus, gleichgültig, ob das Einverstandensein täuschungs- oder irrtumsbedingt ist (vgl. Sch.-Schröder-Lenckner2\ § 123 Rdn. 22 [m. Nachw. zum dortigen Streitstand]; Sch.-Schröder-Eser2\ § 242 Rdn. 29). Ebenfalls liegt bei §§ 181 und 237 ein beachtliches Einverständnis vor, solange nicht der Grad der List erreicht ist.

103

Kennt der Täter das Einverständnis nicht, so hat er den vollen Vorsatz (ζ. B. bezüglich der Wegnahme, wenn er nichts vom Einverständnis in den Gewahrsamsbruch weiß), es liegt daher untauglicher Versuch vor (BGHSt. 4 199; OLG Köln NJW 1961 2360). Hält er umgekehrt ein Einverständnis irrtümlich für gegeben, so bewirkt das Unkenntnis hinsichtlich eines Tatbestandsmerkmals, weshalb der Vorsatz entfällt (OLG Hamm VRS 23 [1962] 102, 104). Das Einverständnis muß bei Begehung der Tat vorliegen, eine nachträgliche Genehmigung genügt ebensowenig wie bei der rechtfertigenden Einwilligung.

104

cc) Das Wesen der rechtfertigenden Einwilligung besteht nach h. M. im Rechtsschutzverzicht (BGHSt. 17 359; OLG Hamburg NJW 1969 336; Dreher-Tröndle^l Rdn. 3 b ; Geerds GA 1954 263, ZStW 72 [1960] 43; Lackner 15 Bern. II 5; Lenckner ZStW 72 [1960] 453; in Sch.-Schröder21 Rdn. 33; Welzein § 14 VII 2 a ; Wessels AT 13 § 9 I 2; Bichlmeier JZ 1980 54). Von „Preisgabe des Rechtsschutzwillens" sprechen KG JR 1954 428; Mezger LK8 Vor § 51 Bern. 10 e aa. Dagegen deuteten die Einwilligung als Interessenverzicht v. Hippel II § 19 II 2; Honig Einwilligung S. 118; v. Liszt-Schmidt § 35 IV m. w. Nachw.; in dieser Richtung jetzt wieder Arzt Willensmängel S. 17 f. Dieser Ansicht verwandt ist eine neuere Auffassung, derzufolge mit der Einwilligung das Schutzobjekt wegfalle, weil das tatbestandsmäßige Unrecht auch im Angriff auf die Dispositionsfreiheit des Berechtigten liege (M. Marx Rechtsgut S. 62 ff, 67, 82 m. Fußn. 18; Maurach-Zipf6 § 17 III Β 1; Samson SK4 Rdn. 39; Stratenwerth3 Rdn. 362 f; weitergehend Schmidhäuser StudB2 5/107 [Rechtsgut sei allein die objektsbezogene Autonomie des Berechtigten]). Außerdem findet sich die Auffassung, daß der Grund der rechtfertigenden Wirkung der Einwilligung im Prinzip der Güterabwägung zu sehen sei: Die subjektive Wertung der Rechtsgüter durch den einzelnen sei von der Rechtsordnung in gewissen Grenzen als maßgeblich anerkannt, weil der ungehinderte Gebrauch der persönlichen Freiheit als sozialer Wert angesehen werde (Noll Überges. Rechtfertigungsgründe S. 74ff; ZStW 77 [1965] 14ff; SchwZStr. 80 [1964] 194; Böth NJW 1967 (56)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

1495; Geppert ZStW 83 [1971] 952f; Jescheck AT3 §34 II 3; siehe auch 14/3 0·

Jakobs

Der h. M. läßt sich insoweit folgen, wie sie mit dem Gesichtspunkt des Rechts- 105 schutzverzichts zum Ausdruck bringen will, daß es bei der rechtfertigenden Einwilligung um einen Verzicht darauf geht, daß aus der zum Schutze des einzelnen bestehenden Norm eine konkrete Rechtspflicht erwächst. Auf der anderen Seite gibt die h. M. keine Begründung für die Verzichtsmöglichkeit und damit auch keinen Aufschluß über die ausschlaggebenden Maßstäbe. Die Interessentheorie versagt, weil das konkrete Interesse des einzelnen nicht allgemein den Ausschlag gibt, wie sich daran zeigt, daß eine Einwilligung in die vorsätzliche Tötung überhaupt nicht und eine in die Körperverletzung nur in begrenztem Umfang zulässig ist. Die „Güterabwägungstheorie" hebt den entscheidenden Gesichtspunkt insoweit hervor, als sie die Kollision zwischen grundsätzlicher Wertentscheidung der Rechtsordnung und abweichender konkreter Ausübung der persönlichen Freiheit herausarbeitet. Jedoch ist zu beachten, daß hier nicht lediglich Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen sind, sondern daß es um die Abwägung der Entscheidungsfreiheit einerseits und des Schutzzwecks der einzelnen Norm andererseits geht. Gegenstand der Einwilligung ist die verbotene Handlung. Es ist möglich, daß trotz Identität des beeinträchtigten Rechtsguts im einen Fall eine Einwilligungsbefugnis gegeben, im anderen dagegen zu verneinen ist. So handelt es sich beim Rechtsgut der §§ 223 ff um ein „Universalrechtsgut", bei dessen Schutz sowohl Interessen des einzelnen als auch Interessen der Allgemeinheit in Rede stehen. Ob eine Einwilligungsbefugnis vorliegt, hängt hier davon ab, daß das Gewicht des Rechtsgutsangriffs nicht bereits die in § 226 a erwähnte Grenze erreicht, von der an das an der Wahrung des Rechtsguts bestehende Allgemeininteresse dominiert. Das zeigt sich auch bei der Einwilligung in eine zum Tode führende lebensgefährliche Handlung (§ 222). Während die Einwilligung bezüglich des Verbots der vorsätzlichen Tötung stets unzulässig bleibt, ist sie bezüglich des Fahrlässigkeitsverbots nicht völlig ausgeschlossen (vgl. Rdn. 94, 95). Im übrigen läßt sich aus der Notwendigkeit, den Gesichtspunkt der konkreten Entscheidungsfreiheit zu berücksichtigen, nicht folgern, daß die Einwilligung bereits als Einschränkung des einzelnen Rechtsguts zu begreifen sei (so aber Schmidhäuser StudB2 5/107; Stratenwerthi Rdn. 362f; Samson SK4 Rdn. 39). Denn es geht hier um eine Kollision zwischen den bei der Aufstellung der Rechtsnormen generell getroffenen Wertentscheidungen und einer nur ausnahmsweise abweichenden subjektiven Bewertung im Einzelfall. Jener Auffassung liegt eine Mißdeutung des Rechtsgutsbegriffs zugrunde (näher Hirsch Welzel-Festschr. S. 782 ff; kritisch ebenfalls Amelung Einwilligung S. 26f; Jescheck AT3 § 34 I 3 m. w. Nachw.). Auch bedeutet es eine Verkürzung des Gedankens des Rechtsschutzverzichts, wenn man ihm unterstellt, er beziehe sich lediglich auf die strafrechtliche Sanktion (so jedoch Stratenwerth aaO). Es geht beim Rechtsschutzverzicht in der Einwilligungslehre nicht um den Verzicht auf die Rechtsfolgen der Tat, sondern um den Verzicht auf den konkreten Schutz durch die Norm und damit um etwas, was durchaus die Tat selbst, nämlich ihre Rechtswidrigkeit betrifft. Die Basis bildet also eine normbezogene materielle Rechtsschutzverzichtstheorie. dd) Gegenstand der Einwilligungserklärung kann eine tatbestandsmäßig vorsätzli- 106 che, aber auch fahrlässige Handlung sein (BGH M D R 1959 856; BayObLG NJW 1968 665; K G JR 1954 428; OLG Schleswig SchlHA 1959 154; OLG Celle NJW 1964 736; MDR 1969 69; OLG Zweibrücken VRS 30 [1964] 284; OLG Frankfurt MDR 1970 694). Bei der vorsätzlichen Verletzungshandlung ist Gegenstand die vor(57)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

sätzliche Erfolgsherbeiführung, also nicht allein der Erfolgseintritt ( Jescheck AT 3 § 34 IV 3; Traeger GerS 94 [1927] 141; Schlosky DStR 1943 20; Geppert ZStW 83 [1971] 975f)· Abw. will jedoch Zipf (Einwilligung und Risikoübernahme S. 22; in Maurach-Zipfö § 17 III Β 5 a) mit einem Teil der älteren Literatur die Einwilligung allein auf den Erfolg beziehen, wobei unberücksichtigt bleibt, daß die Tatbestände Verstöße gegen Verhaltensnormen umschreiben und sich demgemäß die rechtfertigende Einwilligung mit der Zulässigkeit einer den Tatbestand erfüllenden Handlung befaßt. 107

Zur Rechtfertigung eines fahrlässigen Delikts genügt die Einwilligung in die sorgfaltswidrige (willentliche) Handlung, ζ. B. das zu schnelle Fahren. Der durch diese verursachte Erfolg braucht vom Einwilligenden nicht gewollt zu sein. Systematisch ergibt sich das aus dem Wesen der Einwilligung als eines Dispenses von der Befolgung des hinter dem verwirklichten Tatbestand stehenden Verbots. Dieses richtet sich bei der Fahrlässigkeit allein auf die sorgfaltswidrige Handlung; denn verbieten läßt sich nicht die ungewollte Erfolgsverursachung, sondern nur das hinsichtlich eines möglichen Erfolgseintritts sorgfaltswidrige Verhalten (näher LK.10 § 230 Rdn. 5). Der Erfolg ist beim fahrlässigen Delikt eine Auswirkung des Handlungsunrechts, nicht aber ein Teil desselben (näher Hirsch ZStW 94 [1982] 251 ff m. w. Nachw.). Hinzu kommt die Überlegung, daß derjenige, der in ein gefährliches Verhalten einwilligt, damit das Risiko einer Verletzung bewußt übernimmt. Der Eintritt des Erfolges stellt lediglich die Realisierung des bewußt eingegangenen Risikos dar, so daß es für die Einwilligungsfrage unerheblich ist, wenn der Einwilligende darauf vertraut oder gehofft hat, daß es tatsächlich nicht zum Erfolgseintritt kommen werde (vgl. dazu die in Rdn. 106 genannte Rspr.). Diejenigen, die demgegenüber bei der fahrlässigen Tat eine direkte Einwilligung in den Erfolgseintritt verlangen, kommen im Ergebnis zu einer faktischen Verneinung der Einwilligungsmöglichkeit, weil der Erfolg der fahrlässigen Tat regelmäßig nicht vom Opfer gewollt wird (so konsequent Haefliger SchwZStr. 67 [1951] lOOf; Eb. Schmidt JZ 1954 372; Kohlhaas DAR 1960 348f; siehe auch Frisch Fahrlässigkeitsdelikt S. 21 ff. Näher zu diesen Fragen Schaffstein Welzel-Festschr. S. 563 ff. Beispiele zu den praktisch bedeutsamen Fällen der Einwilligung des Mitfahrers in Risikofahrten siehe LK10 § 226 a Rdn. 13.

108

Die Einwilligung muß sich auf ein bestimmtes Tun oder Unterlassen des Täters beziehen. Die Rechtswidrigkeit ist nur ausgeschlossen, wenn sich der Täter nach Art und Maß im Rahmen der Einwilligung hält, also nicht beim Exzeß (BGHSt. 4 88, 92; RG DR 1944 526; BayObLG H R R 1929 Nr. 671). Soweit sich die Einwilligung auf eine Handlung bezieht, die mehrere Straftatbestände verwirklicht, ist der Ausschluß der Rechtswidrigkeit für jedes einzelne Delikt gesondert zu untersuchen (vgl. BGHSt. 6 232; BayObLGSt. 1962 108 und insbesondere OLG Frankfurt DAR 1965 217). Die Reichweite der Einwilligung liegt im Belieben des Einwilligenden, weshalb er die Einwilligung durch Bedingungen oder Befristungen modifizieren sowie dem Täter verschiedene Handlungen wahlweise erlauben kann (vgl. MaurachZipfö § 15 III Β 5 a ; Schmidhäuser StudB2 5/130).

b) Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes im einzelnen aa) Einwilligungserklärung, die vor der Tat abgegeben sein muß und nicht zwischenzeitlich widerrufen ist. 109 o) Die Einwilligung muß erklärt worden sein, d. h. sie muß nach außen kund geworden sein, ohne daß es sich aber um eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung (58)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

i. S. des BGB, die empfangsbedürftig wäre und Geschäftsfähigkeit voraussetzen würde, zu handeln braucht; so die herrschende eingeschränkte Willenserklärungstheorie (auch als vermittelnde Theorie bezeichnet). Vgl. zum Erklärungserfordernis: BayObLG NJW 1968 665; OLG Schleswig SchlHA 1959 154; OLG Celle NJW 1964 736; VRS 33 (1967) 433; MDR 1969 69; OLG Oldenburg NJW 1966 2132; Baumann8 § 21 II 4 b α ; Bockelmann AT3 § 15 I 2 b aa; Dreher-Tröndle^i Rdn. 3 b ; Jescheck AT3 §34 IV 2; Maurach-Zipft § 17 III Β 6; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 43; WelzelU § 14 VII 2 b ; Wessels AT13 § 9 I 2f. Zur Entbehrlichkeit der bürgerlichrechtlichen Geschäftsfähigkeit siehe BGHSt. 4 88; 12 379, 383; Baumann8 § 21 II 4 b ß; Bockelmann AT3 § 15 I 2 b ; Jescheck AT3 § 34 IVI Fußn.37; Maurach-Zipfö § 17 III Β 5 b ; Schmidhäuser Stud Β 2 5/127; Wessels AT 13 §9 I 2c. Dagegen verlangen Geschäftsfähigkeit, sofern es sich um die Einwilligung in die Verletzung von Vermögensrechten handelt: Dreher-Tröndle41 Rdn. 3 b (unter unzutreffender Berufung auf RGZ 168 206 und BGHZ 29 33); Samson SK4 Rdn. 41 ; Sch.Schröder-Lenckner^X Rdn. 39. Gegen diese Ansicht überzeugend Jescheck aaO mit dem Argument, daß sich die Wirksamkeit von Verträgen nach anderen Regeln bestimmt als die Rechtswidrigkeit der Verletzung fremden Vermögens. Die strenge Willenserklärungstheorie (Rechtsgeschäftstheorie), wonach die Ein- 110 willigung nach außen hin rechtsgeschäftlich erklärt sein muß (ζ. B. Zitelmann AcP 99 [1906] 51 ff), und die sog. Willensrichtungstheorie, nach der die bloße innere Zustimmung des Verletzten genügen soll (KG JR 1954 428; Frank Bern. III; v. LisztSchmidt § 35 IV; Mezger LK.8 Vor § 51 Bern. 10e aa; Noll Überges. Rechtfertigungsgründe S. 134; Sauer AT 3 § 18 Β IV 2; auch Samson SK4 Rdn. 42), haben kaum noch Bedeutung. Jedoch klingt die letztgenannte Auffassung bei solchen Autoren wieder an, welche die Einwilligung generell schon der Tatbestandsebene zuordnen (vgl. Rdn. 97). Die Erklärung kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen (h. Α.; vgl. die oben- 111 genannte Rspr.; Maurach-Zipfö § 17 III Β 5 b ; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 43). Konkludent erteilt werden kann auch die vom gesetzlichen Vertreter abgegebene Erklärung (näher zur Vertretungsbefugnis Rdn. 117). Zu den praktisch häufigsten Fällen konkludenter Einwilligung, nämlich der in Sportverletzungen, der des verletzten Mitfahrers im Straßenverkehr und der in den ärztlichen Heileingriff auf der Grundlage der Rspr., nach der jeder ärztliche Heileingriff eine tatbestandsmäßige Körperverletzung sein soll, im einzelnen §226a Rdn. 12 ff. Konkludente Einwilligung ist mehr als bloßes Dulden, Geschehenlassen oder tatsächliches Nichthindern; es erfordert das Deutlichwerden des inneren Einverstandenseins mit der Tat (Sch.Schröder-Lenckner2\ Rdn. 45; WelzelU § 14 VII 2 a ; Amelung Einwilligung S. 97 ff). Der Grad des Wünschens ist jedoch nicht erforderlich. Nach Dreher-Tröndle41 § 77 Rdn. 30 ist ein vor der Tat ausgesprochener Verzicht auf das Strafantragsrecht als Einwilligung in das Antragsdelikt zu deuten. Aus den zivilrechtlichen Haftungsbeschränkungen, auch wenn sie dem Verletzten bekannt waren, folgt noch keine rechtfertigende Einwilligung, da sie nur die Rechtsfolge des Schadensersatzes betreffen, während die Einwilligung weitergehend die Zulässigkeit der Rechtsgutsbeeinträchtigung zum Inhalt hat. Im übrigen gelten für die Auslegung von Einwilligungserklärungen allgemein die in der Rechtsgeschäftslehre anerkannten Grundsätze (abw. jedoch Baumann% § 21 4 b α, der Übereinstimmung des objektiven Erklärungsinhaltes mit dem inneren Willen des Erklärenden fordert). β) Die Einwilligung muß vor der Tat zum Ausdruck gebracht worden sein, nach- 112 trägliche Genehmigung genügt nicht (BGHSt. 7 294; 17 359; RGSt. 25 375, 383; 61 (59)

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2. Abschnitt. Die Tat

393; 74 91; OLG Frankfurt DAR 1965 217; O L G Oldenburg NJW 1966 2132). Die nachträgliche Genehmigung kann lediglich unter Umständen als Verzicht auf die Ausübung des Strafantragsrechts gesehen werden (Maurach-Zipfb § 17 III Β 5 b ; siehe auch O L G Oldenburg N J W 1966 2132). Willigt der Verletzte zwischen dem Ansetzen zur Tat und der Vollendung ein, so ist bei Kenntnis des Täters zwar letztere gerechtfertigt, nicht aber das vor der Einwilligung liegende Versuchsstadium, so daß strafbarer Versuch möglich ist (RG JW 1934 2335). Begibt sich jemand freiwillig in die durch eine fahrlässige Handlung hervorgerufene Risikosphäre (vgl. den Fall BGHSt. 17 359), so geht es dabei nicht um eine Einwilligung in das fahrlässige Verhalten, da dieses bereits abgeschlossen vorliegt. Die entscheidende Frage ist hier vielmehr, in welchen Fällen noch von Sorgfaltswidrigkeit des Täters in bezug auf die Verletzung von Personen gesprochen werden kann, die sich später bewußt dem hervorgerufenen Risiko aussetzen. 113

γ) Die Einwilligung darf zwischenzeitlich nicht widerrufen sein; ein Widerruf ist bis zur Vollendung der Tat jederzeit möglich (RGSt. 25 375; 382; BGH [Z] VersR 1954 98; BaumannZ § 21 II 4 b δ ; Jescheck AT3 § 34 IV 4; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 44; Welzel 11 § 14 VII 2 a δ). Wird die Einwilligung erst während der Tat widerrufen, so ist bei Weiterhandeln von diesem Zeitpunkt an die Rechtswidrigkeit gegeben. Widerruft ζ. B. der freiwillig in einer Entziehungsanstalt untergebrachte Süchtige seine Einwilligung in die stationäre Behandlung, dann ist das weitere Festhalten in der Anstalt rechtswidrige Freiheitsberaubung. Der Widerruf ist jedoch wirkungslos, wenn die Handlung schon so weit fortgeschritten ist, daß ihre Rückgängigmachung praktisch ausscheidet, ζ. B. der nach Antritt einer Flugreise erfolgte Widerruf eines Passagiers. Soweit es sich nicht um Individualrechtsgüter handelt, kann der Widerruf vertraglich mit der Wirkung einer entsprechenden Duldungspflicht ausgeschlossen sein, ζ. B. wenn der Eigentümer eines Hauses sich vertraglich damit einverstanden erklärt hat, daß der Nachbar es abbrechen lassen darf (Sch.Schröder-Lenckner21 Rdn. 44; Noll Überges. Rechtfertigungsgründe S. 132 f). Ebenso wie eine mutmaßliche Einwilligung ist auch die Möglichkeit anzuerkennen, daß die erklärte Einwilligung nach dem mutmaßlichen Willen des Berechtigten weggefallen ist (Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 44). Auch eine unwirksame Einwilligung kann i. S. einer Klarstellung „widerrufen" werden. Nach der Tat kommt dem Widerruf einer Einwilligung keine Wirkung zu. — Zu den speziellen Fragen des Widerrufs beim ärztlichen Heileingriff LK10 § 226 a Rdn. 33.

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bb) Eine wirksame Einwilligung setzt weiterhin die Dispositionsbefugnis des Einwilligenden bezüglich der Schutznorm voraus. Eine Einwilligung scheidet bei Tatbeständen aus, die ein Rechtsgut der Allgemeinheit schützen, mag auch die Straftat (ζ. B. §315c) in ihren Auswirkungen zugleich den einzelnen betreffen (BGHSt. 6 232, 234; 23 261 ; Baumann8 § 21 II 4 a ; Jakobs 14/7; JescheckAJi § 34 III 4; Maurach-Zipf6 § 17 III Β 4; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 35; Welzein § 14 VII 2 a β). Das gilt nach h. M. auch allgemein für die Amtsdelikte, soweit hier nicht öffentlichrechtlich für die Einwilligung — regelmäßig zusammen mit weiteren Voraussetzungen — etwas anderes bestimmt ist (vgl. BGHSt. 12 62, 70; BGH 2 StR 734/80 bei Holtz M D R 1981 631 ; Dreher-Tröndle41 § 340 Rdn. 1 ; Maurach-Schroeder 116 § 79 I 2; Schmidhäuser BT 2 1/20; Sch.-Schröder- Cra merli § 340 Rdn. 5; Wagner Amtsverbrechen S. 347, 360; anders Horn SK2 §340 Rdn. 7; Amelung Einwilligung S. 72ff bezüglich § 340; kritisch dazu LK10 § 340 Rdn. 14). Bei Rechtsgütern, die den einzelnen zwar direkt betreffen, aber daneben auch Schutzinteressen der Allgemeinheit enthalten („Universalrechtsgüter"), ist im Hinblick auf die einzelne (60)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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Schutznorm zu prüfen, ob und inwieweit eine Einwilligung möglich ist (z. B. für §§ 211 ff zu verneinen, aber für § 222 teilweise zu bejahen). Geht es dagegen um den Schutz der Interessen allein des einzelnen, so besteht eine uneingeschränkte Einwilligungsmöglichkeit. Die Dispositionsbefugnis ist für jede einzelne Rechtsnorm gesondert zu ermitteln. Das bedeutet im einzelnen : 115 Bei Angriffen auf den Bestand staatlicher Organe scheidet eine Einwilligung aus (Maurach-Zipf6 § 17 III Β 4a). Nur eine scheinbare Ausnahme bildet die Möglichkeit der Zustimmung von Dienststellen des Verfassungsschutzes zu Handlungen, die tatbestandsmäßig Gefährdungsdelikte des politischen Strafrechts darstellen; denn hier handelt es sich nicht um eine rechtfertigende Einwilligung des Betroffenen, sondern um ein in engen Grenzen bestehendes behördliches Genehmigungsrecht (Jescheck AT3 § 34 III 4; Kohlrausch-Lange Vor § 51 Bern. II 3 b ; siehe auch unten Rdn. 160). Das Problem der Freilassung von Strafgefangenen wegen einer Erpressung des Staates durch Terroristen berührt weder den Bereich der Einwilligung noch den eines besonderen behördlichen Genehmigungsrechts, sondern es handelt sich hier um eine Frage des § 34 (siehe LK10 § 34 Rdn. 20). Ebenso ist bei Geld- und Wertzeichenfälschung eine Einwilligung nicht möglich (Maurach-Zip/t* § 17 III Β 4a). Auch die Eidesdelikte scheiden aus (Jescheck AT3 § 34 III 4; Maurach-Zipfö § 17 III Β 4 a ; Schmidhäuser StudB2 5/118; Sch.-Schröder-Lenckner2i Rdn. 35 f)· Der Parteimeineid wird nicht dadurch erlaubt, daß er in einem Konventionalprozeß mit Zustimmung des Gegners geleistet wird, und der Richter, der sein Urteil auf einen als solchen erkannten Meineid aufbauen würde, wäre nicht nur wegen Meineidsbeihilfe durch Unterlassen, sondern auch wegen Rechtsbeugung strafbar (Maurach-Zipfö § 17 III Β 4 a). Die Strafvorschrift gegen falsche Verdächtigung dient dagegen allein dem Schutz des einzelnen gegen Maßnahmen irregeführter Behörden (vgl. Hirsch Schröder-Gedächtnisschr. S. 307 ff), so daß der Einwilligung des Verdächtigten in bezug auf § 164, nicht jedoch hinsichtlich § 145 d, rechtfertigende Wirkung zukommt. Abw. werden von der h. M. die Rechtspflege und der einzelne als durch § 164 geschützt angesehen, so daß danach, jedenfalls bei einer Verdächtigung gegenüber inländischen Behörden, eine Einwilligung nicht in Betracht kommt (BGHSt. 5 66, 68; OLG Düsseldorf NJW 1962 1263; Herdegen LK10 § 164 Rdn. 1 ff). Ausgeschlossen ist eine Einwilligung in die Personenstandsfälschung und in die Doppelehe (Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 35). Eine Einwilligung in Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist nicht möglich, sofern mit ihr nicht bereits die Tatbestandsmäßigkeit entfällt (BGHSt. 7 312; Jescheck AT3 § 34 III 4; zur Einwilligung des Schutzbefohlenen in sexuellen Mißbrauch, § 174 im besonderen siehe B. Thiele Diss. Hamburg 1971). Die Einwilligung in eine Beleidigung rechtfertigt (vgl. die Rspr.-Nachw. bei Herdegen LK9 § 185 Rdn. 19). Hiervon sind Situationen zu unterscheiden, in denen schon der ehrenrührige Erklärungswert zu verneinen ist. Außerdem ist zu beachten, daß in den Fällen, in denen ehewidrige Handlungen mit einer damit einverstandenen Ehefrau vorgenommen werden, entgegen der Rspr. keine lediglich durch Einwilligung gerechtfertigte Beleidigung der Ehefrau vorliegt, sondern von vornherein überhaupt keine Beleidigung gegeben ist (näher Hirsch Ehre und Beleidigung [1967] S. 68 Anm. 52 a). Auch bei sexuellen Handlungen gegenüber Minderjährigen stellt sich die Frage der Einwilligung in eine Beleidigung nicht, da dem Tatverhalten stets schon der Ehrangriffscharakter fehlt (Hirsch aaO S. 62 ff). Wie sich aus § 216 zwingend ergibt, läßt die Einwilligung in eine vorsätzliche Tötung die Rechtswidrigkeit unberührt (RGSt. 2 442 ; RG J W 1925 (61)

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2. Abschnitt. Die Tat

2250 Nr. 2; B G H S t . 4 88, 93; 6 147, 153; 7 112; B G H VRS 17 [1959] 277; BayObLGSt. 1957 75; O L G Karlsruhe N J W 1967 2321; allg. Auff.; für Abschaffung der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen und damit für Beachtlichkeit der Einwilligung de lege ferenda aber Arthur Kaufmann bei J. Meyer ZStW 83 [1971] 251 f; M. Marx Rechtsgut S. 64 ff; R. Schmitt Maurach-Festschr. S. 117f; JZ 1979 466; Schroeder LK10 § 16 Rdn. 180; gegen diese Tendenzen Hirsch Welzel-Festschr. S. 775 ff; Möllering Schutz des Lebens [1977] S. 93 ff m. w. Nachw.). Die Einwilligung der Schwangeren vermag für sich allein einen Schwangerschaftsabbruch nicht zu rechtfertigen (siehe § 218 a). Eine rechtfertigende Einwilligung in eine lebensgefährdende Handlung (strafrechtlich bedeutsam für § 222 und § 223 a) ist nicht schlechthin ausgeschlossen (näher oben Rdn. 94, 95). Ist sie zu bejahen, wird die gefährliche Handlung gerechtfertigt, auch wenn sie zu einem Erfolgseintritt führt (wie hier Jakobs 14/12). Die Rechtfertigung einer Körperverletzung ist unter den Voraussetzungen des § 226 a möglich (dazu im einzelnen LK 10 zu § 226 a). Bei erpresserischem Menschenraub und Geiselnahme betrifft ein Einverstandensein mit dem Freiheitsentzug, soweit es überhaupt gegeben ist, bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen (anders aber Jescheck AT3 § 34 III 4; offengelassen in BGHSt. 26 70, 72). In Fällen des Diebstahls und der Unterschlagung hat die rechtfertigende Einwilligung Bedeutung f ü r die Zulässigkeit der Zueignung. Jedoch ist zu beachten, daß die Frage der Rechtfertigung gar nicht mehr auftaucht, wenn durch die Zustimmung bereits das Merkmal der Fremdheit oder — beim Diebstahl — das der Wegnahme (wenn nämlich Eigentümer und Gewahrsamsinhaber identisch sind) entfällt (siehe Heimann-Trosien L K 9 § 242 Rdn. 72f). Auch die Begünstigung ist einwilligungsfähig (vgl. RGSt. 40 15; Rückkauf der gestohlenen Sache vom Dieb durch unterrichteten Mittelsmann), da sie ausschließlich Individualinteressen, insbesondere das Vermögen, schützt (vgl. E 1962 Begr. S. 455; BGHSt. 23 360, 361; in der Begründung anders und mit Angaben zum Streitstand Sch.-Schröder-Streell § 257 Rdn. 1 f, 24). Bei der Sachbeschädigung rechtfertigt die Einwilligung des Eigentümers, es sei denn, d a ß im konkreten Fall bereits die Fremdheit der Sache zu verneinen ist. Da beim Tatbestand der Beschädigung öffentlicher Sachen das öffentliche Interesse unabhängig von der Eigentumslage geschützt wird, kann der etwaige private Eigentümer nicht wirksam einwilligen (RGSt. 43 240; R G Rspr. 10 595). Ebenso verhält es sich, weil gemeingefährliche Delikte, bei den Brandstiftungstatbeständen, ausgenommen das Eigentumsdelikt des § 308 1. Alt. (RGSt. 11 345, 348; 12 138; O L G Celle NdsRpfl. 1952 57). Auch kann nach h. M. nicht in den Tatbestand der Gefährdung des Straßenverkehrs eingewilligt werden (näher Rüth LK10 § 315 c Rdn. 61). Weigert sich der Verunglückte, Hilfe anzunehmen, so geht es dabei nicht um rechtfertigende Einwilligung in die unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c), sondern um ein Tatbestandsproblem dieses Unterlassungsdelikts. Bestechlichkeit wird nicht dadurch straflos, daß der Amtsvorgesetzte ihr zustimmt, vielmehr macht sich dieser auch selbst strafbar (Blei AT18 § 37 I 2; Maurach-Zipf6 § 17 III Β 4 a ; zum Delikt der Vorteilsannahme beachte § 331 Abs. 3). Die Einwilligung in eine Körperverletzung im Amt ist unbeachtlich, weil der Tatbestand öffentliche Interessen schützt und deshalb der Disposition des einzelnen entzogen ist (h. M.; vgl. LK10 §340 Rdn. 14 m. Nachw.; anders Horn S K 2 § 340 Rdn. 7; Amelung Einwilligung S. 72ff). Die Einwilligung des Geschlechtspartners schließt die Rechtswidrigkeit der Zuwiderhandlung gegen § 6 GeschlKrG nicht aus, da es um den Schutz der Allgemeinheit geht (BT-Drucks. 1/3232 S. 12; Erbs-Kohlhaas § 6 Geschl.KrG Anm. 1, 2 b b b ; vgl. schon für den früheren Rechtszustand O L G Rostock G A 71 70). Bei der Frage der Einwilligung in ein Unterlassen ist besonders zu beachten, ob das Untätigblei(62)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

ben sich nicht lediglich als eine Beihilfe durch Unterlassen zu einer (freien) willentlichen Selbstverletzungshandlung darstellt und deshalb schon gar nicht tatbestandsmäßig ist. Unbeachtlich ist schließlich die Einwilligung in einen Verstoß gegen die Arbeitszeitverordnung (OLG Hamburg BB 1956 818 [Arbeitszeitüberschreitung auf Wunsch der Belegschaft]; Kohlrausch-Lange Vor § 51 Bern. II 3b); ebenfalls die in eine Ordnungswidrigkeit nach § 1 StVO (OLG Frankfurt DAR 1965 217; Jescheck AT3 § 34 III 4; Schuknecht DAR 1966 17; abw. jedoch OLG Celle M D R 1966 73). Die Dispositionsbefugnis steht grundsätzlich dem Rechtsgutsträger zu. Werden 116 durch eine Handlung mehrere Rechtsgutsträger beeinträchtigt, so läßt die Einwilligung des einen die Rechtswidrigkeit des Verhaltens gegenüber den anderen unberührt, z. B. bei einer Kollektivbeleidigung. Bei Mitberechtigung, z. B. Mit- oder Gesamthandseigentum, müssen alle Berechtigten eingewilligt haben. Die Einwilligung der (sämtlichen) Gesellschafter einer GmbH in schädigende Geschäfte des Geschäftsführers rechtfertigt nach h. M. nicht dessen Untreue (§ 266) gegenüber der mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestatteten G m b H (BGHSt. 3 23; 32, 39; 9 203, 216; BGH GA 1979 311, 313; BGH bei Holtz M D R 1979 806; NJW 1981 1793; RGSt. 42 278; 71 353; OLG Stuttgart MDR 1978 593; LG Bonn NJW 1981 469; näher Hübner LK10 § 266 Rdn. 87 m. w. Nachw.; anders Sch.-Schröder-Lenckner2\ § 266 Rdn. 21). Da Gesellschafter und Geschäftsführer die einzigen Organe der GmbH sind, handelt es sich hier allerdings genauer betrachtet nicht um einen Fall des Fehlens der Einwilligung eines anderen Berechtigten, sondern um eine durch das GmbH-Recht bedingte Einschränkung der Dispositionsbefugnis ihrer Organe. Die Einwilligung der Gesellschafter schließt eine Bestrafung des Geschäftsführers wegen Untreue jedoch aus, wenn dieser die Untreuehandlungen nach Gründung, jedoch vor Eintragung der Gesellschaft ins Handelsregister begeht; denn die vor der Eintragung bestehende Gründungsgesellschaft entbehrt der eigenen Rechtspersönlichkeit (§11 GmbHG), Träger ihrer Rechte und Pflichten sind die einzelnen Gesellschafter. Eine Einwilligungsbefugnis Dritter, z. B. gesetzlicher Vertreter, Sorgeberechtigter 117 oder von Pflegern, kommt bei Fehlen der tatsächlichen Einsichts- und Urteilsfähigkeit, insbesondere bei Kindern und Geisteskranken, in Betracht (BGHSt. 12 379; BGH [Z] NJW 1966 1855; Jescheck AT3 § 34 IV 3; Schmidhäuser StudB2 5/123; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 41; Stratenwerthl Rdn. 381; WelzelU §14 VII 2 a α). Sind gesetzlicher Vertreter und Personensorgeberechtigter nicht identisch, so steht hinsichtlich des Personbereichs (im Unterschied zum Vermögensbereich) die Einwilligungsbefugnis dem Sorgeberechtigten zu (BGHSt. 12 379; näher zu dieser durch § 1705 n. F. BGB in ihrer Bedeutung stark reduzierten Frage LK10 § 226 a Rdn. 3, 17). Der Sorgeberechtigte muß sich bei der Ausübung dieser Befugnis im Rahmen des Sorgerechts halten (siehe die Problematik in BGHSt. 26 70, 72). Darüber hinaus ist zu beachten, daß Einwilligungsbefugnis Dritter ausscheidet bei Eingriffen, die nach Art oder Tragweite eine höchstpersönliche Zustimmung des Betroffenen erfordern, ζ. B. bei nicht medizinisch indizierter Sterilisation, dem Spenden eines Organs oder von Blut. Verweigert der Personensorgeberechtigte mißbräuchlich die Einwilligung, kann ihm das Entscheidungsrecht entzogen und vom Vormundschaftsrichter ein Pfleger bestellt werden, §§ 1666 Abs. 1, 1909 Abs. 1 BGB (zu Einzelfragen LK10 §226 a Rdn. 17). Ist die Einsichtsfähigkeit nur vorübergehend, ζ. B. wegen Bewußtlosigkeit, beeinträchtigt, so geht die Entscheidungsbefugnis nicht ohne weiteres auf den gesetzlichen Vertreter über. Muß zwischenzeitlich eine Entscheidung getroffen werden, gelten die im Rahmen des ärztlichen Heilein(63)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

griffs entwickelten Grundsätze (siehe § 2 2 6 a Rdn. 17). Gewillkürte Stellvertretung ist außerhalb des Bereichs der Rechtsgüter der Person allgemein möglich (Baumann8 § 2 1 II 4 b γ ; Jakobs 7/131; Schmidhäuser StudB2 5/123; Sch.-SchröderLenckner2\ Rdn. 43; TraegerGerS 94 [1927] 151). Auch bei Rechtsgütern der Person ist sie nicht völlig ausgeschlossen (Kientzy Mangel am Straftatbestand S. 113; Noll Überges. Rechtfertigungsgründe S. 124). Der Sache nach kommt sie hier aber nur im Bereich des weiteren Persönlichkeitsschutzes in Betracht, ζ. B. f ü r das Briefgeheimnis, wo es indes schon um tatbestandsausschließendes Einverständnis geht. Bei Rechtsgütern vom Range der Körperintegrität, Freiheit oder Ehre scheidet eine gewillkürte Stellvertretung schlechthin aus. Dagegen kann sich der Einwilligende bei allen einwilligungsfähigen Rechtsgütern zur Übermittlung seiner Erklärung eines Boten bedienen. 118

cc) Der Einwilligende muß weiterhin einsichtsfähig, d . h . nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande sein, Bedeutung u n d Tragweite der Einwilligung zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen (BGHSt. 5 362; 8 357; 23 1 ; B G H G A 1956 317; 1963 50; RGSt. 29 398; 41 392; 45 344; 60 34; 71 349; 72 399; 74 224; 75 179; R G JW 1938 1879; R G D R 1939 233; 1941 147; R G DStR 1938 390; allg. Auffassung). Geschäftsfähigkeit im zivilrechtlichen Sinne ist nicht Voraussetzung (BGHSt. 4 88; 12 379, 383 ; Baumann8 § 21 II 4 b ß; Jescheck AT3 § 34 IV 1 ; Lackner 15 Bern. I 5 c aa; SchmidhäuserStudB2 5/127; Stratenwerthi Rdn. 379; WelzelW § 14 VII 2 a α ; Wessels AT 13 § 9 I 2 c ; zu Einzelfragen beim Heileingriff siehe LK10 § 226 a Rdn. 16). Bei der Verletzung von Vermögensrechten (ζ. B. §§ 242, 246, 303) will jedoch ein Teil des Schrifttums analog §§ 107 ff BGB volle Geschäftsfähigkeit oder sonst die Einwilligung durch den gesetzlichen Vertreter verlangen (DreherTröndle^ Rdn. 36; Frank Vor § 51 Bern. III; Jakobs 7/114; Kohlrausch-Lange Vor § 51 Bern. II 3 b ; Lenckner ZStW 72 [1960] 456; in Sch.-Schröder21 Rdn. 39; Samson SK.4 Rdn. 41; Traeger GerS 94 [1927] 1480- Diese Ansicht beruft sich darauf, daß die Beurteilung im Strafrecht nicht anders ausfallen dürfe als im Zivilrecht. Dem ist entgegenzuhalten, daß zwar der deliktsrechtliche Vermögensschutz konsequenterweise nicht über den schuldrechtlichen hinausgehen, umgekehrt aber hinter diesem zurückbleiben kann. Für die rechtfertigende Einwilligung kommt es allein auf die Einsichtsfähigkeit des einzelnen Betroffenen an. Der Gesichtspunkt des Schutzes des Rechtsverkehrs, der mit der Festlegung einer generellen Altersgrenze im Zivilrecht verfolgt wird, findet im Deliktsrecht keine Entsprechung, soweit es nicht bereits tatbestandlich um die Überschreitung rechtsgeschäftlicher Befugnisse geht (so in § 266 1. Alt.). Im übrigen müßte man andernfalls konsequenterweise nicht nur bei Vermögensrechten auf die volle Geschäftsfähigkeit abstellen, sondern erst recht bei der Einwilligung in Persönlichkeitsbeeinträchtigungen. Die praktische Bedeutung des Streits hat sich jetzt dadurch verringert, daß die Volljährigkeitsgrenze auf 18 Jahre herabgesetzt worden ist. Aber auch bei einem noch nicht 18 Jahre alten Einwilligenden kann die Einsichtsfähigkeit in Bedeutung und Tragweite des Eingriffs gegeben sein. So hat B G H G A 1956 317 bei einem sechzehneinhalbjährigen Mädchen von durchschnittlicher geistiger Entwicklung volle Einsichtsfähigkeit hinsichtlich des außerehelichen Geschlechtsverkehrs angenommen; weitere Rspr. zu diesem Bereich (bei dem sich freilich richtiger Ansicht nach die Einwilligungsfrage schon mangels Vorliegens einer tatbestandsmäßigen Beleidigung gar nicht erhebt): BGHSt. 5 362; 8 357; B G H G A 1963 50; RGSt. 41 392; 60 34; 71 349; 74 222; 75 179; R G DStR 1938 390; R G D R 1939 233; 1941 147. Im Falle des unrechtsmindernden Tötungsverlangens bei § 216 ist nach RGSt. 72 399 nur „in der Regel" anzunehmen, daß Jugendliche unter 18 Jahren noch kein hin(64)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

reichendes Urteil über Wert und Unwert des Lebens besitzen; in BGHSt. 19 135 ist daher bei einem einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord die Beachtlichkeit des Willens einer 16jährigen bejaht worden. Die Bewertung dieser Judikatur zu §216 wird jedoch bedenken müssen, daß es dabei nicht um Rechtfertigung ging und deshalb eine Strafbarkeit auch bei Bejahung der Einwilligung übrigblieb. Hinsichtlich folgenreicher körperlicher Verletzungen ergibt sich nämlich gerade umgekehrt f ü r die rechtfertigende Einwilligung, soweit ihr nicht bereits Sittenwidrigkeit der Tat entgegensteht, daß die konkrete Einsichtsfähigkeit sogar später als die Volljährigkeit eintreten kann. So ist sie bei der Zustimmung zur Kastration grundsätzlich erst mit Vollendung des 25. Lebensjahres zu bejahen (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 KastrG). Entsprechendes hat für die weder medizinisch noch eugenisch indizierte freiwillige Sterilisation zu gelten (siehe LK.10 § 2 2 6 a Rdn. 41 f). Erklärt ein Minderjähriger eine Einwilligung, die jeder Vernunft entbehrt, so spricht dies für fehlende Einsichtsfähigkeit, auch wenn er sich der unmittelbaren Auswirkungen bewußt ist (vgl. auch Lenckner ZStW 72 [1960] 463; in Sch.-Schröder21 Rdn. 42; dagegen Schmidhäuser StudB 2 5/123 Fußn. 46 hier für geringere Anforderungen an Einsichtsfähigkeit). Dies spielt auch beim Heileingriff, den die Rspr. bisher stets als tatbestandsmäßige Körperverletzung betrachtet, eine Rolle (siehe dazu LK10 § 226a Rdn. 3, 6f)· Bei Erwachsenen kann die Einsichtsfähigkeit z. B. nach Alkoholgenuß (vgl. BGHSt. 4 88, 90) oder der Einnahme betäubender Mittel ausgeschlossen sein. — Fehlt dem Einwilligenden die Einsichtsfähigkeit, kommt Einwilligungsbefugnis des gesetzlichen Vertreters oder des Sorgeberechtigten in Betracht (Rdn. 117). Ist ein Minderjähriger einsichtsfähig, ist allein seine Entscheidung maßgebend, so daß ein entgegenstehender Wille des gesetzlichen Vertreters d a n n für die deliktische Rechtfertigung ohne Bedeutung ist (Jescheck AT 3 § 34 IV 3 Fußn. 44; Zipf Einwilligung und Risikoübernahme S. 42 f; auch Jakobs 7/114 [aber mit Ausnahme des vermögensrechtlichen Bereichs]; anders Baumann& § 21 II 4 b γ). dd) Die Einwilligung darf nicht auf Willensmängeln beruhen; sie muß grundsätz- 119 lieh dem wahren Willen des Einwilligenden entsprechen. Nach h. M. ist deshalb jede durch Täuschung, Drohung oder Gewalt erlangte Einwilligung unbeachtlich (OLG Stuttgart N J W 1982 2266, 2267; Baumann8 § 21 II 4 b δ; Blei A T 18 § 37 II 1; Bockelmann AT3 § 15 C I 2 b ; Dreher-Tröndle^l Rdn. 3 b ; Kohlrausch-Lange Vor § 51 Bern. II 3 b ; Maurach-Zip/6 § 17 III Β 5 b ; Stratenwerthi Rdn. 382; Welzein § 14 VII 2 a ; siehe auch Jakobs 7 / 1 1 7 f f , 14/8 [bei nicht rechtsgutsbezogenen Täuschungen nur über mittelbare Täterschaft]). Gegen eine so umfassende Unwirksamkeit werden im Schrifttum teilweise Bedenken erhoben. So wird hinsichtlich der durch Täuschung erlangten Einwilligung eine Beschränkung auf rechtsgutsbezogene Täuschungen vertreten (Arzt Willensmängel S. 19f, 30; Bichlmeier JZ 1980 55; Jescheck AT3 § 34 IV 4; Noll Überges. Rechtfertigungsgründe S. 131; Rudolphi ZStW 86 [1974] 82; Samson S K 4 Rdn. 43; Schmidhäuser StudB2 5/129; Sch.-SchröderLenckner2\ Rdn. 4 6 f ; Wessels AT 13 § 9 I 2 d ; siehe auch O L G Stuttgart N J W 1962 62). Jedoch spricht hier zugunsten der h. M., daß bei jeder täuschungsbedingten Einwilligung die Entscheidungsfreiheit bezüglich der Einwilligungserteilung insgesamt aufgehoben ist, da dem Einwilligenden die Einflußnahme auf die Motivation nicht bewußt wird und sie daher nicht lediglich partiell wirken kann. Unwirksam ist deshalb auch eine Einwilligung, wenn sie durch Vortäuschung eines für den Einwilligenden entscheidenden Verwendungszwecks erlangt wird (ζ. B. Blutspende, die angeblich f ü r Angehörigen benötigt wird). Eine Täuschung durch Dritte führt zur Unbeachtlichkeit der Einwilligung, wenn der Täter sie kennt. Weiß dieser nichts von der Täuschung, so gelten die Grundsätze über den Motivirrtum. (65)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

120

Bei der durch Drohung erzwungenen Einwilligung wird von einigen Autoren eine Eingrenzung nach dem Gewicht der Drohung vorgenommen: Arzt Willensmängel S. 35; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 48 (Intensität des §240); Jescheck AT3 § 34 IV 4 (erhebliches Übel); Noll Überges. Rechtfertigungsgründe S. 131 (maßgebliches Motiv zur Preisgabe des verletzten Rechtsguts); Schmidhäuser StudB2 5/128 (Drohung muß Autonomie des Bedrohten aufheben); Wessels AT 13 § 9 I 2d (wesentlicher Willensmangel); siehe auch RGSt. 70 107 zu § 218 Abs. 4 a. F. Für eine gewisse Begrenzung läßt sich hier anführen, daß sich der Bedrohte im Unterschied zum Getäuschten des Angriffs auf seine Entscheidungsfreiheit bewußt ist und daher innerhalb des weiten Bereiches der Drohungsfälle eine Quantifizierung nach dem Grad der Einflußnahme möglich und angebracht ist. Aus diesem Grunde wird man Drohung mit einem erheblichen Übel verlangen müssen.

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Beim Irrtum ist zu unterscheiden: Inhalts- und Erklärungsirrtum bewirken Unwirksamkeit der Einwilligung (BaumannS §21 II 4 b δ; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 46; krit. jedoch Arzt Willensmängel S. 48 ff). Dagegen macht ein bloßer Motivirrtum die Einwilligung nicht unwirksam (RGSt. 41 392, 396; Jescheck AT 3 § 34 IV 4; Blei AT18 § 37 II 1 ; Schmidhäuser StudB2 5/129; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 46; Wessels AT13 § 9 I 2 d ; teilw. abw. Baumann%§2\ II 4 b δ [der bloße Motivirrtum sei beachtlich, wenn er wie in § 119 Abs. 2 BGB schon fast die Qualität eines Inhaltsirrtums erlangt habe]; Arzt Willensmängel S. 29f [rechtsgutsbezogene Irrtümer könnten allenfalls die Gültigkeit der Einwilligung tangieren]). Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen der Motivirrtum auf Täuschung durch den Täter oder, wie dem Täter bekannt, einen Dritten beruht (siehe Rdn. 119). Bei Unkenntnis des Täters von der Täuschung des Dritten bleibt die Einwilligung wirksam, aber der dolos handelnde Dritte begeht eine mittelbare Täterschaft durch ein rechtmäßig handelndes Werkzeug. Zu beachten ist, daß ein Motivirrtum Relevanz aufgrund einer Aufklärungslast des Täters erlangen kann (siehe dazu die Rspr. zur Aufklärungspflicht beim ärztlichen Heileingriff LK10 § 226a Rdn. 19ff); in bezug auf die Einwilligungserlangung geht es dabei um Täuschung durch Unterlassen. Im übrigen bleibt die trotz Motivirrtums wirksame Einwilligung wie auch sonst jederzeit — auch bei entgegenstehender Vereinbarung — frei widerruflich.

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Eine Mentalreservation ist auf die Wirksamkeit der Einwilligung ohne Einfluß. Keine Einwilligung liegt bei der dem Erklärungsempfänger als solche erkennbaren Schein- oder Scherzerklärung vor. Daß eine Einwilligung ernstlich sein muß, läßt unberührt, daß eine leichtsinnige Erteilung, die im übrigen die Voraussetzungen einer gültigen Einwilligung aufweist, bis zum Widerruf wirksam ist (Blei AT 18 § 38 II 1).

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Die auf Willensmängeln beruhende Unwirksamkeit einer Einwilligung tritt ein, ohne daß es einer Anfechtung nach bürgerlichrechtlichen Grundsätzen bedarf (OLG Stuttgart NJW 1962 62; Baumann8 §21 II 4 b δ; Jescheck AT3 §34 IV 4; Kohlrausch- Lange Vor § 51 Bern. II 3 b ; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 46). Grundsätzlich anders jedoch Kühne JZ 1979 244, der den Erklärenden regelmäßig an der Erklärung festhalten will und ihn auf den jederzeit möglichen Widerruf verweist.

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ee) Sittenwidrigkeit der Tat schließt eine Rechtfertigung durch Einwilligung bei den Tatbeständen der Körperverletzung aus (§ 226 a). Erst recht hat dies bei der Einwilligung in Lebensgefährdungen (Rdn. 94, 95) zu gelten. Sittenwidrigkeit allein der Einwilligung steht der Rechtfertigung nicht entgegen, wie sich aus der Rechtsgutsbezogenheit der rechtfertigenden Einwilligung ergibt (h. M.; näher dazu LK10 (66)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

§ 226a Rdn. 7 m. w. Nachw.). Auch kommt eine über den genannten Bereich hinausgehende Generalisierung des Korrektivs „Sittenwidrigkeit der Tat" nicht in Betracht (Arzt Willensmängel S. 36 Fußn. 49 ; Berz GA 1969 149 f; Blei AT 18 § 37 II 1 ; Bockelmann AT3 § 15 C I 3 b ; Geppert ZStW 83 [1971] 962 Fußn. 70; Jescheck AT3 §34 III 1; Kientzy Mangel am Straftatbestand S. 96f; Lackner \5 Bern. II 5 e b b ; Maurach-Zipfì § 17 III Β 7; Noll ZStW 77 [1965] 21; Samson SK4 Rdn. 45; Sch.Schröder-Lenckner2\ Rdn. 37; S tra ten werthl Rdn. 377; Wessels AT 13 § 9 I 2e; wobei allerdings die Fälle der Lebensgefährdung, weil man sie außerhalb der Einwilligungslehre zu lösen versucht [Rdn. 94, 95], zumeist nicht aufgeführt werden). Abw. wird die Sittenwidrigkeit der Tat zu einem allgemeinen Einschränkungsgesichtspunkt der rechtfertigenden Einwilligung erhoben von Baumann8 § 21 II 4c; Geerds GA 1954 268; H. Mayer AT § 24 II 2 b ; Mezger LK8 Vor § 51 Bern. 10e bb; WelzelU § 14 VII 2 c ; auch Jakobs 14/4f, 9 (der noch weitergehend auf „vernünftigen Handlungsanlaß" abstellt). Eine Ausdehnung jedenfalls auf den Tatbestand der Freiheitsberaubung befürwortet Schmidhäuser StudB2 5/120. Gegen diese abw. Auffassungen spricht jedoch, daß die in § 226 a enthaltene Limitierung eine aus den Besonderheiten der Körperverletzungsdelikte zu erklärende Regelung darstellt. Der weitgespannte Bereich der §§ 223 ff erstreckt sich von ganz leichten Beeinträchtigungen bis zu allerschwersten, so daß aus diesem Grunde eine Begrenzung der Verfügungsbefugnis notwendig ist (näher LK10 §226a Rdn. 7, 52). Lediglich bei der Lebensgefährdung findet sich Entsprechendes. In allen anderen Fällen besteht vom Rechtsgutsschutz her — und nur auf ihn kommt es an — keine Veranlassung, den Umfang der Einwilligungsbefugnis zu quantifizieren. So ist z. B. eine Eigentumsverletzung als solche auch dann durch Einwilligung gerechtfertigt, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen ein gesetzliches Verbot verstößt oder sonst sittenwidrig ist; denn bei diesen Gesichtspunkten geht es um die Beeinträchtigung anderer Interessen als um das durch den Tatbestand ausschließlich geschützte Eigentum (vgl. dazu auch die herrschende Beurteilung der Einwilligungsfrage bei § 308 1. Alt. [unmittelbare Brandstiftung]). Ebenfalls ist es bei der Freiheitsberaubung Sache des einzelnen, in welcher Weise er von seiner Freiheit Gebrauch machen will. Treffend weist Jescheck ATS § 34 III 1 d a r a u f h i n , daß der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung durch die allgemeine Anwendbarkeit des Korrektivs der guten Sitten in einer schwer vertretbaren Weise relativiert und der Rechtsgutsträger einer unerträglichen staatlichen Bevormundung unterworfen werden würde. ff) Als subjektives Rechtfertigungselement ist erforderlich, daß der Täter subjek- 125 tiv aufgrund der Einwilligung handelt (Nachw. hierzu und zu abw. Standpunkten Rdn. 57). Dieses subjektive Erfordernis muß auch bei der Einwilligung in fahrlässige Taten vorliegen (Rdn. 58). Es kann einer unter mehreren Beweggründen und auch in einen anderen Beweggrund eingebettet sein (Rdn. 53). Das ist gerade beim fahrlässigen Delikt zu beachten (z. B. genügt bei der Einwilligung in eine Trunkenheitsfahrt, daß für den Angetrunkenen die Mitnahme vom Einverstandensein des Mitfahrers abhängig war). Auch bei der Einwilligung in unbewußte Fahrlässigkeit ist notwendig, daß der sorgfaltswidrig Handelnde durch die Einwilligung zur konkreten Handlung motiviert (z. B. durch die Aufforderung zum zu schnellen Fahren) oder auch nur mitmotiviert (z. B. er fährt mit überhöhter Geschwindigkeit, weil auch der Mitfahrer dem zustimmt) worden ist. Ausschlaggebend ist immer, daß der Täter subjektiv nicht auch unabhängig von der Einwilligung sorgfaltswidrig gehandelt haben würde. Fehlt das subjektive Rechtfertigungselement, scheidet rechtfertigende Einwilligung aus, und der Täter ist, falls sich die Rechtfertigungsfrage (67)

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2. Abschnitt. Die Tat

nicht auf eine nur versuchte Tatbestandsverwirklichung bezog (dann deshalb Versuch), wegen vollendeten Delikts, mit der Möglichkeit der Strafmilderung (§ 49 Abs. 1), zu bestrafen. Abw. hiervon will eine verbreitete Ansicht nur wegen untauglichen Versuchs (soweit Versuch unter Strafe gestellt ist) strafen (näher dazu Rdn. 60 f m. Nachw.). Die vielfach für die Annahme eines untauglichen Versuchs angeführte Entscheidung BGHSt. 4 199 ist nicht einschlägig, da sie nicht die rechtfertigende Einwilligung, sondern ein tatbestandsausschließendes Einverständnis betraf. 126

c) Notwendige Teilnahme und damit ein tatbestandsloses Verhalten liegt vor, wenn jemand in eine Verletzung einwilligt, der zwar notwendiges Objekt der Tat ist, aber nicht über die Schutznorm wirksam verfügen kann; ζ. B. jemand willigt in eine wegen Sittenwidrigkeit der Tat nicht gerechtfertigte Körperverletzung ein oder äußert das ernstliche Verlangen der Tötung. Zur notwendigen Teilnahme vgl. Roxirt LK10 Vor §26 Rdn. 27 ff; Sch .-Schröder- Cram er 21 Vor §25 Rdn. 49; jeweils m. w. Nachw.).

127

d) Um Putativeinwilligung handelt es sich, wenn der Täter irrig einen Sachverhalt annimmt, der im Falle seines Vorliegens eine rechtfertigende Einwilligung ergeben würde. Nach der herrschenden sog. eingeschränkten Schuldtheorie findet § 16 (analog) Anwendung, und nur bei irriger Annahme einer rechtlich nicht anerkannten Einwilligung kommt § 17 in Betracht (vgl. BGHSt. 4 113, 119; 16 309, 313). Folgt man dagegen zutreffender der sog. strengen Schuldtheorie, ist in beiden Fällen § 17 einschlägig. Siehe auch LK 10 § 226 a Rdn. 50.

128

e) Strafrechtsreform: Bei der Reform des Allgemeinen Teils ist bewußt darauf verzichtet worden, eine allgemeine Einwilligungsregelung in das StGB aufzunehmen (näher dazu Lange Niederschriften 2 S. 163 ff und Anhang S. 89 f; siehe ferner zu den Reformberatungen Niederschriften 2 Anhang S. 91 ff), auch der AE kennt keine allgemeine Einwilligungsbestimmung. Der Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, daß sich Voraussetzungen und Anwendungsbereich der rechtfertigenden Einwilligung einer allgemeinen Vertypung entziehen. Der Vorschlag des Hessischen Justizministeriums Niederschriften 2 Anhang S. 91, den Begriff der Einwilligung im Allgemeinen Teil bezüglich des Sprachgebrauchs zu umschreiben und dabei zu bestimmen, daß eine beachtliche Einwilligung die Entstehung eines Antragsrechts hindere, fand mit Recht keine Zustimmung (zur Kritik vgl. auch Geerds ZStW 72 [1960] 42 Fußn. 1). Zu den speziellen Reformfragen der Einwilligung in die Körperverletzung näher LK 10 § 226 a Rdn. 52. 6. Mutmaßliche Einwilligung Schrifttum Ahrens Geschäftsführung ohne Auftrag als Strafausschließungsgrund, StrafrAbh. 101 (1909); Arndt Die mutmaßliche Einwilligung als Rechtfertigungsgrund, StrafrAbh. 268 (1929); ders. Die mutmaßliche Einwilligung, DJ 1937 583; Eichler Handeln im Interesse des Verletzten als Rechtfertigungsgrund, StrafrAbh. 284 (1931); Eser Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Sportlers, JZ 1979 368 ; J. Hacker Wille und Interesse bei der mutmaßlichen Einwilligung, zugleich ein Beitrag zur übergesetzlichen Rechtsprechung, Diss. Tübingen 1973; v. Hippel Die Bedeutung der Geschäftsführung ohne Auftrag im Strafrecht, RG-Festgabe V (1929) S. 1; Hruschka Extrasystematische Rechtfertigungsgründe, Dreher-Festschr. (1977) S. 189; Mezger Die subjektiven Unrechtselemente GerS 89 (1924) 207; Roxin Über die mutmaßliche Einwilligung, Welzel-Festschr. (1974) S. 447; Tiedemann Die mutmaßliche Einwilligung, insbesondere bei Unterschlagung amtlicher Gelder, JuS 1970 108; G. Unger Die Zueig(68)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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nung von Geld und der allgemeine Unrechtsausschließungsgrund des „nicht schutzwürdigen Interesses" (1973); Zip/Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht (1970). a) Grundsätzliches. K a n n in Fällen einer rechtlich zulässigen, aber tatsächlich 129 fehlenden Einwilligung eine Entscheidung des Einwilligungsberechtigten nicht eingeholt oder abgewartet werden, ist Rechtfertigung aufgrund des gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrundes der mutmaßlichen Einwilligung möglich (vgl. BGHSt. 16 309, 312; RGSt. 25 375, 382; 61 242, 256; O L G Frankfurt M D R 1970 694; B G H Z 29 46, 52; 29 176, 185; B G H [Z] N J W 1966 1855; R G Z 68 431; 151 349, 354; 163 129, 138; Baumann8 § 21 II 5 a ; Dreher-Tröndle41 Rdn. 4; Jakobs 15/16 ff ; Jescheck A T 3 § 34 VII 1 ; LacknerM Anm. 6; Maurach-Zipfi § 28 II; Roxin Welzel-Festschr. S. 448; Samson S K 4 Rdn. 48; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 54; Stratenwerthl § 9 I I ; Wessels AT 13 § 9 I 3; ablehnend Schmidhäuser StudB2 6 / 86 ff, 92 [stattdessen für Rechtfertigung aufgrund „dienstlichen Interesses"]). Die mutmaßliche Einwilligung bildet einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund, nicht lediglich einen Unterfall des rechtfertigenden Notstands (Dreher-Tröndle41 Rdn. 4; Hruschka Dreher-Festschr. S. 205; Samson S K 4 Rdn. 48; Sch.-Schröder-Lencknerll Rdn. 56; anders H. Mayer AT § 24 I I I ; WelzelU § 14 V; Zipf Einwilligung S. 53 [einschränkend Maurach-Zipfì § 28 II]; dazu J. Hücker Wille und Interesse S. 275 f)· Es geht bei ihr darum, d a ß gemäß dem im Zeitpunkt der Handlung zu erwartenden Willen des nicht mehr rechtzeitig befragbaren Einwilligungsberechtigten gehandelt wird. Im Gegensatz zum rechtfertigenden Notstand kommt es f ü r sie nicht auf eine objektive Interessen- u n d Güterabwägung an, vielmehr ist der hypothetische Wille des Betroffenen entscheidend. Allenfalls bei der Ermittlung dieses hypothetischen Willens k a n n die Interessenabwägung ein Hilfsmittel sein (Roxin Welzel-Festschr. S. 447 ff). Der rechtfertigende Notstand betrifft Fälle, in denen ein Eingriff ohne Rücksicht auf den entgegenstehenden Willen des Betroffenen zulässig ist oder das bloße Einverstandensein für sich allein nicht genügt, weshalb seine strengen Eingriffsvoraussetzungen in Fällen mutmaßlicher Einwilligung nicht passen. Die Einordnung in den Notstandsbereich liefe darauf hinaus, d a ß es auf den mutmaßlichen Willen gar nicht ankäme, sondern die Interessenabwägung den Ausschlag geben würde. Die momentane Abwesenheit oder Entscheidungsunfähigkeit des Einwilligungsberechtigten kann aber nicht dazu berechtigen, dem Willen des augenblicklich nicht befragbaren Rechtsgutsträgers entgegenzuhandeln (RGSt. 25 375, 382; Roxin aaO S. 451 f)· Auch versagt der rechtfertigende Notstand, wo es nicht um die Rettung eines Rechtsguts, sondern um die mutmaßliche Preisgabe einer Sache zugunsten des Täters oder eines Dritten geht (vgl. Jescheck AT3 § 34 VII 1 b). Engere Berührungspunkte hat die rechtfertigende mutmaßliche Einwilligung mit 130 der zivilrechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag. Beide sind aber nicht völlig identisch, so d a ß eine unmittelbare Anwendung der §§ 677 ff BGB (anders noch Zitelmann AcP 99 [1906] 104 f; v. Hippel RG-Festgabe V S. 1) ausscheidet, ebenso eine analoge Heranziehung (siehe aber WelzelW § 14 V). Die Geschäftsführung ohne Auftrag ist im Regelfall enger. Da es bei ihr primär um den Aufwendungsersatzanspruch geht, wird in § 683 BGB nicht allein auf den mutmaßlichen Willen, sondern kumulativ auf Interesse und Willen abgestellt (hierzu Seiler M ü n c h K o m m . § 677 Rdn. 42). Außerdem ist das Interesse an der Übernahme der Geschäftsführung vom Standpunkt ex post zu beurteilen (vgl. im Anschluß an den Wortlaut des § 683 BGB: Erman-Haussl §683 Rdn. 3; Larenz Schuldrecht 1112 § 5 7 I a ; StaudingerWittmann\2 Vor §677 Rdn. 27 m. w. Nachw.). Ausnahmsweise reicht die Geschäftsführung ohne Auftrag über die mutmaßliche Einwilligung hinaus, nämlich (69)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

bei § 679 BGB. Für die Frage der Rechtfertigung straftatbestandsmäßiger Handlungen hat sie keine Bedeutung. Von der zivilrechtlichen h. M. wird sie zwar, sofern es um Eingriffe in Rechtsgüter geht, als Rechtfertigungsgrund betrachtet (RGZ 149 205, 206; BGH LM § 683 Nr. 2; Erman-Haussl Vor § 677 Rdn. 16; Lorenz Schuldrecht II 12 § 57 I b ; Steffen RGRK12 Vor § 677 Rdn. 82 m. w. Nachw.; abw. Wollschläger Geschäftsführung ohne Auftrag [1976] S. 271 ff). Aber da die mutmaßliche Einwilligung umfassender ist, verbleibt ihr gegenüber für das zivilrechtliche Rechtsinstitut kein Raum. Soweit es sich um den Sonderfall des § 679 BGB handelt, geht es um Fragen des Vermögensschadens oder auch des § 34. 131

Bei der mutmaßlichen Einwilligung ist im Gegensatz zur tatsächlich erteilten Einwilligung nicht zwischen Fällen des Tatbestandsausschlusses und der Rechtfertigung zu differenzieren, vielmehr geht es stets nur um Rechtfertigung, da das Entfallen bestimmter Tatbestandsmerkmale nur bei tatsächlichem Einverständnis in Betracht kommt.

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b) Die rechtfertigende Kraft der mutmaßlichen Einwilligung beruht darauf, daß hier dem zu erwartenden Willen des an der rechtzeitigen Entscheidung gehinderten Einwilligungsberechtigten gemäß gehandelt wird. Demgegenüber wird im Schrifttum teilweise die Auffassung vertreten, daß die Grundlage in der Kombination mehrerer Gesichtspunkte zu sehen sei: nämlich in der von Interesse und Willen des Betroffenen {Welzel 11 § 14 V; Baumann» § 21 II 5 b ; Jakobs 15/16 Fußn. 18) oder in der von Interesse, Willen und erlaubtem Risiko {Jescheck AT3 § 34 VII 2; Lenckner H. Mayer-Festschr. S. 181; in Sch.-Schröder21 Rdn. 58; Roxin Welzel-Festschr. S. 452). Für die Kombination von Interesse und Willen scheint der beide Gesichtspunkte nebeneinander anführende Wortlaut des § 683 BGB zu sprechen. Jedoch ergibt sich der Interessengesichtspunkt dort aus dem andersartigen Regelungsziel der Vorschrift (vgl. Rdn. 130). Von mutmaßlicher Einwilligung kann dagegen nur die Rede sein, wenn der wahrscheinliche Wille das ausschlaggebende Kriterium bildet {Mezger LK8 Vor § 51 Bern. lOf; Roxin aaO; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 56ff; Stratenwerthl Rdn. 390). Das Interesse stellt lediglich einen wichtigen Gesichtspunkt bei der Ermittlung dieses Willens dar. Sobald man das Interesse zu einer selbständigen Voraussetzung neben dem Willen erhebt, ermöglicht man dagegen, sich über den wahren Willen hinwegzusetzen, indem man ihn als unerheblich veranschlagt. Mit der hierin liegenden Ignorierung der Autonomie des einzelnen würde der Boden der Einwilligungslehre — es geht doch allein um einen Ersatz für eine tatsächlich fehlende Einwilligung (vgl. Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 56) — verlassen und der Unterschied zwischen diesem am Willen orientierten Bereich und dem an der Interessenabwägung ausgerichteten Notstand verwischt. Es fällt auch auf, daß Autoren, die Interesse und Willen nebeneinander stellen und von einer wechselseitigen Beziehung dieser Kriterien sprechen, die sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht ziehen. So heißt es bei Jescheck aaO in Gegensatz zu dem von ihm eingenommenen Ausgangspunkt, daß auch der „unvernünftige Wille" des Einwilligungsberechtigten respektiert werden müsse, da es um die Vertretung eines anderen in seiner Entscheidungsfreiheit gehe. Aus den genannten Gründen scheidet erst recht der Gedanke aus, im Interesse den alleinigen Gesichtspunkt zu sehen. Hiermit würde die mutmaßliche Einwilligung dann überhaupt den Bezug zum Einwilligungsbereich verlieren und zu einem Fall erlaubter „Bevormundung durch unerbetene Nothelfer" ( H . Mayer AT § 24 III 3) werden. Auch das neben dem mutmaßlichen Willen als weiteres Kriterium angeführte „erlaubte Risiko" (Jescheck aaO; Lenckner H. Mayer-Festschr. S. 181; in Sch.-Schröder21 Rdn. 56, 58; Roxin (70)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

aaO) ist für die rechtfertigende Kraft der mutmaßlichen Einwilligung ohne Aussagewert. Gemeint ist von den Autoren, die darauf Bezug nehmen, die pflichtmäßige Prüfung der Sachlage durch den Täter (vgl. die vorstehenden Nachw.). Entspricht das Handeln jedoch dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen, so hängt die Rechtfertigung nicht von einer zusätzlichen Prüfung durch den Täter ab (näher Rdn. 140). Fehlt dagegen die Übereinstimmung mit der — vom Standpunkt ex ante objektiv zu bestimmenden — Wahrscheinlichkeit des Willens, dann vermag auch eine pflichtmäßige Prüfung das Täterverhalten nicht zu rechtfertigen. c) Anwendungsbereich. Zwei Fallgruppen, bei denen eine mutmaßliche Einwilli- 133 gung in Betracht kommt, sind zu unterscheiden. Einmal kann es sich um der internen Disposition unterliegende Güter- und Interessenkollisionen im Lebensbereich des Betroffenen handeln, die durch einen in dessen Sinne stattfindenden Eingriff von außen gelöst werden müssen, weil sich seine Entscheidung nicht rechtzeitig herbeiführen läßt (z. B. wenn jemand in das Haus des verreisten Nachbarn eindringt, um ein schadhaftes Wasserrohr abzudichten). Zum anderen kann es dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen entsprechen, eigene Interessen zugunsten des Täters oder eines Dritten preiszugeben, beispielsweise wenn der Täter eigenmächtig das Fahrrad seines guten Freundes benutzt, um noch rechtzeitig zum Bahnhof zu gelangen (vgl. Jescheck AT3 § 34 VII 1 b; Maurach-Zìpfì § 28 II 2 b ; Samson SK4 Rdn. 48; Sch.Schröder-Lenckner2\ Rdn. 55; einschränkend Jakobs 15/17 f; abl. Schmidhäuser AT 2 9/50). Von den Fällen der mutmaßlichen Einwilligung sind die der konkludent erteilten 134 Zustimmung zu unterscheiden, z. B. wenn es üblich ist, daß die Stammkunden eines Zeitungskiosks bei kurzfristiger Abwesenheit des Inhabers nicht auf dessen Rückkehr warten, sondern sich unter Hinterlassen des Geldbetrags selbst die gewünschte Zeitung nehmen. d) Die Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung im einzelnen aa) Da die mutmaßliche Einwilligung die Stelle einer tatsächlich erteilten Ein- 135 willigung vertritt, müssen mit Ausnahme der hier fehlenden Einwilligungserteilung alle sonstigen Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung vorliegen, d. h. die gleichen Kriterien müssen erfüllt sein, wie sie auch zur Wirksamkeit einer tatsächlich erteilten Einwilligung erforderlich wären (Jescheck AT3 § 34 VII 3; Sch.Schröder-Lenckner2\ Rdn. 59). Insbesondere sind Verfügungsbefugnis über das Rechtsgut (genauer die Schutznorm) sowie Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Einwilligungsberechtigten zu beachten. Auch bildet, falls das bei Berücksichtigung der übrigen Voraussetzungen überhaupt praktisch werden kann, der Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit der Tat im Anwendungsbereich des § 226 a ein Rechtfertigungskorrektiv. Zu den Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung im einzelnen oben Rdn. 114 ff. bb) Weitere Voraussetzung ist das Zusammentreffen eines Entscheidungszwangs 136 mit der Unmöglichkeit, daß der an sich dazu Berufene rechtzeitig die Einwilligung erteilt. Es handelt sich um Situationen, in denen nicht abgewartet werden kann, wie der Einwilligungsberechtigte selbst verfügen würde, weil es für die Entscheidung andernfalls zu spät wäre (OLG Frankfurt M D R 1970 694; Dreher-Tröndle41 Rdn. 4; Jescheck AT3 § 34 VII 1; Maurach-Zipf6 § 28 II 3 b ; Roxin Welzel-Festschr. S. 461; Stratenwerthl Rdn. 395). In der Praxis wird das besonders wichtig im Bereich des ärztlichen Heileingriffs (näher LK10 § 226a Rdn. 3 5 0 · Die Unmöglich(71)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

keit, den Einwilligungsberechtigten rechtzeitig zu befragen, braucht allerdings keine absolute zu sein, vielmehr ist auch die Zumutbarkeit für die Beteiligten zu berücksichtigen. Ist die (tatsächliche und zumutbare) Möglichkeit, eine Einwilligung rechtzeitig einzuholen, zu bejahen, schließt das Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung stets aus (LSG Celle N J W 1980 1352; Roxin aaO; Samson S K 4 Rdn. 50). Als Gegenmeinung wird vertreten, daß auch in Fällen, in denen die Einwilligung zwar tatsächlich eingeholt werden könnte, aber ohne weiteres davon auszugehen ist, d a ß der Betroffene auf eine Befragung keinen Wert legt, ebenfalls stets mutmaßliche Einwilligung eingreifen müsse (OLG Hamburg N J W 1960 1482; Sch.Schröder-Lenckner2\ Rdn. 54; Tiedemann JuS 1970 109; offengelassen in O L G Koblenz VRS 57 13). Es handelt sich dabei aber im wesentlichen um ein Scheinproblem. Hat sich nämlich das Desinteresse an einer Befragung nach außen offenbart, etwa durch ein entsprechendes Vorverhalten, kann hier bereits eine konkludente tatsächliche Einwilligung in Betracht kommen. In anderen Fällen kann es an der Zumutbarkeit der Befragung fehlen. Die Zumutbarkeit bestimmt sich bei der mutmaßlichen Einwilligung nach Gesichtspunkten, die beide Beteiligte, also auch den Einwilligungsberechtigten betreffen. Sie kann deshalb entfallen, wenn wegen Geringfügigkeit der Rechtsgutsbeeinträchtigung und enger persönlicher Verbundenheit der Beteiligten die Befragung unter den jeweiligen Umständen, etwa zur Nachtzeit, eine unverhältnismäßige Belästigung sein würde (vgl. O L G Koblenz VRS 57 13 und den Sachverhalt in O L G Hamburg N J W 1960 1482). Wo jedoch weder die eine noch die andere Fallgruppe einschlägig ist, verbleibt für eine Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung kein Raum, denn diese ist gegenüber der möglichen tatsächlichen Einwilligung subsidiär und dient nur dazu, fremde Entscheidungsbefugnisse hilfsweise auszuüben ; andernfalls öffnet man die Tür zum Übergehen fremder Selbstbestimmung. 137

cc) Es muß ein Handeln im Sinne des Einwilligungsberechtigten vorliegen. Die Mutmaßung hat sich auf den Zeitpunkt der Tat zu beziehen ; die H o f f n u n g auf spätere Zustimmung ist unerheblich. Entscheidend ist, ob nach objektivem Urteil bei Vornahme der Handlung die Einwilligung zu erwarten gewesen wäre. Ergibt sich nach diesem vom Standpunkt eines verständigen Dritten in der Lage des Täters (also ex ante) zu treffenden Urteil Mutmaßlichkeit der Einwilligung, so ist die Tat auch d a n n gerechtfertigt, wenn sich hinterher herausstellt, daß der Berechtigte keine Einwilligung erteilt haben würde. Dies ergibt sich aus dem Wesen der Mutmaßung und der Notwendigkeit, die Zulässigkeit des Täterverhaltens an ihr zu orientieren. Häufig werden keine individuellen Anhaltspunkte darüber vorliegen, wie der Betroffene entschieden haben würde, wenn man ihn vor der Tat hätte befragen können. D a n n ist bei den im Vordergrund stehenden Fällen der internen Interessenkollision darauf abzustellen, daß der Wille des Betroffenen dem entsprochen hätte, was gemeinhin als normal und vernünftig gilt; der Interessenlage kommt dabei entscheidende Bedeutung zu. Bei der Fallgruppe der Interessenpreisgabe (Fälle „mangelnden Interesses") kommt es dagegen stärker auf die erkennbare persönliche Bereitschaft des Rechtsgutsträgers zu derartiger Interessenaufgabe an ( Jescheck AT3 § 34 VII 2). Zur Unterscheidung beider Fallgruppen oben Rdn. 133. Steht jedoch der bekannte oder aus den Umständen erkennbare Wille des Betroffenen, mag er auch noch so unvernünftig sein, dem Eingriff entgegen, scheidet eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der mutmaßlichen Einwilligung stets aus; denn es handelt sich bei dieser nicht um einen Fall erlaubter Bevormundung, sondern um die Vertretung eines anderen in seiner Entscheidungsfreiheit (vgl. Jescheck a a O ; Roxin Welzel-Festschr. S. 4 5 0 f ; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 57; Stratenwerthi (72)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Rdn. 397). Das gilt gerade auch f ü r das Verhältnis von Arzt u n d Patient (vgl. LK10 § 2 2 6 a Rdn. 34 ff m. w. Nachw.). Ein erkennbar entgegenstehender Wille des Berechtigten läßt eine Rechtfertigung des Eingriffs durch mutmaßliche Einwilligung auch d a n n entfallen, wenn der Täter den Zweck verfolgte, eine Pflicht des Betroffenen, deren Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt, oder eine gesetzliche Unterhaltspflicht des Betroffenen zu erfüllen; eine Rechtfertigung kann in solchen Fällen, sofern der Tatbestand eines Vermögensdelikts erfüllt ist, nur unter den Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes eintreten ( Jescheck aaO ; Sch.-SchröderLenckner2\ a a O ; Roxin Welzel-Festschr. S. 452 Fußn. 23; anders Welzel 11 § 14 V unter Hinweis auf § 679 BGB). Eine mutmaßliche Einwilligung ist ausgeschlossen, wenn die Einwilligungsbefugnis 138 höchstpersönlich ist und deshalb nicht durch einen anderen wahrgenommen werden kann. Hierher gehören alle schwerwiegenden Körpereingriffe (vgl. Rdn. 117 sowie LK 10 § 226 a Rdn. 3), jedoch auf der Grundlage der bisherigen Rspr., die den Heileingriff als Körperverletzung einstuft, mit Ausnahme der Heilbehandlung (näher zur mutmaßlichen Einwilligung beim Heileingriff LK 10 § 226 a Rdn. 34 ff). Ebenso lassen sich Tonbandaufnahmen, die ohne Befragen des Gesprächspartners gemacht werden (§ 201), nicht durch mutmaßliche Einwilligung rechtfertigen; lediglich kann im Einzelfall eine konkludent erteilte (richtiger Ansicht nach tatbestandsausschließende) tatsächliche Einwilligung vorliegen, etwa wegen der persönlichen Beziehungen der Beteiligten oder weil sich im Geschäftsverkehr der Beteiligten Gesprächsaufzeichnungen als Ersatz für stenografische Protokolle eingebürgert haben (vgl. Dreher- Tröndle^\ §201 Rdn. 7; Klug Sarstedt-Festschr. S. 103 ff; Roxin H.MayerFestschr. S. 463; Sch.-Schröder-Lenckner2l §201 Rdn. 13). Auch läßt sich ein Recht, fremde Kinder wegen grober Unart bei Abwesenheit der Erziehungsberechtigten zu züchtigen, nicht auf mutmaßliche Einwilligung stützen, da dies mit dem höchstpersönlichen Charakter des Erziehungsverhältnisses unvereinbar wäre (näher LK 10 § 223 Rdn. 28 m. Nachw.). Mutmaßliche Einwilligung kann dagegen eine Rolle spielen im Rahmen der Un- 139 treue bei Vornahme gefährlicher, aber dem Unternehmensleiter nicht schlechthin untersagter Spekulationsgeschäfte, die jenseits der normalen kaufmännischen Risiken der Unternehmensführung oder Vermögensverwaltung liegen, aber den Umständen nach erheblichen Gewinn versprechen (vgl. Rdn. 33). Soweit hier nicht, wie im Regelfall, überhaupt schon die Tatbestandsmäßigkeit entfällt (vgl. Hübner LK10 § 266 Rdn. 101 m. w. Nachw.), geht es entgegen Klug Eb. Schmidt-Festschr. (1961) S. 260 u n d Jescheck AT3 § 36 II 2 b nicht um einen Rechtfertigungsgrund des erlaubten tatbestandsmäßigen Risikos, sondern es käme auf das Vorliegen der Voraussetzungen rechtfertigender mutmaßlicher Einwilligung an. Nicht erst um eine Frage der rechtfertigenden mutmaßlichen Einwilligung, sondern schon um ein Tatbestandsproblem der Zueignungsdelikte handelt es sich in Fällen, in denen j e m a n d eigenmächtig fremdes Geld wechselt oder bei Bereitschaft und Fähigkeit zu alsbaldiger Erstattung fremdes Geld an sich nimmt. D e n n hier fehlt es bereits an einer (auf Dauer gerichteten) Zueignung (OLG Celle N J W 1974 1833; Roxin H. MayerFestschr. S. 472; Welzel-Festschr. S. 462; Tiedemann JuS 1970 111; mit anderer Begründung ebenfalls für Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit Sch.-Schröder-Eser2l §242 Rdn. 4 a ; Sax Laufke-Festschr. S. 321 ff; Rheineck Zueignungsdelikt und Eigentümerinteresse [1979] S. 141 f; a. A. O L G Köln N J W 1968 2348; Samson S K 2 §242 Rdn. 91 ff, nach denen erst Frage rechtfertigender mutmaßlicher Einwilligung]). Zwar wird in den genannten Fällen regelmäßig das Eigentum an den kon(73)

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2. Abschnitt. Die Tat

kreten Geldstücken oder -scheinen auf Dauer entzogen, doch kommt es bei Geld, außer wenn sich das Eigentumsinteresse auf ganz bestimmte Stücke (etwa Sammlerstücke) beschränkt, nicht auf die konkrete Sache, sondern lediglich auf den übereinstimmenden Betrag an. Dies entspricht der im Zivilrecht vertretenen Lehre, daß eine Geldschuld nicht Sachschuld, sondern Summen- oder Betragsschuld ist (vgl. Larenz Schuldrecht 111 § 12 III). Die Fälle stehen deshalb strafrechtlich der (nicht pönalisierten) Gebrauchsanmaßung näher als den Zueignungsdelikten. Voraussetzung ist dabei, daß der Erstattungswille verbunden ist mit dem sicheren Bewußtsein der tatsächlichen Erstattungsfähigkeit (vgl. OLG Celle NJW 1974 1833; Roxin H. Mayer-Festschr. S. 479; Tiedemann JuS 1970 108; auch schon RGSt. 21 364; RG JW 1924 1531 [die auf fehlenden Vorsatz bezüglich der Rechtswidrigkeit der Zueignung abstellen]). Da es sich bereits um eine Frage des Zueignungsbegriffs handelt, haben die gleichen Grundsätze auch bei amtlich zugänglichem Geld zu gelten; anders jedoch die st. Rspr. zum früheren § 350, die aus dem Bestreben, eine absolute Korrektheit der Amtsführung zu gewährleisten, rechtswidrige Zueignung (in RGSt. 5 304, 306 sogar beim eigenmächtigen Wechseln amtlicher Gelder) annimmt (vgl. BGHSt.9 348; 24 115; R G S t . 3 10; 5 304; 64 414; RG JW 1932 950; OLG Köln NJW 1968 2348; siehe aber auch BGH 4 StR 834/52 zit. bei Tiedemann JuS 1970 108 Anm. 2; RG JW 1927 908). - Dem Vorschlag Tiedemanns JuS 1970 108, bei nur geringfügigen oder vorübergehenden Beeinträchtigungen allgemein eine Ausnahme von den Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung zu machen, da in solchen Fällen wegen mangelnden Interesses des Betroffenen keine dementsprechende Notwendigkeit bestehe, ist entgegenzuhalten, daß trotz „mangelnden Interesses" die Entscheidungsbefugnis beim Rechtsgutsträger liegt, so daß der Eingriff zumindest seinem mutmaßlichen individuellen Willen entsprechen muß. Es ist nicht einzusehen, warum man heimlich und ohne Befragen etwas tun darf, was gegen den erklärten Willen des Berechtigten unzulässig gewesen wäre (Roxin WelzelFestschr. S. 461). Aus den genannten Gründen ist es auch nicht möglich, derartige Fälle über einen eigens konstruierten pauschalen Rechtfertigungsgrund des „nicht schutzwürdigen Interesses" zu lösen, wie dies G. Unger Die Zueignung von Geld und der allgemeine Unrechtsausschließungsgrund des „nicht schutzwürdigen Interesses" (1973) empfiehlt. Wo der erklärte oder zu erwartende Wille des Berechtigten strafrechtlich außer Verhältnis zur objektiven Interessenwertung liegt, handelt es sich um eine Frage der Einstellung wegen Geringfügigkeit, also um ein nur strafprozessuales Problem. 140

dd) Als subjektives Rechtfertigungselement muß die Absicht vorliegen, im Sinne des Einwilligungsberechtigten zu handeln (vgl. Maurach AT4 § 28 II 3; Schmidhäuser StudB 2 6/91; auch zur Geschäftsführung ohne Auftrag BGH [Z] LM § 677 BGB Nr. 2, LM § 683 BGB Nr. 3 ; gegen subjektives Rechtfertigungselement jedoch Baumann& § 21 II 5 c; Mezger GerS 89 [1924] 291). Allgemein zu der von der h. M. bejahten Notwendigkeit subjektiver Rechtfertigungselemente und zu deren Inhalt oben Rdn. 50 ff (m. Nachw. und Stellungnahmen zum Streitstand). Es genügt mithin zur Rechtfertigung nicht, daß der herbeigeführte Erfolg zufällig dem mutmaßlichen Wunsche des Betroffenen entsprach, z. B. wenn jemand aus Mutwillen eine Fensterscheibe einwirft und dadurch unbewußt den nichts ahnenden Hauseigentümer vor einer Gasvergiftung rettet. Liegen die objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes und der Wille, im Sinne des Einwilligungsberechtigten zu handeln, dagegen vor, so greift Rechtfertigung Platz, ohne daß es dazu auf eine gewissenhafte Prüfung aller Umstände durch den Täter ankommt. Denn diese ist kein (74)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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subjektives Rechtfertigungselement der mutmaßlichen Einwilligung, sondern betrifft nur die Vermeidbarkeitsfrage im Irrtumsfall (wie hier Jakobs 11/24 ff; Rudolph! Schröder-Gedächtnisschr. S. 86 ff; Schmidhäuser

A T 2 9 / 5 2 ; Welze! U § 14 IV u.

V; Zielinski Handlungs- und Erfolgsunwert [1973] S. 271 ff; anders Jescheck AT3 § 34 VII 3; Lenckner H. Mayer-Festschr. S. 181; in Sch.-Schröder21 Rdn. 58; Maurach-Zipfe § 28 II 3 c; Roxin Welzel-Festschr. S. 453 f; Wessels AT 13 § 9 I 3). Wie die beim rechtfertigenden Notstand geführte wissenschaftliche Diskussion gezeigt hat, ist die pflichtmäßige Prüfung der Sachlage als Rechtfertigungserfordernis sachwidrig, wenn das objektive Vorliegen der betreffenden Sachlage — also hier das mutmaßliche Einverstandensein — schon selbst Rechtfertigungsvoraussetzung ist. Die Konstruktion dient dann nur dazu, den unbefriedigenden Konsequenzen einer bestimmten Irrtumslehre auszuweichen (näher LK10 §34 Rdn. 77, 91). Auch ist nicht einsichtig, daß bei der mutmaßlichen Einwilligung subjektiv strengere Anforderungen gelten sollen als nach § 34 beim rechtfertigenden Notstand. e) Prozessuales. Läßt sich nicht sicher feststellen, ob eine Einwilligung erteilt 141 worden ist oder nicht, so ergibt sich der Freispruch aus dem Satz in dubio pro reo, für die Bejahung einer rechtfertigenden mutmaßlichen Einwilligung bleibt dagegen in der Regel kein Raum. Denn auch wenn sich erweist, daß die Handlung jedenfalls dem mutmaßlichen Willen des Einwilligungsberechtigten entsprach, ist doch zu beachten, daß außerdem die übrigen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes vorliegen müssen, d. h. auch die nicht rechtzeitige Einholbarkeit der Einwilligung, ferner der Wille, im Sinne des Einwilligungsberechtigten zu handeln. Auch läßt sich eine mutmaßliche Einwilligung dann nicht bejahen, wenn Gegenstand des unbehebbaren Zweifels ist, ob die Einwilligung nicht sogar verweigert worden war.

7. Amtsrechte sowie verwandte außerordentliche Zwangsrechte Schrifttum Beling Grenzlinien zwischen Recht und Unrecht in der Ausübung der Strafrechtspflege (1913); Blei Probleme des polizeilichen Waffengebrauchs, J Z 1955 625; Bucheri Zum polizeilichen Schußwaffengebrauch (1975); Conen Rechtsgrundlagen u n d Probleme des Schußwaffengebrauchs bei Geiselnahmen, Die Polizei 1973 65 ; Doehring Befehlsdurchsetzung u n d Waffengebrauch (1968); Fuhrmann Der höhere Befehl als Rechtfertigungsgrund im Völkerrecht (1963); Gobrecht Probleme des Schußwaffengebrauchs, Die Polizei 1971 12; Greiner Nochmals: Probleme des Schuß Waffengebrauchs, Die Polizei 1971 104; Grommek Unmittelbarer Zwang im Strafvollzug (1982); Grünwald Ist der Schußwaffengebrauch an der Zonengrenze strafbar? J Z 1966 633; Kleinfeller Amtsrechte, Amts- und Dienstpflichten, V D A 1 264; Klinkhardt Die Selbsthilferechte des Amtsträgers, VerwArch 55 (1964) 264; ders. Der administrative Waffengebrauch in der Bundeswehr, J Z 1969 700; Krey u n d Meyer Zum Verhalten der Staatsanwaltschaft und Polizei bei Delikten mit Geiselnahmen Z R P 1973 1 ; Krüger Polizeilicher Schußwaffengebrauch (1977); ders. Die bewußte Tötung bei polizeilichem Schußwaffengebrauch, N J W 1973 1; R. Lange Der „gezielte Todesschuß", J Z 1976 546; W. Lange Probleme des polizeilichen Waffengebrauchsrechts, M D R 1974 357; ders. Der neue Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes — Fragwürdiges Schußwaffengebrauchsrecht, M D R 1977 10; Lindner Notrechtsvorbehalte und polizeiliche Praxis, Die Polizei 1972 276; Ostendorf Die strafrechtliche Rechtmäßigkeit rechtswidrigen hoheitlichen Handelns, J Z 1981 165; Reindl und Roth Die Anwendung unmittelbaren Zwanges in der Bundeswehr (1974); Rotthaus Zur Frage des Schußwaffengebrauchs gegenüber Strafgefangenen, M D R 1970 4; Rupprecht Die tödliche Abwehr des Angriffs auf menschliches Leben, J Z 1973 263; Eb. Schmidt Befehlsdurchsetzung u n d Waffengebrauch N Z W e h r R 1968 161; J. Schmidt Nochmals: Die bewußte Tötung bei polizeilichem Schußwaffengebrauch, N J W 1973 449; Schnupp Zur Anwendung (75)

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unmittelbaren Zwanges durch Polizeivollzugsbeamte, Die Polizei 1971 261 ; Schumacher Zur Problematik des gezielten polizeilichen Todesschusses in Extremsituationen, Die Polizei 1973 257; Schwabe Die Notrechtsvorbehalte des Polizeirechts (1979); Triffterer Der tödliche Fehlschuß der Polizei, MDR 1976 355 ; ders. Ein rechtfertigender (Erlaubnistatbestands-)lrrtum — Irrtumsmöglichkeiten beim polizeilichen Einsatz, Mallmann-Festschr. (1978) S. 733; Wacke Das Bundesgesetz über unmittelbaren Zwang, JZ 1962 137; Wagner Die Neuregelung der Zwangsernährung, ZRP 1976 1 ; Wensky Zur Problematik des Geiselschutzes durch Schußwaffengebrauch, Die Polizei 1971 293; v. Winterfeld Der Todesschuß der Polizei, NJW 1972 1881.

142

a) Allgemeine Voraussetzungen der Amtsrechte: Tatbestandsmäßige Handlungen eines von der Staatsgewalt Beauftragten sind nicht rechtswidrig, wenn sie im Rahmen der hoheitlichen Befugnisse vom Gesetz gestattet oder sogar geboten sind (Baumann8 § 21 II 6; Blei AT18 § 42; Dreher-Tröndle41 Rdn. 6; Jescheck AT3 § 35 I 1; Maurach-Zipfò § 29 I 1; Stratenwerthl Rdn. 478). Außer vorsätzlichen können auch fahrlässige Handlungen in Betracht kommen (BGHSt. 26 99; RGSt. 72 305, 310; BayVerfGH DÖV 1968 283; LG Bielefeld MDR 1970 74; WelzelU § 14 VI 3; unzutreffend OLG Frankfurt NJW 1950 119 m. Anm. Cüppers). Selbst die Verletzung so wichtiger Rechtsgüter wie Leben (bei Fahrlässigkeit), Leib, Freiheit, Ehre kann durch entsprechende gesetzliche Ermächtigungen gerechtfertigt sein. Hoheitliches Handeln stellt jedoch für sich allein noch keinen Rechtfertigungsgrund dar. Als Ausführende kommen nur hoheitliche Organe, insbes. Vollzugsbeamte und Soldaten, sowie von diesen zugezogene Privatpersonen (ζ. B. nach § 114 Abs. 2 StGB) in Betracht, bei freiwilligen Helfern kann dagegen lediglich nach den allgemeinen Rechtfertigungsgründen Unrechtsausschluß vorliegen (Jescheck AT3 § 35 I I ; Maurach-Zipfò § 29 I 1). Die Voraussetzungen der einzelnen Amtsrechte ergeben sich speziell aus der jeweils geregelten Materie. Für eine rechtfertigende Kraft müssen allgemein vorliegen: 143 aa) Zuständigkeit des Beamten. Die Amtshandlung muß zu den Dienstobliegenheiten des Ausführenden gehören (vgl. RGSt. 40 212; 66 339; 71 122; näher zur sachlichen Zuständigkeit v. Bubnoff LK.10 § 113 Rdn. 28). Ebenfalls ist örtliche Zuständigkeit Voraussetzung rechtmäßiger Amtsausübung (vgl. BGHSt. 4 110 mit Anm. Kern JZ 1953 702; RGSt. 37 32; 38 218; 66 339; OLG Hamm NJW 1954 206). Bei Landesbeamten endet sie normalerweise an der Landesgrenze (vgl. BGHSt. 4 110). Ausnahmen können sich aus § 167 GVG oder aufgrund von Landesvereinbarungen (vgl. OLG Hamm NJW 1954 206) ergeben. An die Einteilung der Amtsbezirke ist die örtliche Zuständigkeit nicht notwendig gebunden (BGHSt. 4 110). Zur Zuständigkeit der Bahnpolizei siehe BGHSt. 21 334, 361 ; BayObLG NJW 1954 362. Näher zur örtlichen Zuständigkeit v. Bubnoff LK10 § 113 Rdn. 29. bb) Einhaltung der Formvorschriften, die dem Schutze des Betroffenen dienen, z. B. Schriftlichkeit des Haftbefehls (§ 114 Abs. 1 StPO) oder Zuziehung von Vollstreckungszeugen nach § 759 ZPO (vgl. BGHSt. 5 93 ; RGSt. 24 389). 144 ce) Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (BVerfGE 19 342; OLG Bremen NJW 1964 735; Dreher-Tröndle41 Rdn. 6; Jescheck AT3 § 35 I 2; MaurachZipfì § 29 I 1 ; Schmidhäuser StudB2 6/125). Es muß stets die Handlungsweise gewählt werden, die den Betroffenen am wenigsten beeinträchtigt und nicht in offenbarem Mißverhältnis zu den Folgen steht (OLG Bremen NJW 1964 735; vgl. auch § 12 UZwG sowie unten Rdn. 151 f)· 145

dd) Subjektiv ist Handeln zum Zwecke der AmtsausUbung erforderlich. Soweit es sich verwaltungsrechtlich um Ermessensentscheidungen handelt, was im Bereich (76)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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des Eingriffsrechts selten sein dürfte, hängt die Rechtmäßigkeit außerdem davon ab, daß das Ermessen pflichtgemäß ausgeübt wird ; anderenfalls liegt rechtswidriger Ermessensfehlgebrauch oder -nichtgebrauch vor. Siehe zur pflichtmäßigen Prüfung auch noch Rdn. 146. ee) Rechtfertigung aufgrund pflichtmäßiger Prüfung der Sachlage. Im Unter- 146 schied zu den Eingriffsbefugnissen Privater setzt Rechtfertigung hoheitlichen Handelns regelmäßig nicht voraus, daß die Sachlage, an welche die Eingriffsbefugnis anknüpft, objektiv gegeben ist, sondern es genügt insoweit pflichtmäßige Prüfung durch den Amtsträger (BGHSt. 4 161, 164; 21 334, 363; 24 125, 130; BGH VRS 38 115; RGSt. 30 348; 38 373; 61 297; 72 305, 311; BayObLGSt. 1954 59; 1964 156; Bay Ob LG JR 1981 29; OLG Hamm VRS 26 435; im einzelnen v. Bubnoff LK10 § 113 Rdn. 27 ff). Es geht bei dieser pflichtmäßigen Prüfung nicht um ein zusätzliches allgemeines subjektives Rechtfertigungserfordernis. Liegt vielmehr die Rechtfertigungssachlage objektiv vor und sind auch die übrigen Voraussetzungen der Eingriffsbefugnis gegeben, so greift Rechtfertigung ein, ohne daß es auf die pflichtmäßige Prüfung der Sachlage ankommt. Die Rechtfertigung hoheitlichen Handelns aufgrund pflichtmäßiger Prüfung der Sachlage stellt deshalb eine die allgemeinen Eingriffsbefugnisse erweiternde Rechtfertigungsmöglichkeit dar. Örtliche und sachliche Zuständigkeit, Beachtung der Formvorschriften und der Wille zur Amtsausübung müssen aber objektiv gegeben sein (BGHSt. 4 161, 164). Die Begründung für die Erweiterung folgt daraus, daß sich im Deliktsrecht die 147 Rechtmäßigkeit einer Amtshandlung allein anhand der dafür bestehenden Verfahrensvorschriften entscheidet. Sind diese eingehalten, bleibt die materielle Rechtslage für die Rechtfertigung des hoheitlichen Handelns außer Betracht. Soweit der Amtsträger die Voraussetzungen seines Eingreifens selbst zu beurteilen hat, was regelmäßig der Fall ist, kommt es darauf an, ob er in der jeweiligen Situation bei pflichtgemäßer Würdigung der ihm bekannten und erkennbaren Umstände zur Annahme der Eingriffsvoraussetzungen gelangen durfte (vgl. Maurach-Schroeder 116 §69 112; Sch.-Schröder-Eser2i §113 Rdn. 27, 22 m. w. Nachw.). So ist z.B. ein nach pflichtgemäß durchgeführter Beweisaufnahme ergangenes, aber materiell unrichtiges Urteil rechtmäßig mit der Folge, daß der unterlegenen Partei weder ein Notwehrrecht noch Amtshaftungsansprüche zustehen. Begründet ist das Abstellen auf die verfahrensrechtliche Seite durch die Notwendigkeit, den Staat und seine Organe bei der Ausübung der ihm zugewiesenen Aufgaben zu schützen (vgl. BGHSt. 4 163 f; 21 365). Ein Richter oder Vollzugsbeamter kann nicht mehr tun, als sorgfältig prüfen, ob die Sachlage für sein Eingreifen gegeben ist. Das Risiko der materiellen Unrichtigkeit läßt sich daher nicht ihm auferlegen, weil sonst wegen der Notwehrkonsequenzen die — den Interessen der Allgemeinheit dienende — staatliche Tätigkeit praktisch weitestgehend unmöglich würde. Abw. wollen einige Autoren die Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handelns spezifisch öffentlichrechtlich beurteilen. Nach einer Auffassung soll Rechtswidrigkeit der Amtshandlung nur in den seltenen Fällen verwaltungsrechtlicher Nichtigkeit anzunehmen sein (Bender Die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung, Diss. Freiburg 1953, S. 54 ff; Krey BT 15 § 7 I 2; Meyer NJW 1972 1845 ff; Wagner JuS 1975 225). Eine andere Auffassung unterscheidet zwischen Grund- und Vollzugsakt und hält nur die öffentlichrechtlich zu ermittelnde Rechtswidrigkeit des letzteren für maßgeblich (Ostendorf JZ 1981 171 ff; vgl. auch Schünemann JA 1972 709 f; Thiele JR 1975 356 0· Beide Ansichten vermögen nicht zu überzeugen. Die erstgenannte engt den Kreis rechtswidrigen hoheitlichen Handelns zu weitgehend ein und überdehnt so die Duldungspflicht des Bürgers, (77)

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während die letztere die Fälle des sofortigen Vollzugs, in denen Grund- und Vollzugsakt zusammenfallen, nicht befriedigend zu lösen vermag. Überdies übersieht die abw. Meinung, indem sie für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit auch materiellrechtliche Gesichtspunkte heranzieht, daß das Deliktsrecht bei Amtshandlungen ausschließlich an verfahrensrechtlichen Eingriffsvoraussetzungen ausgerichtet ist, wie am Fall des materiell unrichtigen richterlichen Urteils besonders deutlich wird. Die hier vertretene Auffassung steht auch nicht in Widerspruch zum Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung (so aber Ostendorf JZ 1981 175), da die Rechtmäßigkeit des Verfahrens für alle Rechtsgebiete in gleicher Weise verbindlich ist. b) Die Einzelfälle sind unübersehbar. Die wichtigsten Vorschriften finden sich in den Verfahrensordnungen und in den Polizeigesetzen: 148 aa) Aufgrund der StPO kann in die Freiheit (§§ 51, 134, 230 Abs. 2: Zwangsmaßnahmen gegen nicht erschienene Zeugen, Beschuldigte oder Angeklagte; § 81 : Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus zur Beobachtung; §§ 112 ff: Verhaftung; §126a: Einstweilige Unterbringung; §127 Abs. 2: vorläufige Festnahme; §§449 ff: Vollzug des rechtskräftigen Urteils), in die körperliche Unversehrtheit (§§ 81 a—c: Körperliche Untersuchungen, Blutentnahmen), in das Eigentum (§ 94: Beschlagnahme), die Unverletzlichkeit der Wohnung (§ 102: Hausdurchsuchung), in das Briefgeheimnis (§99: Postbeschlagnahme) oder in das Fernmeldegeheimnis (§ 100 a: Überwachung des Fernmeldeverkehrs) eingegriffen werden. Die Vorschriften der ZPO gestatten dem Gerichtsvollzieher Einschränkungen des Schuldners bezüglich Freiheit, Eigentum, Unverletzlichkeit der Wohnung (§§ 758, 803, 808, 814, 883 ZPO); zur Erzwingung der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung nach §§ 899 ff ZPO kann der Schuldner verhaftet (§ 901 ZPO), die Verurteilung zu Unterlassungen kann mit Ordnungsgeld und -haft durchgesetzt werden (§ 890 ZPO). Die KO ermöglicht Freiheits- und Eigentumsbeschränkungen des Konkursschuldners (§§ 101 Abs. 2, 117 KO) sowie Nichtbeachtung des Briefgeheimnisses (§ 121 Abs. 1 S. 2 KO), das ZVG ebenfalls Eigentumsbeschränkungen durch Besitzergreifung des Grundstücks des Schuldners (§ 150 ZVG). 149 bb) Die meisten rechtfertigenden Amtsbefugnisse ergeben sich aus dem Verwaltungsrecht. So kann die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch das Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) vom 10. 3. 1961 und Vorschriften der Polizeiaufgabengesetze der Länder (vgl. die Gesetzeshinweise Rdn. 150) gerechtfertigt sein. Auch kommt das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und zivile Wachpersonen (UZwGBw) vom 12. 8. 1965 als Rechtsgrundlage in Betracht (dazu näher Reindl u. Roth Die Anwendung des unmittelbaren Zwanges in der Bundeswehr, passim). Zum besonderen hoheitlichen Waffengebrauchsrecht siehe Rdn. 150 ff. Bei Disziplinarstrafen gegen Beamte folgt die Rechtfertigung aus den Beamtengesetzen und Disziplinarordnungen. Zum Fortfall des Züchtigungsrechts des Lehrers LK10 § 223 Rdn. 24 ff. Im Medizinalrecht kann die Einweisung von Geschlechtskranken gemäß § 18 Abs. 2 Geschl.KrG, von Geisteskranken und Süchtigen nach Landesrecht erfolgen. Näher zum Unterbringungsrecht Baumann Unterbringungsgesetze der Länder (1966). cc) Das hoheitliche Waffengebrauchsrecht insbesondere 150 α) Vollzugsbeamten, mit militärischen Wach- oder Sicherheitsaufgaben betrauten Soldaten und einigen anderen Trägern solcher hoheitlichen Funktionen steht (78)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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unter Voraussetzungen, die in bundes- und landesrechtlichen Vorschriften geregelt sind, ein besonderes Waffengebrauchsrecht zu. Rechtsgrundlagen sind: Für Vollzugsbeamte des Bundes §§ 9 ff UZwG, dazu die Allg. Verwaltungsvorschrift des Bundesinnenministers vom 18. 1. 1974 (GMB1. 1974 55) i. d. F. vom 19. 12. 1975 (GMB1. 1976 27); für Soldaten und zivile Wachpersonen der Bundeswehr §§ 15 ff UZwGBw; für Justizvollzugsbeamte §§ 99, 178 StVollzG; für Polizeivollzugsbeamte der Länder Bestimmungen des jeweiligen Landesrechts: Baden-Württemberg §§ 39, 40 PG; Bayern Art. 4 5 - 4 7 PAG; Berlin § § 8 - 1 8 UZwGBln; Bremen § § 4 8 - 5 0 PG; Hamburg § § 2 4 - 2 8 SOG; Hessen §§5, 6 Hess. UZwG; Niedersachsen §§ 5 4 - 5 7 SOG; Nordrhein-Westfalen §§ 4 1 - 4 3 PolG; Rheinland-Pfalz §§ 6 3 - 6 5 PVG; Saarland § § 9 - 1 3 Saarl.UZwG; Schleswig-Holstein §§ 231-235 LVerwG; Nachw. zu hierzu ergangenen Landesverordnungen bei Krüger Schußwaffengebrauch S. 16 ff; Jähnke LK.10 § 212 Rdn. 11 ff; für Forst- und Jagdschutzberechtigte sowie Fischereibeamte und Fischereiaufseher das Ges. vom 26. 2. 35 (RGBl. I 313) mit DVO vom 7. 3. 35 (RGBl. I 377); vgl. dazu RGSt. 72 305, in einzelnen Ländern ist dieses Gesetz jedoch aufgehoben (so in Nordrhein-Westfalen und Hessen). § 25 Abs. 2 BJagdG gewährt den Jagdaufsehern unter bestimmten Voraussetzungen die Rechte und Pflichten der Polizeibeamten. ß) Allgemeine Gesichtspunkte des Schußwaffengebrauchs gegen Personen Besondere Bedeutung kommt hier den Grundsätzen der Erforderlichkeit und 151 Verhältnismäßigkeit zu. Diese gelangen zwar regelmäßig bereits in den gesetzlichen Anforderungen zum Ausdruck, sind jedoch darüber hinaus mit Verfassungsrang ausgestattet. Erforderlich ist die Anwendung von Schußwaffen, wenn andere, mildere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet worden sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen (§ 12 Abs. 1 S. 1 UZwG, § 16 Abs. 1 UZwGBw; Nachw. entsprechenden Landesrechts bei Krüger Schußwaffengebrauch S. 25 Fußn. 17). Der Schußwaffengebrauch muß somit das letzte verbleibende Mittel darstellen; er ist gegen Personen nur zulässig, wenn der Zweck auch durch Waffenwirkung gegen Sachen nicht erreicht werden kann; § 12 Abs. 1 S. 2 UZwG; § 41 Abs. 1 S. 2 ME PolG. Die vom Beamten zu treffende Feststellung der Erforderlichkeit bedingt eine vorherige Androhung des Schußwaffengebrauchs, wobei die Abgabe eines Warnschusses als solche gilt (§ 13 Abs. 1 UZwG, § 17 Abs. 1 UZwGBw, § 39 Abs. 1 ME PolG; Nachw. entsprechenden Landesrechts bei Krüger aaO S. 38 Fußn. 42; vgl. bereits RGSt. 65 392, 395; 72 305, 310). Zur Rechtswidrigkeit der sofortigen Abgabe eines gefährdenden („qualifizierenden") Warnschusses siehe BGH[Z] VersR 1964 536. Die mit dem Gebrauch der Schußwaffe verbundenen Risiken müssen in einem 152 angemessenen Verhältnis zum beabsichtigten Erfolg stehen (vgl. § 4 UZwG, § 12 UZwGBw, § 2 ME PolG; BVerfGE 19 342; BSG NJW 1961 2038; OLG Bremen NJW 1964 735). In § 10 Abs. 1 UZwG, § 15 Abs. 1 UZwGBw und § 42 ME PolG (Nachw. entsprechenden Landesrechts bei Krüger Schußwaffengebrauch S. 49 ff) wird die grundsätzliche Zulässigkeit des Schußwaffengebrauchs gegen Personen, damit die grundsätzliche Verhältnismäßigkeit, auf einen Katalog abschließend aufgezählter Fälle beschränkt. Aber auch dann, wenn eine dieser Sachlagen gegeben ist, kann im konkreten Fall das Verhältnismäßigkeitsprinzip dem Schußwaffengebrauch entgegenstehen (vgl. § 4 UZwG, § 12 UZwGBw, § 2 ME PolG, Nachw. entsprechenden Landesrechts bei Krüger aaO S. 26 ff); so ist das Schießen auf einen aus der Strafhaft entfliehenden Verbrecher rechtswidrig, wenn dieser nur (79)

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2. Abschnitt. Die Tat

noch eine kurze Reststrafe hätte verbüßen müssen (Blei JZ 1955 631). Gegen eine Menschenmenge ist der Einsatz von Schußwaffen durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip stark beschränkt; er ist nur zulässig, wenn von ihr oder aus ihr heraus Gewalttaten begangen werden oder unmittelbar bevorstehen und Zwangsmaßnahmen gegen einzelne nicht zum Ziele führen oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen (§ 10 Abs. 2 UZwG, § 15 Abs. 2 UZwGBw, vgl. auch § 43 ME PolG; Nachw. entsprechenden Landesrechts bei Krüger aaO S. 65). Bei einer derartigen Sachlage ist auch die wahrscheinliche Gefährdung erkennbar Unbeteiligter gedeckt, falls sie sich beim Einschreiten gegen die Menschenmenge nicht vermeiden läßt (§ 12 Abs. 2 S. 2 UZwG, § 16 Abs. 2 S. 2 UZwGBw; Nachw. entsprechenden Landesrechts bei Krüger aaO S. 65 Fußn. 86). Gegen Personen, die sich dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter befinden, dürfen Schußwaffen nicht angewendet werden (§12 Abs. 3 UZwG, § 16 Abs. 3 UZwGBw, § 41 Abs. 3 ME PolG; Nachw. entsprechenden Landesrechts bei Krüger aaO S. 36 Fußn. 38). 153

Ziel des Schußwaffengebrauchs darf — ebenfalls eine gesetzliche Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips — nur die Herbeiführung der Angriffs- oder Fluchtunfähigkeit sein (§ 12 Abs. 2 S. 1 UZwG, § 16 Abs. 2 S. 1 UZwGBw, § 41 Abs. 2 S. 1 ME PolG; Nachw. entsprechenden Landesrechts bei Krüger Schußwaffengebrauch S. 34 Fußn. 31). Wenn sich bei der Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit die Angriffsunfähigkeit des Täters nicht anders herstellen läßt als durch einen Schuß, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, so ist auch dieser durch die speziellen Bestimmungen des hoheitlichen Waffengebrauchsrechts gedeckt (vgl. die ausdrückliche Regelung des sog. finalen Todesschusses in §41 Abs. 2 S. 2 ME PolG; wie hier Blei JZ 1955 631; Krey u. W. Meyer Z R P 1973 3 ff; siehe auch LG Stuttgart NJW 1964 63; abw. Jescheck AT 3 §35 I 3; Schmidhäuser StudB2 6/127; Maunz-Dürig-Herzog-Scholz Art. 2 Abs. 2 Anm. 18; Krüger aaO S.34; v. Münch JZ 1958 74, die auf die weitergehenden allgemeinen Notrechte abstellen wollen). Ziel kann hier allein die anders nicht zu bewerkstelligende Abwehr derart herausragender Gefahren sein, keinesfalls jedoch die Tötung um ihrer selbst willen. Demgegenüber scheiden als Rechtsgrundlage hoheitlichen Schußwaffengebrauchs die allgemeinen Notrechte grundsätzlich aus; eine auf sie gestützte Rechtfertigung kommt allenfalls dann in Betracht, wenn der Amtsträger sich selbst in einer persönlichen Notwehr- oder Notstandslage befindet (abw. ist die h. M. für Anwendbarkeit der allgemeinen Rechtfertigungsgründe; eingehend hierzu LKJO § 34 Rdn. 18 ff m. Nachw.). — Zur Rechtfertigung fahrlässiger Tötung bei sonst gerechtfertigtem Schußwaffeneinsatz Rdn. 154. Zur Frage der Strafbarkeit des Schußwaffengebrauchs der Volkspolizei gegenüber Flüchtlingen aus der D D R siehe Grünwald JZ 1966 633; Dichgans NJW 1966 2255; Niewerth NJW 1967 768; Roggemann Z R P 1976 246; Schroeder NJW 1969 81, JZ 1974 116; G. Schultz M D R 1976 636; Woesner ZRP 1976 248 sowie LG Stuttgart NJW 1964 63 (Fall Hanke). Vom positiven Recht der D D R ist zwar der Schußwaffengebrauch zum Zwecke der Festnahme von Flüchtlingen gedeckt, nicht aber der zum Zwecke der „Vernichtung" von Flüchtlingen; ein dahingehender Geheimbefehl wäre kein positiver Rechtssatz und deshalb auch nach dem Recht der D D R kein Rechtfertigungsgrund (vgl. Dreher-Tröndle41 § 3 Rdn. 12; Jescheck AT3 § 20 III; WelzelU § 6 III 2). Überdies liefe ein solcher Befehl dem Art. 12 Abs. 2 des UNO-Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 16. 12. 1966 (BGBl. 1973 II S. 1534), dem auch die D D R beigetreten ist (dazu Woesner ZRP 1976 250), zuwider (OLG Braun(80)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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schweig G A 1977 310). Es heißt in der Bestimmung, daß es jedermann freistehe, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen. Steht der konkrete Schußwaffengebrauch ex ante in Einklang mit dem Verhält- 154 nismäßigkeitsprinzip, sind in seinem Gefolge etwa eintretende ungewollte (wenn auch fahrlässige) schwerere Beeinträchtigungen ebenfalls gerechtfertigt (vgl. Rdn. 49). So kann unter dieser Voraussetzung auch die Tötung eines fliehenden Häftlings, wenn sie nicht auf Vorsatz, sondern lediglich auf Fahrlässigkeit beruht, gerechtfertigt sein (RGSt. 72 305, 310; BayVerfGH DÖV 1968 283; LG Bielefeld M D R 1970 74 [dazu Rotthaus M D R 1970 4]; Jescheck AT3 § 35 I 3; Niese Finalität [1951] 45 f; Schmidhäuser AT2 9 / 4 5 ; Welzein § 14 VI 3; vgl. auch Art. 2 Abs. 2 b M R K ; unzutreffend O L G Frankfurt N J W 1950 119). Generell zur Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit allgemeine Notrechte als Rechtsgrundlage bei der Ausübung hoheitlicher Gewalt in Betracht kommen, siehe LK10 § 34 Rdn. 6 ff mit näheren Angaben zum Meinungsstand. c) Gerechtfertigtes Handeln „pro magistratu": Einige Zwangsbefugnisse der öffentlichen Gewalt können aufgrund gesetzlicher Delegation auch von Privatpersonen wahrgenommen werden und stellen für den Ausübenden einen Rechtfertigungsgrund dar. Schrifttum Borchert Die vorläufige Festnahme nach § 127 StPO, JA 1982 338; Fincke Darf sich eine Privatperson bei der Festnahme nach § 127 StPO irren? GA 1971 41 ; ders. Das Risiko des privaten Festnehmers — OLG Hamm NJW 1972 1826, JuS 1973 87; Karamuntzos Die vorläufige Festnahme bei Flagrantdelikten (1954); Meincke Betreffen oder Verfolgen auf frischer Tat als Voraussetzung der vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO, Diss. Hamburg 1963; Naucke Das Strafprozeßänderungsgesetz und die vorläufige Verhaftung (§ 127 StPO), NJW 1968 1225; Westerburg Die Polizeigewalt des Luftfahrzeugkommandanten (1961); Wiedenbrüg Nochmals: Das Risiko des privaten Festnehmers - OLG Hamm, NJW 1972, 1826, JuS 1973 418. aa) Das Recht zur vorläufigen Festnahme eines auf frischer Tat betroffenen oder 1 5 5 verfolgten Straftäters, wenn er fluchtverdächtig ist oder seine Persönlichkeit nicht sofort festgestellt werden kann, steht gemäß § 127 Abs. 1 StPO jedermann zu. Zweck des Festnahmerechts ist die Ermöglichung strafgerichtlicher Verfolgung, so daß der Staat hier dem Bürger eine öffentliche Funktion überträgt (vgl. RGSt. 17 127; Jescheck A T 3 § 3 5 IV 2; Löwe-Rosenberg-Dünnebier23 § 127 Rdn. 4). Tat ist jede rechtswidrige und schuldhafte Tat; ausnahmsweise ist die Schuldfähigkeit entbehrlich, wenn eine Unterbringung in Betracht kommt {Löwe-Rosenberg-Dünnebier21> §127 Rdn. 13; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 82). Für Ordnungswidrigkeiten gilt § 46 Abs. 2 O W i G mit der Beschränkung des Festnahmerechts auf Polizeibeamte. Eine Festnahme nur zur Verhütung künftiger strafbarer Handlungen wird durch § 127 StPO nicht gedeckt (BGH VRS 40 104; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 82). Während es bei der Festnahme durch Staatsanwaltschaft oder Polizeibeamte ge- 156 nügt, daß der Beamte aufgrund pflichtmäßiger Prüfung der Sachlage zur Bejahung der Festnahmevoraussetzungen gelangt, bedarf es zur Rechtfertigung festnehmender Privatpersonen, d a ß die Festnahmevoraussetzungen des § 127 Abs. 1 StPO objektiv gegeben sind (OLG H a m m N J W 1972 1826 m. Anm. Fincke JuS 1973 87; Jakobs 16/16; Jescheck AT3 § 3 5 I V 2; Maurach-Zipfì §29111; Schmidhäuser StudB2 6 / 1 0 0 ; Eb. Schmidt Nachtrag I § 127 StPO Rdn. 8; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 82; Wiedenbrüg JuS 1973 418; abw. BGH[Z] N J W 1981 745; Dreher(81)

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2. Abschnitt. Die Tat

Tröndle^l Rdn. 7; Fincke G A 1971 41 ff; Löwe-Rosenberg-Dünnebier23 §127 Rdn. 16; Boujong K K § 127 Rdn. 9 m. w. Nachw.). Für die Notwendigkeit der unterschiedlichen Behandlung spricht, daß die pflichtmäßige Ausübung des Ermessens, die beim Beamten mit Rücksicht auf seine rechtliche und sonstige fachliche Schulung sowie seine besondere straf- und disziplinarrechtliche Verantwortung vorauszusetzen ist, nicht von jedermann erwartet und deshalb nicht jedermann anvertraut werden kann. Die Stellung von Privatpersonen bei der Strafverfolgung wäre andernfalls erheblich überbewertet, während der Unschuldige nicht einmal mehr wagen dürfte, sich dagegen zu wehren ( Jescheck aaO). Gerade der Ausschluß des Notwehrrechts, der dem Bürger bei einer auf Irrtum beruhenden Festnahme durch Amtspersonen verständlich ist, wäre für ihn beim Irrtum einer festnehmenden Privatperson schwer erträglich. Im übrigen führt die Differenzierung der Rechtfertigungsanforderungen nicht zu einer sfra/rechtlichen Benachteiligung des irrenden privaten Festnehmers. War der Irrtum für ihn unvermeidbar, entfällt die Schuld, und selbst bei Vermeidbarkeit könnte er nach der herrschenden Irrtumslehre nur bei Existenz eines Fahrlässigkeitstatbestands (was bei Nötigung und Freiheitsberaubung nicht der Fall ist) bestraft werden. Siehe zu den Irrtumsfragen auch Fincke G A 197141. 157

Gerechtfertigt wird nur die Festnahme (§§ 240, 239). Eine körperliche Mißhandlung ist nur insoweit gedeckt, wie sie mit Festnahmen der Natur nach zwangsläufig verbunden ist (ζ. B. hartes Zupacken), dagegen scheiden weitergehende, gravierende Körperbeeinträchtigungen oder die Gefährdung des Lebens aus dem Rechtfertigungsgrund aus (RGSt. 34 443, 446; 65 392; 71 49, 52; 72 305; BayObLGSt. 15 151, 154 ; 26 21 ; 33 39 ; K G VRS 19 114). Das Recht zur vorläufigen Festnahme gibt deshalb keine Befugnis, auf einen Fliehenden angriffsweise zu schießen (RGSt. 7149 ; K G VRS 19 114; Peters Strafprozeß3 § 47 Β I 1; Roxin 18 § 3 1 A II 2 a; Eb. Schmidt StPO Nachtrag I § 127 Rdn. 25; Gössel Strafverfahrensrecht § 6 A II b ; grundsätzlich auch RGSt. 65 392; 72 305, wo allerdings offengelassen wird, ob dies auch bei schweren Verbrechen gilt). Dagegen wird neuerdings von der Praxis angenommen, daß Schüsse auf den fliehenden Täter bei besonders schwerer Rechtsgutsverletzung (BGH 1 StR 749/78 bei Holtz M D R 1979 985; Boujong K K § 127 Rdn. 28; Kleinknecht-Meyerlf) § 127 Rdn. 16; früher auch vereinzelt K G GA 69 [1921] 288) oder jedenfalls nach beendetem Mord (Löwe-Rosenberg-Dünnebier23 § 127 Rdn. 41) als durch das Festnahmerecht gedeckt angesehen. Diese Auffassung erscheint jedoch sehr fragwürdig, da von ihr rechtsstaatliche Grenzen, die das R G jahrzehntelang eingehalten hat, kurzerhand eingerissen werden. Sie unterläuft die bei Privatleuten zu beachtenden Voraussetzungen von § 32 und bei Dauergefahr von § 34. Zu wie gefährlichen Weiterungen diese Praxis führen kann, wird bereits in der vorgenannten Entscheidung des BGH deutlich, wo sogar in einem Diebstahl eine den privaten Schußwaffengebrauch nach § 127 Abs. 1 StPO rechtfertigende schwere Rechtsgutsverletzung gesehen wird. Siehe zum besonderen Schußwaffengebrauchsrecht von Vollzugsbeamten noch Rdn. 150 ff. Drohung mit Schießen (RGSt. 12 194; 65 392) und ein Warnschuß sind bei § 127 StPO erlaubt. Soweit mit der Festnahme verbundene zusätzliche Beeinträchtigungen des Festzunehmenden durch § 127 StPO gedeckt sind, müssen sie zu dem mit der Festnahme verfolgten Zweck im Verhältnis stehen (RGSt. 65 392, 394). Leistet der Festzunehmende aktiven Widerstand, wird der Festnehmende berechtigt, in Notwehr die erforderliche Verteidigungshandlung zu wählen. An Stelle der Festnahme ist als leichteres Mittel die Wegnahme von Sachen (ζ. B. Zündschlüssel: O L G Saarbrücken N J W 1959 1190), Beweisstücken (vgl. (82)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

RGSt. 8 288; RGZ 64 385; KG DJZ 1928 741 ; WelzelU § 14 VI 3) oder des Personalausweises (Jescheck AT3 § 35 IV 2) von § 127 StPO umfaßt. bb) Selbsthilfe ist zulässig, wenn ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, 158 daß die Verwirklichung eines zivilrechtlichen Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte und obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist (§§ 229—231 BGB). Zu befürchtende Schwierigkeiten bei der prozessualen Durchsetzung des Anspruchs (z. B. Beweisschwierigkeiten) genügen dagegen nicht (BGHSt. 17 328); zulässig aber ist Selbsthilfe zur Verhinderung drohender Beweismittelvernichtung (vgl. Jakobs 16/21). Beauftragt der Anspruchsberechtigte einen Dritten mit der Ausübung, ist auch dieser gerechtfertigt (Schmidhäuser StudB2 6/99; Welzein § 14 VI 1). Als zulässige Mittel der Selbsthilfe nennt das Gesetz: Wegnahme, Zerstörung oder Beschädigung einer Sache, Festnahme eines fluchtverdächtigen Verpflichteten und die Beseitigung des Widerstandes gegen eine Handlung, die der Verpflichtete zu dulden hat. Hinsichtlich mit der Festnahme verbundener weitergehender Beeinträchtigungen siehe die entsprechende Problematik bei § 127 StPO (oben Rdn. 157), wobei jedoch die Grenzen in § 229 BGB eher noch enger zu ziehen sind. Über ein eventuell notwendiges hartes Zupacken u. dgl. beim Ergreifen hinausgehende Körperbeeinträchtigungen sind von der Vorschrift nicht umfaßt. Auch darf ein Schuldner, der ins Ausland flüchten will, zwar festgenommen, sein Leben dabei aber nicht gefährdet werden (RGSt. 69 308). Betrifft die Selbsthilfe den Fall der Beseitigung des Widerstands gegen eine Handlung, die der Verpflichtete zu dulden hat, so bestimmen sich die Grenzen durch §§ 892, 758 Abs. 3, 759 ZPO. Allgemein darf die Selbsthilfe nicht weiter gehen, als zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist (§ 230 BGB). Im Falle der Wegnahme von Sachen ist zu beachten: Geht es nicht um die Wiederherstellung verletzten Rechts (weil der Täter ein Recht zum Besitz hat, z. B. wenn der Eigentümer dem Dieb die gestohlene Sache wegnimmt), so darf die Wegnahme nur zur Sicherstellung erfolgen (vgl. § 230 Abs. 2 BGB; auch BGHSt. 17 87 u. 328). Deshalb wird durch § 229 BGB auch bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen nicht gedeckt, daß der Gläubiger sich den geschuldeten Geldbetrag von vornherein zueignet (BGHSt. 17 87). Im übrigen ist bei § 229 BGB in besonderem Maße dem Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs Rechnung zu tragen (RGSt. 69 308; Jescheck AT3 § 35 IV 1; Maurach-Zip/6 § 29 II 2; Stratenwerthl Rdn. 483; Wekeln § 14 VI 1). Setzt sich der Schuldner gegen zulässige Selbsthilfe aktiv zur Wehr, so liegt darin ein rechtswidriger Angriff, gegen den sich der Selbsthilfeberechtigte in vollem Umfang des Notwehrrechts verteidigen darf. Hinsichtlich des Irrtums über das Bestehen eines Selbsthilferechts gelten die allgemeinen Grundsätze (siehe Schweder LK10 § 16 Rdn. 36 ff). Nicht überzeugend soll nach BGHSt. 17 328 bei der Nötigung der verschuldete Irrtum über den rechtlichen Umfang des Selbsthilferechts bereits die Rechtswidrigkeit entfallen lassen (kritisch dazu Hirsch JZ 1963 149 [vermeidbarer Irrtum über die Rechtswidrigkeit]). Besonders geregelte Fälle der Selbsthilfe sind: Besitzkehr (§ 859 Abs. 2—4 BGB), Vermieterselbsthilfe (§ 561 BGB), Selbsthilferechte nach §§ 581 Abs. 2, 704, 860, 910, 962, 1029 BGB; bei diesen wird die Unmöglichkeit rechtzeitiger obrigkeitlicher Hilfe nicht vorausgesetzt. Weitere Selbsthilferechte gibt es im Jagdrecht (näher MaurachSchroeder 16 § 39 II 1 e ). cc) Zu den delegierten Amtsrechten gehören auch die Bordgewalt des Schiffska- 159 pitäns (§ 106 SeemannsG) und des Luftfahrzeugkommandanten (zu letzterer siehe Westerburg Polizeigewalt des Luftfahrzeugkommandanten S. 50 ff, ferner das Abkommen von Tokio über strafbare und andere Handlungen, die sich an Bord von (83)

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2. Abschnitt. Die Tat

Luftfahrzeugen ereignen, vom 14. 9. 1963, Art. 5 - 1 0 , BGBl. 1969 II S. 121) sowie die Rechte des Strandvogts bei Seenot (§ 9 Abs. 2 StrandungsO, RGBl. 1874 S. 73). 8. Behördliche Erlaubnis (Genehmigung) 160 Ein tatbestandsmäßiges Verhalten kann aufgrund behördlicher Erlaubnis (vorheriger behördlicher „Genehmigung") gerechtfertigt sein, wenn die erteilende Behörde zuständig ist und sich die Gestattung im Rahmen ihrer Befugnisse hält (RGSt. 1 88, 73 67; Dreher-Tröndle41 Rdn. 5; Jescheck AT3 § 33 VI 1). Zu beachten ist jedoch, daß einer behördlichen Erlaubnis schon tatbestandsausschließende Wirkung zukommen kann, nämlich wenn sie lediglich die Kontrolle von Gefahren gewährleisten soll, die aus bestimmten sozial normalen Handlungen möglicherweise für die Allgemeinheit entstehen, d. h. der Tatbestand entscheidend an den in der Nichteinholung der Erlaubnis enthaltenen Ungehorsam anknüpft (Jescheck AT 3 §33 VI 2; Sch.-Schröder-Lenckner21 Rdn. 62). Die Tatbestandsmäßigkeit entfällt ζ. B. bei § 21 StVG und § 5 HeilpraktikerG. Die Funktion eines Rechtfertigungsgrundes hat die behördliche Erlaubnis dagegen, falls das Verhalten, das Gegenstand der Erlaubnis ist, bereits für sich allein einen Unwertgehalt aufweist, so daß die Erteilung einen Verzicht auf die konkrete Befolgung der Verbotsnorm darstellt (abw. jedoch Ostendorf JZ 1981 174 f [bei wirksamer Einwilligung stets schon keine Tatbestandsmäßigkeit]). So liegt es bei §§ 98, 99 (Dreher-Tröndle41 Rdn. 5; Jakobs 16/28) und §§ 284 f (Jakobs 16/29; Jescheck AT3 § 33 VI 1 u. 3; Maurach-Schroeder 16 §49 II A 3; Schmidhäuser StudB2 6/122; Sch.-Schröder-Lenckner2i Rdn. 63; Welzel 11 § 57 I 3 c; anders aber Dreher-Tröndle41 Rdn. 5). Anfechtbarkeit berührt die rechtfertigende Wirkung der Erlaubnis nicht. Sie entfällt jedoch bei Nichtigkeit sowie für die Zukunft bei Aufhebung (näher dazu Horn NJW 1981 1 ff, 3 m. Nachw.; zur Strafbarkeit des die fehlerhafte Erlaubnis Erteilenden siehe Horn aaO; Rudolphi Dünnebier-Festschr. S. 561 ff; Geisler NJW 1982 11 ff). Eine unter Auflagen erteilte Erlaubnis entfaltet ihre rechtfertigende Kraft nur dann, wenn die Auflagen erfüllt sind (BGHSt. 8 289). Näher zur behördlichen Erlaubnis: Samson SK4 Rdn. 57 ff; Goldmann Die behördliche Genehmigung als Rechtfertigungsgrund, Diss. Freiburg 1967. 9. Dienstliche Anordnung und militärischer Befehl Schrifttum v. Ammon Der bindende rechtswidrige Befehl, StrafrAbh. 217 (1926); H. Arndt Die strafrechtliche Bedeutung des militärischen Befehls, N Z W e h r R 1960 145; Battenberg Das auf Befehl begangene Verbrechen, StrafrAbh. 189 (1916); Baumann Rechtmäßigkeit von Mordgeboten? N J W 1964 1398; Bringewat Der rechtswidrige Befehl, N Z W e h r R 1971 126; v. Calker Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für auf Befehl begangene Handlungen (1891); Dolaptschieff Sind rechtswidrige bindende Befehle möglich? ZStW 58 (1939) 238; Dreher Das Wehrstrafgesetz, JZ 1957 393; Grünwald Ist der Schußwaffengebrauch an der Zonengrenze strafbar? JZ 1966 633; Jescheck Verantwortung und Gehorsam im Bereich der Polizei, Polizeibl. BadenWiirtt. 1964 97; ders. Befehl und Gehorsam in der Bundeswehr, in: Bundeswehr und Recht (1965) S. 63; H. Mayer Der bindende Befehl im Strafrecht, Frank-Festgabe I (1930) S. 598; M.E. Mayer Der rechtswidrige Befehl des Vorgesetzten, Laband-Festschr. (1908) S. 119; Mettmann Der rechtswidrige verbindliche militärische Befehl nach dem Soldatengesetz i. d. F. vom 2 2 . 4 . 6 9 , Diss. Hamburg 1972; Oehler Handeln auf Befehl, JuS 1963 301; Rostek Der rechtlich unverbindliche Befehl (1971); Roxin Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate, GA 1963 193; Schirmer Befehl und Gehorsam (1965); Schnorr Handeln auf Befehl, JuS 1963 293; Scholz Zur Verbindlichkeit des Befehls und zum Irrtum über die Verbindlich-

st)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

keit (§ 22 WStG), Dreher-Festschr. (1977) S. 479; J. Schreiber Unverbindliche Befehle - Versuch einer Systematik, NZWehrR 1965 1 ; Schwaiger Der Anwendungsbereich des § 5 WStG, NZWehrR 1961 64; Schwenck Die Gegenvorstellung im System von Befehl und Gehorsam — ein Beitrag zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Untergebenen, Dreher-Festschr. (1977) S. 495; Schwinge Befehl und Gehorsam, ZAkDR 1938 147; Stratenwerth Verantwortung und Gehorsam. Zur strafrechtlichen Wertung hoheitlich gebotenen Handelns (1958); Wacke Das Bundesgesetz über den unmittelbaren Zwang, JZ 1962 137; v. Weber Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Handeln auf Befehl, MDR 1948 34; Wegener Befehle Vorgesetzter, eine Übertretung im Sinne des § 1 Abs. 3 StGB zu begehen, NZWehrR 1959 132.

a) Die einen Straftatbestand erfüllende Ausführung einer dienstlichen Anord- 161 nung oder eines militärischen Befehls ist gerechtfertigt, wenn Weisung oder Befehl rechtmäßig waren (Dreher-Tröndle41 Rdn. 8; Jescheck AT3 § 35 II 4; MaurachZipf6 §29 12; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 88; allg. Auff.). Weisungsbefugnis des Vorgesetzten und Gehorsamspflicht des Untergebenen sind Voraussetzungen der staatlichen Ordnung und als solche gesetzlich bestimmt; für Beamte in § 55 S. 2 BBG, § 37 S. 2 BRRG, § 7 Abs. 1 S. 1 UZwG sowie im Landesrecht; für Soldaten in §11 Abs. 1 S. 1 SoldG. Jedoch ist der „blinde Gehorsam" früherer Zeiten ausgeschlossen (zu ihm OGHSt. 1 310; KG HESt. 1 85; OLG Frankfurt SJZ 1947 621). Im Unterschied zur Rechtfertigung aufgrund eigenen Amtsrechts (vgl. Rdn. 142 ff) handelt es sich bei der aufgrund dienstlicher Anordnung oder militärischen Befehls bestehenden Rechtfertigung nicht um eine originäre Befugnis, sondern um eine von der Kompetenz des befehlenden Vorgesetzten abgeleitete. Allerdings werden sich die beiden Rechtfertigungsgründe nicht immer klar trennen lassen ; in solchem Fall greifen beide nebeneinander ein. Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit des Befehls (oder einer sonstigen dienstlichen Weisung): aa) Formelle Zuständigkeit des Befehlenden und des ausführenden Untergebe- 162 nen sowie Einhaltung der vorgeschriebenen Form. bb) Es muß eine von der Rechtsordnung gedeckte Befugnis des befehlenden Vor- 163 gesetzten vorliegen, die einen Straftatbestand erfüllende Handlung anzuordnen. Gesetzliche Anordnungsbefugnisse können z. B. Festnahmen, Haft, Haussuchungen oder sonstige Verletzungen des Hausrechts, Beschädigung, Zerstörung oder Entziehung von Sachen betreffen (vgl. die Gesetzeshinweise Rdn. 148 f)· Auch können etwa in Fällen rechtfertigenden Notstands oder zulässiger Notwehr (Nothilfe) tatbestandsmäßige Rettungs- bzw. Verteidigungshandlungen Gegenstand eines rechtmäßigen Befehls sein (so daß hier beim ausführenden Untergebenen zwei Rechtfertigungsgrundlagen zu beachten sind, was im Irrtumsfall bedeutsam werden kann). Die §§ 11 Abs. 2 SoldG, 7 Abs. 2 UZwG, wonach der auf eine Straftat gerichtete Befehl nicht befolgt werden darf, betreffen erst diejenigen Fälle, in denen eine rechtswirksame Befugnis zur Anordnung einer tatbestandsmäßigen Handlung fehlt und der Befehl somit rechtswidrig ist. Im übrigen ist allgemein für die Gültigkeit des Befehls zu beachten, daß er zu dienstlichen Zwecken erteilt sein muß und nicht die Menschenwürde verletzen darf (§ 11 Abs. 1 S. 2 SoldG; § 22 Abs. 1 WStG; § 7 Abs. 1 S. 2 UZwG; § 38 Abs. 2 S. 2 BRRG; § 56 Abs. 2 S. 3 BBG; vgl. auch BGHSt. 2 234, 237; RGSt. 59 330; KG HESt. 1 85; OLG Frankfurt SJZ 1947 621). Auch steht der Rechtmäßigkeit entgegen, wenn der Befehl gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstößt (Art. 25 GG). cc) Der Befehl muß durch die Umstände geboten sein. Steht er im Ermessen des 164 befehlenden Vorgesetzten, muß dieser innerhalb der Grenzen seines pflichtmäßigen (85)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

Ermessens handeln. Es genügt für die Rechtmäßigkeit des Befehls, daß der Befehlende trotz pflichtmäßiger Prüfung der Sachlage zu der objektiv unrichtigen Annahme gelangt, die sachlichen Voraussetzungen des Vorgehens seien gegeben (RGSt. 38 373; Jescheck AT3 §35 114; Kohlrausch-Lange43 §113 Anm. III 3 a; Maurach-Zipf6 §29 11; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 88; vgl. auch oben Rdn. 146). Etwas anderes gilt jedoch, wenn der Ausführende den Irrtum des Vorgesetzten erkennt und weiß, daß dieser bei Kenntnis der wahren Sachlage die Weisung nicht erteilt haben würde; trotz Rechtmäßigkeit der Weisung ist die Ausführungshandlung dann rechtswidrig (BGHSt. 19 231 [unterbliebene Gegenvorstellung eines Soldaten]; Jescheck AT3 §35 114; Maurach-Zipf6 §29 12; Sch.-SchröderLenckner2\ Rdn. 88; Schölz2 WStG § 2 Rdn. 17; a. A. für den militärischen Befehl Arndt Wehrstrafrecht S. 70). Über die Pflicht zur Gegenvorstellung im militärischen Bereich und die strafrechtliche Haftung des Untergebenen bei Unterbleiben siehe BGHSt. 19 231; RGSt. 59 404; OLG Celle NZWehrR 1962 77; Schwenck DreherFestschr. S. 495 ff ; zur Gegenvorstellungspflicht des Vollzugsbeamten siehe § 7 Abs. 3 UZwG; zur weitergehenden Pflicht sonstiger Beamter (schon Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit genügend) siehe § 56 Abs. 2 BBG. 165

b) Rechtswidriger Befehl (entsprechend eine sonstige rechtswidrige Weisung). Betrifft der rechtswidrige Befehl die Begehung einer Straftat, bleibt die Handlung des Untergebenen rechtswidrig, und es geht lediglich um die Schuldseite. Der Untergebene handelt nur schuldhaft, wenn er erkennt oder es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, daß durch die Befehlsausführung eine rechtswidrige Straftat begangen wird (§ 5 Abs. 1 WStG, § 11 Abs. 2 SoldG, § 7 Abs. 2 UZwG). Ist die Schuld des Untergebenen mit Rücksicht auf die besondere Lage, in der er sich bei der Ausführung des Befehls befand, gering, besteht nach § 5 Abs. 2 WStG die Möglichkeit der Strafmilderung; handelt es sich um Vergehen, kann auch von Strafe abgesehen werden. Betrifft der rechtswidrige Befehl nicht die Begehung einer Straftat, sondern einer Ordnungswidrigkeit, bleibt diese für den Ausführenden stets sanktionslos (arg. aus § 5 Abs. 1 WStG, § 11 Abs. 2 SoldG, § 7 Abs. 2 S. 1 UZwG). Das galt bis zum 2. StRG auch für die ehemalige Straftatkategorie der Übertretungen. Handelt es sich um einen trotz seiner Rechtswidrigkeit verbindlichen Befehl, ist die von einem Soldaten oder zivilen Vollzugsbeamten (für sonstige Beamte gilt § 56 Abs. 2 BBG) begangene Ordnungswidrigkeit bereits gerechtfertigt (Jakobs 16/13 f; Jescheck AT3 § 35 II 3; Schmidhäuser StudB2 6/101; Scholz! WStG § 2 Rdn. 18b; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 88 a ; Stratenwerth Verantwortung und Gehorsam S. 168, 181; Schwenck Wehrstrafrecht S. 92; Wessels AT 13 § 10 VII 5). Dagegen nimmt die herkömmliche Auffassung an, daß die Ordnungswidrigkeit immer rechtswidrig bleibe und die Sanktionslosigkeit sich erst aus dem Entfallen der Schuld ergebe (Arndt Wehrstrafrecht2 S. 101; Baumanni §21 II 8 a; Blei AT 18 § 42 II 2; Dreher-Tröndle41 Rdn. 8; Maurach-Zipß § 29 I 2; Oehler JuS 1963 301 ; Spendei LK10 § 32 Rdn. 90, 100 f; v. Weber MDR 1948 37; WelzelU § 15 II 2 c; so auch noch Hirsch LK9 Vor § 51 Rdn. 153). Ist jedoch ein Befehl zwar rechtswidrig aber verbindlich, so ergibt sich Rechtfertigung, da sonst der Widerspruch entstünde, daß die Rechtsordnung einerseits den Untergebenen verpflichtete, in solchem Fall den Befehl zu befolgen, ihm das andererseits gleichzeitig untersagte. Verbindlichkeit liegt bei rechtswidrigen Befehlen vor, wenn sie sich lediglich auf die Begehung einer Ordnungswidrigkeit richten und die übrigen Wirksamkeitsvoraussetzungen der Befehlserteilung eingehalten sind, wie sich aus § 22 Abs. 1 WStG, § 11 Abs. 2 SoldG sowie § 7 Abs. 2 UZwG ergibt (abw. schon gegen Verbindlichkeit (86)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

aber BaumannZ § 22 II 8 a; Spendei LK10 § 32 Rdn. 101 f; auch noch LK.9 aaO, was aber der heutigen Rechtslage zuwiderläuft). Infolgedessen löst das Gesetz hier die Kollision zwischen Befehl und ordnungsrechtlichem Verbot im Sinne der Rechtfertigung des Untergebenen (siehe insbesondere Jescheck AT3 § 35 II 3). Die Befürchtung der erst die Schuld verneinenden Gegenmeinung, daß durch die Bejahung der Rechtfertigung dem Funktionieren von Befehlsapparaten ein unerträglicher Vorrang vor den Schutzinteressen der durch die Befehlsausführung betroffenen Einzelpersonen eingeräumt würde (vgl. noch LK.9 aaO), hat bereits durch die Beseitigung der Übertretungskategorie, insbesondere des früheren § 370 Nr. 5, an Gewicht verloren. Darüber hinaus entfallen sie jetzt ganz, sobald man die Auffassung, die eine Rechtfertigung bejaht, auf den ihr zukommenden Umfang hin genauer eingrenzt (vgl. auch Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 90). Es ist nämlich zu beachten — was bereits in BGHSt. 19 231, 232 anklingt —, daß eine befohlene Ordnungswidrigkeit vielfach gleichzeitig eine sorgfaltswidrige Handlung in bezug auf konkrete Güter von Einzelpersonen darstellt, auch wenn der Erfolg nicht eintritt (zum Handlungsunrecht des fahrlässigen Delikts vgl. LK.10 §230 Rdn. 5 ff m. Nachw.). Da die Verbindlichkeit eines Befehls und die Rechtfertigung durch ihn sich aber immer auf das Handeln bezieht und nicht vom Erfolgseintritt abhängig ist — denn es geht dabei um rechtliche Verhaltensanweisungen —, bleiben notwendigerweise alle ordnungswidrigen Handlungen außer Betracht, die gleichzeitig das Handlungsunrecht eines Fahrlässigkeitsstraftatbestands erfüllen. Der rechtswidrige Befehl richtet sich hier schon auf das Handlungsunrecht einer Straftat, so daß er nicht verbindlich ist und nur die Schuldregelung von § 5 Abs. 1 WStG eingreift. Die Rechtfertigung hat bei befohlenen Ordnungswidrigkeiten also lediglich Bedeutung, wenn nicht über das bloße Zuwiderhandeln gegen die abstrakte Gefährdungsvorschrift hinaus ein das Sorgfaltswidrigkeitserfordernis eines Fahrlässigkeitsstraftatbestands erfüllender Sorgfaltsverstoß vorliegt oder wenn der Sorgfaltsverstoß sich auf ein nicht strafrechtlich gegen Fahrlässigkeit geschütztes Rechtsgut bezieht. Infolgedessen hindert die Rechtfertigungslösung nicht, daß gegen Personen, die aufgrund eines rechtswidrigen Befehls sorgfaltswidrig Leib oder Leben anderer Personen konkret bedrohen, Notwehr in Betracht kommt, da die Sorgfaltswidrigkeit rechtswidrig ist. Soweit es sich dagegen um bloße Zuwiderhandlungen oder um einen Sorgfaltsverstoß, für den kein Fahrlässigkeitsstraftatbestand besteht, handelt, ist es sozial tragbar, daß hier Verbindlichkeit des Befehls und damit Rechtfertigung platzgreifen. Im übrigen ist auch beim verbindlichen Befehl zu beachten, daß der Befehlende mittelbarer Täter (mit rechtmäßig handelndem Werkzeug) sein kann, so daß bei Erfülltsein dieser Täterschaftsfigur und Vorliegen der Voraussetzungen des § 32 Notwehr ihm gegenüber möglich ist, denn sein Verhalten bleibt rechtswidrig (vgl. Jakobs 16/11 m. Fußn. 15, der die Vorauflage allerdings dahingehend mißdeutet, sie betrachte auch das Verhalten des Befehlenden als rechtmäßig). Andererseits macht dies die genannte Eingrenzung der Verbindlichkeit des Befehls nicht entbehrlich, da eine Abwehr der Handlung des Untergebenen im Regelfall nur diesem gegenüber realisierbar ist. 10. Rechtfertigung aufgrund Völkerrechtsnorm. Diese Rechtfertigungsmöglich- 166 keit wird insbesondere bei kriegerischen Auseinandersetzungen bedeutsam (näher hierzu Maurach-Schroeder 16 § 2 II C 2 m. Nachw.), aber auch innerhalb des völkerrechtlichen Repressalienrechts, wobei zu beobachten ist, daß der wichtigste Fall der Repressalie, die Tötung von Geiseln, durch Art. 33 Abs. 1, 3 des IV. Genfer Abkommens zum Schutz der Zivilbevölkerung vom 12. 8. 1949 (BGBl. 1954 II S. 781, 917) untersagt wird (dazu näher Jähnke LK10 § 212 Rdn. 16 ff). (87)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

167

11. Wahrnehmung berechtigter Interessen kommt gemäß § 193 als spezieller Rechtfertigungsgrund bei Beleidigung in Betracht (näher Herdegen LK9 § 193). Der Anwendungsbereich des Rechtfertigungsgrundes geht auf der Grundlage der herrschenden weiten Auslegung des Tatbestands der üblen Nachrede erheblich über den des rechtfertigenden Notstands hinaus. Die Vorschrift dient vielfach dazu, um auf der Rechtfertigungsebene einen Ausgleich für den zu weit gezogenen Tatbestandsumfang zu schaffen (vgl. Hirsch Ehre und Beleidigung [1967] S. 200 ff). Der Rechtfertigungsgrund läßt sich deshalb nicht auf andere Straftatbestände ausdehnen (anders Eser Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund [1969]). — Einen besonderen Rechtfertigungsgrund enthält nach h. M. § 37 (Indemnität) für wahrheitsgetreue Berichte über öffentliche Sitzungen der in § 36 bezeichneten Körperschaften oder ihrer Ausschüsse (OLG Braunschweig NJW 1953 517; zum Streitstand Tröndle LK10 § 37 Rdn. 2 m. w. Nachw.).

168

12. Rechtfertigung aufgrund besonderen beruflichen Vertrauensverhältnisses. Hinsichtlich des Tatbestands der Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138) bestimmt das Gesetz, daß Geistliche (§ 139 Abs. 2) sowie Rechtsanwälte, Verteidiger und Ärzte (§ 139 Abs. 3 S. 2) nicht verpflichtet sind anzuzeigen, was ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft anvertraut worden ist. Wie die sachentsprechende Gesetzesfassung („nicht verpflichtet") zeigt, handelt es sich bereits um einen Rechtfertigungsgrund (Baumanni § 1 8 1 2 ; Dreher-Tröndle41 §139 Rdn. 7; Hanack LK10 §139 Rdn. 31; Jescheck AT3 § 5 2 1 1 2 ; Lackner\5 §139 Anm. 2; Rudolphi SK3 §139 Rdn. 10; dagegen erst für Strafausschließungsgrund Maurach-Schroeder 116 §96 I I I c ; WelzelH § 7 6 I 4 d ; schon für Tatbestandsausschluß, was im Hinblick auf den Gesamtcharakter der Vorschrift zu weitgehend ist, sind Bloy Strafausschließungsgründe S. 155; Kielwein GA 1955 231 ; Sch.-Schröder-Cramer21 § 139 Rdn. 3).

169

13. Zum Ziichtigungsrecht als Rechtfertigungsgrund siehe LK 10 § 223 Rdn. 21 ff.

III. Schuldausschluß Schrifttum Allgemein zur Schuld siehe das Verzeichnis bei Jescheck LK 10 Vor § 13 vor Rdn. 65; auch bei Hirsch LK9 Vor § 51 vor Rdn. 157. Speziell zum voluntativen Schuldelement unten vor Rdn. 181 und 200.

A. Grundsätzliches 1. Schuld als Deliktsmerkmal 170

a) Während das tatbestandsmäßige Unrecht den Bereich des rechtlichen Sollens betrifft, geht es bei der Schuld um die Frage der Verantwortlichkeit des Täters für die rechtswidrige Tat: das „Dafür-Können". Die Rechtsordnung vermag nicht schon daran, daß jemand sich tatbestandsmäßig-rechtswidrig verhalten hat, die Strafsanktion zu knüpfen. Diese setzt vielmehr voraus, daß dem Täter das Verhalten auch persönlich vorzuwerfen ist (vgl. BGHSt. [GrS] 2 194, 200; 10 259; BVerfGE 9 167, 169; 20 323, 331 ; 23 127, 132 f). Es gilt der Satz nulla poena sine culpa, der auch im Gesetz durch die besondere Erwähnung der Schuld in §§ 17 ff, 29, 35, 46 u. a. klar zum Ausdruck gelangt. Nach der vorgenannten Rspr. des BVerfG wird das Schuldprinzip als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips verfassungsrechtlich garantiert. Mate(88)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

riell wird seine Notwendigkeit häufig mit der Sozialethik begründet (siehe etwa Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 65; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor § 13 Rdn. 103). Um jedoch alles sittliche Pathos, das bei der Schuldfrage leicht einfließt, zurückzudrängen, sollte man sich auf eine mehr rechtliche Begründung beschränken. Diese liegt darin, daß es der Funktion der Strafe widerspräche, sie auch gegen denjenigen zu verhängen, den gar keine Verantwortlichkeit für die begangene Tat trifft. Nur dort, wo es um Sicherungsmaßregeln geht, ist — bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen — das Schulderfordernis entbehrlich, aber dann handelt es sich eben auch nicht um Strafe. Der Inhalt des Schuldbegriffs besteht darin, daß dem Täter zum Vorwurf gemacht wird, sich tatbestandsmäßig-rechtswidrig verhalten zu haben, obwohl er bei Begehung der Tat die Möglichkeit gehabt hat, sich anders, nämlich zum rechtlich Gesollten zu bestimmen (vgl. BGHSt. 2 194, 200; im einzelnen unten Rdn. 175 ff). Beim Deliktsmerkmal Schuld geht es um die dritte Wertungsstufe des Delikts, so daß Schuld dann vorliegt, wenn Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und die spezifischen Erfordernisse der Schuldstufe gegeben sind. Es gibt keine deliktische Schuld ohne Unrecht. Wie das Unrecht ist auch die Schuld graduierbar; so reicht etwa die Skala der Schuldgrade beim intellektuellen Schuldelement vom Unrechtsbewußtsein bis hinunter zum leichten vermeidbaren Verbotsirrtum und hinauf bis zu gesteigerten Graden dieses Bewußtseins. Nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung soll der Inhalt der Schuld kriminalpolitisch von der Strafzwecklehre her geprägt sein, so daß auch Gesichtspunkte der General- und Spezialprävention auf sie Einfluß haben sollen; es gehe bei ihr nur noch um die Frage, ob das vom Standpunkt sozialer Konfliktsregelung falsche Handeln des Täters Strafe verdiene (Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem S. 33 ff; HenkelFestschr. S. 181 ff; Bockelmann-Festschr. S. 279 ff, ebenfalls für einen am Strafzweck orientierten Schuldbegriff Jakobs Schuld und Prävention S. 8 ff, 31 ff insbes.; AT 17/18 ff). Damit werden aber die Sachunterschiede von Schulderfordernissen, bloßen Strafausschließungsgesichtspunkten und Strafzumessungsfragen verwischt, zudem die Zweispurigkeit außer acht gelassen (wie hier Jescheck AT 3 § 39 II 2). Bei der Kritik, die gegenwärtig vielfach gegenüber dem „Schuldstrafrecht" erhoben wird, übersieht man leicht die begrenzende Funktion, die das Schulderfordernis im Strafrecht hat, sei es, daß niemand bestraft werden darf, dem kein Schuldvorwurf zu machen ist, sei es, daß die Strafe das Schuldangemessene nicht überschreiten darf. Es geht der Strafgesetzgebung auch nicht darum, daß dort, wo sittliches Verschulden vorliegt, bestraft werden soll, sondern den Orientierungspunkt für die Aufstellung der Strafbestimmungen bildet das gesellschaftliche Bedürfnis, bestimmte Handlungen wegen der Verletzung schutzbedürftiger Interessen anderer Rechtsgenossen und der Allgemeinheit zu untersagen. Die Schuld bildet dann nur ein auf den individuellen Täter bezogenes eingrenzendes Kriterium. Zur Frage der Willensfreiheit, die sich im Zusammenhang mit der Schuld erhebt, eingehend Jescheck LK 10 Vor § 13 Rdn. 66 f; Lange LK 10 § 21 Rdn. 5 ff m. Nachw. Zur Einordnung der Schuld als Einzeltatschuld siehe Jescheck LK10 Vor §13 Rdn. 68. b) Normativer Schuldbegriff. Indem die heute herrschende Auffassung in der 171 Schuld eine Wertungsstufe des Delikts sieht, bei der es darum geht, ob dem Täter das tatbestandsmäßig-rechtswidrige Verhalten vorgeworfen werden kann, vertritt sie den normativen Schuldbegriff (Schuld als Vorwerfbarkeit); vgl. für die h. M. etwa BGHSt. (GrS) 2 194, 200; Jescheck AT3 § 3 8 1 1 3 ; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor § 13 Rdn. 113; WelzelM § 19. Er ermöglicht, §35 und die anderen Unzumutbar(89)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

keitsfälle (Rdn. 191 ff) aus dem Schuldbegriff heraus zu erklären. Nach dem den Gegensatz bildenden psychologischen Schuldbegriff, für den die Schuld in der „psychischen Beziehung des Täters zur Tat in ihrer objektiven Bedeutung, im seelischen Spiegelbild von der Wirklichkeit" besteht (Beling Lehre vom Verbrechen [1906] S. 10), war dies dagegen nicht möglich. Die Schuld sollte sich nach der psychologischen Schuldlehre aus Vorsatz und Fahrlässigkeit als den beiden Formen der psychischen Beziehung des Täters zur Tat zusammensetzen. Dieser Schuldbegriff wurde im Laufe der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts, beginnend mit Franks Abhandlung „Über den Aufbau des Schuldbegriffs" (1907), überwunden, wobei der entschuldigende Notstand und damit der Unzumutbarkeitsbereich den Anstoß gaben (näher zur dogmengeschichtlichen Entwicklung WelzelU § 19 III). Jedoch verstand man den normativen Schuldbegriff zunächst in der Weise, daß man den psychologischen Schuldbegriff um die Unzumutbarkeitsfälle erweiterte. Unter dem Einfluß der personalen Unrechtslehre (Rdn. 172) hat sich dann aber zunehmend die Auffassung durchgesetzt, daß Tatbestandsvorsatz und objektive Fahrlässigkeit bereits Tatbestandserfordernisse sind. Dies hat keine Entleerung des dritten Deliktsmerkmals bewirkt, wie zeitweilig befürchtet worden ist. Vielmehr sind die Gesichtspunkte „Möglichkeit der Unrechtseinsicht" und „Möglichkeit, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu verhalten" (näher Rdn. 175 ff), für sich allein von solchem materiellen Gehalt, daß von einer Entleerung keine Rede sein kann. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß das Gesetz dort, wo es die Schuldfähigkeit regelt, allein auf diese beiden Gesichtspunkte abstellt (vgl. § 20 und im J G G den § 3 S. 1). Im übrigen ist immer zu bedenken, daß die Deliktsmerkmale nicht isoliert zu sehen sind, sondern jedes spätere die vorhergehenden zur Voraussetzung hat, weshalb sich damit, daß Merkmale bereits dem Unrecht zugeschlagen werden, an der Gesamtheit der Voraussetzungen, die für die Bejahung der Schuld gegeben sein müssen, nichts ändert. Auch berührt die Notwendigkeit, die Schuldfrage durch negative Gesichtspunkte, also die Prüfung von Schuldausschließungsgründen (vgl. § 20, § 17, § 25), zu bestimmen, nichts daran, daß es sich um ein positives Deliktsmerkmal handelt. Auf den sachlichen Inhalt des Schuldbegriffs ohne Einfluß ist auch die Aufgliederung der Schuldfragen auf verschiedene Titel des Gesetzes (siehe § 17 und § 20 einerseits und § 35 andererseits). Dies hat vielmehr nur gesetzestechnische Bedeutung (vgl. Rdn. 3, 181 f). Näher zum normativen Schuldbegriff Hirsch LK9 Vor § 51 Rdn. 171. 172

c) Schuld und personales Unrecht. Das Entfallen der Schuld läßt das Vorliegen einer mit Tatbestandsvorsatz oder objektiv fahrlässig begangenen Handlung unberührt. Nach dem heute in der Wissenschaft herrschenden personalen Unrechtsbegriff handelt es sich bei beiden Erfordernissen bereits um Gesichtspunkte der Tatbestandsmäßigkeit (Welzel 11 § 11 I, § 18; Gallas Bockelmann-Festschr. S. 155; Jescheck AT3 §24111; Stratenwerthi Rdn. 236 ff, 1084 ff; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor § 13 Rdn. 54 ff m. umfangreichen Nachw.; anders BaumannS § 16, § 26 I; Engisch DJT-Festschr. I S. 426 ff; Kohlrausch-Lange § 59 II 1; Spendet BockelmannFestschr. S. 251 f). Für diese genügt nicht die von der Täterperson inhaltlich abgelöste Erfolgsverursachung (Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert), sondern primär ist erforderlich, daß es sich um eine normwidrige Verhaltensweise des Täters handelt (Handlungsunwert); näher zum personalen Unrechtsbegriff: Welzel 11 § 11 II; Armin Kaufmann Welzel-Festschr. S. 393; Krauß ZStW 76 (1964) 19; Lampe Das personale Unrecht (1967); Stratenwerth SchwZStr. 79 (1963) 16; Hirsch ZStW 93 (1981) 831 ; 94 (1982) 239 (m. w. Nachw.). Diese Erkenntnis, die eine akademisch-abstrakte (90)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Sicht des Wesens verbotenen Handelns ablöst durch eine den steuernden Nonnadressaten einbeziehende Betrachtung, hat sich heute nicht nur in der Wissenschaft durchgesetzt, sondern hat auch in mehreren Regelungen des 2. StrRG ihren Niederschlag gefunden (insbesondere in §§ 17, 26, 27). Eine verbreitete Auffassung innerhalb der personalen Unrechtslehre will der Vorsatzfrage eine Doppelstellung einräumen : als subjektives Tatbestandselement und als Schuldelement des Vorsatzdelikts (vgl. Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 75 m. w. Nachw.). Genauer betrachtet geht es dabei darum, daß zwischen Vorsatz, nämlich dem auf die Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale gerichteten Willen, und spezifischer Schuld des vorsätzlichen Delikts (spezifische Vorsatzschuld) unterschieden wird (näher zu dieser Problematik Hirsch ZStW 94 [1982] 257 ff). Wo das Gesetz das Wort „Vorsatz" verwendet, geschieht dies unabhängig von der Schuldseite (vgl. namentlich §§ 26, 27). Ob auf der Schuldebene der Gesichtspunkt einer spezifischen Vorsatzschuld Bedeutung beansprucht, ist fraglich. Dagegen spricht, daß mit der auf der Tatbestandsebene erfolgenden Bejahung des Vorsatzes die Vorsatzfrage bereits voll erfaßt ist und deshalb auf der Schuldebene kein zusätzliches Deliktserfordernis mehr darstellt. Dies heißt nicht, daß er für die Vorwerfbarkeit ohne Bedeutung wäre; vielmehr gehört er wie alle übrigen (objektiven und subjektiven) Unrechtserfordernisse zu den Voraussetzungen, die zusammen mit den auf der Wertungsstufe der Schuld hinzutretenden Gesichtspunkten den Schuldvorwurf ergeben (vgl. Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale [1960] S. 244 f; Bockelmann AT3 § 12 III). Andererseits verdient die zwischen Vorsatz und Vorsatzschuld differenzierende Auffassung den Vorzug, sofern man bei der Frage der Einordnung des Falles der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts (Putativnotwehr u. dgl.) die eingeschränkte Schuldtheorie (BGHSt. 3 105; 194; 271; 14 52; 22 223; h. M.) zugrunde legt. Denn nicht haltbar ist der Gedanke, man könne aus dieser Irrtumslehre in Verbindung mit dem personalen Unrechtsbegriff die Folgerung ziehen, daß die Vorsatzfrage zwar ausschließlich in den subjektiven Tatbestand gehöre, aber hier auch die Fälle der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts mit umfasse (so jedoch Sc haffstein M DR 1951 199; das Unrecht der Vorsatztat verneinen auch Stratenwerth'i Rdn. 504; Sch.-Schröder-Cramer2\ § 15 Rdn. 26, § 16 Rdn. 13 ff m. w. Nachw.). Die Einbeziehung dieser Fälle in den Unrechtsbereich würde dazu führen, daß bei Putativnotwehr, -notstand u. dgl. schon das Unrecht der vorsätzlichen Tat entfiele. Die darin liegende Subjektivierung der Unrechtslehre hätte untragbare Konsequenzen hinsichtlich der Gegenrechte der Betroffenen (dazu näher Armin Kaufmann WelzelFestschr. S. 398; Hirsch ZStW 94 [1982] 259 ff). Jene Irrtumsfälle können erst für die Schuld bedeutsam sein. Geht man jedoch, wie es überzeugender erscheint, mit der strengen Schuldtheorie davon aus, daß die fraglichen Irrtumsfälle unter § 17 fallen, so bleibt für eine spezifische Vorsatzschuld kein Raum. — Indem Rspr. und Gesetzgeber die praktischen Ergebnisse der personalen Unrechtslehre weitgehend übernommen haben, hat diese Lehre, auch wenn eine ausdrückliche Bejahung ihrer theoretischen Gesamtkonzeption dabei nicht ausgesprochen worden ist (was ohnehin kaum zur Aufgabe der Gerichte gehört), der Sache nach ebenfalls in der Praxis starke Resonanz gefunden (vgl. die Angaben in LK9 Vor § 51 Rdn. 160). Der theoretische Streit um den Unrechtsbegriff hat sich inzwischen von der Frage, ob von einem personalen Unrechtsbegriff auszugehen oder am herkömmlichen kausalen (objektivistischen) festzuhalten ist, auf Probleme innerhalb der neuen Unrechtslehre verlagert. Es geht einmal darum, wie diese Auffassung theoretisch zu begründen ist (Frage der Ableitung aus dem Handlungsbegriff), vor allem aber um die Auseinandersetzung mit subjektivistischen Tendenzen in bezug auf die Unrechtsrelevanz des (91)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

Erfolges und die Voraussetzungen des Fahrlässigkeitsunrechts (im einzelnen zu diesen Fragen, insbesondere kritisch gegenüber den subjektivistischen Lösungen Hirsch ZStW 93 [1981] 844 ff; 94 [1982] 240 ff, 257 ff, 266 ff). 173

Auf die Schuldfragen wirkt sich der personale Unrechtsbegriff nicht nur in der Weise aus, daß nach der früheren Systematik erst als Schuldelemente oder -formen angesehene Deliktserfordernisse nun bereits für das Unrecht, und zwar die Tatbestandsmäßigkeit, konstituierende Bedeutung haben (Rdn. 172), sondern auch in dem Punkte, daß Entschuldigungsgründe mit einer Minderung des Handlungsunrechts verknüpft sein können (vgl. zum Verhältnis von personalem Unrecht und Schuld im Bereich des entschuldigenden Notstands Rdn. 183). Für die Rechtfertigungsebene bietet die personale Unrechtslehre die Erklärung für die Notwendigkeit subjektiver Rechtfertigungselemente (vgl. Rdn. 53). 2. Schuld und Tatverantwortung

174

Zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld setzt eine von Maurach entwickelte Lehre noch eine zusätzliche Wertungsstufe: die „Tatverantwortung" (vgl. Maurach Schuld und Verantwortung S. 36 ff; Maurach-Zipf6 § 14 II 4, § 31 II B, § 32; § 34; Deutsch Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt [1963] 251 f; Jagusch LK.8 §54 Anm. 1; Rehberg Zur Lehre vom „Erlaubten Risiko" [1962] S. 185; Rittler JurBl. 1955 634). Der Unterschied zur Schuld soll darin bestehen, daß diese einen persönlichen Vorwurf verlangt, während die „Tatverantwortung" sich mit der noch keinen Vorwurf bedeutenden Mißbilligung begnüge, daß der Täter in der konkreten Situation sich schlechter verhalten habe, als die anderen es getan hätten ; „Tatverantwortung" sei im Gegensatz zur Schuld bereits begründet durch den Abfall vom rechtlich präsumierten Können des Durchschnitts. Die „Tatverantwortung" wird demgemäß verneint, wenn dem Täter das Unrecht deshalb nicht zugerechnet werden kann, weil er seine Handlung unter Bedingungen begangen hat, die rechtmäßiges Handeln für jedermann, also auch den Täter, unzumutbar erscheinen lassen. Als „Gründe ausgeschlossener Tatverantwortung" führen Maurach-Zipf6 an : die Notwehrüberschreitung (§ 33), den entschuldigenden Notstand (§ 35) und das Handeln auf unerkennbar rechtswidrigen Befehl (§ 5 WStG); Maurach AT4 § 44 II A hatte außerdem noch das sogenannte erlaubte Risiko genannt. Die unmittelbare praktische Bedeutung für den Allgemeinen Teil soll vor allem darin liegen, daß mangelnde „Tatverantwortung" auch beim schuldunfähigen Täter die Anwendung von Sicherungsmaßregeln (§§ 63, 64, 69, 70) ausschließt. Strafrecht und Sicherungsrecht erhielten durch die „Tatverantwortung" ihre gemeinsame Grundlage: Trete zur „Tatverantwortung" (Regelfall) die Schuld hinzu, so werde die Tat des Verantwortlichen zum Verbrechen (crimen) und löse Strafe aus; komme (Ausnahmefall) zur „Tatverantwortung" des schuldunfähigen Täters dessen Gefährlichkeit hinzu, so bedinge dies die Anwendung der dieser Kategorie vorbehaltenen Sicherungsmaßregeln (Maurach-Zipff» § 32 II 2). Außerdem soll ein Vorzug der Lehre darin liegen, daß auf dem Gebiet der Teilnahme eine Position möglich werde, die zwischen „limitierter" und „strenger" Akzessorietät steht (Maurach-Zipf6 § 32 II 3, § 33 III 5). Von der h. M. wird diese Lehre zutreffend abgelehnt (vgl. Bockelmann Strafr. Untersuchungen [1957] S. 85 Fußn. 123; Heinitz JR 1957 79; Jakobs 17/39 ff; Jescheck AT3 §39 V 2; Armin Kaufmann Unterlassungsdelikte [1959] S. 159 ff [siehe aber auch ZStW 80 45]; Maihofer Rittler-Festschr. S. 161 f; Roeder Sozialadäquates Risiko [1969] S. 98; Roxin Henkel-Festschr. S. 171, 179 f; Sauer AT3 § 19 I 5 Anm. 11; Schmidhäuser StudB2 8/10; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Vor § 13 Rdn. 20, Straten(92)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

werth3 Rdn. 512 f; Welzel^ §23). Denn die Tatsache, daß die Unzumutbarkeitsfälle nach einer „standardisierenden Methode" (Maurach-Zipf 6 § 33 I A 2) geregelt sind, läßt unberührt, daß es bei ihnen sachlich um die Schuld geht. Sie betreffen ebenso wie die Gesichtspunkte, die Maurach und Zipf bei der Schuld belassen (Schuldfähigkeit, Möglichkeit des Unrechtsbewußtseins), die Frage, ob der rechtswidrig handelnde Täter sich rechtgemäß motivieren konnte. Daß bei der Unzumutbarkeit dabei auf einen Durchschnittsmaßstab abgestellt wird, spricht nicht für, sondern zusätzlich gegen die Verselbständigung in einer der Schuld vorgelagerten Wertungsstufe. Während nämlich bei demjenigen, dem auch nach Maurach und Zipf erst die Schuld fehlt, in der Regel voller Schuldausschluß eintritt, geht es hier nur um eine stark verminderte, lediglich für das Erheben eines strafrechtlichen Vorwurfs nicht mehr ausreichende Schuld (vgl. unten Rdn. 181 ff). Es würde daher die Rangfolge der Wertungsstufen des Delikts verkehren, wenn man die — nicht selten unter dem Blickpunkt strafrechtlicher „Nachsicht" gedeuteten — Fälle der Unzumutbarkeit einer leichteren Wertungsstufe zuwiese als die Schuldunfähigkeit und den unvermeidbaren Verbotsirrtum. Im übrigen entspricht es einem logischen Postulat, daß die Möglichkeit der Unrechtseinsicht vor und nicht hinter der Frage, ob oder inwieweit dieser Einsicht gemäß gehandelt werden konnte, zu entscheiden ist. Außerdem erscheinen die praktischen Ergebnisse nicht überzeugend. Die Konsequenz, daß die Fälle mangelnder „Tatverantwortung" immer die Anwendung von Maßregeln ausschließen würden, ist kein Vorzug, sondern eher ein Nachteil der Tatverantwortungslehre. Wenn beim unzurechnungsfähigen Täter die Voraussetzungen des strafbefreienden Notwehrexzesses gegeben sind und der Affekt gerade auf der Geisteskrankheit beruht, kann die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus durchaus angezeigt sein ( Jescheck AT 3 § 39 V 2). Auch bedarf es, um eine gemeinsame Grundlage für Strafe und Sicherung zu haben, nicht eines Umbaus des Systems, da in der tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Handlung (oder Unterlassung) eine gemeinsame Basis gegeben ist (Sch.-Schröder-LencknerU Vor § 13 Rdn. 20). Zu den Konsequenzen der „Tatverantwortung" für die Teilnahmelehre siehe Jescheck aaO (auch zum Besonderen Teil) sowie den Wortlaut der §§ 26, 27. Nicht zuletzt ist mit der Eröffnung einer solchen zusätzlichen Rubrik die Gefahr verbunden, daß sie als Notasyl für Fragen benutzt wird, deren systematische Einordnung echte oder vermeintliche Schwierigkeiten bereitet. Das zeigte sich bereits, als Maurach und andere Anhänger der Tatverantwortungslehre hier auch die Fälle des erfolgsverursachenden sog. erlaubten Risikos einordnen wollten (dazu oben Rdn. 30 ff). Da § 35 für den entschuldigenden Notstand ausspricht, daß der Täter „ohne Schuld" handelt, dürfte sich zudem der Wortlaut dieser Vorschrift gegen ein zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld eingeschobenes Deliktsmerkmal „Tatverantwortung" anführen lassen.

3. Elemente des strafrechtlichen Schuldbegriffs a) Die Schuld zerfällt in zwei Elemente: die Möglichkeit der Unrechtseinsicht (in- 175 tellektuelles Schuldelement) und die Möglichkeit, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu verhalten (voluntatives Schuldelement), vgl. § 20. Ein tatbestandsmäßig-rechtswidriges Handeln (oder Unterlassen) ist demgemäß nicht schuldhaft, wenn ein unvermeidbarer Verbotsirrtum (Unrechtsirrtum) oder die Unmöglichkeit, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu motivieren, vorliegt, wobei in der letzteren Gruppe unter bestimmten Voraussetzungen schon die starke Herabsetzung der Möglichkeit rechtgemäßer Motivation (Fälle der Unzumutbarkeit) genügt, um einen strafrechtlichen (93)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

Schuldvorwurf zu verneinen (ζ. B. beim entschuldigenden Notstand). Fehlt es bereits an einer tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Handlung, taucht die Schuldfrage nicht mehr auf; deshalb ist insbesondere zu beachten, daß Fälle, in denen schon gar keine Handlung oder beim Unterlassen keine Handlungsfähigkeit gegeben ist, nicht erst auf der Schuldebene zu entscheiden sind. Auch Vorsatz und objektive Fahrlässigkeit (Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt) gehören nach neuerer Auffassung bereits zum Tatbestand, wenngleich eine ältere, heute teilweise noch vertretene Ansicht sie bei der Schuld einordnen will (siehe die Nachw. Rdn. 172). Die Einordnung in den Tatbestand bewirkt, daß der Schuldbegriff ein einheitlicher für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte ist. Die Frage der individuellen Erkennbarkeit der möglichen Rechtsgutsverletzung, die auch nach der neueren strafrechtlichen Fahrlässigkeitslehre erst für die Schuldebene bedeutsam ist (siehe Rdn. 172), wird umfaßt von der Frage der individuellen Erkennbarkeit der Sorgfaltswidrigkeit und damit der Frage der Möglichkeit der Unrechtseinsicht ( Welzel 11 § 22 III 5 m. Nachw.), — ein Punkt, der beim fahrlässigen Delikt stets positiv ermittelt werden muß (zur Strafrahmensproblematik siehe unten Rdn. 180). Ebenfalls spielt das voluntative Schuldelement beim fahrlässigen Delikt eine erhebliche Rolle, da der Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit über den Kreis der beim vorsätzlichen Begehungsdelikt anerkannten Fälle hinaus allgemein in Betracht kommen kann (siehe Rdn. 194). Systematisch mißverständlich ist es, neben dem Tatbestand im eigentlichen Sinne (Rdn. 5 f), der dann als „Unrechtstatbestand" bezeichnet wird, noch einen „Schuldtatbestand" anzunehmen, der diejenigen Faktoren umfassen soll, welche die in der Tat aktualisierte Rechtsgesinnung des Täters näher kennzeichnen. Bejaht wird dieser Begriff namentlich von Engisch DJT-Festschr. I S . 413; Gallas Z S t W 6 7 (1955) 31; Jakobs 17/43 ff; Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 72; AT3 § 42; Mezger N J W 1953 2; Schmidhäuser StudB2 4 / 9 f, 7 / 1 ff; zur Kritik siehe Maurach-Zipf6 § 2 4 I A; WelzelU § 10 I I I ; Hirsch Neg. Tatbestandsmerkmale (1960) S. 13 Fußn. 1. Der „Schuldtatbestand" soll spezifische Schuldelemente (die Schuld betreffende Gesinnungsmomente u. a.), die in einigen, zumeist neueren Strafbestimmungen zur Deliktsbeschreibung verwandt werden, zusammenfassen (vgl. die Übersicht bei Jescheck a a O ; weitergehend Jakobs 17/44). Aber auch soweit es sich dabei um ganz oder teilweise echte Schuldgesichtspunkte handelt, bilden sie keine systematisch selbständige Kategorie (Strafbestimmung und systematischer Tatbestandsbegriff sind zweierlei), sondern haben ihren Platz bei den — graduierbaren — allgemeinen Schuldelementen. Wo eine Strafbestimmung Merkmale anführt, welche die in der Tat aktualisierte Einstellung des Täters zu dem spezifischen Rechtsgebot entweder als besonders tadelnswert oder als relativ intakt erscheinen lassen ( Jescheck aaO), geht es lediglich darum, daß zur Strafbarkeit nach der betreffenden Vorschrift ein erhöhter oder — bei Privilegierung — niedrigerer Grad der allgemeinen Verschuldenserfordernisse verlangt wird, also um ein quantitatives Problem innerhalb der allgemeinen Schuldelemente. Zu der bei den besonderen Gesinnungsmomenten auftretenden Abgrenzungsproblematik von Unrecht und Schuld siehe WelzelU § 13 II 2 c; Jescheck AT3 § 42 II 3; Stratenwerth v. Weber-Festschr. S. 171; zu weitgehend bzgl. der Zuweisung zur Schuld Schmidhäuser Gesinnungsmerkmale im Strafrecht (1958), enger aber A T 2 8/92 ff, 10/124 ff. 176

b) Als Schuld Voraussetzung oder als eigenständiges Schuldelement wird herkömmlich die sog. Schuldfähigkeit eingeordnet. aa) Es handelt sich dabei um die in § 19 (Schuldunfähigkeit des Kindes), § 20 (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen) und § 21 (Verminderte Schuldfä(94)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

higkeit) sowie in § 3 S. 1 JGG (Verantwortlichkeit von Jugendlichen) geregelten Fälle. Im einzelnen dazu Jescheck LK10 Vor §13 Rdn. 73; Lange LK10 §19 Rdn. 1 ff; § 21 Rdn. 1 ff. Zu den Erwägungen, die den Gesetzgeber veranlaßt haben, diese Schuldausschließungs- und Schuldminderungsgründe in einem anderen Titel als die §§ 32 ff zu regeln, siehe oben Rdn. 3. bb) Entgegen der überwiegenden Ansicht bilden diese Fälle keine sich von den 177 Elementen der Schuld selbst unterscheidende eigenständige systematische Kategorie „Schuldvoraussetzungen" (anders Baumann8 §25; Dreher-Tröndle4i Vor §1 Rdn. 32; v. Liszt-Schmidt § 37 I; Maurach-Zip/6 § 35 VI; Sch.-Schrôder-Lenckneri 1 Rdn. 108; Wessels AT 13 § 10 III). Die abw. Auffassung ist sachlich nicht überzeugend. Denn es geht auch hier um das Erfülltsein der beiden Schuldelemente „Möglichkeit der Unrechtseinsicht" und „Möglichkeit, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu verhalten": Wer aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe nicht imstande ist, das Unrecht der Tat einzusehen, dessen Tatschuld entfällt, weil hinsichtlich der konkreten Tat ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vorliegt (vgl. BGH MDR 1968 854; Dreher G A 1957 97; Armin Kaufmann Eb. Schmidt-Festschr. S. 319; Jescheck AT3 § 40 III 3; Lange LK.10 § 21 Rdn. 58; Sch.-Schröder-Lencknerll § 20 Rdn. 27); und bei demjenigen, der aus einem der Gründe des § 20 unfähig ist, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu motivieren, ist das voluntative Schuldelement nicht gegeben. Daß die überwiegende Meinung dennoch eine der Schuld vorgeschobene systematische Kategorie „Schuldfähigkeit" annimmt, geht auf den psychologischen Schuldbegriff zurück, nach dem das Wesen der Schuld ausschließlich in der subjektiven Beziehung des Täters zur objektiven Erfolgsverursachung liegen sollte (vgl. Rdn. 171), so daß man genötigt war, die nicht in diesen Schuldbegriff passende Zurechnungsfähigkeit über die Konstruktion einer Schuldvoraussetzung zu erfassen. Auf der Grundlage des heute allgemein anerkannten normativen Schuldbegriffs kann es systematisch aber nur um das Vorliegen der Elemente des Schuldbegriffs selbst gehen. Aus den genannten Gründen bedeutet es dogmatisch ebenfalls keine sachgemäße Lösung, die „Schuldfähigkeit" als ein selbständiges Schuld element innerhalb des Schuldbegriffs zu verstehen (so aber Franko Bern. II; Mezger Lb. § 35 II 1 ; Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 73 ; AT3 § 40 I 1 ; Lange LK10 § 21 Rdn. 2; Blei AT 18 § 48 I; S traten werthi Rdn. 515 ff; WelzelU § 21 I). Denn es ist neben den beiden anderen Schuldelementen ohne eigenen Sachgehalt. Für diesen könnte man sich nicht darauf berufen, daß hier im Unterschied zu jenen Elementen Dauerdefekte oder doch jedenfalls generelle Mängel angesprochen seien. Ein der Schuldfähigkeit entgegenstehender Zustand kann nämlich durchaus momentaner Natur sein {Lange LK10 § 21 Rdn. 73) und auch lediglich auf die Fähigkeit, gerade das Unrecht der konkreten Tat einzusehen oder sich gemäß der Einsichtsfähigkeit in concreto zu motivieren, beschränkt sein. Umgekehrt resultiert der allgemeine Verbotsirrtum vielfach aus einer anhaltenden Unkenntnis. Vor allem aber ist eine Trennung nach Dauerdefekten und momentanen Defekten für die Frage der dogmatischen Einordnung deshalb unerheblich, weil es bei der Schuld nur um das Schuldurteil über die konkrete Tat geht. Vorschriften über die „Schuldfähigkeit" verwenden daher auch ausdrücklich die Formulierung „bei Begehung der Tat". Die Bildung einer selbständigen systematischen Kategorie „Schuldfähigkeit" verwechselt Fragen bloßer Gesetzestechnik mit denen der Dogmatik. Daß der Gesetzgeber für die betreffenden Fälle selbständige, gemeinsame Regelungen vorsieht und sie nicht entsprechend den Schuldelementen verteilt, hat neben historischen Gründen (die allgemeine Verbotsirrtumslehre und die Unzumutbarkeitslehre haben sich erst später (95)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

entwickelt) einen gesetzestechnischen Hintergrund : In § 20 geht es für den Gesetzgeber einmal darum, auf gleiche Ursachen zurückgehende, zudem besonders naheliegende Ausschlußgründe, die sowohl hinsichtlich des intellektuellen wie hinsichtlich des voluntativen Schuldelements zum Schuldausschluß führen können, in einem Katalog zu vereinigen. Zum anderen soll durch die Zusammenfassung seelischer Störungen u. dgl. der Kreis der Fälle festgelegt werden, der bei fehlender Schuld für das Maßregelrecht bedeutsam sein kann (vgl. § 63). Was § 19 angeht, handelt es sich darum, daß die absolute Schuldunfähigkeit von Kindern sowohl das eine wie das andere Schuldelement betrifft, so daß hier eine gesetzliche Differenzierung nach Schuldelementen verfehlt wäre. Die dogmatische Einordnung wird von dieser Regelungstechnik aber natürlich nicht berührt. Vielmehr sind die Fälle des § 20 systematisch dahingehend zu zerlegen, daß die 1. Alt. beim intellektuellen, die 2. Alt. beim voluntativen Schuldelement eingeordnet wird. Und bei § 19 handelt es sich dogmatisch darum, daß hier das Vorliegen beider Schuldelemente kraft Gesetzes zu verneinen ist. Soweit es sich nicht schon um Personen unter 14 Jahren handelt, für die § 19 das Fehlen der Schuldmerkmale von vornherein absolut präsumiert und damit jede weitere Prüfung erübrigt, kommt es auf das Vorliegen jedes der beiden Schuldelemente an. B. Gründe fehlender Schuld 1. Fehlen der Möglichkeit der Unrechtseinsicht (Frage des intellektuellen Schuldelements) 178

a) Nach § 20, 1. Alt. entfällt die Schuld, wenn der Täter bei der Begehung der tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Tat infolge einer seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen. Ist die Einsichtsfähigkeit vermindert, kann die Strafe gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 gemildert werden. Es handelt sich um Fälle des Verbotsirrtums, die aus historischen und gesetzestechnischen Gründen (vgl. Rdn. 177) zusammen mit den das voluntative Schuldelement betreffenden Parallelfällen (§ 20, 2. Alt.) selbständig geregelt sind. Deshalb kommt es im Hinblick auf die heutigen Verbotsirrtumsgrundsätze (§ 17), wonach jedes Minus an Einsichtsfähigkeit schuldmindernd berücksichtigt werden kann, nicht mehr darauf an, daß die Einsichtsfähigkeit „erheblich" herabgesetzt war; dieses Erfordernis hat nur noch für § 20, 2. Alt. Bedeutung (vgl. Dreher G A 1957 97; Sch.-Schröder-Lenckner2l § 21 Rdn. 7 f; Maurach-Zip/6 §36 H I B ; siehe auch Horstkotte Prot. VS. 1791; anders Lange LK10 §§ 20/21 Rdn. 79 f)· Im übrigen näher zu § 20 Lange LK10.

179

b) Möglichkeit der Unrechtseinsicht bei Vorsatzdelikten. Über die von § 20, 1. Alt. erfaßten besonders naheliegenden Ausschlußgründe hinausgehend wird in § 17 bestimmt, daß das Fehlen der Unrechtseinsicht (Verbotsirrtum, sachlich korrekter: Unrechtsirrtum) allgemein beachtlich ist. Der Verbotsirrtum läßt nach der seit BGHSt. (GrS) 2 194 von der Rspr. anerkannten und nunmehr in § 17 auch gesetzlich verankerten Schuldtheorie den Vorsatz unberührt, führt jedoch bei Unvermeidbarkeit zur Verneinung der Schuld. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, wird er wegen vorsätzlicher Tat bestraft, wobei die Strafe — wegen der normalerweise geminderten Schuld — gemildert werden kann (§§ 17 S. 2, 49 Abs. 1). Der Sache nach ist die Schuldtheorie bereits durch die 1. Alt. des § 51 a. F. ( = § 20, 1. Alt. n. F.) mit der Anfang der dreißiger Jahre eingeführten, den Vorsatz nicht tangierenden Schuldminderungsregelung des § 51 Abs. 2 a. F. ( = § 21 n. F.) seit einem halben Jahrhundert im StGB — für einen wichtigen Kreis von Fällen — enthalten, so (96)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

daß die sog. Vorsatztheorie jedenfalls seither im Widerspruch zum geltenden Recht stand. Zur Systematik des Verbotsirrtums siehe insbesondere Welzel^ § 22; im übrigen näher zum Verbotsirrtum Schroeder LK10 § 17. c) Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht ist auch Schulderfordernis der Fahrlässig- 180 keitsdelikte (OLG Hamm VRS 20 232; OLG Oldenburg VRS 29 264; OLG Karlsruhe NJW 1967 2167; Jescheck AT3 §57 12; Armin Kaufmann ZfRV 1964 52; Lackner§15 Anm. III 1 c; Sch.-Schröder-Cramer2\ §15 Rdn. 191; Schroeder LK 10 §17 Rdn. 2; Stratenwerthl Rdn. 1128 ff; Welzein §221115; Burgstaller Fahrlässigkeitsdelikt [1974] S. 196; ungenau BGHSt. 5 301, 310 f; 7 17, 22). Da der unbewußt fahrlässig handelnde Täter die Sorgfaltswidrigkeit und damit das Unrecht seines Tuns nicht erkennt, sind die Fälle unbewußter Fahrlässigkeit zwangsläufig mit einem Verbotsirrtum verbunden (vgl. Armin Kaufmann aaO [„Domäne des Verbotsirrtums schlechthin"]; Welzein aaO). Angesichts der Tatsache, daß die weitaus meisten Fahrlässigkeitstaten Fälle der unbewußten Fahrlässigkeit sind und deshalb die Strafrahmen der fahrlässigen Delikte (auch erfolgsqualifizierten Delikte) die Unbewußtheit bereits mit in Rechnung stellen, scheidet hier im Normalfall die beim vermeidbaren Verbotsirrtum sonst bestehende Möglichkeit aus, einen milderen Strafrahmen anzuwenden. Es geht dabei um Vermeidbarkeitsfälle, die herkömmlich über die subjektive Fahrlässigkeitstheorie innerhalb des Fahrlässigkeitsbegriffs erfaßt werden. Dagegen bleibt für die Strafrahmensmilderung Raum, wenn der vermeidbare Verbotsirrtum auf Gründen beruht, die auch beim Vorsatzdelikt zur Anwendung der Verbotsirrtumsregeln führen würden. Näher zum Verbotsirrtum beim fahrlässigen Delikt Schroeder LK10 § 17 Rdn. 2; im einzelnen zu diesen Fragen Hirsch LK9 Vor § 51 Rdn. 166 2. Fehlen der Möglichkeit, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu verhalten (Frage des voluntativen Schuldelements — Unzumutbarkeit insbesondere) Schrifttum Achenbach Wiederbelebung der allgemeinen Nichtzumutbarkeitsklausel im Strafrecht? JR 1975 492; Daliinger Unzumutbarkeit der Erfolgsabwendung bei unechten Unterlassungsdelikten, JR 1968 6; Drost Die Zumutbarkeit bei vorsätzlichen Delikten, GA 77 (1933) 175; Freudenthal Schuld und Vorwurf im geltenden Strafrecht (1922); Gimbernat Ordeig Der Notstand: Ein Rechtswidrigkeitsproblem, Welzel-Festschr. (1974) S. 485; Goldschmidt Der Notstand, ein Schuldproblem, ÖZStr. 4 (1913) 129; ders. Normativer Schuldbegriff, Frank-Festgabe (1930) I S. 428; Henkel Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, MezgerFestschr. (1954) S. 249; Jakobs Schuld und Prävention (1976); Lenckner Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie (1973) I S. 68 ff ; Lücke Der allgemeine Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit als methodisches und verfassungsrechtliches Problem, JR 1975 55; Maihofer Objektive Schuldelemente, H. Mayer-Festschr. (1966) S. 185; Marcetus Der Gedanke der Zumutbarkeit und seine Verwertung in den amtlichen Entwürfen eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1925 und 1927, StrafrAbh. 243 (1928); Maurach Kritik der Notstandslehre (1935); ders. Schuld und Verantwortung im Strafrecht (1948); Roxin „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Henkel-Festschr. (1974) S. 171; ders. Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, Bockelmann-Festschr. (1979) S. 279; Sauerlandt Zur Wandlung des Zumutbarkeitsbegriffs im Strafrecht (1936); Schaffstein Die Nichtzumutbarkeit als allgemeiner übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund (1933); Schumacher Um das Wesen der Strafrechtsschuld (1927); Ulsenheimer Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei Gefahr eigener Strafverfolgung, GA 1972 1 ; Vogler Der Irrtum über Entschuldigungsgründe im Strafrecht, GA 1969 103; W. Weber Zumutbarkeit und Nichtzumutbarkeit als rechtliche Maßstäbe, JurJahrb. 3 (1962/63) 212; Weigelin Das Brett des (97)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

Karneades, GerS 116 (1942) 88; Welzel Zum Notstandsproblem, ZStW 63 (1951) 47; Wittig Der übergesetzliche Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit in verfassungsrechtlicher Sicht, JZ 1969 546. Siehe außerdem das Schrifttum vor Rdn. 200 und 209 sowie LK10 § 35 vor Rdn. 1. 181

Wesen dieses Schuldelements. Es handelt ohne Schuld, wer nicht in der Lage ist, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu motivieren (Fehlen des voluntativen Schuldelements). Kein schuldhaftes Verhalten liegt also vor, wenn der Täter aus einem der in § 20, 2. Alt. genannten G r ü n d e unfähig ist, nach seiner Unrechtseinsicht zu handeln. Wo es dagegen überhaupt schon an der Handlung oder beim Unterlassen an der Handlungsfähigkeit fehlt, mangelt es bereits an der Tatbestandsmäßigkeit, so daß sich die Schuldfrage gar nicht mehr stellt. Das Strafrecht verneint Schuld indes nicht nur in den Fällen, in denen es dem Täter überhaupt unmöglich ist, sich rechtmäßig zu verhalten. Es enthält sich eines rechtlichen Schuldvorwurfs vielmehr auch schon dann, wenn die Möglichkeit rechtmäßigen Handelns so stark herabgesetzt ist, d a ß von strafrechtlich erheblicher Schuld noch nicht gesprochen werden kann. Das gilt bereits beim intellektuellen Schuldelement, nämlich bei der Einsichtsfähigkeit nach §20, 1. Alt. (vgl. Lange LK10 § § 2 0 / 2 1 Rdn. 6, 57 f), der allgemeinen Frage der Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 S. 1 (vgl. Schroeder LK10 § 17 Rdn. 30) u n d erst recht bei der unwiderleglichen Vermutung des § 19. Größere Bedeutung erlangt diese Relativierung im Bereich des voluntativen Schuldelements. Sie spielt hier bei § 20, 2. Alt. eine Rolle, wenn es um seelische Störungen als Ursache des Motivationsdrucks geht (vgl. Lange LK 10 §§ 20/21 Rdn. 61). Die Hauptbedeutung erlangt sie aber in bestimmten außergewöhnlichen Motivationslagen, in denen infolge des durch die Situation bewirkten seelischen Drucks die Möglichkeit zu rechtmäßigem Verhalten stark beeinträchtigt und damit die Schuld auf ein strafrechtlich nicht ausreichendes M a ß herabgesetzt ist (Fälle der Unzumutbarkeit). Der Abstand zum tatsächlichen Nichtkönnen ist hier regelmäßig weiter als in den meisten anderen Fällen.

182

Terminologisch wird von der h. L. zwischen Schuldausschließungsgründen (Schuldunfähigkeit u n d unvermeidbarer Verbotsirrtum) u n d Entschuldigungsgründen (Unzumutbarkeitsfälle) unterschieden (Bockelmann A T 3 § 1 6 D I ; Jescheck AT3 § 43 II; Rudolphi S K 3 Vor § 19 Rdn. 5 f; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 108; Welzeiii §23). Sachlich verbirgt sich dahinter aus den in Rdn. 181 genannten G r ü n d e n kein prinzipieller Unterschied (vgl. Roxin Bockelmann-Festschr. S. 288 ff)· Denn einerseits genügt auch in den Fällen von § 17 S. 1 und § 20 das Fehlen einer rechtlich erheblichen Schuld, so daß es nicht auf eine absolute Unmöglichkeit a n k o m m t ; u n d andererseits bedeutet die Bejahung eines Unzumutbarkeitsfalles den Ausschluß eines rechtlich erheblichen Schuldvorwurfs. Die Bedeutung der terminologischen Unterscheidung erschöpft sich mithin darin, daß unter der Bezeichnung „Entschuldigungsgründe" die Unzumutbarkeitsfälle zusammengefaßt werden.

183

Den wichtigsten Fall der Unzumutbarkeit bildet § 35. Das Recht gewährt hier volle Straffreiheit, weil es wegen des durch die Notstandslage hervorgerufenen seelischen Drucks eine f ü r den strafrechtlichen Schuldvorwurf genügende Vorwerfbarkeit verneint. D a ß es um geringere Anforderungen geht, als sie bei einem Abstellen auf die tatsächliche Unmöglichkeit rechtgemäßer Motivation zu verlangen wären, zeigt sich insbesondere daran, daß es eine Reihe von Personengruppen gibt, ζ. B. Soldaten, Feuerwehrleute, Seeleute, denen das Recht das Bestehen einer Gefahr f ü r Leben, Leib oder Freiheit zumutet (vgl. die ausdrückliche Einschränkung in § 35 (98)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Abs. 1 S. 2), während eine solche Gefahrlage beim gewöhnlichen Normadressaten im Regelfall entschuldigend wirkt. Diese Deutung, daß unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit in Fällen bestimmter extremer Motivationslagen grundsätzlich — nicht jedoch stets und notwendig — ein Verzicht auf den strafrechtlichen Schuldvorwurf erfolgt, auch wenn die Möglichkeit rechtgemäßer Motivation nicht völlig ausgeschlossen ist, entspricht der heutigen h. L. (vgl. Baumann 8 § 29 I 2 ; Bokkelmann AT3 § 16 D I; Blei AT 18 § 60; Gallas Mezger-Festschr. S. 323; Jescheck AT3 § 43 II, III 2; Armin Kaufmann Normentheorie [1954] S. 202 ff; Unterlassungsdelikte [1959] S. 156 ff; NollZStW 77 [1965] 17; Rudolphi SK.4 § 35 Rdn. 1 ff; ZStW 78 [1966] 66; Schmidhäuser StudB2 8/4; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 108; Vogler GA 1969 105; WelzelW § 23). Eine solche Begrenzung des Schuldvorwurfs gestattet dem Gesetzgeber auch, die betreffenden Situationen weitgehend durch objektive Merkmale zu vertypen und an das Vorliegen des vertypten Sachverhalts die Rechtsfolge strafrechtlicher Entschuldigung zu knüpfen, ohne daß man, was zudem forensisch zumeist gar nicht durchführbar wäre, noch auf einen bestimmten Grad des individuellen Motivationsdrucks abzustellen hätte (dazu daß die Objektivierung entgegen Maurach-Zipfì § 33 I nicht dazu Anlaß gibt, eine der Schuld vorgelagerte Deliktsstufe der Tatverantwortung zu bilden, siehe Rdn. 174). Die Frage, ob die Entschuldigungsgründe nicht schon, weil den Verhaltensunwert beeinflussend, bereits zum Unrechtsausschluß führen müßten, wird von § 35 Abs. 1 im Anschluß an die schon zuvor herrschende Auffassung dahin beantwortet, daß erst der Schuldvorwurf entfällt (sog. Differenzierungstheorie beim Notstand; näher dazu LK10 § 35 Rdn. 1 f)· Zwar wirkt sich der vom Täter verfolgte Zweck (die eigene Rettung oder die ihm nahestehender Personen) bei der Beurteilung des Handlungsunwerts auch als unrechtsmindernd aus (vgl. insbesondere Welzel 11 §23; Jescheck AT 3 § 43 III 2; Rudolphi SK.4 § 35 Rdn. 3; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 110; die drei letztgenannten zu weitgehend allerdings bezüglich des Erfolgsunwerts). Aber es handelt sich dabei eben nur um eine Minderung im Rahmen der Unrechtsgrade, nicht um einen Unrechtsausschluß, da in allen diesen Fällen das tatbestandsmäßige Verhalten gegen die Rechtsordnung verstößt und daher z. B. Notwehr zulässig ist. Die Unrechtsminderung hat lediglich zur Folge, daß der auf die rechtswidrige Tat bezogene Schuldvorwurf so an Gewicht verliert, daß eine strafrechtliche Entschuldigung Platz greifen kann (siehe dazu auch noch LK10 § 35 Rdn. 4). Die Tatsache, daß das Gesetz in einigen Fällen wegen Unzumutbarkeit rechtmä- 184 ßigen Verhaltens eine strafrechtliche Entschuldigung ausspricht, berechtigt nicht, weitergehend auf einen allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit zu schließen (RGSt. 66 397, 399; Blei AT18 §63 I; Bockelmann AT3 § 1 6 D V ; Bloy Strafausschließungsgründe [1976] S. 127; Henkel Mezger-Festschr. S. 295; Jescheck AT3 §47113; Lackner 15 Anm. III; Maurach-Zipfì §33 II Β; Rudolphi SK3 Vor §19 Rdn. 10; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 122 f; Stratenwerthl Rdn. 603; Wekeln § 23 II; Wessels AT 13 § 10 VII 5; dahingestellt in BGH NJW 1953 513; teilweise weiter BaumannS §29 III 2 und Schmidhäuser StudB2 8/4). Überholt ist die nach Entdeckung des Gesichtspunkts der Unzumutbarkeit zunächst von einigen Autoren vertretene generalisierende Ansicht (siehe für diese Freudenthal Schuld und Vorwurf S. 25 ff; Goldschmidt Frank-Festgabe I S. 447 ff; v. Liszt-Schmidt § 42 I 3 ; Mezger Lb. [1933] § 49 I ; neuerdings wieder Wittig JZ 1969 548; Lücke JR 1975 55 ff; kritisch hierzu Blei JA 1969 StR 211 f [665 f], 1975 StR 66 [238]; Maurach-Zipfô § 33 II Β ; Achenbach JR 1975 492 ff). Gegen eine Generalisierung. spricht, daß in den Unzumutbarkeitsfällen die Möglichkeit rechtmäßigen Verhaltens nicht völlig ausgeschlossen ist, sondern nur von der Rechtsordnung darauf (99)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

verzichtet wird, den herabgesetzten Schuldgehalt für einen strafrechtlichen Schuldvorwurf genügen zu lassen (vgl. Rdn. 181 ff). Es handelt sich deshalb um gesetzgeberische Wertungen für bestimmte Ausnahmesituationen, deren Kreis nur in engem Rahmen erweitert werden kann. So spricht das Recht bei den vorsätzlichen Begehungsdelikten eine Entschuldigung grundsätzlich nur bei Gefahr für Leben, Leib oder (Bewegungs-)Freiheit aus, d. h. in den Fällen des entschuldigenden Notstands gemäß § 35, nicht aber bei sonstigen Gefahren, vor allem nicht bei der Gefahr wirtschaftlicher Nachteile (vgl. RGSt. 66 397). Ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand kann daher ebenfalls nur für die genannten Gefahren in Betracht kommen (vgl. Rdn. 200 ff). Lediglich bei ganz wenigen Strafbestimmungen besteht die Möglichkeit, daß aus Gründen, die sich aus der Natur des betreffenden Begehungsdelikts ergeben, für die entschuldigende Unzumutbarkeit ein geringerer Gefahrinhalt genügt und zur Anerkennung eines besonderen Entschuldigungsgrundes führt (so bei der Strafvereitelung, vgl. Rdn. 197). Jede Verallgemeinerung liefe bei den vorsätzlichen Begehungstaten darauf hinaus, daß man mit Hilfe des dann als Generalklausel benutzten Begriffs der Unzumutbarkeit den Umfang der Strafbarkeit am Gesetz vorbei einschränken und obendrein völlig verunsichern würde. Ein stets zu beachtendes Erfordernis bildet der Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit dagegen bei den Unterlassungs- und Fahrlässigkeitsdelikten (vgl. die Rspr.-Nachw. Rdn. 193 ff). Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus Besonderheiten dieser Deliktsgruppen (vgl. Rdn. 193, 194). 185

Während es beim systematischen Begriff der Zumutbarkeit allein um den Bereich der strafrechtlichen Entschuldigung geht, ist die vereinzelte gesetzliche Verwendung des Wortes weniger begrifflich festgelegt. So ist in § 323 c in einer umfassenderen Bedeutung von „Zumutbarkeit" die Rede, nämlich als einer den Unrechts- und Schuldbereich übergreifenden Wertung (vgl. Rdn. 193 a. E.).

186

Innerhalb des voluntativen Schuldelements lassen sich neben dem Schuldausschließungsgrund des § 20, 2. Alt. allgemeine Entschuldigungsgründe (z. B. §§ 33 und 35, Unzumutbarkeit bei Unterlassungsdelikten) und besondere, nämlich solche, die von vornherein nur auf einzelne Vorschriften des Besonderen Teils beschränkt sind (ζ. B. die Entschuldigung der mittelbaren persönlichen Selbstbegünstigung in § 258 Abs. 5), unterscheiden.

187

Bei allen anerkannten Unzumutbarkeitsfällen (Rdn. 190 ff) genügen das Vorliegen der äußeren Merkmale der Ausnahmesituation und der Umstand, daß der Täter mit Gefahrabwendungsabsicht u. dgl. handelt (vgl. zur subjektiven Seite die Erwähnung des Zweckmoments in § 35). Unerheblich ist also in diesen Fällen, ob der Motivationsdruck tatsächlich auch bei dem individuellen Täter einen Grad erreicht, der für einen strafrechtlichen Vorwurf keinen Raum mehr läßt. Das Gesetz — und Entsprechendes hat für die übergesetzlichen Entschuldigungsgründe zu gelten — muß sich vielmehr an einem durchschnittlichen Maßstab orientieren, da andernfalls über die praktischen Möglichkeiten der Schuldfeststellung im Strafprozeß hinausgegangen werden würde (vgl. Jescheck AT3 § 43 III 3).

188

Die irrige Annahme des Sachverhalts eines anerkannten Unzumutbarkeitsfalles führt bei Unvermeidbarkeit des Irrtums zur Entschuldigung, weil die Motivationslage die gleiche ist wie bei Bestehen des betreffenden Entschuldigungsgrundes und wegen der Unvermeidbarkeit nichts vorliegt, was den rechtlichen Schuldvorwurf stützen könnte. War der Irrtum jedoch vermeidbar, so ist wegen vorsätzlicher Tat in geminderter Schuld zu bestrafen. Dieser schon vorher überwiegend von der Lehre vertretenen Vorsatzlösung hat sich der Gesetzgeber in §§ 35 Abs. 2, 49 Abs. 1 nun(100)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

mehr ausdrücklich angeschlossen. Danach sind die zum alten Recht vertretenen abweichenden Lösungen jetzt auch durch die Gesetzgebung überholt (näher dazu LK10 § 35 Rdn. 4 u. 73 f m. Nachw., auch zu krit. Stellungnahmen). Die sachgerechte Regelung in § 35 Abs. 2 ist über den Putativnotstand hinaus auf parallele Irrtumsfälle bei anderen Entschuldigungsgründen entsprechend anzuwenden (Baumann* § 29 I 4 d; Jescheck AT3 § 48 II 3; Sch.-Schröder-Cramer2\ § 16 Rdn. 30). Nimmt der Täter irrig einen nicht anerkannten Entschuldigungsgrund an oder zieht er fälschlich die rechtlichen Grenzen eines Entschuldigungsgrundes zu weit, so kann dies lediglich für die Strafzumessung Bedeutung haben, da allein die Rechtsordnung darüber befindet, bis zu welchem Grade ein Motivationsdruck ausreicht, um auf den strafrechtlichen Schuldvorwurf zu verzichten (Jescheck AT3 § 48 I 1; Rudolphi SK4 § 35 Rdn. 19; Sch.-Schröder-Lenckner2\ § 35 Rdn. 48; näher zu dieser Frage LK10 § 35 Rdn. 75 ff). Nur wenn der Täter meint, sein Handeln sei schon gar nicht rechtswidrig, liegt ein Verbotsirrtum vor (ungenau BGH 2 StR 531/61 v. 15. 6. 1962). C. Fälle fehlenden voluntativen Schuldelements (Entschuldigungsgründe insbesondere) 1. Nach § 20, 2. Alt. entfällt die Schuld, wenn der Täter bei Begehung der tatbe- 189 standsmäßig-rechtswidrigen Tat infolge einer der in der Vorschrift genannten seelischen Störungen unfähig ist, der Einsicht in das Unrecht der Tat entsprechend zu handeln. Ist diese Fähigkeit erheblich vermindert, kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden; §21, 2. Alt. Es handelt sich um Fälle schuldausschließenden (oder -mindernden) Motivationsdrucks, die aus historischen und gesetzestechnischen Gründen (vgl. Rdn. 177) zusammen mit den das intellektuelle Schuldelement regelnden Parallelfällen der 1. Alt. geregelt sind. 2. Der entschuldigende Notstand nach § 35 Abs. 1 läßt ebenfalls den rechtlichen 190 Schuldvorwurf entfallen. Daß es um Fälle der Entschuldigung und nicht schon der Rechtfertigung geht, wird in der jetzigen Fassung ausdrücklich erwähnt. Näher zum entschuldigenden Notstand LK 10 § 35. 3. Auch die in § 33 geregelte Überschreitung der Notwehr (Notwehrexzeß) regelt 191 ein Zumutbarkeitsprobiem, nicht lediglich eine Irrtumsfrage. Denn auch die bewußte Überschreitung der Grenzen erforderlicher Verteidigung wird von der Vorschrift erfaßt; die Regelung enthält keine Beschränkung auf den Irrtumsfall. Das Gesetz berücksichtigt den Umstand, daß in den angeführten psychischen Ausnahmesituationen die Fähigkeit, sich unter Einhaltung der Grenzen zulässiger Verteidigung zu motivieren, regelmäßig nicht mehr ausreichend gegeben ist. Vgl. zu dieser h. M.: Spendei LK10 § 33 Rdn. 52 ff m. w. Nachw. Die Gegenmeinung (vgl. Sch.Schröder-Lencknerli § 33 Rdn. 6 m. w. Nachw.) läßt sich schwerlich mit dem geltenden Recht vereinbaren. Ganz abgesehen davon, daß für die Sachgemäßheit der h. M. gewichtige Gründe vorgebracht werden (vgl. Niederschriften 2 S. 127 ff; Spendet aaO), ist nicht daran vorbeizukommen, daß im Gesetz diese umfassendere Lösung zum Ausdruck gelangt, weshalb eine entgegen dem Wortlaut erfolgende Einschränkung auf den Irrtumsfall eine Ausweitung des gesetzlich begrenzten Umfangs der Strafbarkeit bewirken und damit gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen würde (zur Erstreckung des Analogieverbots auf die Reduktion strafgesetzlich geregelter Entschuldigungsgründe siehe Rdn. 38). Im übrigen ist die Beibehaltung der weiten Fassung in § 38 Abs. 2 E 1962 und § 14 Abs. 3 AE nach eingehender Abwä(101)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

gung des Für und Wider erfolgt (vgl. Niederschriften 2 S. 127 ff; E 1962 Begr. S. 158; AE AT Begr. S. 53). Wenn in den parlamentarischen Beratungen von § 33 gleichwohl die Ansicht auftaucht, durch die weite Formulierung werde die Entscheidung des Streits offengelassen (vgl. Horstkotte Sonderausschuß V S. 1818), so läßt dies die Grenzen strafrichterlicher Auslegung beschlossener Gesetzestexte außer acht. 192

Indem die Notwehrüberschreitung eine Zumutbarkeitsfrage betrifft, handelt es sich um einen Entschuldigungsgrund (BGH NStZ 1981 299; BGH NJW 1969 802; BGH GA 1969 23, 24; BGHSt. 3 194, 197 f; Spendei LK10 §33 Rdn.34ff m. w. Nachw. zur h. M.). Abw. wird im Schrifttum teilweise ein persönlicher Strafausschließungsgrund (v. Hippel II S. 213; Jagusch LK8 §53 Anm. 7 b; J.Fischer Notwehrüberschreitung, Diss. Frankfurt [1971] S. 80 ff) oder eine Beweisregel (Baidus LK9 § 53 Rdn. 48; Schröder ZARkDR 1944 124) gesehen. Hinter der Ansicht, es gehe um einen bloßen Strafausschließungsgrund, steht der Gedanke, daß die Möglichkeit, sich dem rechtlichen Sollen gemäß zu motivieren, hier zumeist nur herabgesetzt ist. Jedoch liegt es gerade im Wesen der strafrechtlich entschuldigenden Unzumutbarkeitsfälle, daß bei stark herabgesetztem Schuldgrad wegen der geringen Vorwerfbarkeit Nachsicht geübt wird (vgl. Rdn. 181 f) und daß aus forensischen Gründen eine Vertypung von Durchschnittssituationen erfolgt. Was die Annahme einer Beweisregel — nämlich für die Frage der Vermeidbarkeit eines Irrtums über die Erforderlichkeit — betrifft, hängt sie mit dem abgelehnten Standpunkt zusammen, daß es bei der Vorschrift über Notwehrüberschreitung um eine Irrtumsregelung gehe. Auch lassen sich für die systematische Einordnung keine Schlüsse aus der Tatsache ziehen, daß das Gesetz zwar bei der Notwehr und den Fällen des Notstands das NichtVorliegen von Rechtswidrigkeit oder Schuld hervorhebt, dagegen beim Notwehrexzeß in § 33 nur die Formulierung „wird nicht bestraft" verwendet. Es ging dabei lediglich darum, daß der Gesetzgeber sich einer systematischen Festlegung enthalten wollte (vgl. Horstkotte Sonderausschuß VS. 1817). — Im einzelnen zur Notwehrüberschreitung Spendei LK10 § 33.

193

4. Bei den Unterlassungsdelikten ist der Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit generell zu beachten, wenn dem Unterlassenden nicht zugemutet werden kann, ein ihm nahestehendes geringerwertiges Interesse zu opfern, um die erforderliche Rettungshandlung vorzunehmen (BGHSt. 2 194, 204; 4 20, 23; [GrS] 6 46, 57; BGH NJW 1964 731; BGH LM § 180 Nr. 3; RGSt. 58 97 u. 226; 72 19 u. 20, 23; 73 52, 57; 77 125, 127; OLG Köln NJW 1973 861 f; OLG Karlsruhe MDR 1975 771; h. M.). Abw. wird vertreten, daß der Unzumutbarkeit bei Unterlassungsdelikten keine über den Anwendungsbereich bei Begehungsdelikten hinausgehende Bedeutung zuzubilligen sei (Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 91 ; AT3 § 59 VIII 2 u. 3; Maurach-GösselZipfS § 46IV Β 1). Lediglich bei vereinzelten Vorschriften, wie insbesondere § 323 c, spiele sie eine zusätzliche Rolle. Für die h. M. ist jedoch anzuführen, daß aus der nur begrenzten Bedeutung, die der Unzumutbarkeit bei den vorsätzlichen Begehungsdelikten zukommt, nicht schematisch Folgerungen für die Unterlassungen gezogen werden dürfen. Wie WelzelW § 28 III 2 zu Recht hervorhebt, gilt zwar für vorsätzliche Begehungsdelikte, daß außer in Fällen der Lebens-, Leibes- oder Freiheitsnot allgemein erwartet werden muß, einen persönlichen Schaden auf sich zu nehmen, anstatt ein fremdes Rechtsgut zu beeinträchtigen. Dagegen ist es etwas anderes und nicht ohne weiteres zu erwarten, daß der Unterlassende sich durch Vornahme einer gebotenen Handlung selbst schädigen soll. Von seltener auch (102)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

schon tatbestandlicher Bedeutung abgesehen (dazu diese Rdn. a. E.), handelt es sich bei der Unzumutbarkeit um einen allgemeinen Entschuldigungsgrund für die Unterlassungsdelikte (BGHSt. 2 194, 204; [GrS] 6 46, 57; BaumannS § 18 I 2, II 4; Bockelmann AT3 § 17 E III 2; Daliinger JR 1968 8; Armin Kaufmann Unterlassungsdelikte [1959] S. 158 f; KienapfelÖJZ 1976 201 ; Peters JZ 1966 458; Rudolphi SK4 Vor § 13 Rdn. 31 ff; Stratenwerthl Rdn. 1053 ff; Wekeln § 23 II 1 b, § 27 III 2, § 28 III 2; JZ 1958 495 f; Wessels AT 13 § 16 V 2). Abw. nimmt eine verbreitete Auffassung schon eine Einschränkung der sich aus der Garantenstellung ergebenden Handlungspflicht an (BGH LM § 180 Nr. 3; RGSt. 58 97, 226; 77 125, 127; OLG Karlsruhe M D R 1975 771; OLG Celle NJW 1961 1939; Dreher-Tröndle41 § 13 Rdn. 16; Drost GA 77 [1933] 177; Grünhut ZStW 51 [1931] 467; Henkel Mezger-Festschr. S. 280 f; Kohlrausch-Lange Vor § 1 Anm. II 3 e; Lackner 15 § 13 Anm. 2 c; Röwer NJW 1958 1529; Roxin NJW 1969 2040; Sch.-Schröder2\ Rdn. 125 [Lenckner], Vor § 13 Rdn. 155 [Stree]; wohl auch BGH 2 StR 221/55 bei Dallinger MDR 1956 9). Von einzelnen Autoren wird Rechtfertigung bejaht (Küper Pflichtenkollision S. 97 ff; Schmidhäuser StudB2 12/70 ff). Für die Einordnung als Entschuldigungsgrund spricht jedoch, daß der mit dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit berücksichtigte Motivationsdruck die Rechtspflicht des Täters ebensowenig wie beim Begehungsdelikt berührt, sondern erst zur Verneinung rechtlich erheblicher Vorwerfbarkeit führt. Es geht darum, daß dem Verpflichteten nicht zugemutet werden kann, ein ihm nahestehendes geringerwertiges Interesse zu opfern, um die Handlungspflicht zu erfüllen. Das gilt sowohl für die unechten als auch die echten Unterlassungsdelikte. Nur eine Frage unscharfer Gesetzesterminologie ist es, daß das Wort „Zumutbarkeit" beim echten Unterlassungsdelikt des § 323 c in einer weitergehenden Bedeutung auftaucht. Hier benutzt der Gesetzgeber den Terminus schon dazu, das in der Gesetzesfassung nicht hinreichend durch Tatumstände beschriebene tatbestandsmäßige Verhalten und damit die Reichweite des Hilfeleistungsgebots einzugrenzen, indem er in den Gesetzestext die Zumutbarkeit als limitierende Generalklausel einfügt. Unzumutbarkeit bedeutet daher an dieser Stelle eine den Unrechtsund Schuldbereich übergreifende Wertung. Infolgedessen ist hier in systematischer Hinsicht zu differenzieren zwischen tatbestandsausschließender „Unzumutbarkeit", bei der es um die nach objektiven Maßstäben vorzunehmende Restriktion schon des Gebotsumfangs geht, und schuldausschließender Unzumutbarkeit, bei der es erst auf das individuelle Können ankommt. Soweit auch bei der Tatbestandsauslegung von § 138 mit dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit gearbeitet wird, ist diese Differenzierung ebenfalls zu beachten. Zu den in der Rspr. entschiedenen Fällen siehe die Darstellung bei Trosien LK9 Einl. Rdn. 199 f.

Heimann-

5. Auch bei den Fahrlässigkeitsdelikten ist anerkannt, daß der rechtliche Schuld- 194 vorwurf entfallen kann, weil dem Täter aufgrund besonderer Umstände die Befolgung der Sorgfaltspflicht nicht zuzumuten ist (BGHSt. 2 194, 204; 4 20, 23; RGSt. 30 25, 28; 36 78; 58 27, 30; 67 12, 18 f; 74 195; OLG Frankfurt VRS 41 [1971] 32, 35; OLG Köln VRS 59 [1980] 438 f; st. Rspr.; Baumann8 § 29 III 2 b; Bockelmann AT3 §20 Β IV 2 c; Burgstaller Fahrlässigkeitsdelikt [1974] S. 198 f; DreherTröndle^ § 15 Rdn. 16; Heitzer NJW 1951 829; Jakobs 20/35 f; Fahrlässiges Erfolgsdelikt [1972] S. 141 ff; Jescheck AT3 § 47 II 3 b, § 57 IV; Samson SK3 Anh. § 16 Rdn. 36; Schmidhäuser StudB2 8 / 4 0 f ; Sch.-Schröder2\ Rdn. 126 [Lenckner], § 15 Rdn. 202; [Cramer]; Stratenwerthl Rdn. 1131 f; Wekeln § 23 II 2). Umstritten ist lediglich die dogmatische Einordnung innerhalb der Fahrlässigkeitsschuld. Teilet»)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

weise wird vertreten, es handele sich nicht erst um einen Entschuldigungsgrund, sondern bereits um eine Begrenzung der persönlichen Sorgfaltspflicht (OLG Frankfurt VRS 41 [1971] 32, 35; Jescheck, Burgstaller, Dreher-Tröndle, Heitzer, sämtlich aaO; hierzu kritisch Maurach-Gössel-Zipf 6 § 44 II B). Da es innerhalb der Schuld jedoch nicht um Pflichtwidrigkeit, sondern allein um die Möglichkeit der Pflichtbefolgung geht, könnte allenfalls fraglich sein, ob nicht das primäre Schulderfordernis der individuellen Voraussehbarkeit entfällt. Dem steht indes entgegen, daß es sich bei der vorliegenden Problematik nicht um die intellektuelle, sondern um die voluntative Seite der Schuld handelt. Es geht, wie Welzel 11 § 23 II 2 hervorhebt, um „Nachsicht menschlicher Schwäche", der sich das Strafrecht bei der Frage der Entschuldigung im Bereich der Fahrlässigkeit weiter öffnet als beim Vorsatzdelikt. Überholt ist die Ansicht, welche die Unzumutbarkeit pflichtgemäßer Sorgfalt schon als Einschränkung der objektiven Sorgfaltspflicht auffaßte (so H. Mayer AT § 31 III; teilweise auch Henkel Mezger-Festschr. S. 286). 195

Die Entschuldigung aufgrund Unzumutbarkeit sorgfaltsgemäßen Verhaltens ist auf Fälle außergewöhnlichen Motivationsdrucks beschränkt. Sie kann bedeutsam werden, wenn der Täter infolge unverschuldeter Erregungs- oder Ermüdungszustände (Schreck, Bestürzung, Furcht, Benommenheit, Überanstrengung u. dgl.) unbesonnen handelt; ζ. B. ein Kraftfahrer ergreift in einer ohne sein Verschulden plötzlich aufgetretenen Gefahr, die sofortiges Handeln gebietet, infolge Schocks oder Verwirrung nicht das richtige Mittel zur Gefahrabwehr (vgl. BGH VRS 5 [1953] 368; 6 [1954] 449; 10 [1956] 213; RGSt. 58 27; OLG Frankfurt VRS 41 [1971] 32, 37; Welzel 11 § 23 II 2 a; Sattler NJW 1967 422; Spiegel DAR 1968 283). Über Verschulden beim Einschlafen am Steuer siehe OLG Hamm NJW 1953 1077; über Blendung und Ermüdung Bockelmann Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze und Vortrage (1967) S. 194. Unzumutbarkeit sorgfaltsgemäßen Verhaltens kommt außerdem in Betracht, wenn die Rechtsgütergefährdung eine so entfernte ist, daß dem Täter mit Rücksicht auf die erheblichen Nachteile, die das Unterlassen der erkennbaren sorgfaltswidrigen Handlung für ihn zur Folge haben würde, Sorgfaltsgemäßheit nicht zuzumuten ist. So wurde in RGSt. 30 25 (Leinenfängerfall) die Unzumutbarkeit in dem Falle verneint, in dem ein Kutscher auf Geheiß seines Arbeitgebers mit einem zum Durchgehen neigenden Pferde ausfuhr, da er bei Weigerung seine Stellung verloren hätte. Im Hinblick auf den Rechtsschutz, wie er Arbeitnehmern inzwischen zusteht, und die erhöhte Gefährlichkeit verkehrsunsicherer motorisierter Fahrzeuge muß jedoch bei einem Kraftfahrer verlangt werden, daß er die Führung eines Kfz verweigert, das sich nicht in ordnungsgemäßem Zustand befindet (siehe Bockelmann aaO S. 211; Mühlhaus Die Fahrlässigkeit in Rechtsprechung und Rechtslehre [1967] S. 43 f; auch Jescheck AT 3 § 57 IV; St ratenwert hl Rdn. 1132). In RGSt. 74 195 wurde der Schuldvorwurf gegen einen Straßenbahnschaffner abgelehnt, der zur ordnungsgemäßen Beleuchtung seines Anhängers einer (fehlerhaften) Dienstvorschrift hätte entgegenhandeln müssen. OLG Hamm HESt. 2 283 bejahte Unzumutbarkeit für den Fall, daß der für einen Bagger verantwortliche Vorarbeiter diesen nachts mit Kenntnis der Stadtverwaltung und der Verkehrspolizei unbeleuchtet auf der Fahrbahn hatte stehen lassen und ihm besondere Sicherungsmaßnahmen nicht zuzumuten waren (vgl. auch den ähnlich gelagerten Fall BGH bei Daliinger M D R 1972 570 f)· Bei der Frage, ob die Beachtung der objektiven Sorgfalt dem Täter im Hinblick auf ihm sonst entstehende erhebliche Nachteile zugemutet werden kann, ist die Entfernung der Gefahr mit der Erheblichkeit des Nachteils, der jenem aus dem Unterlassen der unsorgfältigen Handlung droht, in Beziehung (104)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

zu setzen. Je näher u n d größer die Gefahr und je unerheblicher der dem Täter drohende Nachteil ist, desto weniger kann die erkennbare Sorgfaltsverletzung entschuldigt werden ( Welzel aaO). Dabei kommt es nur auf die objektive Wertung der Motive des Täters durch die Rechtsordnung, nicht aber auf die individuelle Wertung des Täters selbst an ( Welzel aaO ; Jescheck aaO). 6. Bei wenigen vorsätzlichen Einzeldelikten k a n n die Unzumutbarkeit über die 196 allgemein geltenden Fälle hinaus als ein nur auf den betreffenden Tatbestand bezogener Entschuldigungsgrund in Betracht kommen. Dies gilt insbesondere bei der Strafvereitelung (§ 258). Wegen dieses Delikts wird 197 nicht bestraft, wer durch die Tat zugleich ganz oder zum Teil vereiteln will, daß er selbst bestraft oder einer M a ß n a h m e unterworfen wird oder d a ß eine gegen ihn verhängte Strafe oder M a ß n a h m e vollstreckt wird (so jetzt ausdrücklich § 258 Abs. 5 im Anschluß an die st. Rspr. zur mittelbaren persönlichen Selbstbegünstigung [vgl. die Nachw. in L K 9 Vor § 51 Rdn. 176]). Die Straflosigkeit stützt sich auf die Erwägung, d a ß es dem Täter angesichts der Konfliktlage, in der er sich befindet, nicht zuzumuten ist, das Verbot des § 258 zu beachten, obwohl sich sein Handeln zugleich zugunsten eines anderen Straftäters auswirkt. Dementsprechend handelt es sich um einen speziellen Entschuldigungsgrund. So auch Goldschmidt Frank-Festgabe I S. 452; Eb. Schmidt MittlKV 5 n. F. S. 152 f; Bindokat G A 1955 175; DreherTröndleM § 258 Rdn. 13; Jescheck AT3 § 47 II 3 a; Lenckner JuS 1962 305 Fußn. 28 mit 7; Schmidhäuser StudB2 8 / 4 9 ; Welzel U § 23 II 1 a. Abw. erst für persönlichen Strafausschließungsgrund: BGHSt. 9 180, 182; BayObLG J R 1979 252 f; Geerds v.Hentig-Festschr. S. 138 f; Lackner § 258 Anm. 7; Maurach-Schroeder 116 § 9 8 115; Rudolphi JuS 1979 862 f; Ruß LK10 § 258 Rdn. 33; Samson SK.2 § 258 Rdn. 50; Sch.-Schröder-Stree2\ § 258 Rdn. 35. Diese Gegenmeinung trifft jedoch nicht das Entscheidende, da der zum Strafausschluß führende Motivationsdruck bereits die Fähigkeit, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu motivieren, auf ein M a ß herabdrückt, das für den rechtlichen Schuldvorwurf nicht mehr ausreicht. Uberholt sind die zu § 257 a. F. teilweise vertretenen Auffassungen, wonach schon der Tatbestand oder doch die Rechtswidrigkeit entfallen soll (siehe die Nachw. in L K 9 Vor § 51 Rdn. 176). Gegen Tatbestandsausschluß spricht bereits die jetzige Gesetzesfassung. Darüber hinaus zeigt sich die Unhaltbarkeit jener Auffassung an den Teilnahmekonsequenzen. — Im einzelnen zu § 258 Abs. 5: Ruß LK10 § 258; Sch.Schröder-Stree2\ § 258. Um einen speziellen Entschuldigungsgrund handelt es sich ebenfalls beim Ange- 198 hörigenprivileg in § 139 Abs. 3 S. 1 und § 258 Abs. 6. Diese Vorschriften sollen dem Motivationsdruck des in einer notstandsähnlichen Situation befindlichen Angehörigen Rechnung tragen. Deshalb greift in beiden Fällen bereits Entschuldigung Platz (so für § 139 Abs. 3 S. 1 : Hanack LK10 § 139 Rdn. 23 ; Jescheck AT3 § 42 II 1 ; Rudolphi S K 3 § 139 Rdn. 6; u n d für § 258 Abs. 6: Amelung J R 1978 228; Jescheck AT3 § 42 II 1; Rudolphi S K 3 Vor § 19 Rdn. 10, 14; Schmidhäuser StudB2 8 / 4 8 ; jeweils siehe auch Bloy Strafausschließungsgründe S. 121 ff, 129, 132). Abw. wird vielfach nur ein persönlicher Strafausschließungsgrund angenommen (siehe für § 139 Abs. 3 S. 1: Dreher-TröndleM § 139 Rdn. 6; Lackner15 § 139 Anm. 3; Maurach-Schroeder 116 § 96 III c; und für § 258 Abs. 6: BGHSt. 9 71, 74; RGSt. 61 270; 71 152, 155; O L G Celle J R 1974 163 f; Dreher-Tröndle41 § 258 Rdn. 16; Lackner 15 § 258 Anm. 8; Maurach-Schroeder 116 § 98 II 6; Ruß LK10 § 258 Rdn. 37; Samson SK.2 §258 Rdn. 50; Sch.-Schröder2\ Rdn. 124, 129 [Lenckner], § 258 Rdn. 39 (105)

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2. Abschnitt. Die Tat

[StreeJ). Der Gedanke, zwar erst von einem Strafausschließungsgrund auszugehen, dessen Wurzeln jedoch aus dem Schuldbereich herzuleiten (so namentlich Sch.Schröder-Streell aaO; Lackner 15 Vor § 13 Anm. III 5 a), erscheint widersprüchlich, da die Kategorie der Strafausschließungsgründe erst in Betracht kommt, wenn ein strafrechtlicher Schuldvorwurf erhoben werden kann. 199

Auch stellt sich die Frage der Zumutbarkeit bei dem Unerlaubten Entfernen vom Unfallort (§ 142). Es geht einmal um die Fälle, in denen das Warten von vornherein zwecklos ist, weil feststellungsbereite Personen nicht anwesend sind und auch nicht mit ihrem alsbaldigen Eintreffen gerechnet werden kann. Die h. M. verneint hier mit Recht aber bereits eine tatbestandsmäßige Unfallflucht (BGHSt. 7 112; 20 258; BGH VRS 25 [1963] 195; OLG Hamm VRS 18 [1960] 428; OLG Karlsruhe VRS 22 [1962] 440; OLG Hamburg VRS 32 [1967] 359; näher Rüth LK10 § 142 Rdn. 38; Sch.-Schröder-Cramer2\

§ 142 R d n . 2 9 ; a b w . f ü r § 142 n. F. O L G K o b l e n z V R S 5 3

[1977] 110, 112; Dreher-Tröndle41 § 142 Rdn. 30). Soweit man sich dabei auf den Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit beruft, dient er also schon der Markierung der Tatbestandsgrenzen. Um die Entschuldigungsproblematik geht es dagegen bei der Frage, wie die Fälle zu beurteilen sind, in denen der Täter den Verkehrsunfall vorsätzlich herbeigeführt hat. Im Anschluß an LG Duisburg NJW 1969 1261 wird von einem Teil des Schrifttums die Ansicht vertreten, daß dem Täter wegen der zu erwartenden hohen Strafe ein Verbleiben am Unfallort nicht zuzumuten sei (DreherTröndle·41 § 142 Rdn. 36; Eich M D R 1973 815; Geppert GA 1970 14; Roxin NJW 1969 2140, vgl. auch Erdsiek NJW 1963 634; P. Jäger Verkehrsunfallflucht [1973] S. 56 f, 78 ff ; wobei teilweise auch hier schon die Tatbestandsmäßigkeit verneint wird). Die h. M. mißt dagegen dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit trotz vorsätzlicher Unfallherbeiführung keine Bedeutung bei (BGHSt. 24 382; BGH VRS 10 [1956] 220; K G VRS 8 [1955] 266; OLG Koblenz VRS 56 [1979] 342; Berz JuS 1973 561; Cramer Straßenverkehrsrecht2 §142 StGB Rdn. 12 a, in Sch.-Schröder21 § 142 Rdn. 15; Forster NJW 1972 2320; Oppe NJW 1969 1261; Ulsenheimer GA 1972 18, 24). Das Resultat der h. M., daß der Täter, der einen Schaden vorsätzlich herbeiführt, sich außerdem deshalb strafbar macht, weil er sich nicht sogleich stellt, erscheint wenig lebensnah. Die Schwierigkeiten entstehen offenbar dadurch, daß angesichts des im Verhältnis zum Unrechtsgehalt ungewöhnlich hohen Strafrahmens des § 142 die Friktion befürchtet wird, der Vorsatztäter könne besser davonkommen als der Fahrlässigkeitstäter. Die längst fällige Beseitigung der Mißhelligkeiten durch bessere Abstimmung der Strafrahmen und Strafverfolgungsvoraussetzungen wurde bei der Neufassung des § 142 durch das 13. StRÄndG leider versäumt (zur Kritik vgl. Hirsch ZStW 89 [1977] 951 f)· Zu § 323 c siehe Rdn. 193 a. E. 7. Übergesetzlicher entschuldigender Notstand Schrifttum Bockelmann Zur Schuldlehre des Obersten Gerichtshofs, ZStW 63 (1951) 13; Broglio Der strafrechtliche Notstand (1928); End Existenzielle Handlungen im Strafrecht. Die Pflichtenkollision im Lichte der Philosophie Karl Jaspers (1959); Gallas Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, Mezger-Festschr. (1954) S. 311 ; Goldschmidt Der Notstand, ein Schuldproblem, ÖZStr. 4 (1913) 129; Härtung Anm. zu OGHSt. 2 117, NJW 1950 151 ; Klefisch Die nationalsozialistische Euthanasie im Blickpunkt der Rechtsprechung und der Rechtslehre, M D R 1950 258; Küper Noch einmal: Rechtfertigender Notstand, Pflichtenkollision und übergesetzliche Entschuldigung, JuS 1971 474; ders. Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden (106)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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Pflichtenkollision im Strafrecht (1979); Lang-Hinrichsen Epoché und Schuld. Über den strafrechtlicher Schuldbeurteilung ausgeschlossenen Raum, Bärmann-Festschr. (1975) S. 583; Mangakis Die Pflichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, ZStW 84 (1972) 447; Maurach Kritik der Notstandslehre (1935); Möllering Schutz des Lebens — Recht auf Sterben. Zur rechtlichen Problematik der Euthanasie (1977); Oehler Die Achtung vor dem Leben und die Notstandshandlung, JR 1951 489; Otto Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil (1965), mit Nachtrag (1978); Peters Zur Lehre von den persönlichen Strafausschließungsgründen, JR 1949 469; ders. Die Tötung von Menschen in Notsituationen, JR 1950 742; Eb. Schmidt Anm. zu OGHSt. 1 321, SJZ 1949 559; Spendet Der Conditio-sine-qua-non-Gedanke als Strafmilderungsgrund, Engisch-Festschr. (1969) S. 509; Wachinger Der übergesetzliche Notstand nach der neuesten Rechtsprechung des Reichsgerichts, Frank-Festgabe I (1930) S. 469; v.Weber Die Pflichtenkollision im Strafrecht, Kiesselbach-Festschr. (1947) S. 233; Welze/Anm. zu OGHSt. 1 321, MDR 1949 373; ders. Zum Notstandsproblem ZStW 63 (1951) 47; Zimmermann Die Gefahrengemeinschaft als Rechtfertigungsgrund, MDR 1954 147. a) Grundsätzliches. Die gesetzliche Regelung des entschuldigenden Notstands in 2 0 0 § 35 trägt dem Gedanken Rechnung, daß bei gegenwärtiger, nicht anders abwendbarer G e f a h r für Leben, Leib oder Freiheit des Täters oder einer ihm nahestehenden Person der Rechtsgehorsam — nämlich die Beachtung des aufgrund rechtfertigenden Notstands Zulässigen — ein so großes Opfer auferlegen würde, daß dem Täter ein rechtmäßiges Verhalten mit Rücksicht auf seinen Selbsterhaltungstrieb oder die enge persönliche Bindung nicht zuzumuten ist (siehe Rdn. 183). Darüber hinaus gibt es Sachverhalte, bei denen die gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit Außenstehender den Täter in einen Entscheidungskonflikt bringt, weil er sich in der konkreten Situation unentrinnbar vor die Alternative gestellt sieht, entweder dem drohenden Unheil seinen Lauf zu lassen oder aber durch Verletzung von fremdem Leben oder Leib — damit nicht durch rechtfertigenden Notstand gedeckt — einzugreifen, um das sonst noch größere Unheil abzuwenden. Praktische Bedeutung hat dies insbesondere bei den Konfliktlagen erlangt, in die Anstaltsärzte durch den sog. „Euthanasie"-Befehl Hitlers zur Tötung von Geisteskranken geraten waren, als sie den größeren Teil der ihnen anvertrauten, vom Geheimbefehl betroffenen Kranken nur dadurch retten konnten, daß sie eine Anzahl von Kranken der Tötungsaktion preisgaben (vgl. die Fälle OGHSt. 1 321; 2 117). Ging es in diesen Fällen unentrinnbarer Entscheidungskonflikte darum, daß aus dem Kreis der vom Unheil Bedrohten ein Teil geopfert wurde, so kann es sich in anderen auch darum handeln, daß das Unheil auf einen vorher nicht bedrohten, jedoch erheblich kleineren Kreis von Betroffenen umgelenkt wird (vgl. den von Welze! ZStW 63 [1951] 51 gebildeten, viel diskutierten Weichenstellerfall). Nach gemeiner Ansicht ist der Täter, der sich in derartigen Zwangslagen, um größeres Unheil zu verhüten, für das geringere Unheil entscheidet, nicht strafbar (anders aber Spendei Engisch-Festschr. S. 405 ff, 518 f; Bruns-Festschr. S. 252 ff). Nach h. L. beruht die Straflosigkeit auf einem Entschuldigungsgrund (Baumann 8 § 2 9 1 1 5 ; Bockelmann A T 3 § 16 E; Dreher-TröndleM Rdn. 15; Gallas MezgerFestschr. S. 318; Härtung N J W 1950 153 ff; Henkel Mezger-Festschr. S. 300; Jescheck AT3 § 47 I 3; Lackner \ 5 Anm. III 3; RudolphiSK3 Vor § 19 Rdn. 8; Schmidhäuser StudB2 8/43 ff; Eb. Schmidt SJZ 1949 567 ff; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 116 f; Stratenwerthl Rdn. 628 ff; v. Weber Kiesselbach-Festschr. S. 248 ff; Wekeln § 23 III 1, M D R 1949 375 f; ZStW 63 [1951] 54; vgl. auch LG Köln N J W 1952 358). Denn bei einem derartigen Entscheidungskonflikt kann kein rechtlicher Schuldvorwurf gegen den Täter erhoben werden, wenn er sich dazu durchringt, zur Verhütung noch größeren Unheils einzugreifen. Es handelt sich um einen über § 35 hinausgehenden Fall des entschuldigenden Gutsnotstands (übergesetzlicher entschul(107)

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2. Abschnitt. Die Tat

digender Notstand) und nicht einen Unterfall der Pflichtenkollision, da hier gerade der Verstoß gegen Handlungsverbote den Gegenstand der Entschuldigung bildet (anders jedoch Gallas aaO ; Jescheck aaO m. w. Nachw.). Andere Autoren wollen schon die Rechtswidrigkeit verneinen, da das Recht keinen eindeutigen Verhaltensbefehl gebe und deshalb eine unrechtsausschließende Pflichtenkollision vorliege (Blei AT 18 §63 II; Brauneck GA 1959 271; Günther Strafrechtswidrigkeit [1983] S. 333 ff; Arthur Kaufmann Maurach-Festschr. S. 336 ff; Mangakis ZStW 84 [1972] 465; Otto Pflichtenkollision S. 108 f; Dingeldey Jura 1979 482 0· Nur einen persönlichen Strafausschließungsgrund nehmen an: OGHSt. 1 321, 335 (mit abl. Anmerkungen Eb. Schmidt SJZ 1949 569 und Welzel M DR 1949 375); OGHSt. 2 117, 122; Oehler JR 1951 493; Peters JR 1949 498 f; 1950 742; siehe zur OGH-Rspr. auch die Analyse bei Bockelmann ZStW 63 [1951] 44 ff. 201

Gegenüber der Auffassung, es fehle bereits an der Rechtswidrigkeit, ist einzuwenden, daß dem von der Tat Betroffenen nicht das Recht zur Notwehr genommen werden darf. Die Rechtsordnung kann, da sie die Person des einzelnen zu respektieren hat, nicht dem Opfer durch Verneinung der Rechtswidrigeit der Notstandshandlung die Duldungspflicht auferlegen, sich zugunsten der Rettung anderer töten oder mehr als geringfügig körperlich verletzen zu lassen. Die Rechtsordnung trifft deshalb einen durchaus eindeutigen Verhaltensbefehl. Der bei jenen Autoren zumeist anzutreffende Gedanke, es handele sich hier um ein sog. unverbotenes, nämlich weder rechtswidriges noch rechtmäßiges Verhalten (sog. rechtsfreier Raum), bei dem die Rechtsordnung sowohl zur Notstandshandlung als auch zu der dieser gegenüber geübten Notwehr keine Stellung nehme, führt nicht weiter, da die Rechtsordnung gerade bei Eingriffen in die Rechtsgüter Leib oder Leben eine Entscheidung treffen muß, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Frage der Abwehròe/Hgnis des Opfers (zur Kritik der Lehre vom rechtsfreien Raum siehe oben Rdn. 17 f und im einzelnen Hirsch Bockelmann-Festschr. S. 89 ff). Daß die Rechtsordnung hier einen eindeutigen Verhaltensbefehl gibt, zeigt sich auch daran, daß dem durch die Tat begünstigten Personenkreis seinerseits bei entsprechendem Handeln nur entschuldigender Notstand (§ 35) zur Seite stehen würde, und doch wohl das, was für diesen Personenkreis gilt, erst recht für den nicht selbst gefährdeten Täter zu gelten hat. Zudem scheidet eine Berufung auf unrechtsausschließende Pflichtenkollision deshalb aus, weil dazu das Kollidieren von zwei Handlungsgeboten (also nur Unterlassungsfällen) notwendig wäre (vgl. Rdn. 71 ff), während hier eine Kollision von Rettungsgebot und Verletzungsverbot (Begehungsdelikt) vorliegt, so daß ein Unrechtsausschluß nur unter den — hier nicht erfüllten — Voraussetzungen des rechtfertigenden Gutsnotstands möglich sein würde. Ebenfalls ist die Annahme eines bloßen persönlichen Strafausschließungsgrundes abzulehnen, da ein derartiger Entscheidungskonflikt bereits den deliktischen Gehalt der Tat betrifft. Im übrigen würde eine gesetzlich nicht vorgesehene Strafbefreiung in Fällen, in denen alle Deliktsmerkmale bejaht sind, auf einen Gnadenakt in Form eines richterlichen Urteils hinauslaufen (Gallas Mezger-Festschr. S. 334). Ausschlaggebend ist vielmehr, daß der sich aus der Besonderheit der Situation ergebende Entscheidungskonflikt den Täter einem Motivationsdruck aussetzt, der die Vorwerfbarkeit so verringert, daß rechtlich Entschuldigung Platz greift. Näher zum Streitstand Lang-Hinrichsen Bärmann-Festschr. S. 585 ff.

202

Der Anerkennung des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands steht nicht entgegen, daß das geltende Recht in § 35 eine Positivierung des entschuldigenden Notstands enthält. Diese Regelung läßt vielmehr offen, daß parallel gelagerte wei(108)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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tere Entschuldigungsfälle herausgearbeitet werden. So hat das 2. StrRG von einer Positivierung des in Frage stehenden Bereichs bewußt deshalb Abstand genommen, um die dem Gesetzgeber noch nicht hinreichend geklärt erscheinende Problematik einer Lösung durch Rspr. und Lehre zu überlassen (Horstkotte Prot. V S. 1849). b) Voraussetzungen des Entschuldigungsgrundes im einzelnen aa) Gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit 203 Dritter, es sei denn, daß es sich bei den Dritten um nahestehende Personen im Sinne des § 35 handelt und somit schon ein gesetzlicher Entschuldigungsgrund einschlägig wäre. Zur gegenwärtigen Gefahr und zum Fehlen anderweitiger Abwendbarkeit siehe LK10 § 35 Rdn. 17 ff, 42 ff. Die Einbeziehung auch des Rechtsguts der (Bewegungs-)Freiheit ergibt sich aus der entsprechenden Erweiterung, die der gesetzliche entschuldigende Notstand in § 35 Abs. 1 erfahren hat (enger wohl Sch.Schröder-Lencknerl 1 Rdn. 117). Nicht erfaßt werden dagegen Gefahren für Eigentum und Vermögen (Sch.-Schröder-Lenckner21 aaO; unzutreffend OLG Hamm NJW 1976 721 f, hierzu näher LK 10 § 35 Rdn. 11). Eine Sonderproblematik bildet die Frage, ob auch bestimmte Fälle einverständ- 204 licher echter Sterbehilfe unter Notstandsgesichtspunkten erfaßt werden können. Hier ist zu beachten, daß sich die Straflosigkeit mehrerer Fallgruppen bereits unter anderen Gesichtspunkten entscheidet. So fehlt es in Situationen, in denen eine Sterbehilfe nur in einer Teilnahme an einem frei verantwortlichen Selbstmord besteht, bereits tatbestandsmäßig an einem Tötungsdelikt. Auch die Fälle der passiven Euthanasie beurteilen sich schon unter einem anderen Gesichtspunkt, nämlich dem Entfallen der Garantenpflicht (sei es, daß der noch einsichtsfähige Patient die Weiterbehandlung ablehnt, sei es, daß er zu einer Äußerung zwar nicht mehr imstande ist, aber eine Fortsetzung lebenserhaltender Maßnahmen medizinisch nicht mehr indiziert ist). Es verbleiben deshalb nur die Sachverhalte der in einer täterschaftlichen Fremdtötung bestehenden aktiven Sterbehilfe. Soweit es sich um Fälle der indirekten aktiven Sterbehilfe (d. h. die Verabfolgung von Medikamenten mit dem Ziel der Schmerzlinderung, obwohl sie als Nebenwirkung das Ende des Moribunden beschleunigen könnten) handelt, greift rechtfertigender Notstand ein (h. L.; vgl. die Nachw. bei Jähnke LK.10 Vor § 211 Rdn. 15 [der seinerseits sogar schon die Tatbestandsmäßigkeit verneinen will]). Der Problembereich liegt daher bei der direkten aktiven Sterbehilfe. Sie ist auch bei ernsthaftem ausdrücklichen Verlangen des Moribunden rechtswidrig (vgl. §216). Grundsätzlich kommt auch keine Entschuldigung in Betracht. Jedoch kann es extreme Situationen geben, in denen die Gewissensnot so übermächtig wird, daß angesichts des starken Motivationsdrucks ein rechtlicher Schuldvorwurf ausnahmsweise nicht mehr erhoben werden kann. Die strafrechtliche Erfassung derartiger Extremsituationen ist nicht von der Einführung einer einschlägigen gesetzlichen Regelung abhängig, vielmehr greift übergesetzlicher entschuldigender Notstand ein. Die Kollisionslage, die hier ein und dieselbe Person betrifft, stellt sich in der Weise dar, daß das Unheil, das in einer geringen Lebensverkürzung des einverstandenen Sterbenden besteht, in der konkreten Situation deutlich geringer wiegt als das Unheil des Erleidens weiterer unerträglicher Qualen. Der Ausnahmecharakter jenes Rechtsinstituts gewährleistet, daß wirklich nur äußerste Grenzsituationen zur Entschuldigung führen können. Näher zur Frage des Eingreifens von Notstandsgesichtspunkten in Extremfällen direkter aktiver Sterbehilfe Engisch Der Arzt an den Grenzen des Lebens S. 52; DreherFestschr. S. 320 f; Simson Schwinge-Festschr. S. 89 ff; Hirsch Welzel-Festschr. (109)

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S. 795 f; ZStW 89 (1977) 955; Hanack Euthanasie in strafrechtlicher Sicht, bei Hiersche: Euthanasie und Probleme der Sterbehilfe (1975) S. 153; J. Möllering Schutz des Lebens — Recht auf Sterben (1977) S. 42 ff m. w. Nachw. 205

bb) Bei Abwägung des Ausmaßes von drohendem Unheil und dem durch die tatbestandsmäßig-rechtswidrige Rettungshandlung entstehenden Unheil muß letzteres das erheblich geringere darstellen (h. L.; vgl. Wekeln § 23 III 1 b; Baumann8 § 29 II 5; Schmidhäuser StudB 2 8/43 f). Weitergehend will eine Meinung im Schrifttum Entschuldigung des in Gewissensnot Handelnden auch schon dann annehmen, wenn das durch die Rettungshandlung bewirkte Übel das zu verhindernde überwiegt (Gallas Mezger-Festschr. S. 333; Rudolphi SK3 Vor § 19 Rdn. 8). Gegen diese Auffassung ist jedoch anzuführen, daß durch sie der Gesamtbereich des gesetzlichen entschuldigenden Notstands (§ 35) über den in der Vorschrift genannten Personenkreis (nahestehende Personen) hinausgehend auf jeden Dritten ausgedehnt würde. Übergesetzlicher entschuldigender Notstand kann jedoch nur unter engen Voraussetzungen in ganz außergewöhnlichen Ausnahmesituationen Platz greifen (Seitmidhäuser StudB2 8/45; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 117). Ein den Situationen des § 35 vergleichbarer Motivationsdruck liegt bei dem von ihm erfaßten Personenkreis, d. h. sich nicht persönlich nahestehenden Personen, nur vor, wenn es um die Abwendung eines erheblich überwiegenden Unheils geht. So verhält es sich etwa in den Rdn. 200, 204 erwähnten Fällen. Weitere Beispiele bei v. Weber KiesselbachFestschr. S. 249. Eine Verringerung des Ausmaßes des Unheils fehlt, wenn der Täter das Übel lediglich von einer Person auf die andere ablenkt, so wenn bei einem Schiffsuntergang A dem Β den letzten Rettungsring entreißt, um ihn C zuzuwerfen. Hier befindet sich der Täter nicht in dem Gewissenskonflikt, zwischen Übeln von erheblich unterschiedlichem Ausmaß wählen zu müssen, sondern er maßt sich an, Schicksal zu spielen {Welzel^ § 23 III 2). Das gilt auch für die Teilnahme an einer entschuldigten Notstandstat, wenn X dem Y, der den Ring dem Ζ zu entreißen versucht, Beihilfe leistet; denn der Motivationsdruck, der beim entschuldigenden Notstand strafrechtlich respektiert wird, liegt beim Teilnehmer nicht vor (h. M.; vgl. Roxin LK10 § 29 Rdn. 3 m. w. Nachw.; abw. jedoch Rudolphi SK.4 § 35 Rdn. 21 ; auch Maurach-Zipfö § 33 III 5 a [keine „Tatverantwortung"]). Anders verhält es sich in der Situation, daß ohne das Eingreifen des Gehilfen beide Verunglückte verloren wären und sich durch seine Hilfe wenigstens derjenige retten kann, für den noch eine Rettungschance besteht (ζ. B. wenn in dem bekannten Bergsteigerfall, bei dem ohne das Kappen des Seils beide Kletterer mit Gewißheit verloren sein würden, jemand dem Kletterer A ein Messer zuwirft, damit er das Seil kappen kann, an dem unter ihm der mit abgestürzte und in jedem Falle verlorene Β hängt). Hier ist der Gehilfe straflos. Dies wird zumeist auf übergesetzlichen entschuldigenden Notstand gestützt (vgl. Welzel aaO). Es sprechen hier jedoch manche Gründe schon für das Vorliegen einer Situation des (defensiven) rechtfertigenden Notstands (näher Hirsch Bockelmann-Festschr. S. 107 f). Wird zur Rettung des Lebens eines Patienten mit größerer Überlebenschance die Behandlung eines anderen abgebrochen, so ist das in der Regel nicht durch übergesetzlichen Notstand entschuldigt (überhaupt gegen Entschuldigungsmöglichkeit Bockelmann Strafrecht des Arztes [1958] S. 115 mit Fußn. 50; Geilen FamRZ 1968 122 Anm. 1 ; Κrey JuS 1971 249; Küper JuS 1971 477; Roxin Engisch-Festschr. S. 400; abw. Welzen ì § 23 III 1 c [für den Fall, daß jemand, der nur noch geringe Überlebenschancen hat, von einem Reanimator abgenommen wird, um diesen für einen späteren Verletzten mit großer Überlebenschance freizumachen]). Eine Quantitätsrechnung nach der Überlebenschance ist (110)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

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prinzipiell nicht angängig. Ebensowenig, wie der einzige erreichbare Chirurg die hinsichtlich des Ausgangs zweifelhafte Operation eines lebensgefährlich Verletzten abbrechen und ihn damit dem sofortigen Tode überantworten darf, um für einen zwischenzeitlich eingetroffenen Verletzten mit größerer Überlebenschance zur Stelle zu sein (Gesichtspunkt der Priorität), darf bei der Inanspruchnahme moderner medizinischer Rettungsapparate (Reanimatoren) eine Preisgabe erfolgen. Andererseits sind extrem gelagerte Situationen nicht völlig auszuschließen (was z. B. auf Kriegsverbandsplätzen praktisch geworden ist), so daß nicht schematisch die Möglichkeit der Entschuldigung versagt werden kann. Im übrigen sind von der vorhergehenden Problematik diejenigen Sachverhalte zu unterscheiden, in denen das Abstellen des Reanimators erfolgt, weil er keine Rettung mehr verspricht; hier fehlt es bereits am Unrecht. cc) Dem in Gefahr Geratenen darf nach den Umständen, namentlich weil er die 206 Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, nicht zuzumuten sein, die Gefahr hinzunehmen. Diese in § 35 Abs. 1 S. 2 für den gesetzlichen entschuldigenden Notstand aufgestellte Einschränkung gilt erst recht für den übergesetzlichen. dd) Subjektiv muß der Täter mit der Absicht der Gefahrabwendung gehandelt 207 haben. Es gilt insoweit Entsprechendes wie bei § 35. ee) Für den Irrtum gilt § 35 Abs. 2 analog, da in ihm eine allgemeingültige Lö- 208 sung der einschlägigen Irrtumsproblematik Ausdruck findet. D. Sonderproblem Überzeugungstäter Schrifttum A. Arndt Die Zeugen Jehovas als Prüfung unserer Gewissensfreiheit, NJW 1965 432; ders. Anm. zu BVerfGE 19 135, NJW 1965 2195; ders. Anm. zu BVerfGE 23 127, NJW 1968 979; ders. Anm. zu BVerfGE 23 191, NJW 1968 982; Sfa'Gewissen, Religion und rechtliche Handlungspflichten, JA 1972 StR 59, 77; Bockelmann Zur Problematik der Sonderbehandlung von Überzeugungstätern, Welzel-Festschr. (1974) S. 543; U. Bopp Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Diss. Freiburg 1972; Budzinski Der Überzeugungsverbrecher (1931); U.v.Burski Die Zeugen Jehovas, die Gewissensfreiheit und das Strafrecht, Diss. Freiburg 1970; Copie Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art (1967); Deubner Anm. zu BVerfGE 32 98, NJW 1972 814; Dreher Anm. zu BVerfGE 32 98, JR 1972 342; Dürig Art. 103 III G G und die „Zeugen Jehovas", JZ 1967 426; Ebert Der Überzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung (1975); Evers Anm. zu BVerfGE 23 127 u. 191, JZ 1968 525; Fertig Anm. zu OLG Saarbrücken NJW 1969 1782, Köln NJW 1970 67 u. Hamm NJW 1970 68, NJW 1970 67; Gallas Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, Mezger-Festschr. (1954) 311; Gödan Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters (1975); Greffenius Der Täter aus Überzeugung und der Täter aus Gewissensnot (1969); Händel Anm. zu BVerfGE 32 98, NJW 1972 327 ; Häussling Der Ideologie-Täter und das Problem des irrenden Gewissens, JZ 1966 413; Hannover Ist die Bestrafung der Ersatzdienstverweigerung der Zeugen Jehovas mit dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit vereinbar?, GA 1964 33 ; Heinitz Der Überzeugungstäter im Strafrecht, ZStW 78 (1966) 615; Reinh. v.Hippel Anm. zu BayObLG JR 1977 117, JR 1977 119; Hofmann u. Sax Der Ideologie-Täter (1967); Arthur Kaufmann Das Schuldprinzip (1961); Lang-Hinrichsen Der Überzeugungstäter in der deutschen Strafrechtsreform, JZ 1966 153; J. Listi Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland (1971); Müller-Dietz Gewissensfreiheit und Strafrecht, Peters-Festschr. (1974) S.91; Nagler Der Überzeugungsverbrecher, GerS 94 (1927) 48; Noll Der Überzeugungstäter im Strafrecht, ZStW 78 (1966) 638; Peters Anm. zu OLG Hamm NJW 1965 777, JZ 1965 489; ders. Überzeugungstäter und Gewissenstäter, H. Mayer-Festschr. (1966) 257; ders. Bemerkungen zur Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zur Wehrersatz(111)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

dienstverweigerung aus Gewissensgründen, JZ 1966 457; ders. Abschließende Bemerkungen zu den Zeugen-Jehovas-Prozessen, Engisch-Festschr. (1969) S. 468; ders. Anm. zu BVerfGE 32 98, JZ 1972 85; Radbruch Der Überzeugungsverbrecher, ZStW 44 (1924) 34; ders. Verh. 34. DJT (1926) II S. 354; Ranft Hilfspflicht und Glaubensfreiheit in strafrechtlicher Sicht, Schwinge-Festschr. (1973) S. 111 ; Rudolphi Die Bedeutung eines Gewissensentscheides für das Strafrecht, Welzel-Festschr. (1974) S. 605; Schmidhäuser Gesinnungsmerkmale im Strafrecht (1958); H.-L. Schreiber Der Begriff der Rechtspflicht (1966); Schulte und Träger Gewissen im Strafprozeß, BGH-Festschr. (1975) S. 251; Schwabe Glaubensfreiheit und Pflicht zur Hilfeleistung — OLG Stuttgart, MDR 1964, 1024 und BVerfGE 32, 98, JuS 1972 380; Ulsenheimer Das Personensorgerecht der Eltern im Widerstreit mit dem Gewissen und dem Strafgesetzbuch, FamRZ 1968 568; H. Weber Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen?, NJW 1968 1610; Welzel Gesetz und Gewissen, DJT-Festschr. (1960) I S. 383; ders. Die Frage nach der Rechtsgeltung. An den Grenzen des Rechts (1966); Erik Wolf Verbrechen aus Überzeugung (1927). 209

1. Grundsätzliches. Der Täter, der die positivrechtlich für ihn geltende Rechtsnorm wohl kennt, sie aber in seinem Gewissen f ü r nicht verpflichtend erachtet und ihr darum aus abweichendem Gewissensentscheid zuwiderhandelt (Überzeugungstäter), ist nach h. M. weder gerechtfertigt noch entschuldigt (BGHSt. 2 194, 208; 8 162; Gallas Mezger-Festschr. S. 319; Heinitz ZStW 78 [1966] 631; Jescheck AT3 § 3 7 1 1 3 ; Arthur Kaufmann Schuldprinzip S. 137 f; Maurach-Zipf6 §35113; Schmidhäuser StudB2 6/97, 8 / 4 6 ; Sch.-Schröder-Stree21 § 46 Rdn. 15; Welzel 11 § 22 IV. Abw. jedoch f ü r Rechtfertigung Peters H. Mayer-Festschr. S. 276; Engelhardt F a m R Z 1958 269; siehe auch Grünwald ZStW 73 [1961] 34 ff; für die Möglichkeit der Entschuldigung in einzelnen Fällen: BVerfGE 23 127, 133; Bopp Gewissenstäter S. 249 ff ; Jakobs 20/24 ff ; Maunz-Dürig-Herzog-Scholz Art. 2 Abs. 2 Rdn. 23; Rudolphi S K 3 Vor § 19 Rdn. 7; Welzel-Festschr. S. 605 ff; Sch.-SchröderLenckner2\ Rdn. 118 ff; siehe auch BVerfGE 32 98; einen Irrtum über die Rechtswidrigkeit nimmt Armin Kaufmann ZStW 80 [1968] 40 f an. Die von der strafrechtlichen h. M. abw. Auffassungen erscheinen nicht überzeugend. Gegen Rechtfertigung des Täters ist anzuführen : Die Rechtsordnung deckt nur diejenigen Verhaltensweisen, die vom Grundrecht des Art. 4 G G u m f a ß t sind, was nicht der Fall ist, wenn die Rechte anderer oder wesentliche Gemeinschaftsinteressen verletzt werden. Aus der Tatsache, daß Art. 4 G G keine ausdrückliche Beschränkungsmöglichkeit vorsieht, k a n n nicht geschlossen werden, daß er schrankenlos gilt. Vielmehr unterliegt er — ebenso wie andere Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt — immanenten Grundrechtsschranken (vgl. BVerfGE 32 98, 107 ff; Maunz-Dürig-Herzog-Scholz Art. 4 Rdn. 147). Die strafrechtliche Auswirkung des Art. 4 G G ist deshalb bei Beachtung seiner Grenzen — innerhalb derer er einen Rechtfertigungsgrund darstellt (lediglich für Entschuldigung jedoch Ebert Überzeugungstäter S. 71 ; Müller-Dietz Peters-Festschr. S. 103 ff) — gering. Das strafrechtliche Problem des Überzeugungstäters entsteht überhaupt erst dadurch, daß der Täter gegen einen auch ihn bindenden gültigen Rechtsbefehl verstößt. Um des Schutzes der Gesellschaft und ihrer Mitglieder willen, die auf das Recht als überindividuelle Ordnung vertrauen, kann die Verbindlichkeit des Rechts nicht über die genannten Grenzen des Art. 4 G G hinaus von der Gewissensbilligung des einzelnen abhängig gemacht werden. Auch eine Entschuldigung scheidet aus; denn die Schuld des Überzeugungstäters liegt darin, daß er bewußt an die Stelle der in der Gesellschaft geltenden rechtlichen O r d n u n g seine eigenen Wertmaßstäbe setzt und von diesen her im Einzelfall falsch wertet (BGHSt. 2 194, 208). Deshalb ist es nicht möglich, bei einem Widerstreit von Gesetz und Gewissen letzteres prinzipiell, nämlich über den grundrechtlich garantierten Bereich hinaus, strafrechtlich zu respektieren (vgl. Welzel 11 § 22 IV; DJT(112)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Festschr. I S. 398; Ebert Überzeugungstäter S. 67 f; auch OLG Stuttgart NJW 1963 776; OLG Bremen NJW 1963 1932; OLG Karlsruhe JZ 1964 761; OLG Hamm NJW 1965 777). Auch bei den Unterlassungsdelikten — die in der Praxis hier ohnehin im Vordergrund stehen — gilt für den Gewissenskonflikt des Überzeugungstäters nichts Abweichendes (anders jedoch A. Arndt NJW 1966 2205 f ; Peters JZ 1972 86; Sch.-Schröder-Lencknerti Rdn. 119 f; Schulte und Träger BGH-Festschr. S. 263 f)· In BVerfGE 23 127 taucht der Hinweis auf die Möglichkeit einer Entschuldigung des Überzeugungstäters lediglich als obiter dictum auf; und in BVerfGE 32 98 (Nichtüberführung der erkrankten Ehefrau in ein Krankenhaus aufgrund der Überzeugung beider Ehepartner, daß das Gebet für die Kranke dringender und wertvoller sei als die ärztliche Behandlung) wird zwar die Vorwerfbarkeit verneint, jedoch ging es nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt gar nicht um die strafrechtliche Überzeugungstäterproblematik, da der Ehemann dem Wunsche der kranken Ehefrau gemäß handelte und deshalb für ihn schon keine Rechtspflicht zum Handeln bestand. An der Tatbestandsmäßigkeit fehlt es auch in den Fällen, in denen jemand aus Gewissensgründen eine Rettungshandlung unterläßt, es aber nicht zum Erfolgseintritt kommt, weil, wie der Täter weiß, eine realisierbare Rettungsalternative besteht (z. B. ein Sorgeberechtigter, der aus Gewissensgründen die Einwilligung in die lebensnotwendige ärztliche Behandlung des Kindes verweigert, nimmt zutreffend an, daß noch rechtzeitig ein Pfleger bestellt werden wird). Hier liegt schon kein Tatentschluß eines Unterlassungsversuchs vor, da der Täter vom Nichteintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges ausgeht. Ist dem Unterlassenden von der objektiv gegebenen Rettungsalternative dagegen nichts bekannt, so ist er wegen Versuchs strafbar (abw. wohl für Entschuldigung Rudolphi SK3 Vor § 19 Rdn. 7; Sch.-Schröder-Lenckner^ Rdn. 120). Vertraut er auf das Vorliegen der Rettungsalternative, tritt der Erfolg aber ein, dann geht es um eine Fahrlässigkeitsfrage. Für Entschuldigung wegen Gewissenstäterschaft ist also in allen diesen Fällen kein Raum. Zur Lösung der allgemeinen Überzeugungstäterproblematik ist auch die Ansicht, der Überzeugungstäter befinde sich im Irrtum über die Rechtswidrigkeit (Gebotsirrtum), nicht geeignet. Der Täter irrt sich weder über das Bestehen der Rechtsnorm noch über ihre rechtliche Verbindlichkeit, er versagt ihr vielmehr lediglich die persönliche Anerkennung (Gallas Mezger-Festschr. S. 319 Fußn. 3). Eine andere Frage ist, inwieweit dem Umstand, daß die alle Deliktsmerkmale erfüllende Tat auf einer Gewissensentscheidung beruht, bei der Strafzumessung und in der Form der Strafvollstreckung Rechnung zu tragen ist (dazu unten Rdn. 211). 2. Überzeugungstat ist jede rechtswidrige, schuldhafte Tat, die auf einem Gewis- 210 sensentscheid beruht. Gewissensentscheid ist jede ernste sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung, die der einzelne als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte (BVerfGE 12 45, 55). Die Fälle der neueren höchstrichterlichen Rspr. befassen sich fast ausschließlich mit Anhängern der Sekte „Zeugen Jehovas" (zu deren Glaubenslehren siehe U. v. Burski Gewissensfreiheit, S. 13 ff), die nicht nur den Wehrdienst, sondern auch den in Art. 12 a Abs. 2 S. 1 GG, § 25 WPflG vorgesehenen Ersatzdienst mit der Begründung verweigerten, daß für sie jede Alternative zum Wehrdienst einen Abfall von den Forderungen ihres Glaubens bedeute und deswegen vom Staat nicht erzwungen werden dürfe. BVerfGE 19 135 (m. abl. Anm. A. Arndt N J W 1965 2195) u. 23 127, 132 (m. abl. Anm. A. Arndt NJW 1968 979; kritisch auch Evers JZ 1968 525) bestätigten die strafrichterlichen Verurteilungen wegen Dienstflucht nach § 53 ZivildienstG (113)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

und ließen das Gewissensargument gegenüber der durch die Verfassung selbst begründeten Ersatzdienstpflicht nicht gelten (zu den abl. Anm. von A. Arndt krit. H. Weber NJW 1968 1610). Aus der strafrechtlichen Judikatur vgl. OLG Bremen NJW 1963 1932; OLG Stuttgart GA 1964 60; OLG Karlsruhe JZ 1964 761; OLG Hamm NJW 1965 777 (m. abl. Anm. Peters JZ 1965 489); 1970 69; BayObLG M D R 1966 693; OLG Köln NJW 1966 1326; 1967 2168; 1970 67; OLG Saarbrücken NJW 1969 1782. Die wiederholte Verurteilung eines Ersatzdienstverweigerers wegen Nichtbefolgung eines erneuten Einberufungsbescheids wurde jedoch von BVerfGE 23 191, 203 m. zust. Anm. A. Arndt NJW 1968 982 wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 G G für verfassungswidrig erklärt: die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst erlaube wegen der ein für allemal getroffenen und fortwirkenden Gewissensentscheidung keine wiederholte Bestrafung. Zum Ganzen siehe auch Diirig JZ 1967 426; Peters JZ 1966 457; zur Entwicklung der Rspr. insbesondere Peters Engisch-Festschr. S. 468. Weitere Fälle: BVerfGE 32 98 (betreffend OLG Stuttgart M D R 1964 1024; zum Sachverhalt oben Rdn. 209 a. E.); BGHSt. 8 162 (betreffend zum Teil inzwischen aufgehobene Staatsschutzbestimmungen); OLG Hamm NJW 1968 212 (Eltern verweigern Zustimmung zu lebensrettender Bluttransfusion für ihr Kind); hierzu Ulsenheimer FamRZ 1968 212. Insgesamt vermittelt die Rspr., gerade auch des BVerfG, ein wenig klares Bild. Namentlich vermißt man eine deutliche Abgrenzung der von Art. 4 G G und damit von der Rechtsordnung gedeckten Fälle einerseits und der — nicht mehr grundrechtlich gedeckten — Überzeugungstaten andererseits. Wie BVerfGE 32 98 zeigt, geraten auch die strafrechtlichen Vorfragen leicht aus dem Blick. 211

3. Dem Überzeugungstäter steht zwar weder Rechtfertigung noch Entschuldigung zur Seite (Rdn. 209), jedoch kann im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden, daß sich der Täter subjektiv zur Tat verpflichtet fühlte (Bruns Strafzum.2 S. 557 ff; Heinitz ZStW 78 [1966] 632 f; Stree Deliktsfolgen und Grundgesetz [1960] S. 66; in Sch.-Schröder21 § 46 Rdn. 15; G. Hirsch LK10 § 46 Rdn. 69 0· Die Rspr. vertritt im Zusammenhang mit der Bestrafung politischer Überzeugungstäter, insbesondere in Fällen der Unterstützung verfassungswidriger Organisationen, den Standpunkt: Für strafmildernde Überlegungen (innerhalb des regulären Strafrahmens) sei grundsätzlich kein Raum, wenn die Überzeugung mit dem „Sittengesetz" nicht in Einklang stehe und der Täter in der Lage sei, dies zu erkennen. Ein Verhalten, das die Gemeinschaft als verächtlich ansieht, könne niemals schuldmindernd gewertet werden. Bei der Beurteilung, ob einer Überzeugung Achtung entgegengebracht werden könne, sei das Gesamtverhalten des Täters zu berücksichtigen. Es komme sowohl auf die Ziele, wie auch auf die zur Verwirklichung eingesetzten Mittel an (BGHSt. 8 162; 254, 261; BayObLGSt. 1976 70 m. Anm. Reinh. v. Hippel JR 1977 119; außerdem zur Strafaussetzung zur Bewährung BGHSt. 6 186, 192; 7 6). Bei Ersatzdienstverweigerung aus religiösen Gründen wird die Überzeugungstäterschaft weitgehend als strafmildernder Umstand (innerhalb der Strafrahmensgrenzen) anerkannt, insbesondere wenn das gesetzwidrige Verhalten dem Täter von Jugend an durch Vorbild und Lehre als gottgefällig eingeprägt wurde (vgl. OLG Bremen NJW 1963 1932; OLG Stuttgart G A 1964 60; OLG Karlsruhe JZ 1964 761; OLG Hamm NJW 1965 777 [m. Anm. Peters JZ 1965 489]; 1970 69; BayObLG M D R 1966 693; JR 1981 171 [m. Anm. Peters JR 1981 172]; OLG Köln NJW 1966 1326; 1967 2168; 1970 67 [m. Anm. Fertig NJW 1970 67]). Unzutreffend will OLG Saarbrücken NJW 1969 1782 (m. abl. Anm. Fertig aaO) die gesetzliche Mindeststrafe nur dann zulassen, wenn objektiv der denkbar mildeste Fall vorliegt. Bei erti 14)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

neuter Überzeugungstat scheidet nach BVerfGE 23 191, 203 wegen Art. 103 Abs. 3 G G eine wiederholte Verurteilung aus (zur Frage der Doppelbestrafung eines sog. Totalverweigerers BayObLG StrafV 1983 369). In BVerfGE 23 127, 134 wird aus dem Grundrecht der Gewissensfreiheit ein allgemeines „Wohlwollensgebot" gegenüber Gewissenstätern abgeleitet (dazu G.Hirsch LK10 § 4 6 Rdn. 70), auch sollen wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Übermaßverbotes keine Strafen verhängt werden dürfen, die durch ihre Härte den Gewissenstäter brechen könnten. Dies ist ebenfalls im Strafvollzug zu beachten. 4. Strafrechtsreform. Nicht durchgesetzt haben sich die Bestrebungen, f ü r den 2 1 2 Überzeugungstäter eine besondere Strafart (custodia honesta, Einschließung) zu schaffen, welche die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung bekunden soll, ohne einen negativen Akzent zu tragen (in dieser Richtung insbesondere Radbruch ZStW 44 [1924] 34; 34. D J T II S. 354 ff; E 1922 § 71 ; in der neueren Diskussion Lang-Hinrichsen J Z 1966 153; WelzelW § 22 IV; DJT-Festschr. I S. 399 f; zur Kritik an derartigen Bestrebungen siehe namentlich Heinitz ZStW 78 [1966] 633 ff; Bockelmann Welzel-Festschr. S. 543 ff). Das 2. StrRG, auch schon E 1962 u n d AE, sehen keine derartige Sonderregelung vor. IV. Strafausschließungsgründe Schrifttum Bloy Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe (1976); Bottke Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten (1979); Hilde Kaufmann Strafanspruch, Strafklagerecht (1968); Kohlhaas Irrtum über das Vorliegen oder NichtVorliegen von persönlichen Strafausschließungsgründen, ZStW 70 (1958) 217; Peters Zur Lehre von den persönlichen Strafausschließungsgründen, JR 1949 496; Stree Der Irrtum über die Angehörigeneigenschaft seines Opfers, FamRZ 1962 55. Siehe auch die Schrifttumsangaben zu den objektiven Strafbarkeitsbedingungen bei Jescheck LK10 Vor § 13 vor Rdn. 78. 1. Grundsätzliches. Trotz Vorliegens einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen 2 1 3 und schuldhaften Handlung kann die Strafbarkeit entfallen, weil ein Strafausschließungsgrund eingreift (z. B. die Indemnität eines Abgeordneten). Die Strafausschließungsgründe stimmen mit den objektiven Strafbarkeitsbedingungen insoweit überein, als sie einen außerhalb von Handlungsunrecht und Schuld stehenden materiellrechtlichen Gesichtspunkt darstellen (näher zu letzteren Jescheck LK10 Vor § 13 Rdn. 78 ff; Hirsch L K 9 Vor § 51 Rdn. 187 ff). Sie unterscheiden sich von diesen aber darin, daß bei den objektiven Strafbarkeitsbedingungen das Strafbedürfnis erst bei Vorliegen eines zusätzlichen äußeren Umstands gegeben ist, während bei ihnen eine Strafbarkeit, die prinzipiell außer Frage steht, nur ausnahmsweise ausscheidet (Stratenwerth'i Rdn. 196; Welzein § 10 V d ) . Man bezeichnet die G r u p p e zumeist als persönliche Strafausschließungsgründe, was historisch auf bestimmte persönliche Exemtionen von der Strafbarkeit zurückgeht, heute aber ungenau ist, da man den Kreis der Fälle inzwischen weiter zieht (vgl. BGHSt. 11 273, 274; Maurach-Zip/6 § 35 V Β 4 b [die deshalb zwischen sachlichen und persönlichen Strafausschließungsgründen differenzieren]). Offenbar spielt bei der herkömmlichen Terminologie auch eine Rolle, daß man durch den Zusatz eines Adjektivs die spezielle G r u p p e der Strafausschließungsgründe von dem Gesamtbereich der G r ü n d e (also einschließlich Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen), die der Strafbarkeit (115)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

eines tatbestandsmäßigen Verhaltens entgegenstehen, terminologisch abheben will. Falls ein solches Bedürfnis tatsächlich zu bejahen ist, wäre die Bezeichnung „schlichte" Strafausschließungsgründe aber zutreffender. Auch unterscheidet die h. L. zwischen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen. Zu ersteren werden die Umstände gerechnet, die bei der Tathandlung vorliegen müssen, zu letzteren diejenigen, die eine bereits entstandene Strafbarkeit (ζ. B. bei Rücktritt vom Versuch) rückwirkend wieder beseitigen (Jescheck AT 3 § 52 II 1 u. 2; MaurachZipfö § 35 V Β 4 a; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 127 ff). Ganz abgesehen von den Mißverständnissen, die der Ausdruck „Strafaufhebungsgrund" heraufbeschwört, weil er ebenfalls Verfahrenshindernisse erfaßt (vgl. Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 133), kommt es aber letztlich nur darauf an, ob im Zeitpunkt der rechtlichen Beurteilung eine Strafbarkeit gegeben ist oder nicht, weshalb der Begriff „Strafausschließungsgrund" jedenfalls den Oberbegriff bildet. Im Gegensatz zu den Fällen des Schuldausschlusses lassen sich Strafausschließungsgründe nicht aus allgemeinen dogmatischen Prinzipien, sondern nur aus dem Gesetz entnehmen, da die Frage, inwieweit die Rechtsordnung die Strafbarkeit eines tatbestandsmäßig-rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens ausnahmsweise entfallen läßt, eine rein gesetzgeberische Wertentscheidung betrifft (vgl. zur Problematik auch Bloy Strafausschließungsgründe S. 16 ff, 30 ff). Zu trennen sind von den Strafausschließunsgründen die Fälle des Absehens von Strafe; bei diesen erfolgt nicht Freispruch, sondern Schuldspruch ohne Strafausspruch (vgl. dazu v. Weber M D R 1956 707). Ebenso wie die objektiven Strafbarkeitsbedingungen unterliegen die Strafausschließungsgründe dem Erfordernis des Strengbeweises im Strafverfahren (§§ 244—256 StPO) und der Notwendigkeit der Zweidrittelmehrheit bei allen dem Angeklagten nachteiligen Entscheidungen des Gerichts (§ 263 StPO). 214

2. Es geht bei den Strafausschließungsgründen (einschl. Strafaufhebungsgründen) insbesondere um folgende Fälle: die Indemnität (Art. 46 Abs. 1 G G , § 36) der Abgeordneten (vgl. Tröndle LK10 § 36 Rdn. 2; allg. Auffassung); den strafbefreienden Rücktritt vom Versuch (vgl. für die h. M. Vogler LK10 § 24 Rdn. 1 ff m. w. Nachw. [auch zur abw. Auffassung, daß schon Entschuldigung]); die tätige Reue nach § 310 (vgl. Wolff LK. 10 § 310 Rdn. 1 ; allg. Auffassung); die Ausübung der Wahlmöglichkeit gemäß § 139 Abs. 4 in denjenigen Fällen, in denen zum Zeitpunkt der Ausübung die Anzeige nicht mehr rechtzeitig sein würde, andernfalls fehlt es bereits an der Tatbestandsmäßigkeit (Rdn. 215 mit Nachw. zum Streitstand); das Altersprivileg des § 173 Abs. 3 (Baumann» § 30 II; Dreher-Tröndle^l § 173 Rdn. 8; Horn S K 2 § 173 Rdn. 9; Lackner15 § 173 Anm. 7; Mösl L K 9 § 173 Rdn. 13; Sch.Schröder-Lenckner2\ §173 Rdn. 9; dagegen für Entschuldigungsgrund Jescheck AT3 § 42 II 1, § 52 II 1); die Erweislichkeit der Wahrheit in § 186 (vgl. BGHSt. 11 273, 274 [„Nichterweislichkeit Bedingung der Strafbarkeit, die Beweisbarkeit Strafausschließungsgrund"]; RGSt. 62 83, 95; 65 422, 425; näher hierzu Herdegen L K 9 § 186 Rdn. 2 ff; Hirsch Ehre und Beleidigung [1967] S. 170 ff) und die offensichtliche Ungefährlichkeit in § 326 Abs. 5 (vgl. Sch.-Schröder-Lenckner2\ § 326 Rdn. 17; allg. Auffassung).

215

Nicht erst um einen Strafausschließungsgrund handelt es sich hingegen bei der Notwehrüberschreitung (§33); es geht dort vielmehr schon um Entschuldigung (h. M.; vgl. oben Rdn. 192 und im einzelnen Spendei LK10 §33 Rdn. 34 ff m. w. Nachw.). Auch bildet die Verantwortungsfreiheit für parlamentarische Berichte (Art. 42 Abs. 3 G G , § 37) bereits einen Rechtfertigungsgrund, weil andernfalls die wahrheitsgetreue parlamentarische Berichterstattung unzulässig und damit auch der (116)

Vorbemerkungen (Hans Joachim Hirsch)

Vor § 32

Notwehr ausgesetzt wäre (vgl. Tröndle LK10 §37 Rdn. 2 m. w. Nachw.; anders Jescheck AT3 §19 II 3; Lackner 15 §37 Anm. 1; Sch.-Schröder-Lenckner2\ §37 Rdn. 1). Ebenfalls handelt es sich beim Angehörigenprivileg in § 139 Abs. 3 S. 1 und § 258 Abs. 6 nicht erst um einen Strafausschließungsgrund. Da diese Vorschriften dem Motivationsdruck des in einer notstandsähnlichen Situation befindlichen Angehörigen Rechnung tragen, greift vielmehr Entschuldigung Platz (vgl. Rdn. 198 m. Nachw., auch zur abw. h. M.). Das gilt erst recht für die Fälle tatbestandsmäßiger Strafvereitelung bei persönlicher Selbstbegünstigung gem. § 258 Abs. 5 (vgl. Rdn. 197 m. Nachw. zum Streitstand). Ebenfalls gehört das in § 139 Abs. 2 und 3 S. 2 geregelte Privileg der Geistlichen, Rechtsanwälte, Verteidiger und Ärzte nicht hierher; es handelt sich bereits um einen Rechtfertigungsgrund (vgl. Rdn. 168 m. Nachw. zum Streitstand). Zu differenzieren ist bei der Ausübung der Wahlmöglichkeit in § 139 Abs. 4. Beginnt der Täter mit der Ausübung der den Erfolg abwendenden Alternativhandlung in einem Zeitpunkt, zu dem die Anzeige nach § 138 noch rechtzeitig wäre, so fehlt es schon objektiv an der Tatbestandsmäßigkeit, denn der Täter tut hier mehr zum Schutze des bedrohten Rechtsguts, als die Rechtsordnung von ihm verlangt. Glaubt er, den Erfolg verhindern zu können, scheitert aber sein darauf gerichtetes Handeln, liegt dementsprechend kein Vorsatz vor. Um einen persönlichen Strafausschließungsgrund geht es in § 139 Abs. 4 dagegen dann, wenn der Täter erst alternativ tätig zu werden beginnt, nachdem es für eine Anzeige zu spät ist und deshalb § 138 tatbestandlich vorliegt. Hier handelt es sich genauer betrachtet um einen Fall der tätigen Reue bei vollendetem Delikt. Das gilt unter diesen Voraussetzungen auch für § 139 Abs. 4 S. 2. Abw. wird im Schrifttum nicht differenziert, sondern eine Auffassung betrachtet § 139 Abs. 4 insgesamt als Strafausschließungsgrund (Hanack LK10 § 139 Rdn. 37; Lackner 15 § 139 Anm. 4; Maurach-Schroeder 116 §96 III d; W e k e l n § 7 6 1 4 b), die andere geht insgesamt von einer Tatbestandsregelung aus {Jescheck AT3 § 5 2 1 1 2 ; Kohlrausch-Lange43 §139 Anm. VI; Rudolphi SK3 § 139 Rdn. 16; Sch.-Schröder-Cramer2\ § 139 Rdn. 6; Bloy Strafausschließungsgründe S. 140, 212). 3. Der Zeitpunkt, zu dem ein Strafausschließungsgrund vorliegen muß, bestimmt 216 sich nach dessen Inhalt. Bei einem Teil der Strafausschließungsgründe ist notwendig, daß sie bereits während der Tatbegehung gegeben sind (z. B. § 36). Bei anderen — den sog. Strafaufhebungsgründen (z. B. § 24) — geht es um spätere Zeitpunkte vor dem Erfolgseintritt, und bei § 186 (Erweislichkeit der behaupteten Tatsache) ist überhaupt erst bei Abschluß der prozessualen Beweisaufnahme maßgebend. — Da die Strafausschließungsgründe das Tatunrecht unberührt lassen, kommen sie nur dem Beteiligten zugute, bei dem sie vorliegen. — Die irrige Annahme eines Strafausschließungsgrundes ist als bloßer Irrtum über die Strafbarkeit unbeachtlich (BGHSt. 23 281; OLG Stuttgart M D R 1970 162). Abw. wird von denjenigen Autoren, die einzelne besondere Entschuldigungsgründe (z. B. § 258 Abs. 6) erst als im Schuldbereich wurzelnde persönliche Strafausschließungsgründe einordnen, bei diesen im Unterschied zu den übrigen Strafausschließungsgründen Beachtlichkeit des Irrtums angenommen (vgl. Sch.-Schröder2\ Rdn. 132 [Lenckner]; § 16 Rdn. 33 [Cramer]m. w. Nachw.). Eine solche Differenzierung zeigt jedoch, daß jene Gruppe angeblicher Strafausschließungsgründe doch den Entschuldigungsgründen nähersteht und deshalb bereits dort einzuordnen ist (vgl. Rdn. 197 f, 215), so daß sich die Relevanz des Irrtums aus den dort geltenden Grundsätzen (Rdn. 188) ergibt. Die Unbeachtlichkeit des Irrtums über echte Strafausschließungsgründe läßt im übrigen unberührt, daß die irrige Annahme den Täter zu der Fehlvorstellung geführt haben (117)

Vor § 32

2. Abschnitt. Die Tat

kann, er handele gar nicht rechtswidrig. In solchem Fall liegt ein Verbotsirrtum (§ 17) vor. — Der Satz in dubio pro reo gilt grundsätzlich auch hinsichtlich der Strafausschließungsgründe, da diese materiellrechtlicher Natur sind (BayObLG NJW 1961 1222; Jescheck AT 3 § 52 III 3; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 134; S tree In dubio pro reo [1962] S. 59; unzutreffend OGHSt. 2 117, 126). Ausnahmen bilden die Erweislichkeit der Wahrheit (§ 186) und die offensichtliche Ungefährlichkeit (§ 326 Abs. 5), die beide positiv festgestellt sein müssen. Über die sachlichen Gründe der in § 186 getroffenen Regelung näher Hirsch Ehre und Beleidigung [1967] S. 170 ff. Zu den Bedenken gegenüber § 326 Abs. 5 und den hier hinsichtlich des Satzes in dubio pro reo zu beachtenden Unterschieden näher Lackner 15 § 326 Anm. 7 m. w. Nachweisen. V. Verfahrensvoraussetzungen 217

Einige im StGB geregelte Umstände betreffen nicht die Strafbarkeit der Tat, sondern von ihrem Vorliegen oder NichtVorliegen hängt die Zulässigkeit der prozessualen Verfolgung ab. Sie gehören also in den Bereich der Verfahrensvoraussetzungen und damit zum Prozeßrecht. Der betreffende Umstand muß im jeweiligen Zeitpunkt des Verfahrens gegeben (resp. bei Verfahrenshindernis nicht gegeben) sein. Zu nennen sind: Strafantrag (§§ 77 ff), Ermächtigung (§§194 Abs. 4, 77 e), Strafverlangen (§ 77 e). Nach h. M. als reines Verfahrenshindernis auch die in §§ 78 ff geregelte Verfolgungsverjährung (RGSt. 76 159; BGHSt. 2 300; 4 379, 385; 8 269; 11 393, 395; BGH NJW 1952 271; BVerfGE 1 418, 423; 25 269, 287; Sch.Schröder-Stree2\ Vor § 78 Rdn. 3 f m. w. Nachw.); dagegen findet sich im Schrifttum verbreitet wieder die gemischt materiellrechtlich-prozessuale Theorie (vgl. etwa Baumanni § 30 III; Dreher-Tröndle4\ Vor § 78 Rdn. 4; Jescheck AT3 § 52 II 2; Rudolphi SK.4 Vor § 78 Rdn. 10), die mit Rücksicht auf den Vorrang der prozessualen Wirkung aber ebenfalls nicht zum Freispruch, sondern zur Einstellung des Verfahrens gelangt (Dreher-Tröndle^ aaO). Ausführliche Übersicht über die verschiedenen Verjährungstheorien bei Bloy Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe [1976] S. 180 ff. Bei Kindesentziehung und Entführung (§§ 2 3 5 - 2 3 7 ) ist gemäß § 238 Abs. 2 die Eheschließung ein auflösend bedingtes Verfahrenshindernis (h. M.; vgl. Vogler LK10 § 238 Rdn. 2 m. w. Nachw.).

218

Verfahrenshindernis ist auch die Exterritorialität (§ 18GVG); vgl. BGHSt. 14 137, 139; RGSt. 52 167; weitere Nachw. zur herrschenden prozessualen Theorie und auch zur abw. materiellrechtlichen Auffassung bei Tröndle LK 10 Vor § 3 Rdn. 74. Eine Verfahrensvoraussetzung bildet ferner die Genehmigung des Bundestags oder des zuständigen Landtags zur Verfolgung von Straftaten eines Abgeordneten (vgl. zur Immunität Art. 46 Abs. 2—4 G G ; § 152 a StPO); näher Bockelmann Die Unverfolgbarkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht (1951). Zu weiteren Verfahrensvoraussetzungen siehe Löwe-Rosenberg-Schäfer23 Einl. Kap. 12. Das Urteil hat bei Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung (resp. Vorliegen eines Verfahrenshindernisses) auf Einstellung des Verfahrens (§ 260 Abs. 3 StPO), nicht etwa auf Freispruch zu lauten. Zu Fragen der Abgrenzung von Strafausschließungsgründen (Rdn. 213 ff) und Verfahrensvoraussetzungen siehe die Schrifttumsangaben vor Rdn. 213.

(118)

§32

Notwehr (Spendei) §32 Notwehr

(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. (2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. F a s s u n g des f r ü h e r e n bis z u m 1 . 1 . 1 9 7 5 g e l t e n d e n § 53 in s e i n e n b e i d e n ersten Absätzen : (1) Eine strafbare wehr geboten war.

Handlung

(2) Notwehr ist diejenige tigen, rechtswidrigen Angriff

ist nicht vorhanden,

wenn die Handlung

Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen von sich oder einem anderen abzuwenden.

durch

Not-

gegenwär-

Mit § 32 S t G B — bis a u f d e n A u s d r u c k „ H a n d l u n g " statt „ T a t " in Abs. 1 wörtlich ü b e r e i n s t i m m e n d § 15 O W i G .

-

W o r t l a u t des § 227 B G B : (1) E i n e d u r c h N o t w e h r g e b o t e n e H a n d l u n g ist n i c h t w i d e r r e c h t l i c h . (2) N o t w e h r ist d i e j e n i g e Verteidigung, welche e r f o r d e r l i c h ist, u m e i n e n gegenw ä r t i g e n , r e c h t s w i d r i g e n A n g r i f f v o n sich o d e r e i n e m a n d e r e n a b z u w e n d e n .

Schrifttum Adomeit Wahrnehmung berechtigter Interessen und Notwehrrecht, JZ 1970 495; Ahsbahs Die Grundlinien des Notwehrrechts, Diss. Kiel 1903; v. Alberti Das Notwehrrecht (1901); Arzt Notwehr gegen Erpressung, MDR 1965 344; Arzt Notwehr, Selbsthilfe, Bürgerwehr, Schaffstein-Festschr. (1975) S. 75; Baumann Notwehr im Straßenverkehr, NJW 1961 1745; Baumann § 53 StGB als Mittel der Selbstjustiz gegen Erpressung? MDR 1965 346; Baumgarten Notstand und Notwehr (1911); Behringer Die Notwehr, Ztschr. f. Rechtspflege in Bayern 1909 137; Berner Die Notwehrtheorie, Arch. d. Criminalrechts 1848 547; v. Buri Notstand und Notwehr, GerS 30 (1878) 434; van Calker Vom Grenzgebiet zwischen Notwehr und Notstand, ZStrW 12 (1892) 443; Courakis Zur sozialethischen Begründung der Notwehr (1978); Graf zu Dohna Die legislative Behandlung von Notwehr und Notstand, ZStrW33 (1912) 125; Dubs Notwehr, Bemerkungen zu StrGB Art. 33 anhand von sieben Fällen, SchwZStr. 89 (1973) 337; Erdsiek Notwehr bei Eingriff in die Intimsphäre, NJW 1962 2240; Focke Notwehr in Lehre und Rechtsprechung, StrAbh. H. 403 (1939); Franke Die Grenzen der Notwehr im französischen, schweizerischen und österreichischen Strafrecht im Vergleich mit der neueren deutschen Entwicklung, Diss. Freiburg i. Br. 1976; Geilen Notwehr und Notwehrexzeß, Jura 1981 200, 256, 370; Großmann Das Prinzip der Selbstverteidigung im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, Diss. Berlin 1903; Haas Notwehr und Nothilfe (1978); Hassemer, Raimund Ungewollte, über das erforderliche Maß hinausgehende Auswirkungen einer Notwehrhandlung, JuS 1981 412; Haug Notwehr gegen Erpressung, MDR 1965 548; Heinsius Moderne Entwicklung des Notwehrrechts, Diss. Hamburg 1965; Himmelreich Nothilfe und Notwehr, insbes. zur sog. Interessenabwägung, MDR 1967 361; Himmelreich Notwehr und unbewußte Fahrlässigkeit (1971); v. Hippel, Robert Über Notwehr und vorläufige Festnahme, JW 1924 1930; Hoffmann-Riem Übergang der Polizeigewalt auf Private? ZRP 1977 277; Hold von Ferneck Die Rechtswidrigkeit, II. Bd., 1. Abt.: Notstand und Notwehr (1905); Jesse Die Tragweite der Notwehr, Diss. Leipzig 1928; v. Kallina Notwehr gegenüber Amtshandlungen (1898); Kraegeloh Beiträge zur Lehre von der Notwehr im geltenden Strafrecht, Diss. Bonn 1929; Kratzsch Grenzen der Strafbarkeit im Notwehrrecht (1968); Kratzsch § 53 StGB und der (i)

§ 3 2

2. Abschnitt. Die Tat

Grundsatz nullum crimen sine lege, GA 1971 65; Krause, Fr. W. Zur Problematik der Notwehr, H.-J. Bruns-Festschr. (1978) S. 71; Levita Das Recht der Notwehr (1856); Löffler Unrecht und Notwehr, ZStrW21 (1901) 537; Löffler Rechtswidrigkeit, Notwehr und Notstand, in: Gleispach Der Deutsche Strafgesetz-Entwurf (1921) S. 21; Oetker Über Notwehr und Notstand nach den §§227, 228, 904 des bürgerlichen Gesetzbuchs (1903); Oetker Notwehr und Notstand, VDA II (1908) S. 255; Oetker Notwehr und Notstand, Frank-Festgabe (1930) I S. 359; Otto Rechtsverteidigung und Rechtsmißbrauch im Strafrecht — Zum Zusammenhang zwischen den §§ 32, 34 StGB, Würtenberger-Festschr. (1977) S. 129; Riso Das Recht der Eigenmacht nach dem Sächsischen und Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, Diss. Leipzig 1900; Sax Zur Frage der Notwehr bei Widerstandsleistungen gegen Akte sowjetzonaler Strafjustiz, JZ 1959 385; Schaffstein Notwehr und Güterabwägungsprinzip, MDR 1952 132; Schmidhäuser Über die Wertstruktur der Notwehr, Honig-Festschr. (1970) S. 185; Schmidt, Eberhard Leitsätze zum Thema Notwehr, Notstand und Nötigungsstand, Niederschriften über d. Sitzungen d. Großen Strafrechtskommission 2 (1958), Anh. Nr. 21, S. 51 ; Schollmeyer Das Recht der Notwehr nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Würzb. Rektoratsrede (1899); Schroeder, Fr. Chr. Die Notwehr als Indikator politischer Grundanschauungen, Maurach-Festschr. (1972) S. 127; Schroeder, Fr. Chr. Zur Strafbarkeit der Fluchthilfe, JZ 1974 113; Seelmann Grenzen privater Nothilfe, ZStrW89 (1977) 36; Seidel Die Verletzung Dritter in der Notwehr, Diss. Leipzig 1931; Spendet Der Gegensatz rechtlicher und sittlicher Wertung am Beispiel der Notwehr, DRiZ 1978 327; Stockei Ungeklärte Notwehrprobleme bei Widerstand gegen die Staatsgewalt (§113 StGB), JR 1967 281; Stree Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen StGB, JuS 1973 461 ; Suppert Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage" (1973); Titze Die Notstandsrechte im Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuche und ihre geschichtliche Entwicklung (1897); Winkler Die Stellung der Notwehr im System des Bürgerlichen Rechts, Diss. Tübingen 1962 (Mschr.); Zoll Notwehr und Notwehrüberschreitung im polnischen Strafrecht, ZStrW 90 (1978) 520.

Weiteres Schrifttum zu einzelnen Abschnitten, und zwar vor Rdn. 15 (Rechtsgeschichte), Rdn. 22 (rechtswidriger Angriff), Rdn. 137 („Verteidigungswille"), Rdn. 147 (Staatsnothilfe), Rdn. 163 (notwehrfähige Güter), Rdn. 248 (Selbstschutzanlagen), Rdn. 255 (Merkmal „geboten"), Rdn. 257 ^Menschenrechts-Konvention), Rdn. 263 (polizeiliche Notrechte), Rdn. 281 („Notwehrprovokation"), Rdn. 307 („sozialethische" Einschränkung), Rdn. 313 (Unverhältnismäßigkeit), Rdn. 329 (Notwehr und Hilfeleistung), Rdn. 335 („Putativnotwehr"). Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist auf Grund des 2. StrRG vom 4. 7. 1969 (BGBl. I S. 717 ff), das mit Wirkung vom 1. 1. 1975 den neuen „Allgemeinen Teil" des Strafgesetzbuchs eingeführt hat, an die Stelle des früheren § 53 I und II getreten. Ihre Fassung stimmt inhaltlich, zum Teil wörtlich mit der von 1871 überein. § 32 I bezeichnet nunmehr, insoweit in Entsprechung zu § 37 des StGB-Entwurfs 1962, aber im Unterschied zum alten Gesetzeswortlaut, die durch Notwehr gebotene Tat nicht mehr allgemein und mehrdeutig als nicht strafbar, sondern genauer als nicht rechtswidrig. Das Gesetz erkennt damit ausdrücklich die Notwehr als Rechtfertigungsgrund an. Von einer unerheblichen stilistischen Änderung abgesehen stimmt die jetzige Notwehrdefinition mit der klassischen des § 53 II a. F., den schon § 227 II BGB übernommen hat, wörtlich überein. Die Regelung der Notwehrüberschreitung in § 53 III a. F. ist „aus Gründen der besseren Übersicht" (Entwurf eines StGB 1962 mit Begründung [1962] S. 156 1. Sp.) in § 33 zu einer eigenen Vorschrift verselbständigt worden. Zu den Gesetzesberatungen s. BT-Drucks. V/4095, S. 14; BT, SondA f. d. StrRef., Prot. V/1641, 1736, 1740, 1805 ff. (2)

§ 3 2

Notwehr (Spendei)

I. Allgemeine Grundlagen der Notwehr 1. Rechtsnatur 2. Rechtsgrund 3. Rechtsgeschichte

Rdn. . . 1 1 11 15

II. Die Voraussetzungen der Notwehrlage: gegenwärtiger rechtswidriger A n g r i f f . . . 22 1. Der Angriff 23 a) Begriff des Angriffs 23 b) Träger des Angriffs 30 aa) Personen, nicht Sachen . . . . 31 bb) Natürliche Personen, nichtjuristische 33 cc) Tiere, nicht nur Menschen . . 38 c) Form des Angriffs (Tun oder Unterlassen) 46 2. Die Rechtswidrigkeit des Angriffs . . 54 a) Begriff des rechtswidrigen Angriffs 54 aa) Beurteilung vom Angegriffenen aus 55 bb) Bestimmung nach objektivem Maßstab 60 b) Rechtswidriger Angriff durch rechtswidrigen Befehl 74 c) Rechtswidriger Angriff durch Fehlurteil 104 3. Die Gegenwärtigkeit des Angriffs . .112 a) Begriff des gegenwärtigen Angriffs 113 b) Beginn des Angriffs 118 c) Beendigung des Angriffs 122 d) Gegenwärtiger Angriff und gegenwärtige Gefahr (Problem der „Präventivnotwehr") 126 III. Die Voraussetzungen der Notwehrhandlung: erforderliche Verteidigung . . 136 1. Die Verteidigung 137 a) Begriff der Verteidigung (Problem des „Verteidigungswillens") 137 aa) Schutz-oder Trutzwehr . . . .137 bb) Selbst- oder Nächstenhilfe (Notwehr i. e. S. oder Nothilfe) 145

2.

IV.

Rdn. b) Träger der Verteidigung (Problem der „Staatsnothilfe") . . 147 aa) Der Verteidiger 148 bb) Der zu Verteidigende (der „andere" i. S. d. § 32 II) . 152 c) Objekte der Verteidigung (notwehrfähige Güter) 163 d) Form der Verteidigung (Tun oder Unterlassen) 200 e) Richtung der Verteidigung (nur gegen Angreifer) 204 Die Erforderlichkeit der Verteidigung 218 a) Begriff der erforderlichen Verteidigung 219 b) Verhältnismäßigkeit von Abwehrund Angriffsverhalten 224 aa) Das Ob der Verteidigung . . .231 bb) Das Wie der Verteidigung . . 237 c) Verteidigung durch Selbstschutzanlagen 248

Die Versuche der Notwehreinschränkung 254 1. aus der Verschiedenheit der Ausdrücke „erforderlich" und „geboten" in § 32 255 2. auf Grund der Menschenrechtskonvention 257 3. auf G r u n d des Polizeirechts 263 4. wegen „Notwehrprovokation" . . . .281 5. aus „sozialethischen" Gründen . . . . 307 6. wegen völliger Unverhältnismäßigkeit der kollidierenden Güter 313

V. Die Rechtsfolgen der Notwehr 321 1. Die Berechtigung 322 2. Die Verpflichtung 325 a) auf Grund der Notwehrlage . . . 326 b) auf Grund der Notwehrhandlung 329

VI.

Die „Putativnotwehr"

335

VII. Verfahrensrechtliches

348

I. Allgemeine Grundlagen der Notwehr 1. Rechtsnatur Notwehr ist — entsprechend der klassischen Definition des Gesetzes 1 — die 1 erforderliche, d. h. not-wendige, weil „Not wendende" Ab-wehr eines gegenwärtigen 1 Ebenso Jescheck AT S. 271 (§ 32 II); Maurach AT4 S. 307 (§ 26 I) (dagegen keine uneingeschränkte Anerkennung mehr bei Maurach-Zipf AT S. 375 f [§ 26 I]). Nach Binding Handb. S. 732 Anm. 5 ist § 53 a. F. = § 32 StGB „einer der bestgelungenen Paragraphen", nach Oetker Über Notwehr und Notstand S. 5/6 „die Notwehrdefinition anerkanntermaßen eine der besten des ganzen Strafgesetzbuches". (3)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

rechtswidrigen Angriffs, die der Angegriffene (Verteidiger) oder ein Dritter (Helfer) übt; in diesem zweiten Fall spricht man auch von Nothilfe. § 32 StGB sanktioniert wie § 15 OWiG und § 227 BGB auf Grund der Notwehrlage ein Recht zur Selbstverteidigung (RGSt. 21 168, 170; BGHSt. 5 245, 248) und damit zur privaten Zwangsausübung, das „Notwehrrec/i/" (RGSt. 27 44, 46; 63 215, 220; BGHSt. 5 248; 24 356, 359; 25 229, 231; 26 143, 146 ; 27 336, 338; BGH[St.] NJW 1956 920; BGHZ 64 178, 179, 181, 183; BGH[Z] NJW 1976 41, 42; BVerwG NJW 1974 1343, 1344)2. Schon bei Schaffung des StGB von 1871 war vorherrschende Meinung: trotz der insoweit nicht eindeutigen Gesetzesfassung sollten auch die Vorläufer des § 32 StGB „den unbestrittenen Grundsatz, daß Notwehr ein Recht sei", zum Ausdruck bringen 3 . § 227 BGB von 1900, der den gleichen Inhalt hat wie die strafrechtliche Vorschrift und die gleiche Auslegung gebietet 4 , stellte das in der Formulierung klar. § 32 StGB von 1975 bestätigte nur diese Rechtslage. 2

Wie das Notwehrrecht näher rechtlich zu charakterisieren und zu verstehen ist, war und ist indes umstritten und zweifelhaft 5 . Im Strafrecht hat die ältere Doktrin das Problem vor allem in der Frage erblickt, ob die Selbsthilfe des einzelnen als ein vom Staat anzuerkennendes ursprüngliches und „selbständiges Schutzrecht" oder als eine vom Staat und seiner Macht nur abgeleitete Gewaltermächtigung anzusehen sei 6 . Auch heute wird z.T. zwischen privater Eigenmacht und staatlichem Rechtsschutzmonopol geradezu ein „Widerspruch" und in dessen Lösung die Aufgabe gesehen 7 . Die Zivilrechtslehre hat die Frage bewegt, ob das Notwehrrecht, „positiv" gedeutet, als „subjektives Recht", oder, „negativ" wirkend, nur als „bloße Befugnis" und Ausschlußgrund des Unrechts zu verstehen sei 8 , bis die Kontroverse 2 Ähnlich („berechtigt" zur Notwehr oder zur Gewaltanwendung, „Abwehrbefugnisse") RGSt. 55 82, 83, 85; 167; 67 337, 339; BGHSt. 24 356; 27 336; R G Z 111 370, 372. 3 Motive zu dem Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund (1869) S. 102. Vgl. auch Überschrift des 6. Abschnittes vom I. Buch des BGB: „Ausübung der Rechte. Selbstverteidigung..." Gegen Notwehr als „Recht" unrichtig Hoffmann-Riem ZRP 1977 277, 281 r. Sp. 4 Oetker VDA II S. 255, 262; Rob. ν. Hippel II S. 203; Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 52; Planck-Knoke BGB, 4. Aufl., I. Bd. (1913) § 227 Anm. 1 vor a); Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) Anm. l.b); v. Feldmann MünchYiomm., I. Bd. (1978) Rdn. 1. Anders neuerdings zu Unrecht v. Staudinger-H. Dilcher BGB, 12. Aufl. (1979) Rdn. 31. 5 Zu dieser Frage mehr unter geschichtlichem Blickwinkel Heilm. Mayer AT S. 201 ff; eingehend neuerdings Haas S. 126 ff, der aber nicht über das Ergebnis hinauskommt, daß das Notwehrrecht seine „Erklärung findet durch die Möglichkeit, dem Opfer den entstehenden Schaden selbst zuzurechnen" (S. 220). 6 Im ersten Sinne eindringlich Binding Handb. S. 733 ff, 735, für den das Notwehrrecht ein „Urrecht" ist, das schon vor dem Staat bestanden habe und daher nicht seiner Delegation bedürfe; ebenso ζ. B. v. Alberti S. 8/9; Oetker VDA II (1908) S. 255, 257; Klug H. PetersGedächtnisschr. (1967) S. 434, 440; Klose ZStrW 89 (1977) 1, 87. Im zweiten Sinne z. B. v. Buri GerS 30 (1878) 467; Graf zu Dohna Die Rechtswidrigkeit als allgemeingültiges Merkmal im Tatbestande strafbarer Handlungen (1905) S. 130; Georg Jellinek System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. (1905, Neudr. 1963) S. 247; Nagler-Jagusch LK 7 I (1954) § 53 a. F. Anm. IV. 1 (S. 371); Merten Rechtsstaat und Gewaltmonopol (1975) S. 56. 7 Jescheck AT S. 269 (§ 32 I 1). 8 Für die erste Alternative z. B. Titze S. 32 ff, 73; H. A. Fischer Die Rechtswidrigkeit mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts (1911) S. 212, 214; v. Tuhr Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 584/585; Ernst Wolf Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 3. Aufl. (1982) S. 612/613. Für die zweite Alter(4)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

schließlich als ein „Streit" bezeichnet worden ist, der „ein rein lehrhafter ohne praktische Bedeutung ist" 9 . In der Strafrechtslehre wird dieser Begriffsgegensatz naturgemäß entweder ausdrücklich oder stillschweigend nicht weiter erörtert 11 , dafür aber neuerdings in ähnlicher Form allgemein mit der vagen und fragwürdigen Unterscheidung von „echtem Eingriffsrecht" und „schlichter Handlungsbefugnis" berührt, die man aus einer rechtfertigenden Erlaubnisnorm herauszulesen sucht 12 . Inzwischen ist das Bedürfnis, das Notwehrrecht begrifflich näher zu bestimmen, 3 unversehens im Verwaltungs- und infolgedessen auch im S/ra/recht besonders akut geworden, und zwar unter dem Blickwinkel, ob § 32 StGB nur eine „privatrechtliche Zwangsbefugnis" oder auch eine „verwaltungsrechtliche Eingriffsermächtigung" für polizeiliches Handeln ergibt 13 , ohne daß hierüber bisher Einigkeit erzielt werden konnte (s. dazu Nr. IV.3, Rdn. 266 ff). Damit ist bis zu einem gewissen Grade die alte Streitfrage, ob das Recht der Selbstverteidigung und Nothilfe „öffentliches" oder „Privatrecht" sei und seine Regelung in das Straf- oder Zivilgesetzbuch gehöre 14 , zu neuem Leben erwacht. Richtig dürfte sein, daß das Notwehrrecht Elemente aus beiden Rechtsgebieten enthält 15 , da es ein Recht zum Eingriff des einzelnen in die Rechte und Güter anderer nicht nur in eigenem, sondern auch in fremdem, ja sogar in aller, also öffentlichem Interesse bedeutet. Die Frage nach seinem Begriff und seiner Rechtswaiwr berührt damit die nach seinem Rechtsgrwwi/, obwohl beide Gesichtspunkte, was bei neuen Erörterungen nicht immer geschieht 16 , begrifflich wohl zu unterscheiden sind. Notwehr ist eine Form staatlich anerkannter in der Regel privater Selbst- und 4 Nächstenhilfe, soweit der Staat keinen ausreichenden Schutz gewährt. Als solche beruht sie auf einem Ausnahmerecht; „denn im Rechtsstaate bleibt der regelmäßige Weg zur Verteidigung und Durchführung von Rechten die Anrufung des Richters", so bereits 1889 in einer modern anmutenden Formulierung RGSt. 19 75, 78. Unstrittig ist heute die Notwehr als Rechtsinstitut ein wichtiger, wenn nicht der 5 bedeutsamste Rechtfertigungsgrund (Unrechtsausschließungsgrund) für den Eingriff

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native z.B. Planck-Knoke BGB, 4. Aufl. I (1913) §227 Anm. 4); Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. 3.b); v. Staudinger-Coing BGB 11. Aufl. I (1957), § 227 Rdn. 12; Engisch Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. (1977) S. 25. Zu der Frage näher Winkler S. 55 ff, 80 ff. Lehmann-Hübner Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 16. Aufl. (1966) S. 120. So bewußt Baumgarten S. 118 Anm. 2). Ζ. Β. Rob. v. Hippel II S. 203 und Anm. 5; v. Liszt-Schmidt AT S. 192/193; Mezger Lehrb. S. 231, 233; Welzeì S. 84 ff, 87; Baumann AT S. 308 ff (§ 21 II 1). Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 9 ff vor, Rdn. 1, Rdn. 42a zu §32, wonach sich etwa ein „Eingriffsrecht" aus § 32, dagegen nur eine „Handlungsbefugnis" aus § 193 StGB ergäbe, mit der angeblichen Folge, daß gegenüber der letzteren zwar nicht das Notwehr-, eventuell aber das Notstandsrecht gemäß § 34 geltend gemacht werden könnte. So einerseits Klinkhardt VerwArch 55 (1964) 264, 273, andererseits Schwabe Die Notrechtsvorbehalte des Polizeirechts (1979) S. 37 ff, 41, 54, 56. Für das erstere: Binding Handb. S. 734; s. auch Georg Jellinek System S. 247 (zumindest für die Nothilfe); für das letztere: Titze S. 32; H. A. Fischer Die Rechtswidrigkeit (1911) S. 212. Vgl. auch schon unter anderer Blickstellung Bühler Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung (1914) S. 151/152. Das wird besonders deutlich bei Winkler S. 80 ff, 99 ff, 144 ff; Haas S. 179, 183, 221, 356; s. dagegen die klare Trennung bei H. A. Fischer aaO S. 201 ff, 208 ff.

§32

2. Abschnitt. Die Tat

in eine fremde Rechtssphäre. Der in der Rechtslehre geläufige Begriff' 7 wird in der Rechtsprechung für die Notwehr im Ergebnis schon früh anerkannt 1 8 , zur Kennzeichnung aber erst spät gebraucht (RGSt. 63 215, 219; 73 11, 17; BGHSt. 3 194, 196; 217, 218; BGH(Z) NJW 1976 42; ferner ζ. B. OLG Frankfurt NJW 1950 119; OLG Hamm NJW 1962 1169; 1977 591; BayObLG NJW 1965 1924; OLG Köln JMB1NW 1966 258, 259 = OLGSt. 1, § 53 a. F. S. 5, 8). „Von rechter notweer, wie die entschuldigt" zu sprechen gleich der Carolina von 1532 (Abschnittsüberschrift vor Art. 139) I 9 oder „Was ist so kühn, das Notwehr nicht entschuldigt?" zu fragen wie der Dichter (Schiller, „Wallensteins Tod", I. Α., 7. Sz.), sind Formulierungen, die unvollkommener Gesetzestechnik entsprechen oder dichterischer Freiheit entspringen, die aber auch noch in der älteren Reichsgerichts-Rechtsprechung begegnen 2 0 . Sie verbieten sich für die Sprache der modernen Verbrechenssystematik, die scharf zwischen stärkeren Rechtfertigungsgründen und schwächeren (nicht schon das Unrecht, sondern nur die Schuld ausschließenden) Entschuldigungsgründen als Gründen ausgeschlossener Strafbarkeit unterscheidet. Eine in Notwehr begangene, in Rechtsgüter des Angreifers eingreifende Tat ist gerechtfertigt, also rechtmäßig, auch wenn sie einen objektiven Deliktstatbestand erfüllt und vorsätzlich geschehen ist. 6

Der Grundsatz der Interessen- und Güterabwägung, der für alle Rechtfertigungsgründe in unterschiedlicher Ausprägung maßgeblich ist, gilt hier ebenfalls, jedoch in abgewandelter Form; denn entscheidend für die Notwehr ist nicht eine Kollision von Rechten und Rechtsgütern verschiedenen oder gleichen Wertes, sondern der Konflikt von Recht und l/nrecht 21 . Dieser Interessenkonflikt zwischen Angegriffenem und Angreifer ist deshalb zugunsten des ersteren gelöst: das angegriffene Rechtsgut des Verteidigers hat grundsätzlich den Vorrang vor dem notwendigerweise zu verletzenden Rechtsgut des Rechtsbrechers, mag jenes (ζ. B. Eigentum) auch für sich allein genommen von viel geringerem Wert sein als dieses (ζ. B. Leib oder Leben). Eine Rücksichtnahme „auf die Verhältnismäßigkeit der Güter" als solche ist dort unangebracht, „wo das Recht im Kampf gegen das Unrecht geschützt werden soll" (RGSt. 55 82, 85).

17 Der Ausdruck — nach Frank Vorb. III vor § 51 a. F. (S. 139) allgemein wohl zuerst von Berner (s. schließlich dens. Lehrb. des Deutschen Strafrechts, 18. Aufl. (1898) S. 94) gebraucht, dann aber zunächst wieder in Vergessenheit geraten — findet sich speziell zur Charakterisierung der Notwehr mehr zufällig 1856 bei Levita S. 271, s. dort auch S. 244 Anm. 83), dann bewußt bei Berner, z. B. Lehrb. 12 (1882) S. 155 Anm. 2). In der RGRspr. allgemeine Verwendung des Terminus „Rechtfertigungsgrund" ζ. B. in RGSt. 57 268, 269; 60 88, 89 unt.; 61 242, 247, 249, 258. 18 RGSt. 8 210 (214 ob.: „Widerrechtlichkeit beseitigt"); 21 168 (170: „durch Notwehr gerechtfertigt"); 66 288 (289: „Rechtmäßigkeit der Notwehrhandlung"). 19 Vgl. auch Art. 127 Bayer. StGB von 1813: „Die gewaltsame Privatverteidigung ist nicht entschuldigt, wenn . . . " 20 So noch in RGSt. 11 277 (278: die Notwehr gehöre zu den „die Existenz einer strafrechtlichen Schuld ausschließenden Gründen"); 16 150 (153: Bedingungen „der Notwehr... und anderer besonders geregelter Schuld- oder Strafausschließungsgründe"); 43 342 (343 ob.: „Schuldausschließungsgrund des §53"). Dagegen hat schon 1856 Levita S. 244 Anm. 83) betont, „daß die Notwehr nicht bloß ein Entschuldigungsgmnd" sei, sondern ein Recht, kraft dessen das „Getane völlig rechtmäßig" sei. 21 So schon Berner Arch. d. Criminalr. 1848 547, 554; Graf zu Dohna Die Rechtswidrigkeit (1905) S. 130; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. I (S. 203). (6)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

Der Rechtfertigungsgrund des § 32 gilt für alle Rechtsgebiete, nicht nur für das 7 Straf- und Zivilrecht, sondern auch für das öffentliche, insbesondere das Polizeirecht. Das ist im ersten Fall unzweifelhaft, im zweiten allerdings umstritten (s. dazu Nr. IV.3, Rdn. 266 ff, 268). Die Notwehr ist schließlich von anderen wichtigen Formen erlaubter Eigenmacht 8 zu unterscheiden. Als defensive Selbsthilfe, die einen bestehenden Rechtszustand gegen Angriffe von Lebewesen zu verteidigen sucht, ist sie zunächst von der verwandten Sachwehr22 (dem Verteidigungsnotstand) des § 228 BGB zu sondern. Diese ist defensive Selbsthilfe, die einen bestehenden Rechtszustand gegen Gefahren von Sachen zu schützen strebt. Sodann ist die Notwehr zu unterscheiden vom Angriffsnotstand des § 904 BGB 9 und vom rechtfertigenden Notstand des § 34 StGB. Diese erlauben aggressive (auch unbeteiligte Dritte angreifende) Eigenmacht, die einen schon bestehenden Rechtszustand gegen Bedrohungen durch Personen, Sachen oder andere Gewalten bewahren soll 23 . Endlich ist die (defensive) Notwehr zu trennen von der zivilrechtlichen Selbst- 10 hilfe i. techn. S. des § 229 BGB 2 4 und dem strafprozessualen Festnahmerecht des § 127 StPO 2 5 . Diese sind offensive Selbsthilfe, die die Durchsetzung eines erst herzustellenden Rechtszustandes sichern will, und zwar im ersten Fall die Verfolgung eines prozessual durchsetzbaren zivifrechtlichen Anspruchs auf Tun oder Unterlassen, im zweiten eines öffentlich-rechtlichen Anspruchs auf Strafe. Daß der Anspruch auch als ein „bestehender Rechtszustand" und seine eigenmächtige Sicherung durch den Privaten insofern als „RechtsVerteidigung" ähnlich der Notwehr aufgefaßt werden kann, ist dabei von untergeordneter Bedeutung; entscheidend ist vielmehr, daß die zivil- und strafprozeßrechtliche Selbsthilfe primär die Erreichung eines anderen Rechtszustandes (z. B. Geldzahlung oder Bestrafung) ermöglichen und schützen will und insoweit eine auf Künftiges gerichtete „RechtsVerfolgung", also mehr als „Verteidigung" des Bestehenden ist und darum auch nur beschränkt erlaubt wird 2 6 . 2. Rechtsgrund Das Rechtsinstitut der Notwehr gründet sich zunächst auf zwei elementare Ein- 11 sichten: einmal auf die Erfahrung, daß jedes Geschöpf, so auch der Mensch, sich in 22 Die Wortbildung ist anscheinend von Kohler Lehrb. d. Bürg. Rechts, I. H Bd. (1904) S. 207, 212 und, s. auch v. Tuhr Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürg. Rechts, Bd. II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 588 Anm. 51, sachgerechter als der Ausdruck „Verteidigungsnotstand". 23 Die Ausdrücke „defensiver" (§ 228 BGB) und „aggressiver Notstand" (§ 904 BGB) stammen von Endemann Lehrb. d. Bürg. Rechts, 8./9. Aufl., I. Bd. (1903) S. 438 Anm. 6)/439. 24 Eine Unterscheidungsmöglichkeit leugnen mehr oder minder Kitzinger Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (1913) S. 83, 95 f (kein sachlich begründeter Unterschied); v. TuAraaO S. 584 und besonders Anm. 31 (Notwehr „die Befugnis, den aus einer drohenden Rechtsverletzung entstehenden Unterlassungsanspruch eigenmächtig durchzusetzen", und insofern ein „Fall der Selbsthilfe"); Arzt Schaffstein-Festschr. S. 81 f. 25 Zur Einreihung auch des Festnahmerechts unter den Begriff der Selbsthilfe s. Binding Handb. S. 788/789; M. E. Mayer S. 284; Gerland S. 157. 26 Das dürfte Arzt aaO verkennen, wenn er die Selbsthilfe des § 229 BGB als einen Fall der Notwehr, allerdings nicht der erweiterten, sondern der eingeschränkten, ansieht. Vgl. auch Lehmann-Hübner Allgem. Teil d. Bürg. Gesetzbuches, 16. Aufl. (1966) S. 119/120; v. Tuhr aaO S. 580, 590. (7)

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2. Abschnitt. Die Tat

der Not zu behaupten und zu wehren sucht, der Wille zur Selbsterhaltung also sein stärkster Trieb ist; zum andern auf die Erkenntnis, daß sich der einzelne gegen Bedrohungen durch menschliche oder andere Gewalten oft nicht selbst helfen kann, sondern fremder Hilfe bedarf, seine eigene Hilfsbedürftigkeit daher zur Nächstenhilfe nötigt, wie er sie umgekehrt für sich selbst benötigt. Mit der Berücksichtigung dieser beiden Gesichtspunkte, des Gedankens der Eigen- und Fremdhilfe, entspricht das Recht nur einem allgemeinen, ursprünglichen Empfinden. Schon in der Dichtung heißt es z. B. : „Wo lebt denn das friedsame Geschöpf, das seines Lebens sich nicht mit allen Lebenskräften wehrt?" (Schiller, „Wallensteins Tod", I. Α., 7. Sz.) und: „Greif an mit Gott! Dem Nächsten muß man helfen, es kann uns allen Gleiches ja begegnen" (Schiller, „Wilhelm Tell", I. Α., 1. Sz.). 12

Zwar wird heute die Notwehr in Form der Nothilfe für besonders begründungsbedürftig gehalten, die Berechtigung ihrer völligen Gleichstellung mit der Selbstverteidigung wie die anderer bewährter Begriffe und Ergebnisse angezweifelt oder gar geleugnet 27 . Aber wenn es des einzelnen sittliche, unter Umständen sogar rechtliche Pflicht ist, in bestimmten Gefahren- und Notsituationen dem anderen beizustehen (s. § 323 c StGB), so muß es um so mehr jedermanns Recht sein, einem rechtswidrig Angegriffenen beizuspringen. Der beherzte Retter in der Not, der den Überfallenen gegen die Wegelagerer verteidigt und schon durch sein rechtzeitiges Eingreifen gegen die Verletzung des Bedrohten „vor-sorgt", handelt sicherlich sozialnützlicher, jedenfalls nicht weniger rechtmäßig als der (nach unserem Recht sogar pflichtschuldigst helfende) „barmherzige Samariter", der den unter die Räuber Gefallenen und blutend am Wege Liegenden verbindet und erst in nachträglichem Einsatz „ver-sorgt".

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Die beiden Erscheinungsformen der Selbst- und Nothilfe werden durch einen dritten Gedanken zusammengehalten: die Auffassung von der Notwehr als einem Kampf für das Recht und gegen das Unrecht. Gerade im Notwehrakt spielt sich sinnfällig dieser „Kampf ums Recht" ab, den Rudolf v. Jhering in seiner gleichnamigen Rede von 1872 (20. Aufl. [1921] S. 20, 14) sogar als „Pflicht der moralischen Selbsterhaltung" bezeichnet und zu dessen „Formen und Szenen" er nicht zuletzt „die Selbstverteidigung" gezählt hat. Denn der rechtswidrig Angegriffene befindet sich nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Not, steht nicht nur einer von dem Angreifer begründeten Gefahr, sondern auch einer von diesem ausgehenden Bedrohung seines Rechts gegenüber. Die Abwehr des Angriffs ist daher nicht allein ein Kampf um die persönliche Se/¿wft>ehauptung, die physische Erhaltung des einzelnen, vielmehr auch um die allgemeine /tecA/sbewahrung, die wertvolle Bewährung der Rechtsordnung. Das wird in der uneigennützigen Not- und Nächstenhilfe besonders deutlich: Wer dem rechtswidrig angegriffenen Mitbürger tatsächlich hilft, der verhilft ihm — wie im Falle der Selbstverteidigung sich selbst — gleichzeitig zu seinem Recht und damit auch dem Recht als solchem zum Siege. Auch diese Auffassung der Notwehr, durch die „das Recht im Kampf gegen das Unrecht geschützt werden soll" (RGSt. 55 82, 85 unt.), ist alt und hat bereits die Kanonistik beschäftigt 28 . Das die Selbstverteidigung und Nothilfe verbindende und beiden Abwehrformen gleichermaßen innewohnende Element liegt somit in 27 So neuerdings besonders Haas S. 14, 126 ff; Seelmann ZStrW 89 (1977) 36, 47 f, 56 ff; Hoffmann-Riem ZRP 1977 277, 282 ff, 284 (gegen die „professionelle" [d. h. gewerbliche] „Nothilfe"). Vgl. dagegen nachdrücklich für die Nothilfe schon v. Alberti S. 58 ff. 28 Kuttner Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. (1935) S. 334 unt., 354 ff. (8)

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§ 3 2

dem Grundsatz: „Das Recht braucht dem Unrecht nirgends zu weichen" (RGSt. 21 168, 170) 29 . Neben oder anstelle dieser gleich einem Rechtssprichwort einprägsamen Formel, die auf Berner zurückgeht 3°, wird heute auch die Formulierung gebraucht, das Notwehrrecht diene „nicht nur dem Schutz des Angegriffenen, sondern zugleich der Bewährung der Rechtsordnung" (BGHSt. 24 356, 359 mit Anm. Roxin NJW 1972 1821; Lenckner JZ 1973 253 und Schröder JuS 1973 157)31. Selbstverteidigung und Nächsten- oder Nothilfe entsprechen der Doppelrolle 14 des Menschen, der sowohl Einzelwesen (Individuum) als auch Gemeinschaftsglied (Sozialwesen) ist; die erstere ist damit einer „individualethischen", die letztere einer „sozialethischen" Betrachtungsweise zuzuordnen 32 . Da der einzelne zunächst einmal er selbst und sich selbst der Nächste ist, wird bei der Notwehr der erste Gesichtspunkt im Vordergrund stehen. Der sozialethische Blickwinkel, der auf den Schutz und die Unterstützung des angegriffenen Mitbürgers gerichtet ist, bedarf zudem einer weiteren Präzisierung und Ergänzung; denn beim Notwehrakt ist noch der Angreifer zu berücksichtigen, der zwar ein Rechtsbrecher, aber immer noch als Mitmensch ein Rechtsge/iosse 33 und als solcher nicht recht-los ist 3 4 . Diese zweite (sozialethische) Betrachtungsweise umschließt wieder zwei Blickrichtungen, die zu einer Veränderung des Notwehrrechts führen können, und zwar entweder zu einer nicht unbedenklichen Ausdehnung des Nothilferechts zugunsten des Verteidigers, wenn er die Allgemeinheit, insbesondere den Staat zu schützen sucht (also in der Frage der Staatsnothilfe, s. dazu Rdn. 151 ff) oder aber, wozu man heute wieder neigt, zu einer unangebrachten Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts zugunsten des Angreifers. 3. Rechtsgeschichte Schrifttum v. Alberti Notwehr heute und in den Volksrechten (1898); Keller Der Beweis der Notwehr, Eine rechtshistorische Studie aus dem Sachsenspiegel, StrAbh. H. 57 (1904); Klabe Geschicht29 Ebenso Rob. ν. Hippel II S. 212; Mezger Lehrb. S. 236; Welzel S. 84 (§ 14 II vor 1); Maurach AT4 S. 307 (§ 26 I); Jescheck AT S. 269 (§ 32 I 1); Bockelmann AT S. 91 (§ 15 Β I); Wessels AT S. 74 (§ 8 V 2); Dreher-Tröndle Rdn. 2. Einschränkend oder ablehnend Haas S. 355 (der Satz habe „einen gewissen Sinn"); Maurach-Zipf S. 382 (§ 26 II Β 2: „der liberale und extrem individualistische Grundsatz" habe „schon erheblich an Boden eingebüßt"); Hellm. Mayer StudB S. 96 (§ 22 I 1 a: die Formel gehe „sachlich viel zu weit"). 30 Berner Arch. d. Criminalr. 1848 S. 547, 557, 562; ders. Lehrb. d. Deutschen Strafrechts, ζ. B. 5. Aufl. (1871) S. 144, 14. Aufl. (1886) S. 102. 31 Ebenso, ζ. T. mit der ersten Formel verbindend, Oetker VDA II S. 260; Baldus LK.9 I § 53 a. F. Rdn. 1; Blei AT S. 137 (§40 1112); Hirsch Dreher-Festschr. S. 216/217; Lackner Anm. 1; Samson SK Rdn. 2; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 1. Für Schmidhäuser HonigFestschr. S. 193 ff; ders. AT S. 340 ff (9/86 ff) ist dagegen nur die vom Bewußtsein der Rechtsgenossen ausgehende „empirische (nicht normative) Geltung der Rechtsordnung" zu verteidigen. 32 In etwas anderer Terminologie und Unterscheidung wird heute, wobei der der Nothilfe zugrunde liegende Gedanke zu kurz kommt, der auf die Selbsterhaltung gerichtete „individualrechtliche" Aspekt dem auf die Rechtsbewährung zielenden „sozialrechtlichen" gegenübergestellt ( Jescheck AT S. 269/270 [§ 32 I 2]; Maurach-Zipf AT S. 374 [§ 26 I]; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 1), obwohl diesem dritten Gesichtspunkt nicht nur „soziale", sondern durchaus auch „individuelle" Momente zukommen. 33 Wenn man ihn auch schwerlich wie Löffler ZStrW 21 (1901) 537, 544 als „lieben Rechtsgenossen" zu apostrophieren vermag. 34 Graf zu Dohna Die Rechtswidrigkeit (1905) S. 132; Oetker V DA II S. 255, 260. (9)

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2. Abschnitt. Die Tat

liehe Entwicklung der Ehrennotwehr, Diss. Göttingen 1936; Knetsch Der Begriff der Notwehr nach der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. und dem Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Diss. Jena 1906; Levita Das Recht der Notwehr (1856); Posse Die Notwehr im Sachsenspiegel, Diss. Halle—Wittenberg 1937; Sander Die Begründung der Notwehr in der Philosophie von Kant und Hegel, Diss. Rostock 1939; Schmitt-Lermann Die Lehre von der Notwehr in der Wissenschaft des gemeinen Strafrechts, StrAbh. H. 357 (1935); Stiegier Die geschichtliche Entwicklung der Notwehr, Diss. Erlangen 1925 (Mschr.).

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Die Notwehr wird immer wieder als ein Ur- oder Natunecht angesehen 35 , als „Ausdruck sittlicher Wertvorstellungen von elementarer Geltungskraft" (BVerwG NJW 1974 1343 r. Sp.). „Wenn irgendwo, kann man hier von einem selbstverständlichen, naturrechtlichen Erfordernis an die Gesetzgebung sprechen" (Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. l.b). In diesem Sinne ist die oft angeführte Behauptung aufgestellt worden, daß das Rechtsinstitut „eigentlich keine Geschichte hat und keine haben kann" 3 6 . Wie Rechtsgeschichte 37 und Rechtsvergleichung 38 jedoch zeigen, mußten Recht und Umfang der Selbst- und Fremdverteidigung erst in langem Gedankenprozeß herausgearbeitet werden.

Das ältere römische Recht kannte noch kein allgemeines Notwehrrecht 39 . Erst allmählich bildete sich der Gedanke heraus, daß die Befugnis zur Selbstverteidigung, insbesondere des Lebens gegen die Bedrohung durch Straßenräuber und Mörder ein ursprüngliches Recht oder, wie Cicero in seiner immer wieder angeführten Verteidigungsrede für Milo (52 ν. Chr.) gesagt hat, eine „non scripta, sed nata lex" sei und straflos bleiben müsse 40 . Im Corpus iuris finden sich nur einzelne allgemeine Wendungen wie: „Adversus periculum naturalis ratio permittit se defendere" (Gaius, Dig. 9, 2, 4); „Vim enim vi defendere omnes leges, omniaque iura permittunt" (Paulus, Dig. 9, 2, 45, 4) oder „Vim vi repellere licere Cassius scribit idque ius natura comparatur" (Dig. 43, 16, 1, 27)41. 17 In der Kanonistik wird das Notwehrrecht zum Teil auch als überpositiv, d. h. als im Naturrecht wurzelnd, zum Teil aber wegen des biblischen Gebots der Feindes-

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35 Binding Handb. S. 734 Anm. 10; v. Alberti Notwehrrecht (1901) S. 9 ff; v. Bar Gesetz u. Schuld im Strafr., III. Bd. (1909), S. 140; Schmitt-Lermann StrAbh. H. 357 (1935) S. 1; Kuttner Kanonistische Schuldlehre (1935) S. 335, 337 ff; Klose ZStrW 89 (1977) 87; Dreher-Tröndle Rdn. 2. Von seiten der Rechtsphilosophie: Engisch Auf der Suche nach der Gerechtigkeit (1971) S. 275 f; Maihofer Rechtsstaat und menschliche Würde (1968) S. 114. 36 Geib Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 2. Bd. (1862) S. 228, kritisch zu diesem Satz Hellm. Mayer AT S. 199; Haas S. 16 ff. 37 Kurze Überblicke hierzu bei Rob. ν. Hippel l S. 146, II S. 202 f ; v. Liszt-Schmidt AT S. 192 f; Hellm. Mayer AT S. 199 ff. Näher Stiegler; Sommerfeld (vor Rdn. 163) S. 11 ff; Haas S. 19 ff. 38 Vgl. dazu Oetker VDA II S. 255, 298 ff; zum französischen, schweizerischen und österreichischen Recht Franke S. 4 ff, 50 ff, 84 ff; zum polnischen Recht Zoll ZStrW 90 (1978) 520. 39 Dazu Levita S. 31 ff; Pernice Labeo, Römisches Privatrecht im ersten Jahrhundert der Kaiserzeit, Bd. II 1, 2. Aufl. (1895) S. 73 ff; Mommsen Römisches Strafrecht (1899, Nachdr. 1955) S. 78, 620, 653, 830; Rob. ν. Hippel I S. 72, II S. 202; Stiegler S. 18 ff; Haas S. 35 ff. 40 Cicero Rede für Titus Annius Milo, Reclam-Ausgabe (1977) S. 42/43 (Nr. 10), in einem Fall, in dem die Berufung auf Notwehr alles andere als „natürlich", vielmehr nicht haltbar war; s. auch Ahsbahs S. 42 ob. 41 Ähnliche Formel bei Cicero aaO S. 40/41 (9): „ . . . cum vi vis illata defenditur". Vgl. noch Dig. 43, 16, 3, 9 (Ulpian) und, am allgemeinsten, Dig. I, 1, 3 (Florentinus). (10)

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liebe als problematisch angesehen . Dabei bestanden interessanterweise gegen die Nothilfe weniger Bedenken als gegen die Selbstverteidigung 43 . Die herrschende Meinung erkannte das Notwehrrecht schließlich an und arbeitete bereits nähere Merkmale heraus, insbesondere das Erfordernis eines gewissen Maßes für die Abwehrhandlung (moderamen inculpatae tutelae) und eines zeitlichen Zusammenhangs von Angriff und Abwehr (Notwehr „in continenti", nicht „ex intervallo") 44 . Im deutschen Recht hat sich das Rechtsinstitut aus dem Recht zur Tötung des auf 18 handhafter Tat betroffenen Angreifers entwickelt, nachdem die staatliche Gewalt die Strafverfolgung übernommen hatte und der Angegriffene und Verletzte nicht mehr Blutrache üben durfte. Der Begriff (notwere, notwerunge) ist seit dem 13. Jahrhundert gebräuchlich und findet sich zuerst im Wiener Stadtrecht von 1221, weiter im Sachsenspiegel (um 1230)45 und im Mainzer Landfrieden Kaiser Friedrich II. von 7255 46 , schließlich ausführlicher im Schwabenspiegel (1274/75)4,1. Die Notwehr war zunächst nur zulässig zum Schutze von Leib und Leben, zum Teil aber auch von Gut und Hausfrieden 48 . Einzelne Stadtrechte des 14. Jahrhunderts erkannten bereits die Nothilfe an. Notwehr Schloß die peinliche (öffentliche) Strafe aus, befreite aber nicht immer auch von Zahlung des Wergeides 49 . Auf die weitere Entwicklung des heimischen Rechts war die italienische Rechtswissenschaft von Einfluß, die mit der Fortbildung des römischen (kaiserlichen) und kanonischen (päpstlichen) Rechts die Grundlagen für die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland geliefert hat 5 0 . In der Bambergensis des Johann Frhr. v. Schwarzenberg, der Halsgerichtsord- 19 nung für das Bistum Bamberg von 1507, und in der auf ihr beruhenden Carolina, der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, wird die Notwehr im Anschluß an Mord und Totschlag näher geregelt51. Im gemeinen Recht wird sie — über den in Art. 139 CCC genannten Schutz von Leib (wozu auch die Keuschheit zählte) und Leben hinaus — auf andere wichtige Rechtsgüter wie Ehre und Vermögen ausgedehnt 52 . Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 (II. Teil, 20. Tit., §§ 517 ff. 20 i. V. m. § 509) werden die Individualrechtsgüter Ehre, Gesundheit, Leib, Leben, Freiheit und Vermögen als verteidigungsfähig und Notwehr im engeren Sinn und Nothilfe als gleichberechtigt anerkannt. Grundlegend bis zur Gegenwart ist dann § 41 Preuß. StGB von 1851 geworden, 21 dessen Notwehrdefinition fast wörtlich über § 53 II StGB des Norddeutschen Bun42 Kuttner Kanonistische Schuldlehre (1935), einerseits S. 335 zu Nr. 1, 337 f und andererseits S. 336 zu Nr. 5, 349 ff, 351. 43 Dazu neuerdings auch Haas S. 45 ff mit weiteren Nachweisen. 44 Kuttner aaO S. 340 ff, 344 ff, 349. 45 Zur Notwehr im Sachsenspiegel näher Posse; Keller StrAbh. H. 57 (1904). 46 Mit einer an das römische Recht angelehnten Notwehrdefinition in § 5 : „Statuimus igitur, ut nullus . . . se ipsum vindicet,... nisi in continenti, ad tutelam corporis sui vel bonorum suorum vim vi repellat, quod dicitur ,nothwere'", zit. nach Stiegler S. 88. 47 His Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, I. Bd. (1920) S. 196, 197 Anm. 3; Rob. v. Hippel I S. 146; v. Liszt-Schmidt AT S. 193 und Anm. 1). 48 His aaO S. 197, 198, 204 ff, 206; Rob. ν. Hippel I S. 146. 49 His aaO S. 197 ff, 200; Rob. ν. Hippel I S. 147; Hellm. Mayer AT S. 200 (§ 30 II 1 c). 50 Rob. v. Hippel I S. 96, 202 ff; II S. 202. 51 Dazu näher Stiegler S. I l l ff, 113 ff; Rob. ν. Hippel I S. 201 ff. 52 Schmitt-Lermann StrAbh. H. 357 (1935) S. 32 ff, 36; Rob. ν. Hippell S. 253. (il)

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des von 1870 und § 53 II RStGB von 1871 in den heutigen § 32 II StGB eingegangen ist. Trotz der vorbildlichen Gesetzesfassung ist das Notwehrrecht bereits im vergangenen Jahrhundert von manchen als zu „scharf und „schneidig" empfunden und sogar das böse Wort von der „Totschlagsmoral des Gesetzes" geprägt worden 5 3 . Eine solche Einstellung entspricht heute wieder dem Zug der Zeit, die so, wie sie fast mehr Mitgefühl mit dem Verbrecher als mit dessen Opfer zeigt, oft mehr Rücksicht auf den das Recht brechenden Angreifer als auf den sein Recht schützenden Verteidiger nimmt. Unter dem Schlagwort einer „sozialethischen Einschränkung" (s. dazu Nr. IV. 5., Rdn. 307) hat nach 1945 eine auch das Bewährte anzweifelnde und allmählich aushöhlende Dogmatik und eine von Bedenken erfüllte und verklausuliert urteilende Judikatur das Notwehrrecht immer weiter abgeschwächt, so daß dessen Grenzen verschwimmen und der einzelne nicht mehr weiß, was er zu seiner oder anderer Verteidigung eigentlich noch tun darf oder nicht 5 4 . Nach rund hundert Jahren ist daher wieder Bindings Feststellung (Handb. S. 735 Anm. 17) aktuell geworden: „Die in der Notwehrlehre noch bestehenden Unsicherheiten resultieren zum großen Teil daraus, daß man ganz ungehörig den für die Notwehr allein wichtigen Standpunkt des Angegriffenen zugunsten des Angreifers ignoriert." II. Die Voraussetzungen der Notwehrlage: gegenwärtiger rechtswidriger Angriff Schrifttum Christmann Der rechtswidrige Angriff bei der Notwehr, Diss. Erlangen 1931; Felber Die Rechtswidrigkeit des Angriffs in den Notwehrbestimmungen (1979); H.J. Hirsch Die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs, Dreher-Festschr. (1977) S. 211; Rosenfelder Erfordernis des gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs im Falle der Notwehr, Diss. Würzburg 1906; Schleifenbaum Begriff und Bedeutung des gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs in §227 BGB, StrAbh. H. 54 (1904); Rudolf Schmidt Der rechtswidrige Angriff bei der Notwehr, NJW 1960 1706.

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Die Notwehr setzt zunächst eine Notwehrlage, d. h. auf Seiten des Angreifers einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff voraus. 1. Der Angriff a) Begriff des Angriffs: Dieser ist jeder von einem Lebewesen drohende oder ausgehende Eingriff in eine fremde Rechtssphäre, d. h. die unmittelbare Gefährdung oder begonnene Verletzung eines rechtlich anerkannten Zustandes oder Interesses 55 . Nicht erst das Einschlagen auf den anderen, sondern schon das Ausholen zum Faustschlag, nicht erst das Erheben des Armes, sondern schon die Ankündigung der sogleich zu erwartenden Hiebe ist ein Angriff auf den Körper des Bedrohten, dem dieser abwehrend begegnen, im letzten Falle sogar durch einen den Angreifer von einem weiteren Vorgehen abhaltenden Schlag zuvorkommen darf.

53 Geyer Begriff und allgemeiner Tatbestand des Verbrechens, in: v. Holtzendorffs Handbuch des Strafrechts, 4. Bd. (1877) S. 87, 94; ferner ders. Grundriß zu Vorlesungen über gemeines deutsches Strafrecht (1884) S. 81. 54 Vgl. auch die Kritik von Baumann MDR 1962 349, das Notwehrrecht drohe in der Rechtsprechung zu zerfließen. 55 Rob. v. Hippel II S. 203; Mezger Lehrb. S. 233; unter Beschränkung auf Angriffe durch Menschen: RGRspr. 6 576, 577; RGSt. 21 168, 170; Welzel S. 84; Baumann AT S. 308 (§ 21 II 1 a); Jescheck AT S. 271 (§ 32 II 1 a); Dreher-Tröndle Rdn. 4; Lackner Anm. 2.a); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 3. (12)

Notwehr (Spendei)

§32

Der Ausdruck ist also weiter als der der Gewalttätigkeit (der vis im römischen Recht) 5 6 . Der Begriff ist mit der Rechtsprechung (RGSt. 27 44; BGH St. 3 217, 218; insbe- 2 4 sondere OGHSt. 1 273, 274) und mit der überwiegenden Meinung in der Rechtslehre rein objektiv zu b e s t i m m e n 5 7 , ein „Angriffs vWZ/e" oder ,,-bewußtsein" somit nicht zu verlangen 5 8 . Es kommt nur auf die äußere Gefährlichkeit oder Schädlichkeit des abzuwehrenden Verhaltens an. Diese objektive Begriffsbestimmung ist hier wie auch sonst bei den anderen Notwehrvoraussetzungen möglich und allein richtig. Die Artilleristen, die ihrer schlechten Zieleinstellung wegen das Granatfeuer auf die eigene Infanterie statt auf die feindlichen Linien richten, greifen ihre Kameraden an, auch wenn sie das nicht beabsichtigen und einen gegnerischen Sturmangriff abzuwehren glauben (wie sie übrigens umgekehrt dem Feind gegen die eigenen Truppen helfen, obwohl sie diesen schwerlich verteidigen, vielmehr angreifen wollen). Soweit in der objektiven Bestimmung des Begriffs „ A n g r i f f ein „offenkundiger 2 5 methodischer Widerspruch" zu der subjektiven Fassung des Begriffs „Verteidigung", zu dem heute meist ein „Verteidigungswille" gefordert wird, gesehen worden ist 5 9 , ist diese Feststellung richtig. Unrichtig wäre nur die Folgerung, zur Auflösung des Widerspruchs auch einen „Angriffswillen" zu v e r l a n g e n 6 0 ; denn gerade der umgekehrte Schluß ist zutreffend: wie kein „Angriffs-" so ist auch kein „Verteidigungswille" als Notwehrvoraussetzung anzuerkennen (s. Nr. III. 1. a); Rdn. 138 ff). Erst recht braucht der Angreifer weder schuldfähig zu sein noch schuldhaft zu 26 h a n d e l n 6 1 . Angreifen u n d dementsprechend abgewehrt werden können auch Irrende u n d Irrsinnige (RGSt. 27 44, 45), Kinder (BGHSt. 6 263, 272) und Betrunkene (BGHSt. 3 217, 218; OLG[Z] München N J W 1966 1165, 1166). Notfalls darf somit der tobsüchtige Geisteskranke, der auf seinen Pfleger mit einem Messer oder Stuhl losgeht, niedergeschlagen werden, wenn man sich nicht anders seines Angriffs zu erwehren vermag. 56 Ebenso Jescheck AT S. 271 (§ 32 II 1 a); anders Hellm. Mayer Kl S. 207; ders. StudB S. 97 („rechtsgeschichtlich" nur eine „Übersetzung des römischen Begriffs"). 57 AllfeldS. 125; Rob. ν. Hippel II S. 207; v. Liszt-Schmidt AT S. 195/196; Welzel S. 84; Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 2; Baumann AT S. 310 (§ 21 II 1 a); Maurach-Zipf AT S. 376 (§ 26 II A 1); Jescheck AT S. 271 (§ 32 II 1 a); Wessels AT S. 72 (§ 8 V 1); Dreher-Tröndle Rdn. 4; Lackner Anm. 2.a); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 3. 58 And. jedoch Μ. E. Mayer AT S. 277; Lobe LK.5 § 53 a. F. Anm. 2.b); Hellm. Mayer AT S. 204; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. III (S. 204); Otto GrK Str. (1976) S. 120 (§ 8 II 1 a bb); Samson SK I Rdn. 14 f. Widersprüchlich Binding Handb., der einerseits (S. 735) einen „Angriffswillen", andererseits (S. 736) keine „Vorsätzlichkeit" des Angriffs fordert und auch ζ. B. ein unachtsames „Überreiten" als Angriff bezeichnet. 59 So Schaffstein MDR 1952 132, 136 1. Sp.; anders Hirsch Dreher-Festschr. S. 224 (Widerspruch angeblich nur ein „scheinbarer"). 60 Diese Folgerung vom Standpunkt der finalen Handlungslehre aus erwogen von Schaffstein aaO S. 136 (s. aber dort r. Sp. a. E.), gezogen von Samson SK I Rdn. 14 f. 61 Herrsch. Mein., s. z.B. Mezger Lehrb. S. 234; Welzel S. 85; Baumann AT S. 311 (§ 21 II 1 a); Blei AT S. 130/131 (§ 40 I 2); Jescheck AT S. 273 (§ 32 II 1 c); Bockelmann AT S. 93 (§ 15 Β I le); Dreher-Tröndle Rdn. 4; Lackner Anm. 2.d); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 24. Dagegen für nicht nur willentlichen, sondern sogar schuldhaften Angriff Beling Grundzüge des Strafrechts, 11. Aufl. (1930) S. 16; Hellm. Mayer StudB S. 98 (§ 22 II 2); Schmidhäuser AT S. 342 (9/86); Fr. W. Krause Bruns-Festschr. S. 83 ff, 87; ders. G A 1979 329, 332 ff, 335. (13)

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Selbst Schlaf- oder Reflexhandlungen können abwehrbedürftige Eingriffe in fremde Rechtssphären darstellen 62 . Man darf den in enger Skihütte im Schlaf wild um sich schlagenden Kameraden anpacken und festhalten oder den Betrunkenen, der sich zu erbrechen und einem den Anzug zu beschmutzen droht, zurückstoßen (falls man ihm nicht ohne Mühe auszuweichen vermag), auch wenn er infolge der Abwehrhandlung hinfällt und sich verletzt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, ob der „unwillkürliche" Angriff nicht erlaubt ist. Gleitet ein Schlittschuhläufer aus und greift im Fallen instinktiv um sich, so darf ich seinen Arm nicht wegschlagen, weil er mir die Knöpfe meines Mantels abzureißen droht; denn er befindet sich hier — anders als der Betrunkene — in einer Gefahrenlage: sein Hinschlagen auf das Eis und seine Prellungen wären ein größerer Schaden als der mir durch seinen unwillkürlichen Zugriff drohende Verlust von Mantelknöpfen (soweit er mich nicht selbst umreißen würde). Sein Angriff auf mein Eigentum ist also nach § 904 BGB (Angriffsnotstand) gerechtfertigt.

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Nach Notstands-, nicht nach Notwehrcegein sind auch die heute noch als problematisch angesehenen Fälle zu beurteilen, in denen von einem Menschen zwar nicht als handelndem Subjekt ein Angriff, wohl aber als „leidendem Objekt' eine Gefahr ausgeht. Fällt gleich einem Stein ein Dachdecker vom Dach, ein Fensterdekorateur von der hohen Leiter, so „tut" er nichts; er handelt noch nicht einmal im Reflex, ihm wird vielmehr etwas „an-getan", d. h. er wird nach dem Gesetz der Schwerkraft von der Erde angezogen 63 . Hier kann sich der Passant oder der Darunterstehende nur durch Beiseitespringen vor der Gefahr, von dem fallenden Körper niedergerissen zu werden, in Sicherheit bringen. Daher ist in dem verschiedentlich erörterten Fall des Kraftfahrers, der wegen eines Ohnmachtsanfalls oder infolge der Schneeglätte die Herrschaft über seinen Wagen verliert und auf den Gehsteig gerät oder zu geraten droht, die für Passanten wie für den Autobesitzer entstandene Gefahrensituation nach § 34, nicht nach § 32 StGB zu lösen 64 . Denn auch hier tut oder unterläßt der in jeder Hinsicht „ohn-mächtige" Autofahrer nichts, worin ein „Angriff von seiner Seite zu sehen wäre; vielmehr erleidet er selbst etwas (Ohnmachtsanfall, Verlust der Handlungs- und Steuerungsfähigkeit). Der Lastwagenfahrer, der geistesgegenwärtig mit seinem schweren Laster dem schleudernden Personenkraftwagen die Weiterfahrt versperrt und durch die Bereitung dieses Hindernisses den Bewußtund Hilflosen erheblich verletzt, ist nur gerechtfertigt, wenn seine Schutzmaßnahme das einzige Mittel war, einen größeren Schaden (Verletzung oder Tötung von anderen Verkehrsteilnehmern) zu verhindern. 29 Ist der Begriff „Angriff rein objektiv zu bestimmen, so fallen schon deswegen keine ungefährlichen Verhaltensweisen darunter, also keine Scheinangriffe oder

62 Ebenso Baumann AT S. 310 (§ 21 II 1 a) und — im Gegensatz zu seiner sonstigen Bestimmung des Handlungsbegriffs — Welzel S. 85 (§ 14 II 1 c); anders Bockelmann AT S. 93 (§ 15 B I 1 e). 63 So auch im Ergebnis Schleifenbaum StrAbh. H. 54 (1904) S. 47, 50. 64 Ebenso im Ergebnis Schmidhäuser Honig-Festschr. S. 197 ; Blei AT S. 130 (§ 40 I 1); Felber S. 8 i. V. m. S. 175 Anm. 51 ; schon Schleifenbaum aaO S. 50, der mangels des damals noch nicht bestehenden § 34 StGB für analoge Anwendung des § 228 BGB eintrat (s. auch Hirsch Dreher-Festschr. S. 225). Anders (für Anwendung des § 32 StGB) Jescheck AT S. 273 (§ 32 I I l c ) ; Enneccerus-Nipperdey Allgemeiner Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl. 2. HBd. (1960) S. 1297 (§ 209 IV Β 2 ba), S. 1450 (§ 240 II 2); nicht konsequent Rudolf Schmidt NJW 1960 1706. (14)

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untauglichen Versuche . Stürmen aus Scherz drei Burschen mit vorgehaltener Spielzeugpistole und dem Ruf: „Das ist ein Überfall! Schmuck her!" in einen Juwelierladen 66 , dann liegt zwar ein (rechtswidriger) Angriff auf den Hausfrieden des Geschäftsmannes vor, nicht aber auf sein Leben und Eigentum 67 . Ebensowenig greift das Leben eines anderen an, wer eine versehentlich ungeladene Waffe auf ihn richtet. b) Träger des Angriffs (der Angreifer): Wie zur Tat ein Täter so gehört zum 30 Angriff ein Angreifer; beides sind korrelate Begriffe. Vor einer weiteren Erläuterung des Merkmals „Angriff ist daher zweckmäßigerweise dessen „Subjekt" als Ausgangspunkt des abzuwehrenden Verhaltens näher zu bestimmen. aa) Personen, nicht Sachen : Der Begriff des Angriffs erfaßt Bedrohungen durch 31 Lebewesen und hier zunächst und hauptsächlich durch lebende Personen, nicht durch leblose Sachen, für die der Rechtfertigungsgrund der Sachwehr (§ 228 BGB) gilt. Zwar spricht man davon, daß das Klima oder das Rauchen die Gesundheit, das Meerwasser den Schiffsrumpf, der Rost das Eisen, die Säure einen Stoff „angreife". Aber solche Redewendungen sind nur bildhaft gemeint und im übertragenen Sinne zu verstehen. Nach dem eigentlichen Sprachgebrauch greifen allein belebte Kräfte (etwas Organisches) an, nicht tote Sachen oder blinde Naturgewalten. Von einer Mauer, die auf das Nachbargrundstück zu stürzen und fremdes Eigentum zu beeinträchtigen droht, geht eine Gefahr, aber kein Angriff aus 6 8 . Umgekehrt kann auch ein Mensch andere gefährden, ohne sie schon anzugreifen (s. Rdn. 126). Der erste Begriff ist also weiter als der zweite (Rdn. 276). Im vorigen (s. Rdn. 31) ergab sich bereits, daß als Angreifer alle Menschen, mit- 32 hin auch nicht schuldfähige wie Kinder und Geisteskranke in Betracht kommen. Allerdings darf die Gegenüberstellung von (lebenden) Personen und (leblosen) Sachen nicht dazu verleiten, an einem Angriff in dem Fall zu zweifeln, in dem das Mittel des Angreifers erst nach dessen Tod wirksam zu werden droht. Beispiel: Jemand läßt sein Motorboot auf die am Ufer liegende Segeljolle des Feindes zufahren, um diese zu rammen und zu zerstören, und verunglückt beim vorherigen Absprang ins Wasser tödlich; der Eigentümer des kleinen Segelschiffs, der sich am Strand befindet, darf in Notwehr den Motor des herankommenden Fahrzeugs in Brand schießen und das Angriffsmittel zur Explosion bringen, um sein viel geringerwertiges Boot zu retten, was wegen des erheblichen Wertunterschiedes nach § 228 BGB zumindest problematisch wäre. bb) Natürliche Personen, nicht juristische: Ist es unproblematisch, daß zu den 33 Angreifern i. S. d. Notwehrrechts Menschen als natürliche Personen zählen, so ist es fraglich, ob dies auch für juristische Personen gilt. Im Strafrecht wird die Frage, 65 Schollmeyer S. 5; v. Alberti S. 17; Schleifenbaum StrAbh. H. 54 (1904) S. 45; Rosenfelder S. 7; Nagler LK6 (1944) §53 a. F. Anm. II 1 (S.418); Baldus L K 9 I (1974) §53 a. F. Rdn. 3 a. E.; Schmidhäuser AT S. 346 (9/93); Jescheck AT S. 271 Anm. 7 (§ 32 II 1 a); Dreher-Tröndle Rdn. 4; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 12. 66 Vgl. den Fall in Italien nach „Frankfurter Allgemeine Zeitung" v. Sa., 29. 1. 1977, Nr. 24/ S. 5/6, in dem der Juwelier in Putativnotwehr einen der drei Burschen erschoß. 67 Der scheinbar Bedrohte handelt dann nur in vermeintlicher Notwehr, d. h. zwar rechtswidrig, aber wegen seines Irrtums im obigen Falle schuld- und straflos, s. dazu Rdn. 335 ff, 338. 68 Insofern zutreffend Großmann S. 72; Schleifenbaum StrAbh. H. 54 (1904) S. 49; anders zu Unrecht v. Alberti S. 14 und 15 zu Nr. 4; v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 147. (15)

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soweit ersichtlich, nicht weiter behandelt 69 oder, wenn sie je ausdrücklich kurz angeschnitten wird, mit Recht verneint70. Sie wird heute im Zusammenhang mit dem Problem berührt, ob gegen den Vollzug von formell rechtskräftigen Fehlentscheidungen 7 ! oder offensichtlichen Schandurteilen, bei denen die Freiheitsbedrohung von der Staats- und Strafgewalt ausgeht, oder gegen andere rechtsstaatswidrige Maßnahmen der öffentlichen Hand Notwehr zulässig sei. Hierbei ist in der Sache zum Teil ein anderer Standpunkt eingenommen worden. Während KG ROW 1957 85 noch davon spricht, daß die Untersuchungshaft wegen einer dann später auch mit einer 5jährigen Zuchthausstrafe geahndeten Ordnungswidrigkeit oder die Vollstreckung rechtsstaatlich nicht vertretbarer Strafurteile einen „gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff der Rechtspflegeo/gane" des SED-Regimes auf den Beschuldigten darstelle, heißt es in Stellungnahmen zu solchen Entscheidungen und Fällen, daß hier „Angreifer der sowjetzonale .Staat', nicht der einzelne Strafanstaltsèeam/e" sei (Polzin in seiner sonst dem KG zustimmenden Anmerkung ROW 1957 86 r. Sp.) oder daß sogar „jeder Akt sowjetzonaler Strafjustiz ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des Staates gegen den Betroffenen" sei (Sax JZ 1959 385, 389 1. Sp.). Teilweise sind die Äußerungen zu diesen Fällen nicht widerspruchsfrei und nicht eindeutig: so soll einerseits „Angreifer" der „sowjetzonale Staat" sein, andererseits ein „Angriff i. S. d. Notwehrrechts „immer nur durch ein lebendes Wesen, nicht durch den ,Staat' schlechthin realisiert werden" ( W. Rosenthal ROW 1957 214; s. auch dens. ROW 1958 82 r. Sp.); oder es sind nicht nur die den Schießbefehl ausführenden Grenzaufsichtsbeamten als „Angreifer" bezeichnet, sondern es ist zugleich davon gesprochen worden, daß „die DDR", also eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, „ihren rechtswidrigen A n g r i f f . . . mit Hilfe des Bewachungspersonals durchführt" (F.-Ch. Schroeder JZ 1974 116 r. Sp. ob. und 117 1. Sp.). 34

Im Zivilrecht wird die anfangs aufgeworfene Frage zum Teil bis in die neuere Zeit, allerdings ohne nähere Begründung oder Anführung von Fällen 72 , ausdrücklich bejaht73. Ebenso finden sich im Staatsrecht Formulierungen, die in der Sache die Möglichkeit von Angriffen durch den Staat als wichtigste juristische Person des öffentlichen Rechts anzunehmen scheinen, so z. B. mit der Wendung, daß das Recht auf Widerstand gegen den in Menschenrechte und Rechtsgüter seiner Bürger eingreifenden Staat als solchen ein Notwehrrecht des einzelnen sei 7 4 oder daß sich

69 Selbst in einer neuen einschlägigen Untersuchung (s. Felber S. 12 ff) findet sich keine Erörterung des Problems, obwohl es im Zivilrecht verschiedentlich angesprochen wird. 70 Schaper in v. Holtzendorffs Handbuch des Strafrechts, 2. Bd. (1871) S. 142; Schollmeyer S. 18; Schleifenbaum in StrAbh. H. 54 (1904) S. 47 Anm. 2; Focke in StrAbh. H. 403 (1939) S. 31; Knetsch (vor Rdn. 15) S. 17 Anm. 6)/18. 71 So z. B. mit der Erörterung der Frage, ob der „Eingriff des Staates in die Rechtssphäre" des unschuldig Verurteilten objektiv rechtswidrig sei, Karl Schäfer in : Löwe-Rosenberg StPO, 23. Aufl., I. Bd. (1975) = Strafprozeßrecht (1976) Einl. Kap. 12, Rdn. 54 (S. 183 unt.). 72 Wieso in der von den Zivilisten verschiedentlich zum Beleg angeführten Entscheidung OGHSt. 1 273 eine Stütze für diese Ansicht gesehen werden kann, bleibt unerfindlich. 73 So schon v. Alberti S. 12; Großmann S. 68; jetzt Johannsen BGB-RGRK, 11. Aufl., I. Bd. l . T . (1959) §227 Anm. 14; ders. aaO 12. Aufl., 18. Lief. (1975) §227 Rdn. 13; SoergelFahse BGB, 11. Aufl., I. Bd. (1978) § 227 Rdn. 3; Heinr. Lange-Köhler BGB, Allgemeiner Teil, 16. Aufl. (1977) S. 122 (anders und vorsichtiger nun H. Köhler in der 17. Aufl. [1980] S. 126 [§ 18 II 2 b]); v. Staudinger-H. Dilcher BGB, 12. Aufl., I. Bd. (1979) § 227 Rdn. 5. 74 Maihofer Rechtsstaat und menschliche Würde (1968) S. 115. (16)

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dieses dem Notwehrrecht zumindest verwandte Recht „gegen jede natürliche oder juristische Person" richte, „die öffentliche Gewalt verfassungswidrig ausübt" 7 5 . Der auch Körperschaften als Angreifer i. S. d. § 32 StGB, § 227 BGB anerken- 35 nenden Ansicht liegt offenbar im Strafrecht die Überlegung zugrunde, der Konflikt von Angriff und Abwehr solle nicht auf dem Rücken subalterner Ausführungsorgane ausgetragen werden, die als unverantwortliche Werkzeuge der eigentlich verantwortlichen „Obrigkeit" erscheinen 76 , im Zivilrecht die Vorstellung, der Angegriffene dürfe sonst nicht Vermögen oder Eigentum der juristischen Person verletzen, ohne sich schadensersatzpflichtig zu machen. Aber solche Bedenken sind unbegründet. Den Begriff des Angreifers auch auf juristische Personen zu erstrekken ist weder nötig noch förderlich, da diesen die natürliche Handlungsfähigkeit fehlt. Tatsächlich angreifen kann daher immer nur ein lebendes Wesen wie der Mensch, ob er nun als „Organ" der Körperschaft im juristisch-technischen Sinne oder als deren Repräsentant in der weitesten Bedeutung erscheint. In dem im Strafrecht als notwehrfähig anerkannten Fall der rechtswidrigen Nichtentlassung eines Inhaftierten — eines Angriffs durch Unterlassen (dazu Rdn. 46 ff) — ist irgendein Beamter derjenige, welcher den Häftling zu entlassen versäumt hat, so in dem unglaublichen Fall eines beinahe verschmachteten Mannes, der von österreichischen Gendarmen vorläufig festgenommen und dann in einer fensterlosen Zelle 18 Tage vergessen worden ist, weil die Beamten beim Abzug von ihrem Posten die Kollegen nicht auf den Gefangenen in dem abseits gelegenen Haftraum aufmerksam gemacht haben 7 7 . Zerbricht oder zersägt der zu Unrecht Eingesperrte Gitterstäbe seiner Zelle, um freizukommen, so ist diese Sachbeschädigung, d. h. Beschädigung der im Eigentum des Staates stehenden Haftanstalt, durch Notwehr gerechtfertigt (KG ROW 1957 85 r. Sp.), ohne daß deswegen der Staat, also die juristische Person als Angreifer auf die Freiheit des Festgenommenen betrachtet werden müßte; denn auch die Zerstörung der Angriffsmittel, die dem Angreifer nicht gehören, aber von ihm benutzt werden, hier des Gefängnisraums als Mittel des Freiheitsentzugs, ist durch § 32 StGB gedeckt (s. Rdn. 211). Juristische Personen als mögliche Subjekte eines Angriffs anzusehen verleitet 36 leicht zu zwei gleich verfehlten Folgerungen: entweder zu einer Einschränkung oder aber zu einer Erweiterung des Notwehrrechts. Einerseits könnte man auf den Gedanken kommen, in den angeführten Fällen nur den Staat selbst und nicht den einzelnen Amtsträger als Angreifer anzusehen, mit der einschränkenden Folge, daß sich der Inhaftierte nicht gegen das gehorchende Vollzugsorgan, den Anstaltsbeamten, zur Wehr setzen und Gewalt anwenden dürfte (so in der Tat Polzin ROW 1957 86 r. Sp.; dagegen W. Rosenthal aaO 214). Das ist jedoch abzulehnen, weil der den Gefangenen festhaltende Beamte der rechtswidrig, wenngleich oft schuldlos unmit-

75 Heyland Das Widerstandsrecht des Volkes (1950) S. 92; s. ferner Bertram Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes (1970) S. 42, nach dem sich dieses Selbsthilferecht nicht gegen Handlungen richte, „die der Staat... als Rechtssubjekt des Privatrechts vornimmt", sondern gegen rechtsverletzende hoheitliche Akte, die, so ist zu ergänzen, der Staat als Subjekt des öffentlichen Rechts begeht. Dagegen ist für iVeinkauff Übet das Widerstandsrecht (1956) S. 4, 17 dieses gegen den „obersten Träger", für Geiger Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus (1963) S. 106/107 „gegen den Inhaber der Staatsgewalt", nicht gegen den Staat gerichtet. 76 Vgl. auch F.-Ch. Schroeder JZ 1974 117 1. Sp. 77 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Fr., 20. Apr. 1979, Nr. 92/S. 10. (17)

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2. Abschnitt. Die Tat

telbar Angreifende ist. Andererseits könnte man dann so weit gehen, gegen jeden „Repräsentanten" staatlicher Straf- und Vollzugsgewalt, also selbst gegen den nicht an der Maßnahme beteiligten Amtsträger, Notwehr zuzulassen. Aber dieser weitgehende Schluß ist ebenso unannehmbar, wie folgender Fall zeigt: Ein Untersuchungshäftling soll in einem totalitären Regime in eine Haftanstalt verlegt werden, in der unmenschliche Bedingungen herrschen, und hat ein entsprechendes rechtsstaatswidriges Urteil zu erwarten ; er kann diesem rechtswidrigen Angriff auf seine Freiheit nur dadurch begegnen, daß er nicht erst den Wachtmeister, der ihn abholen soll, niederschlägt, sondern vorher schon den ihn bewachenden Beamten (Fall des BGH ROW 1958 33) oder, noch krasser, den Anstaltskoch überfällt und knebelt, um für die Flucht an Schlüssel, Papiere oder eine Uniform heranzukommen. Hier erscheint wohl noch der wachhabende Bedienstete (anders zu Unrecht BGH aaO und Westram aaO 34, 35 1. Sp.; dagegen W. Rosenthal ROW 1958 82), aber nicht mehr der im Küchendienst eingesetzte Beamte als Angreifer (auch nicht durch Unterlassen, da er den Inhaftierten nicht entlassen kann), so daß diesem gegenüber keine Notwehr, sondern nur Notstand (§§ 34, 35 StGB) in Frage kommt. 37

Unter Subjekt eines Angriffs i. S. des Notwehrrechts sind somit natürliche Personen als lebende und individuelle Geschöpfe, nicht jedoch juristische Personen als künstliche und abstrakte Gebilde zu verstehen.

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cc) Tiere, nicht nur Menschen: Im Gegensatz dazu können nach der eingangs gegebenen Definition (Rdn. 23) neben Menschen auch Tiere als Lebewesen Angreifer gemäß § 32 StGB (§ 227 BGB) sein. Das ist allerdings problematisch und wird heute bestritten. Daß Tierangriffe im natürlichen Sinne möglich sind, ist nicht zweifelhaft; man denke an den Zirkustiger, der seinen Dompteur anfällt, an die Katze, die fremde Tauben jagt (OLG Kiel nach Hasse DJZ 1903 523), an den nicht jagdbaren seltenen Seeadler, der auf einen Jagdhund niederstößt (KG JW 1935 2982 Nr. 64)78. Davon zu unterscheiden sind die Fälle des nicht aus eigenem Antriebe angreifenden, sondern von einem Menschen angetriebenen oder eingesetzten Tieres: jemand hetzt seine wertvolle Dogge auf den wertlosen Nachbarshund oder legt seinem Feind eine Giftschlange in den Briefkasten (Fall in Amerika). Hier ist letztlich der Mensch der Angreifer und Notwehr gleichermaßen gegen ihn und sein Werkzeug zulässig; der Angegriffene darf je nach Sachlage entweder das Tier töten oder dessen Besitzer gewaltsam zwingen, es zurückzurufen oder zu entfernen.

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Von solchen Fällen abgesehen verneinen Rechtsprechung (RGSt. 34 295, 296; 36 230, 236; s. auch OGHSt. 1 273, 274) und heute herrschende Rechtslehre 7 9 die Notwehrfähigkeit von Tierangriffen, die erstere mit der These, daß „die Streitfrage" durch das BGB „erledigt" sei, da „die Abwehr der Gefahr durch Sachen (wozu auch Tiere gehören) in § 228" BGB geregelt werde, die letztere vor allem mit der Überlegung, daß nur ein menschliches, nicht aber tierisches Verhalten rechtlicher Wertung unterliege, der Angriff eines Tieres also nicht als rechtswidrig bezeichnet

78 Fälle, die die Rechtsprechung freilich nach § 228 BGB oder nach dem allgemeinen rechtfertigenden (früher übergesetzlichen) Notstand gelöst hat. 79 So z. B. Ahsbahs S. 17; M. E. Mayer S. 278; v. Liszt-Schmidt AT S. 194/195 Anm. 5); Hellm. Mayer AT S. 204; Rittler Lehrb. I S. 139; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. V (S. 205); Welzel S. 84; Baumann S. 309 (§ 21 II 1 a); Jescheck AT S. 271 (§ 32 II 1 a); Schmidhäuser AT S. 344 (9/90); Bockelmann AT S.91 (§15 B l l a ) ; Dreher-Tröndle Rdn. 5; Lackner Anm. 2.a); Samson S Κ I Rdn. 5; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 3; Fr. W. Krause Bruns-Festschr. S. 71, 82/83. 08)

Notwehr (Spendei)

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werden könne. Die Begründung erscheint bestechend, das Ergebnis jedoch ganz unbefriedigend 80 , ja geradezu sinnwidrig81, und zwar aus drei Gründen: Zunächst und hauptsächlich führt die herrschende Meinung dazu, daß der in sei- 40 nen Sachgütern Angegriffene Tieren gegenüber ein schwächeres Abwehrrecht hätte als gegenüber Menschen. Der Landwirt dürfte zwar nach § 32 StGB, § 227 BGB die erforderliche (obwohl nicht verhältnismäßige) Verteidigung üben, also notfalls auch die Schußwaffe gebrauchen und den Angreifer verletzen (RGSt. 55 82 : gefährliche Körperverletzung durch Schrotschuß gegen Obstdieb; RGZ 111 370: gegen Kartoffeldieb), wenn er sonst durch Rowdies um die Frucht seiner Landarbeit gebracht würde („Rocker" wollen ihm mit ihren Motorrädern das Feld verwüsten), dürfte aber nicht nach § 228 BGB eine unverhältnismäßige (obgleich notwendige) Abwehr wagen, wenn sein Feld von einem wild gewordenen Rennpferd oder einem ausgebrochenen Zirkuselefanten zertrampelt würde, weil das kostbare (z. B. mit 300 000 DM gehandelte) Pferd oder der dressierte (z. B. 50 000 DM kostende) Dickhäuter ungleich mehr wert wäre als die einen Verkaufserlös von wenigen tausend Mark einbringende Ernte, mithin der zur Verteidigung anzurichtende Schaden (Tötung des wertvollen Tieres) „außer Verhältnis" zu dem durch den Tierangriff drohenden Flurschaden stünde 82 . Sodann ist zu beachten, daß § 228 BGB nur Angriffe fremder, nicht jedoch her- 41 renloser Tiere auf andere Sachgüter decken würde. Und schließlich ist es wenig einleuchtend, wieso man zum Schutze des eigenen alten Hundes den viel wertvolleren Rassehund des Nachbarn niederschießen darf, falls ihn sein Eigentümer hetzt, nicht aber töten dürfen soll, falls der fremde Hund bösartig von selbst den eigenen anfällt (so schon schlagend Rob. ν. Hippel II S. 208 Anm. 1). Die Lehrmeinung, die die Notwehrfähigkeit von Tierangriffen ablehnt, könnte 42 die vorstehend angeführten Ungereimtheiten nur vermeiden, wenn sie entweder das Notwehrrecht der §§ 32 StGB, 227 BGB einschränken oder das Sachwehrrecht des § 228 BGB erweitern würde. Im ersten Falle müßte man die Gefährdung oder Verletzung von Menschenleben zur Rettung von Sachgütern für unzulässig halten, wozu heute manche Autoren unter den Parolen der „Menschlichkeit" 83, des „Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes" 8 4 usw. neigen. Danach dürfte der in seinem Eigentum angegriffene Bauer ebensowenig auf Menschen wie auf das kostbare Tier schießen. Diese einschränkende Auslegung der Notwehrvorschriften ist abzulehnen, weil sie zu einer unangebrachten und gesetzwidrigen Aushöhlung des Rechts der Selbstverteidigung führt. 80 So selbst v. Liszt-Schmidt AT S. 195 Anm. 5) vorletzter Abs. (nicht befriedigend) und Kohlrausch-Lange S. 205 („unerträgliche Folge"!) als Anhänger, Frank §53 a. F. Anm. I 2 b (S. 161: „völlig unbefriedigend") als Gegner der die Notwehrfähigkeit von Tierangriffen ablehnenden Auffassung. 81 So scharf als Kritiker der obigen Ansicht Rob. ν. Hippel II S. 208 Anm. 1 III. Abs. 82 Vgl. die noch zugespitzteren und wenig praktischen Beispiele bei Enneccerus-Nipperdey Allgemeiner Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl., 2. HBd. (I960) S. 1457 Anm. 11, S. 1451 Anm. 9 a. E., S. 1452 (gewöhnliches Pferd, das einige Früchte zu zertreten droht); Endemann Lehrb. des Bürgerl. Rechts, 8./9. Aufl., I. Bd. (1903) S. 440 Anm. 17 (fremdes Pferd, das Wiese zerstampft); Planck-Knoke BGB, 4. Aufl., I. Bd. (1913) § 228 Anm. l.f (S. 571 ob. : kostbares Pferd, das eine Blume zertritt). 83 So Enneccerus-Nipperdey Allgemeiner Teil des Bürgerl. Rechts 15. Aufl., 2. HBd. (1960) S. 1452. 84 Vgl. ζ. B. Heinr. Lehmann-Hübner Allgemeiner Teil des Bürgerl. Gesetzbuches, 16. Aufl. (1966) S. 122; F.-Chr. Schroeder in Maurach-Festschr. S. 138. (19)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

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Im zweiten Falle wäre dann der Begriff der UnVerhältnismäßigkeit so zu verwischen oder zu verwässern, daß man den dem Rennstallbesitzer oder Zirkusdirektor zuzufügenden Tierschaden (Verlust des wertvollen Pferdes oder Elefanten) als nicht außer Verhältnis stehend zu dem dem Landwirt drohenden Flurschaden (Verlust der Ernte) ansähe. In diese Richtung geht die Auffassung, nach der die Tötung des angreifenden kostbaren fremden Hundes (eines 3000 Goldmark kostenden russischen Windhundes) zur Rettung des angefallenen wertlosen eigenen Hündchens oder des wertlosen eigenen Katers nicht außer Verhältnis stehe (s. zum ersten Falle RG[Z] JW 1926 1145, zum zweiten Heinr. Lange-Köhler BGB, Allgemeiner Teil, 16. Aufi. [1977] S. 126, ähnlich in der 17. Aufl. [1980] S. 133)85. Danach dürfte der Bauer doch das den Acker verwüstende kostbare Tier niederschießen. Diese ausdehnende Auslegung des § 228 BGB erscheint jedoch mit Sinn und Wortlaut der Vorschrift schwerlich vereinbar.

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Um die Diskrepanz der Abwehrrechte gegen menschliche und tierische Angriffe zu vermeiden, ist daher der früher meist vertretenen Lehrmeinung der Vorzug zu geben, die Tierangriffe ebenfalls der Regelung der §§ 32 StGB, 227 BGB unterstellt 86, mag auch die Frage der „Rechtswidrigkeit" des Angriffs Schwierigkeiten bereiten (s. dazu Rdn. 39, 58). Dies rührt daraus, daß das Tier weder dem allein rechtswidrig oder rechtmäßig handelnden Menschen als Angriffssubjekt noch einer leblosen Sache als Gefahrenherd rechtlich ohne weiteres gleichgestellt werden kann und an sich eine Sonderregelung verdient 87.

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Hervorzuheben ist schließlich noch: Von einem Tier geht dann kein „ A n g r i f f , sondern eine „Gefahr" aus, wenn es krank ist; ein rotzkrankes Pferd wird z. B. in einem fremden Stall bei anderen Pferden abgestellt. Hier ist allein § 228 BGB anwendbar 8 8 .

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c) Form des Angriffs (Tun oder Unterlassen): Da unter Angriff in erster Linie der von Menschen zu begreifen ist, bedarf er noch einer näheren Bestimmung. Wie alles menschliche Verhalten kann er nicht allein — entgegen einer früher vielfach vertretenen Ansicht 89 — durch einen „tätlichen A n g r i f f , ein Tun, sondern auch

85 Anders im Strafeecht Oetker in seiner Anmerkung zum Urt. des RG JW 1926 1146 1. Sp., im Zivi/recht Cosack Lehrb. des Deutschen bürgerl. Rechts, 6. Aufl., I. Bd. (1913) S. 326 zu b), die die Unverhältnismäßigkeit zwischen drohendem Angriffsschaden und anzurichtendem Abwehrschaden nach § 228 BGB in solchen Fällen mit Recht bejahen und deshalb Tierangriffe nicht dem Sachwehr-, sondern dem Notwehrrecht unterstellen. 86 So Binding Handb. S. 736; v. Bar Gesetz und Schuld im Strafrecht, III. Bd. (1909) S. 192; Rosenfelder S. 34, 36 ff, 42; Oetker VDA II S. 264/265; ders. in Frank-Festg. I S. 359, 372; Köhler Deutsches Strafrecht, Allgem. Teil (1917) S. 346 f; Jesse S. 5, 26 ff, 31 ; Rob. v. HippelII S. 208; Frank § 53 a. F. Anm. I 2 b (S. 161); Heimberger Strafrecht (1931) S. 42 zu c); Mezger Lehrb. S. 233 f; Lobe LK.5 (1933) § 53 a. F. Anm. 2.b) (S. 386); Nagler LK.6 (1944) Anm. 2 (S.419); Jagusch LK.8I (1957) Anm. 2.b) (S.401); Christmann S.44; Schänke StGB6 (1952) § 53 a. F. Anm. Il.l.a); Maurach AT4 (1971) S. 308 (anders jetzt MaurachZipf S. 376 [§ 26 II A l ] ) ; im Zivi/recht Cosack-Mitteis Lehrbuch des Bürgerl. Rechts, 8. Aufl., I. Bd. (1927) S. 323. 87 Dazu Oetker VDA II S. 266 vor b); Jesse S. 31/32. 88 Oetker Über Notwehr und Notstand S. 23; Rosenfelder S. 43. 89 Für das Strafte cht: RGSt. 19 298, 299; Schleifenbaum StrAbh. H. 54 (1904) S. 45; Baumgarten S. 119; M. E. Mayer AT S. 277; Frank § 53 a. F. Anm. I (S. 159); Gerland S. 147; Wegner S. 120; Hellm. Mayer AT S. 203; ders. StudB S. 97; Bockelmann AT S. 91 (§ 15 Β I 1 a). Für das Zivi/recht: RG WarnRspr. 1933, S. 236, 238; BGH[Z] NJW 1967 46, 47 (20)

Notwehr (Spendei)

§32

durch ein passives Verhalten, ein Unterlassen, verwirklicht werden (OGHSt. 3 65, 66) 90 . Es macht keinen Unterschied, ob der Hundebesitzer seine Dogge auf einen ihm mißliebigen Passanten hetzt oder das den Spaziergänger von selbst anfallende Tier nicht zurückruft, ob der Landstreicher in das Haus eines anderen (widerrechtlich) eindringt oder sich daraus (unbefugt) nicht entfernt (OLG Hamm GA 1961 181; s. ferner RGSt. 72 57, 58)91, 0 b jemand einen anderen (unerlaubt) einsperrt oder den Inhaftierten über die abgelaufene Strafzeit hinaus nicht freiläßt (s. auch KG ROW 1957 85, 86 zu c) 9 2 , ob sich ein Verkehrsteilnehmer in eine Parklücke auf öffentlichem Parkplatz hineinstellt oder aus ihr nicht hinausgeht und so einen anderen Kraftfahrer am Einparken zu hindern sucht (BayObLG NJW 1963 824, 825 1. Sp.; s. auch OLG Hamm NJW 1970 2074, 2075 1. Sp.) 93 . Ebenso ist Nothilfe gegen einen Unterlassungsangriff denkbar. Dem rücksichts- 47 losen und uneinsichtigen Vater, der sein zweijähriges Kind im Auto zurückgelassen hat und durch sein Nichtherausholen Gesundheit und Leben des Kleinen aufs Spiel setzt, weil inzwischen die bis dahin verdeckte Sonne den Wagen in einen Glutofen verwandelt, darf man gewaltsam den Autoschlüssel wegnehmen, um das eingeschlossene Kind zu befreien (falls man den Wagen durch Einschlagen einer Türscheibe öffnen müßte, wäre die fremdes Eigentum beschädigende Rettungshandlung auch nach § 904 BGB gerechtfertigt). Ebenso greift die Mutter, die ihren Säugling nicht ernährt, dessen Gesundheit und Leben a n 9 4 ; eine energische Nachbarin darf sie, wenn Eile geboten ist, zur Versorgung des Kindes zwingen 95 . Dafür, daß

1. Sp.; v. Tuhr Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerl. Rechts, Bd. II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 581; Enneccerus-Nipperdey Allgemeiner Teil des Bürgerl. Gesetzbuches, 15. Aufl. (1960) 2. HBd. S. 1449; Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl., I. Bd. (1978) § 227 Rdn. 1 ; v. Feldmann MünchKomm. 1. Bd. (1978) § 227 Rdn. 2. 90 v. Bar Gesetz und Schuld im Strafrecht, III. Bd. (1909) S. 147; Köhler AT (1917) S. 343; Rob. v. Hippel II S. 204; Rieh. Schmidt Grundriß des deutschen Strafrechts, 2. Aufl. (1931) S. 119 und Anm. 1); Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 2.a); Foche StrAbh. H. 403 (1939) S. 25; Mezger Lehrb. S. 233; Blei AT S. 130 (§4011); Maurach-Zipf AT S. 376 (§26 II A 2); Jescheck AT S. 271/272 (§32 II l a ) ; Samson SK I Rdn. 7; Lackner Anm. 2.a); Geilen Jura 1981 201, 203. Für das Zivi/recht z. B. Henle Lehrb. des Bürgerl. Rechts, I. Allgem. Teil (1926) S. 324; Heim. Lange-Köhler BGB, Allgem. Teil, 17. Aufl. (1980) S. 126 (§18 II 2 b). 91 Zustimmend Maurach-Zipf AT S. 376 (§26 II A 2); Jescheck AT S. 272 (§32 II l a ) ; ebenso schon v. Bar Gesetz und Schuld, III. Bd. S. 147 und zu Anm. 244); Rob. ν. Hippel II S. 204 Anm. 4). Anders (nur Notwehr gegen widerrechtliches Eindringen, gegen unerlaubtes Verweilen eventuell Selbsthilfe nach § 229 BGB wegen Nichterfüllung des Anspruchs auf Verlassen der Wohnung!?) Μ. E. Mayer AT S. 277; Allfeld S. 126 Anm. 23 a. E. 92 Rob. v. Hippel II S. 204 Anm. 4; Mezger Lehrb. S. 233; Maurach-Zipf AT S. 376 (§ 26 II A 2); Jescheck AT S. 272 (§ 32 II 1 a); Uckner Anm. 2.a). 93 Man kann die Frage nicht als „Scheinproblem" damit zu umgehen suchen, daß man ζ. B. die Nichtfreigabe einer Parklücke als „Versperren", die Nichtentlassung eines Häftlings als „Festhalten" bezeichnet, so aber noch Sch.-Schr.-Lenckner20 (1980) Rdn. 11 (nicht klarer dies.2i aaO); nicht einheitlich Schmidhäuser S. 346. 94 So auch Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 2.a) (S. 386); Baumann AT S. 310 (§ 21 II 1 a); Wessels AT S. 76 (§ 8 V 1). 95 Daß diese Nötigung keine Nothilfe sein soll, wie Schmidhäuser AT S. 346 zu Anm. 25 (9/93) meint, ist nicht einzusehen ; wie hier Geilen Jura 1981 203 zu c). (21)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

der Angriff nur in einem unechten 96 , nicht auch in einem echten Unterlassungsdelikt bestehen kann, ist kein triftiger Grund ersichtlich (s. noch OGHSt. 3 121, 123)97. Denn entscheidend muß sein, ob das abzuwehrende Verhalten tatsächlich eine unmittelbare Gefährdung des Rechtsguts bedeutet (rechtswidrig ist dieser Angriff durch Unterlassen nur, wenn eine Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung oder wenigstens zur Rettungshandlung besteht). Der Bauer, der auf Bitten eines hilfsbereiten Wanderers einen in einsamer Gegend Verunglückten nicht zur fernen Rettungsstation fahren will und so durch seine Nichterfüllung der nach § 323 c StGB gebotenen Hilfeleistungspflicht die Not des Verletzten aufrechterhält, muß es sich nicht nur nach § 904 BGB gefallen lassen, daß ihm der tatkräftige Samariter den Wagen zum Abtransport wegnimmt, sondern sogar nach § 32 StGB, daß ihn der Dritte durch Gewalt oder Drohung zwingt, den Hilfsbedürftigen und seinen Nothelfer zu chauffieren, wenn der letztere nicht selbst fahren kann 98 . 48

In den immer wieder praktisch werdenden Fällen, daß ein Mieter nach rechtswirksamer Beendigung des Mietverhältnisses die Mietsache nicht freigibt und der Vermieter eigenmächtig ζ. B. durch Entfernung des Hausrats usw. die Räumung erzwingt (RGSt. 9 58; 19 298; 36 322; RG[St.] SeuffBlätt. 68 [1903] 145; BGH[Z] NJW 1967 46, 47 1. Sp.; KG[Z] NJW 1967 1915), entsteht die Frage, ob die Vorenthaltung der Mieträume ein Angriff und vielleicht Notwehr dagegen zulässig ist. Um diese Frage strafrechtlich exakt zu beantworten, sind zivilrechtlich folgende Ausgangspunkte scharf zu unterscheiden: Einmal ist die Nichträumung der Wohnung durch den Mieter scAw/i/rechtlich eine Ker/ragiverletzung; seine McAferfüllung der mietvertragsrechtlichen Rückgabepflicht kommt als Angriff aber nicht in Betracht, da Forderungsrechte keine notwehrfähigen Rechtsgüter sind, zu ihrem Schutze vielmehr die enge Sonderregelung des § 229 BGB gilt (s. dazu Nr. III. 1. c), Rdn. 190 ff)· Zum andern bedeutet die „Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustandes" wie die Nichträumung einer Wohnung nach Ablauf der Mietzeit (Frank § 53 a. F. Anm. I [S. 159]; BGH[Z] NJW 1967 46, 47 1. Sp.) sachenrechtiich eine Beeinträchtigung der Sac/iherrschaft, d. h. der Besitz- und EigentumsinteTessen des Vermieters (BGH aaO); die McAiaufgabe des unmittelbaren Besitzes und die Nichtherausgabe des Eigentums sind somit — entgegen der landläufigen Meinung 99 —

96 So ausdrücklich Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. III (S. 204); Roxin-SchiinemannHaffke Strafrechtliche Klausurenlehre mit Fallrepetitorium, 4. Aufl. (1982) S. 36; Felber S. 196 (mit der nichtssagenden Begründung, daß die „Sanktionen" der Notwehr „einer solchen Pflichtverletzung nicht mehr angemessen wären"). 97 Ebenso Focke StrAbh. H. 403 (1939) S. 25; Jescheck AT S. 272 ob. (§ 32 II 1 a); Stratenwerth ATI (1971) Rdn. 415 (anders oder zumindest unentschieden ders. aaO ab der 2. Aufl.); Geilen Jura 1981 203. 98 Die Heranziehung des rechtfertigenden Notstandes (§ 904 BGB, § 34 StGB) — so RoxinSchünemann-Hafflce aaO S. 36 — würde nicht weiterhelfen, wenn wie hier nur die Rechtsgüter Leib und Gesundheit des Verunglückten und Leib und Freiheit des widerspenstigen Bauern, also gleichwertige Interessen kollidieren ; s. auch Geilen aaO S. 204. 99 In der Regel wird das Merkmal „Angriff mit der unzutreffenden Begründung verneint, daß für den Begriff kein Unterlassen (Nichträumung) genüge, so z. B. RGSt. 19 298, 299; BGH[Z] NJW 1967 46, 47 1. Sp.; Frank § 53 a. F. Anm. I (S. 159); Bockelmann AT S. 91 (§15 B l a ) ; Sch.-Schröder-Lenckner20 (1980) Rdn. 10 (etwas and. dies.2\ Rdn. 11); v. Tuhr Der Allgem. Teil des Deutschen Bürgerl. Rechts, Bd. II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 581 Anm. 5 und 10; Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl., 2. HBd. (1960) S. 1449 Anm. 2); Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl., 1. Bd. (1978) § 227 Rdn. 1. (22)

Notwehr (Spendei)

§32

ein Angriff des Mieters auf das Besitz- und Eigentumsrecht des Vermieters, und zwar durch Unterlassen Gleichwohl darf der Eigentümer nicht eigenmächtig die Freigabe der Mietsache 49 erzwingen, weil insoweit das Besitzschutzrecht des Mieters stärker ist als das Notwehrrecht des Vermieters 101. Denn der erstere, mag er zum Besitze der Mietsache berechtigt sein oder nicht (nicht mehr), bleibt als unmittelbarer Besitzer um des äußeren Rechtsfriedens willen und zur Vermeidung von Selbstjustiz auch gegen eine Selbsthilfe, d. h. eine Entziehung oder Störung seines Besitzes durch den Vermieter als mittelbaren Besitzer geschützt. Die private Zwangsräumung ist daher zivilrechtlich verbotene Eigenmacht (RG[St.] SeuffBlätt. 68 [1903] 145; KG[Z] NJW 1967 1915, 1916 1. Sp.), strafrechtlich (versuchte oder vollendete) Nötigung (RGSt. 19 298, 301). Der ohne Rechtsgrund weiter in der Wohnung bleibende Mieter begeht nicht etwa Hausfriedensbruch (RGSt. 36 322; RG[St.] SeuffBlätt. 68 [1903] 145). Verstößt er auch durch seine Nichtherausgabe der Mietsache nach wirksamer Auflösung des Mietverhältnisses gegen das Recht, so muß doch der Vermieter diesen rechtswidrigen Angriff auf seine Besitz- und Eigentumsinteressen durch Unterlassen zunächst hinnehmen und vorläufig dulden. Er ist zum Schutze seines letztlich stärkeren Eigentumsrechts und zur endgültigen Durchsetzung seines Herausgabeanspruchs wie bei der Verwirklichung seines schuldrechtlichen Rückgabeanspruchs auf den Klageweg angewiesen und darf zur Sicherung desselben nur ausnahmsweise und nur unter engen Voraussetzungen eigenmächtig vorgehen, dann aber nicht in Notwehr, sondern eben in „Selbsthilfe" i. S. d. § 229 BGB 1 0 2 , so etwa in dem Fall, daß der unmittelbare Besitzer einer beweglichen Mietsache, z. B. eines Mietautos, mit dem Gegenstand ins Ausland fliehen und auf solche Weise die Realisierung des Anspruchs vereiteln will. Zu beachten ist jedoch, daß das Notwehrrecht des Vermieters dann wieder dem 50 Besitzschutzrecht des Mieters vorgehen muß, wenn dieser über die bloße Innehabung des Besitzes, d. h. über die McAirückgabe der Sache hinaus die Besitz- und Eigentumsinteressen des anderen verletzt: Der unmittelbare Besitzer beginnt z. B. damit, aus Wut über die Beendigung des Miet- oder Pachtverhältnisses die Sache zu beschädigen oder zu zerstören und so Eigentum und mittelbaren Besitz des Vermieters oder Verpächters anzugreifen und womöglich zu vernichten, etwa durch Nichtabdrehen des Haupthahns für eine geplatzte Wasserleitung 1°3, Nichtschließen von Fenstern trotz Sturm, Regen und Kälte (Eingriffe durch Unterlassen) oder sogar durch Herausschlagen von Zimmerwänden, Herausreißen des Parkettbodens, Ver100 So ausdrücklich mit Recht Rob. ν. Hippel II S. 204 Anm. 4, der auch einen „rechtswidrigen Eingriff in Eigentum bzw. Besitz durch Unterlassung" annimmt, bei gewaltsamer Räumung durch den Vermieter aber nur die „Erforderlichkeit" der Verteidigung anzweifelt, was unzutreffend ist, da der Eigentümer gegenüber dem rechtswidrigen Verhalten des Mieters eine Duldungspflicht hat; s. ferner Lobe LK.5 (1933) § 53 a. F. Anm. 2.a (S. 386); für Notwehrrecht des Vermieters zu Unrecht schon Ahsbahs S. 52. 101 So wie der Besitz (das Besitzschutzrecht) gegenüber dem Eigentum(srecht) für die vorläufige (natürlich nicht für die endgültige) Regelung der Herrschaft über eine Sache „das stärkere Recht" ist, so v. Tuhr aaO S. 573. 102 Für das Zivi/recht s. ζ. B. v. Tuhr aaO S. 581; BGH[Z] NJW 1967 46, 47 1. Sp.; für das S/ra/recht insofern zutreffend Jescheck S. 272 ob. (§ 32 II 1 a), im Fall der Durchsetzung eines Anspruchs auf Wegebenutzung RGSt. 36 131, 132. 103 Beispiel für notwehrfähigen Angriff durch Unterlassen von Heirtr. Lange-Köhler BGB, Allgemeiner Teil, 16. Aufl. (1977) S. 123 (§1812 b). (23)

§ 3 2

2. Abschnitt. Die Tat

feuern der gemieteten Möbel, Abholzen von Bäumen in einem gepachteten Obstgarten, Ausgießen von Benzin oder Anbringen von Sprengladungen in dem zu räumenden Haus 1 0 4 (Eingriffe durch Tun). 51 Die im Zivilrecht vorherrschende, meist kritiklos übernommene Meinung will in derartigen Fällen allerdings keinen rechtswidrigen Angriff i. S. d. § 227 BGB annehmen bzw. dem Vermieter kein Notwehrrecht zuerkennen, sondern nur das ihm als Anspruchsberechtigten allein zustehende Recht zur Selbsthilfe im engen Rahmen des § 229 BGB zubilligen, und zwar deswegen, weil sich die gefährdete oder verletzte Sache im unmittelbaren Besitz des Täters befinde und verbotene Eigenmacht nur vom mittelbaren Besitzer (Vermieter) gegen den unmittelbaren (Mieter), nicht aber umgekehrt von diesem gegen jenen begangen werden könne 105 . Das hätte jedoch höchst unbefriedigende Konsequenzen: der Eigentümer wäre nicht allein in seinem Selbstschutz eingeschränkt, auch ein hilfsbereiter Nachbar oder ein anderer Mieter dürfte nicht aus eigenem Antrieb Nothilfe üben und würde dann, wenn er den Rechtsbrecher gewaltsam am Demolieren der Miet- oder Pachtsache zu hindern suchte, verbotene Eigenmacht begehen und sich sogar strafbar machen. 52

Die Richtigkeit der vorherrschenden Auffassung ist daher äußerst „zweifelhaft" (Heck Grundriß des Sachenrechts [1930, Neudr. 1960] S. 48, 32), ja zu verneinen. Denn bei denjenigen Verhaltensweisen, die wie die Beschädigung oder Zerstörung der gemieteten oder gepachteten Sache als „Exzeßhandlungen" (Heck) aus dem Rahmen der normalen Ausübung des Besitzrechts fallen, ist der unmittelbare Besitzer nicht schutzwürdig 106 . Mit einer beachtlichen Mindermeinung ist darum davon auszugehen, daß in den genannten Fällen das Notwehrrecht des Vermieters und Eigentümers und das Nothilferecht eines Dritten den Vorrang vor dem Besitzschutzrecht des Mieters haben 107 , mag auch die Unterscheidung zwischen notwehrfähigen Angriffs- und noch üblichen Nutzungshandlungen des unmittelbaren Besitzers „manchmal schwierig" sein (Heck aaO S. 32). 53 Die jVoiwe/irmöglichkeit ist um so mehr anzuerkennen, als man im Strafrecht keine Bedenken trägt, dem Vermieter oder einem Dritten das Notstandsrecht gegen104 Vgl. den Fall in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Sa., 28. 3. 1981, Nr. 74/S. 7, in dem das Haus sogar in die Luft gesprengt wurde. 105 So ζ. Β. v. Tuhr aaO S. 581 und Anm. 8 und 10, S. 594; v. Staudinger-Coing BGB, 11. Aufl., I. Bd. (1957) §227 Rdn. 3; Martin Wolff-Raiser Sachenrecht, 10. Aufl. (1957) S. 63; Julius v. Gierke Das Sachenrecht des bürgert. Rechts, 4. Aufl. (1959) S. 26; Enneccerus-Nipperdey Allgemeiner Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl., 2. HBd. (1960) S. 1450 und Anm. 6); Baur Lehrbuch des Sachenrechts, 8. Aufl. (1975) S. 73 (§ 9 III 2); v. Feldmann MünchKomm., 1. Bd. (1978) § 227 Rdn. 3. 106 Keine rechtswidrigen Angriffe auf das Eigentum i. S. d. § 32 StGB, § 227 BGB sind natürlich die Beschädigungen von Zimmerwänden durch das Einschlagen von Nägeln zum Aufhängen von Bildern und Teppichen, das Verkratzen des Parkettfußbodens oder der gemieteten Möbel beim Gebrauch, weil dies noch im Rahmen der üblichen Ausübung des Besitzrechts liegt. 107 Ebenso Schollmeyer S. 14; v. Alberti S. 30; Schleifenbaum StrAbh. H. 54 (1904) S. 46 Anm. 2); Heck Grundriß des Sachenrechts (1930, Neudr. 1960) S. 48, 32; Westermann Sachenrecht, 5. Aufl. (1966) S. 107 (§ 26 II 1); wohl auch Heinr. Lange-Köhler BGB, Allgemeiner Teil, 16. Aufl. (1977) S. 123 ( § 1 8 1 2 b); s. auch noch Otto v. Gierke, Deutsches Privatrecht, II. Bd. Sachenrecht (1905) S. 250 und Anm. 14 und 15; Dernburg Das bürgert. Recht des Deutschen Reichs und Preußens, III. Bd. Das Sachenrecht, 4. Aufl. (1908) S. 85 vor Nr. 7, aber auch Anm. 17. (24)

Notwehr (Spendei)

§32

über dem Mieter zuzubilligen. Wenn in den Mieträumen des abwesenden Wohnungsinhabers ein Wasserrohr platzt und nur von der Sache (also nicht auch von der Person, d. h. dem Mieter, falls er anwesend wäre und nicht einschreiten würde) Gefahr droht, darf der Hauseigentümer oder ein anderer Hausbewohner je nach Sachlage gemäß den §§ 228, 904 BGB (§ 34 StGB) gewaltsam in die Wohnung eindringen und so in Hausfrieden und unmittelbaren Besitz des Mieters eingreifen, da er größeren Schaden nicht allein für den unmittelbaren, sondern nicht zuletzt auch für den mittelbaren Besitzer und Eigentümer abwendet 1°8. 2. Die Rechtswidrigkeit des Angriffs a) Begriff des rechtswidrigen Angriffs : Hierfür sind zwei Gesichtspunkte maßge- 54 bend; einmal ist die Rechtswidrigkeit primär vom Standpunkt des Angegriffenen, nicht des Angreifers aus zu beurteilen, zum andern ist sie als Wertbegriff ebenso wie der Tatsachenbegriff „Angriff rein objektiv zu bestimmen. Daraus ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen und Abgrenzungen. aa) Beurteilung vom Angegriffenen aus: Die Rechtswidrigkeit des Angriffs läßt 55 sich sowohl von der Seite des Angreifers als auch von der des Angegriffenen aus bestimmen, also danach, ob der erstere eine Eingriffsbefugnis oder der letztere eine Duldungspflicht hat 1 0 9 . In der Regel werden beide Betrachtungsweisen zum gleichen Ergebnis führen, so z. B., wenn der in fremde Rechte Eingreifende und damit einen anderen Angreifende selbst dabei Notwehr übt — daher der einprägsame Satz: „Keine Notwehr (des Angreifers) gegen Notwehr (des sich im „Gegenangriff Verteidigenden)"! 10 — oder wenn er im Angriffsnotstand handelt! 1 1 , ferner auf Grund des Rechts zur vorläufigen Festnahme (RGSt. 54 196, 197; 57 79, 80; 72 300, 301), eines Amts- oder Dienstrechts zur Pfändung, Verhaftung, Durchsuchung oder zu anderen Zwangsmaßnahmen (RGSt. 41 214, 215/216; 58 401/402, 410), insbesondere auch auf Grund der rechtmäßigen Ausführung eines rechtmäßigen dienstlichen Befehls (RGSt. 22 300/301; 25 150, 151) oder schließlich auf Grund der Einwilligung (arbeitsvertraglicher Absprache) des Betroffenen (s. auch OLG Hamm NJW 1977 590, 591 r. Sp.) oder zweier miteinander Raufenden (s. Rdn. 173). Solchen Eingriffsrechten auf seiten des Angreifers steht eine Duldungspflicht auf Seiten des Angegriffenen gegenüber. Diese Übereinstimmung der beiden Blickweisen muß nicht notwendig bestehen. 56 Es ist auch denkbar, daß die Rechtsordnung bestimmte hinsichtlich des Angreifers rechts widrige, für den Angegriffenen dagegen i/wWungipflichtige Angriffe und 108 Die Anwendung der Notstandsrechte sind hier der richtige Gesichtspunkt für die Rechtfertigung der Verwirklichung objektiver Deliktstatbestände und des Eingriffs in das Besitzrecht des Mieters, nicht die mutmaßliche (womöglich gerade nicht vorliegende) Einwilligung des unmittelbaren Besitzers, s. auch Welzel S. 92. 109 Diese Sachlage dürfte durch die moderne Ausdrucksweise, die beim Angriff einen „Handlungs- und Erfolgsunwert (-unrecht)" unterscheidet und oft den ersteren für die Rechtswidrigkeit des Angriffs maßgeblich sein lassen will (s. z. B. Hirsch in Dreher-Festschr. S. 213 ff, 227 ff; Samson S K I Rdn. 13 f; Maurach-Zipf AT S. 378 [§26 II A 4]; Feiber S. 67, 138 ff), mehr verdunkelt als erhellt werden. 110 So schon Berner ArchCrimR 1848 (547) 558; RGSt. 54 196, 198; 66 288, 289; Notwehr jedoch gegen Notwehrüberschreitung zulässig (RGSt. 66 289). 111 RGSt. 23 116: Gastwirt muß — heute nach § 904 BGB, § 34 StGB — hinnehmen, daß sich Gäste mit seinen Krügen und Gläsern gegen die körperlichen Angriffe anderer Besucher zur Wehr setzen und damit sein, des Wirtes Eigentum angreifen. (25)

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umgekehrt gewisse für den Angreifer rechtmäßige, für den Betroffenen jedoch nicht zu duldende Angriffe anerkennt 1 1 2 . Beispiel für die erste Alternative ist der schon behandelte Fall des Mieters und unmittelbaren Besitzers, der nach Beendigung des Mietverhältnisses die Sache zu Unrecht nicht herausgibt, ζ. B. wohnen bleibt und mit der Unterlassung der Räumung Besitz- und Eigentumsinteressen des ehemaligen Vermieters verletzt (s. Rdn. 48 f). Hier muß dieser den rechtswidrigen Angriff auf sein Eigentum wegen des stärkeren Besitzschutzes zunächst hinnehmen und kann nicht im Wege der Eigenmacht, d. h. der Notwehr sein Eigentumsrecht wahren, sondern ist auf den Klageweg angewiesen. Die zweite Alternative, also der umgekehrte Fall der Notwehr gegen einen rechtmäßigen Angriff ist nach Binding ζ. Β. bei der Kollision verschiedener Rechtsordnungen möglich, so etwa dann, wenn ein Staat die Festnahme eines fremden Staatsangehörigen erlaubt, die nach dessen Recht nicht zulässig ist 1 1 3 . 57

Es ist folglich zu entscheiden, welcher Gesichtspunkt für die Bestimmung der Rechtswidrigkeit des Angriffs maßgebend ist, der Standpunkt des Angreifers oder der des Angegriffenen. Richtig ist es, als ausschlaggebend die Position des zweiten anzusehen, der in seiner Rechtsstellung beeinträchtigt wird. Nicht das Verhalten des Angreifers, sondern das des Angegriffenen wird durch § 32 geregelt (Rob ν. Hippel II S. 208 Anm. 1 III. Abs.). Würde man dagegen primär auf den ersteren abstellen, d. h. auf die Frage, was der Angreifer tun darf, und nicht darauf, was der Betroffene nicht zu dulden braucht, so käme man in problematischen Fällen leicht zu dem fragwürdigen Ergebnis, das Eingriffsrecht des Handelnden zu erweitern und das Notwehrrecht des zu Verletzenden einzuschränken, so insbesondere gegenüber Diensthandlungen von Amtsträgern, d . h . im Verhältnis von § 113 und §32 S t G B 1 1 4 . Rechtswidrig ist daher der Angriff, den der Angegriffene nicht hinnehmen muß 1 1 5 , nicht dagegen schon oder nur das rechtswidrige Verhalten des Angreifers1^.

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Deshalb ist auch — zur Vermeidung der im vorhergehenden (Rdn. 40 ff) aufgezeigten Ungereimtheiten — ein Notwehrrecht gegen Tiere, und zwar nicht allein gegen die vom Eigentümer gehetzten, sondern auch gegen die von selbst angreifen112 So ausdrücklich für die zweite Alternative Binding Handb. S. 740; v. Bar Gesetz und Schuld III. Bd. (1909) S. 153; Lobe LK.5 (1933) § 53 a. F. Anm. 4 (S. 388/389) und im Ergebnis auch RGSt. 27 44, 45. 113 Binding aaO, besonders auch Anm. 31; s. auch v. Bar aaO. Binding hält solche seltenen Fallgestaltungen auch innerhalb ein und derselben Rechtsordnung für möglich, ohne indes ein Beispiel zu geben. 114 So klar Welze! S. 8 5 / 8 6 , der diese Konsequenz allerdings zu Unrecht für richtig hält. 115 Überwiegende Meinung; ζ. B. RGSt. 21 168, 171; 27 44, 45; OGHSt. 1 273, 274; Binding Handb. S. 738, 740; Oetker Über Notwehr und Notstand S. 2 3 / 2 4 ; ders. V D A II S. 264; ders. in Frank-Festg. I S. 372; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 345; Rob. ν. Hippel II S. 207 Anm. 1 ; Frank § 53 a. F. Anm. I 2 b) (S. 161); Gerland S. 147; Focke StrAbh. H. 403 (1939) S. 2 7 / 2 8 ; Niethammer m ν. Ophausens Komm. § 53 a. F. Anm. 10; Schänke StGB6 (1952) § 53 a. F. Anm. II 2; Jagusch LK8 I (1957) Anm. 2 . 0 ; Preisendanz§ 32 Anm. II 1 d) (S. 178); Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl. 2. HBd. (1960), S. 1450 (§ 240 II 2); im Ergebnis auch Jescheck AT S. 273 (§ 32 II 1 c); Bockelmann AT S. 93 (§ 15 Β I 1 d). Kritisch zu der h. M. Felber S. 38 ff, ohne selbst eine bessere Lösung zu geben. 116 So jedoch die Mindermeinung: ζ. B. v. Liszt-Schmidt AT S. 195 Anm. 5; Welzel S. 8 5 / 8 6 ; Maurach-Zipf AT S. 378 (§ 26 II A 4); Otto GrK Str. (1976), S. 120/121 ; Wessels AT S. 76 (§ 8 V 1); Dreher-Tröndle Rdn. 11 ; Lackner Anm. 2.d); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 19 f. (26)

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den, ob sie nun im fremden Eigentum stehen oder herrenlos sind, anzuerkennen (s. Rdn. 38 ff)· Allerdings ist ein Tierangriff nicht etwa aus dem Grunde schon „stets unbefugt", weil die Rechtsordnung nur Menschen Befugnisse zuspräche und weil insofern alles, was nicht die Ebene rechtlicher Wertung erreicht, im weitesten Sinne auch nicht dem Recht gemäß sein könnte. Denn wenn sich ein tatsächlicher Vorgang nicht positiv bewerten läßt, muß er darum noch nicht stets negativ gewertet werden; er ist dann vielmehr wertneutral. Aber für den durch ein Tier angegriffenen Menschen ist dieser Angriff eben nicht rechtlich indifferent; denn dessen Duldung ist für den Bedrohten nicht geboten, mag er auch für das Tier nicht verboten sein und nicht verboten werden können. Daher muß umgekehrt der Hausierer, der an der Gartenpforte eine Frau belästigt und tätlich angreift, es sich gefallen lassen, daß ihn der kluge und aufmerksame Nachbarshund anspringt und vertreibt, wie ein „Nothelfer" also der Angegriffenen „beispringt"; der Angreifer hat hier alle Rechtseinbußen zu dulden, die der Abwehr seines rechtswidrigen Vorgehens gegen die Hausbesitzerin d i e n e n 1 1 8 , selbst wenn sie das Tier nicht zu Hilfe gerufen hat. Wer dennoch meint, bei der Notwehr primär oder allein das Verhalten des 59 Angreifers rechtlich qualifizieren zu müssen, um dann erst die drohende oder bewirkte Verhaltensfolge für den Angegriffenen bewerten zu können H 9 , sollte zugunsten des Verteidigers bei 7ïerangriffen § 32 StGB wenigstens entsprechend anwenden I 2 0 . bb) Bestimmung nach objektivem Maßstab: Die Rechtswidrigkeit des Angriffs, 60 also das, was der Angegriffene nicht zu dulden braucht, ist rein objektiv zu bestimmen 121. Damit sind einige negative Abgrenzungen zu treffen. Einerseits genügt nicht, daß ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt, mag er 61 auch im Falle vorsätzlicher Schädigung schadensersatzpflichtig machen (§ 826 BGB) '22 Wenn eine Frau der anderen den Verlobten abspenstig macht, so ist dies u. U. ein sittenwidriger, aber kein notwehrfähiger rechtswidriger Angriff auf das Verlöbnis, der die Verlobte zur Notwehr berechtigen würde (RGSt. 48 215, 216). Daß das Verhalten der Rivalin jedoch dazu werden kann, wenn sie sich unlauterer,

117 So jedoch in der Tat Rob. ν. Hippel II S. 208 Anm. 1 III. Abs.; demgegenüber weisen v. Liszt-Schmidt AT S. 195 Anm. 5 a. A. mit Recht darauf hin, daß damit das tierische Verhalten rechtlich gewertet würde. 118 Vgl. auch Oetker Über Notwehr und Notstand S. 33, der darauf hinweist, daß hier eine Tierhalterhaftung des Hundebesitzers (§ 833 BGB) entfalle. 119 So jedoch ausdrücklich schon v. Liszt-Schmidt AT S. 195 Anm. 5). 120 So Lobe LK5 (1933) § 5 3 a. F. Anm. 2.b) (S. 386 unt.); Ν agier LK6 (1944) Anm. II.2 (S. 419); Jagusch LK.8 I (1957) (S. 401 : anscheinend für unmittelbare Anwendung); anders jedoch Baldus LK.9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 4. 121 So dezidiert schon früher, allerdings von z/viTrechtlicher Seite, Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. 2.a) γ)αα) (S. 790); im Sfra/recht, ohne den Grundsatz immer streng einzuhalten, s. ζ. B. Rob. ν. Hippel il S. 207 i. V. m. S. 185; Allfeld S. 124/125; Mezger Lehrb. S. 234; Jescheck A T S. 273 (§ 32 II 1 c). 122 Ebenso Rob. ν. Hippel II S. 208; v. Liszt-Schmidt AT S. 197; Mezger Lehrb. S. 235 Anm. 10) a. E.; Oertmann Sittenwidrige Handlungen D J Z 1903 (325) 327 r. Sp., 328 I. Sp.; ders. BGB, AT, 3. Aufl. (1927), § 226 Anm. 6; Planck-Knoke BGB, 4. Aufl., I. Bd. (1913) § 226 Anm. 5 ; s. auch BayObLG J W 1932 3775 mit Anm. Dahm („kulturwidriges, gesellschaftswidriges, unmoralisches Verhalten" bilde keinen — sc. rechtswidrigen — Angriff i. S. d. Notwehr). Anders ζ. B. v. Tuhr Der Allgem. Teil des Deutsch. Bürgerl. Rechts, Bd. II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 583 Anm. 17. (27)

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2. Abschnitt. Die Tat

„unerlaubter Mittel" bedient — man denke ζ. B. an die wahrheitswidrige Behauptung einer Erbkrankheit der Braut —, hat schon das RG (aaO. S. 216 unt./217 ob.) hervorgehoben. 62 Andererseits ist nicht erforderlich, daß der Angriff objektiv- tatbestandsmäßig oder vorsätzlich bzw. fahrlässig oder schuldhaft (s. bereits Rdn. 26) oder überhaupt strafbar begangen wird. Stundenlanges und besonders lautes Klavierspiel in einer Villa mit zwei Mietparteien geht „erheblich über die Grenzen des Erlaubten" hinaus (vgl. OLG Hamm JMB1NRW 1952 242, 243 1. Sp.) und ist als ein u. U. nach § 32 abwehrfähiger rechtswidriger Eingriff in die Ruhe des einzelnen Hausbewohners anzusehen, obwohl er — mangels Störung der Allgemeinheit oder der Nachbarschaft — nicht den objektiven Tatbestand des früheren § 360 I Nr. 11 StGB („ruhestörender Lärm") und wohl auch noch nicht den des heutigen § 117 OWiG („unzulässiger Lärm") erfüllt. Wer irrtümlich einen ihm nicht gehörenden Acker umpflügt, verletzt zwar nicht vorsätzlich, aber rechtswidrig fremdes Eigentum und kann daran nach § 32 StGB gehindert werden. Der Schiffbrüchige, der in seiner Todesangst einem anderen den Rettungsgürtel wegreißt, begeht zwar keinen schuldhaften, weil wegen Notstandes nach § 35 StGB entschuldigten, wohl aber einen tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und vorsätzlichen Tötungsversuch und damit rechtswidrigen Angriff auf das Leben des Leidensgenossen, dessen sich dieser nach § 32 erwehren darf. Schließlich kann schon gar nicht mangelnde Strafbarkeit (ζ. B. des Abgeordneten wegen Indemnität — eines persönlichen Strafausschlußgrundes — für seine parlamentarischen Äußerungen) oder fehlende Strafverfolgbarkeit (ζ. Β. des ausländischen Diplomaten wegen Exterritorialität oder des Parlamentariers wegen Immunität — eines Verfahrenshindernisses — ) das Notwehrrecht ausschließen 123 . 63

Gegenüber der rein objektiven Bestimmung der Rechtswidrigkeit des Angriffs wird zwar gelegentlich entweder aus allgemeinen Gründen einer subjektivistischen Unrechtslehre 124 oder aus dem besonderen Grund einer Notwehrbegrenzung eine Schuld des Angreifers verlangt 125 , eine Auffassung, die jedoch zu einer weitgehenden Schutz- und Rechtlosigkeit bei Angriffen volltrunkener oder geisteskranker Personen führt. Gegen die neuerdings angestellte Erwägung, der Rauschtäter verwirkliche meist schuldhaft das Delikt des Vollrausches, greife also in der Regel einen anderen schuldhaft an (Fr.-W. Krause H. J. Bruns-Festschr. S. 71, 84), spricht, daß der Angriff des Betrunkenen ja nicht im schuldhaften Sich-Berauschen, sondern in der gerade schuldlosen Rauschtat liegt; gegen die vorgeschlagene Anwendung des Notstands- statt des Notwehrrechts in Fällen unverschuldeter Angriffe ist einzuwenden, daß die Regelung des § 34 StGB ζ. B. dort versagt, wo ein geringerwertiges Gut (Leib) des Angegriffenen einem höherwertigen Gut (Leben) des Angreifers gegenübersteht, wo etwa ein betrunkener Ehemann seine Frau schwer mißhandelt und diese sich nur durch Tötung des ihr an Körperkräften weit überlegenen Wüterichs erwehren kann.

123 Schwartz Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (1914) § 53 a. F. Anm. 2.d) III. Abs. (S. 168) mit interessantem praktischem Fall; Allfeld S. 124 Anm. 17); Rob. ν. Hippel II S. 207; Lackner § 36 Anm. 3 und 4. 124 So ζ. B. Hold v. Ferneck Die Rechtswidrigkeit II. Bd. 1. Abt. (1905) S. 122, 128. 125 Kohler Lehrb. des Bürgerl. Rechts, I. HBd. (1904) S. 208; Graf zu Dohna ZStrW 33 (1912) 126; Beling Grundzüge des Strafrechts, 11. Aufl. (1930) S. 16; Ηe Ilm. Mayer AT S. 204; Fr.-W. Krause H.-J. Bruns-Festschr. S. 83 ff; Samson SK I Rdn. 14, 15 und 21; s. auch Schmidhäuser AT S. 341 (9/86). (28)

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Abzulehnen ist aber auch die herrschende Meinung, die trotz Anerkennung 64 einer objektivistischen Unrechtslehre dem Worte nach subjektive Momente zur Bestimmung der Rechtswidrigkeit bzw. Rechtmäßigkeit der Amtsausübung (Diensthandlung) heranzieht und damit in der Sache doch Schuldgesichtspunkte entscheidend sein läßt 126 . Besonders deutlich wird dieser verfehlte Standpunkt z. B. wieder in BGHSt. 24 125, 130: „Hinzu kommt, daß die Polizeibeamten in gutem Glauben gehandelt, nämlich irrig die tatsächlichen Voraussetzungen angenommen haben, unter denen der Beschuldigte zur Duldung der Blutentnahme gezwungen werden durfte, ihr Vorgehen also"(\l) „rechtmäßig im Sinne des § 113 StGB war" (Hervorh. vom zitier. Verf.). Für den Fall, daß dem Amtsträger ein Ermessen eingeräumt ist, soll bereits die irrige subjektive Annahme tatsächlich nicht zutreffender Umstände, der falsche gute Glaube an die Sachgemäßheit des Eingriffs für die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung genügen, soweit nur im übrigen die (sachliche und örtliche) Zuständigkeit des Beamten, eine (etwa vorgeschriebene) Förmlichkeit seines Einschreitens und die (subjektive) Pflichtmäßigkeit seiner Prüfung der ihm vorliegenden Tatsachen gegeben sind 1 2 7 ; „ . . . auf die sachliche Rechtmäßigkeit der Vollziehungshandlung. .. kommt es dann nicht mehr an" (BGHSt. 4 161, 164)128. „Nur ein schuldhafter Irrtum über die Erforderlichkeit der Amtsausübung", genauer: ein unentschuldbarer Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen des Eingriffs, „Willkür oder Amtsmißbrauch" sollen die Diensthandlung „rechtswidrig machen" (BGHSt. 21 334/335, 363), während der rechtliche Irrtum des Amtsträgers, d. h. sein guter Glaube an die Rechtmäßigkeit seines Vorgehens nichts an deren Rechtswidrigkeit ändere l 2 9 . Begründet wird diese Meinung u. a. mit dem Satz Walter Jellineks (Verwaltungsrecht, 3. Aufl. [1931 mit Nachtr. 1950, Neudr. 1966] S. 373), „daß der Staat das große Vorrecht hat, sich irren zu dürfen", also mit einem „ .Irrtumsprivileg' des Staates" 13 °, ohne daß eine gesetzliche Grundlage für eine solche ausgedehnte Eingriffsbefugnis der staatlichen Organe angegeben würde. Aber auch hier gilt wie sonst das Wort: „Der größte Feind des Rechtes ist das Vorrecht" (M. v. Ebner-Eschenbach).

126 Auch v. Liszt-Schmidt BT S. 791 Anm. 7 bezeichnen bereits die h. L. als unhaltbar, „weil die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung und demgemäß die Rechtswidrigkeit des Widerstandleistenden von einem ganz vagen subjektiven Moment, der bona fides des Beamten, abhängig gemacht wird." Das subjektive Moment in diesem Rechtswidrigkeitsbegriff betonen ferner, allerdings ohne Kritik, Kohlrausch-Lange § 113 Anm. III.2 und 3 (S. 328). 127 Zur Rechtsprechung:RGSt. 24 217, 219; 35 210, 214/215; 38 218; 373, 375; 44 353; 61 297, 299; 67 337, 340; 351, 354/355; 72 305, 311; BGHSt. 4 161, 164; 21 334, 363; 24 125, 130 mit Anm. Wedemeyer NJW 1971 1902; BayObLG NJW 1965 1088; OLG Bremen NJW 1977 158 mit krit. Anm. Thomas NJW 1977 1072. Aus der Rechtslehre z. B. Lackner § 113 Anm. 6.a) aa): Es genüge „das verantwortungsbewußte Bemühen um Wahrung des Beurteilungs- oder Ermessensspielraums". 128 Zur RGRspr.: die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung könnte bei pflichtmäßiger Amtsausübung „trotz etwaiger materieller Unrichtigkeit" vorliegen (RGSt. 26 22, 26), würde nicht davon berührt, ob die subjektiv angenommenen Tatsachen auch objektiv vorgelegen hätten (RGSt. 38 373, 375) oder ob die Amtshandlung „sachlich falsch" gewesen wäre (RGSt. 61 297, 299). 129 Vgl. z. B. RGSt. 30 348, 350; 44 353, 354; BGHSt. 24 125, 132; OLG Hamm NJW 1951 771; BayObLG NJW 1965 1088; KG GA 1975 213. 130 Sch.-Schröder-LencknerlO (1980) Rdn. 86 vor § 32 in Anlehnung an Waller Jellinek (etwas and. dies.21); ebenso z. B. H. Arndt Grundriß des Wehrstrafrechts, 2. Aufl. (1966) S. 114. (29)

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Der sog. strafrechtliche (ζ. T. subjektivierte) Rechtswidrigkeitsbegriff zu § 113 StGB hat das befremdliche Ergebnis, daß dem (nach der äußeren Sachlage rechtswidrig) angegriffenen Bürger das Notwehrrecht gegen den (nur nach seiner inneren Vorstellung rechtmäßig) eingreifenden Beamten versagt wird 1 3 1 , obwohl anerkanntermaßen der Private auch Unrecht der öffentlichen Hand nicht zu dulden braucht 1 3 2 . Dieser schwere Bruch im Verbrechenssystem und Notwehrrecht wird besonders deutlich im Fall der vermeintlichen oder Putativnotwehr des Amtsträgers, d. h. seines Irrtums über die tatsächlichen Notwehrvoraussetzungen. So hat RGSt. 67 337, 340 bei der irrtümlichen Annahme eines Angriffs die seltsame Auffassung vertreten, „daß die als" (sc. vermeintliche!) „Notwehr unternommenen dienstlichen Handlungen eines Forstbeamten" — hier: der Schuß auf einen fliehenden Wilderer 133 — „selbst dann eine recht mäßige Amtsausübung darstellen, wenn der Beamte irrig, aber in entschuldbarem Irrtum über die tatsächlichen Verhältnisse, nach pflichtmäßiger Prüfung der Sachlage annimmt, er befinde sich in einer Notwehrlage." Die Flucht und damit der Nichtangriff eines Wilddiebs sind angeblich „nicht geeignet", einer vermeintlichen, in Wirklichkeit aber nicht erforderlichen Verteidigungshandlung des Forstbeamten „die Eigenschaft der rechtmäßigen Amtsausübung zu nehmen, falls der Beamte einen Angriff des Wilderers" (sc. wenngleich zu Unrecht!) „erwartete und erwarten konnte" 1 3 4 . Entsprechendes ist für den entschuldbaren Irrtum des Amtsträgers über die Verteidigungshandlung angenommen worden. So soll nach RGSt. 44 353, 354/355 der (die Angreiferin glücklicherweise nicht treffende) Revolverschuß eines Amts- und Gemeindedieners, der als Nachtwächter und „polizeilicher Exekutivbeamter" eine Tanzveranstaltung zu beaufsichtigen hatte und dabei nachts vor dem Gasthof von einer Frau durch Schläge ins Gesicht angegriffen wurde, wegen „pflichtmäßiger Erwägung" rechtmäßig und kein rechtswidriger Körperverletzungsversuch und kein unerlaubtes Schießen i. S. d. früheren § 367 Nr. 8 StGB gewesen sein, obwohl der Schuß auf die Frau zur Abwehr objektiv nicht erforderlich war und der Beamte dies subjektiv nur irrig annahm.

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Die vermeintliche oder fWai/vnotwehr wird somit in Wahrheit nicht gleich behandelt, beim Beamten anders als beim Privaten, und zwar beim ersteren fälschlich als Recht (als „Rechtfertigungsgrund"), beim letzteren dagegen richtig als t/nrecht (als Irrtumsfall und damit im weitesten Sinne als „Schuldausschlußgrund"). Solch eine einseitige und ungleiche Anwendung des Notwehrrechts ist unhaltbar, ja unerträglich. Wenn im Falle von RGSt. 67 337 der Wilderer vor dem ihn verfolgenden Förster floh und diesen nicht ζ. B. durch Anlegen des Gewehrs

131 Niethammer in v. Olshausens Komm. § 113 Anm. 5 vor a) fordert ganz offen, daß die Rechtswidrigkeit der Amtsausübung eines Amtsträgers „nach anderen Grundsätzen" (!?) „beurteilt werden muß" als bei der Notwehrhandlung des Privaten! Vgl. demgegenüber zutreffend Ostendorf JZ 1981 165, 169 r. Sp. 132 So bereits nachdrücklich Binding Handb. S. 740 und heute BGHSt. 4 161, 163: nicht jede A m t s a u s ü b u n g . . . ist schon ihrer Eigenschaft als Amtshandlung wegen stets rechtmäßig, wie es früheren polizeistaatlichen Grundsätzen entspricht." 133 Nach dem damaligen Recht war den preußischen Forst- und Jagdbeamten der Schußwaffengebrauch nur zur Abwehr von Angriffen oder Widersetzlichkeiten des Wilddiebs, nicht aber, zwecks Festnahme, gegen den „schon auf der Flucht begriffenen Frevler" erlaubt, s. RGSt. 67 337/338. 134 Hervorheb. vom zitier. Verf. Kritisch zu dieser Entscheidung auch Baldus LK9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 6. (30)

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,35

oder durch Schüsse angriff , durfte der Jagdbeamte ebensowenig Notwehr üben und auf den Davonlaufenden feuern, wie ein Privater auf einen flüchtenden und nicht mehr angreifenden Verbrecher schießen darf '36. Der Förster hat sich also nicht in rechtmäßiger Amtsausübung befunden und rechtmäßig verteidigt, sondern seinerseits rechtswidrig angegriffen. Der Sohn des fliehenden Wilddiebs, der sich seinem Verfolger bereits gestellt und ergeben hatte, war daher befugt, zugunsten seines Vaters Nothilfe zu üben und dem Beamten den auf den Flüchtenden gerichteten Gewehrlauf herunterzuschlagen, so daß der Schuß in den Waldboden gingl 3 7 . Die irrige Annahme des Försters, von dem Davonlaufenden drohe ein Angriff aus dem Waldesdickicht, konnte nur seinen deliktischen Vorsatz bzw. seine Schuld hinsichtlich seines rechtswidrigen Körperverletzungs- oder Tötungsversuchs ausschließen. Die herrschende Meinung ist selbst nicht konsequent, da sie den trotz pflichtmä- 67 ßiger Prüfung unterlaufenen Irrtum des Amtsträgers nicht gleich behandelt, d. h. den rechtlichen Irrtum anders als den tatsächlichen (s. Rdn. 64 und Anm. 129). Ein durchschlagender Grund für solch eine unterschiedliche Behandlung besteht jedoch nicht 1 3 8 . Ob der einfache Polizeibeamte, der im Krankenhaus zwecks Blutentnahme bei dem einer Trunkenheitsfahrt Verdächtigen nach einem Arzt gefragt hat, den noch nicht bestallten (früher: „approbierten") Mediziner tatsächlich dafür hält, weil dieser auf die Nachfrage hin erschienen ist oder sich als „ D r . . . . " vorgestellt hat 1 3 9 , oder ob er den Medizinalassistenten, der sich als solcher zu erkennen gegeben hat, rechtlich ebenfalls als „Arzt" ansieht, weil er als Polizist eine falsche Rechtsvorstellung von diesem Begriff des § 81 a StPO hat 1 4 0 , macht keinen wesentlichen Unterschied. Aus der gebotenen Gleichbehandlung beider Irrtumsfälle ist nun aber nicht zu folgern, daß wie die tatsächliche so auch die rechtliche Falschbeurteilung durch den Beamten die Rechtmäßigkeit seiner Diensthandlung unberührt läßtl41, sondern gerade umgekehrt zu schließen, daß der gute (aber eben falsche)

135 Wie in dem Fall des Polizisten, der einen fliehenden und wiederholt schießenden Verbrecher verfolgt, RGSt. 61 216, worauf sich RGSt. 67 337, 340 ob. zu Unrecht beruft. 136 Nach der viel zu weitgehenden Auslegung des RG begründete bereits die Flucht des mit einem Gewehr bewaffneten Wilddiebs „in der Richtung auf ein Dickicht" nicht nur subjektiv, nach der Vorstellung des Beamten, sondern objektiv, nach Lage des Falles, für den Förster die „Gefahr", von dem Geflohenen „beschossen zu werden, sobald dieser das Dikkicht und dadurch eine Deckung erreicht hätte" (RG aaO S. 340), und war daher „ein Verhalten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzungshandlung umschlagen kann und dadurch den Eintritt einer unmittelbaren Rechtsverletzung androht" (RG aaO S. 339 unt.). Zu weitgehend schon Rob ν. Hippel JW 1924 1931 r. Sp. 137 Anders die im wahrsten Sinne des Wortes „verkehrte" Entscheidung RGSt. 67 340 unt./341, die die richtige Reaktion des Sohnes „nicht als eine Notwehrhandlung", sondern als einen rechtswidrigen „gewaltsamen Widerstand" gegenüber „dem in rechtmäßiger Amtsausübung begriffenen Forstbeamten" angesehen hat. 138 Insofern zutreffend v. Bubnoff LK § 113 Rdn. 34, der daraus aber nicht die richtige Folgerung zieht; Thiele Zum Rechtmäßigkeitsbegriff bei § 113 Abs. 3 StGB, JR 1975 353. 139 In diesem Falle angeblich rechtmäßige Diensthandlung, s. BGHSt. 24 125, 130 mit Anm. Wedemeyer NJW 1971 1902; OLG Hamm VRS 26 (1964) 435/436; BayObLG NJW 1965 1088, 1089 1. Sp. 140 In diesem zweiten Fall auch nach der Rechtsprechung rechts widrige Amtsausübung, OLG Hamm VRS 26 (1964) 436; BayObLG NJW 1965 1089 1. Sp. 141 So jedoch eine Mindermeinung: v. Bubnoff LK § 113 Rdn. 34 und schon Niethammer in v. Olshausens Komm. § 113 Anm. 5.c); Stratenwerth Verantwortung und Gehorsam (1958) S. 190. (31)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Glaube an die tatsächlichen Voraussetzungen der Maßnahme ebensowenig wie der an die rechtlichen etwas an der Rechtswidrigkeit der Amtsausübung zu ändern vermag. In beiden Sachlagen braucht also der Verdächtige sich die zwangsweise Blutentnahme nicht gefallen zu lassen und darf gegen den rechtswidrigen Eingriff und Angriff des Polizisten Notwehr üben ' 4 2 . 68

Die herrschende Lehre zur Strafrechtswidrigkeit von Amtshandlungen, teils noch einem obrigkeitsstaatlichen Denken verhaftet 143 , teils in einer unklaren Unrechts- und Deliktsauffassung verfangen 144 , ist somit verfehlt 145 . Die „vom öffentlichen Recht nicht gedeckte Subjektivierung der Eingriffsvoraussetzungen" (,Schiinemann JA 1972 [StR 200] 708) und damit auch der Notwehrbedingungen, soweit sie das Vorgehen eines Amtsträgers betreffen, ist „in einem Rechtsstaat unerträglich" (Heinz Wagner JuS 1975 226 1. Sp.); sie bedeutet eine unangebrachte Einschränkung des § 32 StGB für den Bürger, eine unbegründete Erweiterung für den Beamten. Nur die objektive Sach- und Rechtslage, nicht die subjektive Vorstellung des Hoheitsträgers kann und darf für die Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit der Amtsausübung ausschlaggebend sein 1 4 6 . Ist ζ. B. der Grenzbewohner berechtigt, aus seinem im Ausland gelegenen Waldgrundstück ohne Zollabgabe Holz für seine private Wirtschaft einzuführen, so sind die Versagung der zollfreien Einfuhr und der Versuch, das Passieren mit der Ladung zu verhindern, eine rechtswidrige Diensthandlung (RGSt. 26 22, 25/26), allerdings nicht deshalb, wie das RG gemeint hat, weil sich der Zollbeamte „nicht pflichtgemäß" Kenntnis von dem Inhalt der

142 Ebenso Schellhammer Blutentnahme durch Medizinalassistenten, NJW 1972 319; Schiinemann JA 1972 (StR 169, 219) 775. 143 Vgl. noch neuerdings BGHSt. 24 125, 132: dem Rechtswidrigkeitsbegriff in § 113 StGB liegt angeblich die Erwägung zugrunde, „daß es einem Ordnungsbedürfnis entspricht, síaaíliches Vorgehen auch dann gutzuheißen, wenn es zwar die Rechte des Bürgers im Einzelfall unzulässig beschränkt" (deutlicher: rechtswidrig verletzt!), „der Irrtum aber tatsächlicher Art ist und nicht auf Verschulden beruht" (Hervorheb. vom zitier. Verf.). 144 Auch Schünemann JA 1972 (StR 200) 708 und (198) 706 findet „den staatstheoretischen Hintergrund der h. M." bestürzend und bemerkt zutreffend, daß „der strafrechtliche RechtmäßigkeitsbegrifP bei § 113 StGB zu Ergebnissen führt, die zu den allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen des Strafrechts in krassem Widerspruch stehen". Treffend auch Ostendorf JZ 1981 165, 169 r. Sp. 145 Kritisch zur h. L. und zum Problem „Der Begriff der Rechtmäßigkeit einer Vollstrekkungshandlung i. S. des § 113 Abs. 3 StGB" Wolfgang Meyer NJW 1972 1845 und NJW 1973 1074; Günther NJW 1973 309; Thiele JR 1975 353; Heinz Wagner Die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung JuS 1975 224, 225 r. Sp. Gegen den strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff auch Ostendorf JZ 1981 165, 171 ff, 195. Vorsichtige, aber nicht konsequente Kritik auch bei Sch.-Schröder-Eser § 113 Rdn. 22 ff, 27. 146 Ebenso Schellhammer N J W 1972 319; Rostek NJW 1972 1335 r. Sp. (Anm. zu K G NJW 1972 781); Schünemann JA 1972 (StR 200) 708; Heinz Wagner JuS 1975 226 1. Sp., 227 1. Sp.; Thiele JR 1975 357; schon früher John in v. Holtzendorffs Handbuch des deutschen Strafrechts III. Bd. (1874) S. 118/119; Rosenfelder S. 59; James Goldschmidt Otto GierkeFestg. III. Bd. (1910) S. 109, 125 ff (ohne zu einem zutreffenden Ergebnis zu gelangen); ders. Der Prozeß als Rechtslage (1925) S. 288 ff, 294, 297 Anm. 1543; Schwartz Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (1914) § 113 Anm. 3.h) a. E. (S. 302); v. Liszt-Schmidt BT S. 791 ; s. auch Frank § 113 Anm. IV 1 (S. 291). (32)

Notwehr (Spendei)

§32

einschlägigen Zollvorschriften verschafft hat (RG aaO S. 26 1 4 7 ), sondern ganz einfach deswegen, weil er sie objektiv verletzt hat. Der Betroffene hatte sich also mit Recht nach § 53 a. F. = 32 StGB zur Wehr gesetzt. Pfändet der Gerichtsvollzieher unpfändbare Gegenstände oder durchsucht er statt der Wohnung des Vollstrekkungsschuldners die eines unbeteiligten Dritten, so bleibt dieser Ein- und Übergriff trotz der pflichtmäßigen Prüfung und dem guten Glauben des Beamten ein rechtswidriger Angriff auf Eigentum und Hausfrieden ; auch hiergegen ist Notwehr des betroffenen Privaten zulässig I 4 8 . Das Abstellen auf die objektive Sach- und Rechtslage, d. h. auf die Gesetzlich- 69 keit der Maßnahme bedeutet allerdings nicht immer schon die „inhaltliche Richtigkeit" der Entscheidung und des Einschreitens. Dort, wo gerade die Möglichkeit und nicht die Wirklichkeit eines zu beurteilenden Sachverhalts Grundlage, die Unsicherheit und nicht die Gewißheit des Urteils für die Entschließung typisch sind, infolgedessen die Vorläufigkeit und nicht die Endgültigkeit der Rechtsfolge Kennzeichen des Eingriffs ist wie bei den auf Verdacht gegründeten Festnahmen und Verhaftungen, bei den auf Gefahrenlagen gestützten Polizeimaßregeln oder bei den auf vorläufige Vollstreckbarkeit lautenden Gerichtsentscheidungen, da genügen eben die vom Gesetz verlangten äußeren Anzeichen. Auch hier ist für die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung maßgeblich, daß aus den objektiv vorliegenden und erkennbaren Tatsachen die objektiv richtigen Schlüsse gezogen werden, und unerheblich, wie der Amtsträger sie innerlich beurteilt, ob er sie irrtümlich für richtig oder zutreffend für falsch hält (v. Liszt-Schmidt BT S. 791; Schünemann JA 1972 [StR 201] 709149). Sprechen z. B. alle bisher bekannt gewordenen Indizien gegen einen erpreßten 70 Ehemann oder gesteht er sogar den ihm zur Last gelegten Mord an seinem Erpresser, so ist seine Festnahme durch den Polizeibeamten oder seine Verhaftung durch den Richter nach der StPO rechtmäßig, selbst wenn der Haftbefehl „inhaltlich unrichtig" ist und der Kriminalkommissar mit Recht den Mann für unschuldig und die unverdächtige Ehefrau für die Mörderin hält, da ihm sein kriminalistischer Spürsinn sagt, daß der Tatverdächtige und Beschuldigte mit seinem (falschen) Geständnis nur die wirkliche Täterin in Schutz nehmen will. Der Kommissar darf gegen sie ermitteln, sie aber mangels Beweismaterials nicht festnehmen. Es kommt also immer darauf an, ob die zur Zeit des Eingriffs objektiv vorliegenden Umstände den (vielleicht sich später als falsch erweisenden) Verdacht der Täterschaft oder eine Verdunkelungsgefahr begründen, nicht dagegen, wie RGSt. 38 373 meint, ob der festnehmende Polizeibeamte nach pflichtmäßiger Prüfung den Festgenommenen, womöglich irrig, subjektiv für verdächtig hält oder eine Beseitigung der Tatspuren befürchtet (and. für die zweite Alternative RGSt. 38 375). Die vorläufige Festnahme eines auf frischer Tat betroffenen Unbekannten ist, 71 selbst wenn er seinen Namen und seine Wohnung richtig angegeben hat, rechtmä147 Daß die Voraussetzungen der Zollfreiheit „offensichtlich vorlagen" (RGSt. 26 26), ist nicht recht überzeugend, wenn man die reichsgerichtlichen Ausführungen, ob eine Zolldefraudation in Betracht gekommen sei, und zu der abweichenden Ansicht des Provinzialsteuerdirektors liest (RGSt. 26 23 f)· 148 Ebenso für den ersten Fall Binding Handb. S. 743 ob., anders jedoch RGSt. 19 164 und für den zweiten RGSt. 61 297, 299. 149 Schünemanns Kritik aaO (StR 201) 709 unter Nr. 5.a) an v. Liszt-Schmidt ist unbegründet, da diese Autoren die von ihm kritisierte These gar nicht aufstellen. (33)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

ßig und von ihm zu dulden, soweit er seine Angaben nicht nachweisen kann, so daß seine Identität nicht sicher feststellbar ist (ebenso im Ergebnis RGSt. 27 198); ob der Gendarm dem Täter glaubte oder nicht, ist dagegen belanglos (and. RGSt. 27 199/200). Die Verbringung zur Polizeidirektion oder zur nächsten Wache ist jedoch eine rechtswidrige Amtsausübung, wenn der Schutzmann es von vornherein ablehnt, die zur Legitimation angebotenen Papiere auf der Straße zu prüfen (RGSt. 27 153, 156/157), oder wenn der Polizeibeamte nur Zweifel an den Berufsangaben des Betroffenen hegt, obwohl sich dieser im übrigen ausgewiesen hat (BayObLG MDR 1964 617); in beiden Fällen darf sich darum der Private nach § 32 StGB zur Wehr setzen. Nach OLG Hamm NJW 1978 231 ist die Festnahme auch dann rechtswidrig, wenn die Personalien des Verdächtigen auf andere Weise als durch die freiheitsberaubende Maßnahme leicht erlangt werden können. 72

Die hier vertretene objektive Bestimmung der Rechtswidrigkeit und Notwehrfähigkeit einer Diensthandlung muß nicht die Entschlußkraft des Amtsträgers zum Handeln lähmen, wie man gemeinhin befürchtet (so noch BGHSt. 21 334/335, 365 und schon RGSt. 2 411, 414, 416), sondern kann sein Verantwortungsgefühl für korrektes und nicht voreiliges Eingreifen stärken. Es sollte nicht immer nur vom Schutz des Beamten vor renitenten Privaten geredet, vielmehr auch an den Schutz des Bürgers vor der fehlgreifenden „öffentlichen Hand" gedacht werden. Man lese nur den skandalösen Fall in RGSt. 28 1, in dem nicht etwa der in übelster Weise rechtswidrig vorgehende Zollbeamte, sondern die eindeutig in einer Notwehrlage befindliche Frau angeklagt worden war und erst vom RG freigesprochen wurde, wobei noch nicht einmal das Vorliegen der Notwehr ausdrücklich anerkannt und nur die Frage „putativer Notwehr"(!?) kurz gestreift wurde (RGSt. 28 5 ob.) 150 . Außer diesen Fällen anerkannter rechtswidriger Eingriffe von Amtsträgern in RGSt. 26 22; 27 153; 28 1 s. ζ. B. noch RGSt. 6 432/433 (Einsperrung einer Arbeitsverweigerin in eiskaltes Spritzenhaus) und, unrichtig entschieden, RGSt. 44 353; 67 337 und 72 305 (Waffengebrauch ohne Rechtsgrund oder aus geringfügigem Anlaß); BGHSt. 24 127 (Erzwingung der Blutprobe durch Nichtarzt). 73 Mit dem objektiven Standpunkt zum Unrechtsbegriff bei hoheitlichem Handeln wird nicht etwa die Staatsautorität untergraben, sondern gerade der Rechtsstaatsidee entsprochen. Auch das Strafrecht hat die vollstreckungsregelnden Vorschriften des Verwaltungsrechts zu beachten (dazu näher Thiele JR 1975 355 ff, 356 r. Sp.). Es ist jeweils noch zu prüfen, wieweit der materiell rechts widrige Hoheitsakt zunächst rechts wirksam und nur durch Rechtsbehelfe anfechtbar ist, ihm gegenüber also zunächst — ähnlich wie im Zivilrecht ζ. B. zwischen dem ohne Rechtsgrund besitzenden Mieter und dem in seinem Eigentum angegriffenen Vermieter und damit im Verhältnis von Besitzschutz- und Notwehrrecht (s. Rdn. 48 ff) — eine Duldungspflicht des Betroffenen besteht (s. auch Ostendorf JZ 1981 172, 175 r. Sp.). Aber gerade den für den Privaten besonders einschneidenden Diensthandlungen gegenüber, bei denen hoheitliches Gebot und zwangsweiser Vollzug zeitlich zusammenfallen, d. h. bei den sofortigen und unmittelbaren Eingriffen in die Rechtssphäre des Bürgers wie bei vorläufiger Festnahme, körperlicher Untersuchung und Beschlagnahme von Sachen ist das Notwehrrecht zu behaupten, soweit die Maßnahme objektiv nicht rechtmäßig ist (anders jedoch KG JR 1980 513). Darum ist ζ. B. Notwehr gegen eine Verhaftung anzuerkennen, falls der Betroffene gar nicht 150 Schünemann JA 1972 (StR 197) 705 zu b) hat mit seiner Kritik durchaus recht, daß „meist von vornherein nur der Bürger und kaum einmal der Beamte angeklagt wird". (34)

Notwehr (Spendei)

§32

die im Haftbefehl bezeichnete Person ist, mag der Kriminalbeamte noch so sehr in dem verständlichen guten Glauben handeln, in dem von ihm Verwechselten den zu Verhaftenden vor sich zu haben 1 5 1 . b) Rechtswidriger Angriff durch rechtswidrigen Befehl: Vom objektiven Stand- 74 punkt aus ist auch das mit dem vorigen eng zusammenhängende Problem zu lösen, ob und inwieweit gegenüber einem rechtswidrigen Befehl, der einen rechtswidrigen Angriff darstellt, der den Befehl befolgende Untergebene oder der durch die Befehlsausführung betroffene Dritte jeweils eine Duldungspflicht oder das Notwehrrecht hat. Diese Frage ist sehr umstritten und wird außer im militärischen Bereich beim Widerstand gegen Vollzugsbeamte akut, die nicht eigenverantwortlich, sondern auf Grund der Anordnung eines Vorgesetzten oder einer vorgesetzten Behörde dienstlich tätig werden, d. h. bei Abwehr einer von dem Bürger in Übereinstimmung mit dem objektiven Recht für rechtswidrig, von dem Beamten dagegen im Vertrauen auf die dienstliche Anweisung für rechtmäßig gehaltenen Amtsausübung. Das Problem ist im Zusammenhang mit dem Notwehrrecht zu sehen und nicht nur einseitig unter dem Gesichtspunkt der Gehorsamspflicht des Amtsträgers (Soldaten) und der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung 152 , da eine solche Einseitigkeit nur zu ungerechten und unbefriedigenden Ergebnissen führen muß. Der Interessenkonflikt erklärt sich aus dem Schutzbedürfnis der drei beteiligten 75 Personen, des verantwortungsbewußt befehlenden Vorgesetzten, der vor der Renitenz besserwisserischer Subalterner gesichert werden soll, des gutgläubig gehorchenden Untergebenen, der vor rechtswidrigen Übergriffen des Befehlsgebers wie vor ungerechtfertigtem Widerstand des Betroffenen zu bewahren ist, und nicht zuletzt des sich zu Recht wehrenden Bürgers, der vor widerrechtlichen Ein- und Angriffen des Befehlsempfängers geschützt werden muß. Damit ergeben sich im wesentlichen drei Lösungsmöglichkeiten, die alle vertreten werden: (1) Entscheidet man den Interessenkonflikt zum Nachteil des betroffenen Privaten, so ist ihm weitgehend eine Duldungspflicht gegenüber der ihn verletzenden Ausführung rechtswidriger Befehle aufzuerlegen und ein Notwehrrecht abzusprechen. (2) Löst man das Problem auf Kosten des gehorchenden Beamten, dann ist dem angegriffenen Bürger das Notwehrrecht gegen das rechtswidrig und höchstens seiner Gehorsamspflicht wegen entschuldigt handelnde Vollzugsorgan zuzubilligen. (3) Beantwortet man die Frage zu Lasten des befehlenden Vorgesetzten, so ist dem Untergebenen keine Gehorsamspflicht aufzubürden und u. U. sogar ein Notwehrrecht gegenüber rechtswidrigen Befehlen einzuräumen 153 . 151 So Binding Handb. S. 743 ob.; M. E. Mayer Widerstand gegen die Staatsgewalt VDB I (1906) S. 349, 447; anders zu Unrecht Dreher-Tröndle § 113 Rdn. 14; Sch.-Schröder-Eser § 113 Rdn. 28. 152 Bereits in RGSt. 2 411 wird nur die Frage der Befehlsverbindlichkeit und der Rechtmäßigkeit der Amtsausübung durch den untergebenen Beamten, nicht aber der Notwehrbefugnis des zu Unrecht angegriffenen Bürgers näher erörtert. 153 Daß grundsätzlich auch dem Untergebenen ein Notwehrrecht gegen rechtswidrige Angriffe des Vorgesetzten zusteht, erkennt RGSt. 69 265, 266 an. (35)

§32

76

2. Abschnitt. Die Tat

(1) Lösung zum Nachteil des Betroffenen (Dritten): Dieser Lösungsversuch, der für den angegriffenen Privaten zum Ausschluß des Notwehrrechts führt, geht von einer verfehlten Ansicht über die Verbindlichkeit dienstlicher Weisungen aus. Der naheliegenden und allein richtigen Forderung, daß nur die recht mäßige Erteilung von Befehlen verbindlich, die rechts widrige dagegen unverbindlich ist, sucht man durch zwei gleichermaßen abzulehnende Konstruktionen, die auf dasselbe Ergebnis hinauslaufen, auszuweichen: Entweder setzt man für die Verbindlichkeit des Befehls zwar dessen Rechtmäßigkeit voraus, bestimmt diese aber — wie die Rechtmäßigkeit der Diensthandlungen nicht auftragsgemäß handelnder Beamten 1 5 4 — subjektiv, d. h. danach, ob der Vorgesetzte, bei Beachtung seiner und des Untergebenen Zuständigkeit und etwa vorgeschriebener Förmlichkeiten, nach pflichtmäßiger Prüfung seine Weisung innerlich für rechtmäßig gehalten hat 1 5 5 . Oder man macht die Verbindlichkeit der Anordnung ausdrücklich nicht von deren objektiver Rechtmäßigkeit, sondern von dem durch Über- und Unterordnung, durch Weisungsbefugnis und Gehorsamspflicht gekennzeichneten Amts- und Dienstverhältnis (Jescheck AT S. 316), kurz: von der „unentbehrlichen Amtsdisziplin" (so schon RGSt. 2 411, 416) abhängig. Bei beiden Alternativen kommt man entweder im Ergebnis oder ausdrücklich neben dem Begriff der ««verbindlichen rechtswidrige« Weisung zu der in sich widersprüchlichen Konstruktion des „bindenden rechtswidrige« Befehls". Krasses Beispiel für die erstere wäre die widerrechtliche Anordnung eines Gemeindevorstehers an seinen Gemeindediener, eine im Gemeindearmenhaus untergebrachte „Ortsarme", die eine ihr aufgetragene Arbeit (Hineinschaffen von Schulbrennholz in das Spritzenhaus) verweigerte, zwei Stunden in das kalte Gebäude einzusperren (RGSt. 6 432/433) 156 , für den letzteren die rechtswidrige Anweisung eines Amtsvorstehers an den ihm unterstehenden Gendarmen, einen Bauern, der eine Arbeit auf seinem Grundstück (Grabenräumen) weder vornehmen noch dulden wollte, festzunehmen und abzuführen (RGSt. 2 411). Im ersten Falle wurden richtig eine rechtswidrige Amtsausübung und Strafbarkeit wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung im Amt nicht nur hinsichtlich des Vorgesetzten, sondern auch des Untergebenen bejaht, da „der ihm erteilte Befehl ein ungesetzlicher" und dienstlich nicht verpflichtender gewesen sei, was der Befehlsempfänger auch erkannt habe (RGSt. 6 440), im zweiten Falle dagegen bezüglich des gehorchenden Gendarmen verneint, d. h. insoweit eine recht mäßige Amtsausübung und Straflosigkeit angenommen, da der Vollzugsbeamte nicht „den unverbindlichen 154 So Sch.-Schrôder-Lenckner20 (1980) Rdn. 89 vor §32 (S. 427): „Ebenso wie der Vorgesetzte", der die fehlenden tatsächlichen Voraussetzungen nach pflichtmäßiger Prüfung für gegeben hält, „gerechtfertigt wäre" (!?), „wenn er die tatbestandsmäßige Handlung selbst vornehmen würde, muß hier auch seine — objektiv falsche — Anordnung zur Vornahme dieser Handlung rechtmäßig sein" (den Satz weggelassen in der 22. Aufl., s. Rdn. 88). 155 So klar Kohlrausch-Lange § 113 Anm. III 3 (S. 328): Der Befehl „ist verbindlich, wenn er rechtmäßig ergangen ist. Rechtmäßig ergangen ist er", wenn er wenigstens „von dem Befehlsgeòer nach pflichtgemäßem Ermessen für objektiv geboten gehalten worden ist." Für die Rechtmäßigkeit der Befehlsausführung durch den Befehlsempfänger soll ebenfalls genügen, daß dieser pflichtgemäß darauf vertraut, BGHSt. 4 161, 162; KG NJW 1974 2142, 2143 1. Sp. 156 Weitere Fälle solcher unverbindlichen rechts widrigen Befehle schon nach dem RG: Befehl zur Geiselnahme eines Bürgermeisters und Rechtsanwalts durch Angehörige einer Arbeiterwehr (RGSt. 54 337); Befehl des Fahrdienstleiters an den Zugführer im ungesetzlichen Eisenbahnerstreik, die Lokomotive von den Waggons abzukoppeln und so die Reisenden an der Weiterfahrt zu hindern (RGSt. 56 412, 417/418). (36)

Notwehr (Spendei)

§32

Befehl einer absolut unzuständigen Behörde" ausgeführt habe und hier gehorsamspflichtig gewesen sei (RGSt. 2 416). Ein durchschlagender Grund für die unterschiedliche Beurteilung der zwei ähnlichen Sachverhalte ist jedoch (von einem anscheinend unterstellten, aber fragwürdigen und als Rechtsirrtum selbst nach der Rechtsprechung unbeachtlichen Irrtum des Landpolizisten über die Zulässigkeit der Weisung abgesehen) objektiv nicht ersichtlich. In beiden Fällen waren Anordnung wie Ausßihrung der Freiheitsberaubung eindeutig ««gesetzlich und darum unverbindlich, der Widerstand der Betroffenen daher durch Notwehr gerechtfertigt. Mit der Figur des „rechtswidrigen, aber verbindlichen Befehls" stellt man die 77 besondere beamtenrechtliche (oder soldatische) Gehorsamspflicht über die allgemeine staatsbürgerliche Rechtspflicht, widerrechtliche Handlungen zu unterlassen, weil man jene „als grundlegendes Ordnungsprinzip jeder Staatstätigkeit" {Jescheck AT S. 317) überbewertet 157 . Diese Auffassung ist schon früh, z. T. auch vom RG in seiner grundlegenden Entscheidung RGSt. 2 411, vertreten worden: Die „wirksame Aufrechterhaltung der Autorität der Staatshoheit" (RGSt. 2 415; in neuerer Zeit BGHSt. 4 161, 164: „berechtigtes... Ordnungsbedürfnis"), die Wahrung der „unentbehrlichen Amtsdisziplin" (RGSt. 2 416, 417) sollen den Untergebenen grundsätzlich zum Gehorsam verpflichten, der „unentbehrliche Schutz des Vollstreckungsbeamten" (RGSt. 2 416, 414; neuerdings BGHSt. 4 164; OLG Karlsruhe NJW 1974 2142) ihn aber auch umgekehrt zur Befolgung des Befehls berechtigen, selbst wenn dessen Erteilung im Einzelfall einmal nicht mit der wahren Rechtslage übereinstimme. Von diesem Standpunkt aus wird der Schluß gezogen: die Ausführung des 78 (objektiv) „rechts widrigen, aber verbindlichen Befehls" sei rechtmäßig, jedenfalls soweit der gehorchende Vollzugsbeamte im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit der Befehlserteilung handele 158 . Denn — so lautet die nur scheinbar begründete Überlegung — die Rechtsordnung könne nicht „den mit einem geordneten Rechtszustand ganz unvereinbaren Konflikt zulassen, daß einerseits der Untergebene auf Weisung seines Vorgesetzten gegen jemand einschreiten „müßte", andererseits „der von der Maßregel Betroffene sich widersetzen dürfte" (RGSt. 2 416 unt./417 ob.; ebenso Rob ν. Hippel II S. 264 Anm. 2 II. Abs.). Nach dem ersten Lösungsvorschlag ist also der „bindende rechtswidrige Befehl" nicht anders als der verbindliche rechtmäßige ein Rechtfertigungsgrund für die Ausfiihrung des Befehls 159 . Das Notwehrrecht entfiele danach dem gehorchenden Untergebenen gegenüber und bestünde 157 wobei die „Verbindlichkeit" des Befehls nach den gleichen Kriterien wie die „Rechtmäßigkeit" der Diensthandlung bestimmt wird ( Jescheck S. 316), was zeigt, daß in Wahrheit zwischen beiden nicht ein (teilweise behaupteter) sachlicher Unterschied besteht. 158 So eine Mindermeinung in Rechtsprechung und Lehre: BGHSt. 4 161, 162 unt.; RGSt. 2 411, 417; 58 193, 195; RG in LZ 1926 Sp.451; KG NJW 1972 781 mit ablehn. Anm. Rostek NJW 1972 1335; OLG Karlsruhe NJW 1974 2142; OLG Köln NJW 1975 889, 890 1. Sp.; Sauer Grundlagen des Strafrechts (1921) S. 322; v. Ammert Der bindende rechtswidrige Befehl, StrAbh. H.217 (1926) S. 83 ff, 117, 122; Rob. ν. Hippel II S. 263/264; Hellm. Mayer Der bindende Befehl im Strafrecht, in: Frank-Festg. (1930) I S. 598, 620; Stratenwerth Verantwortung und Gehorsam (1958) S. 181, 183; Kohlrausch-Lange § 113 Anm. III 3 a (S. 329); Baldus LK9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 8; Jescheck AT S. 317/318 (§ 35 II 3 u. 4); Wessels AT S. 99 (§ 10 VII 4); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 88a vor § 32; im Zivi/recht: Schlegelberger-Vogels-Hefermehl Erläuterungswerk zum Bürgerlichen Gesetzbuch u. zum neuen Volksrecht (1939 ff) 6. Lfg. I § 227 Rdn. 10. 159 So in neuerer Zeit vor allem Jescheck AT S. 317 (§35113); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 88a vor § 32; Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. (1975) § 2 Rdn. 18 b. (37)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

höchstens hinsichtlich des befehlenden Vorgesetzten 160a , folgerichtigerweise aber auch diesem gegenüber nicht, soweit der Befehlsgeber (innerhalb seiner Zuständigkeit und unter den vorgeschriebenen Förmlichkeiten) seine objektiv rechtswidrige Weisung nach subjektiv pflichtmäßiger Prüfung für rechtmäßig gehalten und mit der Erteilung des Befehls nach der subjektivierten Unrechtsbestimmung eine „rechtmäßige Diensthandlung" i. S. d. §113 StGB vorgenommen hätte l 6 0 b oder soweit der Befehlsempfänger und der durch die Befolgung der Anordnung in seiner Rechtssphäre Angegriffene identisch wären; denn in dem letzten Falle wäre nicht recht einzusehen, warum Gehorsamspflicht und Selbstdisziplin dann nicht dem Notwehrrecht vorgehen würden und warum der nicht gehorsamspflichtige Dritte (Private) in seiner Person mehr dulden sollte als der gehorsamspflichtige Amtsträger. 79

Der erste Lösungsversuch führt, vor allem auch in Verbindung mit der Subjektivierung des Unrechts, zu den allergrößten Ungereimtheiten: Zunächst ist er weder mit der Deliktssystematik im allgemeinen noch mit dem Notwehrrecht im besonderen vereinbar. Denn es bleibt unerfindlich, wieso ein im Ergebnis rechtswidriger Eingriff in fremde Rechte und Interessen deshalb diese seine Eigenschaft verlieren sollte, weil er von dem Vorgesetzten (Befehlsgeber) nicht unmittelbar in eigener Person, sondern mittelbar über und durch einen anderen (Befehlsempfänger) als „Werkzeug" vorgenommen wird 16 !.

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Sodann nötigt die erste Lehrmeinung zu völlig verschlungenen Gedankengängen: Aus der objektiv rechtswidrigen Befehlserteilung würde zuerst durch den guten Glauben des Vorgesetzten eine von dem Befohlenen zu befolgende und von dem Betroffenen zu duldende, also nicht notwehrfähige „rechtmäßige Diensthandlung" i. S. d. § 113 StGB (s. Rdn. 64, 78 und Anm. 160), deren Ausführung erst durch den bösen Glauben des die Rechtswidrigkeit der Weisung erkennenden Untergebenen wieder zu einer rechtswidrigen Amtsausübung würde und nicht mehr durch die Anordnung gerechtfertigt wäre 162 — eine groteske „doppelte Transformation", deren Widersinn Rostek in durchschlagender Kritik bloßgelegt hat l 6 3 . 160a Ausdrücklich im Strafrecht z. B. v. Ammon in StrAbh. H. 217 (1926) S. 120; Rob ν. Hippel II S. 263/264; ders. Lehrb. S. 125 Anm. 7; im Zivi/recht Schlegelberger-Vogels-Hefermehl Erläuterungsw. zum Bürgerl. Gesetzbuch § 227 Rdn. 10. 160b In diesem Sinne klar Kohlrausch-Lange § 113 Anm. III 3 a) (S. 328): Beruhte der objektiv rechtswidrige Befehl auf einem nicht entschuldbaren oder rechtlichen Irrtum oder einem Ermessensmißbrauch des Vorgesetzten, so wäre dessen Weisung auch nach dem hier kritisierten subjektivierten Unrechtsbegriff rechtswidrig, aber immer noch „bindend", soweit die Zuständigkeiten und Förmlichkeiten beachtet und keine groben Rechtsverstöße wie Verletzung der Menschenwürde, Begehung einer Straftat usw. befohlen worden wären. 161 So vor allem Graf zu Dohna S. 47 und jetzt Hirsch LK.9 I Rdn. 153 vor § 51 a. F. (S. 77); ebenso schon RGSt. 2 411, 415 ob. (ohne daraus für die Entscheidung die notwendige und richtige Folgerung zu ziehen); John in v. Holtzendorffs Handb. des deutschen Strafrechts III (1874) S. 119/120; M. E. Mayer Widerstand gegen die Staatsgewalt VDB I (1906) S. (349) 447; ders. Der rechtswidrige Befehl des Vorgesetzten, Laband-Festschr. (1908) S. (119) 132/133; Schwartz Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (1914) §113 Anm. 3 f.) III. Abs. (S. 301); v. Liszt-Schmidt AT S. 210 Anm. 1; Mezger Lehrb. S. 227. Dagegen ohne durchschlagende Begründung Stratenwerth Verantwortung und Gehorsam (1958) S. 6, 10. 162 So in der Tat Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. (1975) § 2 Rdn. 19 (S. 44), Rdn. 17 (S. 42/43). 163 Rostek Der unkritische Befehlsempfänger, NJW 1975 862, 863 1. Sp.; ders. Der rechtlich unverbindliche Befehl (1971) S. 70 ff., 72/73. (38)

Notwehr (Spendei)

§32

Der erste Regelungsversuch, der primär das Befehlsverhältnis des Amtsträgers 81 und nicht die Notwehrlage des angegriffenen Bürgers im Auge hat, mag einem überholten obrigkeitsstaatlichen und militärischen Denken zusagen; er ist jedoch als eine „ungerechte, unmögliche Lösung" {Sauer AStL S. 135), als eine „willkürliche Verengung des Notwehrrechts" (v. Liszt-Schmidt AT S. 210 Anm. 1) heute unhaltbar. Denn das Problem einer Verteidigung gegen Handeln auf rechtswidrigen Befehl darf nicht zum Nachteil des betroffenen Privaten, in dessen Rechte und Interessen ja schließlich zu Unrecht eingegriffen wird (Binding Lehrb. II 2 S. 772/773), gelöst werden. Wie bereits Binding zum Verhältnis von befohlenem Beamten und durch die Befehlsausführung angegriffenem Bürger richtig geurteilt hat, ist „nicht § 53" (jetzt § 32 StGB) „durch § 113, sondern umgekehrt dieser durch jenen einengend auszulegen" ' 6 4 , da es der Staatsgewalt „allein würdig sein" sollte, ÄecA/sgewalt zu sein und nur als solche Unterwerfung von dem Privaten zu fordern (Binding Handb. S. 741). Die modernen Vertreter des für den Dritten so nachteiligen Standpunkts sehen sich daher selbst gezwungen, dem durch einen rechtswidrigen Befehl Angegriffenen statt des fälschlich versagten Notwehrrechts wenigstens „in engen Grenzen ein Notstandsrecht" zuzubilligen (Jescheck AT S. 318 [§ 35 II 3 a. E.]; Sch.-Schröder-Lenckner^ (1980) Rdn. 87, s. auch dies.21 (1982) Rdn. 89a vor § 32), um so die schlimmsten Auswirkungen ihrer Theorie zu vermeiden. (2) Lösung auf Kosten des Befohlenen (Untergebenen): Nach dem zweiten 82 Lösungsversuch ist zwar an der Konstruktion eines „verbindlichen rechtswidrigen Befehls" festzuhalten, zugleich aber auch „der an sich völlig richtige Satz" (sie!) anzuerkennen, „der Befehl könne die unrechtmäßige Handlung nicht zu einer rechtmäßigen machen, und die Handlung, welche von dem Vorgesetzten selbst nicht habe vollstreckt werden dürfen, könne durch Auftrag an den Untergebenen nicht zu einer rechtmäßigen werden" (RGSt. 2 411,415 ob. 1 6 5 ). Wie die (objektiv) rechtswidrige Erteilung des Befehls so bleibe dessen Befolgung (objektiv) rechtswidrig und sei nur entschuldigt, soweit er verbindlich oder, falls unverbindlich, sein Unrecht dem Gehorchenden nicht bekannt oder erkennbar gewesen sei. Nach dieser vorherrschenden Auffassung 1 6 6 bildet also der (angeblich) bindende rechts widrige Befehl für den gehorchenden Untergebenen keinen Rechtfertigungs-, sondern

164 Binding Handb. S. 743, Hervorh. vom zitier. Verf. Gegen diese Koppelung jedoch Wegner 5. 204 Anm. 1, nach dem angeblich „die Dinge bei § 113 manchmal anders liegen als bei der allgemeinen Frage", welche Rechtsfolgen die Ausführung eines rechtswidrigen Befehls hat. 165 Hervorh. vom zitier. Verf.;zu dieser Entscheidung s. schon oben Rdn. 79 und Fußn. 161. 166 So zum Teil, wenngleich nicht immer ganz eindeutig, auch die Rechtsprechung: RGSt. 6 432/433, 440; BGHSt. 2 251/252, 256; 5 239, 243, 244; 19 33, 35/36; 231, 232/233; OLG Bremen NJW 1949 436/437; OLG Freiburg i. Br. HESt. 2 365, 367; vor allem die Rechtslehre: Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 348, 382, 385; Frank Vorb. III vor § 51 a. F. (S. 143/144); v. Liszt-Schmidt AT S. 210 Anm. 1); Schwinge Militärstrafgesetzbuch, 6. Aufl. (1944) §47 Anm. IV (S. 108/109); Hafter Lehrb. des Schweiz. Strafrechts, AT, 2. Aufl. (1946) S. 37; Wegner S. 202 ff; Rittler I S. 135; Jagusch LK.8 I (1957) § 53 a. F. Anm. 2.f) (S. 404); Oehler Handeln auf Befehl JuS 1963 301 ; Herbert Arndt Grundriß des Wehrstrafrechts, 2. Aufl. (1966) S. l l l f , 115 f; Welzel S. 104, 503; Schönke-Schröder StGB 17 (1974) Rdn. 87 vor §53 a. F.; Dreher-Tröndle Rdn. 16 vor §32; Lackner Vorb. III 4 c vor § 13; Samson SK I Rdn. 55, 56 vor § 32. (39)

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2. Abschnitt. Die Tat

nur einen Entschuldigungsgmná eigener Art' 6 7 . „Daß seine Handlung damit für einen Dritten einen rechtswidrigen Angriff bedeuten kann, der diesen zur Notwehr berechtigt, muß in Kauf genommen werden; die Rechtsordnung verpflichtet hier den Untergebenen, sich einer Gefahr auszusetzen" (Mezger Lehrb. S. 227) (!?) 168 . 83 Dieser Lösungsvorschlag belastet zwar nicht wie der erste den betroffenen Bürger gegenüber der Ausführung rechtswidriger Befehle mit einer Duldungspflicht, bewahrt ihm vielmehr das Notwehrrecht; er beschwert aber den Befehlsempfänger nicht nur mit einer Gehorsamspflicht auch gegenüber gewissen widerrechtlichen Weisungen des befehlenden Vorgesetzten, sondern zugleich noch mit einer Gefahrtragungspflicht gegenüber dem berechtigten Widerstand des sich wehrenden Privaten. Er bürdet ihm folglich die ganze Last des Interessenkonflikts auf, obwohl der Befehlsgeber dessen Urheber ist. 84 Die zweite Lösungsmöglichkeit sieht man weitgehend oder doch teilweise — von bestimmten Ausnahmen wie etwa straf- oder völkerrechtswidrigen Befehlen abgesehen (s. § 56 II, III BBG, § 38 II, III BRRG, im Landesrecht z. B. Art. 65 II BayBG; §§ 11 II, 10 IV SoldG, §221 WStG) - wieder in dem heutigen Beamten- und Wehrrecht verwirklicht, obwohl die verwickelte und unvollständige Gesetzesregelung 169 nicht durchdacht und nicht zweifelsfrei ist 170 . Aus der allgemeinen Gehorsamspflicht des Beamten und Soldaten (§ 55 BBG, § 37 BRRG; § 11 I SoldG), auf Grund deren Weisungen grundsätzlich und letztlich (nach erfolgloser Gegenvorstellung) vom Untergebenen zu befolgen seien 171 , wird die Verbindlichkeit insbesondere von zivil- 172 , verwaltungs- 173 und wehrrechtswidrigen174 Befehlen geschlossen. Der Beamte „muß" nach dem Gesetzeswortlaut (§ 56 II BBG, § 38 II BRRG, ferner z. B. Art. 65 II BayBG) die dienstliche Anordnung trotz seiner Bedenken 167 Für M. E. Mayer Der rechtswidrige Befehl des Vorgesetzten, Laband-Festschr. (1908) S. (119) 137 eine „Halbheit" in der Konstruktion, da bei Annahme einer (von ihm abgelehnten) „Verbindlichkeit" gewisser rechtswidriger Befehle die „Gehorsamsleistung", d. h. die Befehlsausführung, eigentlich als rechtmäßig anzusehen wäre, wofür die erste Lehrmeinung ja auch eintritt (s. Rdn. 78 ff). 168 Für Notwehrrecht des Dritten besonders z. B. Hirsch LK9 I (1974) Rdn. 153 vor § 51 a. F. und schon Köhler Deutsches Strafr., AT (1917) S. 348, 382/383; Frank Vorb. III vor § 53 a. F. (S. 143 unt.); v. Liszt-Schmidt AT S. 210 Anm. 1). 169 Schwerlich muß der Beamte verfassungs- oder völkerrechtswidrige Befehle seines Vorgesetzten befolgen, selbst wenn § 56 II BBG nicht auch solche, sondern nur straf- und ordnungirechtswidrige und eine einzige verfassungsrechtswidrige Weisung (Verletzung der Menschenwürde) als Ausnahmen erwähnt! 170 Kritisch zum Beamtenrecht auch Fürst u. a. Gesamtkomm, öffentl. Dienst (GKÖD), I. Bd.: Beamtenrecht des Bundes und der Länder (1973 ff) §55 BBG Rdn. 2 (Fassung „nicht geglückt"), § 56 Rdn. 2 (nur Teilregelung, die „nicht erschöpfend"); s. auch Stratenwerth Verantwortung und Gehorsam (1958) S. 197. 171 Für das Wehrrecht ausdrücklich z. B. Herb. Arndt GA 1957 46, 49 („Der rechtswidrige Befehl bleibt also im Regelfall verbindlich, doch gibt es für grobe Fälle Ausnahmen . . . " ) ; ähnlich ders. Grundriß des Wehrstrafrechts, 2. Aufl. (1966) S. 114/115; s. auch Jescheck Befehl und Gehorsam in der Bundeswehr, in: Bundeswehr und Recht (1965) S. (63) 78. 172 Vom Beamtenrecht aus z. B. Fischbach Bundesbeamtengesetz, 3. Aufl. (1964) I. Bd., § 56 Anm. III; vom Wehrrecht aus z.B. Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. (1975) § 2 Rdn. 26 (S. 48). 173 Fischbach aaO; Plog-Wiedow-Beck Kommentar zum Bundesbeamtengesetz (1979 ff) § 55 Rdn. 9. 174 Vgl. schon die Belege in Fußn. 171 und auch BDH E 4 181 = NJW 1958 1463, 14641. Sp. (40)

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§32

gegen deren Rechtmäßigkeit, ja trotz seines besseren Wissens von deren Rechts Widrigkeit ausführen, sofern seine Remonstration vergeblich gewesen ist, d. h. auch der nächsthöhere Vorgesetzte die Weisung des befehlenden unmittelbaren Vorgesetzten bestätigt hat oder sofern der letztere den sofortigen Vollzug wegen Gefahr im Verzuge und der Unmöglichkeit, die Entscheidung des nächsthöheren Vorgesetzten rechtzeitig herbeizuführen, verlangt 175 . Der beamtete Untergebene, der nach erfolglosen Gegenvorstellungen dem rechtswidrigen Befehl gehorcht, handelt dann nach der zweiten Lehrmeinung selbst auch objektiv rechtswidrig, aber subjektiv entschuldigt 176 , so daß der durch die Befehlsausführung betroffene Dritte (Private) u. U. gegen ihn Notwehr üben darf. Ähnliches soll im Wehrrecht für den Soldaten gelten, der das Recht und gegebe- 85 nenfalls die Pflicht habe, gegen einen von ihm für rechtswidrig gehaltenen Befehl Gegenvorstellungen zu erheben (BGHSt. 19 231, 233), der aber gehorchen müsse, wenn seine Einwände keinen Erfolg gehabt hätten 177 . So ist z. B. im früheren Militärrecht der von einem Leutnant bestätigte Befehl eines Feldwebels an einen im Schwimmen nicht völlig ungeübten, jedoch noch nicht fertig ausgebildeten Soldaten, vom 2,30-m-Brett zu springen, als fmi/fiär-Jrechtswidrig, aber bindend angesehen worden, obwohl die damaligen militärischen Dienst- und Sportvorschriften höhere Sprünge als vom 1-m-Brett ausdrücklich verboten hatten (RKG 1 177, 179)178, die Gehorsamsverweigerung also als begründet hätte anerkannt werden müssen. Die Mißachtung der viel beschworenen „Disziplin" lag hier bei den beiden Vorgesetzten, nicht beim Untergebenen ; die Nichtbeachtung zweifelsfreier Dienstvorschriften und Überschreitung der Befehlsgewalt tut hier in Wahrheit dem auf Recht und Vertrauen zu gründenden militärischen Über- und Unterordnungsverhältnis mehr Abbruch als die berechtigte Nichtbefolgung des rechtswidrigen Befehls. Die Gehorsamspflicht, die im allgemeinen Beamtenrecht unzweifelhaft nicht bei 86 straf- und ordnungsrechtswidrigen Anordnungen besteht (§ 56 II, III BBG, § 38 II, III BRRG), ist nach der vorherrschenden Meinung 179 für Vollzugs-, insbesondere Polizeibeamte bei Anwendung unmittelbaren Zwangs und für Soldaten im Wehr-

175 So ausdrücklich auch im zweiten Fall unter dem früheren Recht Fischbach Deutsches Beamtengesetz (1937) § 7 DBG Anm. I 2 d; nicht mehr eindeutig für das neue Recht ders. Bundesbeamtengesetz, 3. Aufl. (1964) I. Bd., § 56 Anm. III, und das neuere Schrifttum, Fürst u. a. GKÖD I (1973 ff) § 56 BBG Rdn. 2 ff; Plog-Wiedow-Beck Komm, zum BBG (1979 ff) §55 Rdn. 8 und 9, §56 Rdn. 9; Scheerbarth-Höfflcen Beamtenrecht, 3. Aufl. (1979) S. 313; Ule Öffentlicher Dienst, in: Die Grundrechte, IV. Bd. 2. H Bd. (1962) S. 537, 646/647. 176 Ebenso Fürst u.a. GKÖD I (1973 ff.) §56 BBG Rdn. 6; Plog-Wiedow-Beck a a ö §55 Rdn. 8. Anders anscheinend — der gehorchende Beamte handele zwar objektiv rechtswidrig, aber nicht objektiv amtspflichtwidrig (Unterschied?) und nicht nur entschuldigt — BGH(Z) NJW 1959 1629, 16301. Sp., was die in dieser Frage bestehende Unklarheit zeigt. 177 Herb. Arndt Grundriß des Wehrstrafrechts, 2. Aufl. (1966) S. 116; Jescheck Befehl und Gehorsam in der Bundeswehr, in: Bundeswehr und Recht (1965) S. 81; Schirmer Befehl und Gehorsam (1965) S. 27. 178 Daß militärische Befehle, die gegen Dienstvorschriften verstoßen, rechtswidrig sind, ergibt sich heute klar aus § 10 IV SoldG. 179 Jescheck AT S. 316/317 (§ 35 II 2 b); Wesse/s AT S. 99 (§ 10 VII 4); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 88a vor § 32; Dreher-Tröndle Rdn. 16 vor § 32; Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. (1975) § 2 Rdn. 26 (S. 48). (41)

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2. Abschnitt. Die Tat

recht gegenüber ordnungsrechtswidrigen Befehlen sogar noch erweitert, obwohl eine solche Auslegung der einschlägigen Vorschriften (§ 7 II UZwG, im Landesrecht z. B. Art. 41 II BayPAG, § 37 PolGNW; § 11 II SoldG, § 22 I WStG) keineswegs zwingend, vielmehr fragwürdig und unbefriedigend ist. 87 Zunächst fragt sich schon allgemein, ob die Erfolglosigkeit einer Remonstration bei zwei verblendeten Vorgesetzten überhaupt die Gehorsamspflicht des Beamten gegenüber erkennbar oder offensichtlich rechtswidrigen Weisungen begründen kann 1 8 0 . Sodann liegt die Frage nahe, warum nicht auch beim Soldaten gleich den „nicht zu dienstlichen Zwecken" gegebenen Befehlen (s. einerseits § 10 IV, andererseits § 11 I SoldG, § 22 I WStG) der Beschränkung der Befehlsbefugnis des Vorgesetzten die Begrenzung der Gehorsamspflicht des Untergebenen entsprechen soll, wie das für bestimmte völkerrechtswidrige Befehle gilt, die weder erteilt noch befolgt werden dürfen, obwohl ausdrücklich nur ihre Erteilung untersagt ist 181 , warum diese Entsprechung aber nicht ebenso für andere, ζ. B. zivil- oder dienstrechtswidrige Befehle, die § 10 IV SoldG ebenfalls verbietet, angenommen wird. 88 Schließlich führt der zweite Lösungsversuch zu seltsamen Konsequenzen : Wenn ein Polizeioffizier bei einer Inspektionsfahrt über Land oder ein Major im Manöver mit dem Wagen auf einsamem Feldweg liegenbleibt und nun dem Fahrer (Polizisten oder Soldaten) befiehlt, ein auf dem Acker angepflocktes Pferd zu besteigen, um den weiten Fußmarsch in die nächste Ortschaft zu sparen und möglichst schnell Pannenhilfe holen zu können, so ist dieser auf eine Besitzstörung und einen straflosen „Gebrauchsdiebstahl" gerichtete Befehl zivil- und polizei- bzw. wehrrechtswidri'g182, da eine rechtliche Grundlage für den Eingriff in Eigentum und Besitz des Privaten fehlt, wäre jedoch nach der zweiten Lehrmeinung bindend, da sich die rechtswidrige Weisung noch im Rahmen der Befehlsgewalt zu halten scheint und kein grober Rechtsverstoß ist. Lautete der Befehl dagegen auf Benutzung eines auf dem Felde abgestellten Fahrrades oder Mopeds, wäre die auf Begehung einer Straftat (unbefugten Fahrzeuggebrauch i. S. d. § 248 b StGB) zielende Anordnung sogar strafrechtswidrig und daher eindeutig ««verbindlich (§ 56 II, III BBG, § 38 II, III

180 Mit Recht ist nach der Vereinbarkeit der positiv-rechtlichen Regelung mit dem Verfassungsrecht und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen gefragt worden, Wax Die Gehorsamspflicht der bayerischen Beamten, Diss. München o. J. (1961?) S. 85, 110/111. Nach Stratenwerth Verantwortung und Gehorsam (1958) S. 198 Anm. 14 wäre § 56 II BBG „als unverbindliches Gesetz anzusehen", wenn er die Gehorsamspflicht auch „auf offensichtlich rechtswidrige Anordnungen" erstrecken wollte. Jescheck Befehl und Gehorsam . . . S. 78 hält im Wehrrecht offensichtlich „die Rechtsordnung" verletzende Befehle für unverbindlich. 181 Die Unverbindlichkeit des wider die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts" erteilten Befehls wird allerdings nicht aus § 10 IV SoldG, sondern unmittelbar aus der Verfassung, deren Art. 25 GG auch § 11 SoldG vorgehe, hergeleitet, s. Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. (1975) § 2 Rdn. 25. 182 Soweit nicht ausnahmsweise der Befehl ζ. B. nach § 904 BGB, § 34 StGB (etwa wegen eines das Eigentumsinteresse überwiegenden Interesses an der Strafverfolgung eines flüchtigen Verbrechers, der Verhinderung einer Spionage usw. und der deswegen gebotenen Eile der Autoreparatur und der Weiterfahrt) gerechtfertigt und darum bindend, seine Ausführung also rechtmäßig und für den Bauern duldungspflichtig wäre. Hier die Befehlsbefolgung schon wegen der Gehorsamspflicht als rechtmäßig zu bezeichnen und dem betroffenen Dritten höchstens ein Notstandsiecht zuzubilligen (Rdn. 81 a. E.), würde die Dinge auf den Kopf stellen! (42)

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BRRG; Art. 41 II Bay PAG; § 11 II SoldG, § 22 I WStG). In beiden Fällen dürfte der empört herbeieilende Bauer in Notwehr den Polizeibeamten oder Soldaten mit Gewalt vom Pferd oder Rad herunterholen und müßte der Befehlsempfänger dies dulden; aber nur im zweiten Falle hätte der Untergebene (nach der hier abgelehnten herrschenden Ansicht) nicht zu gehorchen und brauchte sich nicht dem berechtigten Widerstand des betroffenen Eigentümers auszusetzen, obgleich eine unterschiedliche Beurteilung beider Sachverhalte sachlich nicht begründet und für den zweiten Lösungsvorschlag nur durch die strafgesetzliche Regelung des „Gebrauchsdiebstahls" bedingt ist. Von solchen Zufälligkeiten und Ungereimtheiten im besonderen abgesehen, ist 89 die zweite (und erst recht die erste) Lehrmeinung schon allgemein gerade für das moderne Rechts- und Staatsverständnis unvertretbar. Denn sie stellt aus Gründen der Staatsautorität und Amtsdisziplin in bestimmten Fällen den Befehl über das Recht, den Respekt vor dem Vorgesetzten über die Achtung vor dem Gesetz. Es ist nicht nur unbillig, den Untergebenen in eine Pflichtenkollision und damit in eine Zwangs- und Gefahrenlage zu bringen 1 8 3 , obwohl der rechtswidrige Angriff, der in der rechtswidrigen Befehlserteilung und -befolgung liegt, vom befehlenden Vorgesetzten ausgeht 184 . Es ist sogar unheilvoll, dem Beamten oder Soldaten prinzipiell auch die Ausführung widerrechtlicher Befehle zuzumuten und ihn damit anfällig für einen unkritischen, verantwortungslosen Gehorsam zu machen, wie er sich in der jüngeren Geschichte so verhängnisvoll ausgewirkt hat. (3) Lösung zu Lasten des Befehlenden (Vorgesetzten): Richtig ist daher die dritte 90 mögliche Lösung, welche die Last des Interessenkonflikts auf die Person des Befehlsgebers verlagert. Sie setzt den Untergebenen nicht der Gefahr einer Notwehr des durch die Befehlsausführung betroffenen Dritten aus, billigt jenem vielmehr selbst das Recht zur Notwehr u. U. gegen den rechtswidrigen Befehl des Vorgesetzten zu. Für sie ist schon der Ausgangspunkt der ersten und zweiten Lehrmeinung, die Konstruktion eines „rechtswidrigen, aber bindenden Befehls", verfehlt, da ein solcher Begriff ein Widerspruch in sich ist und keine Rechtspflicht zur Vornahme einer rechtswidrigen Handlung durch einen widerrechtlichen Akt begründet werden kann 1 8 5 . Für diese Lösung ist maßgeblich der vom RMilG mehrfach (besonders RMilG 91 22 78, 80; ferner 20 67/68, 73; 21 121, 122), vom RG in Strafsachen einmal klar 183 Deshalb wird z. T. vom Standpunkt der zweiten Lehrmeinung aus das Notwehrrecht, das sie dem durch die Befehlsbefolgung betroffenen Dritten zubilligt, wieder eingeschränkt (s. Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. [1975] § 2 Rdn. 20 [S. 45]), was die Fragwürdigkeit dieser Lösung zeigt. 184 Treffend dazu schon Binding Lehrb. II 2 S. 773; M. E. Mayer Widerstand gegen die Staatsgewalt, V D B I (1906) S. (349) 448. 185 So im S/ro/recht besonders M. E. Mayer Der rechtswidrige Befehl des Vorgesetzten, Laband-Festschr. (1908) S. 119, 121, 131 f 137; ders. A T S. 335; Graf zu Dohna Die Rechtswidrigkeit... (1905) S. 138; ders. Recht und Irrtum (1925) S. 10; ders. Aufbau S. 47; Dolaptschieff Sind rechtswidrig bindende Befehle möglich? ZStrW 58 (1939) S. 238, 244, 247; Hafter Lehrbuch des Schweizerischen Strafrechts, AT, 2. Aufl. (1946) S. 181 Anm. 2); Baumann S. 3 4 9 / 3 5 0 ; H. J. Hirsch LK9 I (1974) Rdn. 153 vor § 51 a. F. (S. 77). Im öffentlichen Recht z. B. Bornhak Preußisches Staatsrecht, 2. Aufl., II. Bd. (1912) S. 49 ff, 51; Adolf Arndt Das Reichsbeamtengesetz, 4. Aufl. (1931) § 10 Anm. 2 (S. 36); Risken Grenzen amtlicher und dienstlicher Weisungen im öffentlichen Dienst (1969) S. 91, 99, 106, 187 Nr. 10 (weitere Nachweise S. 86 Anm. 1). (43)

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2. Abschnitt. Die Tat

ausgesprochene Grundsatz: „Objektive Voraussetzung für die Verbindlichkeit eines Befehls in Dienstsachen ist seine Rechtmäßigkeit" (RGSt. 59 330, 335, Hervorh. vom zitier. Verf.). Dieser Ansatzpunkt ist naheliegend, von Rechtsprechung und Rechtslehre allerdings dadurch wieder verwässert oder sogar aufgehoben worden, daß sie die Begriffe „Rechtmäßigkeit" und „Rechtswidrigkeit" subjektivieren 186 . 92 Die dritte Lehrmeinung, die rechtswidrige Befehle grundsätzlich für unverbindlich hält und folgerichtig gegen deren Erteilung wie gegen deren Ausführung Notwehr zulassen muß, begann sich unter dem ursprünglich geltenden Beamtenrecht durchzusetzen 187 . Sie ist heute wenigstens für die schwereren und wichtigsten Fälle widerrechtlicher Weisungen vom Gesetzgeber oder in Rechtsprechung und Rechtslehre anerkannt, und zwar für 93

strafrechtswidrige (genauer: auf die Ausführung einer strafrechtswidrigen Tat gerichtete) Befehle: § 56 II, III BBG, § 38 II, III BRRG, im Landesrecht ζ. B. Art. 65 II BayBG; § 11 II SoldG, § 22 I WStG; außer RGSt. 6 432/433; 54 337; 56 412 (s. Rdn. 76 und Fußn. 156) BGHSt. 2 234, 236: Befehl an Gestapo-Beamte, jüdische Mitbürger ins KZ zu verschicken, also zumindest der Freiheit zu berauben; 19 231: Befehl eines Hauptmanns an seinen Unteroffizier, einen schweren Lastzug zu fahren, obwohl der Untergebene hierfür nicht die erforderliche Fahrerlaubnis besaß (Vergehen nach § 21 I Nr. 1 StVG); OGHSt. 1 310, 312: Befehl zu Judenpogromen, d. h. Brandstiftung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Beleidigung; LG Stuttgart JZ 1964 101: Schießbefehl an der deutsch-deutschen Grenze —

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völkerrechtswidrige (genauer: die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verletzende) Befehle, die oft auch i/ra/rechtswidrig sein werden 1 8 8 : Art. 25 GG; § 10 IV SoldG; RMilG 20 67/68, 69, 70, 73: Befehl an Kriegsgefangene zu Arbeiten, die mit Kriegshandlungen im Kampfgebiet in unmittelbarem Zusammenhang stehen, wie Schanzarbeiten (nach früherer Auffassung nur ein vmva/f«Hgsrechtswidriger, aber ««verbindlicher Befehl, weil die Haager Landkriegsordnung von 1907 in Deutschland nicht gesetzlich eingeführt worden war, ihre „Grundsätze" jedoch ein Erlaß des Kriegsministers von 1915 für verbindlich erklärt hatte); BGHSt. 15 214: zugleich íírq/rechtswidriger Befehl eines Divisionskommandeurs, nach Verlust ihrer Arbeitsstätte heimwärts wandernde Fremdarbeiter zu erschießen; 22 223/224: ebenso s/ro/rechtswidriger Befehl zur Erschießung jüdischer Einwohner im besetzten Gebiet — 186 RGSt. 59 330, 335 mit dem Hinweis auf die entsprechenden „Rechtsgrundsätze" zur Beurteilung der „Rechtmäßigkeit der Amtsausübung i. S. d. § 113 StGB" (s. dazu Rdn. 64 ff); RMilG 22 43, 44 f (für die Rechtmäßigkeit eines militärischen Befehls zur Duldung einer nicht erheblichen Operation sei nicht deren objektive Erforderlichkeit zu verlangen (!?), sondern die subjektive Annahme ihrer Voraussetzungen durch den befehlenden Sanitätsoffizier nach pflichtmäßiger Ermessensprüfung genügend); M. E. Mayer in LabandFestschr. (1908) 128 f, 130; ders. AT S. 337/338 ob. (gutgläubiger Irrtum des befehlenden Staatsorgans sei in Kauf zu nehmen). 187 Aus der Rechtsprechung: RG(Z) GruchBeitr. 53 (1909) 87, 92 (Befehl, der auf „eine gesetzlich verbotene oder sittlich" (!?) „verwerfliche Handlung" gerichtet sei, sei unverbindlich); RG(St) JW 1928 2325, 2326 r. Sp. („zweifellos" gesetz- und verfassungswidrigen Befehlen sei der Gehorsam zu versagen). Aus der Rechtslehre: Adolf Arndt Das Reichsbeamtengesetz, 4. Aufl. (1931) § 10 Anm. 2 (S. 36); Brand Das Beamtenrecht, 3. Aufl. (1928) S. 549 (einem offenbar gesetz- und verfassungswidrigen Befehl dürfe der Beamte nicht nachkommen); M. E. Mayer AT S. 335; Mezger Lehrb. S. 227 Anm. 6 a. E. („Nach Reichsbeamtengesetz §§10, 13 ist der rechtswidrige Befehl nicht bindend"!). 188 Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. (1975) § 5 Rdn. 27 (S. 49). (44)

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verfassungswidrige, vor allem die Menschenwürde verletzende Befehle: Art. 1 I 95 GG; § 56 II, III BBG, § 38 II, III BRRG; § 11 I SoldG, § 22 I WStG; RMilG 14 97: der „das persönliche Ehrgefühl der Untergebenen kränkende" und eine „vorschriftswidrige Behandlung i. S. d. § 121" des früheren MilStGB darstellende Befehl, aus einem Misthaufen mit den bloßen Händen Stroh herauszulesen ; 17 298 : der auch eine körperliche Mißhandlung i. S. d. § 122 des ehemaligen MilStGB bedeutende Befehl, nachts auf dem kalten Kasernenflur im Nachthemd barfuß Laufschritt zu machen ; der Befehl, in feldmarschmäßiger Ausrüstung mit Sturmgepäck in Gegenwart von Zivilpersonen am Sonntag nachmittag das Kasernengelände von Unrat zu säubern' 8 9 — ferner andere verfassungswidrige Befehle wie die gegen Art. 4 I GG verstoßende Anordnung der Teilnahme am Kirchgang, die ebenfalls unverbindlich wäre — gewisse verwaltungs- und wehrrechtswidrige Befehle, deren Unrecht meist offen- 96 sichtlich oder doch erkennbar ist' 9 0 , so einmal die nicht zu dienstlichen Zwecken erteilten Weisungen: §§ 10 IV, 111 SoldG, § 22 I WStG, z. B. der Befehl, geschäftliche Besorgungen für die Ehefrau des Vorgesetzten zu erledigen oder eine unwahre dienstliche Meldung zu erstatten 1 9 1 ; zum andern die aus bestimmten formellen oder materiellen Gründen widerrecht- 97 liehen Weisungen, die entweder mangels Zuständigkeit192 oder vorgeschriebener Förmlichkeit193 oder aber wegen der Schwere oder Eigenart der Rechtsverletzung, der Unmöglichkeit oder Sinnlosigkeit der Befehlsausführung grob fehlerhaft sind. Beispiel für die erste Gruppe ist der infolge Unzuständigkeit für die Durchsetzung eines /V/va/rechtsanspruchs verwaltungs- (hier allerdings auch straf-)rechtswidrige Befehl eines Bürgermeisters (Polizeibehörde) an Polizeibeamte, die Freihaltung eines von der Gemeinde beanspruchten Mühlgrabens, durch den ein Kanalrohr gelegt werden sollte, mittels Festnahme des sich widersetzenden Müllers zu erzwingen, obwohl das Eigentum an dem Graben zwischen den Parteien strittig war (RGSt. 40 212/213, 215 unt.; s. ferner die Fälle in RGSt. 26 291, 293; 29 199, 201); die Polizei befand sich bei Ausführung ihres Auftrags nicht in rechtmäßiger Amtsausübung (RGSt. 40 216 ob.), sondern in einem rechtswidrigen Angriff, der Müller also — vom RG nicht ausdrücklich ausgesprochen — bei seinem Widerstand in berechtigter Notwehr. Beispiele für die zweite Gruppe der materiell fehlerhaften Weisungen sind vor 98 allem die Leib oder Leben des Untergebenen oder eines Dritten unnötig gefährdenden Befehle, so der ohne Notwendigkeit gesundheitsgefährdende Befehl eines Feld189 And. zu Unrecht LG Tübingen RsprWStrS § 22 WStG Nr. 4 mit ablehn. Anm. Schwenck, kritisch zu dem Urteil auch Jescheck in: Bundeswehr und Recht (1965) S. 79/80. 190 Nach Stratenwerth Verantwortung und Gehorsam (1958) S. 197 ff muß die Rechtswidrigkeit „offensichtlich" sein. Ähnlich für das österreichische Recht Barfuß Die Weisung (1967) S. 58 f, 98 („Gravität" und „Evidenz" des Fehlers maßgeblich) und Lengheimer Die Gehorsamspflicht der Verwaltungsorgane (1975) S. 62 ff, 102 ff. Die Unverbindlichkeit rechtswidriger Befehle wird dabei in Parallele zur Unwirksamkeit (Nichtigkeit) grob fehlerhafter Verwaltungsakte gesetzt, s. z. B. Wax Die Gehorsamspflicht der bayerischen Beamten, Diss. München o. J. (1961?), S. 82, 96. 191 Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. (1975) § 2 Rdn. 13 (S. 40). 192 Dazu RGSt. 2 411, 416/417; 29 199, 201; 40 212/213, 215; 55 161/162, 163 (zusammenfassend). 193 Z. B. Schriftlichkeit des richterlichen Haftbefehls, Kohlrausch-Lange § 113 Anm. III 3 a) γ) (S. 328). (45)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

webels an einen Soldaten, einen 7 m langen, 3 m breiten und 1/2 m tiefen, mit einer Eisschicht bedeckten Wassertümpel allein zu durchwaten, weil sich der Exerziertrupp beim Anmarsch auf den Tümpel an der Stelle, wo der Befehlsempfänger marschiert war, zur Umgehung der Wasserstelle geteilt hatte (RMilG 22 78); der gefährliche Befehl an einen Rekruten, als Nichtschwimmer vom 3-m-Brett ins Wasser zu springen, wobei dieser statt ins Schwimmbecken auf den Steinboden sprang und beide Arme brach ( R K G 1 38, die allerdings hinsichtlich des Befehls nicht dessen Unverbindlichkeit, sondern nur die rechtswidrige Mißhandlung Untergebener ausdrücklich feststellte); der gesundheitsschädigende Befehl an einen Soldaten, Uniform zu tragen, obwohl er dadurch, wie bekannt, infolge einer akuten Kontaktdermatitis immer wieder einen schweren Hautausschlag mit unerträglichem Juckreiz erlitt und die Militärärzte ihm nicht hatten helfen können ; hier war eine Befehlsverweigerung durch Notwehr gerechtfertigt (ebenso im Ergebnis, wenngleich nicht einwandfrei in der Begründung BayObLGSt. N F 21,1971 168, 169/170); der ohne Not das Leben seiner Leute riskierende Befehl eines Offiziers, zur Übung einen brusthohen, aber reißenden Gebirgsbach zu durchqueren und dabei einen schwachen Mann unterzuhaken und mitzuziehen 1 9 4 ; hier dürfte der Soldat den Gehorsam verweigern und sich in Notwehr von dem Unterführer losreißen oder diesen von sich wegstoßen; schließlich der lebensgefährliche Befehl, auf einem nicht von Blindgängern freigemachten Truppenübungsplatz Diensthandlungen vorzunehmen, ζ. B. Kabel zu verlegen (ebenso, wenngleich etwas verklausuliert BDHE 4 181 = BDH NJW 1958 1463) 99

ordnungsrechtswidrige Befehle unstrittig im allgemeinen Beamtenrecht: § 56 II BBG, § 38 II BRRG, im Landesrecht z. B. Art. 65 II BayBG, etwa die dienstliche Anordnung, ein nicht verkehrssicheres Fahrzeug zu benutzen (vgl. auch den Fall des RG(St) JW 1928 2325).

100

Für Vollzugs-, insbesondere Polizeibeamte bei Anwendung unmittelbaren Zwanges und für Soldaten wird dies bestritten und soll nach der überwiegenden Meinung auch ein ordnungsrechtswidriger Befehl verbindlich sein ' 9 5 , ζ. B. der Befehl eines Offiziers an seinen Fahrer, schneller als zulässig zu fahren, oder der Befehl, mit einem nicht beleuchteten Fahrrad ein dringendes Fernschreiben auf der Standortkommandantur abzuholen 196. Aus § 7 II UZwG, § 38 III BRRG, im Landesrecht z. B. Art. 41 III BayPAG, § 37 PolGNW; § 11 II SoldG, § 5 I WStG folgt diese Ansicht jedoch keineswegsI 9 7 . Denn in diesen Vorschriften ist nur eine Regelung der Schuld bzw. Nichtschuld des Vollzugsbeamten oder Soldaten zu sehen, falls er einen (««verbindlichen) s/ro/rechtswidrigen Befehl — in falschem Gehorsam! — befolgt. Aus der Bestimmung, daß der Untergebene der Begehung eines ihm befoh194 Vgl. den ähnlichen unverbindlichen wehnechtswidrigen Befehl, der am 3. 6. 1957 zum „Unglück an der Iiier", d. h. zum Ertrinkungstod einer Reihe von Soldaten geführt hat, Dreher-Lackner-Schwalm Wehrstrafgesetz, l . A u f l . (1958) § 2 Rdn. 32 a. E.; Rostek Der rechtlich unverbindliche Befehl (1971) S. 74 ff, 80. 195 Vgl. die näheren Nachweise in Fußn. 179! 196 Jescheck Befehl und Gehorsam in der Bundeswehr, in: Bundeswehr und Recht (1965) S. 81. 197 Erst recht nicht aus § 22 I WStG, der nur einige Fälle unverbindlicher rechtswidriger Befehle aufführt. Mit Recht soll nach dem Alternativ-Entwurf einheitlicher Polizeigesetze (AE PolG 1979), hrsg. von Denninger u. a., § 60 I (S. 155), die Gehorsamspflicht der Polizeibeamten gegenüber Befehlen, die auf die Begehung einer mit Geldbuße bedrohten rechtswidrigen Handlung gerichtet sind, ausdrücklich ausgeschlossen sein. (46)

Notwehr (Spendei)

§32

lenen Verbrechens oder Vergehens nur schuldig ist, wenn er die strafrechtswidrige Tat als solche erkannt hat oder diese nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich war, kann höchstens entnommen werden, daß er die Ausföhrung einer befohlenen Ordnungswidrigkeit nicht zu verantworten hat, dagegen nicht geschlossen werden, daß er für die Mc/iiausführung der letzteren wegen Gehorsamsverweigerung verantwortlich, der Befehl zur VerÜbung der Ordnungswidrigkeit also verbindlich ist 198. Der ordnungsrechtswidrige Befehl ist daher für Vollzugsbeamte und Soldaten 101 ebenso wie für allgemeine Verwaltungsbeamte nicht bindend, sofern nicht die Ordnungswidrigkeit auf Grund besonderer Notwendigkeiten des polizeilichen oder militärischen Dienstes nach § 16 OWiG gerechtfertigt ist, d. h. das polizeiliche oder militärische Interesse im besonderen Falle (schneller Transport von Polizisten zur Bekämpfung von Ausschreitungen, von Soldaten zum Einsatz bei einer Unwetterkatastrophe usw.) das allgemeine Interesse an der Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs überwiegt. Denn die Allgemeinheit und damit zugleich der durch das Ordnungswidrigkeitenrecht, z. B. die Verkehrsvorschriften mittelbar geschützte einzelne Bürger brauchen die Gefährdung, die in einem derartigen Rechts-, z. B. Verkehrsverstoß liegt und die sich leicht zu einer Rechtsgutsverletzung, z. B. einem Verkehrsunfall, ausweiten kann, nicht zu dulden 1 9 9 . Es sind nicht nur, wie BGHSt. 19 231, 232 unter a) meint, „Zweifel möglich, ob die Verbindlichkeit des Befehls... entfällt, wenn...", sondern solche Bedenken wirklich durchschlagend, weil „sich der Befehlsempfänger durch die Ausführung der befohlenen Handlung mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit eines fahrlässigen Vergehens schuldig machen würde" 2 0 0 — eine Sachlage, die häufig bei Begehung einer befohlenen Ordnungswidrigkeit in Betracht kommt. Eine andere Auffassung führt gar zu leicht zu Folgen, für die das Dichterwort gilt: „Ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein" (Goethe). Denn würde der Polizeibeamte oder Soldat gehorchen und zu schnell oder bei Rotlicht noch über die Kreuzung fahren, so wäre er zwar — trotz des von ihm begangenen Unrechts — mangels nennenswerter Schuld infolge des durch den Befehl geschaffenen Motivationsdrucks „entschuldigt" und straf/as, falls es bei der Begehung der befohlenen Ordnungswidrigkeit bliebe; der Untergebene wäre jedoch wegen des größeren Unrechts und der nicht mehr übersehbaren Schuld strafbar, falls es auf Grund des anbefohlenen Verkehrsverstoßes zu einem voraussehbaren schweren Unfall, d. h. zu einer fahrlässigen Tötung usw. käme. Auch Vollzugsbeamte und Soldaten müssen somit einerseits ordnungsrechtswidrige Befehle nicht befolgen, andererseits bei deren Ausführung dulden, daß sie gegebenenfalls von einem Dritten wegen der Gefährlichkeit z. B. ihres ordnungswidrigen Verkehrsverhaltens für andere Verkehrsteilnehmer in berechtigter Notwehr oder Nothilfe an der Durchführung der Anordnung gehindert werden. Diese Auffassung tut der Amtsdisziplin keineswegs Abbruch, sondern bildet ein Gegengewicht gegen die Versuchung mancher vor allem militärischer Vorgesetzten, sich zu leicht mit ihren Befehlen über ordnungsrechtliche, als nicht so wichtig angesehene Vorschriften hinwegzusetzen. 198 Ebenso bereits für das frühere Militärstrafrecht (§ 47 MilStGB) M. E. Mayer AT S. 340; für das heutige Recht H.-J. Hirsch LK9 I (1974) Rdn. 153 vor § 51 a. F. (S. 77). 199 So auch H.-J. Hirsch aaO. 200 Trotzdem für Verbindlichkeit solcher rechtswidrigen Befehle Jescheck AT S. 317 Anm. 11 ; nicht überzeugender Versuch einer Unterscheidung von Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 90 vor § 32. (47)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

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Über die vorstehend angeführten Fälle unverbindlicher rechts widriger Befehle hinaus sollten auch die übrigen verwaltungs- und wehrrechtswidrigen (zu den letzteren s. den Fall in RKG 1 177 in Rdn. 85), nicht zuletzt auch die zivilrechtswidrigen Weisungen als unverbindlich anerkannt werden, da im Beamtenrecht der Untergebene ebenfalls für die Gesetzmäßigkeit seiner Amtshandlungen verantwortlich ist (§ 55 BBG, § 37 BRRG) und im Wehrrecht der Vorgesetzte ebenfalls die „Gesetze", wozu auch die Zivilgesetze gehören, zu „beachten" hat (§ 10 IV SoldG). Demnach wäre in dem Beispiel in Rdn. 88 bereits für die erste Alternative (Gebrauch des Pferdes) die Anordnung, und zwar als zivilrechtswidrige, nicht bindend, womit die Begründung einer Notwehrlage für den betroffenen Dritten (privaten Eigentümer), einer Gefahrenlage für den befohlenen Untergebenen (Polizeibeamten oder Soldaten) vermieden würde.

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Der dritte Lösungsweg führt allein zu widerspruchsfreien Ergebnissen, wie folgender Fall veranschaulicht: Die dienstliche Anordnung eines Oberförsters an den ihm unterstellten Förster, durch Lärmerzeugung die „Anstandsjagd" auf dem benachbarten privaten Jagdgebiet zu stören, ist nicht nur nach dem alten, sondern auch nach dem heutigen Beamtenrecht unverbindlich, und zwar schon deswegen, weil sie wegen des Eingriffs in fremdes Jagdrecht, einer Besitzstörung und unerlaubten Handlung, zw/rechtswidrig ist (RG[Z] GruchBeitr. 53 [1909] 87)201. Für die heute vorherrschende zweite Lehrmeinung wäre dagegen diese Weisung bindend (s. Fußn. 172 zu Rdn. 84) und nur unverbindlich, soweit sie auch ordnungsrechtswidrig wäre 2 0 2 , w a s i m vorliegenden Fall nicht ganz zweifelsfrei ist und nur einmal mehr zeigt, welche Ungereimtheiten und Zufälligkeiten dieser Lösungsversuch im Gefolge hat. Auf Grund der hier vertretenen dritten Auffassung wäre der Förster nicht genötigt, sich einer etwaigen Notwehr der durch die Befehlsausführung betroffenen Privaten auszusetzen. Denn die durch den Lärm erheblich gestörten und rechtswidrig angegriffenen Jäger wären in jedem Fall nach § 227 BGB berechtigt gewesen, den lärmenden Forstbeamten durch Wegnahme seines Gewehrs am Schießen und durch Festhalten am Schlagen auf das Wildgatter zu hindern, da das Jagdrecht ein notwehrfähiges Rechtsgut ist (RGSt. 35 403, 406/407; 55 167).

104

c) Rechtswidriger Angriff durch Fehlurteil: Noch problematischer als die vorstehend erörterte Frage ist die, ob und wieweit ein Notwehrrecht bzw. eine Duldungspflicht gegenüber rechtskräftigen Fehlurteilen besteht. Die Notwehrlehre ist auch hier nur die Kehrseite einer anderen Lehre, und zwar der von der Rechtskraft. Teils in mehr oder minder bewußter Anlehnung an die Konstruktion des rechtswidrigen, aber verbindlichen Befehls 203 , teils unter ausdrücklicher Ablehnung dieser Par-

201 Das RG (aaO S. 89, 90 u. 91) bezeichnete in dem Prozeß wegen Unterlassung die Lärmerregung bald als „rechtswidrig" (Besitzstörung — §§ 862, 868 BGB — oder unerlaubte Handlung — § 823 BGB —), bald als „sittenwidrig" gemäß § 826 BGB, und zwar dann, wenn sie ausschließlich die Störung der benachbarten Jäger zum Ziel gehabt hätte, sah sie dagegen noch als rechtmäßig an, wenn sie auch den Austritt des Wildes aus dem eigenen (staatlichen) Jagdrevier hätte verhindern sollen (RG aaO S. 93). 202 Das wäre sie dann, wenn man in dem Verhalten des Försters eine vorsätzliche (rechtswidrige) Lärmerregung in einem zumindest nach den Umständen vermeidbaren Ausmaß und die privaten Jagdberechtigten und deren Gäste als „Nachbarschaft" i. S. d. § 117 OWiG, die der Lärm erheblich zu belästigen geeignet war, ansehen wollte. 203 Vgl. ζ. B. James Goldschmidt Ungerechtfertigter Vollstreckungsbetrieb (1910) S. 49 ff, 50: „Befehlsnatur des Urteils" (allerdings nur für die Vollstreckungsorgane angenommen). (48)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

allele 204 , wird auch eine formell rechtskräftige, dem materiellen Straf-, Zivil- oder Verwaltungsrecht jedoch widersprechende Entscheidung als bindend für den Vollstreckungsbeamten und den Verurteilten angesehen. Das richterliche Urteil — und das ist in der Tat ein wesentlicher Unterschied zum amtlichen oder militärischen Befehl — hat ja gerade die Aufgabe, in einer strittigen Rechtssache zu erkennen, was rechtens ist, und zu entscheiden, also das letzte Wort darüber zu sprechen, was als Recht gelten soll 2 0 5 . Naheliegend wie die Versuchung, aus der (angeblichen) Verbindlichkeit rechtswidriger Befehle die Rechtmäßigkeit ihrer Ausführung herzuleiten (s. die Lehrmeinung Rdn. 76 ff), ist der Versuch, von der Bindung des prozessual rechtskräftigen, wenngleich vielleicht materiell rechtswidrigen Urteils auf die Rechtmäßigkeit seines Vollzugs zu schließen und deshalb eine Duldungspflicht des Verurteilten gegenüber der Vollstreckungshandlung stets zu bejahen, Notwehr gegen sie grundsätzlich zu verneinen, so für Fehlurteile OLG Kiel SJZ 1947 Sp. 323, 329 unt.: „Die Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils ist für den Vollzugsbeamten immer" (!?) „rechtmäßige Amtsausübung, gleichviel, ob das Urteil falsch oder richtig ist" 2 0 6 . Für fehlerhafte Verwaltungsakte bejaht OLG Braunschweig MDR 1951 629/630 nur bei Anfechtbarkeit, nicht bei Nichtigkeit die Rechtmäßigkeit des Vollzugs (s. dazu aber Rdn. 73). Aber diese bedingungslose Folgerung ist angesichts einer groben Fehlentschei- 105 dung, die einen Unschuldigen zur schweren Strafe oder Nichtverpflichteten zur hohen Zahlung verurteilt, ihm also vielleicht größtes Unrecht zufügt, doch fragwürdig. Deshalb bewerten manche Autoren die Vollstreckung verschieden, und zwar als rechtmäßig nur unter dem öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkt des staatlichen Vollstreckungsbetriebs, als rechts widrig unter dem Blickwinkel der zivil- oder straf rechtlichen Rechtslage 207 , oder qualifizieren als rechtmäßig nur die Vollstreckungshandlung des Vollzugsbeamten, als rechts widrig aber den Vollstreckungser/o/g, d. h. den durch den Urteilsvollzug herbeigeführten Zustand für den Verurteilten, z. B.

204 So z.B. Sauer Grundlagen des Prozeßrechts, 2. Aufl. (1929) S. 286: „Der sogenannte Urteilsbefehl von ganz anderer Bedeutung wie der sonstige Dienstbefehl des Staates", obwohl an anderer Stelle (s. S. 282) das rechtskräftige Urteil als der „gesetzesähnliche Befehl" (an Vollstreckungsorgane wie betroffene Private), „nach ihm zu handeln", bezeichnet wird. 205 Insofern gilt dann eben doch bis zu einem gewissen Grade gegenüber dem letztinstanzlich urteilenden Richter der ironische Vers: „Du judizierst, und das ist wichtig, rechtskräftig stets und darum richtig". 206 Ebenso in der Rechtslehre z. B. Sauer Grundlagen des Prozeßrechts, 2. Aufl. (1929) S. 281, 283/284, 286, 288/289; Pohle Über die Rechtskraft im Zivil- u n d Strafprozeß, ÖstJurBl. 1957 113, 121 Anm. 70; Schumann Fehlurteil und Rechtskraft, Bötticher-Festg. (1969) 289, 319; Karl Schäfer Strafprozeßrecht (1976) S. 183/184 (Einl. Kap. 12, Rdn. 54); Gössel Strafverfahrensrecht (1977) 290; Karl Peters Strafprozeß, 3. Aufl. (1981) S. 479/480 (§ 54 Il.l.b). 207 So z. B. Hellwig Klagrecht u n d Klagmöglichkeit (1905) S. 24; ders. Anspruch u n d Klagrecht (1924) S. 492; Geib Rechtsschutzbegehren u n d Anspruchsbetätigung im deutschen Zivilprozeß (1909) S. (99 ff) 119/120 (dazu kritisch Sauer aaO S. 284 ff). Kompliziert James Goldschmidt Ungerechtfertigter Vollstreckungsbetrieb (1910) S. 73 ff, der nicht nur den Vollstreckungsbetrieb des Gläubigers als privatrechtswidrig, sondern auch die Zwangsvollstreckung des Staates als rechtswidrig bezeichnet u n d nur die Vollstreckungshandlungen der dem Vollstreckungsbefehl gehorchenden Vollzugsorgane als rechtmäßig ansieht — ein wohl unhaltbares Ergebnis (dazu kritisch Sauer aaO S. 286). (49)

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2. Abschnitt. Die Tat

die Strafhaft als rechtswidrige Freiheitsberaubung 208 . Die letzte Auffassung führt dann zu der etwas rabulistisch erscheinenden Überlegung, daß zwar „die Selbstfcefreiung des Unschuldigen von der über ihn verhängten Strafe nicht rechtswidrig ist", daß aber deshalb noch nicht die Selbstverteidigung gegen den die Strafe vollziehenden Beamten erlaubt, d. h. „die Kehrung des unrechtmäßigen Zustands durch Notwehrgedeckt sein kann" 2 0 9 . 106 Solchen Konstruktionen und Sophismen gegenüber gilt die Feststellung Eberh. Schmidts: „Alle Versuche, die Rechtswidrigkeit der Vollstreckungshandlung im Hinblick auf ihre vom Recht mißbilligte Einwirkung auf die Rechtsgüter des zu Unrecht Verurteilten in eine Rechtmäßigkeit umzuwandeln, müssen als gescheitert angesehen werden" 2 1 0 . Die Strafhaft eines Unschuldigen stellt danach eine rechtswidrige Freiheitsberaubung i. S. d. § 239 StGB und zugleich einen rechtswidrigen Angriff i. S. d. § 32 StGB dar. Die Vollzugsbeamten handeln aber — wie bei der Befolgung rechtswidriger Befehle — bei der Vollstreckung formell rechtskräftiger Entscheidungen grundsätzlich nicht schuldhaft^ 107

Den damit naheliegenden Schluß, daß gegen den rechtswidrigen Vollzug eines solchen Urteils Notwehr in Betracht kommt, wagt allerdings auch Eberh. Schmidt noch nicht zu ziehen, meint vielmehr insoweit „eine sinngemäße Einschränkung des § 53 StGB" (jetzt: § 32) annehmen zu müssen. Denn „Sinn allen Selbsthilferechts" sei, dem einzelnen nur dort eine eigenmächtige Rechtsverteidigung zu gestatten, wo der Staat mit seinen Vollzugsorganen nicht eingreifen könne, mit der Vollstreckung sei er aber gerade zur Stelle und am Werke 212 .

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Die Folgerung ist jedoch unabweisbar, daß eine Duldungspflicht des zu Unrecht Verurteilten nicht uneingeschränkt zu bejahen, ein Notwehrrecht gegen die rechtswidrige Vollstreckung gewisser Fehlurteile nicht rundweg zu verneinen ist. Denn richtigerweise kann die Rechtskraft nur in der Regel die Fehler einer Entscheidung heilen, nicht aber ausnahmslos alle „Justizirrtümer" decken. Daß es formell rechtskräftige Fehlurteile gibt, die — ähnlich den unverbindlichen rechtswidrigen Befehlen — nur scheinbar bindend, in Wirklichkeit jedoch ihres großen Unrechts wegen nichtig (unwirksam) sind, ist heute weitgehend 213 in Rechtsprechung 214 und 208 So insbesondere Beling Grenzlinien zwischen Recht und Unrecht in der Ausübung der Strafrechtspflege (1913) S. 32 ff; ders. Dtsch. Reichsstrafprozeßrecht (1928) S. 273 (dagegen insoweit zutreffend Sauer aaO S. 287/288); ähnlich Sax Das unrichtige Sachurteil als Zentralproblem der allgemeinen Prozeßrechtslehre, ZZP 67 (1954) (21) 30, 36, 42. 209 Beling Grenzlinien zwischen Recht und U n r e c h t . . . S. 33 Anm. 1), 31 Anm. 2)/32. 210 Eberh. Schmidt Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil I, 2. Aufl. (1964) Rdn. 285 (S. 166/167) (Hervorh. vom zitier. Verf.); ebenso Niese Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950) S. 113 ff, 118, 123/124; Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. (1968) S. 385; Roxin Strafverfahrensrecht, 17. Aufl. (1982) S. 280 (§ 50 Β I 3). 211 So ausdrücklich Eberh. Schmidt aaO Rdn. 285 (S. 167); s. auch Adolf Arndt SJZ 1947 Sp. 330, 335; Fr.-Chr. Schroeder JZ 1974 113, 117 1. Sp. 212 Eberh. Schmidt aaO Rdn. 286 (S. 167); ebenso Niese aaO S. 123. 213 Ablehnend jedoch ζ. B. Graf zu Dohna Das Strafprozeßrecht, 3. Aufl. (1929) S. 220/221; Karl Schäfer Strafprozeßrecht (1976) Einl. Kap. 16, Rdn. 23 (S. 311). 214 Anerkannt im Prinzip RMilG 8 115, 127; RGSt. 40 271, 273; 71 377, 378, 381; 72 77 (zur gleichen Frage schon RG JW 1930 1872); 75 56, 59; BGH bei Dallinger M D R 1954 400; BGH(St) NJW 1960 2106, 2108 r. Sp.; JZ 1963 289; BGHZ 42 360, 363; BayObLGSt. 17 (1918) 113, 115; OLG Bremen JZ 1958 546 mit Anm. Spendet; auch im konkreten Fall RGSt. 54 11 (hier freilich gerade problematisch, s. anders RGSt. 75 56); RG(Z) JW 1936 2714; K G NJW 1954 1901; ROW 1957 85/86; OLG Braunschweig M D R 1947 37, 38

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Notwehr (Spendei) 215

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Rechtslehre anerkannt, wenngleich im einzelnen umstritten . Solchen Entscheidungen gegenüber besteht dann auch folgerichtig keine Duldungspflicht, sondern ein Notwehrrecht des Verurteilten 217 . Zunächst sind notwehrfähig Terror- und ScAa/n/urteile einer Justiz, die im Dien- 109 ste einer Despotie steht und drakonische Strafen schon zur Ahndung geringfügiger Verstöße oder unter Verletzung elementarer Rechtsprinzipien verhängt oder auch im Zivilrecht „gesetzliches Unrecht" anwendet. Beispiele sind Todesurteile oder auf langjährige Freiheitsstrafe lautende Entscheidungen der Sondergerichte oder des Volksgerichtshofs unter dem NS-Regime wegen kritischer Äußerungen, Hörens ausländischer Sender oder „Rassenschande" (ebenso Adolf Arndt SJZ 1947 Sp. 330, 333/334 ob., 336; s. noch kurz OLG Freiburg i. Br. HESt. 2 200, 203 ob. i. V. m. 201 geg. Ende), ferner gewisse Urteile unter dem SED-Regime (KG NJW 1954 1901). Gegen Gerichtsentscheidungen des letzteren ist Notwehr ausdrücklich anerkannt worden (KG ROW 1957 85/86; Polzin ROW 1957 86 r. Sp.; W. Rosenthal ROW 1957 214; ders. ROW 1959 82; Sax JZ 1959 385, 389 1. Sp.; nicht eindeutig BGH ROW 1958 33, 34 r. Sp.; näher zu den Fällen schon Rdn. 33 ff). Ein rechtswidriger Angriff auf Leben oder Freiheit und Ehre des Verurteilten durch Erlaß und Vollzug des Urteils ist hier gegeben, ob der Richter nun verblendet oder sogar vorsätzlich eine derartige dem Recht widerstreitende Entscheidung gefällt hat. Daß der Richterspruch keine Rechtsgeltung und Duldung beanspruchen kann, wenn er nicht nur eine rechtswidrige, sondern auch strafbare Handlung darstellt, sollte allerdings besonders einleuchtend sein 2 1 8 . So hätte der Verurteilte gegen einen versuchten „Justizmord durch Rechtsbeugung", z. B. auf Grund eines Todesurteils wegen „Rassenschande" 219 oder wegen eines anderen fragwürdigen „Delikts", Notwehr gegen den Spruch- oder Scharfrichter und andere Vollzugsbeamte üben, etwa den ihn festnehmenden Polizeibeamten niederschlagen 220 oder den ihn festhaltenden

215 Beling Dtsch. Reichsstrafprozeßrecht (1928) S. 202 ff; Rob. ν. Hippel Der deutsche Strafprozeß (1941) S. 375 f ; Sauer Allgemeine Prozeßrechtslehre (1951) S. 220, 251; Eberh. Schmidt Lehrkommentar, Teil I, 2. Aufl. (1964) Rdn. 252 ff (S. 150 0 ; Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. (1968) S. 257 zu b); Karl Peters Strafprozeß, 3. Aufl. (1981) S. 494 ff (§ 55); Spendet Materiellrechtliche Straffrage und strafprozessuale Teilrechtskraft ZStrW 67 (1955) S. 556, 561; ders. Anm. JZ 1958 547; Luther Zur Nichtigkeit von Strafurteilen . . . , ZStrW 70 (1958) 96 ff 99; s. dagegen Grünwald Die Frage der Nichtigkeit von Strafurteilen, ZStrW 76 (1964) 255 ff. 216 ζ . B. zum Problem zweier formell rechtskräftiger Entscheidungen in derselben Sache (s. LG Ratibor nach Goldfeld und Stelling DJZ 1902 228, 316 und 456) einerseits Graf zu Dohna Das Strafprozeßrecht, 3. Aufl. (1929) S. 222, andererseits Spendei JZ 1958 547, 548 f. 217 Nicht zuletzt wegen dieser Konsequenz will Graf zu Dohna aaO S. 222 ob. den Begriff der Urteilsnichtigkeit nicht anerkennen. 218 Anders ζ. B. Sauer Grundlagen des Prozeßrechts, 2. Aufl. (1929) S. 472: sogar „die auf einem Verbrechen (selbst auf Rechtsbeugung)" beruhenden Urteile seien „nicht unwirksam". 219 Zu einem solchen selbst nach den damaligen NS-Gesetzen rechtswidrigen und strafbaren Schandurteil in dem Nürnberger Fall Katzenberger Spendet Justizmord durch Rechtsbeugung, NJW 1971 537. 220 Vgl. den Fall des OLG Kiel SJZ 1947 Sp. 323, in dem es allerdings äußerst problematisch ist, ob das Todesurteil wegen Fahnenflucht, wie Adolf Arndt SJZ 1947 Sp. 337 meint, auf Grund von Hitlers völkerrechtswidrigem Angriffskrieg nicht als rechtsgültig und daher der Verurteilte nicht als duldungspflichtig anzusehen ist. (51)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Gefängnisbeamten überwältigen und fesseln dürfen 2 2 1 , wenn dies das einzige und letzte Mittel war, der widerrechtlichen Inhaftierung oder Hinrichtung zu entgehen 2 2 2 110 Sodann sind auch im Rechtsstaat gewisse Urteile als nichtig und u. U. als notwehrfähig anzusehen, so Entscheidungen, die etwa nach einem nicht oder nicht mehr geltenden Gesetz ergangen sind (ebenso KG JW 1932 1774), ζ. B. (tatsächliche Fälle) wegen versuchter Untreue (s. Spendel ZStrW 67 [1955] 556, 561) oder wegen versuchter uneidlicher Falschaussage. Das muß insbesondere für Richtersprüche gelten, die aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen krasse „Justizirrtümer" darstellen und einen Unschuldigen zu einer lebenslangen oder hohen Freiheitsstrafe verurteilen. Da hier der Vollzug eines solchen Fehlurteils dem Verurteilten einen nicht oder kaum wiedergutzumachenden Schaden zufügen und ein unerträgliches Opfer zumuten würde, ist insoweit eine „sinngemäße Einschränkung" nicht des Notwehrrechts, sondern der Rechtskraft anzunehmen, sofern nicht im Wiederaufnahmeverfahren Abhilfe geschaffen werden kann. Die Notlösung, den Widerstand des Betroffenen nach den Notstandsregeln der §§ 34, 35 StGB zu rechtfertigen oder zu entschuldigen (zu dieser Frage einerseits OLG Kiel SJZ 1947 Sp. 330, andererseits BGH ROW 1958 33), ist abzulehnen, weil die Vollstreckung des schweren Fehlurteils nicht als rechtmäßiger Akt, sondern als rechtswidriger Angriff anzusehen ist (s. Rdn. 106). Im Interesse der Rechtssicherheit ist zwar noch eine rechtskräftige Entscheidung zu respektieren und ihr dem materiellen Recht widersprechender Vollzug zu dulden, wenn etwa der Angeklagte fälschlich wegen Untreue statt wegen Betrugs zu einem Jahr, wegen Totschlagsversuchs statt wegen Körperverletzung zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, ja selbst dort, wo er ganz zu Unrecht als Unschuldiger einem kürzeren Freiheitsentzug unterworfen wird ; denn hier kann die mögliche Entschädigung für unschuldig erlittene Strafhaft den rechtswidrigen staatlichen Eingriff in seine Freiheit und Ehre einigermaßen wiedergutmachen. Im Falle der lebenslangen oder hohen Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung das Leben des Unschuldigen weitgehend zerstört, muß aber die materielle Gerechtigkeit der formellen Rechtssicherheit vorgehen 223 . Der immer wieder beschworene „Rechtsfrieden" 2 2 4 und die viel berufene Staatsautorität würden hier mehr durch die Anerkennung als durch die Preisgabe der materiellen Rechtskraft leiden, die nicht zum juristischen Fetisch werden darf 2 2 5 . Es ist bedrückend, wie leicht viele Juristen dem {/«schuldigen und im Recht Befindlichen die Hinnahme

221 Vgl. den Fall des BGH ROW 1958 33, in dem die zum Tode führende Niederschlagung und Knebelung des Justizwachtmeisters zwecks Flucht schon in der U-Haft vor dem drohenden Urteil erfolgte. 222 Ebenso W. Rosenthal ROW 1957 214 gegen Polzin ROW 1957 86 r. Sp. unt.; ders. ROW 1959 82; Sax JZ 1959 385, 389 1. Sp. 223 Anders z.B. wieder Sauer Grundlagen des Prozeßrechts, 2. Aufl. (1929) S. 472: keine Unwirksamkeit des Urteils, „mag der Verstoß in tatsächlicher Hinsicht auch noch so gewaltig sein . . . " 224 So OLG Kiel SJZ 1947 Sp. 330 a. E. und neuerdings wieder Karl Schäfer Strafprozeßrecht (1976) = Löwe-Rosenberg Die Strafprozeßordnung, 23. Aufl. I (1976) Einl. Kap. 12, Rdn. 54 und 55. 225 Auch Adolf Arndt SJZ 1947 Sp. 335/336 wendet sich mit Recht gegen eine „magische Wirkung" der Rechtskraft. (52)

Notwehr (Spendei)

§32

von Unrecht — und das noch im N a m e n des Rechts! — z u m u t e n 2 2 6 , und zwar selbst f ü r die Extremfälle des unschuldig zum Tode oder zu lebenslanger Strafhaft Verurteilten, der angeblich im Interesse der Rechtssicherheit die Strafvollstreckung dulden m u ß u n d sich nicht gegen den Strafvollzugsbeamten wehren darf, so für das Todesurteil O L G Kiel SJZ 1947 Sp. 323, 330: „Auch wer durch unrichtiges Urteil zum Tode verurteilt ist, darf nicht" (seil.: um sich seiner Ergreifung und Hinrichtung zu entziehen) „den Vollzugsbeamten töten" (dagegen auch Adolf Arndt in seiner krit. Anm. SJZ 1947 Sp. 330, 335), oder für die lebenslängliche Freiheitsstrafe manche Vertreter der Rechtslehre 2 2 7 . Der durchschnittliche Staatsbürger und Rechtsgenosse ist jedoch kein Sokrates, der mit philosophischer Gelassenheit das Fehlurteil trägt u n d den Schierlingsbecher t r i n k t 2 2 8 . Die gegenteilige, eine Duldungspflicht bejahende Auffassung führt im wahrsten 111 Sinne des Wortes zu einer Perversion, d. h. Verkehrung und Verderbnis des Rechts. Sie kann auch nicht mit dem gern gebrachten Hinweis auf den Vollstreckungsbeamten, der das Fehlurteil wenn schon rechtswidrig, so doch schuldlos vollzieht, der aber nach O L G Kiel SJZ 1947 Sp. 330 „mit allen Mitteln des Staates bei dem Vollzug geschützt werden m u ß " , gerechtfertigt werden. D e n n es ist „verkehrt", mehr die Sicherung des Beamten, der das Fehlurteil vollstreckt u n d damit i/wrecht verwirklicht, als die Sicherheit des Bürgers, der unschuldig verurteilt und in seinem Recht verletzt wird, im Auge zu haben, wie es das O L G Kiel SJZ 1947 Sp. 330 a. E. tut, nach dem für „die Idee des Rechtsstaates" (?!) „und die Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens" (?!) „das geringere Übel in Kauf genommen werden muß, daß nämlich in Ausnahmefällen auch fehlerhafte" (seil. : Todes-) „Urteile vollstreckt werden." Unter einem Unrechtsregime verdient das Vollzugsorgan schon als mehr oder minder willfähriger Scherge des Systems keinen größeren Schutz als der verurteilte Bürger 2 2 9 . Aber auch in einem Rechtsstaat hat der Beamte immerhin freiwillig sein nicht ungefährliches Amt übernommen, das ihn im Falle eines krassen Fehlurteils zum Werkzeug des ¿/«rechts werden läßt, während der Betroffene sich unfreiwillig in eine Lage versetzt sieht, die ihn zum Objekt eines rechtswidrigen Eingriffs und

226 Reichlich gekünstelt ist es, wenn Eberh. Schmidt Lehrkommentar Rdn. 286 (S. 167 Anm. 511) — in Auseinandersetzung mit Karl Schäfer in Löwe-Rosenberg Die Strafprozeßordnung, 21. Aufl. I (1963) Einl., S. 92 (s. jetzt dens. in Löwe-Rosenberg^ ι [1976] Einl. Kap. 12, Rdn. 55 [S. 184]) — dem (angeblich nie notwehrfähigen) rechtswidrigen Vollzug des Fehlurteils keine Duldungspflicht des Angegriffenen (Verurteilten) i. S. eines rechtlichen „Dulden-Sollens", sondern nur ein tatsächliches „Dulden-Müssen" gegenüberstellt (insoweit treffend die Kritik von Karl Schäfer aaO). 227 So z. B. Sax Das unrichtige Sachurteil als Zentralproblem der allgemeinen Prozeßrechtslehre, ZZP 67 (1954) 21, 30, der, obwohl er von der „ Ungeheuerlichkeit dieser Situation", daß auch der unschuldig Verurteilte die lebenslange Strafhaft dulden müßte, spricht, nach einer „Rechtfertigung" des für ihn selbstverständlichen, in Wahrheit jedoch unerträglichen Ergebnisses sucht. 228 Kohler Das materielle Recht im Urteil, Franz Klein-Festschr. (1914) S. 1, 6, sieht „in diesem Verhalten des Sokrates" nur „eine moralisierende Unnatur", nicht „Größe", sondern „Abgeschmacktheit und Verkehrtheit" darin, „einem Popanz von richterlichem Urteil" sein Leben widerstandslos zu opfern. Unausgesprochen bleibt, ob er bei solch einem strafrechtlichen Fehlurteil, das nach ihm „kein Verpflichtungsverhältnis des Bestraften" (zur Duldung des Strafvollzugs?!) „schafft", Notwehr gegen die Vollzugsorgane zulassen will. 229 Vgl. dazu auch die Erwägungen von Fr.-Chr. Schroeder Zur Strafbarkeit der Fluchthilfe, JZ 1974 113, 117 1. Sp. und schon oben Rdn. 35. (53)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Angriffs macht und zur Verteidigung seines Rechts zwingt. In einer solchen tragischen Ausnahmesituation hat ebenfalls der Schutz des unschuldig Verurteilten den Vorrang vor dem des Vollzugsorgans, da Recht gegen Unrecht steht. Wo der Staat die Rechte und Güter eines Bürgers nicht allein nicht wahrt, sondern sogar selbst kraß bedroht, bleibt dem einzelnen nur das Recht der Selbstverteidigung.

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3. Die Gegenwärtigkeit des Angriffs Aus der Notwendigkeit, die Selbstverteidigung zu begrenzen und grundsätzlich nur da zuzulassen, wo der Rechtsschutz des Staates fehlt oder nicht in der vorgeschriebenen Form gewährt werden kann, folgt die Beschränkung auf die Gegenwärtigkeit des Angriffs. Bereits in der Kanonistik ist als eins der entscheidenden Einund Abgrenzungskrìterìen für die Notwehr das der Zeit, d. h. des engen zeitlichen Zusammenhangs von Angriff und Abwehr (Verteidigung „in continenti, non ex intervallo") herausgearbeitet worden 2 3 0 .

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a) Begriff des gegenwärtigen Angriffs: Dieses Merkmal ist aber — entsprechend der Doppelbedeutung des Wortes „gegenwärtig" oder „präsent", das sowohl derzeitig (jetzt) als auch anwesend (zugegen) heißen kann — nicht nur im zeitlichen, sondern auch im räumlichen Sinn zu verstehen 23 1. Ebensowenig wie der auf den feindlichen Flottenstützpunkt zielende und in einigen Tagen drohende Angriff einer über den Ozean herandampfenden Kriegsflotte (Pearl Harbor-Fall) gegenwärtig ist, solange sie nicht am Horizont auftaucht und die Hafenanlagen und die davor ankernden Schiffe unter Feuer nehmen kann, ist es der dem Sheriff drohende Angriff des im Zuge anreisenden Gangsters, der in dem Städtchen mit seinem Gegner blutig abrechnen will (Fall in dem bekannten Western „12 Uhr mittags"). Eine gewisse engere räumliche Beziehung zwischen Angriffsmittel und Angriffsobjekt ist also für den zeitlichen Zusammenhang zwischen Angriff und Abwehr in der Regel notwendig. Der Säbelhieb nach dem Bedrohten „aus sicherer Entfernung" ist noch kein gegenwärtiger Angriff. Etwas anderes gilt, wenn die Schnelligkeit des Angriffsmittels den großen räumlichen Abstand zwischen Angreifer und Angegriffenem überbrückt: Wie bereits die Zieleinstellung der den bedrohten Erdteil in wenigen Minuten erreichenden Interkontinentalraketen ein gegenwärtiger Angriff ist, so das Anlegen des mit Zielfernrohr versehenen weittragenden Gewehres durch den Berufskiller. Angreifer und Verteidiger brauchen auch nicht immer selbst am „Tatort" anwesend zu sein. Der durch eine Höllenmaschine (Angriffsmittel) zu bewerkstelligende Angriff ist trotz Abwesenheit des Angreifers für den Bedrohten (Angriffsobjekt) ebenso gegenwärtig, wie es der Einbruchsversuch (Angriffshandlung) in die Villa (Angriffsobjekt) trotz Abwesenheit des Angegriffenen (verreisten Eigentümers) ist. 114 Der gegenwärtige Angriff steht damit in begrifflichem Gegensatz zum vergangenen (abgeschlossenen) und zum zukünftigen (bevorstehenden) Angriff. Dem ersteren gegenüber bleibt dem Betroffenen nur das „Nach-sehen": der erfolgte Angriff ist nicht mehr abzuwenden, sondern höchstens (unzulässigerweise) zu vergelten (RGSt. 230 Kuttner Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. (1935) S. 344 ff. 231 Ebenso Riso S. 20 ob.; Schwartz Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (1914) § 53 a. F. Anm. 2.e) (S. 169); Niethammer in v. Olshausens Kommentar, 12. Aufl. (1942) § 53 a. F. Anm. 9 (S. 330). Dagegen v. Alberti S. 35; Schleifenbaum StrAbh. H. 54 (1904) S. 51; Rosenfelder S. 23 f; Jesse S. 11. (54)

Notwehr (Spendei)

§32

29 240, 241 für den Fall eines bereits gefallenen Schimpfwortes, also einer bereits geschehenen Beleidigung und damit eines abgeschlossenen Angriffs); dem letzteren gegenüber gibt es für den Bedrohten nur „ Kor-sicht" : dem künftigen Angriff ist noch nicht in Selbstverteidigung zu wehren, sondern höchstens vorzubeugen. Dies kann einmal durch /tecA/sschutz geschehen, der sofort, noch vor dem aggressiven Verhalten, wirkt und als Präventionsmittel einen künftigen (möglichen) Angriff verhütet, z. B. durch eine Unterlassungsklage gegen zu erwartende Beeinträchtigungen, durch Unterbringung eines Gewalttätigkeiten androhenden Alkoholikers in einer Anstalt, durch Festnahme eines Anarchisten usw. Zum andern kann dies durch tatsächliche Sicherheitsvorkehrungen erfolgen, die erst später, bei einem gegenwärtigen Angriff, wirksam werden und dann dem Angreifer den Eingriff in fremde Rechtsgüter verwehren, z. B. durch staatliche Gewährung von Polizeischutz gegen drohende Terroristenanschläge oder durch private Anbringung von Selbstschutzanlagen wie Selbstschüssen, Fußangeln, Schlageisen, elektrisch geladenen Zäunen usw. In diesem zweiten Fall werden die Präventivmittei also im Augenblick des Angriffs zu Defensivmittein232. Denn wie den Angriff kann man die Verteidigung vorbereiten (so schon Binding Handb. S. 748 zu c) und darf dies letztere grundsätzlich tun 2 3 3 , soweit nicht — wie damals im Fall der RGSt. 65 159 — eine solche Präventivmaßnahme (In-der-Hand-Halten eines offenen Messers bei einer Demonstration zur Abwehr befürchteter Angriffe) gesetzlich verboten ist. Problematisch bei solchen Anlagen, insbesondere bei Selbstschüssen, ist ihre Erforderlichkeit (s. dazu nachfolgend Rdn. 248 ff), da sie meist zu starke Abwehrmittel sind und über das Abwehrziel „hinausschießen" ; wegen ihrer Gefährlichkeit war früher die Anlegung von Selbstgeschossen, Schlageisen oder Fußangeln an bewohnten oder von Menschen besuchten Orten, soweit sie polizeilich nicht genehmigt war, an sich strafbar (s. den aufgehobenen Übertretungstatbestand § 367 I Nr. 8 StGB); ihr Wirksamwerden konnte und kann aber durch Notwehr gerechtfertigt sein 2 3 4 . Gegenwärtig ist demnach der gleich oder gerade beginnende, der bereits begon- 115 nene und der noch nicht beendete rechtswidrige Angriff. Unproblematisch ist dies, soweit er stattfindet, der Angreifer z. B. auf sein Opfer einschlägt oder es mit einer anhaltenden Schimpfkanonade überschüttet 235 , die Diebesbeute in Säcke verstaut oder ein fremdes Jagdrevier mit schußbereitem Gewehr oder anderem Jagdgerät durchstreift (RGSt. 55 167; 46 348, 350). Der Angriff dauert insbesondere bei den „Dawe/delikten" (z. B. Freiheitsberaubung, Hausfriedensbruch, verbotener Waffenbesitz) solange an, wie der dadurch geschaffene rechtswidrige Zustand währt (z. B. die tage- oder wochenlange Einsperrung) 236 ; hier ist Notwehr nicht nur gegen die

232 Sommerlad GerS 39 (1887) 359, 387; Rosenfelder S. 25 f; Jesse S. 56. 233 RGSt. 65 159, 160 vorletzt. Abs. a. E. Zum Fall einer rechts widrigen Vorbereitung einer zukünftigen Abwehr- (nicht: Angriffs-!)handlung s. RGSt. 48 215, 217 letzt. Abs. 234 Ebenso Frank § 53 a. F. Anm. IV (S. 164) und § 367 I Nr. 8 a. F. Anm. VIII (S. 831). Nach Hellm. Mayer AT S. 205 ist die „vorbereitete Abwehr durch scharfe Hunde oder mechanische Abwehrmittel, z. B. Legschüsse", auch vor Aufhebung des § 367 I Nr. 8 StGB, zwar „keine Notwehr, aber gewohnheitsrechtlich erlaubt und nach Analogie der Notwehr zu beurteilen". 235 Binding Handb. S. 747 zu b); Schmidhäuser AT S. 347 unt.; RGSt. 21 168, 171; RG(St) DJZ 1927 386 (notwehrfähige andauernde Beleidigung); RGSt. 29 240, 241 (nicht mehr abwehrfähige beendete Beleidigung). 236 Frank § 53 a. F. Anm. 1.1 a. E. (S. 160); kritisch zu den „Dauerdelikten" Supperl S. 274 ff, 276. (55)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Begründung, sondern auch gegen die Aufrechterhaltung der rechtswidrigen Sachlage zulässig 237 . 116 Damit nicht zu verwechseln sind die oft höchst unglücklich sogenannten „Zuständsdelikte" (ζ. B. Doppelehe, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Diebstahl, Raub) 2 3 8 , bei denen nur die Herbeiführung des rechtswidrigen Zustandes zur Abwehr berechtigt, weil mit dem Abschluß der Angriffshandlung und Eintritt des Erfolges auch der darin liegende Angriff beendet ist, obwohl die widerrechtliche Sachlage (Zweitehe, Gesundheitsbeschädigung, Sachzerstörung, Gewahrsamsverlust) anhält. Allerdings kann ζ. B. mit dem beendeten Diebstahl der Angriff wohl auf den Gewahrsam, aber noch nicht auf das Eigentum abgeschlossen sein. Der Eigentümer, der in einer Autoreparaturwerkstatt seinen gestohlenen Wagen wiederfindet, darf dessen Demontage durch den diebischen Monteur nach § 32 StGB gewaltsam verhindern 2 3 9 . 117

Fragwürdig sind dagegen Anfang und Ende des rechtswidrigen Angriffs, also die Abgrenzung des gegenwärtigen von dem erst zukünftigen und dem schon vergangenen Angriff. Dabei muß das aggressive Verhalten, soweit dadurch die Erfüllung eines Straftatbestandes in Betracht kommt, weder das FmwcAsstadium erreicht haben 2 4 0 noch beim Vollendungssidiàmm stehen geblieben sein 2 4 1 .

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b) Beginn des Angriffs: Der Angriff beginnt bereits dann, wenn er jeden Augenblick verübt zu werden droht, d. h., wenn das Verhalten des Angreifers das Rechtsgut eines anderen gefährdet, dessen Verletzung also unmittelbar und nicht erst in einem größeren zeitlichen Abstand bevorsteht242. Das ist der Fall, sobald die gefährliche Handlung oder Unterlassung „unmittelbar in eine Verletzungshandlung umschlagen" oder übergehen kann, so daß „durch Hinausschieben der Abwehrhandlung" deren Erfolg, die Verhinderung der Schädigung, in Frage gestellt würde (RGSt. 63 337, 339 unt., wo aber aus diesem Satz zu weitgehende Folgerungen gezogen werden! Ferner RG HRR 1940 Nr. 1102; BGH NJW 1973 255). Für die Gegenwärtigkeit des Angriffs entscheidend ist nicht erst die Vornahme der Verletzungshandlung, sondern schon der Eintritt der durch das Angreiferverhalten geschaffenen bedrohlichen Lage (BGH NJW 1973 255).

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Gegenwärtige rechtswidrige Angriffe auf Freiheit, Leib oder Leben des jeweils Bedrohten, in denen sogar Nötigungs-, Körperverletzungs- oder Tötungsversuche liegen, sind z. B. : Das Rütteln an der Wagentür des Verkehrssünders, um diese zu öffnen und den Fahrer herauszuzerren oder zu schlagen, etwa unter drohenden

237 Mezger Lehrb. S. 195; Sch.-Schröder-Lenckner §32 Rdn. 15; Kühl Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts (1974) S. 157. 238 Zur Unterscheidung von „Dauer-" und „Ziwtaniifdelikten" Frank § 74 Anm. V.3.c) (S. 242); v. Liszt-Schmidt AT S. 351 ; Rob. ν. Hippel II S. 532 Anm. 4); Sch.-Schröder-Stree Rdn. 81 u. 82 vor § 52; kritisch hierzu Hruschka Die Dogmatik der Dauerstraftaten und das Problem der Tatbeendigung GA 1968 193, 195. 239 Lampson S. 59, 80; auch Schollmeyer S. 7, 14. 240 Binding Handb. S. 747; Rob. ν. Hippel II S. 209; Schmidhäuser AT S. 347 (9/94); Welzel S. 85. 241 RGSt. 55 82, 84 ob. mit Anm. Honig JW 1921 35; R G Z 111 370, 371 ; Rosenfelder S. 6, 15 ff; v. Liszt-Schmidt AT S. 196; Focke StrAbh. H. 403 (1939) S. 44/45; Welzel S. 85; Jescheck AT S. 274 (§ 32 II 1 d) ; Schmidhäuser AT S. 347 ; näher zu dieser Frage Kühl Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdeliktes (1974) S. 151 ff, 159. 242 Vgl. ζ. B. Binding Handb. S. 746; Focke StrAbh. H. 403 (1939), S. 25, 44. (56)

Notwehr (Spendei)

§32

Zurufen, das Ausholen zum Schlag, womöglich mit einem Gegenstand (RG HRR 1940 Nr. 1102), der Griff des Feindes zur Brusttasche, in der seine geladene Pistole steckt (BGH NJW 1973 255 r. Sp.), das Losgehen dreier selbst durch Warnschüsse nicht zu beeindruckenden Männer auf den vierten, wobei einer einen Schraubenzieher in der Hand hält und ein anderer vom „Blutfließen" spricht (BGHSt. 25 229, 230/231; s. auch BGH(Z) VersR 1971 629, 630 zu b). Solchen Angreifern darf der Bedrohte in den beiden ersten Fällen z. B. mit einem Kinnhaken, in den beiden letzten auch mit einem gezielten Schuß zuvorkommen. Der Angegriffene braucht nicht etwa zu warten, bis er geschlagen wird, was schon früher in Art. 140 der Carolina von 1532 ausdrücklich gesetzlich ausgesprochen war (s. auch den Hinweis des BGH NJW 1973 255 1. Sp.). Da durch die Notwehr eine Rechtsverletzung verhindert werden soll, genügt bereits eine nahe Gefährdung, d. h. eine drohende Verletzung, um darin einen gegenwärtigen Angriff auf das bedrohte Gut zu sehen. Dagegen ist eine solche unmittelbare Gefährdung noch nicht in dem Nichtweg- 120 werfen bzw. Mit-sich-Führen des Gewehres durch den vor dem Förster fliehenden Wilddieb zu erblicken, wenn dieser keine Anstalten macht zu schießen 243 . Hier, wo der Waffenbesitzer nicht auf den Jagdbeamten zu-, sondern von ihm wegeilt, liegt ein Schußwaffengebrauch und somit ein Angriff des Wilderers noch zu sehr im Zukünftigen und Ungewissen, ist also die Gefährlichkeit des Flüchtenden noch zu unbestimmt und (räumlich wie zeitlich) zu „entfernt" 2 4 4 , als daß man in dem Verhalten des Davonlaufenden einen gegenwärtigen Angriff sehen dürfte 2 4 5 . Mit der wachsenden Entfernung des potentiellen Angreifers vom möglichen „Tatort" wird nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Gegenwart eines etwaigen Angriffs immer mehr aufgehoben, da dieser schwieriger und unwahrscheinlicher wird 2 4 6 . Zukünftig würde ein Angriff sein, wenn ein militärischer Geheimnisverrat durch 121 einen nach vorläufiger Festnahme entlassenen Spitzel möglich wäre, dessen Erschießung deshalb nicht mit Notwehr gerechtfertigt werden kann (RGSt. 63 215, 222; 64 101, 103), oder wenn eine Gewalttätigkeit gegen einen unter Polizeischutz stehenden Demonstrationszug nicht auszuschließen ist (RGSt. 65 159, 160). Nicht gegenwärtig wäre ferner ein Angriff, der erst durch das berechtigte Verhalten des Gefährdeten veranlaßt würde, so z. B. die zu befürchtende Tätlichkeit des Ehemannes, falls die Ehefrau seine geplante Brandstiftung anzeigt (Fall in RGSt. 43 342, in dem die Unterlassung einer Anzeige gemäß § 138 StGB zur Vermeidung ehemännli-

243 Ebenso RG(Z) JW 1924 1968 mit zustimm. Anm. Kern; BGH(Z) VersR 1953 146, 147 1. Sp. (für den Fall eines unter Mitnahme seiner Waffe flüchtenden Soldaten, der beim Wildern ertappt worden war); im wesentlichen auch Baldus LK9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 6; Sch.-Schröder-Lenckner § 32 Rdn. 14! Anders und zu weitgehend (bereits gegenwärtiger Angriff) RGSt. 53 132, 133 unt.; 67 337, 339/340; OLG(Z) Karlsruhe HRR 1931 Nr. 1130 (wo der Wilddieb aber zunächst auf den Jagdaufseher angelegt hatte, bevor er mit geladenem Gewehr in den Wald hineinlief). 244 Vgl. auch RG(Z) SeuffArch. 1926 54, „die unbestimmte Möglichkeit eines etwaigen späteren Angriffs" sei noch kein gegenwärtiger Angriff des Fliehenden auf den Verfolger. 245 Eine andere Frage ist natürlich, ob und inwieweit der Schuß des Forstbeamten auf den fliehenden Wilderer unter dem Gesichtspunkt eines Festnahmerechls gerechtfertigt sein könnte, s. auch Kern in Anm. zu RG(Z) JW 1924 1969 1. Sp. 246 Läuft der Wilderer nicht weiter weg, sondern versteckt sich im Dickicht und schießt noch daraus, so geht sein möglicher Angriff in einen tatsächlichen, sein zukünftiger in einen gegenwärtigen über, weil er damit das Leben des Försters unmittelbar gefährdet. (57)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

eher Mißhandlungen nicht durch Notwehr gerechtfertigt, sondern nur durch Notstand i. S. d. § 35 StGB entschuldigt sein konnte). 122 c) Beendigung des Angriffs: Der Angriff dauert noch an und ist noch nicht beendet, solange die Verletzung des fremden Rechtsguts nicht endgültig eingetreten ist, sondern noch abgewendet werden kann. Soweit er den bereits herbeigeführten Schaden vergrößert und intensiviert, ist er ebenfalls noch gegenwärtig. Umgekehrt ist der Angriff abgeschlossen und vergangen, sobald die von dem Angreifer ausgehende Gefährdung entweder für das bedrohte Rechtsgut endgültig abgewendet oder aber in dessen Verletzung unwiderruflich übergegangen ist (RGSt. 55 82, 84). Wenn ein Geistlicher in seiner Strafpredigt gegen einige Kirchenbesucher fortlaufend kränkende Worte gebraucht, ist dieser Angriff auf die Ehre der Anwesenden gegenwärtig und notwehrfähig, solange noch weitere beleidigende Äußerungen zu gewärtigen sind (RGSt. 21 168, 171) 247 . Ebenso war der Eigentümer zur „Abwehr eines noch fortdauernden gegenwärtigen Angriffs" befugt, soweit ihm die mit der Beute flüchtenden Diebe (räumlich) „erreichbar blieben" (RGSt. 55 82, 84; RGZ 111 370, 371). Das Gleiche gilt, wenn jemand in einem abgezäunten Wildpark mit einigen dort aufgelesenen, d. h. gestohlenen, weil dem Waldeigentümer gehörenden Hirschstangen angetroffen wird, so daß sie ihm der Waldaufseher gewaltsam abnehmen darf (RGSt. 60 273, 277). 123

Die Gegenwärtigkeit des Angriffs ist insbesondere auch für das kurze zeitliche Zwischenstadium zwischen einer bereits abgeschlossenen ersten und einer noch drohenden neuen Einzelhandlung des Angreifers gegeben, so ζ. B. dann, wenn dieser in einem Streit, nachdem er schon einmal zugeschlagen oder geschossen hat, erneut seinen Gegner bedroht (BGH[Z] VersR 1971 629, 630 1. Sp. zu b) oder weiterhin die geladene Schußwaffe in der Hand behält (RG[Z] JW 1905 14 Nr. 6; RG[St.] HRR 1939 Nr. 715), weshalb der Angegriffene nunmehr seinerseits je nachdem schlagen oder schießen oder dem anderen die Waffe gewaltsam wegnehmen darf. Das gilt vor allem auch für den Fall, daß sich der ertappte Verbrecher seiner Festnahme zunächst durch Eröffnung des Feuers auf die Polizeibeamten widersetzt und darauf nach den Schüssen seine Flucht fortsetzt und jeden Augenblick erneut zu schießen droht (RGSt. 61 216/217); der in dem Schußwaffengebrauch liegende Angriff auf die Polizisten ist hier als Ganzes gegenwärtig, weil sowohl hinsichtlich der tatsächlich abgefeuerten Schüsse (abgeschlossener Teilakt) noch nicht beendet als auch hinsichtlich der erneut drohenden Schüsse (bevorstehende Einzelhandlung) nicht mehr zukünftig, weshalb die verfolgenden Beamten hier auf den sie an der Festnahme hindernden, wenngleich auch fliehenden Täter in Notwehr schießen dürfen. 124 Umgekehrt ist dieses Zwischemt&à\wm und damit eine gegenwärtige Gefahrenlage dort nicht mehr gegeben, der verübte Angriff also insgesamt bereits abgeschlossen und ein neuer in ungewisser Zukunft, wo die Angreifer in die Flucht geschlagen und für den Verteidiger räumlich „nicht mehr erreichbar" sind, mit einer Wiederholung ihres Angriffs „binnen kurzem" auch nicht zu rechnen ist, so daß ein Schießen des Angegriffenen, um sie am (nicht wahrscheinlichen) Wiederkommen zu hindern, unter keinem Gesichtspunkt durch Notwehr zu rechtfertigen ist, weder unter dem

247 Mehr als fragwürdig ist dagegen, daß auch eine in einer Stadtratssitzung gefallene und bis zur Abstimmung „fortwirkende" ehrenkränkende Äußerung bis zum Abschluß der Aussprache „gegenwärtig" sein soll (BGH nach Pfeiffer-Maul-Schulte, Strafgesetzbuch (1969) § 53 a. F. Anm. 4), weil sie gewissermaßen noch im Räume steht. (58)

Notwehr (Spendei)

§32

eines noch nicht beendeten noch unter dem eines schon beginnenden Angriffs (OLG Dresden DRiZ 1935 Nr. 299). Im Einzelfall wird es oft zweifelhaft sein, ob die erste oder zweite Sachlage, ob 125 ein gegenwärtiger Angriff noch nicht oder nicht mehr gegeben ist, so z. B. dann, wenn jemand eines Vorwurfs wegen seinen in einem Graben stehenden Arbeitskollegen umstößt und daraufhin zwar nicht weiter auf den Sich-Aufrichtenden los-, aber auch nicht von ihm weggeht, sondern am Graben vor ihm stehenbleibt; bedenklich ist die Ansicht des OLG Saarbrücken OLGSt. 1 a § 223 a StGB Nr. 1, das in diesem Falle noch die Gegenwärtigkeit des Angriffs bejaht, weil sich — trotz Beendigung der einzelnen Angriffshandlung (Stoß) — einem objektiven Beobachter die Befürchtung der Wiederholung einer solchen Handlung aufdrängen müßte 2 4 8 . d) Gegenwärtiger Angriff und gegenwärtige Gefahr (Problem der „Präventivnot- 126 wehr"): Von den vorstehenden Sachverhalten zu unterscheiden sind die Fälle des gemeingefährlichen Menschen, der Gewalttätigkeiten begangen hat und erneut begehen wird, so in den immer wiederkehrenden Familientragödien, in denen meist ein Ehemann als roher und trunksüchtiger Haustyrann Frau und Kinder stets von neuem mißhandelt 2 4 9 . Hier ist der Zeitraum von mehreren Stunden oder auch Tagen zwischen den einzelnen, d. h. den begangenen und den (sicher) drohenden Ausschreitungen so groß, daß man trotz der von dem Trunkenbold für seine Angehörigen ausgehenden Leibes- und Lebensge/a/ir jeweils von einem abgeschlossenen und einem zukünftigen Angriff sprechen muß. Die Gegenwärtigkeit eines andauernden Gefahrenzustandes ist daher von der Gegenwärtigkeit eines vorübergehenden gefährlichen Verhaltens, das der unmittelbar bevorstehende und beginnende Angriff bedeutet, zu unterscheiden (insofern auch zutreffend BGH ROW 1958 33, 34 r. Sp.; kritisch dagegen Schroeder Notstandslage bei Dauergefahr, JuS 1980 336, 338). Nur für den zweiten Fall, für die durch den Angriff begründete akute Augenblicksgefahr, kommt Notwehr (§ 32 StGB), für den ersten dagegen, d. h. für die infolge der Persönlichkeitsstruktur (Trunksucht) bestehende latente Dawe/gefahr, Notstand (§§ 34, 35 StGB) in Betracht. Der Fall, daß der Sohn seinen gewalttätigen, jähzornigen und trunksüchtigen Vater, der, nach wüsten Ausschreitungen gegen die herzkranke Ehefrau und seine Tochter, mit doppelt schweren Mißhandlungen gedroht hatte, 20 Stunden nach der letzten Tätlichkeit im Bett erschoß, ist mit RGSt. 60 318 nicht nach Notwehr-, sondern nach Notstandsregeln (früher § 54 a. F., jetzt § 35 StGB) zu beurteilen 250 . Die „Verzweiflungstat" (so RGSt. 60 320 unt.), die Tötung des Wüterichs zum Schutz vor Leibes- und Lebensgefahr insbesondere der Mutter, ist also nicht zu rechtfertigen, wohl aber zu entschuldigen. Abzulehnen ist der Versuch, Fälle wie den vorstehenden unter dem Gesichts- 127 punkt einer „Präventivnotwehr" in analoger Anwendung des § 32 StGB zu lösen und 248 Zur Frage der Gegenwärtigkeit des Angriffs bei Stoß und Gegenschlag s. auch noch BGH(Z) VersR 1964 286, 287 r. Sp. 249 Vgl. die Fälle in RGSt. 60 318; RG JW 1934 422 mit Anm. Wegner, BGHSt. 3 194; BGH NJW 1966 1823/1824; OLG Celle HannRpfl. 1947 15; s. auch noch RG(St) JW 1930 2958; BGH GA 1967 113. 250 Wobei früher nur unklar blieb, ob das RG die Tötung als gerechtfertigt oder nur entschuldigt angesehen hat. Für die erste Alternative sprechen Leitsatz Nr. 3 als Frage: „Kann dauernde Gemeingefährlichkeit eines Menschen seine Tötung als Notstandshandlung rechtfertigen...?" (RGSt. 60 318) und der Satz in den Gründen: „Die .Rechtzeitigkeit' gebotener Abwehr oder Vorkehr" läßt sich „nur nach der Bedrohlichkeit" einer „Dauergefahr" beurteilen, die die unverzügliche Vornahme einer solchen Vorbeugungsmaßnahme „rechtfertigt" (RGSt. 60 321). (59)

2. Abschnitt. Die Tat

§ 3 2 251

für gerechtfertigt zu erklären . Unter diesem Begriff ist allgemein die Sachlage zu verstehen, daß gegen einen für die Zukunft sicher drohenden oder ernsthaft angedrohten Angriff eine sofort wirksam werdende Vorkehr in der Gegenwart erforderlich ist, weil eine spätere Abwehr des verübten Angriffs nicht erfolgversprechend oder sogar unmöglich wäre 2 5 2 . Das Problem ist in neuerer Zeit unter dem im Zivilrecht aufgebrachten 2 5 3 verschwommenen Schlagwort „notwehrähnliche Lage" anläßlich heimlicher Tonbandaufnahmen, mit denen als Überführungs- und Verteidigungsmittel gegenwärtige und zukünftige rechtswidrige und strafbare Angriffe (ζ. B. beleidigende oder erpresserische Äußerungen, Prozeßbetrügereien) bekämpft werden, wieder ins Bewußtsein getreten, in der Sache aber alt. 128

Die verschiedenen Fallgestaltungen drohender oder angekündigter Angriffe erheischen eine unterschiedliche Beurteilung: (1) Schwört der rachsüchtige Mörder dem ihn festnehmenden Polizeibeamten den Tod, wenn er je wieder freikommen sollte (Ausgangsposition in dem Western „12 Uhr mittags") oder droht der gefährliche Wilderer dem ihn anzeigenden Förster mit blutiger Abrechnung, sobald sie sich allein im Wald begegnen 254 , so liegt in dieser Bedrohung gemäß §241 StGB zweierlei: einmal ein Angriff auf den Rechtsfrieden des Beamten, der mit dem Ausstoßen der Todesdrohung zunächst beendet ist, auch wenn der Bedrohte sich nunmehr beunruhigt fühlen und besonders auf der Hut sein muß; zum andern ein Angriff auf das Leben des Polizisten oder Försters, der noch zukünftig ist, da die von dem Verbrecher insoweit ausgehende Gefährdung räumlich und zeitlich noch viel zu „entfernt" ist, um „gegenwärtig" i. S. d. § 32 StGB zu sein. Der Bedrohte darf hier nicht „sicherheitshalber" den Drohenden anoder niederschießen, um ihn kampfunfähig oder unschädlich zu machen, auch wenn er sonst gegen den „todsicher" später zu gewärtigenden Mordanschlag aus dem Hinterhalt machtlos wäre 2 5 5 . In diesem Falle dem einzelnen eine „Präventivnotwehr" einzuräumen 2 5 6 , würde auf eine Selbstjustiz hinauslaufen und zu WildWest-Zuständen führen 2 5 7 . Die dem Beamten von dem Verbrecher drohende Gefahr ist noch nicht einmal als „gegenwärtig" i. S. d. § 35 StGB anzusehen, wiewohl sie ernst zu nehmen ist; denn im Augenblick der Todesdrohung ist der gefähr-

251 So f ü r diesen u n d a n d e r e Fälle n ä h e r Suppert S. 364 ff, 368, 386 unt., 398. 252 Suppert S. 356 ff, 378, 404 in Weiterentwicklung von Überlegungen Welzels S. 87; Rudolf Schmitt T o n b ä n d e r im S t r a f p r o z e ß J u S 1967 19, 24 u. a. 253 Larenz in Verh. d. 42. D J T , II. Bd. (1959), S. 25, 28 u n d B G H Z 27 284, 290 ob.; BGH(St) N J W 1958 1344, 1345 1. Sp. zu Nr. 3; O L G Celle N J W 1965 1677, 1679 1. Sp.; O L G Frankf u r t / M . N J W 1967 1047, 1048 1. Sp.; s. auch BGHSt. 14 358, 361; 19 325, 332. Für den Begriff neuerdings Geilen J u r a 1981 200, 209. 254 Die Fälle sind keineswegs Theorie oder Stoff f ü r s p a n n e n d e Filme. M a n d e n k e n u r an die heutigen Verhältnisse: D r o h u n g von Terroristen, nach der E r m o r d u n g eines hohen Justizbeamten auch einen p r o m i n e n t e n U n t e r n e h m e r umzubringen. 255 Dazu auch Hellm. Mayer J W 1932 2291 1. Sp., 2294 1. Sp. zu Nr. V 3; Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 381 (§ 26 II A); Baumann AT S. 313 (§ 2 1 1 1 1 a γ). 256 D a f ü r in diesem Falle auch nicht Suppert S. 386 u n d Anm. 149) als Befürworter eines solchen Rechtfertigungsgrundes, wobei seine Begründung, die T o d e s d r o h u n g sei zu „pauschal" u n d nicht „ k o n k r e t " genug, wenig überzeugend ist. 257 Selbst dem Staat insoweit eine wirksamere Verbrechensprävention zuzubilligen, schreckt m a n aus rechtsstaatlichen G r ü n d e n zurück — im Gegensatz zu totalitären Regimen, die keine Skrupel h a b e n , ihre „Staatsfeinde" in „Schutzhaft" zu n e h m e n . Zur Frage einer polizeilichen Präventivnotwehr s. nachfolg. R d n . 276. (60)

Notwehr (Spendei)

§32

liehe Täter noch in Haft und der Bedrohte daher vor ihm sicher. Dieser kann sich vor dem zukünftigen Angriff nur „vorsehen" und gegen den potentiellen Angreifer z. B. nur mit einer Strafanzeige wegen Bedrohung (§ 241 StGB) „vorgehen". Die hier und heute möglichen Präventivmaßnahmen sind zugegebenermaßen oft sehr unvollkommen: Nicht-vorzeitige-Entlassung des Verbrechers aus der Strafhaft, Versagung einer Begnadigung des lebenslänglich Verurteilten 258 , zusätzliche Bestrafung wegen Bedrohung, Bewaffnung und notfalls Polizeischutz für den Gefährdeten. (2) Drohen von dem gewalttätigen Alkoholiker wieder einmal Ausschreitungen 129 gegen Frau und Kinder (RGSt. 60 318), so ist die auf Grund seiner Person (Trunksucht) und eventuell auch auf Grund seiner Äußerungen für die Familie bestehende Leibes- und Lebensge/aAr bedeutend näher und stärker als für die Bedrohten im ersten Falle. Die bedrohliche Existenz („Gegenwart") des aggressiven Trinkers bedeutet zwar noch keinen unmittelbar bevorstehenden Angriff, wohl aber die große Gefahr eines solchen; sie ist als Dauergefahr gegenwärtig i. S.d. §§ 34, 35 StGB (RGSt. 60 321). Der Sohn, der seinen Vater zum Schutze seiner Angehörigen einsperrt oder gar tötet, weil er keinen anderen Ausweg mehr hat, ist daher wegen Notstandes straflos, und zwar bei der ersten Alternative gerechtfertigt (§ 34 StGB), bei der zweiten entschuldigt (§ 35 StGB). Eine Rechtfertigung der Tat in beiden Fällen wegen Präventivnotwehr analog zu § 32 StGB ist entgegen Suppert (s. vorstehend Fußn. 251) deshalb nicht anzuerkennen, weil die Verbrechensprävention in Gestalt der Bekämpfung künftiger Straftaten ebenso wie die Verbrechensrepression in Form der Bestrafung begangener Straftaten allein dem Staat vorbehalten ist 259 . Allerdings muß dieser als Rechtsstaat Mittel und Wege finden 260 , einem drohenden oder angedrohten, noch nicht gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff rechtzeitig zu begegnen, so z. B. durch die heutigen Gesetze zur Unterbringung gefährlicher rauschgift- und alkoholsüchtiger Personen. Je mehr Gesetzgebung und Verwaltung (wie letztere in den Fällen von RGSt. 60 318, 322; BGH NJW 1966 1823, 1824 r. Sp. unt.!) versagen, desto mehr muß die Rechtsprechung über die Notstandsregelung helfen (jedoch verfehlt OLG Celle HannRpfl. 1947 15). (3) Droht der brutale Ehemann seiner Frau Tätlichkeiten an, falls sie die von 130 ihm geplante Brandstiftung verrate (RGSt. 43 342), so liegt in dieser Drohung bereits ein Angriff auf die Freiheit der Willensentschließung (Nötigungsversuch), der gegenwärtig und notwehrfähig ist (was vom RG übersehen wird), da der hierdurch geschaffene seelische Druck, der die freie Entscheidung der Ehefrau beeinträchtigt, auf dem Opfer weiter lastet, solange der Täter seine Ankündigung aufrechterhält; der auf Grund der Drohung zu befürchtende Angriff auf den Leib 258 Und nicht unverantwortliche Freilassung des Mörders, durch die der Verbrecher in dem genannten Film nach Jahren der Strafhaft in die Lage kommt, seine Morddrohung am Sheriff beinahe wahr zu machen. 259 Vgl. schon Pufendorf De iure naturae et gentium (1688), hrsg. von J. Br. Scott (1934), I. Bd., 2. B., 5. Kap., § 4 (S. 186/187): dem im Staate lebenden Rechtsgenossen sei nur Selbstverteidigung gegen gegenwärtige Gefahren erlaubt; Vergeltung und Vorbeugung seien dagegen der Entscheidung der Obrigkeit zu überlassen — „vindicta autem, et cautio de non offendendo in posterum magistrates arbitrio relinquatur". 260 Merkwürdig die Überlegung Hellm. Mayers JW 1932 2290, 2294 1. Sp. zu. Nr. 3 a. E., der nicht aus der Notwendigkeit staatlicher Verbrechensprävention, sondern aus deren Fehlen (keine „Schutzhaft" gegen den dem Förster den Tod schwörenden Wilderer) die Unzulässigkeit einer vorbeugenden Abwehr durch den Bedrohten folgert. (61)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

(beabsichtigte Körperverletzung) ist dagegen wiederum zukünftig, weil das Wahrmachen der Drohung vom Verhalten der zu Nötigenden abhängig gemacht wird. Die drohende Leibesgefahr ist hier aber ebenso wie die Leibes- und Lebensgefahr im zweiten Fall gegenwärtig i. S. d. § 35 StGB; denn die Ehefrau steht nicht nur unter dem „Druck" der Drohung, sondern auch dem des Gesetzes, der Rechtspflicht zur Verbrechensanzeige (§138 StGB), und kann daher die Auslösung des Angriffs (der Mißhandlung) nicht ohne weiteres vermeiden. In diesem Falle ist die Nichtanzeige des von dem Ehemann geplanten Verbrechens, durch die höher einzuschätzende Interessen der Allgemeinheit und der Rechtspflege verletzt werden, auf Grund der Notstands\age (§35 StGB) zu entschuldigen, wenn sie das einzige Mittel ist, die gegenwärtige Leibesgefahr zu vermeiden (insoweit im wesentlichen auch RGSt. 43 343). 131

(4) Macht der streitsüchtige Wirtshausbesucher Miene, einen anderen Gast mit Gewalt aus dem Lokal zu vertreiben, so liegt in seinem bedrohlichen Verhalten nicht allein ein bereits begonnener und damit gegenwärtiger Angriff auf die Freiheit der Willensentschließung, sondern zugleich ein unmittelbar bevorstehender und deshalb beginnender und damit ebenfalls gegenwärtiger Angriff auf den Leib des Bedrohten, den dieser mit einem gezielten Boxhieb in Notwehr abwenden darf. Denn hier ist — im Gegensatz zur dritten (und zweiten) Fallgestaltuhg — die Gegenwärtigkeit des rechtswidrigen Angriffs nach beiden Richtungen hin, und zwar gegen die Freiheit und den Körper des Angegriffenen gegeben, da die Drohung sogleich in die Tat umgesetzt werden soll und der Verteidiger nicht erst einen Schlag des Angreifers abzuwarten braucht (s. Rdn. 119). Daß auch der unmittelbar bevorstehende Angriff bereits als beginnender und gegenwärtiger anzusehen ist, spricht nicht etwa für den Gedanken einer „präventiven" Notwehr 2 6 1 , sondern folgt aus der Anschauungsform der „ewig fließenden" Zeit, die im Ablauf des Geschehens nur infinitesimale Übergänge kennt und fortlaufend jedes noch nicht eingetretene und insofern noch zukünftige Ereignis zu einem gerade gegenwärtigen, jedes noch gegenwärtige zum nicht mehr bestehenden und schon wieder vergangenen werden läßt.

132

Nach den vorstehend entwickelten und veranschaulichten Grundsätzen sind auch die Fälle der Tonbandaufnahmen zu beurteilen: (5) Kündigt der verschlagene Ehemann seiner Frau höhnisch an, die ihr zugefügten Mißhandlungen im anhängigen Scheidungsprozeß abzustreiten 262 , so bedeutet diese Androhung eines erst beabsichtigten „Prozeßbetrugs" noch keinen gegenwärtigen Angriff, wohl aber die Wahrscheinlichkeit eines solchen Prozeßverhaltens und damit schon eine als gegenwärtig anzusehende Gefahr für den begründeten Scheidungsanspruch der Klägerin, da ihre Beweislage über das übliche Prozeßrisiko hinaus durch die Haltung des unaufrichtigen Prozeßgegners nunmehr erheblich unsicherer erscheint. Hier ist ihre heimliche Tonbandaufnahme von solchen Äußerungen, also die nach § 201 StGB straftatbestandsmäßige Vorkehr, die drohende Beeinträchtigung ihrer Rechte zu verhindern, unter dem Gesichtspunkt des Notstandes zu beurteilen und sogar zu rechtfertigen. Denn die Verletzung der Persönlichkeitssphäre des Beklagten ist hier das einzige und angemessene Mittel, die von ihm ausgehende gegenwärtige Gefahr für die Beweis- und Prozeßlage der Klägerin zu 261 Vgl. aber Suppert S. 379. 262 Entsprechend der Fall des KG NJW 1956 26 (Ankündigung der Ehefrau, ihre Beschimpfungen des Mannes im künftigen Scheidungsprozeß abzuleugnen) und dazu näher Suppert S. 118 ff. (62)

Notwehr (Spendei)

§32

beseitigen; das Interesse des Drohenden an der Vertraulichkeit seines Worts hat hinter dem höheren Interesse der Bedrohten an der Wahrung eines korrekten Verfahrens zurückzutreten. Des Begriffs der „notwehrähnlichen Lage" bedarf es daher zur Lösung des Falles nicht 263 . (6) Droht ein anonymer Erpresser dem vermögenden Hotelier an, ihm bei Ver- 133 Weigerung der verlangten Zahlung das Haus anzuzünden oder in die Luft zu sprengen 264 , so ist diese Drohung mit einer Brandstiftung usw. — neben der damit gegebenen Vermögensgefährdung! — ein gegenwärtiger, weil unmittelbarer und andauernder Angriff auf die freie Willensentschließung des Bedrohten wie im dritten Fall 265. Auch hier ist die heimliche Tonbandaufnahme der erpresserischen Telephonanrufe das geeignete Mittel, sich des aktuellen Angreifers (Erpressers) und seines gegenwärtigen Angriffs (Erpressungsversuchs) zu erwehren, d. h. ihn ausfindig und durch Auslieferung an die Strafverfolgungsbehörden unschädlich zu machen. Die Maßnahme ist daher bereits durch Notwehr in unmittelbarer Anwendung des § 32 StGB gerechtfertigt 266 . Für die Anerkennung einer präventiven Notwehr bzw. „notwehrähnlichen Lage" ist bei dem vorliegenden Sachverhalt erst recht kein Raum 267 . (7) Droht der bekannte Erpresser, bei Nichtzahlung der verlangten Geldsumme 134 sein Opfer wegen einer Straftat (z. B. wegen Unfallflucht, Urkundenfälschung oder eines Sexualdelikts) anzuzeigen, so darf sich der Bedrohte nur gegen den darin liegenden gegenwärtigen Angriff auf seine freie Willensentschließung hinsichtlich seiner Vermögensdisposition nach § 32 StGB zur Wehr setzen, z. B. mit einer den Erpressungsversuch festhaltenden Tonbandaufnahme oder der rechtmäßigen Gegendrohung (s. § 240 II StGB), den Anrufer wegen seiner Tat seinerseits anzuzeigen 268 . Gegenüber der Gefahr für seine Freiheit, die mit der Androhung einer Strafanzeige und der damit verbundenen Strafverfolgung und Inhaftierung heraufbeschworen worden ist, befindet sich dagegen der Bedrohte nicht etwa in einem Notstande, da er insoweit duldungspflichtig ist und eine Strafanzeige auch von jedem anderen hinnehmen müßte. Er darf also den Erpresser z. B. nicht der belastenden Beweisstücke berauben oder ihn gar erschießen, auch wenn er ihn nicht anders „mundtot" machen kann 2 6 9 . 263 Ebenso Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 17; Jescheck AT S. 275 (§ 32 Il.l.d); Schaffstein Der Maßstab für das Gefahrurteil beim rechtfertigenden Notstand, H.-J. Bruns-Festschr. (1978) S. 89, 93; im Ergebnis auch KG NJW 1956 26. Suppert S. 338 hält diese Lösung für möglich, die über Präventivnotwehr dagegen für „sachnäher" (S. 338, 355). 264 So der Fall des AG Würzburg nach Suppert S. 133 Anm. 236. 265 Ebenso Haug MDR 1964 548, 551; ders. NJW 1965 2391 f; eingehend Suppert S. 247 ff, 272 ff, 279, 281, 285; dagegen Arzt MDR 1965 344, 345; Baumann MDR 1965 346. 266 Ebenso außer Haug und Suppert aaO Dreher-Tröndle §201 Rdn. 7; Lackner §201 Anm. 5.a) cc); Klug Heimliche Tonbandaufnahmen zur Abwehr krimineller Telefonanrufe, Sarstedt-Festschr. (1981) S. 101, 117, 124/125, 130. Anders (nicht § 32, sondern § 34) Sch.-Schröder-Lenckner § 201 Rdn. 31 und 32. Nicht eindeutig („Notwehr und notwehrähnliche Lagen") BGH(St) NJW 1958 1344, 1345 1. Sp. unt. Nr. 3; OLG Düsseldorf NJW 1966 214; KG NJW 1967 115, 116 1. Sp. 267 So auch mit Recht ausdrücklich Suppert S. 290, 354. 268 Dazu näher Haug MDR 1964 548, 550/551. 269 Insofern im Ergebnis zutreffend Arzt MDR 1965 345 gegen Haug MDR 1964 551 ff, der bei der Wegnahme belastender Beweismittel eine Rechtfertigung durch Notwehr annimmt (S. 552), bei der Tötung des Erpressers durch den Erpreßten in extremen Fällen eine Entschuldigung erwägt (S. 554 r. Sp.). (63)

§32 135

2. Abschnitt. Die Tat

Die Differenzierung der durch Drohungen geschaffenen Gefahrensituationen, wie sie die Rechtsprechung zwischen einem akut gefährlichen Angriff u n d einem latenten Gefahren zustand vorgenommen hat, ist also durchaus begründet, da im ersten Fall die Bedrohung hinsichtlich des „Zeit-raums" näher, infolgedessen in ihrem Grad stärker u n d in ihrer Feststellbarkeit sicherer ist. Prävention (Vorkehr gegen zukünftige Schädigungen) ist etwas anderes als Defensive (Abwehr gegenwärtiger Beeinträchtigungen); sie ist selbst £ryiangriff (Aktion) auf einen potentiellen Angreifer, nicht nur Gegenangriff als Verteidigung (Re-aktion) auf einen aktuellen Aggressor. Bedenklich, weil sich im Ergebnis der Anerkennung einer „Präventivnotwehr" nähernd 270^ sind daher Formulierungen, in denen die „Gegenwärtigkeit des Angriffs" mit der „Rechtzeitigkeit der Abwehr" weitgehend gleichgesetzt wird 271. III. Die Voraussetzungen der Notwehrhandlung: erforderliche Verteidigung

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Die Folge der Notwehr/age, eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs, ist die Notwehrhandlung. Als solche setzt § 32 StGB auf Seiten des Notwehrers (Nothelfers) eine zur Abwendung des Angriffs erforderliche Verteidigung voraus. 1. Die Verteidigung a) Begriff der Verteidigung (Problem des „Verteidigungswillens"): Schrifttum Prittwitz Zum Verteidigungswillen bei der Notwehr G A 1980 381 ; Staab Das Problem subjektiver Elemente im Rahmen der Notwehr, Diss. Frankfurt/M. 1954; Spendet Der Gegensatz rechtlicher und sittlicher Wertung am Beispiel der Notwehr, DRiZ 1978 327 ; Spendet Gegen den „Verteidigungswillen" als Notwehrerfordernis, Bockelmann-Festschr. (1979) S. 245.

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aa) Schutz- oder Trutzwehr: Die Verteidigung ist als Gegenstück zum Angriff dessen Ab-wehr, u n d zwar entweder bloße Schutz-wehr: ζ. B. Parieren eines Schlages, Vorhalten eines Dolches gegenüber drohendem Hieb (BGHSt. 24 356, 360; R G J W 1925 962), Auffangen eines geschleuderten Gegenstandes, oder Trutz- (BGHSt. 24 356, 359) bzw. Gegen-wehr (RGSt. 16 69, 71; BayObLG N J W 1963 824, 825 1. Sp.; allgem. Meinung): ζ. B. Wegnahme des Angriffsmittels (RGSt. 35 403, 406; 46 348, 350; 55 167; R G H R R 1939 Nr. 715), Androhung eines Gegenangriffs durch Sachbeschädigung, Körperverletzung oder Schußwaffengebrauch (BGHSt. 25 229; RGSt. 3 222; 12 194, 197; 32 391), Gegenangriff durch Schlag mit dem Pistolenknauf (BGHSt. 27 313, 314), Stich (BGHSt. 24 356, 358; 27 336, 337) oder Schuß (BGHSt. 25 229, 231; RGSt. 60 261; R G H R R 1940 Nr. 1102). D a ß mit der Notwehr nur die Trutzwehr gemeint sei, weil es bei der Schutzwehr von vornherein an der Verwirklichung eines Straftatbestandes fehle 272, wird man 270 Daher auch begrüßt von Suppert S. 329/330, 358. 271 Vgl. ζ. B. Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. IV: Gegenwärtig der Angriff, wenn die Verletzungsgefahr mit ihm „so unmittelbar verbunden ist, daß er, soll es nicht zu spät sein, jetzt abgewehrt werden muß" ; Schmidhäuser AT S. 347 a. E. (9/94): Der Angriff „immer schon dann gegenwärtig, wenn er vom Angreifer so vorbereitet wird" (sc. also noch zukünftig ist!), „daß eine spätere Abwehr nicht mehr möglich ist" (Hervorh. vom zitier. Verf.). Gegen die oben angeführte Gleichsetzung, die das Merkmal der Gegenwärtigkeit „praktisch illusorisch" mache, auch Hellm. Mayer JW 1932 2291 r. Sp. 272 So Frank § 53 a. F. Anm. II (S. 162). (64)

N o t w e h r (Spendei)

§

32

nicht sagen können, da auch die letztgenannte Verteidigungsform zu Verletzungen des Angreifers führen kann; pariert der Angegriffene den gegen ihn geführten Faustschlag mit einem scharfen Gegenstand statt durch Wegducken, vermag er den Angreifer nicht unerheblich zu verletzen. Wie das Merkmal „Angriff' so ist auch der Begriff „Verteidigung" rein objektiv 138 zu bestimmen; wie — entsprechend der überwiegenden Ansicht (s. Rdn. 24) — kein Angriffswille, so ist — entgegen der herrschenden Auffassung in Rechtspre274 c h u n g 2 7 3 u n d Lehre — mit einer beachtlichen, heute aber meist totgeschwiegenen Mindermeinung 275 kein „Verteidigungswille" als Notwehrerfordernis zu verlangen. Trotz subjektiven Abwehrwillens kann jemand objektiv angreifen und umgekehrt trotz subjektiven Angriffswillens objektiv abwehren und helfen (s. schon das allgemeine Beispiel Rdn. 24). Die notwendige Konsequenz der hier vertretenen Anschauung ist: Bei Vorliegen der gesetzlichen Notwehrvoraussetzungen ist auch bei fehlendem Verteidigungswillen oder -bewußtsein ein straftatbestandsmäßiges

273 R G G A 45 (1897) 272; DStZtg. 1916 250; RGSt. 54 196, 199; 56 259, 268; 60 261, 262; R M i l G 12 234; BayObLGSt. 4 (1904) 236; O L G H a m b u r g J W 1933 477 mit krit. A n m . Grünhut; BGHSt. 2 111/112, 114; 3 194/195, 198; 5 245, 247; 25 229, 232 ob.; B G H G A 1980 67; ferner z. B. O L G F r a n k f u r t / M N J W 1950 119 mit ablehn. A n m . Cüppers; O L G Saarbrücken VRS 17 25, 28 ob. 274 Z. B. Binding H a n d b . S. 750; Frank § 53 a. F. Anm. II (S. 162 unt.); v. Liszt-Schmidt AT S. 198; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. A n m . VI (S. 206); Welzel S. 86; Baldus LK.9 I § 53 a. F. R d n . 16; Schmidhäuser A T S. 355 (9/106); Otto G r K StR (1976) S. 122/123; Baumann A T S. 314 (§ 21 II 1 a) δ); Blei A T S. 131 (§ 40 II 1); Maurach-Zipf A T 1. TBd. S. 382 (§ 26 II Β 1); Jescheck A T S. 275, 263 (§ 32 II 2 a ; § 31 IV 1); Bockelmann A T S. 95 (§ 15 Β I 2 d); Wessels A T S. 77 ( § 8 V 2 ) ; Sch.-Schröder-Lenckner R d n . 63; Dreher-Tröndle R d n . 14; Lackner A n m . 2.e); Prittwitz G A 1980 381 ; Geilen J u r a 1981 258, 308. Im Z/vi'/recht ζ. B. Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl. II. H B d (1960) S. 1452 A n m . 17; Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. I. Bd. (1978) § 227 R d n . 29; v. Feldmann Münch.Komm. zum BGB, 1. Bd. (1978) § 2 2 7 R d n . 7; Herrn. Dilcher in v. Staudingers K o m m , zum BGB, 12. Aufl. I (1979) § 227 R d n . 26. 275 So R G R s p r . 4 (1882) 804, 805; O L G Dresden J W 1929 2760 mit zustimm. A n m . Coenders; Beling Die Lehre vom Verbrechen (1906, Neudr. 1964) S. 141; ders. G r u n d z ü g e des Strafr., 11. Aufl. (1930) S. 16; Schwartz Das Strafgesetzb. f ü r das Deutsche Reich (1914) § 53 a. F. A n m . 2 vor a) (S. 167); Hegler Die Merkmale des Verbrechens, Z S t r W 36 (1915) 19, 36; ders. Subjektive Rechtswidrigkeitsmomente im R a h m e n des allgemeinen Verbrechensbegriffs, Frank-Festg. I (1930) S. 251, 258; Sauer G r u n d l a g e n des Strafrechts (1921) S. 348 (anders ders. Allgem. Strafrechtsl., 3. Aufl. [1955] S. 121); Mezger Die subjektiven Unrechtselemente G e r S 89 (1924) 207, 304 ff, 3 0 8 / 3 0 9 ; ders. Lehrb. S. 2 3 5 / 2 3 6 ; ZimmerlZur Lehre vom T a t b e s t a n d StrAbh. H. 237 (1928) S. 67; Rob. ν. Hippel II S. 210; Gerland S. 149; Grünhut J W 1933 477; Allfeld S. 127; Foltin G r u n d z ü g e des tschechoslowak. Strafr. (1936) S. 50, 55; Wegner S. 121/122; Rittler Lehrb. des österr. Strafr., 2. Aufl. I (1954) S. 140; Staab S. 43 ff, 69, 83 f., 88; Hans Schultz E i n f ü h r , in den Allgem. Teil des Strafr., I. Bd. 3. Aufl. (1977) S. 145 i. V. m. 134; Spendet D R i Z 1978 327; ders. Bockelmann-Festschr. S. 245. Im Zi'v/Vrecht ζ. B. v. Tuhr Der Allgem. Teil des dtsch. Bürgerl. Rechts, II 2 (1918, N e u d r . 1957) S. 586; Oertmann B G B Allgem. Teil, 3. Aufl. (1927) § 227 A n m . 4.b) (S. 794) i. V. m. A n m . 2.b) (S. 792); Heinr. Lange B G B Allgem. Teil, 15. Aufl. (1974) S. 118 (anders jetzt Heinr. Lange-Helm. Köhler, 17. Aufl. (1980) S. 129); Jauernig u. a. BGB, 2. Aufl. (1981) § 227 A n m . 2. e) a a ) ; Emst Wolf Allgem. Teil des bürg. Rechts, 3. Aufl. (1982) S. 613/614. (65)

§ 3 2

2. Abschnitt. Die Tat

Abwehrverhalten gerechtfertigt und straf/os 276 . Die Vertreter der subjektiven Lehrmeinung sind sich dagegen nicht einig, wie der Mangel des von ihnen in § 32 StGB hineingelesenen „subjektiven Rechtfertigungselementes" zu beurteilen ist; sie nehmen teils Vollendungs- 277 , teils Versuchsstrafbarkeit a n 2 7 8 , was einmal mehr die Fragwürdigkeit dieser Ansicht erweist 279 . 139 Daß zum Begriff der Verteidigung notwendig ein „Verteidigungswille" gehöre 2 8 0 , ist ein eigenartiger Begriffsmystizismus, der die objektive Zweckmäßigkeit einer (Abwehr-)Handlung mit der subjektiven Zielstrebigkeit des Handelnden verwechselt 281 . Gegen ein derartiges „subjektives Rechtfertigungselement" sprechen nicht nur die Notwendigkeit und Richtigkeit einer objektiven Unrechtslehre (s. auch schon Rdn. 60 ff, 64 ff) 2 8 2 , sondern vor allem auch die unbefriedigenden und ungereimten Ergebnisse der subjektiven Auffassung, wie folgende Fälle verdeutlichen: 140

(1) Schlägt eine erboste resolute Ehefrau zu mitternächtlicher Stunde im Dunkeln einen die Wohnungstür öffnenden bewaffneten Einbrecher nieder in der irrigen Meinung, ihren wieder einmal vom Zechgelage heimkehrenden Ehemann vor sich zu haben, so ist sie trotz ihres bestehenden Angriffs- und fehlenden Verteidigungswillens durch Notwehr gerechtfertigt 283 . Denn sie hat hier allein durch das überraschende Niederschlagen des ihr an Körperkräften überlegenen und gefährlichen Verbrechers den begonnenen rechtswidrigen, ja strafbaren Angriff auf ihren Hausfrieden und ihr Eigentum und den unmittelbar bevorstehenden und damit beginnenden Angriff auf ihre Person abwenden können. Nur dieses Ergebnis, die Straflosigkeit der mit ihrem trunksüchtigen Mann schon genug „gestraften" Ehefrau, ist angesichts des von ihr erfolgreich abgewehrten Angriffs des Verbrechers und eines von ihr glücklicherweise nicht durchgeführten Angriffs auf ihren Mann eine rechtliche und „zu-frieden-stellende" Lösung 284 .

276 Spendet DRiZ 1978 330 r. Sp., 3311. Sp. vor Nr. 2, 332; ders. Bockelmann-Festschr. S. 249, 254, 257, 259. Dieser Standpunkt des Verf. wird bei Sch.-Schröder-Lenckner20 (1980) Rdn. 15 vor, Rdn. 63 a. E. zu §32 (S. 409 und 461 ob.) falsch wiedergegeben und der Autor den in Fußn. 278 angeführten Autoren zugeschlagen; richtig jetzt dies.21 aaO. 277 So (allerdings zum rechtfertigenden Notstand) RGSt62 137, 138; BGHSt. 2 111/112, 114; Welzel S. 84, 92; Schmidhäuser AT S. 355/356 (9/106); Maurach AT4 (1971) S. 314 (and. jetzt Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. S82); Blei AT S. 126 (§ 38 II 2); Dreher-Tröndle Rdn. 14; Gallas Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Bockelmann-Festschr. (1979) S. 155, 172 ff, 177. 278 So z. B. KG GA 1975 213; Nowakowski, Das österr. Strafr. in seinen Grundz. (1955) 59; Jescheck AT S. 264 (§ 31 IV 2); Baldus LK.9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 17; Wessels AT S. 67 (§ 8 I 2); Samson SK I Rdn. 24 vor § 32; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 15 vor, Rdn. 63 zu § 32; Lackner § 32 Anm. 2.e) i. V. m. § 22 Anm. 2.d). 279 Zur näheren Kritik Spendet DRiZ 1978 331 1. Sp.; ders. Bockelmann-Festschr. S. 249. 280 So schon Frank § 53 a. F. Anm. II (S. 162 unt.); neuerdings z. B. Baumann AT S. 314 (§ 21 II 1 a δ); dagegen treffend bereits Rob. ν. Hippel II S. 210, insbesondere Anm. 8. 281 Dazu, daß nicht der Wortlaut („um . . . abzuwenden") die subjektive Deutung stützt, näher Spendet Bockelmann-Festschr. S. 250. 282 So besonders Rob. ν. Hippel II S. 210 u. Anm. 8); Grünhut JW 1933 477 1. Sp.; Spendet DRiZ 1978 327 ff. und ders. Bockelmann-Festschr. S. 245, 250 ff. 283 Zu diesem Fall näher Staab S. 10; Spendel DRiZ 1978 327, 330. 284 Dazu näher Spendel DRiZ 1978 330/331. (66)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

(2) Erschießt Wilderer A, der auf den die Jagdfrevler ertappenden Förster F 141 angelegt hat, versehentlich seinen Komplicen B, áer ebenfalls zum Gewehr gegriffen und auf F mit Tötungsvorsatz gezielt hat, dann ist diese Tötung durch Nothilfe gerechtfertigt 285 . Denn A hat den gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff des Β auf F, einen Mordversuch, infolge eines für den Bedrohten glücklichen Zufalls im letzten Augenblick ungewollt verhindert. Der Schütze, ein unfreiwilliger Nothelfer, hat hier gleich Mephisto in Goethes „Faust" als „Teil von jener Kraft" gewirkt, die nur „das Böse will" (die Tötung des Försters) und letztlich doch „das Gute schafft" (die Rettung des Forstbeamten), was für das Recht immer noch erheblicher und erfreulicher ist, als daß aus guter Absicht eine Schädigung erwächst. Bedrohter (F) und Rechtsgemeinschaft können daher den Ausgang der Sache nur begrüßen und positiv bewerten. Zu diesem Ergebnis — Rechtfertigung und Straflosigkeit der Tötung des Β durch A nach § 32 StGB 2 8 6 — müßten übrigens auch die Subjektivisten kommen, soweit sie bei Fahrlässigkeitstaten einen „Verteidigungswillen" für die Notwehr ablehnen 2 8 7 und in dem vorliegenden Fall der aberratio ictus der herrschenden Meinung folgen, die im Verhältnis von A zu Β nur fahrlässige Tötung in Betracht ziehen würde 2 8 8 . Dem „Angriffswillen" des Schützen A, d. h. seinem Tötungs Vorsatz gegenüber 142 dem Förster, ist insofern Rechnung zu tragen, als sein Anlegen auf F nicht nur, ex post gesehen, sich als Rettung des durch seinen Komplicen tödlich bedrohten Jagdbeamten in Gestalt der Tötung des Angreifers Β auswirkt, sondern zugleich, ex ante betrachtet, zunächst (und wenn auch nur für die Bruchteile von Sekunden) eine Gefährdung des Fin Form eines Tötungsversuchs dargestellt hat. Dieser gegenwärtige rechtswidrige Angriff des A auf F ist nicht durch Nothilfe gerechtfertigt, vielmehr als versuchter Mord strafbar 2 8 9 . (3) Stürzt sich der Raufbold A bei einer Schlägerei, in die sein streitsüchtiger 143 Bruder Β mit X verwickelt ist, auf den Dritten und boxt ihn zusammen mit Β nieder, so ist dieser durch NotweAr, A — trotz seines Angriffswillens gegenüber X — durch NotAiT/e gerechtfertigt, wenn sein Bruder Β ausnahmsweise einmal nicht der Angreifer, sondern hier der Überfallene war 2 9 0 . Denn A ist hier objektiv einem Angegriffenen zu Hilfe gekommen, obwohl er Β irrig für den Angreifer wie üblich hielt und sich auch als solcher betätigen wollte. Nach der herrschenden Meinung ergäbe sich die groteske Konsequenz, daß der in den Kampf eingreifende A mangels Verteidigungswillens rechtswidrig auf den Dritten einschlüge, so daß sich die285 Zu diesem Fall eingehend Spendei Bockelmann-Festschr. S. 245, 252 ff, 254; ders. DRiZ 1978 327, 331 f. 286 Dagegen für strafbaren Mord Binding Handb. S. 750 Anm. 66 in dem Fall, daß Wilderer A, anscheinend mit Absicht (also nicht wie im obigen Sachverhalt versehentlich) einen anderen, den B, „der gerade die Büchse auf den Förster angeschlagen hatte", erschießt, „wenn der Schuß nicht erfolgte, um den Förster zu retten" (Hervorheb. vom zitier. Verf.). 287 So z. B. Samson SK I Rdn. 32 nach § 16; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 64; Jescheck AT S. 477 (§ 56 I 3); Stratenwerth Strafr., AT S. 151 (Rdn. 494); Himmelreich S. 100; Schaffstein Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den Fahrlässigkeitsdelikten, Welzel-Festschr. (1974) S. 557, 573 ff, 576 f. Gegen ein solches subjektives Erfordernis bei den fahrlässigen Taten nachdrücklich auch Rud. Schmitt Subjektive Rechtfertigungselemente? JuS 1963 64. 288 Näher dazu Spendet Bockelmann-Festschr. S. 252 ff, 255 ff; ders. DRiZ 1978 331. 289 Spendet Bockelmann-Festschr. S. 258 ff; ders. DRiZ 1978 332 1. Sp. 290 Zu diesem Fall eingehender Staab S. 40 ff; Spendet DRiZ 1978 332 zu Nr. 3. (67)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

ser als der tatsächliche Angreifer und Urheber der Schlägerei zwar nicht gegen den von ihm Überfallenen B, wohl aber gegen den objektiv seinem Bruder zu Hilfe kommenden A auf Notwehr berufen dürfte. 144

Spätestens solche Fälle wie der zu 3, in dem Notwehr und Nothilfe nebeneinander ausgeübt werden, vor allem auch die Berücksichtigung der Position des Gegners, der nicht immer die innere Einstellung seiner Kontrahenten zu durchschauen vermag, sollten zeigen, zu welchen Schwierigkeiten und Ungereimtheiten die Subjektivierung der Notwehrvoraussetzungen führen muß291. Es ist auch nicht einzusehen, warum die herrschende Meinung zwar die Begriffe „Angriff (s. Rdn. 24 ff) und „Erforderlichkeit" seiner Abwehr (s. Rdn. 219) rein objektiv bestimmen kann, nicht aber das Merkmal der „Verteidigung" selbst. Unklar bleibt schließlich, wieweit neben einem „Verteidigungswillen" noch andere subjektive Momente wie Haß, Zorn, Rache für die Notwehr bestimmend werden dürfen. Die Rechtsprechung vertritt die Auffassung, daß solche inneren Gründe eine Rechtfertigung nach § 32 StGB nicht ausschlössen, sofern der Abwehrwille vorliege (RGSt. 54 196, 199/200; 56 259, 268; 60 261, 262; 62 76, 78; BGHSt. 5 245, 247; BGH bei Holtz MDR 1979 634) 2 9 2 , z.T. mit der Einschränkung, dieses subjektive Merkmal dürfe nur nicht „von ganz nebensächlicher Bedeutung" gewesen sein (BGHSt. 3 194/195, 198; BGH GA 1980 67, 68)293. Gegenüber diesen Formulierungen ist abschließend festzuhalten: Verteidigung ist ein Verhalten, das im Augenblick des Angriffs objektiv dessen Abwendung dient, ohne daß der Notwehrer subjektiv einen entsprechenden Verteidigungswillen, der aber in der Regel gegeben sein wird, haben müßte.

145

bb) Selbst- oder Nächstenhilfe (Notwehr i. e. S. oder Nothilfe): Die Verteidigung ist in der Regel Selbsthilfe (Notwehr im engeren Sinn), mit der sich der Verteidiger eines Angriffs auf seine eigene Person und seine eigenen Güter erwehrt; sie kann aber auch Nächstenhilfe sein (Notwehr im weiteren Sinn oder Nothilfe), mit der der Helfer den Angriff von einem anderen (s. § 32 II StGB) abwendet. Dieses Recht zur Fremdvtrteidigung leitet sich nicht notwendig von dem zur Selbstverteidigung ab 2 94 ; i s t vielmehr als selbständiges Recht anzusehen295. Der Versuch, die Nothilferegelung enger zu fassen als die Notwehrbefugnis und für die erstere die Beachtung der Proportionalität zwischen den durch Angriff und Abwehr bedrohten Rechtsgütern zu verlangen 296^ entspricht weder dem Gesetz noch der Sache und ist als verfehlt abzulehnen. Die Nothilfe muß nicht mit, sondern kann auch gegen den Willen des Angegriffenen ausgeübt werden, sofern nicht dessen Einwilligung die

291 Auf solche Fälle, denen auch schwerlich mit verfehlten theoretisierenden Ausführungen beizukommen ist, geht PrittwitzGA 1980 381 bezeichnenderweise gar nicht ein; eine Stellungnahme dazu vermeidet auch Geilen Jura 1981 200, 308 Anm. 38. 292 Zustimmend z. B. Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. VI (S. 206); Baumann AT S. 314 (§ 21 II 1 a) δ); Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 382 (§ 26 II Β 1); Jescheck AT S. 275 (§ 32 II 2). Einschränkend (nur „Verteidigungs¿>ew«/toem", ohne Rücksicht auf die Beweggründe der Verteidigungshandlung) Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 63. 293 Ebenso ζ. B. Dreher-Tröndle Rdn. 14. 294 Anders jedoch Kraegeloh S. 40 und vor allem Schubert StrAbh. H. 311 (1933) S. 33, 41, 46/ 47; s. noch Ritter GerS 115 (1941) 239 ff, 247. 295 So ausdrücklich Nagler LK.6 (1944) § 53 a. F. Anm. Ill.b) (S. 424); Νagier-Jagusch LK.7 I (1954) § 53 a. F. Anm. Ill.b) (S. 367); s. auch BayObLGSt. NJ 4, 1954 111, 113. 296 Seelmann ZStrW 89 (1977) 36 ff, 60; dagegen auch Roxin ZStrW 93 (1981) 71 Anm. 8/72. (68)

§32

Notwehr (Spendei) 297

Rechtswidrigkeit des Angriffs wirksam auszuschließen vermag . Auf einen „Verteidigungswillen" des Angegriffenen kommt es auch hier nicht an (anders BGHSt. 5 245, 247 unt.; BGH JZ 1976 138), da die Nothilfevoraussetzungen ebenfalls objektiv zu bestimmen sind und ein Abwehrwille des zu Verteidigenden für den Nothelfer oft gar nicht klar zu erkennen ist. Eine solche Nothilfe ist nicht mit der Begründung abzulehnen, daß sie dem anderen nicht „aufzudrängen" sei (so jedoch BGHSt. 5 248 ob.), sondern unter dem Gesichtspunkt anzuerkennen, daß der Verteidiger nicht noch für seine Hilfsbereitschaft und Ritterlichkeit desavouiert werden darf. Wer einen Liebhaber, der seine unglückliche Freundin zu töten sucht, gegen deren erklärten Willen gewaltsam an der versuchten Tötung auf Verlangen hindert, handelt in berechtigter Notwehr (Nothilfe) 298 . Gleiches gilt für den Spaziergänger, der den Notzüchter niederschlägt, wiewohl sich die Überfallene Frau nicht wehren will, um ihr Leben nicht zu gefährden; für den Hausnachbarn, der die verängstigte und geduldige Ehefrau vor den Schlägen ihres betrunkenen und brutalen Ehemannes bewahrt, obgleich sie mit der fremden Hilfe nicht einverstanden ist 2 9 9 ; schließlich auch für den polizeilichen oder privaten Schützen, der auf einen Geiselnehmer schießt, selbst wenn die Geisel das nicht will, weil sie von dem Verbrecher erschossen zu werden fürchtet. Nur dort, wo der Angegriffene den Angriff nicht nur duldet, sondern darüber 146 hinaus objektiv erkennbar darin einwilligt und über das bedrohte Rechtsgut allein verfügen darf, entfällt mangels Rechtswidrigkeit des Angriffs das Nothilferecht des Dritten 3 0 °, so z. B. bei einem vereinbarten Boxkampf oder in dem Fall, daß ein Großgrundbesitzer einem armen Mann die Kaninchenjagd (Eingriff in Grundeigentum und Vermögen, nicht etwa Wilderei, RGSt. 46 348, 350) erlaubt; hier darf ein übereifriger Angestellter (Jagdaufseher) dem Jagenden nicht das Jagdgerät wegnehmen. Eine derartige Unrechts- oder auch schon tatbestandsausschließende Einwilligung ist mehr als nur sich nicht verteidigen wollen (s. Notzuchts-Beispiel) oder mit der fremden Hilfe nicht einverstanden sein (Ehestreit-Beispiel). Insgesamt ist also die Formulierung von BGHSt. 5 248 ob., bei mangelndem Verteidigungswillen des Angegriffenen, „obwohl er einen solchen Entschluß fassen darf und kann", stehe dem Dritten nicht das Nothilferecht zu, zu weitgehend. Ein Mann braucht nicht zuzuwarten, bis ein gewalttätiger Bursche seinen Freund niedergeschlagen hat, wenn dieser in falschem Stolz mit seinem Gegner allein fertig zu werden hofft, sich also aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe seines Angreifers erwehren will. b) Träger der Verteidigung (Problem der „Staatsnothilfe"): Schrifttum Bertram Gibt es Notwehr des Staates im Verwaltungsrecht? VerwArch. 33 (1928) 428; v. d. Brelie Staatsnothilfe und Widerstandsrecht, Diss. München 1978; v. Campe Rechtsgedanken

297 Ebenso z. B. Binding Handb. S. 737 zu e); Rob. ν. Hippel II S. 213 zu N r . V ; Gerland S. 147; Νagier-Jagusch LK6 I aaO; insofern auch treffend Schubert StrAbh. H. 311 (1933) 48/49, 50; Schmidhäuser AT S. 356 (9/107); Fr. Chr. Schroeder Maurach-Festschr. S. 141; ζ. T. anders BGHSt. 5 245 und ihm folgend ζ. B. Blei AT S. 135 (§ 40 II 4); Jescheck AT S. 280 (§ 32 IV 1); Otto G r K StR S. 123 ; nur bedingt Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 25/26. 298 Härtung JR 1931 61, 66/67; insofern auch richtig Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 19. 299 Ebenso Gerland S. 147 zu II 1 a); Νagier LK6, Nagler-Jagusch LK7 I aaO. 300 Binding Handb. S. 737 zu e); Rosenfelder S. 53 ff, 54 f; Gerland S. 147; Schubert aaO S. 48/49, 50; Schmidhäuser AT S. 356 (9/107); Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. 2.a) δ) a. E. (S. 792). (69)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

über „Staatsnotwehr" DJZ 1920 486; Grosshut Staatsnot, Recht und Gewalt (1962); v. Gierke, Julius Widerstandsrecht und Obrigkeit (1956); Härtung Notwehr und Notstand zu Gunsten des Staates JR 1931 61; Herzog Das positi vierte Widerstandsrecht, in: Ad. Merkl-Festschr. (1970) S. 99; Hösch Staatsnotwehr, Diss. Erlangen 1950; Isensee Das legalisierte Widerstandsrecht (1969); Knoch Die Nothilfe zugunsten des Staates (Staatsnothilfe), Diss. Würzburg 1965; Kurzweg Über ein Notrecht zur Verteidigung der öffentlichen Ordnung GA70 (1925) 72; Lammerding Die Staatsnothilfe als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund, Diss. Münster 1970; Lederle Staatsnotwehr, Diss. Würzburg 1928; Lenz Notstandsverfassung des Grundgesetzes (1971); Oetker Hilfeleistung in Staatsnotwehr und Staatsnotstand GerS 97 (1928) 411 ; v. Peter Bemerkungen zum Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG DÖV 1968 719; Radbruch Staatsnotstand, Staatsnotwehr und Fememord, in: Die Justiz, V. Bd. (1929/30) S. 125; J. M. Ritter Der Volksgenosse als Helfer in Volksnot GerS 115 (1941) 239; Schubert Staatsnothilfe, StrAbh. H. 311 (1933); Schuck Notwehr Privater zugunsten des Staates, Diss. Breslau 1934; Stock Über Staatsnotwehr und Staatsnotstand GerS 101 (1932) 148. Vgl. im übrigen das Schrifttum vor Rdn. 163.

147

Während im Prinzip auf der Angriffsseite nur ein Beteiligter steht, können auf Seiten der Abwehr, wie schon beim Begriff der Verteidigung festgestellt (Rdn. 145), die Rollen auseinanderfallen: der Angegriffene ist entweder „aktives" (sich verteidigendes) oder „passives" (verteidigtes) Subjekt des Notwehraktes, entweder der Verteidiger, der sich selbst wehrt, oder der zu Verteidigende (der „andere" i. S. d. § 32 II StGB), dem von einem Dritten geholfen wird. In diesem zweiten Fall erscheint der Angegriffene in Beziehung auf den Verteidiger (Nothelfer) bis zu einem gewissen Grade nicht nur als „Objekt" des Angriffs, sondern auch der Abwehr. Gleichwohl ist die Frage, wer bzw. welche Person der angegriffene und zu verteidigende „andere" gemäß § 32 II StGB sein kann und wem infolgedessen Nothilfe geleistet werden darf, nicht zu verwechseln mit der Frage, was als Schutzobjekt oder Rechtsgut der Verteidigung anzusehen ist 3 0 '.

148

aa) Der Verteidiger: Aktive Träger der Verteidigung, d. h. der Angegriffene als sein eigener Not-wehrer und jeder Dritte als dessen fremder Not-helfer, sind unzweifelhaft Menschen als natürliche Personen. Nur tatsächlich, nicht rechtlich kann unt. Umst. auch ein Tier Helfer in der Not sein, z. B. ein kluger Wach- oder Blindenhund, der von selbst einem Bedrohten zu Hilfe kommt. Soweit ein Tier angegriffen und von einem Menschen verteidigt, z. B. ein Pferd von einem Kutscher brutal geschlagen und daraufhin von einem eingreifenden Passanten geschützt wird, also als „Objekt" der Abwehr erscheint, ist Angegriffener im juristischen Sinne nicht der arme Droschkengaul, sondern der in seinem Mitgefühl mit der Kreatur verletzte Zuschauer, der sich gegen diesen Angriff selbst wehrt (s. Rdn. 189). 149 Fraglich ist dagegen, ob, wie beim Begriff des Angreifers, als Verteidiger oder Nothelfer neben natürlichen auch juristische Personen, insbesondere der Staat, in Betracht kommen, was gelegentlich, so z. B. schon von Binding (Handb. S. 733), angenommen worden ist 3 0 2 : Als „Subjekt" oder „Inhaber des Notwehrrechts" sei z. B. ein rechtsfähiger Verein anzusehen, wenngleich nur eine natürliche Person

301 Auf die Notwendigkeit, diese beiden Fragestellungen besonders bei der Staatsnothilfe scharf zu unterscheiden, hat wohl erstmals Schuck S. 11, 18 hingewiesen. 302 Ferner noch v. Kallina S. 67; Oetker GerS 97 (1928) 414 (im Bürgerkrieg befinde sich der Staat den Aufständischen gegenüber in Notwehr); Lederle S. 27 („erster Träger einer Staatsnotwehr der Staat selbst)·, Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. I. Bd. (1978) § 227 Rdn. 10 (70)

Notwehr (Spendei)

§32

— sei es ζ. Β. ein Vereinsmitglied, sei es nur der angestellte Hauswart — das Recht und die Abwehr etwa gegen die rechtswidrige Durchsuchung des Vereinslokals auszuüben vermöge 303 . Nach dem RG (RGZ 117 138, 143 ob. und — in einer zweiten Entscheidung in derselben Sache — RG DRiZ 1929 Beil. Rspr. Nr. 719, Sp. 313) soll der Staat als juristische Person des öffentlichen Rechts und Träger der obersten Hoheitsgewalt bei Angriffen auf seinen Bestand selbst in NotweAr handeln können, so in dem Falle, daß 1923 ein preußischer Oberpräsident und auf seine Anweisung hin der Polizeipräsident von Hannover die Setz- und Druckmaschinen einer linksradikalen Zeitung durch Losschrauben von Teilen stillegen ließen, um die Veröffentlichung weiterer zu Unruhen und zum Sturz der Regierung aufhetzender Zeitungsartikel zu verhindern. Diese Entscheidung ist aber schwerlich dazu angetan, eine derartige Konstruktion zu stützen und den Staat als solchen, die Körperschaft schlechthin, als „Verteidiger" erscheinen zu lassen 304 . Denn einmal „handelt der Staat, der sich seiner inneren Angreifer erwehrt,... an sich nicht in Notwehr, sondern macht lediglich Gebrauch von der ihm zustehenden obersten Gewalt", wie RGZ 117 142 ob. selbst schon zutreffend bemerkt hat 3 0 5 . Zum anderen war er hier auch gar nicht durch seine zuständigen Staatsorgane verkörpert; denn zu der von den hohen Beamten veranlaßten Abwehrmaßnahme, dem Eingriff in die Pressefreiheit, war nach damaligem Verfassungsrecht nur der Reichspräsident oder, bei Gefahr im Verzug, die Landesregierung (und nicht der Oberpräsident) befugt (RGZ 117 141). Für eine mehr an den Tatsachen orientierte und auf die Handlungsfähigkeit von 150 Individuen abstellende strafrechtliche Betrachtungsweise dürfte es außerdem gekünstelt sein, von NotweAr (und zwar im engeren Sinn) der juristischen Person als solcher dort zu sprechen, wo die natürliche Person als Organ die Körperschaft vertritt und verteidigt, dagegen von Nothilfe der Einzelperson da, wo diese als Dritter (ζ. B. unzuständiges Staatsorgan, Vereinsmitglied oder -angestellter) für die Gesamtperson eintritt und Angriffe abwehrt 306 . Vollends für eine juristische Person des öffentlichen Rechts wie den Staat, der aus eigener Machtvollkommenheit eingreift, ist eine solche Unterscheidung abzulehnen. Richtig erscheint vielmehr, in jedem Falle als Verteidiger (wie schon als Angreifer) natürliche, nicht aber juristische Personen, gleichgültig, ob es solche des privaten oder öffentlichen Rechts sind, anzusehen.

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(„Staatsnotwehr" durch den Staat als Fiskus). Vgl. auch noch RJustMin Dr. Blunck am 13. 4. 1920 in der Deutschen Nationalversammlung (der Aufruf einiger Regierungsmitglieder zum Generalstreik gegen den Kapp-Putsch sei ein „Akt der Staatsnotwehr" gewesen), Verhandl. d. verfassunggeb. Nationalversamml., Stenogr. Ber., Bd. 333, S. 5103 u. 5144, und dazu kritisch Stock GerS 101 (1932) 152 Anm. 8. Beispiel nach v. Kallina S. 67. Gegen das Urteil Bertram VerwArch. 33 (1928) 428, 434; Häntzschel JW 1927 1991 Nr. 2; Hensel Grundrechte und Rechtsprechung, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben (1929) I. Bd., S. 1, 17/18; Schubert StrAbh. H.311 (1933) S. 34 f, 40/41; Grosshut S. 148. In der Theorie ebenso z.B. Schubert StrAbh. H.311 (1933) S.41 mit weit. Nachw.: „Soweit der Staat als Hoheitsträger handelt, kann er sich nicht, auch im Notfalle nicht, auf privat-" (ergänze: oder straf-) „rechtliche Notwehr zu seiner Rettung berufen." So jedoch ausdrücklich die Unterscheidung von Sommerfeld (s. vor Rdn. 163) S. 57 Anm. 9).

§32

2. Abschnitt. Die Tat

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Daraus folgt: Von einer „Staatsnotwehi" 307 ist zur Vermeidung von Mißverständnissen besser nicht zu sprechen, da es eine solche im engeren Sinn, d. h. im Sinn einer eigenen Abwehr des Staates als öffentlich-rechtlicher Körperschaft von Angriffen auf sich selbst, für das Straf- und Zivilrecht nicht gibt 3 0 8 . Daraus ergibt sich aber noch nicht notwendig, daß auch der Begriff der Staatsnot/)i7/e (Staatsnotwehr im weiteren Sinn) abzulehnen sei 3 0 9 . Denn eine andere Frage ist, ob nicht „Objekt" des Angriffs und damit „passives Subjekt" der Abwehr neben natürlichen zugleich juristische Personen sein können und ob deshalb nicht auch der Staat als Hoheitsträger wie als Fiskus „anderer" i. S. d. § 32 II StGB (§ 227 II BGB) sein muß, eine Frage, die in der Tat zu bejahen ist.

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bb) Der zu Verteidigende (der „andere" i. S. d. § 32 II): Dieser muß auch eine bestimmte oder bestimmbare Person, ein Rechtssubjekt sein 3 1 0 . Daß unter den Begriff neben natürlichen zunächst juristische Personen des Zivi/rechts, ζ. B. ein rechtsfähiger Verein oder der Staat als Fiskus, fallen, ist fast allgemein anerkannt, s. RGSt. 60 273, 276/277 (Fall der Nothilfe gegen Sammeln von abgeworfenen Hirschstangen im Staatswald zugunsten des Fiskus); 63 215, 220 (Abwehr eines Diebstahls von Gemeindevermögen als Beispiel) 3 1 1 . Jeder Private darf also einen Dieb daran hindern, eine Vereins- oder Staatskasse zu plündern oder Schreibmaschinen aus einem Amt zu stehlen.

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Umstritten ist dagegen, ob und wieweit dies auch für juristische Personen des öffentlichen Rechts, insbesondere den Staat als Hoheitsträger gilt und es eine StaatsnoXhilfe des Dritten, sei es des privaten Staatsbürgers, sei es eines unzuständigen Staatsorgans, gibt 3 1 2 . Gegenüber unentschiedenen oder nicht eindeutigen Stellung-

307 Zum Mißbrauch des Ausdrucks in den Fememord-Prozessen s. ζ. B. kritisch Radbruch in: Die Justiz V (1929/30) 125, 333, 663; ferner insbesondere das berüchtigte Gesetz v. • 3. 7.1934 (RGBl. I, S. 529), das die Morde in der Röhm-Affäre als „Staatsnotwehr" für „rechtens" erklärte. 308 Insofern zutreffend Stock GerS 101 (1932) 148, 158: im Strafrecht, das Deliktsfähigkeit nur natürlichen, nicht juristischen Personen zuerkenne, könne es nicht wie im Völkerrecht eine „StaatsnotweA/'' in dem Sinne geben, „daß der Staat selbst den ihm drohenden Angriff von sich ..." abwehre (Hervorh. vom zitier. Verf.); ebenso Schubert aaO S. 2. 309 Wie Schubert aaO S. 47 meint, der diesen Schluß sogar für geradezu „mathematisch" zwingend hält. Daß er alles andere als dies ist, zeigt Schuberts vorausgehende merkwürdige und widersprüchliche Überlegung, „ein verfassungs widriges Vorgehen eines Staatsorganes" könne in /Vorlagen „durch politische Notwendigkeiten derart gerechtfertigt erscheinen, „daß die öffentliche Meinung den Rechtsbruch hinnimmt". 310 So klar und treffend Lobe LK.5 (1933) § 53 a. F. Anm. 2.d) (S. 387); Schubert aaO S. 11. 311 Ebenso Rob. ν. Hippel II S. 205/206; Schubert aaO S. 9 Anm. 16), 30 ob.; Sommerfeld S. 57/58 ob.; Baldus LK.9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 39; Jescheck S. 272 (§ 32 II 1 b); Sch.Schröder-Lenckner Rdn. 6; Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl. 2. HBd. (1960) S. 1449; Herrn. Dilcher in v. Staudingers Komm, zum BGB, 12. Aufl. I (1979) § 227 Rdn. 16. Kritisch und einschränkend Stock GerS 101 (1932) 167 („Anderer" i. S. d. § 32 „neben natürlichen Personen nur allenfalls juristische Personen des Privatrechts und juristische Personen des öffentlichen Rechts n u r . . . in vermögensrechtlicher Beziehung"), s. aber auch dens. S. 159. 312 Der Ausdruck „Not/¡///è für den Staat findet sich in der Literatur schon früh, ζ. B. 1906 bei Lampson (s. vor Rdn. 163) S. 24, 26 ff, ist also nicht erst um die Zeit des ersten Weltkrieges aufgekommen, wie Kahl in der Deutschen Nationalversammlung am 14. 4. 1920 (s. Stock GerS 101 [1932] S. 152 Anm. 8) und noch v. d. Brelie S. 7 zu Unrecht gemeint haben. Im vergangenen Jahrhundert und ganz aktuell bereits Berner Arch. d. CrimR 1848 (72)

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n a h m e n ^ oder besonderen Lösungsversuchen 14 U n d entgegen einer beachtlichen M i n d e r m e i n u n g 3 ! 5 ist der herrschenden Ansicht zuzustimmen, die § 3 2 II StGB (§ 227 II BGB) in diesen Fällen f ü r anwendbar erklärt (so - außer R G Z 117 [1927] 138 im Ergebnis — RGSt. 63 [1929] 215, 220 mit zustimm. Besprech. von Oetker GerS 99 [1930] 156)31. Dafür sprechen, wie z. B. auch Schubert (StrAbh. H. 311 [1933] S. 31) als Gegner 1 5 4 des Staatsnothilferechts einräumen muß, das Gesetzesmerkmal „anderer" in § 32 II StGB (§ 227 II BGB) u n d der Umstand, daß das Recht grundsätzlich physische und juristische Personen gleichstellt, soweit keine Ausnahmen statuiert sind oder durch die Tatsachen erzwungen werden. Die damit beim Träger der Verteidigung gemachte Unterscheidung zwischen „Verteidiger" und „zu Verteidigendem" ist sinnvoll. D e n n dieser zu schützende „andere" braucht keine natürliche Handlungsfähigkeit zur Angriffsabwehr zu besitzen und erscheint fast ebenso als „Objekt" wie als „passives Subjekt" der für ihn von einem Dritten geübten Verteidigung (s. Rdn. 147); die unmittelbaren Schutzobjekte der Staatsnothilfe sind zudem Rechtsgüter der Körperschaft, die teilweise, wie z. B. die angegriffene Staatsgewalt oder das bedrohte Staatsgebiet, zugleich wesentliche Elemente des juristischen Personenund Staatsbegriffs bilden 3 17. i m Fall von R G Z 117 138 war also richtigerweise zu fragen, ob, da die zuständigen Organe der Staatsmacht (Reichspräsident oder Landesregierung) offenbar der Lage nicht mehr Herr wurden, den beiden unzuständi-

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551: eine „Bürgerschaft, die gegen eine hochverräterisch hereinbrechende Horde zum Schutze des Staates die Waffen ergreift", sei wegen Notwehr (im weit. Sinn) nicht strafbar, 562: man „darf auch den angegriffenen Rechten des Staates verteidigend beispringen" (!). Zum frühen Gebrauch des Begriffs in der Politik Grosshut S. 20 ff. Frage offengelassen: RGSt. 56 (1921) 259, 268; 64 101, 103 unt.; nicht zweifelsfrei: BGHSt. 5 245, 247 („Güter, die nur dem Staate als Träger der Staatshoheit zustehen, für den Staatsbürger regelmäßig" (also ausnahmsweise doch?!) „nicht wehrfähig"); s. noch OLG Düsseldorf NJW 1961 1783, 1784; OLG Stuttgart NJW 1966 745, 748 1. Sp. ob.; Radbruch in: Die Justiz, V. Bd. (1929/30) 127/128; Mezger Lehrb. S. 238 Anm. 24, 242 Anm. 8. Für Sonderlösungen oder einschränkend Stock GerS 101 165 ff., 168/169 und ihm folgend Sommerfeld S. 63 (eingeschränkte oder nur entsprechende Anwendung der Notwehrvorschrift); Mezger LK.8 I (1957) Vorb. lO.i) cc) γ) vor § 51 a. F. (S. 347: „einheitliche Notkehi" ohne Unterscheidung von Notwehr und Notstand); Welzel S. 88 (selbständiger Rechtfertigungsgrund); Blei AT S. 143 (§ 44 II a) und Jescheck AT S. 273 (§ 32 II 1 b), 280 (§ 32 IV 2) (ζ. T. Notstand); s. noch Knoch S. 90 ff. Gegen eine Staatsnothilfe Klee GA 70 (1925) 72 Anm. 1 ; Alfred Schmitz Schutzobjekte der Notwehr, Diss. Köln 1929, S. 37; Schubert StrAbh. H. 311 (1933) S. 45, 48, 59; Hellm. Mayer AT S. 182/183; Samson SK I Rdn. 9; v. d. Breite S. 47/48 u. passim; Haas S. 314; ganz ablehnend Grosshut S. 161 ff. und passim. Für eine Staatsnothilfe Binding Handb. S. 733, s. aber auch 737; v. Campe DJZ 1920 487 1. Sp. ; Hachenburg DJZ 1920 505 1. Sp.; Μ. E. Mayer AT S. 279 Anm. 10; Kurzweg GA 70 (1925) 72 ; Oetker GerS 97 (1928) 411 ; Rob. ν. Hippel II S. 206 ; Härtung JR 1931 61 ; Frank § 53 a. F. Anm. I (S. 160 ob.); Gerland S. 147; v. Liszt-Schmidt AT S. 197 Anm. 10; Allfeld S. 124 ob.; Schmidhäuser AT S. 357 (9/108); Baumann S. 351 (§ 21 II 8 b); Maurach-Zipf AT S. 377 (§26 II A 3), 391 (§26 II Β 4); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 6; Lackner Anm. 2.b); Lammerding S. 41, 52 ff, 54. Wie der Angriff auf den Leib ein Angriff auf die ganze Einzelperson Mensch ist, so der Angriff ζ. B. auf das StaatsgeWe/ durch Hoch- oder Landesverrat ein Angriff auf die Gesamtperson Staat, da das Staatsgebiet ein wesentlicher Bestandteil dieser öffentlichrechtlichen Körperschaft ist.

§ 3 2

2. Abschnitt. Die Tat

gen Beamten (Oberpräsident und Polizeipräsident) oder unt. Umst. auch eingriffsbereiten Privaten ein Not/»7/erecht zugunsten des in seiner Verfassung und Regierung angegriffenen Staates zuzubilligen war; das ist vom RG im Ergebnis mit Recht bejaht worden. 155 Gegen eine Nothilfe des einzelnen für den Staat ist auch nicht etwa anzuführen, daß dieser mittels seiner berufenen Organe rechtswidrige Angriffe von sich selbst aus eigenem und nicht aus Notwehrrecht abwehrt; denn das Nothilferecht des Dritten ist, wie bereits bemerkt (Rdn. 145), nicht als abgeleitetes, sondern als selbständiges Recht aufzufassen. Der Satz, „Nothilfe nur da, wo Notwehr gegeben wäre" 3 ' 8 , ist eben eine doktrinäre These, die zur verfehlten Prämisse für falsche Schlüsse wird 3 1 9 . Wie der einzelne als Soldat sein Land gegen Angriffe von außen, so kann er als Bürger seinen Staat gegen Angriffe im Innern verteidigen, da er einerseits als Angehöriger dieses Staats in beiden Fällen selbst in seinem Leben oder seiner Freiheit mehr oder minder mittelbar bedroht wird 3 2 0 , andererseits gerade nach der demokratischen Staatsform alle Staatsgewalt vom Volke, also von den dieses bildenden Volks- und „Staats-angehörigen" ausgeht 321 . 156

Die unmittelbare Bedrohung des Gemeinwesens durch ein versuchtes Staatsverbrechen vermag sogar so intensiv zu sein, daß sie sich zu einem ««mittelbaren Angriff auch auf bestimmte Einzelwesen, ja auf ganze Volksteile oder sogar auf das gesamte Staatsvolk steigert. Das wird sinnfällig an einem klassischen Fall, dem Landesverrat des Ephialtes, der nach Herodot den Persern an den Thermopylen einen versteckten Gebirgspfad verriet und so zur Umgehung der griechischen Stellung und Vernichtung der spartanischen Vorhut verhalf. Leonidas und seine Krieger wurden durch diese Tat sicherlich nicht weniger unmittelbar angegriffen als das Gemeinwesen selbst; ja man kann sagen, daß hier fast schon jeder Angehörige des um seine Existenz kämpfenden kleinen Griechenvolks durch den Verrat direkt bedroht wurde. Wer den Verräter an seinem Weg zum Perserkönig hätte hindern können — und wäre es auch nur durch Tötung möglich gewesen — hätte recht getan und Nothilfe zugunsten des ganzen Staatswesens geübt 3 2 2 . Diese Überlegungen zeigen aber auch, daß eine Nothilfe für den Staat, der durch einen unmittelbar bevorstehenden Landesverrat akut bedroht wird, nicht etwa davon abhängig zu machen ist, ob und wieweit der Verteidiger selbst dadurch direkt betroffen wird. 157 Umgekehrt kann der unmittelbare Angriff auf eine natürliche Person gleichzeitig einen mittelbaren auf die juristische Person (Staat) bedeuten, wenn jene als Organ(walter) und staatlicher Repräsentant angegriffen wird wie beim „Widerstand 318 Schubert aaO S. 47, obwohl ders. S. 45 zunächst selbst die Lehre als „vertretbar" bezeichnet, „daß es" (für das Staatsnothilferecht) „auf die rechtliche Qualifizierung der staatlichen Abwehrtätigkeit nicht ankommt"! 319 Vgl. schon Fußn. 309 zu Rdn. 151. 320 Das Recht zur Staatsnothilfe wird man sogar den im Gastlande lebenden Ausländern zubilligen müssen, s. Kraegeloh S. 56/57. 321 Vgl. ζ. B. Isensee S. 34, daß das ein Recht der Staatsnothilfe darstellende Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG als Ausfluß der Volkssouveränität erscheine; ebenso Herzog in Maunz-Dürig-Herzog GG (Stand 1980) Art. 20 IV Anm. IX. Rdn. 35. 322 Ebenso für den Fall des Spions, der nur gewaltsam am Grenzübergang mit wichtigen Staatsgeheimnissen gehindert werden kann, bereits Binding Handb. S. 737 Anm. 22; Lampson S. 27; dann (als Beispiel) RGSt. 63 215, 220; ferner ζ. B. Sauer AStL S. 132 ob.; Baldus LK.9 ι (1974) § 53 a. F. Rdn. 39 a. E.; Schmidhäuser AT S. 357 (9/108); Baumann AT S. 351 (§21 II 8 b); Maurach-Zipf AT l.TBd. S.391 (§2611 Β 4); Sch.-SchröderLenckner Rdn. 7 a. E. (74)

Notwehr (Spendei)

§32

gegen die Staatsgewalt". Im Grunde liegt daher eine „Staatsnothilfe" im weitesten Sinne auch dort schon vor, wo ein dem bedrohten Beamten beispringender Privater dem tätlichen Angriff i. S. d. § 113 StGB wehrt und damit die staatliche Autorität wahrt, obwohl der Begriff hier nicht praktisch wird 3 2 3 . Daß der Nothelfer nicht nur dem Amtsträger als Einzelperson, sondern zugleich dem von diesem vertretenen Staat als Gesamtperson beisteht, wird dann besonders deutlich, wenn der Dritte die Ausschaltung eines Staatsorgans und dadurch die Vernichtung eines Staatsteils verhütet, z. B. im letzten Augenblick Terroristen gewaltsam daran hindert, durch einen Bombenwurf oder Raketenbeschuß alle bei einer Veranstaltung versammelten Bundesverfassungsrichter zu ermorden und so das gesamte Gericht als Verfassungsorgan zu lähmen 3 2 4 . In solchen Fällen dem „Staatsnothilferecht keine Bedeutung" beizumessen, weil sich der Nothelfer bereits auf § 32 StGB zugunsten jedes einzelnen Bedrohten berufen könne 3 2 5 , muß zu gezwungenen Konstruktionen führen, sobald sich die Stoßrichtung des Angriffs verschiebt und dieser in erster Linie dem Staat selbst und nur sekundär oder indirekt auch dem einzelnen gilt, so z. B. bei einer Wahlfälschung (§ 107 a StGB) oder bei einer Verunglimpfung des Staates (§ 90 a StGB). Mit dem Delikt gegen die rechtmäßige Berufung der Träger staatlicher Macht wird nach manchen Autoren zwar primär eine fundamentale Voraussetzung des demokratischen Rechtsstaates und dessen „innere Organisation", „gleichzeitig" aber auch das Wahl- und „Bürgerrecht des einzelnen" angegriffen, so daß eine gewaltsame Verhinderung eines solchen strafbaren Vorgehens „ohne weiteres durch Notwehr zugunsten des einzelnen gerechtfertigt" sein könnte 3 2 6 ; ein Beisitzer dürfte daher den mit der Sortierung der Stimmzettel betrauten Wahlvorsteher mit Gewalt hindern, Wahlscheine zu zerreißen oder sonst verschwinden zu lassen. Erscheint eine solche Konstruktion nicht unproblematisch, so muß sie bei einer Verunglimpfung der Bundesrepublik Deutschland (§ 90 a StGB), z. B. durch öffentliche Beschmutzung oder Verbrennung der Staatsflagge oder Verhöhnung der Nationalhymne, noch gekünstelter und unzureichender wirken. Denn in diesem zweiten Fall wird unbestreitbar primär der Staat als juristische Geyam/person angegriffen, mag sich der Staatsbürger als natürliche Einzelperson noch so sehr selbst in seinem Nationalgefühl verletzt fühlen. Ob der einzelne den Angriff auf sein vaterländisches Empfinden in NotweAr abwenden und gegen den Übeltäter einschreiten darf, ist zweifelhaft und umstritten 327 . Nothilfe zugunsten seines Staates und dessen nationaler Ehre und Würde sollte dem Bürger jedenfalls nicht versagt werden 3 2 8 . Es wäre grotesk, wenn er wohl die Zerreißung oder Verbrennung der vor 323 324 325 326

Ebenso Kraegeloh S. 77; Schubert StrAbh. H. 311 (1933) S. 9 Anm. 16), 24. Zur Vernichtung eines Staatsorgans s. auch kurz Knoch S. 58. So in der Sache Schubert aaO S. 24; ähnlich Sommerfeld (s. vor Rdn. 163) S. 58 ob. Schubert aaO S. 24 und 25 Anm. 40) unter weitgehender Übernahme der Formulierungen von Lampson S. 23 und Anm. 1). Auch Kraegeloh S. 76 und Schiick S. 20, 31 bejahen bei Delikten gegen das Wahlrecht, das letzterer zu den fundamentalen, zur Staatsverfassung gehörenden Staatseinrichtungen rechnet, die Möglichkeit der Staatsnothilfe. 327 Bejahend: OLG Dresden J W 1925 1025 ; Schuck S. 29, 37 ; verneinend: BayObLG JW 1932 3775 Nr. 2; Lampson S. 52/53; Jesse S. 9; Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 2.c); Schubert aaO S. 27 Anm. 44); unentschieden: Titze S. 91 Anm. 48); Sommerfeld S. 81/82. 328 So wohl auch Lampson S. 53 und Jesse S. 9; eindeutig Kraegeloh S. 78; Knoch S. 70. Für ein „Widerstandsrecht" des Staatsbürgers zum Schutze von „Würde, Ehre und Ansehen des Staates" allgemein und unbestimmt Jul. v. Gierke S. 24, 20. — Daß die gewaltsame Abwehr einer drohenden Verletzung von staatlichen Symbolen usw. nur durch eine (von ihm allerdings abgelehnte) Staatsnothilfe gerechtfertigt werden kann, erkennt auch Schubert aaO S. 27 an. (75)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

dem Regierungssitz hängenden Nationalflagge verhindern dürfte, weil er insoweit einen Angriff auf den Fiskus und dessen Eigentum abwendet 3 2 9 , nicht aber die Verhöhnung des staatlichen Symbols durch Pantomimik oder auf andere Weise (ζ. B. durch Anspucken) unterbinden dürfte, weil er insofern „nur" einen Angriff auf den Staat als Hoheitsträger abwehrt. Das zeigt bereits, warum es inkonsequent ist, wohl ein Recht der „Fiskusnothilfe" 330 , nicht aber der eigentlichen Staatsnothilfe zuzulassen. 159

Soweit sich der Angriff auf den Staat gegen dessen Verfassung richtet, genauer: in einem Unternehmen zur Beseitigung der in Art. 20 I—III GG näher umschriebenen verfassungsmäßigen Ordnung besteht, ist seit 1968 jedem Staatsbürger ein „Widerstandsrecht" verbürgt (Art. 20 IV GG), was die ausdrückliche Anerkennung und verfassungsrechtliche Präzisierung eines Nothilferechts für einen bestimmten, besonders schwerwiegenden Fall der Staatsbedrohung bedeutet 3 3 1 , da das erstere nicht nur die Frage der NotweAr des einzelnen gegen den Staat (genauer: gegen seine die Staatsmacht mißbrauchenden Organe) 3 3 2 , sondern auch die der Nothilfe des Bürgers für den (durch seine Organe oder Private bedrohten) Staat betrifft. Bereits 1848 hat Berner {Arch. d. CrimR 1848 563) treffend erklärt: „Ein Volk, dem die Regierung" (ergänze: oder eine Gruppe von Terroristen oder Anarchisten) „seine Verfassung verletzen will, hat, kraft des Rechtsgrundes der Notwehr, ein Revolutionsrecht, ein Recht des Widerstandes, d a s . . . vom Strafrichter als Strafaufhebungsgrund anerkannt werden muß".

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In der gegenwärtigen Straf- und Staatsrechtslehre herrscht allerdings über das Verhältnis von Art. 20 IV GG und § 32 StGB noch keine Klarheit und Einigkeit 333 . Nach der ersten Vorschrift muß der Angriff auf die Staatsverfassung als Form und Grenze der Staatsgewalt nicht nur eine Beeinträchtigung, sondern eine Beseitigung dieser staatlichen Ordnung bezwecken, d. h. gegen die Verfassungssubstanz gerich329 Nur mit dieser Einschränkung will in der Tat Schück S. 28, 29, 37 eine Nothilfe zum Schutz des staatlichen Ansehens zulassen, ist also gegen eine „Ehrennothilfe" zugunsten des Staates". 330 Wofür vor allem nachdrücklich Schubert aaO S. 30 eintritt. 331 Vgl. v. Peter S. 719 r. Sp. unt.: die Vorschrift stelle „den verfassungsrechtlich geregelten Fall der Staatsnotwehr oder Staatsnothilfe" dar; Lenz S. 105 (Rdn. 4) und S. 106 (Rdn. 7): „Nothilferecht zugunsten der Staatsordnung"; s. ferner schon Schück S. 32 ff, 36; Herzog in Maunz-Dürig-Herzog GG (Stand 1980) Art. 20 IV Anm. IX Rdn. 58 („strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund"). 332 Wegen seiner einseitigen Auffassung des Begriffs „Widerstandsrecht" in diesem ersten Sinne hat Schubert aaO S. 4 den Terminus von dem der „Staatsnothilfe" unterschieden und ihn aus seiner Untersuchung ausgeschieden. 333 Nach Baldus LK.9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 39 soll Art. 20 IV GG „die entscheidende Richtlinie" geben und zeigen, daß § 32 StGB für eine Staatsnothilfe nicht unmittelbar anwendbar ist. Dagegen enthält der Verfassungsartikel nach Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 6 a. E. „einen Unterfall der Staatsnotwehr". Nach Stratenwerth AT S. 134 (Rdn. 419) muß er „entsprechend auch für andere Angriffe auf den Staat gelten". Für Isensee ist das Widerstandsrecht bald eine „Ergänzung" (S. 40), bald ein „Unterfall" der Staatsnothilfe (S. 88). Nicht eingegangen wird auf das Verhältnis beider Vorschriften bei Herzog Ad. MerklFestschr. S. 101/102; Maunz-Dürig-Herzog Grundgesetz II. Bd. (Lfg. 1980) Art. 20 IV Anm. IX Rdn. 4 ff, 18, 58; ζ. T. unzureichend oder unhaltbar v. d. Brelie, dem die „Positivierung" des Widerstandsrechts bald „banal", bald „doch nicht ganz überflüssig", bald „albern" (sic!) (S. 83) und eine „Staatsnothilfe" nur im Rahmen des § 127 StPO und Art. 20 IV GG zulässig erscheint (S. 47/48 und 156 ff). (76)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

tet sein 334. Daher genügt einerseits nicht schon jede Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung 3 3 5 , andererseits bereits die Bedrohung eines einzelnen, aber wesentlichen Verfassungsgrundsatzes 336 . Das wäre z. B. der Fall, wenn die in Art. 20 III GG genannte Rechtspflege, ein grundlegendes Element der Staatsgewalt 3 3 7 , als Ganzes angegriffen würde, wenn also etwa andere staatliche Organe oder mächtige Gruppen im Staat versuchten, die Judikative der Exekutive (Polizei) zu unterstellen und die richterliche Unabhängigkeit aufzuheben 3 3 8 , nicht dagegen, wenn die Rechtsprechung durch ein einzelnes Delikt wie Rechtsbeugung (§ 336 StGB) verletzt würde. Nur sofern in diesem letzten Fall ein einzelner Staatsbürger unmittelbar gefährdet und angegriffen würde, käme Notwehr des Betroffenen oder Nothilfe eines Dritten nach den allgemeinen Grundsätzen in Betracht. Über das Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG hinaus muß ein Nothilferecht Pri- 161 vater zugunsten des Staates nach § 32 StGB anerkannt werden. Wenn schon die Verfassung, d. h. die rechtliche Form und Gestalt des Staates als sein „So-sein" (Essenz) unter bestimmten Voraussetzungen vom einzelnen verteidigt werden darf, dann erst recht sein „Da-sein" (Existenz), falls es von innen bedroht wird 3 3 9 . Das gilt z. B. für hoch- und landesverräterische wie andere verbrecherische Unternehmungen, die den Staat in seinem Staatsvolk (Vernichtungsaktion gegen eine Minderheit wie die Juden oder Geisteskranken), Staatsgebiet, seiner Verfassung oder in allen seinen Elementen angreifen und erschüttern, mögen sie nun von kriminellen Staatsorganen oder von terroristischen Gruppen ausgehen. Das zeigt, wie „Widerstands-" und „Staatsnothilferecht" wesensverwandt sind 34 °. Droht die Rechts- und Staatsordnung in chaotischen Verhältnissen unterzugehen und ist Hilfe durch die berufenen Staatsorgane ausgeblieben, so ist Selbst- und Not-hilfe durch die sich wehrenden Bürger zugunsten des Staates nach § 32 StGB zulässig. Für solche Ausnahmesituationen ist daher sogar die Unschädlichmachung (Einsperrung, schlimmstenfalls Tötung) eines Massenführers, der den Umsturz oder die Abtretung von Staatsgebiet betreibt, für gerechtfertigt erklärt worden 3 4 !.

334 335 336 337 338 339 340

341

(77)

Isensee S. 20, 21 ; Maunz-Dürig-Herzog aaO Rdn. 23. Isensee S. 16, 20; Maunz-Dürig-Herzog aaO Rdn. 17. Isensee S. 21 ; Maunz-Dürig-Herzog aaO Rdn. 23. Kraegeloh S. 78 sieht sie als Rechtsgut nicht des Staates, sondern der Allgemeinheit an und verneint deshalb die Möglichkeit einer Staatsnothilfe. Vgl. auch Isensee S. 16. Vgl. dazu auch Isensee S. 18. Deshalb kann der Aufstand vom 20. Juli 1944 nicht nur als ein Fall des berechtigten Widerstandes gegen, sondern auch der gerechtfertigten Nothilfe fiir den Staat angesehen werden, und zwar insofern, als sich die Widerstandskämpfer nicht allein gegen das verbrecherische NS-Regime gewandt, sondern zugleich fiir den (von diesem korrumpierten und pervertierten) Staat eingesetzt haben (ähnlich Sauer AStL S. 131/132, womit sich die von v. d. Brelie S. 39 an Sauer geübte Kritik erledigt). Vgl. Lampson S. 27 Anm. 2); Oetker GerS 97 (1928) 418; Stock GerS 101 (1932) 153/154. Als historische Fälle werden in diesem Zusammenhang angeführt: Verhinderung der Entfesselung eines Aufruhrs im badischen Oberland 1848 mittels Einsperrung des Radikalenführers Fickler durch einen Privaten; Verteidigung der bayerischen Rheinpfalz 1923/24 gegen die Separatistenbewegung durch Erschießung des Anführers Heinz-Orbis.

§32 162

2. Abschnitt. Die Tat

Um der damit zu befürchtenden Ausuferung der Eigenmacht und dem möglichen Mißbrauch der Staatsnothilfe Privater zu b e g e g n e n 342> s ¡ n ( j folgende Grundsätze zu beachten : (1) Mit der Entscheidung, daß eine juristische Person des öffentlichen Rechts und so auch der Staat als Hoheitsperson der zu verteidigende „andere" im Sinne der Notwehrvorschrift sein kann, ist noch nicht ausgemacht, ob jedes Objekt des Angriffs auch als Schutzobjekt der Abwehr, d. h. als wehrfähiges Rechtsgut anzusehen ist (s. schon Rdn. 147 a. E.). Die Interessen der natürlichen Personen werden ebenfalls nicht alle vom Recht als schutzwürdig anerkannt (s. nächsten Abschn. Rdn. 187, 190 ff.). (2) Als Objekte der tiothilfe für den Staat i. S. v. Hoheitsträger haben nur solche „persönlichen" Interessen und Güter zu gelten, die die Elemente des öffentlichrechtlichen Personen- und Staatsbegriffs betreffen und in denen diese „Rechtsperson" als solche getroffen wird, also Staats vo/A:, Staats gebiet, Staats gewalt und -Verfassung, auch staatliche Ehre und Würde (s. Rdn. 158), nicht aber Rechtsgüter der „Allgemeinheit" (s. Rdn. 195) 343 . Das meinte wohl auch das RG, als es ein „Notwehrrecht des einzelnen Staatsbürgers gegenüber rechtswidrigen Angriffen auf die Lebensinteressen des Staats" anerkannte und unter diesen „die Verfassung", „Gebietsteile des Staats" oder die „Landesverteidigung" aufzählte (RGSt. 63 215, 220; s. auch Oetker GerS 97 [1928] 411, 415). (3) Nur bei ««mittelbaren Angriffen auf den Staat als solchen, nicht bei mittelbaren, die direkt nur gegen einen Amtsträger und Repräsentanten der Staatsmacht gerichtet sind (s. Rdn. 157), wird der Begriff der Staatsnothilfe praktisch 344 . (4) Nur erheblichere, intensivere Bedrohungen des Gemeinwesens sind angesichts der staatlichen Omnipotenz als verteidigungswürdige Angriffe anzusehen. Was für die Einzelperson gilt, trifft auch für die Gesamtperson zu: Sowenig der leichte Schlag eines schwachen Kindes den Erwachsenen „berührt", sowenig den Staat der dilettantische Umsturzversuch eines politischen Wirrkopfes. In beiden Fällen liegt kein abwehrfähiger Angriff vor. Im übrigen werden die Merkmale „Gegenwärtigkeit" des Angriffs und „Erforderlichkeit" der Verteidigung selten gegeben sein (v. Liszt-Schmidt AT S. 197 Anm. 10). (5) Staatsnothilfe bedeutet kein Recht zur allgemeinen Verbrechensverhinderung 3 4 5 ; es darf sich nicht jeder Staatsbürger über §32 StGB zum Staatsorgan machen (s. auch Rdn. 198) 346 . c) Objekte der Verteidigung (notwehrfähige Güter) : Schrifttum Eitzbacher Das Anwendungsgebiet der Notwehr, DJZ 1905 Sp. 239; Jaeger, Wilhelm Das Anwendungsgebiet der Notwehr (§ 227 und § 859 BGB), Diss. Heidelberg 1906; Lampson Beitrag zur Feststellung des Notwehrgebietes, insbesondere durch Untersuchung der Natur der 342 Zu dem Mißbrauch, der mit dem Begriff Staatsnothilfe bei den Fememorden der Weimarer Zeit getrieben worden ist, s. RGSt. 63 215, 219; 64 101, 103, ferner Fußn. 307 zu Rdn. 151. 343 Das verkennt z. T. ein Gegner der Staatsnothilfe wie Schubert aaO S. 21. 344 Sommerfeld (s. vor Rdn. 163) S. 63/64, 68; s. auch Schuck S. 19, 37. 345 So schon Binding Handb. S. 737; Lobe LK5 (1933) § 53 a. F., Anm. 2 d) (S. 387); Schuck S. 21 ff, 26; zu dieser Frage eingehend Schubert aaO S. 12 ff; s. aber auch Rob. ν. Hippel II S. 206 vor Nr. 2. 346 Baldus LK9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 39. (78)

Notwehr (Spendei)

§32

einzelnen Rechte, Diss. Jena 1906; Neubecker ZUT Lehre von der Notwehr, DJZ 1905 Sp. 146; Neumond Der Schutz des sittlichen und religiösen Gefühls durch Notwehr, GerS 56 (1899) 46; Rotering Notwehr und Gefühlsschutz, MSchrKrimPsych. 11 (1914—18) 642; Schmitz, Alfred Schutzobjekte der Notwehr, Diss. Köln 1929; Sommerfeld Ist Notwehr zur Verteidigung sämtlicher Rechtsgüter zulässig? Diss. Kiel 1934. Vgl. im übrigen die Literatur zu Nr. III l.b) vor Rdn. 147.

Mit der vorhergehenden Frage nach der zu verteidigenden Person, dem schütz- 163 bedürftigen Rechtssubjekt, hängt eng zusammen und ist doch von ihr zu unterscheiden die Frage nach den zu verteidigenden Objekten, den notwehrfähigen Rechtsgwtem dieser Person (s. schon Rdn. 147). Zu weitgehend ist es, kurzerhand alle Rechtsgüter für wehrhaft zu erklären 347 . Es ist vielmehr folgendermaßen zu differenzieren: (1) Grundsätzlich sind die Individualrechtsgüter verteidigungsfähig. Im einzel- 164 nen sind das vor allem: Das Leben — RGSt. 21 168, 170 (allgemein bemerkt); 58 27, 30 (Notwehr bei Lebensgefahr); 60 261 (evtl. Notwehr durch Tötung des mit Umbringen drohenden Ehemanns); BGHSt. 27 313 (Abwehr eines lebensgefährlichen Angriffs); BGH(Z) NJW 1976 41 (Abwehr einer Lebensbedrohung); s. auch BVerfGE 39 1, 46 („zu den wichtigsten Rechtsgütern" gehörend). Fremdes Leben darf selbst dann in Nothilfe bewahrt werden, wenn der angegrif- 165 fene und zu verteidigende andere in die Tötung eingewilligt oder sie gar verlangt hat (s. schon Rdn. 145). Eine Ausnahme wird für den (freiverantwortlichen!) Selbstmordversuch gemacht, bei dem die Positionen des Angreifers und Angegriffenen zusammenfallen. Die gewaltsame Suicidverhinderung, die den Tatbestand einer Nötigung, unt. Umst. den einer Körperverletzung verwirklicht, wird, wenigstens im Prinzip, nicht durch § 32 StGB gerechtfertigt: nicht durch NotweAr des nötigenden Lebensretters i. eng. S., weil sein durch den Selbstmörder verletztes sittliches und religiöses Gefühl insoweit kein schutzwürdiges Gut ist 3 4 8 ; nicht durch Nothilfe zugunsten des genötigten Lebens müden, weil dessen Tat als womöglich noch nicht einmal unsittliche, ihm jedenfalls rechtlich nicht verbotene Handlung keinen rechtswidrigen Angriff auf sein eigenes Leben darstellt 349 ; nicht durch Nothilfe zugunsten des Staates, weil der sekundäre rechts widrige Angriff auf das Staatsvo/fc und überhaupt auf ίίαα/liche Interessen, den man in der Selbsttötung sehen könnte und z. T.

347 So jedoch v. Liszt-Schmidt AT S. 197; Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 377 (§ 26 II A 3); und schon Berner Lehrb. des Deutschen Strafrechts, 18. Aufl. (1898) S. 110; Finger Lehrb. des Deutschen Strafrechts (1904) S. 385; Wachenfeld Lehrb. des deutschen Strafrechts (1914) S. 117 ; Heimberger Strafrecht (1931) S. 42 vor b („Ob es sich um Güter des einzelnen oder der Allgemeinheit handelt, m a c h t . . . keinerlei Unterschied"). Weitgehend auch RGSt. 21 168, 170: die Notwehrvorschrift „hat nicht bloß einen gegen die Person eines anderen geführten Angriff, sondern . . . jeden Eingriff in die Rechtssphäre einer anderen Person im Auge". 348 So auch im wesentlichen Aubert Der Selbstmord im geltenden deutschen Strafrecht, Diss. Leipzig 1930, S. 46 gegen ältere Meinungen. 349 Ebenso Jacques Stern Die Nötigung zur Unterlassung des Selbstmordes, GerS 60 (1902) 448, 457 und näher Aubert aaO S. 46 mit weiteren Nachweisen. Anders neuerdings Schmidhäuser Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht, Welzel-Festschr. (1974) S. 801, 818 (Zulassung einer nicht uneingeschränkten Nothilfe „gegen den rechts widrigen Angriff des Lebensmüden auf sein eigenes Leben"). (79)

2. Abschnitt. Die Tat

§32 350

auch gesehen hat und dessen Unrecht ja noch nicht notwendig durch die Straflosigkeit des Suicidversuchs ausgeschlossen ist 3 5 1 , völlig hinter der primären Bedrohung des höchsten Individualrechtsguts „Leben" zurücktritt 352 und auch vom Staat nur als eine polizeiwidrige Störung der öffentlichen Ordnung angesehen wird. Soweit die Selbstentleibung eines Bürgers das ist 3 5 3 , ist der Staat zu einem sie verhindernden Eingriff in die Freiheit des Lebensmüden (In-Gewahrsam-Nahme, Fesselung) nach Polizeirecht befugt 3 5 4 . Soweit der einzelne als Straf- oder Untersuchungsgefangener durch seinen Hungerstreik und drohenden Hungertod die ^Mi/a/toordnung stört oder die Strafvollzugsbehörden oder andere Staatsorgane zu rechtswidrigen Handlungen (z. B. Verlegung oder Freilassung von Häftlingen) erpressen oder Dritte zu widerrechtlichen Aktionen (z. B. Unruhen oder Anschlägen) anstacheln will, sind die zuständigen Vollzugsbeamten zur gewaltsamen Lebenserhaltung durch Zwangsernährung nach dem Strafvollzugs- oder Strafverfahrensrecht (§§ 101, 178 StVollzG, § 119 III StPO) berechtigt (OLG Koblenz NJW 1977 1461, 1462 r. Sp.) 3 5 5 ; der Begründung mit Notwehr, genauer: einer Nothilfe zugunsten des Staates, bedarf es daher nicht 3 5 6 . 166

Immerhin ist der Gedanke an diese Konstruktion bei einer erzwungenen Selbstmordverhinderung durch den Privaten nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Bei einem Massenselbstmord wird die Frage schon verständlicher, ob hier nicht doch mehr als nur ein nicht rechtswidriger Angriff der einzelnen auf ihr eigenes Leben vorliegt, nämlich ein vom Recht zu mißbilligender Angriff auf die Volkssubstanz und damit auf das Staats voik und das ganze Staats350 So z. B. Kraegeloh S. 74/75; Schubert StrAbh. H. 311 (1933) S. 22/23 (soweit eine von diesem Autor allerdings abgelehnte Staatsnothilfe allgemein anzuerkennen wäre); gegen eine solche Konstruktion Lampson S. 30. Vgl. auch schon Feuerbach Lehrb. des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl. (1847) S. 404 (durch Selbstmord rechtswidrige Verletzung der Verpflichtungen des einzelnen gegenüber dem Staat) und jetzt Schmidhäuser Welzel-Festschr. S. 817 (Anerkennung einer Pflicht zum Weiterleben „gegenüber der Gemeinschaft). 351 Denn die Straflosigkeit des Selbstmordes bedeutet ja noch nicht seine Rechtmäßigkeit in jeder Beziehung, worauf in diesem Zusammenhang mit Recht Schubert aaO S. 22/23 hingewiesen hat. 352 Sommerfeld S. 67 und im Ergebnis auch J. Stern GerS 60 (1902) 457/458; Aubert aaO S. 46, 50/51. 353 Das kann der Selbstmordversuch (Sprung aus einem Hochhaus oder von einer Brücke), muß es aber nicht immer sein, wie man jedoch heute meist pauschal, aber zu Unrecht annimmt, s. z. B. Musterentw. eines einheitl. Polizeigesetzes (Fassung 1975), Begr. zu § 13 Nr. 2, S. 42: „ . . . a u f jeden Fall liegt" in der drohenden Selbsttötung „eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung" (diese Behauptung weggelassen in der endgültigen Fassung, s. Heise-Riegel M E . . . , 2. Aufl. [1978] S. 61); OLG Hamm NJW 1966 1168, besond. r. Sp. (Selbstmord greife „stets in die öffentliche Ordnung ein"). Nach DrewsWacke- Vogel-Martens Gefahrenabwehr, 8. Aufl. II. Bd. (1977) S. 115, ist der Selbstmord ein Verstoß gegen das „öffentliche Interesse"·, zu weitgehend auch Jähnke LK. Rdn. 33 vor § 211. Wie hier treffend Aubert aaO S. 50 ff und jetzt Joachim Wagner, Selbstmord und Selbstmordverhinderung (1975) S. 74 ff, 82/83. 354 Vgl. z. B. Art. 16 I Nr. 1, 44 Nr. 3 BayPAG; §§ 13 Nr. 1, 40 Nr. 3 ME eines einheitl. PolGes. (1978); §§ 20 I Nr. 1, 61 Nr. 2 b) AE PolG (1979). 355 Zu dieser aktuellen Frage schon Aubert aaO S. 53 f; neuerdings Joachim Wagner aaO S. 138 ff; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 45 vor § 211 ; § 240 Rdn. 26 a ff. 356 So auch im Ergebnis, wenngleich unklar in der Begründung Kühne Strafrechtliche Aspekte der Suicid-Abwendung in Strafanstalten, NJW 1975 671, 676 1. Sp. (80)

Notwehr (Spendei)

§32

wesen, da sich die wechselseitige Bestärkung der einzelnen Gruppenglieder in dem Entschluß, Hand an sich zu legen, als ein widerrechtlicher Angriff auf die anderen Rechtsgenossen und zugleich auf den Bestand der Bevölkerung auffassen läßt. Man denke an die Selbsttötung einer eingeschlossenen Truppe, die sich dem Feind nicht ergeben will (Selbstentleibung aller Krieger mit Frauen und Kindern in der jüdischen Festung Massada am Toten Meer 73 n. Chr.) oder einer größeren Menschengruppe (Massenselbstmord von über 900 Anhängern der amerikanischen „Volkstempelsekte" im November 1978 in Guayana) 3 5 7 . In solchen Fällen könnte die gewaltsame Verhinderung des Massensterbens als Verteidigung der natürlichen Einzelwesen wie des staatlichen Gemeinwesens begriffen werden. Im übrigen ist die erzwungene Rettung des (freiverantwortlichen) Selbstmörders 167 durch den Privaten nicht etwa deshalb, weil Nothilfe als Rechtfertigungsgrund prinzipiell ausscheidet, mit einer früher weit verbreiteten Meinung als rechtswidrig oder gar strafbar 3 5 8 , sondern mit der heute vorherrschenden Ansicht aus anderen rechtlichen Gründen als gerechtfertigt anzusehen 359 . Das wird für die darin liegende tatbestandliche Nötigung schon aus § 240 II, für die damit unt. Umst. begangene Körperverletzung aus § 34 StGB gefolgert 360 , was aber nicht unproblematisch ist, sofern ein Verfügungsrecht des Individuums über das eigene Leben (dagegen BGH St. 6 147, 153) angenommen wird 3 6 1 . Das werdende Leben ist in Rechtsprechung (BVerfGE 39 1, 36 ff, 42; BGH St. 2 168 242, 245; 3 7, 9; 11 15, 17; RGSt. 61 242, 248, 255) und Rechtslehre 362 allgemein als Rechtsgut anerkannt und wird z. T. ausdrücklich als notwehrfähiges Objekt ange-

357 Allerdings wird man die Selbsttötung im ersten Fall als die Tat von bewunderungswürdigen Kämpfern, im zweiten als die von bedauernswerten Irren, bei denen deswegen schon ein Eingreifen erlaubt gewesen wäre, ansehen. 358 Binding Handb. S. 737; ders. Lehrb. I S. 91 ; v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 32 ff, 35 ff, 37; Wachenfeld Lehrb. des deutschen Strafrechts (1914) S. 342; Schwartz Das Strafgesetzb. f. d. Dtsch. Reich (1914) § 240 Anm. 3 (S. 524); v. Liszt-Schmidt BT S. 527 Anm. 4); Aubert aaO S. 52; neuerdings Joach. Wagner aaO S. 130; auch Arthur Kaufmann Die eigenmächtige Heilbehandlung, ZStrW 73 (1961) 341, 368. Nicht konsequent oder zweifelnd Frank § 240 Anm. IV (S. 506); Kirchnerin v. Olshausens Komm. 12. Aufl. (1944) §240 Anm. 11. c). 359 OLG Saarbrücken VRS 17 (1959) 25/26; Kohler GA 49 (1903) 1, 6; »ι/Λ. Jaeger S. 58; Zitelmann Ausschluß der Widerrechtlichkeit, ArchZivPrax. 99 (1906) 1, 115 ff; Rob. ν. Hippel II S. 256 Anm. 3; Gerland S. 515; Rittler Lehrb. des Österreich. Strafr. II (1962) S. 70; Welzel S. 327; Karl Schäfer LK9 II (1974) § 240 Rdn. 93; Jähnke LK Rdn. 33 vor § 211 ; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 48 vor § 211, § 240 Rdn. 19; Dreher-Tröndle § 240 Rdn. 9; Lackner §240 Anm. 6. a) aa); Arzt-Ulr. Weber St BT, LH 1, 2. Aufl. (1981) Rdn. 223; § 116 III AE eines StGB, BT, 1. Η Bd. (1970). 360 Vgl. ζ. B. Sch.-Schröder-Eser § 240 Rdn. 19, 26 b. Eine Pflicht zur Verhinderung des — freiverantwortlichen! — Selbstmordes ist, entgegen BGHSt. 6 147; 13 162, 169, zu verneinen, so ζ. B. Sch.-Schröder-Cramer § 323 c Rdn. 7. 361 Wofür Joach. Wagner Selbstmord... (1975) S. 106 f, 123 ff, 127, 130 gegen die herrschende Meinung eintritt, dabei aber seine zunächst konsequente Ablehnung eines privaten Rechts zur gewaltsamen Verhinderung des Selbstmordes wieder verwirrend. 362 Ζ. B. Arzt-Ulr. Weber Str BT, LH 1, 2. Aufl. (1981) Rdn. 335, 360; Blei BT S. 32 (§ 10 II); Maurach-Schroeder BT 1. TBd. S. 63, 67; Dreher-Tröndle Rdn. 6 vor § 218; RudolphiSK II (1980) Rdn. 24 vor § 218; Sch.-Schröder-Eser Rdn. 5 vor § 218. (81)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

führt 363. Eine andere Frage ist, ob der nasciturus selbst Subjekt dieses Rechtsguts und ein das Grundrecht auf Leben besitzender „jeder" i. S. d. Art. 2 II S. 1 GG und auch ein zu verteidigender „anderer" i. S. d. § 32 II StGB ist oder ob die Schwangere gewissermaßen in Personalunion als Trägerin ihres „fertigen" wie des in ihr „werdenden" Lebens erscheint, da die „Leibes-frucht" Teil des mütterlichen Leibes und Lebens ist und, von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen (s. z. B. §§ 844 II, 1912 II, 1923 II BGB), nicht als rechtsfähig gilt. BVerfGE 39 1 ist in diesem Punkt zu keiner vollen Klarheit gelangt — bald läßt das Urteil die Frage unentschieden, „ob der nasciturus selbst Grundrechtsträger ist oder aber wegen mangelnder Rechts- und Grundrechtsfähigkeit ,nur' von den objektiven Normen der Verfassung in seinem Recht auf Leben geschützt wird" (S. 41), bald ist er für das Gericht „ein selbständiges menschliches Wesen" (S. 42) und als solches i. S. d. Art. 2 II S. 1 GG „jeder", der „ein Recht auf Leben hat" (S. 37) — im Gegensatz etwa zu einem Vertreter des Bundestages, für den „das Person- und Menschsein erst mit der Geburt" beginnt (S. 29/30). 169

Die Lösung des Problems ist bedeutsam für die Beurteilung der gewaltsamen Verhinderung eines widerrechtlichen Schwangerschaftsabbruchs oder einer rechtswidrigen Fruchtschädigung. Eine solche Nötigung wäre nicht durch Nothilfe zugunsten des noch Ungeborenen gerechtfertigt, wenn man mit früheren Stimmen in dem nasciturus mangels Rechtsfähigkeit keinen „anderen" (keine zu verteidigende Person) i. S. d. § 32 II StGB, § 227 II BGB sähe und die erste Alternative der oben aufgeworfenen Frage verneinte 364 . Es käme dann noch Not hilf e zugunsten des Staates in Betracht, falls man in dem unerlaubten Schwangerschaftsabbruch primär einen rechts widrigen Angriff auf die Erhaltung und Vermehrung des Staats voMcer und damit auf das S/aaííwesen erblickte 365 . Das aber ist abzulehnen 366 , da als Strafgrund des § 218 nicht das bevölkerungspolitische Interesse des Staates im Vordergrund steht 3 6 7 .

170

Die Verneinung der Möglichkeit einer Nothilfe für die Leibesfrucht ist unbegründet. Mit der Rechtsprechung und der vorherrschenden Meinung ist der nasciturus als ein eigenes, wenngleich in seiner Entwicklung noch bis zur Geburt von der Mutter abhängiges personenhaftes Lebewesen (BVerfGE 39 42; Blei BT S. 31 [§ 10 II]), als ein zwar noch kein Individuum darstellender und „fertiger", wohl aber ein in seiner Individualität bereits angelegter und „werdender" Mensch (BGHZ 58 48, 49, 52) anzusehen, dem eine mehr oder minder eingeschränkte Rechtsfähigkeit

363 Baldus LK9 I (1974) §53 a. F. R d n . l l ; Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 377 (§26 II A3); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 5; Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. 1. Bd. (1978) § 227 Rdn. 4. 364 So z. B. Titze S. 91 Anm. 49), 92; Kraegeloh S. 73/74; Schubert S. 23; zweifelnd Schuck S. 28 vor § 13. 365 So anscheinend Binding Handb. S. 737 Anm. 22); ausdrücklich Kraegeloh S. 73/74; Schubert S. 23. 366 Schiick S. 28, 31 ; Sommerfeld S. 67 unt. 367 Dreher-Tröndle Rdn. 6 vor § 218; anders z. B. Kohlrausch-Langel (1944) § 218 Anm. II (S. 481); RGSt. 76 91, 93; s. auch BGHSt. 18 283, 285 im Anschluß an Entw. eines StGB mit Begriind. (1962) S. 277 (die Abtreibung richte sich „gegen den Bestand und die Lebenskraft des Volkes" als „mittelbares Rechtsgut"). Vgl. schon Art. 119 WeimRVerf.! (82)

Notwehr (Spendei)

§32

368

zukommt . Im Zivilrecht wird das noch ungeborene Kind als „anderer" i. S. d. § 823 BGB angesehen, der in seiner Gesundheit verletzt werden und nach der Geburt mit seiner endgültigen Menschwerdung Schadensersatzansprüche geltend machen kann (BGHZ 58 48, 49; 8 243, 248; z. B. Heldrich Der Deliktsschutz des Ungeborenen, JZ 1965 593, 597 r. Sp.). Im Strafrecht wird es zwar von der überwiegenden Meinung nicht als „anderer" i. S. d. §§ 223 ff StGB aufgefaßt (H. J. Hirsch LK Rdn. 7 vor § 223 mit weit. Nachw.), von einer Mindermeinung aber mit Recht im Ergebnis und praktisch in Übereinstimmung mit der Zivilrechtslehre insofern als ein „potentieller" anderer betrachtet, als seine körperliche Verletzung schon vor der Geburt verursacht wird, sich jedoch erst nach der Geburt auswirkt (LG Aachen JZ 1971 507, 509; Arzt-Ulr. Weber Str. BT, LH 2 [1981] Rdn. 411; Maurach BT$ [1969] S. 76; Tepperwien Pränatale Einwirkungen als Tötung oder Körperverletzung? [1973] S. 94 ff, 140). Wie der werdende Mensch als „anderer" in seiner Gesundheit und seinem Leben verletzt werden kann, so darf er auch als „anderer" i. S. d. § 32 II StGB, § 227 BGB gegen solch eine drohende Verletzung von einem Dritten verteidigt werden 3 6 9 . Daß das noch ungeborene Kind schon vor Vollendung der Geburt und Erlangung der vollen Rechtsfähigkeit im Strafrecht als ein zu verteidigender „anderer" anzusehen ist, zeigt auch § 217 StGB. Die oben gestellte Frage ist also hinsichtlich ihrer ersten Alternative nicht zu verneinen, sondern zu bejahen, die erzwungene Verhinderung eines widerrechtlichen Schwangerschaftsabbruchs als Nothilfe zugunsten des nasciturus demnach für zulässig zu erklären 37 °. Diese Konstruktion begegnet keinen Bedenken, wenn der rechtswidrige Eingriff 171 gegen den Willen der Schwangeren erfolgt, weil hier der Nothelfer neben der Leibesfrucht auch Leib und Freiheit der werdenden Mutter schützt: Ein Dritter verhindert die Abtreibung an einer bewußtlosen Schwangeren. Fragwürdig erscheinen dagegen die Konsequenzen aus der Zulassung einer Nothilfe dann, wenn der rechtswidrige Schwangerschaftsabbruch von der Frau gewollt ist: Ein Dritter, etwa der Vater eines während der Schwangerschaft der Ehefrau verstorbenen Mannes, dürfte seine Schwiegertochter, die sich als Witwe ohne Kind größere Chancen für eine Wiederverheiratung verspricht, unter Zwang (womöglich durch vorübergehen-

368 Für das Verfassungsrecht z . B . Maunz-Diirig Grundgesetz I (1958) Art. 2 II Rdn. 21 („Inhaber des Grundrechts auf Leben ist auch der nasciturus"), Art. 1 I Rdn. 24, insbes. Fußn. 2; v. Mangoldt-Klein Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. I (1957) Art. 2 Anm. V.2 (S. 186); Leibholz-Rinck Grundgesetz für die BR Deutschi., 6. Aufl. (1979) Art. 2 Rdn. 13 a) (S. 90); für das Zivi/recht z. B. Gitter MünchKomm., BGB I (1978) § 1 Rdn. 22, 23 ff, 26, 33, jeweils mit weit. Nachweisen. — Anders (nasciturus „noch nicht Person") z. B. Niemöhlmann in: v. Münch Grundgesetz, I (1974) Art. 2 Rdn. 42; Hamann-Lenz Das Grundgesetz f . d . BR Deutschi., 3. Aufl. (1970) Art. 2 II Anm. 8; Soergel/SchultzeV. Lasaulx BGB, 11. Aufl. I (1978) § 1 Rdn. 5 (Grundrechtsfähigkeit, aber keine partielle Rechtsfähigkeit). 369 So schon ausdrücklich Lampson S. 28 Anm. 2); s. dagegen die in Fußn. 364 genannten Autoren. 370 So wohl auch, wenngleich undeutlich, Dtsch. BT, SondA. f. d. StrRef. (1974) Prot. V I I / S. 1473: Nur bei Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruchs lasse „sich seine Integration in das System des Strafrechts — m i t . . . Ausschluß der Nothilfe" (für das Ungeborene?!) — „rechtfertigen"; Sch.-Schröder-Eser § 218 Rdn. 23, allerdings in negativer Wendung: „Soweit der Schwangerschaftsabbruch als solcher gerechtfertigt i s t . . . , ist auch seine Verhinderung durch Notwehr ausgeschlossen" (also nicht ausgeschlossen zugunsten der Leibesfrucht bei Rechtswidrigkeit des Eingriffs?!). (83)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

den Freiheitsentzug) davor zurückhalten, zwecks des geplanten Eingriffs eine Klinik aufzusuchen. Ebenso wäre danach ein Ehemann befugt, seine Frau an dem Schwangerschaftsabbruch, den sie als Filmdiva wegen eines verlockenden Rollenangebots wünscht, gewaltsam zu hindern. Schließlich wäre danach der Kindsvater berechtigt, der Schwangeren Zigaretten oder gefährliche Schlafmittel mit Gewalt wegzunehmen, falls sie durch übermäßigen Nikotingenuß oder leichtsinnigen Medikamentengebrauch ihrer Leibesfrucht körperlichen Schaden zuzufügen drohte. 172

Ein NotweA/recht des Erzeugers i. eng. S. kommt dagegen nicht in Betracht, da sein durch einen rechtswidrigen Eingriff gefährdetes Eigen interesse an der Geburt und Gesundheit seines Kindes kein notwehrfähiges Gut ist 3 7 1 .

173

Der Leib — RGSt. 21 169, 170 (allgemein bemerkt); 66 244, 245 (zur Frage, wie ein tätlicher Angriff „vom Leibe zu halten" ist); BGHSt. 25 229, 230 (Schuß, um „schweren körperlichen Schaden" abzuwehren). Wo sich zwei freiwillig miteinander schlagen, mangelt es in der Regel infolge beiderseitiger Einwilligung an der Rechtswidrigkeit der wechselseitigen Angriffe auf den Leib des anderen und der darin liegenden Körperverletzung. Notwehr entfällt daher, sofern nicht einer der Kämpfer aufgeben will oder sich nicht mehr an die Spiel- bzw. Kampfregeln hält, s. RGSt. 72 183; 73 341, 342; RG H R R 1940 Nr. 1143; BGHSt. 4 88/89, 92; BGH bei Holtz M D R 1978 109 r. Sp.; OLG Frankf u r t / M NJW 1950 119, 120 r. Sp.; OLG Braunschweig NdsRpfl. 1953 166; OLG Saarbrücken VRS 42 (1972) 419 oder nicht ausnahmsweise § 226 a StGB eingreift.

174

Zweifelhaft ist, ob ein Dritter die Selbstverstümmelung eines Wehrpflichtigen, der sich der Wehrpflicht zu entziehen sucht (§ 109 StGB), zwangsweise hindern d a r f 3 7 2 . Dabei ist zu unterscheiden: eine Nothilfe zugunsten der sich selbst Verstümmelnden kommt ebensowenig in Betracht wie eine Nothilfe zugunsten des Selbstmörders, da insoweit kein rechts widriger Angriff des Wehrpflichtigen auf seinen eigenen Körper vorliegt 3 7 3 . Eine Nothilfe zugunsten des Staates dürfte ebenfalls wie beim Suicid abzulehnen sein 3 7 4 . Zwar bedeutet die Verstümmelung einen rechts widrigen Angriff des Wehrpflichtigen auf die Wehrkraft des Staates. Aber dieses allgemeine und unbestimmtere Rechtsgut ist noch weniger als die durch einen Selbstmord oder einen Schwangerschaftsabbruch angegriffene Volkskraft ein geeignetes Objekt für die Verteidigung des Privaten, da es kein notwendiges Element des juristischen Personen- und Staatsbegriffs ist (s. dazu Rdn. 162) und die juristische Gesamtperson Staat durch die Selbstverstümmelung der natürlichen Person nicht unmittelbar als solche angegriffen wird (s. dazu Rdn. 196). Die zwangsweise Verhinderung einer derartigen Selbstverletzung ist, wiederum in Parallele zur gewaltsamen Verhütung eines Selbstmordes, unt. Umst. nach den §§ 240 II, 34 StGB zu rechtfertigen.

175

Die Freiheit 85/86.

RGSt. 69 265, 270; OGHSt. 1 273, 276 ob.; K G ROW 1957

371 Dtsch. BT, SondA. f.d. StrRef. (1973), Prot. VII/S. 1311 ff; ebenso, wenngleich kritisch Sch.-Schröder-Eser § 218 Rdn. 23. 372 Im Ergebnis die Frage bejahend Binding Handb. S. 737 Anm. 23 ; Rosenfelder (s. vor Rdn. 22) S. 55; Schubert StrAbh. H. 311 (1933), S. 25; verneinend Titze S. 91 Anm. 49)/92; Schück S. 28 ob. 373 Ähnlich, aber nicht einwandfrei in der Begründung Titze S. 91 Anm. 49)/92. 374 Ebenso Schück S. 28 ob. ; anders Rosenfelder S. 55; Schubert S. 25. (84)

Notwehr (Spendei)

§32

Die Freizügigkeit - OLG Hamm JZ 1976 610, 611; Fr.-Chr. Schroeder JZ 1974 114; Samson S K I Rdn. 8; sehr bedenklich zur Freizügigkeit des DDR-Bürgers Jescheck AT S. 272 Anm. 13 (§ 32 II 1 b). Hausfrieden und Hausrecht - RGSt. 72 57; BGH GA 1956 49; BGH bei Holtz 176 MDR 1979 986 1. Sp.; OGHSt. 1 273; OLG Hamm GA 1961 181. Die Nachtruhe - RG DJZ 1927 674/675 (s. auch OLG Celle GA 42 [1894] 273; BayObLGSt. 17 [1918] 1; OLG Koblenz VRS 42 [1972] 365); Wilh. Jaeger S. 17; Rob. ν. Hippel II S. 204 Anm. 1; Ν agier-Jagusch L K 7 I (1954) § 53 a. F. Anm. II.3 (S. 363); unbestimmt Rotering MSchrKrimPsych. 11 (1914-18) 660. Die Ehre - RGSt. 21 168, 170; 29 240; 63 31, 33; 69 265, 268; RG DJZ 1927 1 77 386; RG HRR 1938 Nr. 909; BGHSt. 3 217, 218; OGHSt. 2 328, 330; LG Heidelberg SJZ 1948 Sp. 209 mit Anm. Engisch. Die Rechtsprechung hat in den konkreten Fällen allerdings meist (Ausnahmen RGSt. 21 168, 171; RG DJZ 1927 386) die Gegenwärtigkeit des Ehrangriffs wegen dessen Beendigung oder die Erforderlichkeit der Verteidigung verneint, aber einmal sogar die zur Abwendung wiederholter Beleidigungen begangene Tätlichkeit, die zum Tode des einen der beiden Beleidiger führte, als Ehrennotwehr anerkannt (RG DJZ 1927 386). An sich läßt sich auch die Anhaltung beleidigender Briefe von Untersuchungs- 178 und Strafgefangenen durch Notwehr rechtfertigen, so mit Recht für Untersuchungshäftlinge OLG Celle NJW 1968 1342 Nr. 25; OLG Hamburg MDR 1973 1035 = JR 1974 118 mit zustimm. Anm. Karl Peters; ebenso Pawlik NJW 1967 168; Kreuzer NJW 1973 1262; Grunau Komm, zur Untersuchungshaftvollzugsordnung, 2. Aufl. (1972) Nr. 34, Rdn. 3; nur im Grundsatz zustimm. Dünnebier in Löwe-Rosenberg, StPO, 23. Aufi. 2 (1978) § 119 Rdn. 100 ff; ablehnend Kleinknecht JZ 1961 265. Eine Rechtfertigung der Anhaltung beleidigender Post nicht bejaht nach § 32 StGB, aber angenommen nach § 119 III StPO BVerfG NJW 1974 26; BGH JZ 1973 128 mit ablehn. Anm. Müller-Dietz; OLG Stuttgart NJW 1973 70; BayObLG MDR 1976 1036/1037; OLG Koblenz MDR 1977 68; Eb. Schmidt Lehrkomm, zur StPO II, Nachtr. I (1967) § 119 Rdn. 28 gegen Baumann DRiZ 1959 379. Weitgehend abgelehnt auch nach § 119 III StPO bei Briefen unter Ehegatten: BVerfGE 35 35/36, 40; 42 234, 237; zwischen (volljährigem) Kind und Eltern BVerfG NJW 1981 1943; s. ferner OLG Celle NJW 1973 1659 {and. noch OLG Celle NJW 1968 1342 Nr. 25). Bei Strafgefangenen ist jetzt die Zurückweisung beleidigender Gefangenenpost zur Abwehr von Ehrangriffen auf Grund der Spezialvorschrift des §31 I Nr. 4 StVollzG zulässig, wenn auch auf „grobe Beleidigungen" beschränkt 375 . Die Geschlechtsehre - RGSt. 21 168, 170 (Keuschheit); Gerland S. 147; Som- 179 merfeld S. 48. Das Eigentum — RGSt. 55 82; RGZ 111 370; auch fremdes, einer natürlichen 180 (RGSt. 69 265, 270) oder einer juristischen Person, ζ. B. dem Fiskus, gehörendes Eigentum (RGSt. 60 273, 277; 63 215, 220). Das Jagdrecht - RGSt. 35 403, 406/407; 46 348, 350; 55 167; 67 337, 338 ob. Das Pfandrecht - BayObLG NJW 1954 1377. Das Pächterrecht auf Fruchtgenuß (§ 581 BGB) - RGSt. 56 33; RG JW 1925 962, 963. 375 § 32 hier ablehnend, jetzt ζ. T. überholt, BVerfG 33 1, 15, 17 = NJW 1972 811. (85)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Der Besitz — ihn darf der Besitzer selbst nach der den §§ 227 BGB, 32 StGB entsprechenden Sondervorschrift des § 859 BGB (RGSt. 36 131, 132/133; BayObLG NJW 1965 163), ein Dritter als sein Besitzdiener nach § 860 BGB oder als fremder Nothelfer nach § 32 StGB (§ 227 BGB) verteidigen (RGSt. 8 210, 212/213; 60 273, 278376). Der Gewahrsam - RGSt. 8 210, 212 unt.; 55 82, 83, 84. 181 Das Recht auf Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen und Plätzen — BayObLGSt. NF 3, 1953 145, 146 = NJW 1953 1723; OLG Saarbrücken VRS 17 (1959) 25, 27, so auch das Vorrecht des Zuerstkommenden beim Einparken (BayObLG NJW 1963 824, 825 1. Sp.; anders OLG Stuttgart NJW 1966 745/746 mit Anm. Bockelmanri), was den Kraftfahrer aber noch nicht berechtigt, einen den Parkplatz versperrenden und für einen anderen freihaltenden Fußgänger anzufahren (so auch im Ergebnis, ζ. T. ohne Erörterung des § 32 StGB, BayObLG NJW 1961 2074; NJW 1963 824; OLG Stuttgart NJW 1966 745/746; OLG Hamburg NJW 1968 662; OLG Hamm NJW 1970 2074, 2075), weil hier das Abwehrmittel ganz unverhältnismäßig erscheint (s. aber auch OLG Köln NJW 1979 2056, 2057 1. Sp. : Zufahren noch keine eigene rechtswidrige Nötigung des Parkplatzbewerbers). 182

Das Vermögen - RGSt. 21 168, 170; 46 348, 350 unt.; Lampson S. 53/54; Frank § 53 a. F. Anm. I (S. 159); Allfeld S. 124; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 5. So kann das Vermögen als Ganzes durch unlauteren Wettbewerb (Abspenstigmachen von Geschäftskunden) angegriffen und durch Zurückhaltung eines Briefes an den ungetreuen Firmenangestellten verteidigt werden, so Rob ν. Hippel JW 1927 3088; zustimmend Baldus L K 9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 11; s. auch schon Lampson S. 36 vor II. 183 Die Ehe - v. Liszt-Schmidt AT S. 197 und Anm. 10; Sommerfeld S. 48 Anm. 10 und schon Berner Lehrb. des Deutschen Strafrechts, 18. Aufl. (1898) S. 110; Lampson S. 21 f; and. OLG(Z) Köln NJW 1975 2344. Der Angriff auf sie kann notfalls selbst gewaltsam abgewehrt werden, zumindest solange der andere Ehegatte sie nicht aufgeben will 377 . Sicherlich ist die Ehe von einem Partner nicht zu erzwingen; aber rechtswidrig oder gar strafbar handelt wohl schwerlich der Ehegatte, der seine Ehe durch energisches „Zupacken" rettet, so der tatkräftige Ehemann, der seine betörte, jedoch nicht an Scheidung denkende Frau bei einem bevorstehenden Fehltritt ertappt und die Bedrohung seiner Ehe ein für alle Mal durch Hinauswurf des arroganten Verführers abwehrt 3 7 8 , oder die resolute 376 RGSt. 60 278: „Dritte Personen sind zur Wiederentziehung des fehlerhaften Besitzes nur befugt, soweit ihnen dies das Gesetz gestattet, so etwa, wenn Privatpersonen auf Grund des § 227 BGB Nothilfe leisten". § 860 BGB ist (ζ. B. entgegen v. Tuhr Der Allgem. Teil des Deutschen Bürgerl. Rechts II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 587) nicht etwa als Beschränkung des allgemeinen Not/i/7/erechts Dritter zugunsten fremden Besitzes aufzufassen, so auch schon Rosenfelder S. 18; Sommerfeld S. 50/51; Palandt-Bassenge BGB, 41. Aufl. (1982) § 860 Anm. 2). Zu den widersprüchlichen Konsequenzen, zu denen man sonst kommt, s. schon Wilh. Jaeger S. 71 ff, 76 ff, 79. 377 Ebenso Lampson S. 21/22; anders OLG(Z) Köln NJW 1975 2344; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 5 a a. E. 378 Eine Rechtfertigung durch Notwehr wird in einem solchen Fall von Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 5 nur unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung des Hausrechts angenommen, sofern ein Ehegatte den anderen mit dem Ehebrecher in flagranti in der ehelichen Wohnung überrascht. (86)

Notwehr (Spendei)

§32

Ehefrau, die ihren nicht Nein sagen könnenden Mann bei einem beabsichtigten Seitensprung überrascht und den Einbruch der impertinenten und hartnäckigen Nebenbuhlerin in ihre Ehe durch Androhung oder Erteilung einer Maulschelle abwendet. Das Verlöbnis - RGSt. 48 215; 216. Die Intimsphäre - Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 377 (§ 26 II A 3); Jescheck AT 184 S. 272 (§ 32 II 1 b); Dreher-Tröndle Rdn. 6; Lackner Anm. 2.b). Dieses Rechtsgut wird z. B. durch die heimliche Beobachtung von Frauen in Bade- und Umkleideräumen oder in Toiletten rechtswidrig angegriffen, auch wenn das verletzende Verhalten oft keinen Straftatbestand verwirklicht (s. die „Astlochgucker-Fälle" RGSt. 73 385; RG ZAkDR 1938 316 mit Anmerk. Mezger). Wer sich heimlich zur Nachtzeit aus dem Gebüsch heranschleicht, um ein Liebespaar auf einer versteckten Parkbank beim Austausch von Zärtlichkeiten zu beobachten, greift ebenfalls rechtswidrig in dessen Intimsphäre ein, weil hier unter normalen Umständen die beiden Liebesleute unbemerkt sind und durch Schritte eines herankommenden einsamen Spaziergängers gewarnt werden, so daß trotz der „Öffentlichkeit" des Parks noch „Raum" für die Intimsphäre bleibt (ebenso Erdsiek NJW 1962 2240, 2242; Maurach-Zipf aaO; anders z.T. BayObLG(St) NJW 1962 1782 Nr. 24; Rötelmann MDR 1964 207, 208; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 5; Schmidhäuser AT S. 345 Anm. 22). Künstlerische, wissenschaftliche oder gewerbliche Urheberrechte — Eitzbacher 185 DJZ 1905 240; Lampson S. 35, 37 ff; anders Wilh. Jaeger S. 66 f.; Sommerfeld S. 51/ 52, s. auch Adomeit JZ 1970 499/500. In der zivilrechtlichen Judikatur ist § 227 BGB zur Verteidigung solcher Rechte teils unmittelbar, teils entsprechend angewandt worden, im ersten Sinne z. B. RG GRUR 1944 34, 35 r. Sp. für etwaige richtigstellende Äußerungen zur Abwendung eines Angriffs auf das Erfinderrecht, im zweiten Sinne z. B. BGH NJW 1971 804, 805 1. Sp. für die warnende Anzeige in einer Tageszeitung zur Abwehr unlauteren Wettbewerbs bei Abonnentenwerbung. Das Recht am eigenen Bild, das Ausfluß des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 186 ist - BGHZ 24 200, 208; BGH(Z) NJW 1966 2353; BGH(St) NJW 1975 2075, 2076 r. Sp. Es darf in Notwehr verteidigt werden (OLG[St] Karlsruhe NStZ 1982 123), z. B. von Polizisten, die sich von Demonstranten nicht photographieren lassen wollen (OLG Hamburg NJW 1972 1290 = JR 1973 69 mit krit. Anm. Schweden s. auch OLG Karlsruhe Strafverteid. 1981 408, 409 und dazu kritisch v. Olenhusen/ Stechl), nicht aber gegen Polizeibeamte, die selbst Demonstranten und frühere Straftäter aufzunehmen suchen (BGH NJW 1975 2075 = JZ 1976 31 [1. Urt.] mit krit. Anm. Walter Schmidt; BGH JZ 1978 762 [2. Urt. in ders. Sache] und dazu Paeffgen JZ 1978 738; OLG Celle NJW 1979 57 mit ablehn. Anm. Dittmar NJW 1979 1311 = JR 1979 422 mit zustimm. Anm. Teubner). Die Frage, inwieweit „auch gegenüber feineren Beeinträchtigungen" des allge- 187 meinen Persönlichkeitsrechts Notwehr zulässig ist 3 7 9 , berührt sich mit der nach dem „Gefühlsschutz". So ist z. B. zweifelhaft, ob man das öffentliche Herumtragen eines Plakats mit obszönem oder gotteslästerlichem Inhalt nach § 32 StGB verhindern darf 3 8 0 . Sicherlich ist das „Gefühlsleben" als solches noch kein Schutzobjekt der 379 Dafür ausdrücklich Eitzbacher DJZ 1905 Sp. 239. 380 Im Gegensatz zu Eitzbacher aaO verneinend Lampson S. 49/50; Wilh. Jaeger S. 65; Sommerfeld S. 79/80. (87)

§32

2. Abschnitt. Die Tat 381

Verteidigung . Das sittliche und religiöse Gefiihl als Rechtsgut anzusehen 382 , ist daher in der Tat fragwürdig 3 8 3 . Dies ist wohl nur anzuerkennen, soweit der einzelne unmittelbar in seinem Empfinden verletzt und die Form dieser Verletzung, wenn auch womöglich nur im Interesse der Allgemeinheit (ζ. B. des öffentlichen Religionsfriedens), vom Recht ausdrücklich verboten oder gar bestraft wird 3 8 4 . Das trifft ζ. B. zu bei beschimpfendem Unfug in einer Kirche durch obszöne Handlungen (s. § 167 StGB und den Fall in BGHSt. 8 140), bei dem das religiöse Gefühl von Kirchenbesuchern, oder bei einer Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183 a StGB), bei der das sexualethische Gefühl von Passanten angegriffen wird 3 8 5 . In dem ersten Fall hätten die Gläubigen den Täter gewaltsam aus dem Gotteshaus befördern dürfen. 188

Dagegen ist kein Notwehrrecht gegeben, wenn sich ein Theologiestudent durch die Ausstellung pornographischer Zeitschriften und Bildmagazine in einem Bahnhofskiosk in seinem sittlichen und religiösen Empfinden verletzt fühlt. Denn hier wird er, wie BGHZ 64 178, 182 treffend sagt, „nur in der Anonymität des Publikums, also nicht stärker betroffen, als der einzelne als Mitglied der Gemeinschaft durch Störungen der öffentlichen Ordnung auch sonst beunruhigt wird"; er kann sich nicht schon auf Notwehr berufen, weil sich der in dem Schriftenangebot liegende Angriff primär gegen die allgemeine Sittlichkeit und nur indirekt, „nicht unmittelbar gegen ihn richtet", der ja nicht selbst individuell besonders „angesprochen" wird (so BGH aaO; s. schon BGHSt. 5 245, 247).

189

Umgekehrt ist wiederum Notwehr gegen Tierquälerei zulässig, und zwar nicht etwa deshalb, weil das Tier als „anderer" i. S. d. § 32 StGB oder das tierische „Interesse" als schutzwürdig gilt (so jedoch mit Nachdruck Kohler Die Tiere im Recht, GerS 47 [1892] 32, 54 ff), sondern deswegen, weil der einzelne Mensch in seinem sittlichen Mitgefühl mit der gepeinigten Kreatur geschützt werden soll (s. schon Rdn. 148) 386 . 190 Ob vertragliche Forderungsrechte als notwehrfähige Rechtsgüter anzusehen sind, ist nicht ganz unbestritten, aber zu verneinen387. Bei dieser Frage trägt zur Begriffsverwirrung bei, daß man die „McA/erfüllung von Verträgen" oft mit der Unterlas381 Rotering MSchrKrimPsych. 11 (1914—18) 656; s. auch Binding Normen I S. 364 ob. 382 Zur Schutzfähigkeit des Nationalgefühls s. bereits im vorhergehenden Rdn. 158 und Fußn. 327. 383 Bejahend: Neumond GerS 56 (1899) 46 ff; Wachenfeld Lehrb. (1914) S. 117; Jesse S. 8; Frank § 53 a. F. Anm. I (S. 159); Allfeld S. 124; Νagier-Jagusch LK7 I (1954) § 53 a. F. Anm. II.3) (S. 363). Verneinend: Wilh. Jaeger S. 65; Lampson S. 48 ff; v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 197 und Anm. 334. Kritisch und ζ. T. unentschieden Sommerfeld S. 79/80. 384 So für das sittliche Gefühl Sommerfeld S. 48 (s. dagegen S. 79 ff), für das ethische und religiöse Empfinden Jesse S. 9; Alfred Schmitz S. 39; Schubert S. 11 Anm. 20). 385 Für diesen zweiten Fall ebenso z.B. Nagler-Jagusch LK7 I (1954) §53 a. F. Anm. II.3 (S. 363); Jescheck AT S. 272 (§ 32 II 1 b). 386 So im Ergebnis auch Neumond GerS 56 (1899) 47, 50; Rotering MSchrKrimPsych. 11 (1914—18) 656/657; Jesse S. 8; Rich. Schmidt Grundr. des deutschen Strafrechts, 2. Aufl. (1931) S. 119 Anm. 2); Heimberger Strafrecht (1931) S.42; Schubert S. 11 Anm. 20), 12; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 8 a. E. Anders (keine Notwehr gegen Tierquälerei) Lampson S. 52 zu e); v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 197 und Anm. 334 a; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 344; van Calker Strafrecht, Grundr., 4. Aufl. (1933) S. 33. 387 Zu dieser Frage eingehender Lampson S. 68 ff ; Wilh. Jaeger S. 67 ff ; Alfred Schmitz S. 33 ff; Sommerfeld S. 52 ff. (88)

Notwehr (Spendei)

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sung einer vertraglich g e b o t e n e n H a n d l u n g gleichsetzt o d e r verwechselt u n d in einem solchen U n t e r l a s s e n k e i n e n „ A n g r i f f sehen zu k ö n n e n m e i n t (s. R G W a r n R 1933 236, 238 [Nr. 116] = H a n s e a t . Rechts- u n d G e r Z t s c h r . 1933 352, 354)388. D a h e r w i r d meistens s c h o n allgemein verneint, ü b e r h a u p t die „ b l o ß e N i c h t e r f ü l l u n g von V e r t r a g s v e r p f l i c h t u n g e n " als A n g r i f f a u f z u f a s s e n ( R G aaO)389 ( o d e r wenigstens i m b e s o n d e r e n a b g e l e h n t , dies f ü r die N i c h t e r f ü l l u n g v o n vertraglichen H a n d l u n g s p f l i c h t e n d u r c h U n t e r l a s s e n a n z u n e h m e n 390. A n d e r e r s e i t s ist die N o t w e h r f ä higkeit v o n V e r t r a g s v e r l e t z u n g e n f r ü h e r gelegentlich g r u n d s ä t z l i c h bejaht w o r d e n 391; in n e u e r e r Zeit w i r d sie z. T. n o c h f ü r die McAierfüllung v o n vertraglichen Unterlassungspflichten d u r c h aktives Zuwider handeln 392 0 ( j e r f ü r die N i c h t e r f ü l l u n g v o n vertraglichen Handlungspflichten d u r c h solches Tun, d. h. d u r c h „positive Vertragsverletzung" a n g e n o m m e n 393. Diese u n t e r s c h i e d l i c h e Beurteilung ist u n b e g r ü n d e t , d a die zivilrechtlich geschul- 1 9 1 dete Leistung eben in e i n e m Tun o d e r Unterlassen (s. § 194 B G B ) , die „McAierfüll u n g " o d e r „ V e r l e t z u n g " v o n Vertragspflichten d e m e n t s p r e c h e n d in einem passiven o d e r aktiven V e r h a l t e n b e s t e h e n k a n n . E n t s c h e i d e n d f ü r die m a n g e l n d e N o t w e h r f ä higkeit v o n F o r d e r u n g s v e r l e t z u n g e n sind a n d e r e G e s i c h t s p u n k t e : Z u r S i c h e r u n g o d e r D u r c h s e t z u n g schuldrechtlicher, auf ein T u n o d e r U n t e r l a s s e n des Vertrags-

388 Das zeigen bestimmte Formulierungen, s. z. B. Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl. 2. H Bd. (1960) S. 1449 Anm. 2 („Ein Angriff durch eine Unterlassungshandlung, z. B." (!) „durch Mc/iierfüllung einer Verpflichtung, ist undenkbar"); RGR-Komm. 11. Aufl., I. Bd. (1959) § 227 Anm. 17 („ Unterlassungen, insbesondere durch bloße Mc/i/erfüllung von Vertragspflichten genügen nicht"); v. Staudinger-Herm. Dilcher Komm, zum BGB, 12. Aufl. I (1979) §227 Rdn.6; Palandt-Heinrichs BGB, 41. Aufl. (1982), § 227 Anm. 1 a („Nicherfüllung von Vertragspflichten und sonstiges" (!?) „ Unterlassen kein A n g r i f f ) . 389 Endemann Lehrb. des Bürgerl. Rechts, 8./9. Aufl. I (1903) S. 434 Anm. 6; s. ferner Neubekker DJZ 1905 149; v. Tuhr Der Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts II 2 S. 581 Anm. 5 und 590 (für Vertragsverletzungen durch Unterlassen), S. 582 Anm. 11 und S. 591 Anm. 15 (für Vertragsverletzungen durch Tun); Henle Lehrb. des Bürgerl. Rechts, Allgem. Teil (1926) S. 324 („M'cA/erfüllung einer Forderung, sei es auch durch positives Tun, ist kein A n g r i f f ) ; Lampson S. 69 f. 390 Soergel-Fahse BGB 10. Aufl. I (1978) § 227 Rdn. 1 a. E.; v. Feldmann in MünchKomm. zum BGB 1 (1978) § 227 Rdn. 2; Palandt-Heinrichs BGB 41. Aufl. (1982) § 227 Anm. 1 a; z. T. unbestimmt v. Staudinger-Coing Komm, zum BGB, 11. Aufl. I (1957) § 227 Rdn. 3, wonach „die Notwehr zum Schutz von Forderungen nur ein sehr beschränktes Anwendungsgebiet hat", insbesondere nicht durch „die bloße Nichterfüllung von Vertragspflichten" begründet wird. 391 So früher Ahsbahs S. 50; v. Liszt Lehrb. d. Dtsch. Strafr. 12./13. Aufl. (1903) S. 147 (s. allerdings auch S. 145 Anm. 2); Eitzbacher DJZ 1905 240 (s. dagegen 241!); Schollmeyer S. 11; Baumgarten S. 120 („nicht leicht einzusehen, warum nicht auch durch ein Handeln gegen relative Rechte" Notwehr zulässig werden sollte); Kitzinger Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (1913) S. 86 ff, 96 (der „bedrohte Ansprüche" zu den angegriffenen Rechtsgütern rechnet und keinen Unterschied zwischen Notwehr und Selbsthilfe i. S. d. § 229 BGB findet); nicht klar Johannsen BGHK-BGB 12. Aufl. I (1975) § 227 Rdn. 17. 392 Knoke in Plancks Komm, zum BGB, 4. Aufl. I (1913) § 227 Anm. 1 a; Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. 5 c); Eitzbacher DJZ 1905 240. 393 Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts 15. Aufl. 2.HBd. (1960) S. 1449 Anm. 5; Lehmann-Hübner Allgem. Teil des Bürgerl. Gesetzbuches, 16. Aufl. (1966) S. 121 vor δ. (89)

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2. Abschnitt. Die Tat

partners (Schuldners) gerichteter Ansprüche ist der Berechtigte (Gläubiger) grundsätzlich (wie im Sachenrecht der mittelbare Besitzer gegenüber dem unmittelbaren Besitzer, s. Rdn. 48 ff) auf den Klageweg angewiesen und nur ganz ausnahmsweise zur Selbsthilfe im engeren und technischen Sinne des § 229 BGB, aber nicht zur Selbstverteidigung im Sinne der iVoiwe/i/bestimmung des § 227 BGB (§ 32 StGB) befugt 3 9 4 . Denn hier bei den auf eine künftige Leistung zielenden relativen Forderungsrechten kommt primär keine Rechts- verteidigung zur Wahrung einer bestehenden Rechtslage (Recht oder Rechtsgut) nach § 227 BGB (§ 32 StGB), sondern allein, aber eingeschränkt die Rechts- Verfolgung zur Sicherung eines herzustellenden Rechtszustandes nach § 229 BGB in Betracht (s. schon Rdn. 10). 192

Wird dem Käufer die hochempfindliche Kaufsache nicht übergeben und übereignet (jVz'c/iierfüllung einer vertraglichen Handlungspñicht durch Unterlassen), so darf er sie nicht nach den §§ 227 BGB, 32 StGB, sondern höchstens nach § 229 BGB dem Verkäufer dann wegnehmen, wenn sie z. B. bei diesem zu verderben droht; der Käufer darf den Verkäufer auch in Selbsthilfe festnehmen, wenn dieser mit dem schon bezahlten wertvollen Gegenstand (antikes Möbelstück) ins Ausland zu flüchten sucht 3 9 5 . Die An-sich-Nahme der unersetzlichen Kaufsache muß auch nach § 229 BGB zulässig sein, falls der Schuldner sie z. B. in Trunkenheit zerschlagen will (McAierfüllung der vertraglichen Handlungspñicht durch Γ«η) 396 . Spielt der Mieter zu anderen als den vereinbarten Zeiten Klavier oder auf seiner großen Hausorgel (McA/erfüllung einer vertraglichen Unterlassungspñicht durch Handeln), so kann der Vermieter wiederum höchstens nach § 229 BGB Selbsthilfe, aber nicht Notwehr üben 3 9 7 ; er darf also unt. Umst. im zweiten Falle den Strom abstellen, um den elektrisch betriebenen Blasebalg der Orgel außer Betrieb zu setzen.

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Nur dann, wenn — ähnlich wie bei den Rechtsverletzungen des unmittelbaren Besitzers dem mittelbaren gegenüber (s. Rdn. 50 ff) — das Verhalten des Schuldners über die Vertragsverletzung hinaus einen fühlbaren Eingriff in Rechtsgüter des Gläubigers darstellt, kommt Notwehr in Betracht 398 . Beispiele: Der Katakombenführer zeigt aus Ärger über ein zu geringes Trinkgeld dem Reisenden nicht den Ausgang aus dem Labyrinth, obwohl dieser schnellstens ins Freie will; oder: der Bergführer läßt den Touristen an lebensgefährlicher Stelle im Stich. Hier liegt über die Nichterfüllung des Vertrages zum Führerdienst, d. h. über die Verletzung der zivilrechtlichen Handlungspflicht durch Unterlassen hinaus ein Angriff auf die Freiheit oder

394 Ebenso im Ergebnis Lampson S. 70; Sommerfeld S. 52 ff. 395 So ζ. Β. v. Tuhr Der Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 591 Anm. 15 und 20. 396 Ebenso Schollmeyer S. 12; Lampson S. 70; v. Tuhr aaO S. 582 Anm. 11 und S. 591 Anm. 15; anders (Notwehr bei solchen „positiven Vertragsverletzungen") zu Unrecht Eitzbacher DJZ 1905 240, 241 ; Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. 5 c); RGRK 11. Aufl. I (1959) § 227 Anm. 18; Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl. 2. HBd. (1960) S. 1449 Anm. 5; Lehmann-Hübner Allgem. Teil des Bürgerl. Gesetzbuchs, 16. Aufl. (1966) S. 121. 397 So auch Lampson S. 70; v. Tuhr aaO S. 582 Anm. 11 und S. 594; Sommerfeld S. 52/53, 54; Stratenwerth Rdn. 426 (S. 135). Dagegen neigt Baumgarten S. 121 dazu, hier Notwehr zuzulassen. 398 So im Ergebnis v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 147; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 344 ob.; Nagler LK6 (1944) § 53 a. F. Anm. II. 1 (S. 418); Henle Lehrb. des Bürgerl. Rechts, AT (1926) S. 324; vgl. ferner Lampson S. 70 ff; Alfred Schmitz S. 35; Sommerfeld S. 54 unt./55 ob. (90)

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auf das Leben des Berechtigten vor, und zwar durch das passive Verhalten des zur Betreuung des Touristen verpflichteten Fremdenführers (zum Angriff durch Unterlassen s. Rdn. 46 f.). Erst diese Freiheits- oder Leöensgefährdung, die unt. Umst. ein strafbarer Nötigungsversuch durch Unterlassen ist 3 9 9 , nicht schon die Vertragsverletzung als solche, berechtigt zur Notwehr 4 0 0 . Der Reisende darf daher z. B. den Katakombenführer mit Gewalt dazu zwingen, ihn zum Ausgang zu leiten. Will der Verkäufer die Kaufsache zerstören oder einem anderen überlassen ( Ver- 194 letzung seiner Handlungspñicht durch aktives Tun), so kommt für den Käufer grundsätzlich nur Selbsthilfe (§229 BGB), Notwehr (§227 BGB) aber dann in Betracht, wenn ihm die noch nicht übergebene Ware schon übereignet worden ist (s. § 930 BGB), in der Handlungsweise des Verpflichteten (Schuldners) also nicht allein eine Verletzung des Kaufvertrages (der Übergabepflicht), sondern darüber hinaus zugleich ein Angriff auf das Eigentum des Forderungsinhabers (Gläubigers) liegt. Spielt der Mieter und Orgelbesitzer nicht nur außerhalb der vereinbarten Zeit am Tage, sondern sogar am späten Abend oder bis in die Nacht hinein, so bedeutet die Mc/i/erfüllung der vertraglichen Unterlassungspfticht durch Handeln gleichzeitig einen Angriff auf die Nachtruhe tes Vermieters und jedes anderen Nachbarn, die auch ohne vertragliche Regelung ein schutzwürdiges Interesse ist und daher nach § 32 StGB gewahrt werden darf (s. Rdn. 176) 401 . (2) Sind schon nicht alle individual-rechtlich anerkannten Rechtspositionen wie 195 Vertragsverhältnisse und die daraus erwachsenen Forderungsrechte nach § 32 StGB (§ 227 BGB) verteidigungsfähig, so erst recht nicht alle Rechtsgüter der Allgemeinheit. Das folgt daraus, daß diese als „Gesellschaft" oder unorganisierte Vielheit von einzelnen eben keine bestimmte oder bestimmbare Personengesamtheit, kein Rechtssubjekt als Inhaber von Rechtsgütern und damit kein „anderer" i. S. d. § 32 StGB ist 4°2. Von der „Allgemeinheit" oder „Gesamtheit" ist jedoch der Staat als „Gesamt- 196 person" zu unterscheiden. Seine Rechtsgüter sind, was bereits die Ausführungen zur Staatsnothilfe zeigten (Rdn. 162 zu (2)), dann verteidigungs-, d. h. nothilfefähig, wenn sie einer Person zustehen können (wie das Eigentum dem Staat als Fiskus, das Ansehen dem Staat als Hoheitsträger) oder zum Bestand und Wesen der staatlichen Körperschaft gehören (wie Staats vo//c und Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staats ve/·fassung). Auf sie als notwendige und konstitutive Elemente des Staates gründet sich dessen Existenz als juristische Person gleich Leib und Leben, im weiteren Sinne Freiheit und Frieden, Eigentum und Vermögen, auf denen als tatsächlichen und wesentlichen Voraussetzungen die Existenz des einzelnen als natürlicher Person beruht und die darum als seine „vitalen" Interessen zugleich Rechtsgüter und not-

399 Die Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit eines solchen unechten Unterlassungsdelikts und dessen Abwehrfähigkeit in Notwehr beruhen hier allerdings auf einer Erfolgsabwendungspflicht („Garantenpflicht") aus Vertrag, leiten sich also mittelbar doch aus der zivilrechtlichen Forderungsverletzung her. 400 So klar Henle Lehrb. des Bürgerl. Rechts, Allgem. Teil (1926) S. 324. 401 Ebenso geht ein bis zu 8stündiges Klavierspielen am Tage in einem Doppelhaus „erheblich über die Grenzen des Erlaubten" hinaus (OLG Hamm JMB1NRW 1952 242, 243 1. Sp.) und ist als ein abwehrfähiger Angriff auf die Ruhe der Hausbewohner anzusehen. 402 Alfred Schmitz S. 38; Schubert StrAbh. H. 311 (1933) S. 11; Sommerfeld S. 78; anders (Rechtsgüter der Allgemeinheit ebenso verteidigungsfähig wie die des einzelnen) die in Fußn. 347 zu Rdn. 163 angeführten Autoren. (91)

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2. Abschnitt. Die Tat

wehrfähig sind (s. auch RGSt. 63 215, 220 und dazu Rdn. 162 zu (2))4°3. Eine solche Einschränkung ist sachlich begründet, da der Staat eine sich von der Einzelpersönlichkeit abhebende und umfassende Gesamtperson, ein vergeistigtes und verrechtlichtes Gebilde ist. Nicht nothilfefähig ist daher ζ. B. das Rechtsgut „Rechtspflege", wenn es etwa durch die Vortäuschung einer Straftat (§ 145 d StGB) verletzt wird, da ein derartiger Angriff den Staat weder in seiner „Person" noch sonst in seiner „Substanz" unmittelbar berührt. 197

Erst recht ist weder die „öffentliche Ordnung" (BGHSt. 5 245, 247 ; BGH VRS 40 [1971] 104, 107 zu b); OLG Stuttgart NJW 1966 745, 747 r. Sp./748) 4 0 4 noch die „Rechtsordnung" schlechthin 405 ein Rechtsgut des Staates, das der einzelne gegen andere verteidigen dürfte. Denn die erstere ist lediglich ein unbestimmter und allgemeiner Zustand, der das Ergebnis staatlicher Betätigung im Staatsgebiet ist, aber kein konkretes Rechtsgut, das dem Staat selbst oder einem Staatsbürger gehört 4 0 6 . Die letztere macht Interessen und Güter erst zu Rechtsgütern, ist jedoch selbst kein Rechtsgut 407 .

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Solche rechtlich allgemein geschützten Interessen wie der Bestand der öffentlichen Ordnung, die Sicherheit des Straßenverkehrs, die Zuverlässigkeit des Geldwesens40^, die Unabhängigkeit der Rechtspflege409, die Unbestechlichkeit des Beamtenapparats, die keiner „Person", weder dem privaten einzelnen noch der öffentlichen Körperschaft, unmittelbar und allein zustehen und die das Einzel- wie das Gemeinwesen nur mittelbar angehen, da sie dem Schutz und Erhalt anderer privater und öffentlicher Interessen dienen, sind Rechtsgüter der Allgemeinheit. Sie sind als solche nicht notwehrfähig, da ihre Sicherung und Bewahrung Sache der öffentlichen Hand, insbesondere der staatlichen Polizei, nicht des privaten Armes ist, weil sich sonst jeder Staatsbürger über § 32 StGB zum „Hilfspolizisten" machen könnte; ein allgemeines Recht des einzelnen zur Unrechts- und Verbrechenshinderung gibt es nicht 4 1 0 . Da durch Ausstellung pornographischer Bildmagazine primär die allgemeine Sittenordnung, kurz: die „Allgemeinheit", aber nicht der Staat als solcher oder der einzelne Staatsbürger unmittelbar berührt wird, ist der Private nicht

403 Dazu besonders Kraegeloh S. 72 ff; Schubert StrAbh. H. 311 (1933) S. 21 ff; s. auch Sch.Schröder-Lenckner Rdn. 6. 404 Ebenso Jescheck AT S. 272 (§ 32 II 1 b); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 8; Wessels AT S. 77 (§ 8 V 1 a. E.); anders jedoch Kurzweg GA 70 (1925) 72, dagegen wiederum Klee ibid. 405 Ebenso schon Schuck S. 18 ff, 20, 21 ff; Schubert aaO S. 12 ff, 19 ff; Dreher-Tröndle Rdn. 6; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 8; anders wohl nur scheinbar im Zusammenhang mit § 193 StGB RGSt. 61 400, 401; „Das Interesse des Staates an der Verwirklichung seiner Rechtsordnung und demgemäß an der Verfolgung strafbarer Handlungen berührt jeden einzelnen. Die Wahrnehmung dieses Interesses ist daher für jedermann eine berechtigte." 406 So überzeugend Schiick S. 20. 407 Ebenso Kitzinger Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (1913) S. 84; Kraegeloh S. 59; Schuck S. 21 ff; Schubert StrAbh. H. 311 (1933) S. 19 ff, 21. 408 Dagegen für Zulässigkeit der Notwehr gegen Münzfälschung zugunsten der Allgemeinheit ausdrücklich Heimberger Strafrecht (1931) S. 42 vor b). 409 Dagegen als notwehrfähiges Rechtsgut angesehen von Schmidhäuser AT S. 345 (9/91); Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 377 (§ 26 II A 3). 410 Gegen dieses und die Versuche zu seiner Begründung näher Schuck S. 21 ff und Schubert aaO S. 12 ff, 19 ff mit weiteren Nachweisen, ferner schon Binding Handb. S. 737; Lobe LK.5 (1933) § 53 a. F. Anm. 2. d) (S. 387) und heute Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 8. (92)

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befugt, selbst einen derartigen Angriff abzuwehren (s. schon Rdn. 188 und BGHZ 64 178). Fährt ein Autofahrer mit überhöhter Geschwindigkeit durch eine Ortschaft oder bei Rot über eine Kreuzung oder mit nicht abgeblendetem Licht, so darf ein übereifriger Bürger den Verkehrssünder nicht schon wegen dieses Angriffs auf die der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer dienende Verkehrsordnung stoppen und zur Unterlassung des verkehrswidrigen Verhaltens zwingen (so für den Fall des Nichtabblendens OLG Düsseldorf NJW 1961 1783, 1784, 1. Sp.) 411 . Eine Ausnahme gilt jedoch für den Fall, daß die Bedrohung der Rechtsgüter der 199 Allgemeinheit zugleich die unmittelbare Gefährdung eines Individualinteresses darstellt 412 , so z. B. bei einer Brandstiftung, soweit durch sie nicht nur die unbestimmte Gesamtheit (abstrakte Gefährdung), sondern auch, wie in der Regel, eine Mehrheit von bestimmbaren Personen in ihrem Vermögen oder Leben (konkrete Gefährdung) angegriffen wird 4 ! 3 , oder bei einem Meineid, wenn durch ihn nicht allein die Rechtspflege als Rechtsgut der Allgemeinheit und des Staates, sondern zugleich die Freiheit oder das Vermögen des einem Fehlurteil ausgesetzten Angeklagten bedroht wird 4 1 4 . In diesen Fällen darf der einzelne Notwehr oder Nothilfe üben, z. B. im Brandstiftungs-Beispiel durch gewaltsame Wegnahme des Zündstoffes, im Meineids-Falle unt. Umst. durch Unterbrechung oder Verhinderung der Zeugenaussage 4 1 5 . d) Form der Verteidigung (Tun oder Unterlassen): Wie der Angriff kann die 200 Abwehr sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen ausgeübt werden. Das ist, soweit dieser Gesichtspunkt überhaupt kurz angeschnitten wird, gelegentlich geleugnet worden 4 1 6 , jedoch nicht zu bezweifeln 417 . Wenn der von einem Straßenräuber Überfallene Spaziergänger nicht seinen heranjagenden und sich auf den Wegelagerer stürzenden Hund zurückruft, so ist die vom Hundebesitzer durch Unterlassen bewirkte Körperverletzung eine zulässige Verteidigung. Denn ob sich

411 Ebenso Sommerfeld S. 77; anders jedoch Endemann Zivilcourage und Strafrecht (1925) S. 46; s. auch Alfred Schmitz S. 39/40 Anm. 150. Zur aktuellen Frage der Nötigung und Notwehr im Straßenverkehr s. näher Baumann NJW 1961 1746; Busse Nötigung im Straßenverkehr (1968) S. 123 ff, 140. 412 So z. B. Lobe LK.5 (1933) Anm. 2.d) (S. 387); Jescheck AT S. 272 (§ 32 II 1 b); Lackner Anm. 2.b); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 8. 413 Für dieses gemeingefährliche Verbrechen ebenso schon Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 344; Nagler LK6 (1944) § 53 a. F. Anm. II.3 (S. 420). 414 So auch für dieses Delikt Schück S. 31; anders jedoch Köhler aaO S. 344; Nagler aaO S. 419; Schubert StrAbh. H. 311 (1933) S. 11. 415 Dagegen ausdrücklich in diesem zweiten Fall Köhler aaO S. 344; Schubert aaO S. 11. 416 So zu Unrecht von Focke StrAbh. H. 403 (1939) S. 55; Kratzsch Grenzen . . . S. 33, 50; Schmidhäuser ATI (1970) S. 551: „Verteidigung durch Unterlassen gibt es nicht" (?!); anders jetzt ders. AT 2 S. 692. 417 Wie hier Traeger Das Problem der Unterlassungsdelikte im Straf- und Zivilrecht (1913) S. 26; Rob. ν. Hippel Unterlassungsdelikte und Strafrechtskommission, ZStrW 36 (1915) 501, 510 und Anm. 30, 519; Nagler Die Problematik der Begehung durch Unterlassung, GerS 111 (1938) 1, 74; Nagler-Mezger LK.7 I (1954) Anh. 2 zur Einleit., Β II b (S. 39); Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959) S. 135 f; Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip (1972) S. 229/230; Suppert S. 252 Anm. 33 und S. 366 Anm. 67; ferner „beiläufig" oder allgemein Drost Der Aufbau der Unterlassungsdelikte, GerS 109 (1937) 1, 6; Welzel S. 205, 219. (93)

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2. Abschnitt. Die Tat

der Überfallene seines Angreifers dadurch erwehrt, daß er das Tier durch Zuruf veran-laßt, auf den Verbrecher loszugehen, oder das Zupacken des treuen Beschützers durch Nicht-Zurückrufen zw-läßt, ist gleichgültig 418 ; in beiden Fällen „läßt" der Angegriffene den Angreifer zu Recht durch seinen Hund verletzen und kampfunfähig machen. Wie bei einer tatbestandsmäßigen Körperverletzung durch Tun das Verbot der Erfolgsverursachung so ist hier bei der Körperverletzung durch Unterlassen das Gebot der Erfolgsverhinderung (die Pflicht zum Zurückrufen des Tieres zur Vermeidung von Bißwunden) und damit auch das Verletzungsverbot durch das Notwehrrecht außer Kraft gesetzt. Entsprechendes gilt, falls die an sich erfolgsabwendungspflichtige Ehefrau dadurch Tätlichkeiten ihres betrunkenen und tobenden Mannes, den der Sohn in ein Zimmer eingesperrt hat, von sich abwendet, daß sie die Tür nicht aufschließt und den Eingesperrten nicht befreit, bis er sich beruhigt hat und eingeschlafen ist 4 1 9 . 201

Stürzt der heimtückische Liebhaber, der seine Geliebte loswerden will, bei dem Versuche, sie während einer Kahnfahrt auf dem See hinterrücks mit dem Ruder zu erschlagen, aus dem Boot, so ist die nach § 323 c StGB objektiv-tatbestandsmäßige Unterlassung 420 , dem verunglückten Nichtschwimmer aus dem Wasser zu helfen, nach § 32 StGB gerechtfertigt, wenn und weil sich die Frau nicht anders vor dem Mörder selbst retten, d. h. seines womöglich nun erst recht von ihm drohenden Angriffs auf ihr Leben erwehren kann 4 2 !, o b sie den ihr an Körperkräften weit überlegenen Angreifer ins Wasser stößt oder nicht aus dem Wasser zieht, macht keinen Unterschied und ist gleich zu bewerten. 202 Fraglich ist, wieweit die vorstehenden Grundsätze auch auf den ungewöhnlichen Fall anzuwenden sind, daß ein Soldat nicht den Befehl befolgt, Uniform zu tragen, weil er sonst wegen einer (auch in der Sanitätsakademie der Bundeswehr offensichtlich falsch beurteilten) akuten Kontaktdermatitis mit multipler Allergie erneut schwere Ekzeme mit unerträglichem Juckreiz bekommen wird. Der erstinstanzliche Richter hat hier sogar die Nichtrückkehr zur Truppe als durch Notwehr gerechtfertigt angesehen (BayObLGSt. NF 21, 1971 168, 169). Richtig dürfte sein, daß der Befehl, da zu einer unnötigen Gesundheitsbeschädigung des Befehlsempfängers führend, eine drohende Mißhandlung i. S. d. § 30 WStG darstellte 422 und als sol-

418 Vgl. das Beispiel bei Nagler GerS 111 (1938) 74 und nunmehr auch bei Schmidhäuser AT S. 692. 419 Vgl. das Beispiel von Rob. ν. Hippel ZStrW 36 (1915) 501, 510 Anm. 30; neuerdings bei Herzberg aaO S. 230 Anm. 32. 420 Als objektiv-tatbestandsmäßig nach § 323 c StGB ist die unterlassene Hilfeleistung deshalb anzusehen, weil das Aus-dem-Wasser-Ziehen objektiv erforderlich und als solches der Frau ohne erhebliche eigene Gefahr möglich war und die Unzumutbarkeit auch hier zur Schuld- und nicht zur Tatbestandsfrage zu rechnen ist. 421 Entsprechend für ein anderes, allerdings etwas konstruiert wirkendes Beispiel zu § 330 c StGB a. F. Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959) S. 135/136. 422 Daß der Vorgesetzte dadurch gegen § 30 WStG verstoßen kann, daß er den Untergebenen durch Ausführung des Befehls (Anlegen der Uniform) sich selbst verletzen oder gesundheitlich schädigen läßt, ist anerkannt, auch wenn dies nicht als „eine Art mittelbarer Täterschaft" (so Scholz Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. (1975) § 30 Rdn. 7), sondern richtigerweise ebenfalls als unmittelbare Tatbegehung des Befehlsgebers anzusehen ist (zu der Täterschaftsform s. Spendet JuS 1974 749, 751 r. Sp. f)· (94)

Notwehr (Spendei)

cher nicht nur rechtswidrig 42 ^, sondern sogar strafiechtswidrig ««verbindlich war (s. Rdn. 93).

§32

und deshalb schon

Wollte man dagegen — aus welchen Gründen auch immer, etwa weil das Uni- 203 formtragen nun einmal zur Erscheinung des Soldaten gehört, solange er dafür nicht dienstuntauglich geschrieben ist — noch keine unangemessene Behandlung i. S. d. § 30 WStG und nach der vorherrschenden, aber verfehlten Lehrmeinung (s. Rdn. 82 ff) den Befehl zwar für rechtswidrig, jedoch verbindlich halten 4 2 4 , so wäre die nach § 20 WStG tatbestandsmäßige Gehorsamsverweigerung durch Notwehr gerechtfertigt, soweit andere Mittel wie Beschwerden nach der WBO oder an den Wehrbeauftragten keinen Erfolg (keine wenigstens vorläufige Aussetzung des Befehls zur Folge) gehabt hätten 4 2 5 . Denn der objektiv auf eine Gesundheitsbeschädigung gerichtete und darum rechtswidrige Befehl war nicht nur ein unmittelbarer rechtswidriger Angriff auf die freie Willensentschließung (so wohl BayObLGSt. N F 21,1971 168, 169 unt.), sondern auch auf die körperliche Unversehrtheit des Soldaten (and. — nur mittelbarer Angriff — zu Unrecht BayObLG aaO), dessen sich der Untergebene dann nur durch ein Unterlassen, und zwar durch die Nichtbefolgung des Befehls und das Mc/î/tragen der Uniform nach § 32 StGB erwehren konnte. e) Richtung der Verteidigung (nur gegen den Angreifer) : Zu richten ist die Vertei- 204 digung gegen den Angreifer. Problematisch ist, ob und wieweit sie sich zugleich gegen Rechtsgüter unbeteiligter Dritter wenden d a r f 4 2 6 . Die überwiegende Meinung verneint diese Frage (RGSt. 23 116/117; 58 27, 29; RG(St) JW 1928 662, 663 1. Sp.; BGHSt. 5 245, 248; OLG Celle NJW 1969 1775 1. Sp.; OLG Frankfurt/M. MDR 1970 694, 695; OLG(Z) München VersR 1961 454, 455 1. Sp.) 4 2 7 . Sie beurteilt den Notwehrakt nicht einheitlich im Hinblick auf sein „Subjekt" (den Verteidiger), sondern differenziert mit Rücksicht auf die „Objekte" der Abwehrreaktion (Angreifer und Dritten) und bewertet Eingriffe in Rechte Dritter, die zur Verteidigung notwendig werden, unter dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden oder entschuldigenden Notstandes. Dagegen ist nach einer Mi'wdermeinung eine Verteidigung, durch die

423 BayObLGSt. NF 21, 1971 168 bezeichnet den Befehl als „rechtswidrig", ohne zu sagen warum und ohne ein Wort über seine Verbindlichkeit oder Unverbindlichkeit zu verlieren. 424 So anscheinend BayObLGSt. NF 21, 1971 168 in seiner wenig klaren Entscheidung. Vgl. auch RKG 1 (1938) 177, 179, das den Befehl an einen im Schwimmen noch nicht fertig ausgebildeten Soldaten, vom 2,3 m-Brett zu springen, was eine gewisse Leibesgefährdung bedeutete und darum nach den damaligen militärischen Sportvorschriften ausdrücklich verboten war, als rechtswidrig, aber noch verbindlich angesehen hat; dazu kritisch oben Rdn. 85. 425 Warum in diesem Falle (Erfolglosigkeit einer Beschwerde) die Mc/i/befolgung des Befehls und das Nichttragen der Uniform nicht gerechtfertigt und nur wegen Notstandes nach § 54 a. F. = 35 StGB entschuldigt sein sollte, ist den unklaren Urteilsgründen (s. dazu BayObLGSt. NF 21, 1971 169, 170/171 nicht eindeutig zu entnehmen. 426 Zu dieser Frage näher, wiewohl z. T. noch tastend oder nicht konsequent van Calker ZStrW 12 (1892) 445 ff, 452 ff, 467 ff; Kraegeloh S. 1 - 3 9 ; Seidel S. 9 ff. 427 Ebenso Oetker VDA II (1908) 291 ff; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 352; Kraegeloh S. 23, 39; Rob. ν. Hippel II S. 210; v. Liszt-Schmidt AT S. 197; Mezger Lehrb. S. 237; Rittler Lehrb. d. Österr. Strafr., 2. Aufl. I (1954) S. 140; WelzelS. 87; Baldus LK.9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 27; Baumann S. 320 (§ 21 II 1 b); Dreher-Tröndle Rdn. 15; Lackner Anm. 4; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 31. Vgl. auch schon Art. 145 der Carolina. (95)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

auch Rechtsgüter unbeteiligter Dritter verletzt werden müssen, nur einheitlich als Notwehr und rechtmäßig zu qualifizieren (RGSt. 21 168; OLG Dresden JW 1925 1025, 1026 1. Sp. = GA 69 [1925] 379, 380)428. 205

Die erste (vorherrschende) Auffassung ist im Prinzip richtig. Denn es ist kein Grund ersichtlich, warum der Dritte, der mit dem Angriff nichts zu tun hat, eine Verletzung seiner Rechte und Interessen hinnehmen und sein Notwehrrecht verlieren soll 4 2 9 . Ihm selbst erscheint der Verteidiger ja als Angreifer auf seine, des Unbeteiligten und Nichtangreifers Rechtsgüter. 206 (1) V darf also nicht etwa in Notwehr dem D einen wertvollen silberbeschlagenen Stock entreißen, wenn er sich nur so der Wegnahme seines wertlosen alten Schirmes durch A zu erwehren vermag 430 , oder (2) den in der Schußlinie stehenden D mit einer Kugel durchbohren, wenn er nur auf diese Weise den A niederschießen und dessen tödlichem Schuß zuvorkommen kann 4 3 1 . (3) Das Gleiche muß gelten, falls die gegen den Angreifer gerichtete Verteidigungshandlung ihr Ziel verfehlt (aberratio ictus) und statt des Angreifers einen Dritten verletzt, so z. B. in dem Fall, daß der Stockschlag des V gegen den nachts in sein Schlafzimmer eingedrungenen und auf ihn einschlagenden Vermieter A die hinter diesem befindliche Ehefrau trifft, die ihren betrunkenen Mann zurückzuhalten sucht (RGSt. 58 27; entsprechend RG GA 69 [1925] 441), oder (4) daß der in Notwehr abgegebene Schuß des Angegriffenen einen Unbeteiligten verwundet (OLG[Z] München VersR 1961 454, 455 1. Sp.) oder tötet (falsch daher RG [St.] JW 1932 1971, 1972 1. Sp. mit ablehn. Anm. Coenders) oder (5) daß der Schuß des Nothelfers daneben geht und die angegriffene Frau selbst verletzt (OLG Frankfurt/M. MDR 1970 694/695) 432 . In diesen Fällen ist der Verteidiger unt. Umst. wegen eines vorsätzlichen (so im 1. Beispiel wegen Nötigung, eventuell wegen Sachbeschädigung) oder fahrlässigen Delikts (so im 4. und 5. Fall wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung)

428 Ebenso Binding Grundr.7 (1907) S. 189; vor allem Schwanz Das StGB für das Dtsch. Reich (1914) § 53 a. F. Anm. 3.a (S. 171/172); Wachenfeld Lehrb. d. deutschen Strafr. (1914) S. 118 zu Nr. II.1; M. E. Mayer S. 281/282; Frank §53 a. F. Anm. II (S. 162); Heimberger Strafrecht (1931) S. 43 zu e); Gerland S. 148 zu Nr. 2.a); Niethammer in v. Ophausens Komm. § 53 a. F. Anm. 13 (widersprüchlich, da hier „ausnahmsweise Notwehr gegen Notwehr" zulässig sein soll!?). 429 Vgl. z. B. BGHSt. 5 245, 248; Graf zu Dohna Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. (1950) S. 32. 430 Dagegen wären Nötigung und Sachbeschädigung durch V gegenüber D gemäß § 904 BGB (Angriffsnotstand) gerechtfertigt, falls V mit dem fremden Stock einen Angriff auf seinen Leib oder gar auf sein Leben abgewehrt und damit höhere Rechtsgüter auf Kosten geringerwertiger Güter (Freiheit und Eigentum) gewahrt hätte. 431 In diesem Falle wäre V nur A gegenüber nach § 32 StGB gerechtfertigt, bezüglich D dagegen lediglich nach § 35 StGB entschuldigt. Anders (Rechtfertigung durch Notwehr auch gegenüber D) ausdrücklich van Calker ZStrW 12 (1892) 470/471; M. E. Mayer AT S. 281/ 282 ob.; Frank § 53 a. F. Anm. II (S. 162: obwohl diese „Ansicht zu bedenklichen Konsequenzen führt"!); Heimberger Strafrecht (1931) S. 43 zu e); Gerland S. 148. 432 In diesem Fall hat das OLG eine mutmaßliche Einwilligung der Angegriffenen und Niedergeschlagenen in die eventuell fahrlässige Körperverletzung des Nothelfers in Betracht gezogen. (96)

Notwehr (Spendei)

§32

strafbar, oft aber auch wegen Notstandes (z. B. nach § 904 BGB 433) gerechtfertigt oder zumindest entschuldigt (so im 2. Beispiel nach § 35 StGB) oder mangels Fahrlässigkeit schuldlos (so im 3. Fall). Ebensowenig wie der Eingriff in die Rechte eines unbeteiligten einzelnen ist die 207 Verletzung von Rechtsgütern der Allgemeinheit durch Notwehr zu rechtfertigen, auch wenn der Verteidiger nur auf diese Weise den Angriff abwehren kann. Wenn der alte Bauer, dem der flüchtige Schwerverbrecher den Einödhof anzuzünden droht, falls er nicht Unterkunft oder Geld und Kleidung für die weitere Flucht erhalte, sich dieses Angriffs auf sein Eigentum nicht anders als durch Erfüllung der Forderung erwehren kann 4 3 4 , so ist eine solche Abwendung der Bedrohung nicht durch § 32 StGB gedeckt; denn sie zielt als objektiv-tatbestandsmäßige Strafvereitelung nicht gegen den Angreifer (Drohenden), sondern gegen die Strafverfolgungsbehörde und damit gegen die Strafrechtspflege, ein Rechtsgut der Allgemeinheit und des Staates 435 . Die gleiche Beurteilung ist geboten, soweit sich die Selbstverteidigung oder Not- 208 hilfe zwar gegen den Angreifer richtet, daneben aber auch notwendigerweise Interessen der Gesamtheit berührt 436 , so z. B. dann, wenn der angetrunkene V losfährt, um einen Kraftfahrer A, der ein Mädchen in sein Auto gezerrt hat und zu entführen sucht, zu verfolgen und an der Weiterfahrt zu hindern (s. den Fall des OLG Celle NJW 1969 1775, in dem der Nothelfer den Verfolgten jedoch bald aus den Augen verloren hatte und das OLG nur eine zu bestrafende „Vorbereitung" der Nothilfe annahm). Soweit er die Frau durch erzwungenes Anhalten des Entführers befreit, ist diese Nötigung gegenüber dem Angreifer A durch Nothilfe zugunsten der Entführten gerechtfertigt; soweit V dadurch zugleich die StraßenverfceArssicherheit, also ein Rechtsgut der Allgemeinheit, beeinträchtigt (s. §316 StGB), kommt eine Rechtfertigung nur nach § 34 StGB in Betracht. Erst recht müssen diese Grundsätze gelten, falls durch die Verteidigung nicht 209 allein Rechtsgüter des Angreifers, sondern auch der Gesamtheit in Gestalt einer konkreten Personenmehrheit verletzt werden: Wehrt sich der in einer Predigt Beleidigte durch Zwischenrufe, die den polemischen Geistlichen aus dem Konzept bringen und an der Fortführung der Verunglimpfungen hindern, so ist nur diese Reaktion gegen den streitbaren Pfarrer (Eingriff in dessen Redefreiheit) durch Notwehr gedeckt, nicht dagegen die Störung der Religionsausübung und Andacht der anderen Kirchenbesucher; dieser Eingriff in den Gottesdienst ist nur durch Notstand (heute nach § 34 StGB) zu r e c h t f e r t i g e n 4 3 7 . Öffnet ein Postschaffner zur Abwendung des 433 So im Falle von RGSt. 23 116, 119: Gast V wehrt sich mit einem Krug des Wirtes D gegen den ihn angreifenden Gast A. 434 Vgl. den Fall von Lobe LK5 (1933) § 52 a. F. Anm. 3.b) a. E.; s. auch Kohlrausch-Lange § 52 a. F. Anm. III (S. 202), die eine Strafbarkeit des Bauern für die (unbefriedigende) Konsequenz halten. 435 Das Verhalten des genötigten Bauern ist weder eindeutig nach § 34 StGB zu rechtfertigen noch, da keine Leibes- oder Freiheits-, sondern nur eine Vermögensgefahr gegeben ist, problemlos infolge der unzureichenden Fassung des § 35 StGB zu entschuldigen, obwohl die Tat nicht strafwürdig erscheint. 436 Anders z.T. Oetker VDA II (1908) S. 293 (s. aber auch S. 292); v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 209; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 352; Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 5.a) a. E. (S. 390). 437 Anders jedoch RGSt. 21 168, eine Entscheidung, von der das RG in der Sache — wenngleich nicht zugegebenermaßen (s. RGSt. 58 27, 29; RG JW 1928 662, 663 I. Sp.) — in nicht eindeutigen Formulierungen später abgerückt ist. (97)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Angriffs auf seine Ehre einen ihn bei der Postdirektion denunzierenden und verleumdenden Brief (s. RG JW 1928 662), so kann höchstens die Verletzung des individuellen Äne/geheimnisses (§ 299 a. F. = § 202 StGB) gegenüber dem Angreifer (Bñeíabsender und Denunzianten) eine zulässige Notwehr bedeuten, nicht aber die Verletzung des allgemeinen Poi/geheimnisses und der Sicherheit des Postverkehrs (§ 354 a. F. bzw. § 354 II Nr. 1 StGB), also eines Rechtsguts der Allgemeinheit, die durch den Briefempfänger, die Postbehörde, repräsentiert wird 438. insoweit kommt nur eine Rechtfertigung wegen Notstandes (heute nach § 34 StGB) in Betracht. Daß dieser Rechtfertigungsgrund dem Postbeamten grundsätzlich zu verwehren sei, da das von ihm zu wahrende Postgeheimnis und die von ihm zu schützende Sicherheit des Postverkehrs als Rechtsgüter der Allgemeinheit stets höher ständen denn seine von ihm zu verteidigende Ehre als Individualrechtsgut (so RG JW 1928 663 1. Sp.), ist eine nicht überzeugende Ansicht. 210

Indessen ist der im vorhergehenden aufgestellte Grundsatz, daß die Verletzung von Rechten unbeteiligter Dritter nicht mehr durch Notwehr gedeckt sei, nicht restlos durchführbar, muß vielmehr zwei Ausnahmen erleiden, und zwar in den Fällen, in denen Rechtsgüter des Dritten so in den Angriff „verstrickt" sind und mit diesem eine Einheit bilden, daß der Betroffene eben doch kein „Unbeteiligter" mehr ist.

211

(1) Bedient sich der Angreifer fremder Werkzeuge oder Sachen als Mittel für den Angriff oder benutzt er sie bei dem Angriff (ζ. B. fremde Kleider), so ist deren Beschädigung oder Zerstörung durch die Abwehr nicht (nur) gegebenenfalls nach §228 BGB (Sachwehr) 4 3 ^ n o c h weniger etwa nach §904 BGB (Angriffsnotstand) 4 4 0 , sondern in erster Linie nach §§ 32 StGB, 227 BGB gerechtfertigt 441 . Es ist bis zu einem gewissen Grade wie beim Gutglaubensschutz des bürgerlichen Rechts: Wie der Eigentümer, der seine Sache einem anderen überlassen hat, den 438 So in zweiter Hinsicht auch RG JW 1928 662, 663 1. Sp., wobei es allerdings die Rechtfertigung des nach § 299 a. F. = § 202 StGB tatbestandsmäßigen Verhaltens unter dem Gesichtspunkt der Notwehr selbst für die Tat eines McAfbeamten nicht ohne weiteres bejahen wollte. 439 So jedoch (allein § 228 BGB bzw. heute § 34 StGB anwendbar) im Strafte cht: anscheinend RG JW 1928 662, 663 1. Sp. (übergesetzlicher rechtfertigender Notstand); Lackner Anm. 4; Samson S K I Rdn. 18; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 32 (allerdings nicht klar: Beschädigung der dem Angreifer nicht gehörenden Angriffsmittel „nach §§ 228, 904 BGB zu beurteilen"?!); Widmaier Die Teilbarkeit des Unrechtsbewußtseins, JuS 1970 611, 614 r. Sp.; im Zivi/recht: v. Tuhr Der AT d. Dtsch. Bürgerl. Rechts II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 585 Anm. 38; Knoke in Plancks Komm, zum BGB, 4. Aufl. I (1913) § 227 Anm. 2 geg. E.; Heinr. Lange BGB, AT, 15. Aufl. (1974) S. 116 (§ 18 I 2 b) (nicht eindeutig mehr H. Lange-Helm. Köhler 17. Aufl. [1980] S. 130 [§ 18 II 3], S. 132 [III 2 a]); Soergel-Fahse BGB 11. Aufl. 1 (1978) § 227 Rdn. 28 (im Widerspruch dazu § 228 Rdn. 14). 440 So jedoch (allein §904 BGB anwendbar) zu Unrecht Titze S. 114; H. A. Fischer Die Rechtswidrigkeit mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts (1911) S. 234; v. Staudinger-Coing BGB, 11. Aufl. I (1957) §227 Rdn. 8; v. Feldmann in MüncAKomm. zum BGB 1 (1978) § 227 Anm. 6 a. E. (S. 1370), § 228 Rdn. 2 (S. 1375). 441 Wie hier für das S/ro/recht: RGSt. 58 27, 29; Oetker VDA II (1908) S. 293/294; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 351 ob.; Kraegeloh S. 3, 5 ff, 11/12; v. Liszt-Schmidt AT S. 197; Mezger Lehrb. S. 237; Sauer AStrL S. 122; Welzel S. 87; Baumann S. 320 (§ 21 II 1 b); Dreher-Tröndle Rdn. 15; für das Zivi/recht: Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts, 2. H Bd. 15. Aufl. (1960) S. 1453 Anm. 20; Hefermehl in SchlegelbergerVogels Erläuterungswerk zum BGB . . . (1939 ff), 6. Lfg. I § 227 Anm. 20; Ernst Wo//Allgem. Teil des bürgerl. Rechts 3. Aufl. (1982) S. 613; Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. 1 (1978) § 228 Rdn. 14 (im Widerspruch dazu § 227 Rdn. 28); Palandt-Heinrichs BGB, 41. Aufl. (1982) § 228 Anm. 2a.

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

Verlust seines Eigentums zugunsten des gutgläubigen Erwerbers, dessen Vertrauen auf den veräußernden Besitzer (Glaube an dessen Eigentum) geschützt wird, hinnehmen muß, so hat derjenige, der es dazu hat „kommen lassen", daß seine Sache als Angriffsmittel gebraucht wird, deren Vernichtung durch den Verteidiger und Angegriffenen zu dulden, der sie in der Regel für das Eigentum des Angreifers halten wird und die Eigentumsverhältnisse an den Angriffswerkzeugen auch gar nicht durchschauen kann. V darf also hier in Notwehr (und nicht nur in Sachwehr) den wertvollen Stock des D zerbrechen, mit dem A ihm, dem V, einen geringerwertigen Gegenstand zerschlagen will. Eine andere Auffassung würde zu unhaltbaren Ergebnissen führen, so in den Fällen, daß V bei der Verteidigung seines geringwertigen Sachguts die wertvollere Kleidung des Angreifers A zerreißt, die dem D gehört (z. B. ein im Eigentum des Arbeitgebers D stehender Spezialanzug des Arbeiters A) und als solche keine Gefahr i. S. d. § 228 BGB begründet 4 4 2 , oder daß V in Abwehr eines Diebstahls das von dem Dieb und Angreifer A zum Abtransport der Diebesbeute benutzte, aber einem Dritten D gehörende teure Auto beschädigt. (2) Bedient sich der Angreifer A statt einer fremden Sache einer anderen Person 212 D als Angriffsmittel, so wird man dem Verteidiger V ebenfalls Notwehr nicht nur gegen A, sondern auch gegen D zubilligen müssen, da das aggressive Verhalten des A die Handlungsweise des D mit einschließt und mit diesem nach außen ein untrennbares Ganzes bildet. Die negative Bewertung des mittelbaren Angriffs von A auf V erstreckt sich daher auch auf den unmittelbaren Angriff des von A mißbrauchten D auf V, selbst wenn im ,,/nnenverhältnis" A zu D jener diesen ebenfalls rechtswidrig angreift und sich D gegenüber V dem Wortlaut nach auf den rechtfertigenden Notstand des § 34 StGB berufen könnte wie in folgendem Beispiel: Der sadistische Wachmann A nötigt im KZ den Häftling D unter der ernstzunehmenden Todesdrohung, ihn im Weigerungsfalle vergasen zu lassen, den Mithäftling V zu schlagen und zu treten 4 4 3 . Hier handelt D nicht etwa deshalb gerechtfertigt, weil sein bedrohtes Leben das höherwertige Rechtsgut gegenüber dem Leib des V ist 4 4 4 , sondern deswegen rechtswidrig und nur nach § 35 StGB entschuldigt, weil seine Handlung dem rechtswidrigen Angriff des A auf V dient, ja erst zur Ausführung verhilft. V darf daher auch gegen D Notwehr üben und sich der Schläge und Tritte erwehren 4 4 5 . 442 In diesem Falle ebenfalls für eine Rechtfertigung der Sachbeschädigung gegenüber dem Dritten in Notwehr Sauer AStrL S. 122; Baumann AT S. 320 (§ 21 II 1 b). 443 Daß der genötigte D hier Notwehr gegen A üben dürfte, ist ebenso selbstverständlich wie im konkreten Falle nicht realisierbar. 444 So jedoch zu Unrecht Herzberg Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßig oder unverboten handelndem Werkzeug (1967) S. 31 ff, 33, 65 ff, 67 ff ; nicht sinnvoll Schmidhäuser AT S. 331, 468 (der Genötigte soll zwar „rechtswidrig" handeln, aber „keinen rechtswidrigen Geltungsangriff" begehen, so daß Notwehr des Angegriffenen V unzulässig sei). Vgl. auch noch kurz und allgemein Nagler LK6 (1944) § 52 a. F. Anm. II.3.b) ß) geg. E. (S. 413), daß bei Gefährdung des wertvolleren Rechtsguts schon die Rechtswidrigkeit der Rettungshandlung (also doch auch der Handlung des Genötigten) entfalle. 445 Wie hier Johannes Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßigem Handeln des Werkzeuges, Ein Scheinproblem (1963) S. 20 ff, 22/23; Lenckner Der rechtfertigende Notstand (1965) S. 96, 117; Sch.-Schröder-Lenckner § 34 Rdn. 41; s. auch Baldus LK9 I § 52 a. F. Rdn. 5; Rieh. Lange NJW 1978 785. Widersprüchlich Kohlrausch StGB38 (1944) § 53 a. F. Anm. 5 a. E. : Bei mittelbarer Täterschaft Notwehr zulässig, da „als Ganzes betrachtet" . . . ein „rechtswidriger A n g r i f f vorliege, selbst wenn „der Benutzte" (d. h. hier: der Genötigte) „rechtmäßig" (?!) handle; unentschieden Stree in: Roxin-Stree-Zipf-Jung Einführung in das neue Strafrecht 2. Aufl. (1975) S. 54/55, für den „das aufgeworfene Problem noch einer genaueren Klärung bedarf'. (99)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

213

In solchen Fällen des Angriffs in mittelbarer Täterschaft kann aus besonderen Gründen die Rechts Widrigkeit der unmittelbaren Tat des (genötigten oder getäuschten) Werkzeugs entweder zweifelsfrei zu bejahen oder weniger zweifellos zu verneinen sein. Beispiel für die erste Alternative ist der Fall von Frank, daß der Hintermann und mittelbar Angreifende A den Dritten D unter Todesdrohung zu nötigen sucht, den Anzugreifenden V umzubringen, ζ. B. der Vater A die Kindsmutter D selbst zu töten droht, wenn sie nicht ihr gemeinsames uneheliches Kind beseitige. Hier muß ein Nothelfer V2 für das gefährdete Kind V, Notwehr nicht allein gegen den Vater, sondern auch gegen die (nur nach § 35 StGB zu entschuldigende) Mutter üben dürfen (Frank § 52 a. F. Anm. II.2 i. V. m. Anm. III [S. 156 i. V. m 157 ob.]).

214

Beispiel für die zweite Alternative ist der Fall des Teil-Schusses: Des Landvogts Todesdrohung richtet sich auch gegen Teils Sohn Walter; der gewagte Apfelschuß, eine „zweischneidige" Handlungsweise, zielt daher sowohl auf die Rettung des genötigten Vaters als auch — trotz der Gefährdung des von Geßler ebenso bedrohten Knaben — auf dessen Rettung. Das Anlegen der Armbrust bedeutet damit nicht nur einen Angriff auf das möglicherweise verletzte, d. h. gefährdete Leben des Κ indes, sondern zugleich die Abwehr des diesem von dem Tyrannen gewiß drohenden Todes. Hier ist mit Hegler446 die abgenötigte Handlung (Apfelschuß) nach dem Prinzip der Interessen- und Chancenabwägung als gerechtfertigt und nicht bloß als nach §35 StGB entschuldigt anzusehen 4 4 7 , obwohl es unbefriedigend erscheinen könnte, daß der kleine Teil den Schuß dulden soll.

215

Der obige Ausgangspunkt zu (2) wird dann etwas fragwürdig, wenn der Dritte D unter Androhung von Schlägen oder der Tötung gezwungen wird, nur eine Sache zu stehlen oder zu zerstören, also ein geringerwertiges Rechtsgut zu verletzen 4 4 8 ; denn die Differenz der kollidierenden Rechtsgüter ist hier sehr groß. Immerhin ist es ein Unterschied, ob jemand als unmittelbar Angegriffener und sich Verteidigender (V) die fremde Sache eines unbeteiligten Dritten (D) beschädigt und damit selbst fremdes Eigentum angreift, um einen Angriff des A auf seine Person abzuwehren (dann für das Verhältnis V ->· D § 904 BGB, § 34 StGB) oder ob jemand als Genötigter (D) die Sache des V beschädigt, um zwar ebenfalls einen Angriff, und zwar die Bedrohung durch A von sich abzuwenden, dadurch aber auch erst den Angriff dieses A gegen den Eigentümer V vorzutragen, dann für das Verhalten D -»• V nicht § 904 BGB, da die Beziehung A(D) -*• V rechtswidrig und das Verhältnis V -*• D (A) nach § 32 StGB gerechtfertigt ist. Lediglich bei einem krassen Mißverhältnis zwischen dem von A bedrohten Rechtsgut des Genötigten D (Leben) und dem von diesem gezwungenermaßen angegriffenen Rechtsgut des Verteidigers V (geringerwertiges Eigentum), also bei einer Kollision von hohem Personen- und 446 Hegler Mittelbare Täterschaft bei nicht rechtswidrigem Handeln der Mittelsperson (1932) S. 2 f = Rieh. Schmidt-Festschr. (1932) I S. 52 f. 447 Dabei ist davon auszugehen, daß Teil keine andere Möglichkeit als den Apfelschuß hatte, sein Kind zu retten, weil aller Wahrscheinlichkeit nach, hätte er in unbestreitbarer Notwehr auf Geßler statt auf den Apfel geschossen, nicht nur er, sondern auch sein Knabe von den Schergen des Landvogts niedergemacht worden wären. 448 Für Rechts Widrigkeit der abgenötigten und Rechtfertigung der abwehrenden Handlung nach § 32 StGB konsequent auch in diesen Fällen Lenckner(s. Fußn. 445) S. 96, 117; Sch.· Schröder-Lenckner § 34 Rdn. 41 ; dagegen für Rechtmäßigkeit der erzwungenen und damit noch nicht einmal für Entschuldigung der Verteidigungshandlung Herzberg (s. Fußn. 444) S. 68 ob., 70; Samson SK I § 34 Rdn. 8; Schmidhäuser AT S. 331 (9/69), 466 (11/15); Krey Jura 1979 316, 321 Anm. 33. (100)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

geringem Sachwert ist nach dem allgemeinen Grundsatz (Verbot) der (Un-)Verhältnismäßigkeit (s. Rdn. 313 ff) dem angegriffenen Eigentümer V eine Duldungspflicht gegenüber dem abgenötigten und darum schuldlosen (§ 35 StGB), gleichwohl rechtswidrigen Angriff des D aufzuerlegen, das Notwehrrecht des V somit insoweit einzuschränken. Noch problematischer wird die Entscheidung, wenn der Dritte nur passiv dem 216 Angriff dient, d. h. nicht auf Grund einer Nötigung aktiv angreift und nicht selbst etwas tut, sondern sich Gewalt „antun" lassen muß. Ein Beispiel bietet die Szene in dem berühmten Western „12 Uhr mittags", in der der Bandit als Angreifer (A) die Frau des Sheriffs (D) als Schutzschild vor sich herstößt, um zum Schuß auf ihren mit dem Rücken an der Wand kämpfenden Ehemann (V) zu kommen. Hätte hier der Schuß des Bedrohten auf den Verbrecher auch den Körper der Frau durchbohren oder verletzen müssen, um den A zu treffen und unschädlich zu machen und sein, des Angegriffenen Leben zu retten, so wäre sicherlich die Tötung des Gangsters durch Notwehr gedeckt, wohl aber auch die Verwundung oder gar Tötung des von A benutzten „lebenden Kugelfangs" 449 . Denn wäre V insoweit nur nach § 35 StGB entschuldigt, dann wäre die Konsequenz, daß er seiner Frau gegenüber rechtswidrig handeln würde und dieser ihrerseits das Notwehrrecht gegen ihn zustände. Aber warum sollte, so ist zu fragen, in einem solchen tragischen Konflikt der Rechtfertigungsgrund der D zuzubilligen sein, wenn sie, obgleich gezwungen, „auf der Seite des i/wechts" steht und sich zur Sicherung des Angriffs von A und zur Behinderung der Abwehr des V mißbrauchen läßt 4 5 0 , nicht jedoch dem V, der unbestreitbar von A angegriffen und in seiner Verteidigung behindert wird? Etwas anderes gilt natürlich, wenn umgekehrt nicht der Angreifer, sondern der 217 Verteidiger eine dritte Person als Schutzschild gegen den Angriff gebraucht und diese dabei von ihm (V) oder A verletzt wird. Hier ist nicht zweifelhaft, daß das Verhalten des V gegenüber dem unbeteiligten D ein rechtswidriger Angriff ist und höchstens durch Notstand entschuldigt, aber nie durch Notwehr gerechtfertigt sein kann 4 5 1 . 2. Die Erforderlichkeit der Verteidigung Notwehr ist nicht jede, nur die zur Abwendung eines gegenwärtigen rechtswidri- 218 gen Angriffs erforderliche Verteidigung. Dieses Merkmal begrenzt die Abwehr und bereitet der Rechtsanwendung die meisten Schwierigkeiten. a) Begriff der erforderlichen Verteidigung: Maßgeblich für die Bestimmung des 219 Begriffs ist nicht die subjektive Vorstellung des Verteidigers 452 , sondern die objek449 Für eine Rechtfertigung des V sogar in dem Fall, daß der Dritte nur hinter oder vor dem Angreifer in die Schußlinie gerät und dadurch den Verteidiger behindert van Calker ZStrW 12 (1892) 470 ff ; Schwartz Das StGB für das Dtsch. Reich (1914) §53 a. F. Anm. 3.a) (S. 171 unt./172 ob.); dagegen ohne hinreichende Begründung nur für Entschuldigung des sich Wehrenden Stratenwerth AT Rdn. 429 (S. 136). 450 Im Film gelingt es dagegen der Genötigten, sich gegen den A zur Wehr zu setzen, und so dem V den Rettungsschuß auf A zu ermöglichen. 451 So ausdrücklich auch Lehmann-Hübner Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 16. Aufl. (1966) S. 122; Seidel S. 35; s. auch v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 207. 452 Nicht überzeugend Binding Handb. S. 751, nach dem sich das Maß der erforderlichen Abwehr nur dann nach der Größe der objektiven Gefahr bestimmt, wenn der Angegriffene sie unterschätzt hat, dagegen nach der subjektiven Einschätzung des Verteidigers, sofern er sie überschätzen durfte. (101)

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tive Sachlage, wie sie sich „vom zeitlichen Standort des Angegriffenen aus im Wege der .nachträglichen objektiven Prognose'" darstellt (so treffend BGH(St) NJW 1969 802). Der Begriff der „Erforderlichkeit" ist also — wie der der „Verteidigung" — rein objektiv zu bestimmen (RGSt. 21 189, 190; 54 196, 200; RG(St) JW 1925 1512; RGZ 84 306, 307; OLG Braunschweig NJW 1953 997; OLG Hamm JMB1NRW 1961 141, 142 1. Sp.) 4 5 3 . Diese Bestimmung der der Bewahrung des Rechtsguts förderlichen und damit für dessen Schutz erforderlichen Handlung setzt gleich der Feststellung der Gefährlichkeit eines Zustandes oder Vorganges eine Ex-anteBetrachtung voraus 4 5 4 . 220 Hat der Verteidiger ein stärkeres Abwehrmittel eingesetzt, als ihm selbst subjektiv zweckdienlich schien (ζ. B. ein Messer statt nur seine Fäuste gebraucht), war dies aber objektiv notwendig, da der körperlich schwächere Angreifer sonst mit seiner nicht erkennbar bei sich geführten Pistole geschossen hätte, so ist eine recht mäßige, weil objektiv erforderliche Notwehrhandlung gegeben und die vermeintliche Notwehrüberschreitung M/ibeachtlich455. Hier den Versuch einer Straftat anzunehmen 4 5 6 , ist ganz verfehlt; denn „was zuungunsten des Angegriffenen gilt, muß auch zu seinen Gunsten wirken" (so treffend RGZ 84 306, 307), d. h. : wie die Verteidigung rechtswidrig ist, die objektiv nicht erforderlich war, auch wenn sie der Angegriffene als notwendig ansah, so ist sie rechtmäßig, sobald sie objektiv nötig war, selbst wenn sie der Abwehrende nicht dafür hielt. 221

Umgekehrt: Hat der Verteidiger, sei es irrig, sei es bewußt, ein schwächeres Abwehrmittel gewählt, als objektiv erforderlich war (ζ. B. einen Warwschuß auf den Boden statt einen gezielten Schuß auf die Beine des Angreifers abgegeben), so bleibt seine Verteidigung recht mäßig und die tatsächlich schwerere und unnötige Abwehrfolge (Verwundung oder Tötung des Angreifers durch verirrte oder abgeprallte Kugel) ««beachtlich. Der Notwehrakt darf dann nicht etwa als fahrlässige Körperverletzung oder Tötung bestraft werden (BGHSt. 25 229, 231 — dagegen zu Unrecht Schwabe NJW 1974 670 - ; OLG Hamm NJW 1962 1169).

222

Die Ex-ante-Betrachtung 457 zur Feststellung der Erforderlichkeit der Notwehr hat mithin nur auf die vom Angegriffenen vorzunehmende, objektiv auf Abwehr und damit auf „Künftiges" zielende Verteidigungshandlung bzw. -Unterlassung abzustellen, nicht dagegen auf den dann tatsächlich verursachten und insofern dem „ Vergangenen " angehörenden Verteidigungserfolg, mit dem der sich Wehrende für

453 Ebenso, wenngleich in einem gewissen Gegensatz zur subjektiven Bestimmung des Begriffs „Verteidigung", z . B . Lobe LK5 (1933) § 5 3 a. F. Anni. 5.c) (S. 390); Mezger Lehrb. S. 236; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. VII (S. 206); Dreher-Tröndle Rdn. 16; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 34; Jescheck AT S. 275 (§ 32 II 2 b); Bockelmann AT S. 94. 454 Dafür auch Welzel S. 86; Bockelmann Dreher-Festschr. S. 247; Jescheck AT S. 275 (§ 32 II 2 b); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 34. Anders, und zwar für eine Ex-/70Ji-Betrachtung irreführend Rob. v. Hippel II S. 212 Anm. 1 a. E. 455 Ebenso schon RGZ 84 306; Jesse S. 52; Lobe LK.5 (1933) § 53 a. F. Anm. 5.c) (S. 390/391). 456 So Schönke-Schröder StGB 17 (1974) § 53 a. F. Anm. 18; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 34 und 63. 457 Zu dieser Betrachtungsweise, die wie für die negativ zu bewertende gefährliche (rechtsgutsgefährdende) Handlung (z. B. richtigerweise für die Versuchstat) so auch für die positiv zu qualifizierende rechtsgutsförderliche Verhaltensweise (hier: Verteidigungsakt) gilt, s. eingehender Spendel Zur Neubegründung der objektiven Versuchstheorie, Stock-Festschr. (1966) S. 89, 103, 105/106. (102)

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eine Ex-pos/-Beurteilung vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes über das Ziel (erforderliche Abwehr) hinausgeschossen ist (BGHSt. 27 313, 314) 4 5 8 . War ein Schuß auf die Beine oder auf den zum Schlag erhobenen Arm des Angreifers, ex ante gesehen, erforderlich, um ihn kampfunfähig zu machen, so ist diese Abwehrhandlung auch dann noch durch Notwehr gerechtfertigt, wenn die Kugel, ex post betrachtet, unglücklicherweise eine Schlagader zerrissen und den Tod des Angreifenden ausgelöst, mithin statt zu einer Körperverletzung sogar zu einer Lebensvernichtung und damit zu einem ««nötigen Abwehr erfolg geführt hat; insofern zutreffend schon OI,X3(Z) Karlsruhe HRR 1931 Nr. 1130 in einem entsprechenden Fall (in dem nur fragwürdig war, ob in dem Weglaufen des bewaffneten Wilderers ein gegenwärtiger Angriff lag!); BGHSt. 27 313, 314: Der Angegriffene braucht dem „Risiko, das dem von ihm benutzten Abwehrmittel anhaftet, nicht auszuweichen" und hat „grundsätzlich nicht für die Folgen der Verteidigungshandlung einzustehen, die im Einzelfall aus der Gefahrenträchtigkeit des Verteidigungsmittels erwachsen". Es gilt also die Regel: Die (nachträglich gesehen) «π-nötige 4 5 9 Folge einer (vor- 223 her und objektiv betrachtet) notwendigen Abwehrhandlung schließt nicht die Rechtfertigung dieses Verteidigungsaktes aus. Unrichtig und überholt ist daher RGSt. 23 381, in der das RG zwar den leichten Stoß gegen den Eindringling und Angreifer als erlaubte Abwehrreaktion in Ausübung des Hausrechts betrachtete, wegen des dadurch ausgelösten Todeserfolgs (tödlich verlaufener Sturz) aber als fahrlässige Tötung bestrafte (wie hier Baldus L K 9 I § 53 a. F. Rdn. 23). b) Verhältnismäßigkeit von Abwehr- und Angriffsverhalten: Die Erforderlichkeit 224 der Verteidigung(shandlung) richtet sich nach der Art und Stärke des Angriffs und nach dem Umfang der möglichen Abwehr, d. h. nach den zur Verfügung stehenden Verteidigungsmitteln, nicht nach dem Wert des angegriffenen und des dem Angreifenden zu verletzenden Gutes. Es kommt also auf eine gewisse Proportionalität zwischen Angriffs- und Abwehrverhalten an, nicht dagegen auf die Verhältnismäßigkeit zwischen den widerstreitenden Rechtsgütern (RGSt. 55 82, 86 unt.; 69 308, 310 vor Nr. 3; 72 57, 58; BGH GA 1968 182, 183; GA 1969 23, 24; BayObLG NJW 1963 824, 825 1. Sp.)460. Erforderlich ist daher z. B., trotz möglicher tödlicher Auswirkung, ein Messer- 225 stich, um den körperlich stärkeren, mit einem griffbereiten Messer versehenen Angreifer abzuwehren, und zwar um so mehr, als dieser den Angegriffenen bereits vorher niedergeschlagen hatte (RGZ 84 307), oder um einen angetrunkenen Eindringling und auf den Wohnungsinhaber Eindringenden aufzuhalten, nachdem schon der Schlag mit einem Spazierstock erfolglos geblieben war (BGH GA 1956 49), oder um den körperlich überlegenen, den Überfallenen von hinten umklammernden Angreifer abzuschütteln (BGHSt. 27 336, 337) oder 458 Ebenso WelzelS. 86; Maurach AT4 (1971) S. 553; Baldus LK9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 23; Jescheck AT S. 275 (§ 32 II 2 b); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 38. And. z. T. in unberechtigter, die objektiven und subjektiven (Vorsatz- und Fahrlässigkeits-)Fragen verquickender Kritik Raim. Hassemer JuS 1981 412, 416 ff. 459 Nicht entscheidend ist, ob die Folge „ungewollt"ist, wie unrichtig und irreführend (Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 23; BGHSt. 27 313) formuliert worden ist. 460 Ebenso z. B. Rob. ν. Hippel II S. 212; Frank § 53 a. F. Anm. II (S. 163); Gerland S. 149; Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 5.c) (S. 391); Baumann S. 315 (§ 21 II 1 a) ε); Bockelmann AT S. 93/94; Dreher-Tröndle Rdn. 16; Lackner Anm. 2.g). (103)

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um sich von dem stärkeren Mitschüler nicht wie drei Tage zuvor schwer verprügeln und blutig schlagen zu lassen (nur § 33 BGH NJW 1980 2263 = JR 1980 210 mit zu Unrecht ablehn. Anm. Arzt; s. noch Rdn. 289), oder um den ersten, schon tätlich gewordenen Angreifer, hinter dem ein zweiter mit gezücktem Messer stand, kampfunfähig zu machen (BGH NStZ 1981 138); ferner, nicht unbedenklich, der Schlag mit der Pistole auf die Schulter des Angreifers, auch wenn dieser durch den sich dabei aus der Waffe lösenden Schuß schwer verletzt wird (BGHSt. 27 313 mit Anm. Willms LM § 53 a. F. Nr. 4); schließlich ein Warnschuß auf den Boden gegenüber drei, ζ. T. mit einem Schraubenschlüssel bewaffneten und unter Drohungen heranrückenden Angreifern, wiewohl einer der Täter dadurch getötet wird (BGHSt. 25 229, 230), oder ein möglicherweise tödlicher RevolverschuD auf den Körper des Angreifenden aus der Nähe, nachdem ein Schlag mit der Waffe ins Gesicht erfolglos geblieben war (BGH GA 1968 182/183). Die Verhältnismäßigkeit von Abwehr- und Angriffsverhalten bedeutet nicht etwa, daß die Angriffs- und Abwehrmittel „gleichwertig" sein müßten (ebenso RG HRR 1939 Nr. 792; s. auch BGH GA 1956 49). So kann durchaus ein Messer oder eine Schußwaffe als Verteidigungswerkzeug erforderlich sein, um ein ausreichendes Gegengewicht gegen die Faust als Angriffsmittel zu bilden ; denn der Angegriffene, der nicht seine Körperkräfte mit denen des Gegners messen muß, ist „berechtigt, ein Werkzeug zu Hilfe zu nehmen, das ihn dem mindestens gleichstarken und wesentlich jüngeren Angreifer unbedingt überlegen" macht (BGH G A 1956 50; s. auch OLG Braunschweig NJW 1953 997 r. Sp.). Gegebenenfalls darf selbst zur Verteidigung von Sachwerten die Person des Angreifers verletzt, ζ. B. der Räuber oder Dieb niedergeschlagen, ja sogar niedergeschossen werden, wenn anders eine Bewahrung des angegriffenen Gutes nicht möglich ist (OLG Hamm OLGZ 1978 71/72: Schuß mit (nicht lebensgefährlicher) Spezialschrotladung auf Dieb, wenn er mit der Beute aus Zigarettenautomat flieht) 461 . Eine „Einschränkung des Notwehrrechts bei der Verteidigung von Sachgütern", wie sie in neuerer Zeit versucht wird 4 6 2 , ist, von der Ausnahme der Geringwertigkeit eines Gegenstandes und damit des krassen Mißverhältnisses der kollidierenden Güter abgesehen (s. Rdn. 313 ff), entschieden abzulehnen (s. näher Rdn. 246). Näher zu prüfen ist, ob überhaupt angesichts der Art des Angriffs zu dessen Abwendung eine gegen den Angreifer gerichtete Reaktion „not-wendig" ist und, wenn ja, wieweit sie im einzelnen erforderlich wird (so klar Rob. ν. Hippel II S. 210). aa) Das Ob der Verteidigung: Inwiefern ein „Aus-weichen" statt eines „Gegenschlags" kein „ Ab-wenden " der durch den Angriff heraufbeschworenen Not, keine not-wendende „Verteidigung" bzw. keine Not-wehr sei (so schon RG GA 46 [1898/99] 31, 32), ist ein Streit um Worte und kann dahinstehen. Im weitesten Sinne läßt sich auch ein solches Verhalten als ein Verteidigen auffassen. Jeder gute Boxer „verteidigt" sich ζ. B. gegen die Boxschläge seines Gegners nicht allein durch 461 Ebenso ζ. Β. M. E. Mayer S. 280; Beling Grundz. des Strafr., 11. Aufl. (1930) S. 16; Frank § 53 a. F. Anm. II (S. 163); Gerland S. 149; Mezger Lehrb. S. 236; Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 21; Schmidhäuser S. 345 (9/91); Blei AT S. 132; Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 383 (§ 26 II Β 2); Jescheck S. 275 (§ 32 II 2 b); Bockelmann AT S. 94 zu b); and. ζ. B. Samson SK I Rdn. 29; s. näher nachfolgend Rdn. 320. 462 So ζ. B. Krey in seinem gleichnamigen Aufsatz in JZ 1979 712 ff. (104)

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Gegenhiebe auf den Körper des Kontrahenten, sondern auch durch gewandtes Wegbiegen des eigenen Körpers, d. h. durch Ausweichen. Will man jedoch den Begriff der Notwehrhandlung enger fassen und auf die den Angreifer unmittelbar treffende Re-aktion beschränken, dann ist eine solche Abwehr zuweilen gar nicht erforderlich. Stürzt sich z. B. ein Raufbold auf einen anderen und kann sich dieser des Angriffs leicht dadurch erwehren, daß er zur Seite tritt und den blindwütig Anstürmenden vorbei- oder gegen eine Wand rennen läßt, so daß der Angreifer benommen hinfällt, so braucht der Angegriffene ihn nicht k. o. zu schlagen. Auch in der Rechtsprechung 463 und z. T. in der Rechtslehre 464 wird zutreffend 232 die Auffassung vertreten, daß eine aktive, insbesondere eine gewaltsame Verteidigung(shandlung) gegen den Angreifer dann überhaupt nicht notwendig sei, wenn der Bedrohte dem Angriff ohne Preisgabe eigener oder fremder berechtigter Interessen aus-weichen oder ent-gehen könnte, so z. B. dann, wenn er in der Lage wäre, einer tätlichen Auseinandersetzung, zu der sich in einer Gastwirtschaft die verbale auszuweiten droht, „aus dem Wege zu gehen", indem er gar nicht erst mit dem Streitenden in den Hof mitgeht und sich mit diesem nicht weiter einläßt (s. den Fall in RGSt. 71 133 = RG JW 1937 1786/87 mit ausführlicherer Sachverhaltsschilderung und Anm. Mezger = ZAkDR 1937 342 mit Anm. Boldt). Wo der Angegriffene, ohne sich etwas zu vergeben, dem Angreifer „dadurch ausweichen kann", daß er, wie RGSt. 71 133, 134 anschaulich gesagt hat, „aus der Richtung des Angriffes heraustritt" 465 , erübrigt sich eine gegen den Angreifer gerichtete Re-aktion; es ist dann der „Ausweg" einzuschlagen, der „zwischen schimpflicher Flucht und gewalts&mtr Abwehr liegt (RG aaO). Anschauliches Beispiel dafür ist im modernen Straßenverkehr das Voraus- und „Herausfahren" des überholenden Kraftfahrers aus dem aufgeblendeten Scheinwerferlicht des Überholten, der mit seinem verkehrswidrigen Verhalten den anderen behindert. Infolge dieser „Ausweichmöglichkeit" des in seiner Verkehrssicherheit Angegriffenen sind ein gewaltsames Anhalten des Verkehrssünders und ein Erzwingen des Abblendens nicht erforderlich (insofern zutreffend OLG Düsseldorf NJW 1961 1783, 1784 1. Sp.). Unt. Umst. entfällt die Notwendigkeit einer Selbstverteidigung auch dann, wenn 233 dem Angegriffenen fremde Hilfe, sei es private, sei es amtliche (polizeiliche oder gerichtliche) zur Verfügung steht. Im ersten Fall muß er sich ihrer bedienen, soweit dadurch eine gewaltsame Notwehr ganz unnötig oder doch wenigstens mit schwächeren Mitteln möglich wird. So kann die Möglichkeit, die Hilfe eines stärkeren Freundes oder Vorgesetzten des Angreifers in Anspruch zu nehmen, der kraft seiner Autorität oder Überlegenheit zum Friedensstifter und Streitschlichter geeignet ist,

463 RGSt. 16 69, 71 ff; 66 244; 71 133; 72 57 (wo allerdings eine Re-aktion in Form der Hinausbeförderung des das Hausrecht Verletzenden in Betracht kam, nur jedoch mit einem tödlichen Schuß „die Grenzen des zur Verteidigung Erforderlichen überschritten" waren); RG GA 48 (1901) 304; R G ZStrW 47 (1927), SBeil. S. 179/180; BGHSt. 5 245, 248 unt.; BGH GA 1968 182, 183 unt.; GA 1969 117; BGH VRS 40 (1971) 104, 107; BayObLG NJW 1963 824, 825 1. Sp.; OLG Celle HannRpfl. 1947 15; OLG Braunschweig NdsRpfl. 1953 166; OLG Düsseldorf NJW 1961 1783, 1784 1. Sp. 464 So v. Buri GerS 30 (1878) 468; Beling Grundz. S. 16; Rob. ν. Hippel II S. 210/211 ; Mezger Lehrb. S. 236; Welzel S. 87; Jescheck AT S. 277 (§ 32 III 3 a). Anders z. T. Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 21 ; Eser Strafr. I, 2. Aufl. (1976) S. 96/97 (Nr. 9 A, Rdn. 15 ff); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 40. 465 Ebenso Niethammer in v. Olshausens Komm. § 53 a. F. Anm. 3 (S. 328). (105)

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zum Verzicht auf die eigene Verteidigung mit der Waffe nötigen 4 6 6 . Der Kraftfahrer braucht dem ihn anrempelnden und darauf am Außenspiegel seines, des Belästigten Autos hantierenden Angetrunkenen nicht einen Feuerlöscher auf den Kopf zu schlagen (mit der Folge eines Schädelbruchs), falls er einfach hätte an- und wegfahren oder zumindest mit Hilfe des dazu bereiten und fähigen Beifahrers den anderen abschütteln können (OLG F r a n k f u r t / M VRS 40 [1971] 424). Dagegen ist es nicht etwa notwendig, diese fremde private Hilfe erst zu holen, auch wenn dies möglich wäre (Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 41). 234

Im Falle der staatlichen (polizeilichen) Hilfe erübrigt sich die Notwehr erst recht, da die Selbstverteidigung nur soweit in Betracht kommt, als obrigkeitlicher Schutz nicht „zur Stelle" ist (RGSt. 32 391, 393; 72 57, 59) 4 6 7 . Denn die zwangsweise Bewahrung oder Durchsetzung des Rechts obliegt in erster Linie den staatlichen Organen. Auch hier müssen allerdings die amtliche Hilfe parat oder präsent und der Wille zum Einschreiten vorhanden sein 4 6 8 . Daß die Herbeirufung der Unterstützung möglich ist, ist nicht genügend, auch nicht notwendig, daß sie der Angegriffene herbeiholt^.

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Dieser Gesichtspunkt der Ab-wendung eines Angriffs durch das „Sich-weg- Wenden" des Angegriffenen aus der Angriffsrichtung gilt insbesondere bei Angriffen von Kindern, Betrunkenen, Irrenden und Irren 470 . Wenn ein Knirps mit seinen kleinen Fäusten in „ohnmächtiger" Wut auf dem muskulösen Oberarm eines starken Mannes herumtrommelt, so vermag der Erwachsene dies lachend hinzunehmen, weil die „Schläge" für den Kleinen fühlbarer sein werden als für den Großen und jener daher schnell erlahmen wird, oder sich dem Angriff einfach zu entziehen, ohne dem Knaben auf die Finger klopfen zu müssen. Legt dagegen ein Junge das geladene Jagdgewehr seines Vaters auf einen Spielgefährten an und droht abzudrücken, darf ihm ein Erwachsener die Flinte aus der Hand schlagen oder auch schießen, falls dies die letzte Rettungschance für den Bedrohten ist.

466 Vgl. RGSt. 66 244, 245; 71 133, 134, obwohl im Fall der zweiten Entscheidung (s. näher dazu R G J W 1937 1786) der Arbeitgeber (Gastwirt) nicht zum Eingreifen u n d Zurückhalten seines a n g r e i f e n d e n Angestellten bereit gewesen sein dürfte, sich vielmehr fernhielt; s. auch noch B G H S t . 27 336, 337 u n t . / 3 3 8 ) ; Sch.-Schröder-Lenckner R d n . 41. 467 Ebenso Rob. ν. Hippel II S. 210; Mezger in Anmerk. zu R G J W 1937 1786 f ; Hellm. Mayer A T S. 202 zu Nr. 2; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. A n m . II (S. 204); Sch.-Schröder-Lenckner R d n . 41 ; einschränkend (nur f ü r harmlose Ausnahmefälle) Maurach-Zipf A T S. 384 (§ 26 II Β 2 a); anders ( N o t w e h r r e c h t gegenüber möglicher obrigkeitlicher Hilfe nicht subsidiär) ζ. B. Binding H a n d b . S. 732; M. E. Mayer S. 280; Frank § 53 a. F. A n m . II (S. 163/164); v. Liszt-Schmidt A T S. 198 ob.; Allfeld S. 127. 468 So ausdrücklich R G S t . 32 393 ob.; s. noch R G H R R 1937 Nr. 1617 (wo der „dienstlich anwesende Polizeibeamte" nicht von selbst eingeschritten, vom Angegriffenen allerdings auch nicht d a r u m gebeten w o r d e n ist). 469 Lobe L K 5 (1933) § 53 a. F. A n m . 5.c) (S. 391); Baldus L K 9 I (1974) § 53 a. F. R d n . 21; and. j e d o c h R G S t . 72 57, 59; B G H VRS 30 (1966) 281, 282 vor Nr. 2; anscheinend auch O L G K ö l n J M B 1 N R W 1966 258 r. Sp.; s. ferner Jescheck S. 276 vor Nr. III; Sch.-Schröder-Lenckner R d n . 41. 470 So insbesondere Mezger Lehrb. S. 236/237 im Anschluß an Rob. ν. Hippel II S. 210/211 ; im Ergebnis heute vorh. Mein., s. ζ. B. Bockelmann in Honig-Festschr. S. 30; Baldus LK.9 I § 53 a. F. R d n . 52; Jescheck A T S. 277 (§ 32 III 3 a); Sch.-Schröder-Lenckner R d n . 52. And. (für N o t s t a n d ) ζ. B. Samson SK I R d n . 21 ; Schmidhäuser A T S. 348. Dazu oben R d n . 63. (106)

Notwehr (Spendei)

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Wer dem Angriff eines auf ihn zu torkelnden Betrunkenen durch Wegbiegen des 236 Körpers oder durch einen Schritt zur Seite mühelos ausweichen 471 und das Hinfallen des Angreifers gelassen abwarten kann, braucht den anderen nicht wegzustoßen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Was anderes gilt natürlich für den Fall, daß ein gewalttätiger Trunkenbold auf einen anderen oder ein Geisteskranker auf seinen Wärter losgeht und nur durch einen Schlag zu überwältigen oder durch einen Schuß kampfunfähig zu machen ist, s. RGSt. 27 44 (wo allerdings das ZuBoden-Schlagen des seinen Pfleger mit einer Gabel bedrohenden Geisteskranken mittels eines Filzpantoffels nicht mehr als erforderliche Verteidigung angesehen wurde); BGH G A 1956 49 (Messerstich gegen einen in die Wohnung eingedrungenen Angetrunkenen); BGH G A 1968 182 und BGHSt. 25 229 (Revolverschuß auf hartnäckig angreifenden Betrunkenen). bb) Das Wie der Verteidigung: Soweit sich eine Abwehrhandlung gegen den 237 Angreifer nicht „um-gehen" läßt, eine Verteidigung also „un-um-gänglich" und damit erforderlich ist, muß sie objektiv geeignet sein, den Angriff sofort zu beenden — Zeit der Wirkung — und dadurch die von ihm ausgehende Gefährdung oder sogar Verletzung endgültig zu beseitigen — Art der Verteidigung — (so BGH GA 1956 49/50; GA 1965 147/148; GA 1968 182/183; GA 1969 23; BGHSt. 24 356, 358; 25 229, 230 unt.; 27 336, 337; ferner z. B. Lackner Anm. 2.g); Wessels AT S. 78 [§ 8 V 2]). Bereits RMilG 17 58, 60 hat zur Notwehr jedes Mittel für erforderlich erklärt, das „zu einer unverzüglichen, erfolgreichen und endgültigen A b w e h r . . . nicht entbehrt werden kann". Nach dem BGH (BGHSt. 24 356, 358; BGH GA 1956 49; GA 1965 147 und GA 1969 23, 24) muß sich die sofortige und endgültige Wirkung der Verteidigung „mit Sicherheit" (Gewißheit) erwarten lassen. Für die meist mit einem Unsicherheitsfaktor belastete Erwartung ist jedoch eine gewisse Wahrscheinlichkeit als genügend anzusehen, was schon aus dem Wesen der Ex-anteBetrachtung folgt (kritisch zu der letzten Formel der Rechtsprechung auch Sch.Schröder-Lenckner Rdn. 36 a. E.). Dem Risiko einer unzureichenden Abwehr braucht sich der Verteidiger jeden- 238 falls nicht auszusetzen (z. B. Lackner Anm. 2.g), etwa „auf eine Schlägerei, deren Ausgang nicht abzusehen ist und in deren Verlauf dem Angegriffenen körperliche Schäden zugefügt werden können, nicht einzulassen" (OLG Braunschweig NJW 1953 997 r. Sp.); s. schon RG DJ 1939 1120, 1121 1. Sp.; ferner BGH GA 1956 50 zu Nr. 2 und bei Holtz MDR 1977 281 ; neuerdings BGH NJW 1980 2263 = JR 1980 210 r. Sp. Er darf daher, ehe es für eine erfolgreiche Abwehr zu spät ist, z. B. sofort mit dem Messer seines ihn von hinten umklammernden, ihm an Körperkräften weit überlegenen Angreifers zustechen (BGHSt. 27 337) oder auf den mit Umbringen drohenden und auf den anderen Ehegatten losgehenden Ehepartner schießen (RGSt. 60 261) oder mit dem Wanderstock auf den nachts in rasender Wut in das Schlafzimmer seines Mieters eingedrungenen betrunkenen Vermieter einschlagen (RGSt. 58 27) oder auf den nahe herangekommenen Schläger feuern (BGH NStZ 1982 285). 471 Vgl. auch KG VRS 19 (1960) 114, 116: keine Verteidigung (schon gar nicht ein Schuß mit der Gaspistole ins Gesicht) erforderlich, wenn ein Passant der Gefahr, von einem startenden angetrunkenen Kraftfahrer angefahren zu werden, durch einen Schritt zur Seite ausweichen konnte. Abzulehnen RG GA 48 (1901) 304, wo dem Angegriffenen zugemutet wurde, durch sein Bei-Seite-Treten eine „Schußveranstaltung" des Angreifers „wirkungslos" zu machen und nicht selbst zu schießen; s. auch RG in ZStrW 47 (1927) SBeil. S. 179/ 180. (107)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

239

Dabei ist allerdings zu beachten: Unter mehreren gleich erfolgversprechenden Verteidigungsmöglichkeiten ist die für den Angreifer am wenigsten schädliche und gefährliche, unter mehreren gleich wirksamen Abwehrmitteln das leichteste zu wählen, sofern überhaupt noch Zeit zur Auswahl bleibt (RGSt. 63 215, 221 ; 71 133, 134; RG HRR 1939 Nr. 792; BGH GA 1956 49; GA 1968 182, 183; GA 1969 23; OLG Braunschweig NJW 1953 997; KG VRS 19 [1960] 114, 116 unt.; OLG Hamm JMB1NRW 1961 141, 142) 472 . Wenn schon die Androhung der verletzenden Notwehrhandlung („Stehen bleiben oder ich schieße!") ausreicht, muß es der Verteidiger dabei bewenden lassen. Ist die Verletzung des Angreifers notwendig und erlaubt, so ist es deren Ankündigung erst recht (RGSt. 3 222, 225; 12 194, 197; 32 391, 393; Rob. ν. Hippel II S. 212; Frank § 53 a. F. Anm. II [S. 163]). Umgekehrt ist mit der Zulässigkeit der Drohung nicht schon immer deren Verwirklichung gerechtfertigt (RGSt. 12 194, 197; s. auch RGSt. 57 79, 80).

240

Die Ankündigung der Gewaltanwendung, ζ. B. des Waffengebrauchs, ist keineswegs stets Voraussetzung erlaubter Selbstverteidigung; oft würde sie die erfolgreiche Abwehr verzögern oder gar v e r e i t e l n 473. Der Angreifer könnte sonst infolge der Drohung des Angegriffenen ζ. B. rechtzeitige Deckung nehmen oder diesem das Abwehrmittel entwinden (s. den Fall in BGHSt. 27 336, 337), oder der Verteidiger müßte bei einem Schreck- oder Warnschuß die einzige Kugel aus seiner Waffe abfeuern usw.

241

Ist nur ein Warnschuß erforderlich, um den Gegner abzuschrecken, so darf nicht auf ihn geschossen werden. Ist ein Schuß auf die Beine des Angreifers ausreichend, um ihn kampfunfähig zu machen, so ist er nicht in den Kopf und totzuschießen. Vermag sich der Angegriffene seines Feindes mit den Fäusten zu erwehren, so darf er nicht seine Waffe (Dolch oder Pistole) gebrauchen, nur weil er Uniformierter (Polizist oder Soldat) oder Vorgesetzter ist (so auch im wesentlichen RG HRR 1941 Nr. 159; and. ζ. T. die offensichtlich politisch beeinflußten und insofern überholten Entscheidungen RGSt. 69 179/180, 184; 72 383/384). Kann er als trainierter Boxer durch einen Faustschlag auf Brust oder Arm den Angriff des schwächeren Angreifers beenden, ist ein schwerer Boxhieb ins Gesicht nicht erforderlich und rechtswidrig (BGHSt. 26 256, 257; BGH LM § 53 a. F. Nr. 3; s. auch noch RG HRR 1937 Nr. 1617). 242 Unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze kommen außer den schon angeführten Fällen als erforderliche Verteidigungshandlungen noch in Betracht: Die Wegnahme der Angriffswerkzeuge, ζ. B. des Gewehrs oder der Fallen, zur Verhütung einer Wilderei und damit eines Angriffs auf das Jagdrecht (RGSt. 35 403, 406/407; 55 167) oder der Netze und Frettchen zur Verhinderung der Kaninchenjagd und damit eines Eingriffs in Vermögensrechte des Grundstückseigentümers (RGSt. 46 348, 350) oder der schußbereiten Pistole zur Abwehr eines weiteren Schreckschusses und der anhaltenden Leibes- und Lebensbedrohung (RG HRR 1939 Nr. 715) — 472 Ebenso ζ. B. Rob. ν. Hippel II S. 212; Mezger Lehrb. S. 236; Schmidhäuser AT S. 353 (9/103); Dreher-Tröndle Rdn. 16; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 36. 473 So treffend Rob. ν. Hippel II S. 212 Anm. 2 II. Abs., s. aber BGHSt. 26 256, 258: Verfüge der Angegriffene über eine Waffe und sei dies dem Angreifer unbekannt, so werde „von dem Verteidiger je nach Kampflage häufig" (also keineswegs immer!) „zu erwarten sein, daß er die Verwendung der Waffe androht, ehe er sie zum Einsatz bringt". (108)

Notwehr (Spendei)

§32

Zwischenrufe bzw. die Aufforderung, Ruhe zu geben, zur Abwehr einer beleidi- 243 genden Predigt (RGSt. 21 168, 170/171) oder die Entgegnung mit Worten (BGHSt. 3 217, 218), unt. Umst. sogar eine Tätlichkeit (Ohrfeige) zur Verhinderung von Beleidigungen (RGSt. 69 265, 268/269; RG(St) DJZ 1927 386, wo die tätliche Ehrennotwehr trotz der tödlichen Auswirkung für den einen der beiden Beleidiger als erforderlich angesehen wurde; s. dagegen die Fälle in OGHSt. 2 328, 330; LG Heidelberg mit Anm. Engisch SJZ 1948 209) Die vorübergehende Einsperrung einer Frau, um sie daran zu hindern, daß sie 244 die im alleinigen Gewahrsam ihres Mannes stehenden Sachen aus der Wohnung wegschafft, und um sich so ihres Angriffs auf Besitz und Gewahrsam zu erwehren (RGSt. 8 210, 212/213) oder einer rabiaten Frau, um in einem ähnlichen Fall nicht auch noch ihren Tätlichkeiten ausgesetzt zu sein (RGRspr. 9 471) oder eines tobenden Trinkers, um ihn von Ausschreitungen gegen Familienangehörige abzuhalten — Das langsame Zufahren auf drei Männer, die dem Kraftfahrer vor dessen Haus 245 spät nachts auflauern und ihn verprügeln wollen, um derart die Angreifer zu vertreiben und den Zugang zur Wohnung zu erreichen (BGH VRS 30 [1966] 281) — Unt. Umst. ein verletzender oder sich tödlich auswirkender Schuß auf den mit 246 der Beute fliehenden Dieb zur Verteidigung des Eigentums, so z. B. ein Schrotschuß auf nächtliche Obst- und Kartoffeldiebe (RGSt. 55 82; RGZ 111 370; RG[St] JW 1925 962 mit Anm. Oetker: Fall mit tödlichem Ausgang). Der Einwand gegen die erste Entscheidung, der Angegriffene würde wegen des Mißverhältnisses der kollidierenden Rechtsgüter (Eigentum des Bestohlenen in Gestalt eines Korbes Obst — Leib oder Leben des Diebes) „heute" (d. h.: nach heutiger Rechtsauffassung, nicht: heutigem Lebensstandard) „schwerlich mehr als durch § 32 (53 a. F.) gerechtfertigt angesehen werden" 4 7 4 , ist in dieser Allgemeinheit nicht überzeugend. Wenn ein Landwirt — so in den entschiedenen Fällen — in Not- und Hungerzeiten, wie sie nach dem ersten Weltkrieg Anfang der 20er Jahre herrschten, erleben muß, daß Nacht für Nacht seine Obstgärten oder Kartoffeläcker von Dieben oder Diebesbanden geplündert werden und die öffentliche Hand weitgehend ohnmächtig und zur Gewährung staatlichen Schutzes unfähig ist (s. ausdrücklich RGSt. 56 33, 34) 4 7 5 , so erscheint die Selbstverteidigung gegen die fortlaufende Verletzung des Eigentums auch mit den äußersten Mitteln keineswegs unangemessen, sondern erforderlich und zulässig. Es ist zu fragen, wo denn hier die Grenze zwischen mehr oder minder

474 Bockelmann AT S. 97, obwohl er selbst an anderer Stelle (S. 94) auch die Tötung des Diebes oder Räubers der Brieftasche als möglicherweise erforderliche und dann zulässige Verteidigung anerkennt. Nicht widerspruchsfrei Jescheck S. 274 und dort Anm. 20. Dagegen wie oben Eb. Schmidt in Niedersehr, in d. Sitz. d. Großen Strafrechtskomm. 2 (1958) Anh. Nr. 21, S. 58; Gribbohm SchlHolstAnz. 1964 157 1. Sp. 475 So war die Sachlage besonders eindringlich in den Fällen von RG(St) JW 1925 962 (963 : banden weises Auftreten von Feld- und Obstdieben) und RGZ 111 370 (des öfteren Kartoffeldiebstähle von z. T. bewaffneten Diebesbanden, die mit Handwagen erschienen und von denen „in den vorausgegangenen Tagen ein erheblicher Teil der Kartoffelernte gestohlen worden war" !) ; ebenso zu RGSt. 55 82 Eb. Schmidt aaO. (109)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

wertvollen Sachgütern gezogen werden soll 476 . Gerade die vom RG zu entscheidenden Fälle zeigen, wie wertvoll selbst der Korb Obst oder der Sack Kartoffeln in Hungerzeiten für die Angreifer wie für die Verteidiger werden kann, so daß die einen dafür die private Verletzung von Leib oder Leben, die anderen die gerichtliche Verfolgung wegen Körperverletzung oder Tötung riskieren (zur Frage der UnVerhältnismäßigkeit der kollidierenden Rechtsgüter s. Rdn. 313 ff, 315). 247

Erst recht kann bei Angriffen auf die Freiheit, den Leib oder das Leben ein Schuß die erforderliche Abwehrhandlung sein. So darf der in diesen Gütern Angegriffene nicht nur auf die Beine, sondern auch auf den Oberkörper des nachts bis auf 2 m herangekommenen Angreifers schießen, wenn anders eine wirksame Verteidigung nicht mehr möglich ist, weil ein Warnschuß keinen Erfolg gehabt hat oder zu haben verspricht (BGH GA 1965 147/148; BGHSt. 25 229, 231) 477 . Gegebenenfalls wird sogar ein gezielter Kopf- und Todesschuß zur Verteidigung notwendig sein, damit der angeschossene Angreifer nicht noch die Möglichkeit hat, das von ihm bedrohte Opfer zu töten, etwa in dem Nothilfe-Fall, daß die Geisel, die zum Fluchtauto vor dem sie mit der Pistole in Schach haltenden Geiselnehmer hergehen muß, nur durch Erschießung des Banditen sofort und endgültig befreit werden kann 478 (so u. a. im Würzburger Geiselnahme-Fall, Würzburger „Main-Post" mit ausführlicher Sachverhaltsschilderung v. 2.7. 1980, Nr. 150, S. 7 und Frankf. Allgem. Zeit. v. 2. 7.1980 479 ). Zur Frage des gezielten polizeilichen Todes- oder Rettungsschusses s. näher Rdn. 263 ff, 276 ff. c) Verteidigung durch Selbstschutzanlagen: Schrifttum Kähnen Antizipierte Notwehr, Diss. München 1950 (Masch.-schr.); Langenbach Die Vorbereitung und Ausübung der Notwehr durch Schutzmaßregeln, Diss. Gießen 1907; Sommerlad Über die Ausübung des Notwehrrechts durch Veranstaltung von Schutzwehrvorrichtungen, GerS 39 (1887) 359.

248

Ein b e s o n d e r e s P r o b l e m bildet die Erforderlichkeit der Verteidigung bei d e n — s c h o n u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t der „Gegenwärtigkeit" d e s Angriffs e r w ä h n t e n ( R d n . 114) — Selbstschutzanlagen, die die A b w e h r eines A n g r i f f s vorbereiten u n d sich erst im A u g e n b l i c k eines solchen a u s w i r k e n , d. h. von e i n e m Präventiv- zu

476 Vgl. auch die treffende Kritik von M. E. Mayer AT S. 281 Anm. 13; ferner Schmidhäuser AT S. 345, der nicht „auf die Größe eines zu befürchtenden Verlustes", sondern auf den offenen Angriff gegen „die Rechtsordnung in ihrer empirischen Geltung" abstellt. 477 Das soll nach der Rechtsprechung nur dann nicht gelten, wenn der Verteidiger den Angriff „provoziert" habe; in diesem Falle müsse er sich eine gewisse, wenngleich nicht unbegrenzte „Zurückhaltung" auferlegen und dürfe das „wirksamere und gefährlichere Abwehrmittel nicht sogleich" (?) „einsetzen" (BGHSt. 26 256, 257) zum Fall eines tödlichen Faustschlages ins Gesicht bei einer Auseinandersetzung, zu der der Angegriffene, ein Boxer, Anlaß gegeben hatte, s. auch BGHSt. 24 356, 358/359). Zur Notwehrprovokation Rdn. 281 ff. 478 Wie hier Schmidhäuser AT S. 353 Anm. 37 a; ders. in: Merten Aktuelle Probleme des Polizeirechts (1977) S. 64; Jescheck S. 276 vor Nr. III, S. 314 Anm. 1 ; Krey JZ 1979 709; Sch.Schröder-Lenckner Rdn. 39 (allerdings zurückhaltend). 479 Vgl. auch noch Günther Schultz MDR 1980 815. Hier, wie geschehen, die deutschen Polizisten, die zur Befreiung der ausländischen Geisel den amerikanischen Geiselnehmer gezielt erschossen haben, wegen eines Tötungsdelikts anzuzeigen, bedeutet eine Verkennung des Sachverhalts oder Verkehrung des Rechtsdenkens. (110)

Notwehr (Spendei)

§32

einem DefensivmìiXeì wandeln. Sie sind im Prinzip anzuerkennen (ebenso grundsätzlich OLG Stuttgart JW 1931 2651 mit zustimm. Anm. Kern)m. Da meist unsicher ist, wann, wo, wie und von wem angegriffen (z. B. an welcher 249 Stelle des Hauses eingebrochen) wird, wird die Abwehr dem Angriff oft nicht angepaßt, d. h. entweder zu schwach oder aber meist zu stark sein und infolgedessen entweder hinter dem erforderlichen Maß zurückbleiben oder darüber hinausgehen. Man kann weder verlangen, daß die Schutzvorkehrungen „einer möglicherweise geringen Angriffsintensität Rechnung tragen müssen" (Dreher-Tröndle Rdn. 16 a. E.), noch anerkennen, daß „bei Unbestimmbarkeit der drohenden Angriffe mit der Möglichkeit des hartnäckigsten Eingriffs gerechnet und demgemäß das Höchstmaß der dann erforderlichen Abwehr angewandt werden darf' 4 8 1 (s. auch OLG Stuttgart JW 1931 2651 r. Sp. mit Anm. Kern). Das erstere würde den möglichen Selbstschutz abschwächen (wie stark der bissige Hofhund bei einem fremden Eindringling zupackt, der vielleicht ein gefährlicher Einbrecher oder Mörder, aber auch nur ein bettelnder Vagabund ist, läßt sich für den Wohnungsinhaber nicht voraussehen; sollte er deshalb auf diesen Hüter seines Anwesens verzichten müssen?!). Das letztere, also die Ansicht, daß „im Interesse vollwirksamen Schutzes in dubio nicht ein minus, sondern ein maius von Gefahr zu unterstellen ist" (Oetker VDA II [1908] S. 275), würde den Selbstschutz zu weit ausdehnen. Man wird daher vor allem darauf abzustellen haben 482 , wieweit dem Angreifer 250 die Schutzvorkehrung erkennbar war. Wenn er sie trotz Kenntnis zu überwinden trachtete, dann zeigt das nur die Gefährlichkeit und Stärke seines Angriffs 483 . Deshalb bestehen keine Bedenken gegen die für jedermann offen liegenden Sicherheitsanlagen, seien sie rein „defensiv" wie die auf der Umfassungsmauer eingelassenen Glasscherben oder Eisenhaken, Stacheldrahtzäune usw., seien sie „offensiv" wie der bellende und bissige Hofhund innerhalb eines umfriedeten Anwesens. Wer bei dem Versuche, die be-wehrte und „ab-wehrende" Mauer oder den Stacheldrahtzaun zu übersteigen oder den vom Hund bewachten Hof zu überqueren, um ins Haus einzudringen, mehr oder minder schwer verletzt wird, darf nicht eine Überschreitung der Notwehrgrenzen des in seinem Hausrecht Angegriffenen und in seinem Eigentum Gefährdeten behaupten und beklagen (so auch kurz und bündig Frank § 53 a. F. Anm. IV [S. 164]). Anders ist dagegen zu urteilen, wenn der Drahtzaun oder die Haustür unter 251 einer hohen Stromspannung steht. Dies kann sich ebenso wie das Legen von Fuß480 Frank § 53 a. F. Anm. IV (S. 164); Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 5.c) (S. 391); Niethammer in v. Olshausens Komm. § 53 a. F. Anm. 12.a); Welzel S. 86; Baldus LK9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 26; Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 389 (§2611 Β 2d); Jescheck S. 274/275 (§ 32 II 1 d); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 18, 37; nur für entsprechende Anwendung der Notwehr Oetker VDA II (1908) S. 274 ff; Hellm. Mayer AT S. 205 zu Nr. VI 2. Ganz ablehnend Seidel S. 37 ff, 43 ff. 481 So Jagusch LK8 I (1957) § 53 a. F. Anm. 3.f (S. 409/410); ähnlich schon Oetker VDA II (1908) S. 275. Kritisch hierzu Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 26; OLG Braunschweig MDR 1947 205, 206. 482 Unbrauchbar der Lösungsversuch von Kähnen S. 63 ff, 68, der nur danach fragen will, ob die „Verteidigungsanlage nach objektiven Gesichtspunkten zum Schutze dieser Rechtsgüter erforderlich" ist, und auf die Proportionalität der kollidierenden Rechtsgüter abstellt. 483 Das klingt auch in der Entscheidung des OLG Braunschweig MDR 1947 205, 206 1. Sp. zu a) an: es sei nicht damit zu rechnen gewesen, daß die Obstdiebe „ihr Leben aufs Spiel setzen würden". (111)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

angeln, Schlageisen, Selbstschüssen oder die Anbringung einer Falltür hinter der Haustür nicht nur für den Einbrecher und Angreifer, sondern auch für einen Dritten, ζ. B. für einen Hilfe suchenden Wanderer, einen hilfsbereiten Nachbarn oder auch einen harmlosen Zecher, der nachts die Türen verwechselt, verletzend oder sogar tödlich auswirken (s. den Fall des OLG Stuttgart JW 1931 2651). Hier wird man verlangen müssen, daß der Verteidiger auf die Gefährlichkeit der Selbstschutzanlage hinweist (etwa mit einem Schild: „Achtung! Selbstschüsse" oder: „Zaun elektrisch geladen!") und solchen „offensiven" Abwehrmitteln „defensive" erst noch „vorschaltet" (Langenbach S. 39, 45). So ist zur Abwehr nächtlicher Obstdiebstähle an einem nahe dem Gartenzaun stehenden Pfirsichbaum die Anbringung leicht tödlich wirkender elektrischer Drähte nicht erforderlich und zulässig, wenn der Eigentümer noch andere Möglichkeiten zur Verhinderung der Entwendungen hat wie die Versetzung des Lattenzauns, die Aufstellung eines Stacheldrahtzauns oder die Anbringung einer Warnanlage (ebenso OLG Braunschweig M D R 1947 205, 206 1. Sp. unt.). Ebensowenig wie ein unter Hochspannung stehender Zaun ist eine Falltür oder eine Selbstschußeinrichtung hinter einer unverschlossenen oder unverriegelten Tür im einsamen Jagd- oder Ferienhaus, durch die ein Einbrecher zu Tode stürzen oder erschossen werden könnte, als notwendiges Abwehrmittel anzusehen, weil hier nicht das letzte und einzige Mittel der wirksamen Sicherung und Verteidigung gewählt worden ist (Langenbach S. 40, 42). 252

Dagegen müßte man die Erforderlichkeit der Abwehr sogar für die Selbstschußanlage bejahen, wenn sonst keine andere Möglichkeit bestünde, sich der wiederholten Einbrüche in eine abseits gelegene Scheune und der für den Bauern sehr erheblichen Getreide- und Heudiebstähle zu erwehren, und wenn der hartnäckige und unverfrorene Dieb trotz Warnschilder, öffentlich ausgesprochener Hinweise auf die Selbstschußvorrichtung usw. den Angriff auf das fremde Eigentum gewagt hat wie in dem Fall, daß das auf die Beine des nächtlichen Einbrechers gerichtete Gewehr beim Öffnen des Scheunentors losging und die Kugel eine Schlagader im Bein des Angreifers durchschlug, so daß er verblutete 4 8 4 (ebenso OLG Stuttgart JW 1931 2651). Die polizeiliche Nichtgenehmigung oder die etwaige Strafbarkeit einer solchen Schußanlage (s. früher § 367 Nr. 8 StGB a. F.) ist für die Frage der Rechtmäßigkeit der Verteidigung nicht entscheidend 4 8 5 .

253

Fraglich ist weiter, wieweit angesichts der Gefährlichkeit für Dritte, besonders für Kinder, das Auslegen von Gift zulässig ist, um streunende Hunde oder dem eigenen Geflügel nachstellende Katzen abzuwehren (s. dazu RGSt. 32 230, 232, 235). Das Streuen vergifteten Weizens, um die fortwährend den eigenen Garten heimsuchenden fremden Hühner abzuwehren, kann höchstens statthaft sein, wenn keine mildere Möglichkeit der Abwendung dieser Schädigung besteht (Oetker VDA II [1908] S. 277). Wer schließlich den Wein vergiftet, um dem sich immer wieder in seinem Weinkeller gütlich tuenden Dieb das Handwerk zu legen, begeht eine vorsätzliche rechtswidrige Tötung, wenn der Einbrecher zu Tode kommt. Denn das 484 Vgl. den höchst instruktiven, im vorigen Jahrhundert viel behandelten Fall der österreichischen Rechtsprechung (Ztschr. f. österr. Rechtsgelehrsamk. II [1826] 176), angeführt und zustimmend erörtert von SommerladGerS 39 (1887) 361 ff, 397 ff, 399 ob; abgelehnt von Seidel S. 41. 485 So Rob. v. Hippel II S. 218; Frank § 368 Nr. 8 a. F. Anm. VIII (S. 831), der bei Notwehr sogar Straflosigkeit der Übertretung des Verbots, Selbstgeschosse zu legen, annahm; Baldus LK.9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 26; and. jedoch Niethammer in v. Ophausens Komm. § 53 a. F. Anm. 12.a) (S. 333). (112)

Notwehr (Spendei)

§32

Gift ist zur Abwehr dieses gegenwärtigen Diebstahls an der Flasche mit dem vergifteten Wein schon kein taugliches, also kein erforderliches und zur Verhütung einer künftigen Dieberei schon gar kein zulässiges, weil eine „Präventivnotwehr" darstellendes Mittel (Oetker aaO S. 277). IV. Die Versuche der Notwehreinschränkung Mit dem Zweifel an der Lehre, daß unt. Umst. auch ein lebensgefährlicher oder 254 gar gezielt tödlicher Schuß zur Abwendung eines Angriffs auf Sachgüter erforderlich werden und zulässig sein kann (Rdn. 229, 224), ist bereits die Frage einer etwaigen Einschränkung oder Begrenzung des Notwehrrechts — über das Merkmal der „Erforderlichkeit" der Verteidigung hinaus — berührt. Es fragt sich, ob sich eine solche Einengung wirklich aus dem Gesetz oder einem allgemeinen Rechtsgrundsatz ergibt. 1. Keine Einschränkung aus der Verschiedenheit der Ausdrücke „erforderlich" und „geboten" in § 32 StGB Schrifttum Himmelreich Erforderlichkeit der Abwehrhandlung, Gebotensein der Notwehrhandlung usw., GA 1966 129; Lenckner „Gebotensein" und „Erforderlichkeit" der Notwehr, GA 1968 1.

Man hat eine Einschränkung unmittelbar aus § 32 StGB herzuleiten versucht, 255 und zwar aus der Verschiedenheit der Formulierungen, daß Abs. I des § 32 StGB von der „durch Notwehr gebotenen Tat", Abs. II von der zur Angriffsabwendung „erforderlichen Verteidigung" spricht 486 . So ist etwa gesagt worden: Die Frage, ob überhaupt eine Abwehr statthaft sei, bedeute die nach der „Gebotenheit", die nach der „grundsätzlichen Zulässigkeit der Notwehr, die Frage dagegen, wie diese Abwehr zu gestalten sei, betreffe die nach der „Erforderlichkeit", die nach der Art der Verteidigung 487 . Der Begriff des „Gebotenen" gehöre zur normativen Beurteilung, ob dem Angegriffenen überhaupt ein Recht auf den Eingriff in die Rechtsgüter des Angreifers zustehe, der Begriff des „Erforderlichen" zur deskriptiven Feststellung, wieweit eine tatsächliche Abwehrmöglichkeit bestehe 488 . „Geboten" sei in der Regel eine Verteidigungshandlung dann, wenn sie erforderlich sei, nicht jedoch, wenn von dem Verteidiger „ein anderes Verhalten zu fordern oder ihm zuzumuten" sei (Dreher-Tröndle Rdn. 18). Andere Autoren geben keine nähere Bestimmung der Unterscheidung, sondern begnügen sich mit Beispielen und dem Hinweis auf die gesetzgeberischen Motive zur Fassung des § 32 4 8 9 ; so soll etwa der Schuß des

486 So etwa Focke StrAbh. H. 403 (1939) S. 48; Niethammer in v. Olshausens Komm. § 53 a. F. Anm. 3 und 12; Sauer AStL S. 120; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. II und VII; Roxin ZStrW 75 (1963) 556; Himmelreich GA 1966 129 ff.; ders. MDR 1967 362; Baumann S. 317 (§2111 l a ζ); Dreher-Tröndle Rdn. 18; Lackner Anm.3.a); BT-Drucks. V/4095, S. 14; AG(Z) Bensberg NJW 1966 733, 735 mit zustimm. Anm. Himmelreich. 487 So Focke StrAbh. H. 403 (1939) S. 48. 488 Heinrich Henkel Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Mezger-Festschr. (1954) 271 ; Haft AT S. 59; Wessels AT S. 78/79 (§ 8 V 3); s. auch die kurze Bemerkung von Sauer AStrL S. 120, „besser wäre die Milderung gegenüber .erforderlich': nach der Sachlage geboten", worauf schon § 53 I ( = § 32 I) hinweise. 489 Niethammer in v. Olshausens Komm. § 53 a. F. Anm. 3 und 12; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. II und VII; Baumann S. 317/318 (§2111 l a ζ); nicht eindeutig Lackner Anm. 3.a) (S. 167). (113)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

gelähmten Apfelbaumbesitzers auf den Obstdieb unt. Umst. „erforderlich", aber nicht „geboten" sein (Baumann AT S. 317/318 [§ 21 II 1 a ε u. ζ]). 256 Überwiegend wird dagegen die Berechtigung der Unterscheidung abgelehnt 490 , und das mit Recht. Der Begriff „Notwehr" hat zwei Bedeutungen, die § 32 StGB miteinander vermengt: Notwehr als Rechtsinstitut (Rechtfertigungsgrund) und Notwehr als tatsächlicher Vorgang (Tat); denn die durch Notwehr als Rechtsinstitut gebotene Tat ist ja eben selbst Notwehr, und zwar als Abwehr(handlung). Der Abs. I des § 32 StGB hätte daher zur Vermeidung geheimnisvoller Auslegungsversuche oder unangebrachter Wortklaubereien besser und einfacher so lauten sollen: Eine in (oder: als) Notwehr begangene Tat ist nicht rechtswidrig 491 . Aus der geltenden Gesetzesfassung ergibt sich nichts anderes. Ersetzt man in Abs. I des § 32 StGB den Ausdruck „Notwehr" durch seine nähere Begriffsbestimmung in Abs. II, so ist er zu lesen: Wer eine Tat begeht, die durch eine zur Angriffsabwendung erforderliche Verteidigung geboten (und das heißt nun nichts anderes als: bestimmt oder gefordert) ist, handelt nicht rechtswidrig; genauso gut könnte man auch sagen: Wer eine Tat begeht, die durch eine zur Angriffsabwendung gebotene Verteidigung erforderlich (geworden) ist, handelt rechtmäßig. Man kann eben schlecht sprachlich zweimal das Wort „erforderlich" gebrauchen. Die Verschiedenheit der Ausdrücke „geboten" und „erforderlich" („notwendig") ist also nur sprachlicher Natur; ein sachlicher Unterschied besteht nicht. Eine Einschränkung des Notwehrrechts kann mithin nicht mit der verschiedenen Wortwahl in § 32 begründet werden. 2. Keine Einschränkung durch die Menschenrechtskonvention Schrifttum Appell Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer Bedeutung für das deutsche Strafrecht und Strafverfahrensrecht, Diss. Marburg/L 1961; Bockelmann Menschenrechtskonvention und Notwehrrecht, Engisch-Festschr. (1969) S. 456; Doehring Befehlsdurchsetzung und Waffengebrauch, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsches Recht (1968); Echterhölter Die Europäische Menschenrechtskonvention in der juristischen Praxis, JZ 1956 142; Glatzel Die Einwirkung der Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention auf private Rechtsbeziehungen, Diss. Bonn 1969; Guradze Die Europäische Menschenrechtskonvention (1968); Jescheck Die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, NJW 1954 783 ; Klug Das Verhältnis zwischen der Europäischen Menschenrechts-Konvention und dem Grundgesetz, Hans Peters-Festschr. (1967) S. 434; Krüger Die Bedeutung der Menschenrechtskonvention für das deutsche Notwehrrecht, NJW 1970 1483; Partsch Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, in: Bettermann-Neumann-Nipperdey Die Grundrechte 1 1 (1966) 235; Schorn Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1965); Strobel Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für das Recht in der Bundesrepublik, Diss. Würzburg 1958; Trechsel Die europä-

490 Lenckner GA 1968 2, 10; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 44; Bockelmann Honig-Festschr. S. 24; Schmidhäuser Honig-Festschr. S. 189; Baldus LK9 I (1974) §53 a. F. Rdn. 29; Kratzsch Grenzen S. 38; ders. JuS 1975 436; Maurach-Zipf AT l . T B d . S. 382 f (§ 26 II Β 2); Otto Würtenberger-Festschr. S. 136; Jescheck S. 276 f (§32 1112); Fr. W. Krause H.-J. Bruns-Festschr. S. 78. — Bei der Schaffung des § 53 a. F. StGB hat der Gesetzgeber in den beiden Ausdrücken auch keinen sachlichen Unterschied gesehen, s. Bockelmann aaO S. 24; s. dagegen zur Fassung des § 32 BT-Drucks. V/4095, S. 14 und Stree Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen Strafrecht, JuS 1973 461/462. 491 So auch StGB-Entw. 1962 mit Begründ., S. 16, § 37: „Wer eine Tat in Notwehr begeht, handelt nicht rechtswidrig". (114)

Notwehr (Spendei)

§32

ische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozeßrechte (1974); v. Weber, Hellm. Die strafrechtliche Bedeutung der europäischen Menschenrechtskonvention, ZStrW 65 (1953) 334; Woesner Die Menschenrechtskonvention in der deutschen Strafrechtspraxis, NJW 1961 1381.

Eine Einschränkung des Notwehrrechts ist nicht, wie man z. T. meint, herzulei- 257 ten aus der von den Regierungen der Mitgliedstaaten des Europarats unterzeichneten, kurz gesagt: Europäischen „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (MRK) vom 4. 11.1950, durch Gesetz vom 7. 8. 1952 „mit Gesetzeskraft veröffentlicht" (BGBl. II S. 685 und 953) und gemäß Bekanntmachung vom 15.12. 1953 am 3.9.1953 in Kraft getreten (BGBl. 1954 II S. 14). Ihr entscheidender Art. 2 lautet in der (nicht ganz einwandfreien) amtlichen deutschen Übersetzung 492 : „(I) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils... darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. (II) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen; b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern .. ," 4 9 3 Aus dieser Bestimmung der MRK soll nach manchen Autoren folgen, daß eine auf Tötung des Angreifers zielende Verteidigung nur noch zulässig sei, wenn er Gewalt gegen die Person494, und zwar gegen das Lebend oder auch gegen den Leiò 496 , vielleicht noch gegen die Freiheit des Angegriffenen 497 anwende; die gezielte (absichtliche) Tötung zum Schutze von SacAgütern sei dagegen nicht mehr erlaubt 498 , erst recht nicht, soweit der Angriff auf Sachwerte keine Gewaltanwendung darstelle. Nach einer solchen Auffassung könnten z. B. Einbrecher in aller Seelenruhe ein einsam gelegenes Jagdhaus ausplündern oder ein Autobahndieb 492 Nach Art. 66 MRK sind die beiden in englischer und französischer Sprache abgefaßten Vertragstexte „in gleicher Weise maßgebend", also für die Auslegung verbindlich, so auch Guradze S. 33; Lenckner GA 1968 6 Anm. 20; Bockelmann Engisch-Festschr. S. 460; and. (der deutsche Text entscheidend, da die Konvention als deutsches Gesetz veröffentlicht worden und daher im innerstaatlichen Recht auch nur die deutsche Fassung maßgeblich sei) Woesner NJW 1961 1383 r. Sp.; Krüger NJW 1970 1485 1. Sp. 493 Von den beiden authentischen Texten lautet z. B. der französische folgendermaßen: „1. Le droit de toute personne à la vie est protégé par la loi. La mort ne peut être infligée à quiconque intentionellement, sauf en exécution d'une sentence capitale . . . 2. La mort n'est pas considérée comme infligée en violation de cet article dans les cas où elle résulterait d'un recours à la force rendu absolument nécessaire: a) pour assurer la défense de toute personne contre la violence i l l é g a l e ; . . . " 494 Echterhölter JZ 1956 143 r. Sp.; Himmelreich GA 1966 133; Guradze S. 49 (Art. 2 Anm. 9); Stratenwerth AT Rdn. 440 (S. 138); Samson SK I Rdn. 29. 495 Dohm Völkerrecht I (1958) S. 432 Anm. 23; Maunz-Dürig G G I (1958) Art. 1 I Rdn. 62; Art. 2 II Rdn. 15; Schorn S. 83; Schuhmacher Die Polizei 1973 259 i. V. m. Anm. 25. 496 So ausdrücklich Baumann AT S. 319 (§ 21 II 1 a ζ); Heinsius S. 26. 497 So ausdrücklich Krüger NJW 1970 1484 r. Sp. 498 So Woesner NJW 1961 1384 1. Sp.; Heinsius S. 26; Schorn S. 83; Himmelreich GA 1966 133; Baumann S. 319 (§ 21 II 1 a ζ); Herrn. Dilcher in v. Staudingers Komm, zum BGB, 12. Aufl. I (1979) § 227 Rdn. 22. (115)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

dem Juwelier den Handkoffer mit Diamanten von Millionenwert wegnehmen, ohne daß sich der Eigentümer mit einem gezielt tödlichen Schuß, falls dieser in einer wohl nur selten praktisch werdenden Ausnahmesituation notwendig wäre, zur Wehr setzen dürfte. 258 Um solche groben und unerträglichen Ungereimtheiten zwischen der MRK und dem deutschen Notwehrrecht zu vermeiden 499 , ist nur folgende Deutung sinnvoll 500 : Mit der MRK, einem völkerrechtlichen Vertrag, der nach vorherrschender Ansicht nunmehr in der Bundesrepublik als einfaches Bundesgesetz gilt und nicht etwa Verfassungsrang hat (BVerfGE 10 271, 274; BayVerfGH NJW 1961 1619; OLG Bremen NJW 1960 1265, 1266 1. Sp. mit Anm. Frhr. v. Stackelberg)501, beabsichtigten die Signatarstaaten nicht, innerstaatliches Recht zu reformieren und zuungunsten der Rechtsunterworfenen abzuändern, insbesondere das nationale Notwehrrecht einzuschränken. Dafür, daß keine genaue Abstimmung darauf gewollt war, spricht auch die Fassung der MRK selbst: Einmal erscheint sie dem deutschen Recht gegenüber nicht nur enger, sondern auch weiter, da sie das Merkmal der „Gegenwärtigkeit" der Gewaltanwendung (und damit der Angriffshandlung) nicht kennt 502 , ihrem Wortlaut nach also auch eine „Präventivnotwehr" gegen einen gewalttätigen Menschen, der ζ. B. für Leib und Leben von Polizisten eine Dauergefahr bedeutet (s. den französischen Fall Mesrine und dazu Rdn. 276), zulassen würde. Zum andern sprechen die Wendungen „La mort ne peut être infligée . . . " („inflicted" im Englischen) dafür, daß bei der (absichtlichen) Tötung an die Verhängung einer staatlichen Strafe oder an den Vollzug einer hoheitlichen Maßnahme gedacht w a r 5 0 3 . 259 Die MRK betrifft daher gar nicht das Notwehr- und Nothilferecht des einzelnen Staatsbürgers gegenüber seinen Rechtsgenossen504, sondern nur die Frage eines 499 Man hat daher einen Ausweg in der Verlegenheitslösung gesucht, bei Vorliegen der Voraussetzungen der Notwehr, aber nicht der MRK dem den Angreifer gezielt tötenden Verteidiger wenigstens einen Straf- (so Echterhölter JZ 1956 144 1. Sp. ob.) oder Schuldmxsschließungsgrund zuzubilligen (so Schänke-Schröder^ [1974] § 53 a. F. Rdn. 3). Aber das würde zu dem unsinnigen und ungerechten Ergebnis führen, daß in dem obigen Beispiel die Einbrecher gegen den (angeblich) rechtswidrigen Schußwaffengebrauch des Angegriffenen ihrerseits Notwehr üben dürften (wie hier Bockelmann Engisch-Festschr. S. 461). 500 Daß der „erbärmlich schlecht gefaßte" Art. 2 der MRK insoweit einer besonderen, hinsichtlich Abs. 2 a) erweiternden, hinsichtlich lit. b) einschränkenden Auslegung bedarf, „um diesen Fremdkörper einigermaßen in unser Rechtssystem zu amalgamieren", hat Rieh. Lange in seinem Gutachten zum „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes" (1975), Anlage, S. 18 ob. und 19 ob. mit Recht ausgesprochen. 501 So z. B. Maunz-Dürig Grundgesetz I (1958) Art. 1 II Rdn. 59; Strobel S. 48 ff; Woesner NJW 1961 1383; Partsch S. 283; Krüger NJW 1970 1483; Jescheck S. 280 (§ 32 V); Kleinknecht StPO, 35. Aufl. (1981) Art. 1 MRK Rdn. 2 (S. 1390); and., und zwar für Verfassungsrang der M R K , d. h. G/e/cArangigkeit von G G und M R K Schorn S. 44 ff, 47, wohl auch Guradze S. 19 (der sich allerdings nicht entscheidet) oder sogar für //¿¡Aerrangigkeit der M R K gegenüber dem G G Klug H. Peters-Festschr. S. 441. 502 Vgl. den Hinweis von Partsch S. 339. 503 So vor allem Bockelmann Engisch-Festschr. S. 464 im Anschluß an die Stellungnahme des BJustMin. in: Niedersehr, üb. d. Sitz. d. Großen Strafrechtskommission, 2. Bd. (1958) Anh. Nr. 26, S. 81. 504 And. jedoch zu Unrecht Hellm. v. Weber ZStrW 65 (1953) 340/341; Echterhölter JZ 1956 143; Dohm Völkerrecht I (1958) S. 432 Anm. 23; Woesner N J W 1961 1384; Heinsius S. 22 ff, 28; Schorn S. 83; Hellm. Mayer StudB S. 97; Baumann S. 319 (§ 21 II 1 a ζ); Samson SK I Rdn. 30. (116)

Notwehr (Spendei)

§32

Tötungsrechts des Staates gegenüber seinen Rechtsunterworfenen, d. h. das hoheitliche Recht eines Amtsträgers zum Eingriff in das Leben eines Privaten 505 . Auch der Staat, die „Obrigkeit", soll grundsätzlich an das Tötungsverbot gebunden und nur in bestimmten Ausnahmefällen davon befreit sein, und zwar nur dann, wenn die Tötung durch die Staatsgewalt zur Verteidigung des Staates selbst, seiner Rechtsordnung oder seiner Bürger — den Begriff „Verteidigung" im weitesten Sinne genommen — notwendig ist, d. h. im Falle des auf Grund eines gerichtlichen Todesurteils hinzurichtenden Verbrechers (Art. 2 I S. 2 MRK) und des von einem Exekutivorgan zu bekämpfenden Gewalt anwendenden, fliehenden oder aufrührerischen Delinquenten (Art. 2 II a—c) MRK). Der Fahrzeuge kontrollierende Polizeibeamte darf nach der MRK nicht (wie laut Zeitungsmeldungen 1981 in Spanien geschehen) zur Erzwingung seines Haltezeichens auf einen Kraftfahrer schießen. Im übrigen ist die rechtswidrige Gewaltanwendung eines Angreifers nicht nur 260 i. S. v. Gewalt gegen eine Person, sondern auch gegen Sachen zu verstehen 506 . So wird in der französischen Sprache das Wort „violence" als Gewalt gegen Personen und Sachen gebraucht 507 . Selbst nach Art. 2 II a MRK braucht daher der Polizeibeamte (geschweige denn der in seinem Eigentum angegriffene Private) nicht zu dulden, daß eine Bande von Rockern oder Gangstern einem Gastwirt das ganze Lokal zertrümmert und einen Sachschaden von 100 000 DM oder mehr anrichtet, darf vielmehr den Rädelsführer und Anpeitscher notfalls niederschießen, wenn anders der Angriff auf die Sachgüter nicht sofort und endgültig abwendbar ist. Man muß sogar noch einen Schritt weitergehen und den Art. 2 II a MRK dahin 261 auslegen, daß unter den Begriff „Gewalt" gegen Sachen auch der Diebstahl fallt. Wie die Wegnahme (Aushebung) der eigenen Fenster und Türen durch den Vermieter, die den Mieter zur Räumung der Wohnung zwingen soll, in erster Linie eine unmittelbare Gewalt gegen Sachen und eine mittelbare gegen die Person i. S. d. § 240 StGB ist, so ist die Wegnahme (Entwendung) fremder Gegenstände, bei der der Bestohlene den Verlust seines Gewahrsams und Eigentums dulden soll, als eine „Gewalt" gegen Sachen i. S. d. Art. 2 II a MRK anzusehen. Es wäre sonst ein gera505 So Stellungnahme des BJustMin. in: Niedersehr, üb. d. Sitz. d. Großen Strafrechtskommission 2 (1958) S. 231 ff; Anh. Nr. 26, S. 81; Partsch S. 336 f; Bockelmann in EngischFestschr. S. 463 ff; Guradze S. 48 (Art. 2 Anm. 8); Glatzel S. 122 f; Welzel S. 86; Baldus LK9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 40; Trechsel S. 84; Schmidhäuser S. 343 f (9/88); MaurachZipf AT 1. TBd. S. 383 unt. (§ 26 II Β 2); Blei AT S. 134; Jescheck S. 280 (§ 32 V); Wessels AT S. 78 (§ 8 V 2); Dreher-Tröndle Rdn. 21 ; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 62 (für uneingeschränkte Notwehr jedenfalls des Privaten); ebenso im Zivi/recht z.B. Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. 1 (1978) § 227 Rdn. 48. Diese Rechtslage wird durch den lange nach der MRK erlassenen neuen § 32 nur bestätigt. 506 Ebenso das BJustMin. in seiner Stellungnahme (s. Fußn. 503); Appell S. 120 ff, 123; Doehring S. 38; Wilfr. Lange MDR 1974 359 r. Sp.; Schwabe JZ 1974 637 r. Sp.; ders. Die Notrechtsvorbehalte des Polizeirechts (1979) S. 28/29 ob.; Lerche in v. d. Heydte-Festschr. (1977) II S. 1050; Kleinknecht StPO, 35. Aufl. (1981) Art. 2 MRK Rdn. 2 (S. 1390). 507 Vgl. ζ. B. Grand Larousse encyclopédique, 10. vol. (1964), art. „violence", p. 838: „fait de briser par la force la résistance opposée par une chose ou par une personne (par exemple, violation de domicile)" ; P. Robert Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, 6. vol. (1951) p. 1002, Nr. 1. Auch im weiteren und übertragenen Sinn wird das Wort „violence" gebraucht: faire violence à un texte = einem Text Gewalt antun, einen Text verfälschen; se faire violence = seinen Gefühlen Zwang antun, sich zwingen, s. Sachs-Villatte Langenscheidts Großwörterbuch Französisch-Deutsch, Teil 1 (1979) S. 993: „violence". (117)

§ 3 2

2. Abschnitt. Die Tat 508

dezu unsinniges Ergebnis , daß nach Art. 2 II b MRK der Polizist zwar zur Festnahme eines flüchtigen und gesuchten Diebes oder Einbrechers notfalls gezielt schießen dürfte, nicht aber nach Art. 2 II a MRK zur Abwehr eines solchen Täters, wenn dieser nur durch einen Kopfschuß (weil ζ. B. sein Körper durch eine Mauer verdeckt ist) an der Mitnahme seiner Millionenbeute (Koffer mit kostbaren Juwelen oder mit Banknoten; unersetzliche Gemälde) gehindert werden könnte 509 . Denn man kann den Einklang zwischen MRK und § 32 StGB nicht mit der Behauptung herzustellen suchen, die absichtliche Tötung eines Angreifers (Gewaltanwenders), von der Art. 2 MRK nur spreche 510 , sei nie zur Verteidigung von Sachgütern nach §32 StGB zulässig 511 . 262 Man wird den Begriff „Gewaltanwendung" i. S. d. „violence illégitime" bzw. „unlawful violence" noch freier und weiter interpretieren müssen, so daß unter ihn überhaupt ein „Angriff" auf ein wesentliches persönliches Rechtsgut i. S. d. deutschen Notwehrrechts fällt 512 , also ζ. B. als „violence verbale" 513 auch ein erheblicherer Angriff auf die Ehre der Person 514 . Der Polizeibeamte braucht sich selbst nach der MRK nicht von einer Rocker-Bande zum Spott auf der Straße splitternackt ausziehen zu lassen und darf sich durch einen mit Sicherheit tödlich wirkenden Schuß auf den vor ihm stehenden Anführer und Anpeitscher der Horde „seiner eigenen Haut" wehren, wenn er nur so noch im letzten Augenblick den Angriff auf seine Ehre und Freiheit abwenden und sich Respekt verschaffen kann 5 1 5 . Es fragt sich aber, ob er dazu auch nach dem Polizeirecht befugt ist. Noch brennender als die Frage nach der Beziehung von MRK und § 32 StGB ist daher die nach dem Verhältnis von allgemeinem Notwehrrecht und besonderem Polizeirecht. 508 Nach Schmidhäuser in: Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes (1975), Ani., Gutachten, S. 21, steckt ein „horrender Wertungswiderspruch" in Art. 2 II MRK, „so daß für ein vernünftiges Rechtsverständnis diese Bestimmung der Verbindlichkeit i. S. einer detaillierten RechtsanWeisung entbehren muß"! Daß Notwehr- und Festnahmerecht in Art. 2 II M R K in engem Zusammenhang gesehen werden müssen, betont auch Rieh. Langem seinem Gutachten zum M E eines einheitlichen Polizeigesetzes (1975), Ani., S. 18. 509 Wie hier v. Feldmann in MüncAKomm. zum BGB 1 (1978) § 227 Rdn. 1 zu Fußn. 5 ff (S. 1365); Schmidhäuser AT S. 344 (9/88), s. dazu näher Rdn. 266, 279. 510 Jescheck S. 280 Anm. 51 (§ 32 V); Blei AT S. 134; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 62; and., und zwar auch (bedingt-)vorsätzliche Tötung genügend, Echterhölter JZ 1956 143, oder, selbst fahrlässige Tötung ausreichend, Glatzel S. 118. 511 Blei AT S. 134: „Sachnotwehr mit Tötungsabsicht kaum vorstellbar" (kaum, aber gelegentlich doch!); Schwabe Die Notrechtsvorbehalte des Polizeirechts (1979) S. 34: „Grundsätzlich" (aber eben nicht ausnahmslos!) „wegen Unverhältnismäßigkeit grundrechtswidrig"; Sch.-Schröder-Lenckner^O (1980) Rdn. 62: „schon nach allgemeinen Grundsätzen" (?) „medie erforderliche Verteidigung, da hier immer'' (?!) „das bloße Kampfunfähigmachen genügt" (vorsichtiger dies. 21 aaO). Vgl. auch unt. Fußn. 621. 512 Ebenso für das Straße cht Bundesjustizministerium in: Niedersehr, üb. d. Sitz, der Großen Strafrechtskommission, 2. Bd. (1958); Anh. Nr. 26, S. 81/82; Appell S. 120; Doehring S. 38/39; Lerche in v. d. Heydte-Festschr. (1977) II S. 1051 (zur „Verteidigung eines Menschen" i. S. d. Art. 2 II a M R K zähle die „Verteidigung sämtlicher relevanter Rechtsgüter eines Menschen"); für das Zivihecht Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. 1 (1978) § 227 Rdn. 49. 513 P. Robert Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française (1951) 6. vol. p. 1002, „violence", Nr. 3. 514 Als Gewaltanwendung gegen die Person wird auch ein Angriff auf die Ehre eines Menschen in Betracht gezogen von Krüger NJW 1970 1484 r. Sp. 515 Vgl. auch die Beispiele tätlicher Beleidigung und die Kritik bei Bergschneider (s. vor Rdn. 263) S. 78/79. (118)

Notwehr (Spendei)

§32

3. Keine Einschränkung auf Grund des Polizeirechts Schrifttum Amelung Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates? NJW 1977 833; Bergschneider Polizeilicher Waffengebrauch als Rechtfertigungsgrund, Diss. München 1960; Berndt Todesschuß und innere Sicherheit, Die Polizei 1975 197; Blei Probleme des polizeilichen Waffengebrauchs, JZ 1955 625; Bockelmann Notrechtsbefugnisse der Polizei, Dreher-Festschrift (1977) S. 235; Bremer Das Recht der Polizei zum Waffengebrauch, Diss. Heidelberg 1965; Bucheri Zum polizeilichen Schußwaffengebrauch (1975); Conen Rechtsgrundlagen und Probleme des Schußwaffengebrauchs bei Geiselnahmen, Die Polizei 1973 65; Funk-Werkentin Der Todesschuß der Polizei, Krit. Just. 1976 121; Gintzel Zur Problematik des Schußwaffengebrauchs auf Anordnung, Die Polizei 1972 1; Haller Polizeigesetzgebung und Europäische Menschenrechtskonvention, Hans Huber-Festschrift (1981) S. 563; Hug Schußwaffengebrauch durch die Polizei, Diss. Zürich 1980; Hummel-Liljegren Der gezielt tödliche Schuß ist geltendes Recht — wozu ihn „einführen"? Die Polizei 1977 373; Kinnen Notwehr und Nothilfe als Grundlagen hoheitlicher Gewaltanwendung, M D R 1974 631; Kirchhof Notwehr und Nothilfe des Polizeibeamten aus öffentlich-rechtlicher Sicht, in: Merten Aktuelle Probleme des Polizeirechts (1977) S. 67; Kirchhof Polizeiliche Eingriffsbefugnisse und private Nothilfe, NJW 1978 969; Kirchhof Ott praktische Fall — Öffentliches Recht: Helfer in der Not, JuS 1979 428; Klinkhardt Die Selbsthilferechte des Amtsträgers, VerwArch 55 (1964) 264 ff., 297 ff.; 56 (1965) 60 ff.; Klose Notrecht des Staates aus staatlicher Rechtsnot, ZStrW 89 (1977) 61 ; Krey-W. Meyer Zum Verhalten von Staatsanwaltschaft und Polizei bei Delikten mit Geiselnahme, Z R P 1973 1 ; Krüger Die bewußte Tötung bei polizeilichem Schußwaffengebrauch, NJW 1973 1 ; Krüger Notwehr und Zulässigkeit einer gesetzlichen Regelung der bewußten Tötung bei polizeilichem Schußwaffengebrauch, Kriminalistik 1975 385, 441 ; Krüger Polizeilicher Schußwaffengebrauch, 4. Aufl. (1979); Lange, Richard Der „gezielte Todesschuß", JZ 1976 546; Lange, Wilfried Probleme des polizeilichen Waffengebrauchsrechts, MDR 1974 357; Lange, Wilfried Der neue Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes — Fragwürdiges Schußwaffengebrauchsrecht, M D R 1977 10; Lerche Der gezielt tödliche Schuß nach künftigem einheitlichem Polizeirecht — Zum Verhältnis hoheitlicher Eingriffsbefugnisse zu den allgemeinen Notrechten, v. d. Heydte-Festschrift (1977) II. Bd., S. 1033; Linder Notrechtsvorbehalte und polizeiliche Praxis, Die Polizei 1972 276; Merten Zum polizeilichen Schußwaffengebrauch, in: Merten Aktuelle Probleme des Polizeirechts (1977) S. 85; Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes (mit Gutachten von Bockelmann, Rieh. Lange, Lerche, Merten, Schmidhäuser), Masch.-schr. (1975); Rupprecht Die tödliche Abwehr des Angriffs auf menschliches Leben, NJW 1973 263; Schaffstein Die strafrechtlichen Notrechte des Staates, Schröder-Gedächtnisschrift (1978) 5. 97; Schmidhäuser Notwehr und Nothilfe des Polizeibeamten aus strafrechtlicher Sicht, in: Merten Aktuelle Probleme des Polizeirechts (1977) S. 53 ; Schmidt, Joachim Die bewußte Tötung bei polizeilichem Schußwaffengebrauch, NJW 1973 449; Schumacher Zur Problematik des gezielten polizeilichen Todesschusses in Extremsituationen, Die Polizei 1973 257; Schwabe Die Notrechtsvorbehalte des Polizeirechts, JZ 1974 634; Schwabe Zur Geltung von Rechtfertigungsgründen des StGB für Hoheitshandeln, NJW 1977 1902; Schwabe Die Notrechtsvorbehalte des Polizeirechts (1979); Seebode Neue Entwicklungen im Strafverfahrensund Polizeirecht — aus der Sicht der Wissenschaft, in: Polizei und Kriminalpolitik, BKAVortragsreihe, 26. Bd. (1981) S. 101; v. Winterfeld Der Todesschuß der Polizei, NJW 1972 1881.

Man sollte erwarten, daß das Polizeirecht zum Waffengebrauch für den Polizei- 2 6 3 beamten, der gerade zur Abwehr von Gefahren und Verbrechen verpflichtet und für diese Aufgabe besonders ausgebildet und ausgerüstet ist, keine Einschränkung, sondern eine Erweiterung des Nothilferechts bringen würde. Das wurde früher auch für selbstverständlich gehalten (RG[St] DRiZ 1924 391; JW 1925 962)516. Das 516 So für den Rechtszustand vor 1933 z. B. auch Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 3.c) (S. 391 ob.). Vgl. auch heute Schmidhäuser in: Merten Aktuelle P r o b l e m e . . . (1977) S. 63 ob. (119)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Gegenteil ist jedoch heute nach dem Wortlaut der einzelnen Polizeigesetze des Bundes und der Länder ζ. T. der Fall. Denn nach diesen Gesetzen über die Anwendung unmittelbaren Zwanges, insbesondere den Schußwaffengebrauch, darf der Polizeibeamte die Schußwaffe gegen Personen nur zur Verhinderung von Verbrechen (gesetzliches Strafminimum 1 Jahr Freiheitsstrafe) und von bestimmten, d. h. unter Anwendung oder Mitführung von Schußwaffen oder Sprengstoff auszuführenden Vergehen mit dem Ziele gebrauchen, den Angreifer angriffs- oder fluchtunfähig zu machen 517 . Und einen gezielten Todesschuß darf er nach dem bayerischen und niedersächsischen Landesrecht nur zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebens- oder schweren Letòesgefahr abgeben 518 , wiewohl — als Notrechtsverweisungen oder Notrechtsvorbehalte — „die Vorschriften über Notwehr und Notstand" 5 ' 9 oder, noch enger, deren „zivil- und strafrechtliche Wirkungen unberührt bleiben" 520 264 Diese Gesetzesfassung ist höchst unglücklich, weil widersprüchlich und sich weitgehend aufhebend 521 ; denn sie scheint, wenigstens dem Wortlaut nach, dem Polizeibeamten mit der einen Hand wieder zu geben, was sie mit der anderen zunächst genommen hat: einerseits darf er nach dem bayerischen Polizeirecht im krassesten Fall „nur" zur Abwehr eines Angriffs auf Leben oder Leib des Opfers, falls dieses nicht anders gerettet werden kann, gezielt auf den Angreifer schießen, andererseits auf dem Umwege über die durch die Notrechtsvorbehalte anwendbaren Straf- und Zivilgesetze (§32 StGB, § 227 BGB) so auch zur Abwendung von Angriffen auf andere Rechtsgüter wie Freiheit, Vermögen usw. handeln. 265 Ein solches Hin und Her der Regelung macht zunächst zwei Deutungen möglich: entweder ist die Notrechtsverweisung oder aber die Regelung des Schußwaffengebrauchs als „gegenstandslos"anzusehen, da man, so will es scheinen, dem Polizeibeamten nicht auf der einen Seite besondere Aufgaben und Pflichten, aber eingeschränkte (polizeirechtliche) Eingriffsbefugnisse zuteilen, auf der anderen Seite zugleich die allgemeinen und uneingeschränkten (zivil- und strafrechtlichen) Verteidigungs- und Nothilferechte zubilligen kann, ohne sich in Widersprüche zu verwikkeln 5 2 2 . 266 Die erste Alternative ist mit der These vertreten worden, daß zumindest die mit Schußwaffen ausgeübte polizeiliche NotAi#e523 und de lege ferenda auch solch eine polizeiliche NotweAr im engeren Sinn 524 , ja selbst die letztere schon de lege 517 Vgl. z. B. § 10 I Nr. 1 BUZwG v. 1961 ; § 40 I BadWürttPG v. 1968 (1977); Art. 45 II 1, 46 I Nr. 2 BayPAG v. 1978; § 42 I Nr. 2 NRhWPG v. 1980; § 55 I Nr. 2 NdsSOG v. 1981. 518 Art. 45 II 2 BayPAG v. 1978 = Art. 41 II 2 ME eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder, hrsg. von Heise-Riegel, 2. Aufl. (1978); ferner § 54 II S. 2 NdsSOG v. 1981. 519 Vgl. z. B. § 3 II HessUZwG; § 35 II NRhWPG. 520 Art. 39 II BayPAG = § 35 II ME eines einheitl. PolG. 521 Vgl. auch Scholler-Broß Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (1978) S. 231 („Die Notrechtsvorbehalte sind . . . systemwidrig; sie decken einen weitergehenden Schußwaffengebrauch als den nach den geltenden" (seil. Polizei-) „Gesetzen nicht..."). 522 Insofern zutreffend Blei JZ 1955 626 1. Sp., 627 1. Sp. vor b). 523 So z. B. Blei JZ 1955 627; Krey-W. Meyer ZRP 1973 4 r. Sp./5; Schumacher Die Polizei 1973 259 r. Sp., 260 1. Sp.; Krüger NJW 1973 1; ders. Kriminalist. 1975 388 1. Sp.; ders. Polizeil. Schußwaffengebr. S. 85 ff, 97; Amelung NJW 1977 840 1. Sp.; Samson S K I Rdn. 35. 524 So verfehlterweise Blei JZ 1955 627 r. Sp. (120)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

lata 525 nie über die im Polizeirecht ausdrücklich normierten Fälle hinaus durch § 32 StGB gerechtfertigt sein könne; denn jedes hoheitliche Eingreifen eines staatlichen Vollzugsorgans in die Rechtssphäre des Bürgers bedürfe einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung, finde diese aber nicht schon in dem allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Notwehr. Nach dieser Auffassung dürfte der Polizist keinen gezielten Todesschuß auf den Erpresser, Mädchenhändler oder den in die Geraubte verliebten Entführer abgeben, auch wenn nur so die Entführung der Frau, d. h. der Angriff allein auf die Freiheit des Opfers zu verhüten wäre, weil eben keine gegenwärtige Lebens- oder Leibesgefahr vorläge 526 . Erst recht wäre danach ein Kopfschuß nicht gerechtfertigt, ohne den ein (z. B. durch eine schulterhohe Mauer von dem Verteidiger und Verfolger getrennter oder durch eine kugelsichere Weste geschützter) Dieb nicht am Entkommen mit der Millionenbeute 527 oder ein Spion am Übertritt über die Grenze und staatsgefährdenden Verrat von wichtigen militärischen Geheimnissen zu hindern wäre 528 . Nach der extremsten Ansicht, die sogar im Falle der Se/òs/verteidigung einen 267 polizeilichen Schußwaffengebrauch nur unter den engen Voraussetzungen des Polizeirechts und nicht unter den allgemeinen Bedingungen des Notwehrrechts erlauben will (s. Fußn. 525), dürfte der Beamte in dem oben (s. Rdn. 262) gebrauchten Rocker-Beispiel keinen gezielten Todesschuß abgeben, selbst wenn dies die einzige und letzte Möglichkeit wäre, seine Ehre und Freiheit wirksam zu verteidigen. Will man aber nicht nur immer von dem „Würdeanspruch" des Verbrechers sprechen, sondern endlich auch einmal gebührend die Personenwürde des Angegriffenen anerkennen und ihn nach § 32 StGB rechtfertigen 529 , so ist schlecht einzusehen, warum der Polizist nicht ebenso handeln dürfte, ja müßte, sobald er einen anderen, z. B. eine Frau, vor solch einem Angriff auf ihre Ehre und Freiheit bewahren und polizeiliche NotA/7/e üben würde.

525 So (allerdings nicht widerspruchsfrei) Scheer Die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch die Verwaltungs- und Polizeibehörden, NdsUZwVO v. 15.11.1951 (1956) S. 90 (andererseits S. 106!) — zu diesem auch kritisch Bergschneider S. 79/80 ob.! — ; ferner z. T. Klinkhardt VerwArch 55 (1964) 349; 56 (1965) 61 ff, 69, 71 in nicht eindeutigen Ausführungen (zu diesem kritisch auch Schwabe JZ 1974 635 Anm. 17 und Bockelmann in Dreher-Festschr. S. 240 zu a); Linder Die Polizei 1972 278 m. Sp., 279; schließlich Seelmann ZStrW 89 (1977) 50 ff, 56; Scholler-Broß Grundz. d. Polizei u. Ordnungsrechts . . . 2. Aufl. (1978) S. 231. 526 So in der Tat befremdlicherweise Krüger NJW 1973 3 1. Sp., Funk-Werkentin Krit. Just. 1976 133 vertreten die abwegige Ansicht, daß ein gezielter Todesschuß unzulässig sei, wenn und weil man z. B. durch Aushungern den Geiselnehmer zur Aufgabe und Freigabe seines Opfers zwingen könne. Keine Geisel braucht sich der tage- oder wochenlangen Tortur einer Geiselhaft aussetzen zu lassen; die obrigkeitliche wie die private Nothilfe muß sofort und endgültig wirken dürfen. Wenig klar Klose ZStrW 89 (1977) 93/94. 527 So überraschenderweise Rieh. Lange JZ 1976 548 1. Sp., nach dem „niemand absichtlich einen Dieb totschießen" dürfe — „und wenn dieser den ,Mann mit dem Goldhelm' stiehlt"; ferner für den Diebstahlsfall Kinnen MDR 1974 631; Krüger Kriminalistik 1975 388 1. Sp. Dagegen wird von Lerche in v. d. Heydte-Festschr. (1977) II S. 1048 in solchen Fällen schwerer Eigentumsverletzung die Rechtfertigung wenigstens erwogen. 528 Als „ungereimte Konsequenz" wird dieses Ergebnis angesehen auch von Lerche in seinem Gutachten zum Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes... (1975) S. 36 ob. i . V . m . S.31. 529 Daß man oft mehr an die „Menschenwürde" des Rechtsbrechers als an die seines Opfers denkt, rügt mit Recht Joachim Schmidt NJW 1973 449. (121)

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Die vorstehenden Beispiele machen deutlich, welch schlechte und „graue Theorie" die erste Ansicht ist. Es liegt daher nahe, sich für die zweite Alternative zu entscheiden, die die polizeirechtliche Regelung des Schußwaffengebrauchs in den Notwehr- und Nothilfefällen praktisch wieder aufhebt. Diese Auffassung, nach der die Notwehrverweisung in den Polizeigesetzen über die Anwendung unmittelbaren Zwanges nur deklaratorische Bedeutung hat 5 3 0 und das allgemeine Notwehrrecht auch das hoheitliche Handeln des Polizeibeamten gegenüber dem Angreifer rechtfertigen kann, ist im Strafrecht vorherrschend (BGH LM § 53 a. F. StGB Nr. 5 = NJW 1958 1405 [nur Leitsatz]; für den früheren Rechtszustand dezidiert RG DRiZ 1924 391; JW 1925 962; s. ferner RGSt. 61 216; 65 392, 395 unt.; 67 337, 339; 72 305, 306; RGZ 111 1, 2)531. D e n n der Amtsträger dürfe als Rechtsgenosse und Bürger („Bürger in Uniform") nicht schlechter gestellt sein als der Private. Er habe nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zur Gefahren- und Angriffsabwehr; diese Pflicht könnten die Vorschriften über den Schußwaffengebrauch einschränken, nicht aber das Recht 5 3 2 . Wie die strafrechtlichen Verbots- und Gebotsnormen ziviles und — ζ. T. sogar ausschließlich (s. §§ 331 ff StGB) — hoheitliches Verhalten verbieten und bestrafen würden, so würden sie privates und amtliches Handeln erlauben533 ; die Notrechtsvorbehalte in den Polizeigesetzen würden diese Rechtslage nur bestätigen.

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In den im vorigen angeführten Fällen wäre also der Schuß, in ganz seltenen Ausnahmefällen selbst der gezielte Todesschuß des Polizeibeamten als hoheitliche Maßnahme durch Notwehr bzw. Nothilfe gerechtfertigt. Daraus wird gelegentlich ausdrücklich gefolgert, daß diese Handlung des Amtsträgers nicht nur straf-, zivil(s. auch schon BayObLGZ 29 314, 318; OLG[Z] Karlsruhe HRR 1931 Nr. 1130) und polizeirechtmäßig, sondern auch nicht disziplinanechts widrig sei, da dem Beamten schlecht als dienstliche Pflichtverletzung angelastet werden könne, was er gerade in Erfüllung seiner Dienstaufgabe getan habe 5 3 4 . Nicht dezidiert ausgesprochen wird, daß von diesem Standpunkt aus die Regelung des Schußwaffengebrauchs in den Polizeigesetzen geradezu eine unerfreuliche Augenwischerei wäre, da danach die Befugnis zum Schußwaffengebrauch zunächst nicht unwesentlich eingeschränkt, dann aber durch die Hintertür des Notwehr- und Nothilferechts wieder ohne diese Einschränkungen zugelassen würde 5 3 5 .

530 So klar Bremer S. 99; Rieh. Lange JZ 1976 547 r. Sp.; Bockelmann Dreher-Festschr. S. 241; Schaffstein Schröder-Gedächtnisschr. S. 108 ob. 531 Wie hier Baldus LK9 I (1974) §53 a. F. Rdn. 53; Bockelmann Dreher-Festschr. S. 247; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 42 a; Schwabe JZ 1974 635 ff, 638; ders. NJW 1977 1902 ff, 1906; ders. Die Notrechtsvorbehalte . . . S. 54 ff; Rieh. Lange JZ 1976 546; Rainer Müller KarlsrKomm. zur StPO (1982) § 163 Rdn. 12; Drews-Wacke-Vogel-Martens Gefahrenabwehr, 8. Aufl. I (1975) S. 332 f (nicht widerspruchsfrei); Bremer S. 95, 100. 532 So dezidiert Bockelmann Dreher-Festschr. S. 242. 533 In diesem Sinne Schwabe JZ 1974 636 1. Sp.; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 42 a. 534 Wie Rieh. Lange (S. 13) auch Bockelmann in seinem Gutachten zum ME eines einheitlichen Polizeigesetzes . . . (1975) S. 13 ob. In seinem ζ. T. gleichlautenden Beitrag zur Dreher-Festschr. S. 243 ob. ist der betreffende Satz zur Disziplinarrechtmäßigkeit weggelassen, was aber nach Auskunft des Autors keine Aufgabe seiner Auffassung bedeutet. 535 Lenckner in Schönke-Schröder Rdn. 42 a (S. 453 unt.) bezeichnet diese befremdliche Gesetzestechnik in noch sehr milder Kritik als „wenig folgerichtig", als „Widerspruch" oder „Unstimmigkeit" und läßt es dahingestellt, ob ihr nicht vielleicht nur eine bestimmte „politische Optik" (sie!) zugrunde liege! (122)

Notwehr (Spendei)

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Wer den Gesetzgebern solche Motive nicht zutrauen will, wird, um der Regelung 270 einen halbwegs vernünftigen Sinn zu geben und die Diskrepanz zwischen engerem und speziellem Polizeirecht und weiterem und allgemeinem Notwehrrecht zu mildern, die schroffe Alternative vermeiden und sich statt für ein Entweder-Oder für ein Sowohl-als auch entscheiden. Er wird also weder die Einschränkung des Rechts zum Schußwaffengebrauch durch die Polizeigesetze noch die „Nichtbeschränkung" auf Grund der Notwehrverweisungen für „gegenstandslos", vielmehr beide für beachtlich halten und damit die „Quadratur des Kreises" versuchen 536 Nicht läßt sich allerdings ein Ausweg aus dem Dilemma in der Überlegung fin- 271 den, daß der Vollzugsbeamte, soweit er sich in einer Notwehr- oder Nothilfesituation befinde, nicht als Hoheitsträger, sondern als Λίνα/person auftrete 537 . Denn dies würde zu der grotesken Konsequenz oder zu der mehr seltsamen als „erheiternden Fiktion" 538 führen, der im Polizeieinsatz stehende und in einen Schußwechsel verstrickte Beamte müsse und könne sich je nach der wechselnden Sachlage fortlaufend wie ein Chamäleon wandeln und bald in der ersten, bald in der zweiten Eigenschaft handeln. Richtigerweise ist auch der in Notwehr (Se/Zwfverteidigung) oder zur Nothilfe (Nächstenbilfe) abgegebene Schuß des im Dienst befindlichen Polizisten eine hoheitliche H a n d l u n g 539. Es ist ja noch niemand auf den abstrusen Gedanken verfallen, daß der Infanterist, der sich im Nahkampf seiner Haut wehrt, nicht als Soldat im militärischen Einsatz, sondern als Privater in Uniform sein Leben verteidige 540 . Nicht läßt sich der Zwiespalt der Regelung damit überwinden, das Notwehrrecht 272 sei auf Grund der Notrechtsverweisung dem Polizeirecht „inkorporiert" und dieses dadurch dem Strafrecht gleichsam parallel geschaltet, gegebenenfalls unter den besonderen Gesichtspunkten des öffentlichen Rechts wie dem Gebot der Verhältnismäßigkeit usw. 541 . Denn abgesehen von dem Wortlaut der Notrechtsvorbehalte (meist: „ . . . bleiben unberührt") wäre damit noch immer nicht das einschränkende „nur" des Rechts zum Schußwaffengebrauch erklärt 542 . Keine befriedigende Lösung der Diskrepanz, sondern eine eigenartige Betonung 273 des Widerspruchs ist schließlich die heute — im Gegensatz zur Strafrechtslehre! — vor allem im öffentlichen Recht vertretene Meinung, daß der Schuß des Polizeibeamten und die dadurch bewirkte Verletzung oder Tötung des Täters zwar wegen Vorliegens der allgemeinen Notwehrvoraussetzungen straf- und zivilrechtmäßig, dagegen mangels Erfüllung der speziellen Polizeivorschriften (s. z. B. Art. 39 II i. V. m. Art. 45 II BayPAG) polizehechts- und auch disziplinarrechtswidrig sein 536 Für solch ein nicht ohne Rest lösbares Problem wird die Interpretation des polizeilichen Rechts zum Schußwaffengebrauch auch von Schaffstein in Schröder-Gedächtnisschr. S. 104 unt. (s. weiter S. 111 und 114) gehalten, z.T. mehr komplizierende als klärende Abhandlungen (s. z. B. Klose ZStrW 89 (1977) 61) auslösend. 537 So z. B. RupprechtiZ 1973 265 vor Nr. 2 c, 267 1. Sp.; Kinnen MDR 1974 633/634; Krüger Kriminalistik 1975 387 r. Sp.; ders. Polizeil. Schußwaffengebr. S. 94 f.; Volkmar Götz Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. (1982) S. 176. 538 Schwabe Die Notrechtsvorbehalte . . . (1979) S. 15. 539 Schwabe JZ 1974 635; ders. Die Notrechtsvorbehalte . . . (1979) S. 14 ff, 17; Lerche in v. d. Heydte-Festschr. II S. 1037 zu Nr. 5 ff, 1042/1043. 540 So treffend Lerche in v. d. Heydte-Festschr. II S. 1042. 541 Dazu Lerche in v. d. Heydte-Festschr. II S. 1047; Merten in seinem Gutachten zum ME eines einheitl. Polizeigesetzes . . . (1975) S. 15. 542 Gegen die Inkorporationsthese näher Schwabe Oie Notrechtsvorbehalte . . . (1979) S. 38 f. (123)

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könne, weil es über die engen Grenzen des polizeilichen Waffengebrauchsrechts hinaus an einer speziellen Eingriffsbefugnis fehle 5 4 3 . Diese Auffassung muß nicht nur für einen Laien geradezu „schizoid" wirken, weil sie einen einheitlichen Hoheitsakt hinsichtlich des gleichen Bezugsobjekts, d. h. bezüglich des Angreifers in der rechtlichen Wertung zerreißt544, und zwar das, was in Erfüllung polizeilicher Aufgaben (Gefahrenabwehr und Verbrechensverhinderung) gerade tatsächlich erforderlich war, als „polizeiliches t/wrecht" dem Rechtsbrecher gegenüber wertet und womöglich den Staat einer (früher) Amts-, (heute) Staatshaftung 545 aussetzt. Eine solche Ansicht bedeutet den teilweisen Verzicht des Staates auf sein Recht und seine Pflicht zur Angriffsabwehr, seine teilweise Abdankung zugunsten einer etwaigen privaten Selbst- oder Nächstenhilfe. 274

Gegen die im öffentlichen Recht meist vertretene Lehrmeinung spricht u. a. ihre befremdliche Auswirkung: Einerseits würde danach der Verbrecher, der hohe Sachwerte durch Diebstahl oder Sachbeschädigung angreift, keinen nach § 113 StGB rechts widrigen und strafbaren Widerstand gegen die Staatsgewalt leisten, wenn er sich gegen den zur Verhinderung der Straftat notwendig werdenden Schußwaffengebrauch des Polizeibeamten zur Wehr setzte, da die vorzunehmende Diensthandlung (drohender Schuß) des Vollzugsorgans gegen den Angreifer (polizei)rechtswidrig sein soll; andererseits würde der Täter doch wieder eine rechts widrige und strafbare Nötigung oder Körperverletzung gegen den Polizisten begehen, wenn er sich des zur Schußwaffe greifenden Amtsträgers erwehrte, da der Schußwaffengebrauch als amtliche Nothilfe (strafirechtmäßig ist und es daher keine Notwehr des Angreifers gegen Notwehr des Verteidigers (Nothelfers) gibt 5 4 6 .

275

Um zu einer Harmonisierung von Straf- und Zivilrecht zur Notwehr auf der einen, von Polizeirecht zum Schußwaffengebrauch auf der anderen Seite zu kommen (s. Rdn. 270), ist im Ergebnis weitgehend der im Strafrecht vorherrschenden Auffassung zuzustimmen und an folgendem festzuhalten: Der (sei es nur auf Verletzung, sei es sogar auf Tötung gerichtete) Schuß des Polizeibeamten, der als letztes Mittel zur Rettung eines Angegriffenen notwendig wird, ist bezüglich des Angreifers rechtlich immer einheitlich zu bewerten und deshalb auch als hoheitliches (polizeili543 Conen Die Polizei 1973 68 m. Sp., 72 1. Sp.; Kratzsch NJW 1974 1546; Berndt Die Polizei 1975 198; Bucheri S. 153/154, 167; Merten in seinem Gutachten zum M E eines einheitl. Polizeiges. (1975) S. 34 ff., 36, 41 (anders ders. in: Merten Aktuelle Probleme des Polizeirechts (1977) S. 101 vor Nr. 2); Schmidhäuser in seinem Gutachten zum ME S. 2, 12; ders. in: Merten Aktuelle P r o b l e m e . . . S. 59/60; Kirchhof m seinem Gutachten zum ME S. 70, 77, 79; ders. NJW 1978 969 ff, 972; Götz Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. (1982) S. 174 ff; Schumann Grundriß des Polizei- und Ordnungsrechts (1978) S. 154/155; Berner (Bay.) Polizeiaufgabengesetz, 8. Aufl. (1979) Art. 39 Rdn. 5; Art. 45 Rdn. 7; Samper (Bay.) Polizeiaufgabengesetz, 11. Aufl. (1980) Art. 39 Anm. 4; Seebode S. 104; vor allem auch Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes (1975) S. 16/17 = Heise-Riegel Musterentwurf..., 2. Aufl. (1978) S. 22 und eingehend anhand eines theoretischen Falles Kirchhof JuS 1979 429, 433. 544 Hierzu näher kritisch Schwabe Die Notrechtsvorbehalte . . . S. 42 ff. 545 So jedoch Conen Die Polizei 1973 71 r. Sp./72 1. Sp. zu Nr. VI 2; Götz Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. (1982) S. 175 („amtspflichtwidriges Verwaltungshandeln") und näher zu der Frage Kirchhof JuS 1979 430 zu Nr. III, 434 zu Nr. III; s. schließlich noch AE PolG (1979) S. 52. 546 Diese Schlüsse zieht in der Tat ausdrücklich Merten in seinem Gutachten zum ME eines einheitl. PolGes. (1975) S. 41, ohne das Ergebnis als unsystematisch, ja absurd zu empfinden. (124)

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ches) Handeln gemäß § 32 StGB zu rechtfertigen, also nicht allein als straf- und zivilrechtmäßig, sondern auch als polizeircchtmäßig zu qualifizieren. Wenn trotzdem die verwickelte und verwirrende, jedenfalls höchst unglückliche 276 Regelung der Polizeigesetze zum Schußwaffengebrauch eine eigene Bedeutung behalten und nicht „illusorisch" werden soll 5 4 7 , dann ist sie dahin zu deuten, daß sie für den Polizeibeamten das jedem Bürger zustehende allgemeine Notwehrrecht zum Teil zwar praktisch einschränkt, zum Teil aber auch, so paradox diese These zunächst scheinen mag, rechtlich erweitert. Soweit nach Art. 46 I Nr. 1 i. V. m. Art. 45 II S. 1 BayPAG (das hier zugrunde gelegt werden darf, weil es den „gezielten Todesschuß" ausdrücklich regelt, ebenso jetzt §§ 54—56 NdsSOG v. 17.11.1981) eine Person zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebens- oder Leibesgefahr angeschossen oder nach Art. 45 II S. 2 zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensoder schweren Körpergefahr erschossen werden darf, ist das Polizeirecht als eine Erweiterung des allgemeinen Notwehr- und Nothilferechts aufzufassen. Denn der Begriff der gegenwärtigen Lebens- und Leibesgefahr, zu deren Beseitigung ein verletzender oder sogar tödlicher Schuß notwendig wird, ist weiter als der Begriff des gegenwärtigen Angriffs 548 . So kann von einem gewalttätigen und rücksichtslosen Schwerverbrecher eine gegenwärtige Dauergefahr für Leib oder Leben anderer Menschen ausgehen, ohne daß er im Augenblick jemand angreift, etwa von einem langgesuchten und schwerbewaffneten Mörder, der öffentlich verkündet hat, noch mehrere Polizeibeamte „mitzunehmen", falls diese ihn festzunehmen versuchten (Fall des französischen Gangsters Mesóne). In einer solchen ganz besonderen und seltenen Ausnahmesituation wäre es nach dem Wortlaut des BayPAG 5 4 9 bzw. des Art. 41 II ME eines einheitl. PolGes. (wenn auch nicht nach den Motiven des Gesetzgebers) unt. Umst. zulässig, daß die Beamten das Feuer auf den von ihnen aufgespürten hochgefährlichen Kriminellen zuerst eröffnen, bevor er die Beamten bemerkt hat und zu der neben ihm im Wagen liegenden Handgranate greifen und ein Blutbad anrichten kann (so im Fall Mesrine). Hier läßt sich zwar eindeutig von der Gegenwärtigkeit einer „Lebensge/izAr" für die Polizisten, aber kaum von der Gegenwärtigkeit eines „Angriffs" durch den Verbrecher sprechen. Das polizeiliche Schußwaffenrecht gewinnt insofern eine selbständige Bedeutung neben dem allgemeinen Notwehrrecht, als sich ihm hinsichtlich der von Personen drohenden Leibes- und Lebensgefahr ein Recht der Polizei zu einer Art von „Präventivnotwehr" entnehmen läßt, wie es heute für Private bei anderen Fallgestaltungen in Betracht gezogen worden, hier jedoch abzulehnen ist (s. oben Rdn. 127 ff)· Daß gerade diese

547 Wie Conen Die Polizei 1973 66 1. Sp. in seiner Kritik an der Ansicht, nach der die strengen polizeirechtlichen Voraussetzungen des Schußwaffengebrauchs auf dem Wege über das Nothilferecht „jederzeit suspendiert werden können", rügt. Von einer „Umgehung" des Polizeirechts spricht z. B. Gintzel Die Polizei 1972 4 1. Sp. in z. T. wenig folgerichtigen Ausführungen. 548 Ein anschauliches Beispiel ist dafür der gerade dem Polizeirecht bekannte Begriff der „ Angriffsge/aA^', also der Möglichkeit eines Angriffs und der Vorstufe zu einem wirklichen Angriff, die Voraussetzung der Fesselung einer festgehaltenen Person, s. Samper (Bay) Polizeiaufgabengesetz, 11. Aufl. (1980) Art. 44 Erl. 5 (S. 348). 549 Art. 46 I Nr. 1 BayPAG: „Schußwaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren"; Art. 45 II S. 2 BayPAG: gezielter Todesschuß „nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Körperverletzung ist." Ebenso §§ 55 I Nr. 1, 54 II NdsSOG vom 17. 11. 1981. (125)

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2. Abschnitt. Die Tat

Möglichkeit nicht unbedenklich ist, weil sie zu Übergriffen verleiten kann, bedarf keiner näheren Darlegung. 277 Ein solches Recht läßt sich auch dort, wo der auf Tötung gerichtete Rettungsschuß polizeigesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist, aus den allgemeinen Vorschriften über den Schußwaffengebrauch herleiten. Denn die zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebens- und Leibesgefahr erforderliche Angriffsunfähigkeit des Verbrechers kann in besonderen Ausnahmesituationen selbst die gezielte Tötung des aktuellen oder potentiellen Angreifers notwendig machen 5 5 0 . Man denke an den Fall des Geiselnehmers, der sein Opfer zunächst nur gefangen hält, aber auch vor dessen Ermordung nicht zurückschreckt, wenn seine Forderungen nicht erfüllt werden. In dem Augenblick, in dem sein Kopf am Fenster erscheint, liegt nur ein gegenwärtiger „Angriff" auf die Freiheit, dagegen eine gegenwärtige „Gefahr" für das Leben der Geisel vor. Der Scharfschütze, der den Verbrecher allein durch einen gezielten Kopfschuß unschädlich machen und so sofort und endgültig das Opfer befreien kann, handelt dann nicht nur nach § 32 StGB 5 5 1 , sondern auch nach den Gesetzen über den Schußwaffengebrauch 552 ebenso polizei- wie strafiechtsmäßig. Hier eine Amtspflichtwidrigkeit der Beamten zu erwägen, die ihre Pflicht zur Verbrechensverhinderung und Geiselrettung gerade erfüllt haben, wäre im wahrsten Sinne des Wortes verkehrt. 278

Soweit das Polizeirecht außerdem den Schußwaffengebrauch nur zur Verhinderung von Verbrechen oder bestimmten (unter Anwendung oder Mitführung von Schußwaffen oder Explosivmitteln zu begehenden) Vergehen gestattet (s. ζ. B. Art. 46 I Nr. 2 BayPAG), bedeutet es praktisch eine Einschränkung des allgemeinen Selbstverteidigungs- und Nothilferechts. Eine solche Einengung vermag allerdings für das „Außenverhältnis" zwischen Vollzugsorgan und Angreifer keine Wirkung zu beanspruchen, und zwar nach landesgesetzlichem Polizeirecht schon deshalb nicht, weil dieses das bundesgesetzliche Notwehrrecht nicht abändern kann, nach bundesgesetzlichem Recht über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Bundesvollzugsbeamte (s. § 10 I Nr. 1, III, 12 II UZwG) deswegen nicht, weil dieses, wie der Notrechtsvorbehalt zeigt, das Notwehr- und Nothilferecht nicht abändern will. 279 Von einer „Polizeirechtswidrigkeit" läßt sich in diesen letzten Fällen der „Einschränkung" höchstens für das „Innenverhältnis" zwischen Amtsträger und Staat, 550 Ebenso überzeugend Drews- Wacke-Vogel-Martens Gefahrenabwehr, 8. Aufl. (1975) S. 333; ferner v. Winterfeld NJW 1972 1884; Κrey- W. Meyer Z R P 1973 3; Wilfr. Lange M D R 1974 359 1. Sp. ; Hummel-Liljegren Die Polizei 1977 373 ff; Samper (Bay.) Polizeiaufgabengesetz, 11. Aufl. (1980) Art. 45 Anm. 5 (S. 354); dagegen z.B. Rupprecht JZ 1973 265; Berndt Die Polizei 1975 198 m. Sp.; Krüger Kriminalistik 1975 387 1. Sp.; Seebode BKA-Vortragsr. 26 (1981) S. 103 Anm. 19, S. 105. 551 So jedoch die Rechtspraxis ζ. B. im Münchener Geisel-Fall 1971, Schroeder Polizei und Geiseln, Der Münchener Bankraub (1972) S. 128; in der Rechts/eAre ζ. B. Schwabe JZ 1974 638 (nicht ganz konsequent); ders. Die Notrechtsvorbehalte . . . S. 33 f; Rieh. Lange JZ 1976 547; Bockelmann in Dreher-Festschr. S. 235 ff, 247; Schaffstein in SchröderGedächtnisschr. S. 113/114 (allerdings eingeschränkt durch Verhältnismäßigkeitsgrundsatz!); Dreher-Tröndle Rdn. 6 vor §32 (S. 158); vor allem auch Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 42 f. Nach Hug S. 38, 270 wird in der Schweiz das Notwehrrecht „zu den wesentlichsten Grundlagen des polizeilichen Schußwaffengebrauchsrechtes" gezählt, soll aber den auf Tötung des Angreifers zielenden Rettungsschuß nur bei Lebens- oder Leibesgefährdung erlauben. 552 So die in Anm. 550 anfangs genannten Autoren. (126)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

also für die Beziehung des Polizeibeamten zu seinem Dienstherrn sprechen 553 . Schießt z. B. der Polizist auf die Beine eines mit der Beute flüchtenden Diebes, da nur so noch im letzten Augenblick auf einem Rast- oder Parkplatz die Entwendung eines gewöhnlichen Reisekoffers zu verhindern ist, so ist diese polizeiliche Nothilfe dem Angreifer gegenüber in jeder Hinsicht gemäß § 32 StGB rechtmäßig, mag die Diensthandlung auch „intern" polizei- und dienstrechtlich zu beanstanden sein, wenn und weil der Schütze den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur hinsichtlich des Angriffs- und Abwehrverhaltens, nicht aber auch bezüglich des zu bewahrenden und zu opfernden Rechtsgutes (nicht hohes Sachgut des Angegriffenen — körperliche Unversehrtheit des Angreifers) beachtet hat 5 5 4 . Hat dagegen der Beamte allein durch den Schuß den Diebstahl eines Koffers mit Juwelen oder Banknoten verhüten und dem angegriffenen Juwelier oder Geldboten beistehen können, wären disziplinarrechtliche Maßnahmen wohl schwerlich angebracht. Daß damit über den dem Strafgesetz (§ 32 StGB) gemäß, dem Polizeigesetz (z. B. 280 Art. 46 I Nr. 2 Bay PAG) zuwider handelnden (weil die Schußwaffe gebrauchenden) Polizeibeamten das Damoklesschwert einer möglichen Disziplinarstrafe hängt 5 5 5 , ist ein höchst unbefriedigender Rechtszustand und muß die Entschlußfähigkeit des Vollzugsorgans lähmen. Es ist daher nicht nur „sinnvoller", sondern sogar geboten, „das polizeiliche Schußwaffen-Gebrauchsrecht mit dem Norwehr-/Nothilferecht zur Deckung zu bringen", und zwar durch eine Erweiterung des ersteren556, dem jedoch eine unnachsichtige straf- und disziplinarrechtliche Verfolgung polizeilicher Übergriffe gegenüberstehen müßte. Ferner ist zur Vermeidung etwaiger Über- und Mißgriffe zu fordern, daß ebenso, wie die polizeiliche Befugnis zur Verwendung der Schußwaffe zwecks Abwehr eines zur Gewißheit bestehenden Angriffs zu erweitern, sie zwecks Festnahme wegen einer nur auf Verdacht gegründeten Tat 5 5 7 einzuschränken ist.

553 Gegen eine solche Deutung des polizeilichen Rechts zum Schußwaffengebrauch jedoch Lerche in v. d. Heydte-Festschr. II S. 1043 unt. ff, 1045 unt. 554 Schaffstein in Schröder-Gedächtnisschr. S. 111 ff will den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in diesem zweiten Sinn, d. h. hinsichtlich der kollidierenden Güter, auch im „Außenverhältnis", also gegenüber dem Angreifer berücksichtigen, schränkt damit aber das Notwehrrecht des Amtsträgers ein. Diese Diskrepanz, daß dann sogar straf- und zivilrechtlich der polizeiliche Nothelfer weniger Rechte hätte als der Private, soll zu „jenem Rest der Rechnung" gehören, ohne den sie nicht aufgehe. Für das Se/fesiverteidigungsrecht des Beamten wäre diese Konsequenz noch unerträglicher; s. auch Roxin Strafverfahrens^, 17. Aufl. (1982) S. 182. 555 Dafür z. B. außer Wilfr. Lange M D R 1974 358 r. Sp.; M D R 1977 12 r. Sp. und Merten in seinem Gutachten zum M E vor allem die Begründung zum Entwurf, s. Heise-Riegel Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes, 2. Aufl. (1978) S. 22 und 111, nach der jedoch die disziplinarrechtliche Belangung bei Überschreitung der polizeirechtlichen Befugnisse in Notwehr- und Nothilfesituationen „ein mehr theoretischer Fall sein dürfte", was von Berner (Bay.) Polizeiaufgabengesetz, 8. Aufl. (1979) Art. 39 Rdn. 5 (S. 158) kritikund kommentarlos übernommen wird, aber den schon oben Rdn. 269 wiedergegebenen zwiespältigen Eindruck hervorrufen muß. Vgl. ferner AEPolG (1979) S. 52. 556 So die berechtigte Forderung von Wilfr. Lange M D R 1977 14 1. Sp. 557 Vgl. z. B. Art. 46 I Nr. 3 Bay PAG: Schußwaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden, „um eine Person anzuhalten, die sich der Festnahme oder Identitätsfeststellung durch Flucht zu entziehen versucht, wenn sie a) eines Verbrechens dringend verdächtig ist oder b) eines Vergehens dringend verdächtig ist und . . . " . (127)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

4. Keine Einschränkung wegen „Notwehrprovokation" Schrifttum Baumann Rechtsmißbrauch bei Notwehr MDR 1962 349; Bertel Notwehr gegen verschuldete Angriffe, ZStrW 84 (1972) 1; Bockelmann Notwehr gegen verschuldete Angriffe, HonigFestschr. (1970) S. 19; Finkler Oie provozierte Notwehr, Diss. Erlangen 1936; Gutmann Die Berufung auf das Notwehrrecht als Rechtsmißbrauch? NJW 1962 286; Hassemer Die provozierte Provokation oder Über die Zukunft des Notwehrrechts, Bockelmann-Festschr. (1979) S. 225; Himmelreich Erforderlichkeit der Abwehrhandlung, Gebotensein der Notwehrhandlung; Provokation und Rechtsmißbrauch..., GA 1966 129; Immich Die herausgeforderte Notwehr, Diss. F r a n k f u r t / M 1934; Lenckner Notwehr bei provozierten! und verschuldetem Angriff, GA 1961 299; Roxin Die provozierte Notwehrlage, ZStrW 75 (1961) 541; Rudolphi Notwehrexzeß nach provozierten! Angriff, JuS 1969 461 ; Schöneborn Zum Leitgedanken der Rechtfertigungseinschränkung bei Notwehrprovokation, NStZ 1981 201; Schröder, Horst Notwehr bei schuldhaftem Vorverhalten, JuS 1973 157.

281

Die schuldhafte Provokation des Angriffs soll — entgegen der früher meist und heute wieder vereinzelt vertretenen Auffassung 558 — nach der zur Zeit vorherrschenden, aber uneinheitlichen Meinung das Notwehrrecht des Angegriffenen mehr oder minder weitgehend einschränken, wenn nicht gar aufheben 5 5 9 . Die Unterscheidungen und Begründungen hierfür sind mannigfach, die Ergebnisse jedoch nicht überzeugend. Richtig ist, so überraschend das auch zuerst klingen mag, die erste Ansicht. 282 Der krasseste Fall ist die „Absichtsprovokation" : Jemand fordert einen anderen absichtlich heraus, um diesen dann als Angreifer in Notwehr verletzen zu können. Hier scheint es zunächst naheliegend, den hinterlistigen Provokateur nicht noch von Rechts wegen zu schützen und für gerechtfertigt zu erklären 560 . Nach einer besonders in der Rechtsprechung vertretenen Meinung (RG DR 1939 364 Nr. 11 ; s. auch RG HRR 1940 Nr. 1143 a. E.; BGH NJW 1962 308; BGHSt. 24 356, 359; OLG Hamm NJW 1977 590, 591 r. Sp.) kann sich der Herausforderer deshalb „nicht auf Notwehr berufen", weil in diesem Falle „mehr als bloße Verschuldung

558 So schon Binding Handb. S. 749 und Anm. 60; ders. Normen II 1 S. 621 ff, 624/625; Ad. Merket Lehrb. d. dtsch. Strafr. (1889) S. 163; Finger Lehrb. d. Dtsch. Strafr. (1904) S. 387; Wachenfeld Lehrb. d. dtsch. Strafr. (1914) S. 118; Schwartz Das StGB f. d. Dtsch. Reich (1914) § 53 a. F. Anm. 2 f (S. 170); M. E. Mayer KT S. 279 ob.; Frank ξ 53 a. F. Anm. I.2.b) (S. 161 unt.); Gerland S. 148 zu e); v. Liszt-Schmidt AT S. 195/196; Allfeld S. 126; neuerdings eingehend Bockelmann in Honig-Festschr. S. 19 ff; ders. AT S. 95 (§ 15 Β 2 e); Winfr. Hassemer in Bockelmann-Festschr. S. 243; s. ferner v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 160/161 und Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 348/349 mit der Einschränkung, daß dies nicht für die absichtliche Provokation eines Schuldunfahigen oder Irrenden gelte. 559 ζ . B. Rob. v. Hippel m ZStrW 42 (1921) 417; ders. ZStrW 47 (1927) 32; ders. II S. 196 und Anm. 6 und 7, S. 211 ; Lobe LK.5 (1933) § 53 a. F. Anm. 4 (S. 389); Niethammer in v. Ophausens Komm. § 53 a. F. Anm. 4; Mezger Lehrb. S. 234; Hellm. Mayer StudB S. 101; Welzel S. 87 ob., 88; Baldus LK9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 37; Baumann AT S. 304 f (§ 21 I 3 b); Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 387 (§ 26 II Β 2 c); Wessels AT S. 79 (§ 8 V 3); DreherTröndle Rdn. 23 ; im Z¡vi7recht ζ. B. v. Tuhr Der Allgem. Teil des Deutsch. Bürgerl. Rechts II 2 (1918, Neudr. 1957) S. 584 zu Anm. 25; Herrn. Dilcher in v. Staudingers Komm, zum BGB, 12. Aufl. I (1979) §227 Rdn. 26; Palandt-Heinrichs BGB 41. Aufl. (1982) §227 Anm. l.e). 560 Vgl. die Überlegung von Binding Normen II 1 S. 624/625, der aber in diesem Falle nur de lege ferenda für eine „Versagung des Notwehrrechts" ist. (128)

Notwehr (Spendei)

§32

561

des Angriffs" vorliege , weil er seine Notwehrbefugnis mißbrauche, der offenbare Rechtsmißbrauch aber keinen Schutz verdiene 5 6 2 . Eine andere ebenfalls in der Judikatur anzutreffende Ansicht verneint die Notwehr mit der Begründung, d a ß der Provokateur keinen (angeblich notwendigen) Abwehr-, sondern einen Angriffswillen habe ( R G Ztschr. f. Rechtspflege in Bayern 1909 1 3 1 / 1 3 2 563; r g H R R 1940 Nr. 1143; B G H bei Dallinger M D R 1954 335 1. S p . ) 5 6 4 . Während diese beiden Auffassungen auf die Bewertung der beabsichtigten Ver- 2 8 3 teidigungs- u n d Verletzungshandlung abstellen u n d sie, weil vom angegriffenen Herausforderer selbst verursacht u n d verschuldet, für nicht durch Notwehr gerechtfertigt halten, zielt eine dritte Lehrmeinung auf die schuldhafte Provokation selbst u n d erblickt in ihr die eigentliche (vorsätzliche oder fahrlässige) Straftat. D e n n die schuldhafte (z. B. absichtliche) Veranlassung des Angriffs u n d dessen (den Angreifer verletzende) Abwehr stelle sich — nach manchen Autoren gleich oder ähnlich der „actio libera in causa" 5 6 5 — als eine (z. B. absichtliche) „actio illicita in causa" d a r 5 6 6 . D a n a c h wäre die beabsichtigte oder auch nur vorhersehbare Verteidigungsund Verletzungshandlung zwar als solche durch Notwehr gerechtfertigt, aber das den Angriff provozierende Korverhalten strafbar^. 561 So schon Oetker VDA II (1908) S. 271 inkonsequent nach seinem richtigen Ausgangspunkt, daß eine verschuldete Provokation nicht etwa das Notwehrrecht beseitige. 562 Ebenso Welzel S. 87 ob.; Rudolphi JuS 1969 464; Schröder JuS 1973 158 r. Sp.; Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 37; Lackner Rdn. 3 a) aa); Wessels AT S. 79 (§ 8 V 3); im Zivi/recht z. B. Palandt-Heinrichs BGB 41. Aufl. (1982) § 227 Anm. l.e). 563 In diesem Falle war allerdings der Provozierte nicht nur durch Schimpfworte des Provokateurs gereizt, sondern auch „durch Vertreten des Weges" eindeutig rechtswidrig angegriffen worden, so daß das Anpacken und Zu-Boden-Werfen des Herausforderers durch den Angegriffenen noch als rechtmäßige Verteidigung anzusehen ist, gegen die deshalb schon das Zustechen mit dem „heimlich bereitgehaltenen Taschenmesser" unzulässig war! 564 Ebenso Behringer Ztschr. f. Rechtspfl. in Bayern 1909 138; Hellm. Mayer StR S. 259 unt. b); Blei AT S. 131 (§4011 1); Kratzsch Grenzen S. 39; früher auch Jescheck ATI (1969) S. 232 {and. jetzt ders. AT3 S. 247); Geilen Jura 1981 310; im Zivilrecht z. B. H. A. Fischer Die Rechtswidrigkeit (1911) S. 250; Herrn. Ditcher in v. Staudingers Komm, zum BGB, 12. Aufl. I (1979) § 227 Rdn. 26. 565 So Heimberger Strafrecht (1931) S. 43 zu Nr. 2.c (bei der actio libera in causa wolle sich der Täter einen Schuld-, bei der Absichtsprovokation einen i/nrec/ifsausschließungsgrund verschaffen); Immich S. 23 ff; Germann Das Verbrechen im neuen Strafrecht (1942) S. 218; Staab (s. vor Rdn. 137) S. 37/38 („Parallelfall" zur act. 1. i. c.); Nowakowski Das Österr. Strafr. in seinen Gnindz. (1955) S. 97 i. V. m. 57; Baumann ATI (I960) S. 228; Lenckner GA 1961 303. Kritisch zu diesem Vergleich schon Binding Normen II 1 S. 622; Hegler in Rieh. Schmidt-Festschr. (1932) I S. 64/65; jetzt Roxin ZStrW 75 (1961) 550. 566 Kohlrausch StGB37 (1941) § 53 a. F. Anm. 5 a. E., Vorb. 2 vor § 51 a. F.; KohlrauschLange § 53 a. F. Anm. V (S. 205/206); Vorb. II.2 vor § 51 a. F.; Baumann MDR 1962 349 r. Sp.; ders. AT S. 304, 313; Bertel ZStrW 84 (1972) 14 ff, 25 ff; Schmidhäuser AT S. 358 und Anm. 53 (9/109); Dreher-Tröndle Rdn. 23; ebenso in der Sache, wenngleich nicht im Ausdruck Jagusch LK8 I (1957) § 53 a. F. Anm. 2.g (S. 405). 567 Vgl. z. B. Bertel ZStrW 84 (1972) 13 ff. Kritisch zu dieser Konstruktion Roxin ZStrW 75 (1961) 545 ff., 547, 549. Gelegentlich wird offenbar auch von dem als unerlaubt angesehenen Korverhalten auf die Rechtswidrigkeit der Abwehr geschlossen, weil der Provokateur „die wesentliche Mitursache des Angriffs" setze, so Jagusch LK8 I (1957) § 53 a. F. Anm. 2.g); Kohlrausch-Lange Vorb. II 2 vor § 51 a. F. (S. 192 ob.: „eine im Zeitpunkt des Tuns (z. B. der Verletzung) gerechtfertigt scheinende, letzten Endes aber (in causa also) rechtswidrige Handlung"), § 53 a. F. Anm. V (S. 205 : „Als actio illicita in causa ist Notwehr unzulässig..."). (129)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

284

Da alle diese Konstruktionen sehr fragwürdig sind, sucht man ζ. T. nach anderen Begründungen. Wegen der „komplexen Natur" der Provokationsfälle wollen manche Autoren „je nach Sachlage" auf den einen oder anderen Gesichtspunkt zurückgreifen 568 oder die Bejahung des Rechtsmißbrauchs 569 von einer näheren Qualifizierung der Provokation, insbesondere deren Rechtswidrigkeit, die nicht schon einen rechtswidrigen Angriff darzustellen brauche, abhängig machen 57 °. 285 Das RG ist — von dem Fall der „Absichtsprovokation" abgesehen, für die es das Notwehrrecht überhaupt versagt hatte 571 — zunächst richtig davon ausgegangen, daß der (fahrlässig oder gar vorsätzlich) verschuldete Angriff rechtswidrig und uneingeschränkt notwehrfähig, „die bloße Provokation" (RGRspr. 6 576, 577) oder „das Heraufbeschwören eines Streits" noch kein (rechtswidriger) Angriff sei (RG JW 1926 1171, 1173 1. Sp. ob. mit Anm. Weber). Wer eine Wirtschaft aufsuche, obwohl er dort mit tätlichen Auseinandersetzungen rechne (RG JW 1926 1172 r. Sp.) oder wer seinen Heimweg fortsetze, obwohl er an einer angriffslustigen Menschengruppe vorbeigehen müsse (RGSt. 65 163, 165), verliere keineswegs sein Notwehrrecht, wenngleich er sich selbst ohne Not schuldhaft in Gefahr begebe. Auch der BGH hat in dem Zustürzen und Zupacken des Beleidigten, der durch politische Redensarten und Verbalinjurien eines Angetrunkenen gereizt worden war und der eine für den Beleidiger und Herausforderer tödlich endende Prügelei begonnen hatte, einen rechtswidrigen (und offenbar doch auch notwehrfähigen) Angriff und zugleich eine strafbare Körperverletzung mit tödlichem Ausgang gesehen (BGHSt. 3 217/218). 286 Bereits das RG hat aber in seiner jüngeren Rechtsprechung die Befugnis zur Selbstverteidigung insofern eingeschränkt, als es ein Ausweichen des Angegriffenen verlangte, wenn er „ Veranlassung zum Beginn des neuen Streites" gegeben hätte (RGSt. 71 133, 135). Die Gerichte sind diesen Weg nach 1945 weiter gegangen; so OLG Kiel HESt. 2 206 (allerdings unter ausdrücklicher Ablehnung des Gedankens vom „Rechtsmißbrauch"); OLG Braunschweig NdsRpfl. 1953 166; BGH bei Dallinger MDR 1958 12; OLG Hamm JMB1NRW 1961 2076. Der BGH hat geurteilt: „Wer so leichtfertig einen Angriff auf sich geradezu provoziert, . . . darf nicht in jedem Falle bedenkenlos von seinem Notwehrrecht Gebrauch machen" (BGH GA 1975 305, 306; genauso BGHSt. 26 143, 145); aber schließlich auch verneinend festgestellt: „Ein sozialethisch nicht zu mißbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen" könne „auch nicht zu einer Einschränkung seiner Notwehrbefugnisse führen" (BGHSt. 27 336, 338). Manche Urteile muten dabei dem Angegriffenen (Herausforderer) sogar zu, sich bei einer tätlichen Auseinandersetzung nur mit den Fäusten zu wehren und sich zwar nicht „schwer" verprügeln, aber eben doch verprügeln, d. h. „geringere... Verletzungen" zufügen zu lassen, falls er nicht dem Streite ausweichen könne (BGHSt. 26 143, 145 mit ablehn. Anm. Kratzsch NJW 1975 1933; ähnlich BGHSt. 24 356, 359 und schon BGH MDR 1958 12: Herausforderung durch störendes Pfeifen und durch Drohung mit einem Messer, die schließlich zu einem 568 So ausdrücklich Lenckner GA 1961 300; s. ferner Schröder in Anm. zu BGH JR 1962 186; Himmelreich GA 1966 136; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 55 ff. 569 Kritisch zum Gedanken des Rechtsmißbrauchs Schmidhäuser in Honig-Festschr. (1970) S. 188 f; BertelZStrW 84 (1972) 3 ff; Kratzsch JuS 1975 437; Baumann S. 305 (§ 21 I 3 b). 570 So vor allem Roxin ZStrW 75 (1961) 566 ff; s. auch Samson SK I Rdn. 28. 571 RG Ztschr. f. Rechtspflege in Bayern 1909 131; unveröff. RG-Urt. v. 3. 10.1935 nach Niethammer in v. Olshausens Komm. § 53 a. F. Anm. 4; R G DR 1939 364 Nr. 11 ; H R R 1940 Nr. 1143; s. auch RGSt. 60 261, 262 letzt. Satz. (130)

Notwehr (Spendei)

§32

Angriff und ungewollten Tod des gereizten Angreifers führte, als fahrlässige Tötung; endlich OLG Hamm NJW 1965 1928 und hierzu ablehnend Rudolphi JuS 1969 461). Während sonst der Angegriffene das zu seiner Verteidigung „unbedingt sichere und sofort wirkende", unter Umständen auch lebensgefährliche Mittel als erforderlich einsetzen dürfe, müsse er sich hier bei fehlender Ausweichmöglichkeit „zunächst mit Abwehrhandlungen begnügen, bei denen es von vornherein nicht eindeutig sicher" sei, „daß sie den Angreifer sofort und endgültig" von seinem Angriff abhalten (BGHSt. 26 143, 145 im Anschluß an BGHSt. 24 356, 359). „Unerträgliche Resultate" dieser Entwicklung in der Rechtsprechung 572 sind 287 Urteile wie die des BGH NJW 1962 308 = JR 1962 186 mit ablehn. Anm. Schröder und des OLG Celle HannRpfl. 1947 15. Im ersten Falle verneinte die „befremdliche Entscheidung" des BGH 5 7 3 das Recht zur Selbstverteidigung, da der Angegriffene „ohne bewußte Reizung" des früheren Angreifers seine Wohnung betreten und nicht auf das Weggehen des Raufboldes warten wollte, eine erneute heftige Attacke des Betrunkenen aber zumindest hätte voraussehen können. Solche Fehlentscheidungen laufen auf die Zumutung hinaus, „daß man dem T e r r o r . . . auszuweichen hat, wenn er nur mit drastischen Mitteln gebrochen werden könnte" (Schröder JR 1962 187 r. Sp.) 574 . Im zweiten Fall hatte der Angeklagte seinen Vater, einen „gewalttätigen Trinker", mit einem Beil erschlagen, nachdem dieser zuvor seine Frau am Halse gewürgt und „schwere Drohungen" ausgestoßen und darauf auch seinen bewaffnet aus dem Keller zurückkehrenden Sohn tätlich angegriffen hatte. Das OLG hat dem Angegriffenen, obwohl er sich zunächst mit seinen Fäusten gewehrt und dann erst mit dem Beil zugeschlagen hatte, das Notwehrrecht versagt und ihn wegen Totschlags verurteilt, weil er die erneute Aggression des Trunkenbolds „selbst heraufbeschworen" (durfte er sich nicht gegen eine neue Gewalttätigkeit wappnen?) und als Sohn dem Vater gegenüber die Pflicht zum Ausweichen (sollte er sich in den Keller verkriechen?) gehabt hätte. Die Rechtsprechung hat die abzulehnende These aufgestellt, daß im Fall des 288 durch eine Provokation verschuldeten (auch schon eines voraussehbaren) Angriffs die Notwehr ein „Rechtsmißbrauch" ist, „soweit der Täter dem Angriff ausweichen ... kann", und daß er „zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst Zuflucht nehmen darf, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat" (BGHSt. 24 356, 359). Nach BGHSt. 26 256, 257 soll „die dem Provokateur gebotene Zurückhaltung gegenüber einem rechtswidrigen Angriff jedoch „nicht von unbegrenzter Dauer sein", „die dem Angreifer auf Grund der Provokation zukommende Bevorzugung" (!?) „gleichsam verbraucht" werden können. Als „schuldhafte Provokation" wird bereits das Vorverhalten für eine „adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen" angesehen (BGHSt. 27 336, 338 mit Anm. Kienapfel JR 1979 71). Wohin eine solche Rechtsprechung führt, zeigt der Fall des BGH NJW 1980 289 2263; hier hat die Jugendkammer einem 18jährigen Schüler, der von einem stärke572 So ausdrücklich Bockelmann in Honig-Festschr. S. 20 hinsichtlich des oben angeführten BGH-Urteils; zum OLG-Urteil scharfe Kritik von Eb. Schmidt in Niedersehr, üb. d. Sitz, d. Gr. Strafr.-Komm. 2 (1958) Anh. Nr. 21, S. 57. 573 Bockelmann aaO S. 21 in seiner Kritik an dieser Entscheidung. 574 Zustimmend Bockelmann in Honig-Festschr. S. 21; kritisch auch Gutmann NJW 1962 286. Die Einsicht der Kritiker ist nicht neu, s. schon Levita (1856!) S. 190: „Die Versagung" des Notwehrrechts in solchen Fällen „würde die Freiheit des Staatsbürgers von der Willkür des Verbrechers abhängig machen" (Hervorheb. vom Zitier.). (131)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

ren Mitschüler immer schwer drangsaliert worden war und sich schließlich bei einem neuen Angriff gegen die schweren Faustschläge des anderen mit einem den Angreifer tötenden Dolchstich gewehrt hatte, pflichtwidriges Vorverhalten vorgeworfen und Notwehr zu Unrecht verneint, weil er die Waffe weiter in der Hosentasche mit sich getragen habe, „obwohl er mit erneuten, ihm zwei Tage zuvor angedrohten Schlägen rechnete". Dazu muß nunmehr selbst der BGH richtig feststellen: „Diese Argumentation stellt die Prinzipien des Notwehrrechts auf den K o p f . . . . Sie bedeutet..., daß das Risiko des rechtswidrigen Angriffs dem Angegriffenen aufgebürdet wird" (BGH NJW 1980 2263 zu d) 5 7 5 . 290

Die heute herrschende Ansicht zur Notwehrprovokation, auch zur Absichtsprovokation, ist, wie in neuerer Zeit Bockelmann (Honig-Festschr. [1970] S. 22 ff) überzeugend dargelegt hat, nicht begründet. Das zeigen die Vielzahl der verschiedenen Lösungsvorschläge und der Streit, ob nur die absichtlich oder auch vorsätzlich oder schon fahrlässig verschuldete Provokation das Notwehrrecht einschränken oder aufheben soll 5 7 6 . Die h. M. beruht auf einer unkritischen, weitgehend gefühlsbedingten Reaktion und hat in ihrer negativen Beurteilung weithin allein den (hinterlistigen oder nur leichtsinnigen) Provokateur, doch immerhin Angegriffenen und nicht den Angreifer, auch wenn schon Provozierten im Auge 5 7 7 . Außerdem vermengt sie Unrechts- und Schuldbetrachtung, indem sie die Frage der Rechtmäßigkeit der Verteidigung bzw. der Herausforderung davon abhängig macht, ob und wieweit diese dem Herausforderer vorzuwerfen ist, anstatt nach objektiven Kriterien darauf abzustellen, ob die Provokation einen rechtswidrigen, den Provozierten zur Verteidigung berechtigenden Angriff oder, bei Nichtrechtswidrigkeit des die Aggression auslösenden Verhaltens, die Abwehr durch den „Provokateur" ein rechtswidriger Notwehrexzeß ist.

291

Die Konstruktion der „actio illicita in causa"ist schon deshalb unhaltbar, weil sie zu dem merkwürdigen Ergebnis führt, daß die Beabsichtigung einer rechtmäßigen Handlung (gerechtfertigte Verteidigung) die an sich unverbotene Verursachung (Auslösung oder „Herausforderung") dieses Verhaltens rechtswidrig machen soll 5 7 8 . 292 Das Argument, daß dem Provokateur der Verteidigungswille fehle, ist nicht stichhaltig, da es einmal auf diesen richtiger Ansicht nach gar nicht ankommt (s. Rdn. 138 ff), zum andern der Herausforderer ihn in dem Augenblick gerade hat, in dem sich der Gereizte zum Angriff hat hinreißen lassen 5 7 9 . 293 Der Gedanke des Rechtsmißbrauchs — der zur Notwehrablehnung z. B. auch bei krassem Mißverhältnis der kollidierenden Rechtsgüter herangezogen wird (s. etwa BGH MDR 1956 372 Nr. 355; GA 1968 183; OLG Hamm NJW 1972 1826, 1827 r. Sp.) — ist u. a. deshalb nicht überzeugend, weil hier der Grund für den Ausschluß des Notwehrrechts in der Verletzungsabsicht oder auch nur in dem Leichtsinn des 575 Eine andere Frage ist, ob dem drohenden Angriff anders abzuhelfen war (z. B. durch Herbeirufung eines Lehrers), s. dazu Arzt in seiner Anm. JR 1980 212. 576 Vgl. die „differenzierenden" Lösungsversuche bei Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 56 ff ; JescheckS. 278 (§ 32 III 3); Samson SK I Rdn. 27 f; Schmidhäuser AT S. 358 ff (9/110 ff). 577 Die zweite Blickrichtung wird z. T. eingenommen von Schöneborn NStZ 1981 202 ff, ohne daß den darauf gestützten Überlegungen zugestimmt werden könnte. 578 Näher die treffende Kritik von Roxin ZStrW 75 (1961) 547; Bockelmann in HonigFestschr. S. 26/27; dagegen Bertel ZStrW 84 (1972) 14 ff. 579 Im zweiten Sinne auch Bockelmann aaO S. 25 und schon v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 160. (132)

Notwehr (Spendei)

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Herausforderers, in einem rein subjektiven Moment also erblickt und damit die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Tat (Abwehr) von der verwerflichen oder auch nur leichtfertigen Gesinnung des Täters (Provokateurs) abhängig gemacht wird 58 °. Ausgangspunkt für die Lösung muß der Gedanke sein, daß die „Verschuldung" 294 der Notwehrlage, d. h. des rechtswidrigen Angriffs eines anderen, ebensowenig den Veranlasser rechtlos machen kann wie umgekehrt der Angriff den Angreifer, der z. B. seinerseits Notwehr gegen die Notwehrüberschreitung des Verteidigers üben darf 5 8 1 . Im weitesten Sinn kann jedes Vergehen als eine schuldhafte „Provokation" des in seinen Rechtsgütern Bedrohten angesehen werden. Der Rowdy, der mutwillig die Sachen eines anderen (Gartenblumen, Fensterscheiben, parkendes Auto usw.) demoliert und dadurch den verständlicherweise und mit Recht erbosten Eigentümer reizt und schuldhaft „provoziert", darf sich gegen dessen zu weitgehende Abwehr verteidigen, z. B. gegen Schläge, die der Angegriffene nicht nur zur Verhinderung weiterer Beschädigungen, sondern auch zur Vergeltung der begangenen austeilt. Einige typische Fälle der schuldhaften und rechtswidrigen Provokation sind, 295 allerdings nur hinsichtlich des Provozierten, ausdrücklich im Gesetz geregelt. Sie lassen Rückschlüsse auf die Beurteilung des Provokateurs zu, was man sich zweckmäßigerweise im Zusammenhang mit anderen Fallvariationen klarmacht: (1) Betritt jemand eine Schenke in der Hoffnung, daß schon sein bloßes Erschei- 296 nen oder sein großsprecherisches Gerede (der beste Schütze zu sein usw.) den dort anwesenden Feind zum Angriff auf ihn reizen werde, um den Gegner in Notwehr niederschießen zu können, so ist sein hinterlistiges Verhalten zwar übel, aber nicht rechtswidrig, geschweige denn ein rechtswidriger Angriff. Denn das Lokal zu betreten, in welcher Gesinnung auch immer, ist sein gutes Recht (RG JW 1926 1171)582, und großsprecherische Reden zu führen ist lächerlich oder peinlich, aber nicht verboten. Dieses rechtmäßige Verhalten kann seine positive Eigenschaft durch die „böse Absicht" des Angegriffenen ebensowenig verlieren wie ein rechtswidriges seine negative Qualität durch eine gute Absicht. Die „Absichtsprovokation" schließt daher bei der vorliegenden Fallkonstellation nicht das Notwehrrecht des Herausforderers aus, falls der andere so „dumm" und so „schlecht" ist, jähzornig und unbeherrscht auf ihn loszugehen oder den Revolver zu richten, ihn also seinerseits rechtswidrig anzugreifen. Der großen moralischen „Schuld" des Provokateurs steht hier eine mehr oder minder erhebliche rechtliche Schuld des Provozierten gegenüber. (2) Hänselt dagegen in der gleichen Absicht der Herausforderer zum Gespött der 297 anwesenden Gäste seinen Feind und bezeichnet ihn fortlaufend als schlechten Schützen, Feigling usw., so ist diese „Absichtsprovokation" als andauernde Beleidigung ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff auf die Ehre, den der Herausgeforderte sich verbal verbitten (so BGHSt. 3 218), notfalls auch tätlich mit einem Kinnhaken abwehren darf, wenn anders der Beleidiger nicht zur Ruhe zu bringen ist (so RG DJZ 1927 386). 580 Vgl. auch Roxin aaO S. 559; aus anderen Gründen gegen die Heranziehung des Mißbrauchsgedankens die im vorstehenden in Anm. 569 zu Rdn. 284 angeführten Autoren. 581 Insofern richtig schon Oetker VDA II (1908) S. 271 ; Finkler S. 16. 582 Ebenso im Ergebnis Roxin ZStrW 75 (1961) 559, 562, 585; Otto in Würtenberger-Festschr. S. 142 f. (133)

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(a) Der Provokateur muß diese „Zu-recht-Weisung" dulden, da ihm keine Notwehr gegen die Notwehr des Beleidigten zusteht 583 . Schlägt er zurück oder schießt er gar seinem Plane gemäß, ist er nicht nur wegen der in seiner „Absichts/vovofaition" liegenden Beleidigung, sondern auch noch wegen des wacAfolgenden Mordversuchs strafbar.

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(b) Überschreitet dagegen der Provozierte die Grenzen der erforderlichen Verteidigung, greift er etwa sofort wütend zum Revolver und läßt sich damit einen rechtswidrigen und als Totschlagsversuch (!) strafbaren Notwehrexzeß „zuschulden" kommen, geht das Notwehrrecht auf den Herausforderer über; denn auch der Angreifer (Beleidiger) wird durch seinen Angriff nicht vogelfrei. Das üble Motiv der Beleidigung („Provokation") ist bei deren Aburteilung strafschärfend zu berücksichtigen.

300

(3) Schüttet der Herausforderer in der vorbezeichneten Verletzungs- oder Tötungsabsicht seinem Feinde an der Theke ein Glas Whisky ins Gesicht, so ist diese Provokation als einmalige Beleidigung nicht mehr ein gegenwärtiger, sondern ein beendeter rechtswidriger Angriff, der kein Notwehrrecht mehr gewährt. Hierauf sind wiederum verschiedene Reaktionen des Provozierten möglich, auf Grund deren auch das nachträgliche Verhalten des Provokateurs verschieden zu beurteilen ist:

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(a) Der Beleidigte hält zwar nicht nach christlicher Liebesethik dem Übeltäter noch seine andere Wange hin, beherrscht sich aber und tut dem Herausforderer nicht den Gefallen, sich hinreißen zu lassen und zurückzuschlagen, d. h. Gleiches mit Gleichem zu vergelten — im Vertrauen darauf, daß die schwere Kränkung die ihr gebührende staatliche Strafe erhält. Das ist der Standpunkt des Rechts, das erwartet, daß auch der schwer Provozierte sich beherrscht und der Provokation widersteht 584 , eine Forderung, die allerdings eine schnelle und starke, die Interessen des Opfers wahrende Strafjustiz voraussetzt.

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(b) Der Provozierte beantwortet die beendete Herausforderung mit einer Ohrfeige. Dann ist diese Reaktion des Gereizten wie die Aktion des Provokateurs ein abgeschlossener rechtswidriger Angriff, der nicht zur Notwehr berechtigt, aber ebenfalls als Körperverletzung und tätliche Beleidigung an sich strafbar ist. Das Gesetz sieht hierfür Strafmilderung oder Absehen von Strafe (§ 233 StGB) bzw. Straffreierklärung (§ 199 StGB) vor, die hier nur dem provozierten Täter zuzubilligen wäre, da sein Unrecht und seine Schuld ungleich geringer erscheinen als die des provozierenden Täters. 303 Falls der Provokateur die verständliche, wenn auch vom Recht weder erlaubte noch entschuldigte Reaktion des Herausgeforderten zum Vorwand nähme, zum Revolver zu greifen, um seine Absicht wahr zu machen, würde er seinen Feind erneut rechtswidrig angreifen und jetzt sogar einen notwehrfähigen strafbaren Tötungsversuch begehen. 304 (c) Der Herausgeforderte wird durch die hinterhältige Provokation (schwere Beleidigung) so zum Zorne gereizt, daß er den Herausforderer auf der Stelle niederzuschießen sucht. Diese viel zu weitgehende Reaktion des Beleidigten ist ein gegenwärtiger rechts widriger und sogar als Totschlags versuch strafbarer Angriff, der nach dem Gesetz noch nicht einmal für straffrei erklärt werden kann, sondern nur strafmildernd zu beurteilen ist (§213 StGB). Er berechtigt den Provokateur (oder einen 583 So schon Frank § 53 a. F. Anm. I. 2.b) (S. 161 unt./162). 584 So auch mit Recht Bockelmann in Honig-Festschr. S. 31. (134)

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Dritten) zur Notwehr (oder Nothilfe) auch dann, wenn der erste den Angriff erstrebt hat, um den Gegner niederschießen zu können. Seine „Schuld" wird gewissermaßen durch die Schuld des unbeherrschten und ebenfalls rechtsbrüchig gewordenen Angreifers, der sich so weit hat herausfordern und gehen lassen, „aufgewogen". Beide haben sich nichts vorzuwerfen und sind insofern „quitt". Die verwerfliche Absicht des Provokateurs ist schuld- und straf erhöhend bei der Aburteilung des Beleidigungsdelikts, der verständliche Zorn des Provozierten schuld- und strafm/7dernd bei der Aburteilung des Totschlagsversuchs zu berücksichtigen (§213 StGB). Geht der Herausforderer über die erforderliche Abwehr des provozierten 305 Angriffs und damit des von dem Gereizten drohenden Totschlagsversuchs hinaus, schießt er, obwohl ein Meisterschütze, dem anderen in die Brust statt die Waffe aus der Hand, so begeht er einen Notwehrexzeß. Er ist dann wegen des darin liegenden Mordversuchs oder gar Mordes strafbar. — Die vorstehenden Beispiele dürften bereits zeigen, daß die Absichtsprovokation 306 als krasseste Form der schuldhaften Veranlassung einer Notwehrlage nicht schon als solche das Notwehrrecht des Herausforderers ausschließt und nicht allgemein, sondern von Fall zu Fall unter genauer rechtlicher Qualifizierung von Reaktion und Person des Herausgeforderten zu beurteilen ist. Das gilt auch für die Frage der schuldhaften Provokation von Irren, Irrenden und anderen schuldunfähigen Personen. Weder kann hier das Notwehrrecht des Provokateurs rundweg bejaht 5 8 5 noch schlechthin verneint werden 5 8 6 . Vielmehr ist zu unterscheiden, ob die (schuldhafte) Herbeiführung der Notwehrlage rechtswidrig war oder nicht; darauf, ob sie „sozialethisch" zu mißbilligen war oder nicht, kommt es schon wegen der Unbestimmtheit dieses Begriffs (s. Rdn. 307 ff) nicht an. Auch wer die Aufgabe, einen gemeingefährlichen Geisteskranken in eine geschlossene Anstalt zu bringen, nur übernommen hat, um diesen damit zu einer Gewalttätigkeit zu reizen und dann niederschlagen zu können, darf den Tobenden und ihn Angreifenden abwehren und verletzen, wenn kein anderer Ausweg bleibt. Denn diese „Absichtsprovokation", die den rechtswidrigen Angriff des Wahnsinnigen auslöste, war eben rechtmäßig 587 . Wer dagegen durch laute Radiomusik, hämische Reden, Drohungen usw. den Irrsinnigen dazu bringt, einen Tobsuchtsanfall zu bekommen und auf den Herausforderer loszugehen, hat mit der von ihm verschuldeten Verschlimmerung des Krankheitszustandes und mit der von ihm zu vertretenden Schaffung der Gefahrenlage rechts widrig gehandelt und die sich daraus entwickelnden Folgen allein zu verantworten. Denn die Reaktion des Gereizten ist nicht vom freien Willen, sondern von der Zwangsund Fehlvorstellung des Provozierten und von dem den anderen beherrschenden Willen des Provokateurs abhängig. Der Urheber des Angriffs ist dann wegen eines in Täterschaft begangenen Tötungsverbrechens zu bestrafen, ähnlich wie derjenige, der einen nicht frei verantwortlich Handelnden zum Suicid bestimmt hat, strafbarer Täter einer Fremdtötung und nicht etwa straf/oser Anstifter zu einem Selbstmord ist 5 8 8 . Rechtlich ist es gleich zu bewerten, ob der Herausforderer den Irren, der 585 So rigoros selbst für den Fall der beabsichtigten Tötung des Geisteskranken v. LisztSchmidt AT S. 196 vor b), and. jedoch Eb. Schmidt in Niedersehr, üb. d. Sitz. d. Großen Strafrechtskomm. 2 (1958) Anh. Nr. 21 S. 57. 586 So bereits v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 161; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 348/349. 587 Ebenso allgemein Roxin ZStrW 75 (1961) S. 559, 563. 588 Zu letzterem s. Spendei Fahrlässige Teilnahme an Selbst- und Fremdtötung, JuS 1974 749, 751/752. (135)

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2. Abschnitt. Die Tat

nicht anders kann, in einen Wahnsinnsausbruch und auf diese Weise ins Wasser oder aber in das ihm entgegengehaltene Messer treibt. 5. Keine Einschränkung aus „sozialethischen" Gründen Schrifttum Courakis Zur sozialethischen Begründung der Notwehr (1978); Engels Der partielle Ausschluß der Notwehr bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Ehegatten, G A 1982 109; Geilen Eingeschränkte Notwehr unter Ehegatten? JR 1976 314; Gribbohm Zumutbarkeitserwägungen im Notwehrrecht, SchlHolstAnz 1964 155; Kratzsch Das (Rechts-)Gebot zu sozialer Rücksichtnahme als Grenze des strafrechtlichen Notwehrrechts, JuS 1975 435; Krause, Friedr.-Wilh. Zur Einschränkung der Notwehrbefugnis GA 1979 329; Marxen Die „sozialethischen" Grenzen der Notwehr (1979); Roxin Die „sozialethischen Einschränkungen" des Notwehrrechts — Versuch einer Bilanz, ZStrW 93 (1981) 68; Eb. Schmidt Notwehr, Notstand und Nötigungsstand, in: Niedersehr, üb. d. Sitz. d. Großen Strafrechtskomm. 2 (1958) Anh. Nr. 21, S. 51; Schumann Zum Notwehrrecht und seinen Schranken, JuS 1979 559; Schwabe Grenzen des Notwehrrechts, NJW 1974 670.

307

Das Notwehrrecht, oft als zu scharf und schneidig empfunden, steht heute unter dem schon früher gelegentlich gebrauchten Schlagwort 589 von der (angeblichen) Notwendigkeit seiner „sozialethischen" Einschränkungen 590 . Diese „milde" und „sozialbezogene" Auffassung und einschränkende Auslegung des § 32 StGB 5 9 1 soll unter drei Gesichtspunkten beachtlich sein, und zwar hinsichtlich des Subjekts, der Ursache oder Modalität und des Objekts des Angriffs 5 9 2 .

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„Das Gesetz weiß davon nichts" (Hellm. Mayer AT S. 202). Die „sozialethische" Einschränkung des Notwehrrechts, d. h. der Rechtfertigung, ist um so fragwürdiger, als sie notwendigerweise für den Angegriffenen eine Ausdehnung der Strafbarkeit bedeutet und damit den Verfassungssatz des Art. 103 II GG über die Bestimmung und Bestimmtheit der strafbaren Tat im Ergebnis umgeht 5 9 3 . Die ganze Tendenz mitsamt dem verschwommenen Schlagwort, unter dem sich verschiedene Ideologien breitmachen können, führt nur zu einer Aufweichung und Verunsicherung des Notwehrrechts und ist abzulehnen (so dezidiert Eb. Schmidt bei den Beratungen zur Strafrechtsreform 5 9 4 ). 589 Löffler in: Gleispach Der Dtsch. Strafgesetz-Entwurf (1921) S. 29 („Das neu gestärkte soziale Empfinden" werfe die „Frage nach den sozial-ethischen Schranken der Notwehr" auf), S. 34/35 („Die sozialethische Beschränkung der Notwehr" verlange „maßvolle Opferbereitschaft" und eine „den Umständen angemessene Verteidigung"!?); Nagler LK6 (1944) Einl. S. 4 (Der Nationalsozialismus habe „die grundstürzende Wendung" zur „vorbehaltlosen Anerkennung der Sozialethik' gebracht!?), S. 420 (§ 53 a. F. Anm. 13 a. E.: Entfallen der „Wehrhaftigkeit aus sozialethischen R ü c k s i c h t e n . . . , weil das Objekt zu geringwertig i s t . . . " ) , S. 427 (Anm. III: „Die Dinge" — Verhältnismäßigkeit von Angriff und Abwehr — „regulieren sich durch sozial-ethische Wertungen"?); s. auch Oetker in Frank-Festg. I S. 375 („ethische Schranken"). 590 Zu dieser Tendenz s. Schaffstein M D R 1952 132; Bockelmann in Honig-Festschr. S. 19; Jescheck AT S. 276 (§ 32 III 1); Courakis S. 19/20. 591 So ausdrücklich Courakis S. 31 ff, 69 ff. 592 Gribbohm SchlHolstAnz. 1964 155 r. Sp.; Courakis S. 19 Anm. 17. Z . T . wird zu dieser Themenstellung ausdrücklich auch die im vorgehenden Abschnitt behandelte Frage der Notwehrprovokation gerechnet, s. Roxin ZStrW 93 (1981) 70, 83 ff. 593 Dazu näher die Kritik von Kratzsch Grenzen . . . S. 30 ff; dems. GA 1971 65; JuS 1975 435 ; Marxen S. 27 ff; Engels GA 1982 119 ff. And. z. B. Jescheck AT S. 276 (§ 32 III); Suppert S. 297; Roxin aaO S. 78 ff. 594 Eb. Schmidt in Niedersehr, üb. d. Sitz. d. Gr. Strafrechtskomm. 2 (1958) Anh. Nr. 21,

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Was den ersten Gesichtspunkt — das Subjekt des Angriffs — anlangt, so soll bei 309 Kindern, Irrenden, Betrunkenen und Geisteskranken als schuldlosen Angreifern das Notwehrrecht „erheblich eingeschränkt" 5 9 5 (s. BGH bei Dallinger MDR 1975 195 1. Sp. unt./r. Sp. ob.; OLG Frankfurt/M VRS 40 (1971) 424, 426) oder sogar völlig „ausgeschlossen" sein 596 Aber diese Ansicht ist abzulehnen, da grundsätzlich nicht zwischen schuldigem (Normalfall) und schuld/osem Angreifer („anomaler" Fall) zu unterscheiden und in beiden Fällen ein rechts widriger und not wehrfähiger Angriff gegeben ist (s. Rdn. 63). Denn auch gegenüber dem schuldhaft rechtswidrig Angreifenden ist eine Verteidigung mit den stärksten, d. h. verletzenden oder gar vernichtenden Abwehrmitteln nicht erforderlich bzw. „not-wendig", wenn man dem Angriff, ohne sich etwas zu vergeben, mühelos „entgehen" und auf diese Weise die „Not (ab-)wenden" kann (s. Rdn. 231 ff, 235 0- Umgekehrt hat man keine besondere Rücksicht auf nicht schuldfähige Angreifer zu nehmen, nur weil sie jugendlich oder betrunken sind, falls man sie nicht unschwer abzuschütteln, sondern allein mit starken Mitteln sofort und endgültig abzuwehren vermag. Man denke an eine Gruppe Halbwüchsiger, die mutwillig einen alten Spaziergänger anpöbeln und anfallen (Kleidung beschmutzen, Sachen wegnehmen, körperlich mißhandeln usw.) oder (praktische Fälle laut Tagespresse) an eine jugendliche Rockerbande, die in einem Park eine ältere gehbehinderte Frau bis zum Bauch in die Erde eingraben oder ein junges Mädchen ausziehen; ferner an eine organisierte Diebesbande von Kindern, die auf nächtliche Raubzüge gehen, oder an einen Betrunkenen, der auf einen Gast zustürzt und mit Gewalttätigkeiten droht 5 9 7 . Man braucht weder dem „Terror der Gewalt" noch dem „Terror der Unvernunft", in welcher Gestalt auch immer er auftreten mag, zu weichen, s. z. B. BGH NJW 1980 2263 (Niederstechen eines 18jährigen Schülers); BGH GA 1965 49 (Messerstich gegen angetrunkenen Eindringling); GA 1965 147 (tödlicher Schuß auf den bis auf 2 m unter Drohung herangekommenen Betrunkenen); RGSt. 27 44 (Notwehr gegen Geisteskranken). Ebensowenig wie unter dem ersten ist unter dem zweiten Gesichtspunkt — 310 Begleitumstände des Angriffs — ein anderer und „strengerer Maßstab" an die erforderliche Verteidigung anzulegen, d. h. eine Einschränkung des Notwehrrechts aus „sozialethischen" Gründen angebracht, selbst nicht bei engen persönlichen Beziehungen der Beteiligten, wie jedoch die neuere Rechtsprechung (z. B. beim Vater-Sohn-Verhältnis s. OLG Celle HannRpfl. 1947 15), insbesondere der BGH bei Ehegatten annimmt 5 9 8 . So darf die Ehefrau zur Abwehr von Mißhandlungen ihrer Kinder und dann ihrer eigenen Person durch den betrunkenen Ehemann trotz tödlicher Auswirkung z. B. mit einem Schirm zustoßen (and. in zwei Urt. in ders. Sache BGH GA 1969 117 und NJW 1969 802 mit teils kritischer, teils zustimm. 595 Soz. B. Lenckner GA 1961 313; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 52; Dreher-Tröndle Rdn. 19; Blei AT S. 137 (§ 40 III 2 a); Jescheck S. 277 (§ 32 III 3 a). Zu der Frage schon Rdn. 235 f. 596 So Schmidhäuser AT S. 348 (9/95); Otto GrK StR S. 120; ders. in Würtenberger-Festschr. S. 141 ; Fr.-W. Krause in H.-J. Bruns-Festschr. S. 83 ff; ders. GA 1979 335; Samson SK I Rdn. 21, die dem Angegriffenen nur den rechtfertigenden Notstand zubilligen wollen, was völlig unzureichend ist. 597 Zur Unentbehrlichkeit des Notwehrrechts auch hier im Polizeirecht Linder Grenzen der Anwendung unmittelbaren Zwangs durch die Vollzugspolizei (1973) S. 166; Schwabe JZ 1974 638 r. Sp. 598 Wie die Judikatur im Ergebnis, wenn auch nicht in der Begründung z. B. Henkel Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Prinzip, Mezger-Festschr. (1954) S. 273; Roxin ZStrW 75 (1961) S. 581 Anm. 112; Dreher-Tröndle Rdn. 19; Samson SK I Rdn. 23 a. Vgl. dagegen RGSt. 60 261. (137)

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Anm. Deubner NJW 1969 1184) oder sich gegen Schläge mit einem Messer wehren (and. BGH NJW 1975 62 und dazu Kratzsch JuS 1975 435 und Geilen JR 1976 314), falls sie nur dadurch mit Sicherheit sofort und endgültig weitere Hiebe verhindern kann. Der Angegriffenen ist also nicht etwa zuzumuten, wie BGH NJW 1975 63 1. Sp. ob. befremdlicherweise verlangt, „leichtere Körperverletzungen" (!?) zu erdulden 5 9 9 . Hier auf Grund der „langjährigen Kenntnis" des ehemännlichen Verhaltens, d. h. in Erinnerung an frühere „tätliche Auseinandersetzungen" von der „Verpflichtung" der Ehefrau „zu verständnisvollem Eingehen und Rücksichtnehmen" auf den anderen Ehepartner zu sprechen (BGH NJW 1975 62, s. auch schon BGH G A 1969 117), der selbst als Trunkenbold seine ehelichen Pflichten so oft und gröblich verletzt hat, ist eine „geradezu provozierende" (so treffend Geilen JR 1976 317 r. Sp.), ja fast zynisch klingende Formulierung des Gerichts. Wenn in einem dritten Fall eine Ehefrau von ihrem betrunkenen Mann mit einem 30 cm langen Fleischermesser in der Wohnung verfolgt worden ist, „bis es ihr gelang, dem Mann das Messer wegzunehmen", und wenn sie es ihm dann in die Brust gestoßen hat, so hat sie die erforderliche Verteidigung geübt, falls erneute Angriffe des Betrunkenen drohten, was in der Regel bei einem gewalttätigen und streitsüchtigen Trinker anzunehmen ist. Hier der Frau noch „zuzumuten", „weiteren Angriffshandlungen durch einfaches Zurücktreten und Verlassen des Zimmers auszuweichen" (so BGH bei Dallinger MDR 1974 722 1. Sp.), ist weitgehend „graue Theorie", die den tatsächlichen Lebensverhältnissen in diesen Familientragödien nicht gerecht wird 6 0 0 . Sie muß zu einer Aufweichung des Notwehrrechts, ja zu einer Verkehrung von Recht und Unrecht führen 6 0 1 . 311

Erst recht ist das Notwehrrecht nicht etwa aus „sozialethischen" Gründen einzuschränken, soweit es sich bei den Beteiligten um „an sich nicht feindlich Gesinnte desselben Lebenskreises" (BGH GA 1969 117) wie Angehörige eines Betriebes oder eines Sportvereins handelt. Anders urteilt die Rechtsprechung, so zur ersten Sachlage im Ansatz schon OLG Stuttgart NJW 1950 119: Stich mit Taschenmesser „unter billiger Berücksichtigung der Lage", daß der auf den Verteidiger mit beiden Fäusten einschlagende Angreifer der gleichen Arbeits- und Betriebsgemeinschaft angehöre, keine zulässige Notwehr; BGH bei Dallinger MDR 1958 12/13: Vorhalten des Schlachtmessers zur Abwehr des auf den Verteidiger losgehenden Angreifers beim Streit zweier Metzgerburschen im Hinblick auf „die lange und enge berufliche Verbundenheit im selben Betrieb" unzulässig; die Frage dagegen offengelassen von OLG Hamm NJW 1977 590, 592 1. Sp. a. E. Zur zweiten Sachlage s. ganz verfehlt BayObLG OLGSt. 1 § 53 StGB a. F.: unzulässig sei der Fauststoß ins Gesicht des Angreifers, obwohl dieser unter fortlaufender Beschimpfung seines Gegners bei einem seiner Hiebe dem Angegriffenen bereits einen Zahn abgebro599 In dem ersten Fall (Stoß mit dem Schirm nach dem Kopf des Angreifers) hatten die Schläge des Betrunkenen bei seinen Kindern zu „Blutergüssen" geführt (BGH GA 1969 117), waren also schwerlich „leichtere Körperverletzungen" (ebenso kritisch Geilen JR 1976 317 r. Sp.). 600 Insoweit richtig Geilens Kritik in JR 1976 318. 601 Trotz Kritik an der Rechtsprechung für eine Einschränkung des Notwehrrechts unter Ehegatten aus der „Pflicht zu sozialer Rücksichtnahme" Kratzsch JuS 1975 440 oder aus der „Garantenstellung" bzw. „Garantenpflicht" der Eheleute Blei AT S. 137 (§ 40 III 2 d); Geilen JR 1976 316 r. Sp. und vor allem Marxen S. 38 ff, 49 (einer dezidierten Stellungnahme ausweichend ders. in: Lüderssen/Sack Vom Nutzen u. Nachteil der Sozialwissensch. f. d. Strafr. [1980] S. 63, 74). Dagegen mit Recht jetzt Engels GA 1982 114, 124. (138)

Notwehr (Spendei)

§32

chen hatte (!), weil angesichts der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Fußballklub „ein besonders strenger Maßstab an die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung" anzulegen sei. Auch unter dem dritten Gesichtspunkt — Objekt des Angriffs — bedarf es nicht 312 des unbestimmten Begriffs „sozialethisch", um zu einer richtigen Bestimmung und Begrenzung des Notwehrrechts zu kommen. Insoweit ergeben sich bereits Schranken aus dem allgemeinen Grundsatz, daß sich völlig unverhältnismäßige Maßnahmen aus Vernunftgründen und von Rechts wegen verbieten. Dieser Gesichtspunkt ist zweckmäßigerweise gesondert zu behandeln. 6. Nur Einschränkung wegen völliger Unverhältnismäßigkeit der kollidierenden Güter Schrifttum Außer den schon vor Rdn. 307 angeführten Autoren s. noch Krey Zur Einschränkung des Notwehrrechts bei der Verteidigung von Sachgütern, JZ 1979 329; Otto Rechtsverteidigung und Rechtsmißbrauch im Strafrecht, Würtenberger-Festschr. (1977) S. 129; Schaffstein Notwehr und Güterabwägungsprinzip, M D R 1952 132; Uttelbach Die Verhältnismäßigkeit bei der Notwehr, Diss. Köln 1935.

Da es grundsätzlich nur auf die Verhältnismäßigkeit der Angriffs- und Abwehr- 313 art, nicht aber auf die Proportionalität der durch Angriff und Abwehr bedrohten Rechtsgüfer ankommt, kann regelmäßig der Wert des angegriffenen Objekts keine Rolle spielen, also ein geringerwertiges Gut auf Kosten des höherwertigen verteidigt und bewahrt werden (Rdn. 224 ff). So darf man z. B. den Räuber oder Dieb, der einem die Brief- oder Handtasche wegnehmen will, niederschlagen oder sogar niederschießen, wenn man sich des Angriffs nicht anders zu erwehren vermag (s. Rdn. 229). Hinsichtlich der kollidierenden Rechtsgüter kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur in seiner Umkehrung, d. h. in negativer Hinsicht in Betracht kommen, und zwar insofern, als der Wert des Angriffsobjekts, absolut oder relativ zum Abwehrerfolg gesehen, nicht in einem ganz ungewöhnlichen und krassen Mißverhältnis zu dem in Notwehr zu verletzenden Gut steht. In dem seit über 100 Jahren in verschiedenen Variationen immer wieder in der 314 Literatur angeführten Schulfall des (gelähmten und in seinem Rollstuhl am Fenster sitzenden) Landwirts, der nur durch einen (Leib oder Leben des Angreifers verletzenden) Schuß einen frechen Jungen am Obstdiebstahl im Birnen-, Apfel- oder Kirschbaum hindern und so sein Eigentum verteidigen kann 6 0 2 , steht der Wert des Angriffsobjekts (ein paar Birnen oder Äpfel oder eine Handvoll Kirschen) so außer jedem Verhältnis zu dem Wert des durch die erforderliche Abwehr zu verletzenden Gutes (Leib oder Leben des Kindes), daß das Recht zur Verteidigung des Eigen-

602 v. Buri Über Kausalität und deren Verantwortung (1873) S. 93; Kohler Lehrb. d. Bürgerl. Rechts 1. HBd. (1904) S. 211/212; Oetker VDA II (1908) S. 295 (der solch einen Fall als „Unfugabwehr" dem Gebot der „Proportionalität" unterstellt); Baumgarten S. 116; Amtl. Entw. eines Allgem. Dtsch. StGB nebst Begründ. (1925) S. 20 1. Sp. zu § 21 ; Graf zu Dohna Übungen im Strafrecht und Strafprozeßrecht, 3. Aufl. (1929) S. 81 (anschauliche Ausschmückung des Falls); Rieh. Schmidt Grundr. des dtsch. Strafr., 2. Aufl. (1931) S. 121 ob.; Sommerfeld(s. vor Rdn. 163) S. 83; Entw. eines StGB 1962 mit Begründ. (1962) S. 157 1. Sp.; Lenckner GA 1968 4; Welzel S. 87; Baumann S. 316 (§ 21 II 1 a ε). (139)

2. Abschnitt. Die Tat

§32 603

turns insoweit entfallen m u ß . N u r ganz vereinzelt ist die Ansicht vertreten worden, das Gesetz lasse hier noch Notwehr z u 6 0 4 . Es gilt jedoch auch f ü r diesen Fall die alte Spruchweisheit, daß „man nicht mit K a n o n e n auf Spatzen schießen s o l l " 6 0 5 , d. h. hier: d a ß man nicht mit der Flinte auf einen Kirschen in Nachbarsgarten stibitzenden Lausbuben feuern darf. D e n n der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedeutet in seiner „Umkehrung", in negativer Fassung das Verbot des Unmaßes oder der Maßlosigkeit im Verhalten u n d so auch in der Auswahl der Mittel zur Erreichung objektiver Zwecke und gilt schon als überpositives Rechtsprinzip in allen Rechtsgebieten 6 0 6 , ohne daß es bei der Notwehr noch des Rückgriffs auf den Gedanken der „sozialethischen" Einschränkung oder auf den im Zivilrecht entwickelten Begriff des „Rechtsmißbrauchs" bedürfte. Ebenso ist die Konstruktion einer von der Notwehr zu unterscheidenden und nach der Güterproportionalität zu beurteilenden „Unfugabwehr" entbehrlich 6 0 7 . 315

Wenn dagegen in allgemeinen Notzeiten wie in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, in denen Obst f ü r die darbende Bevölkerung ein entbehrtes und begehrtes Nahrungsmittel war, ein Landwirt oder Gartenbesitzer fortlaufend bestohlen wird u n d die staatliche Gewalt in Gestalt der Polizei diese Eigentumsverletzungen nicht verhindern k a n n (anschaulich RGSt. 56 33, 34: „Ansuchen um polizeilichen Schutz" gegen verschiedentliche Obstplünderungen „vergeblich gewesen"!), so ist es als notwendige u n d keineswegs maßlose Verteidigung anzusehen, d a ß der geplagte Eigentümer, der nachts in seinem Obstgarten Wache halten mußte, nach vergeblicher A n d r o h u n g des Schußwaffengebrauchs auf die beiden mit der Beute in Rucksäcken oder K ö r b e n fliehenden Obstdiebe einen Schrotschuß abgibt u n d einen der Täter dabei verletzt, den Diebstahl aber damit verhindert (s. RGSt. 55 82 ;

603 So ausdrücklich zum obigen Fall für das deutsche Recht ζ. B. Eb. Schmidt in Niedersehr, üb. d. Sitz. d. Gr. Strafrechtskomm. 2 (1958) Anh. Nr. 21, S. 58; Baumann aaO; Welzel S. 87, ganz herrsch. Mein.; für das Schweizer Recht Schwander Das Schweiz. StGB, 2. Aufl. (1964) S. 84; für das französische Recht das (allerdings viel zu unbestimmt wiedergegebene) Urteil des SchwG Loire v. 28. 1. 1920 bei Bouzat Traité de droit pénal et de criminologie I (1963) p. 273 zu Nr. 290 (Verurteilung eines Eigentümers, der in seinem Obstgarten einen Früchtedieb niedergeschossen hatte). 604 So in der Tat Paul Merkel Grundr. des Strafrechts, Teil I Allgem. Teil (1927) S. 77; für den erwachsenen (nur nicht für den unverantwortlichen, ζ. B. wahnsinnigen) Dieb Kohler Lehrb. d. Bürgerl. Rechts 1. HBd. (1904) S. 211/212 (obwohl „das gewiß sehr hart ist") und für den „ausgewachsenen Landstreicher" (nicht ein Kind), der trotz warnenden Zurufs „unbekümmert" seinen Obstdiebstahl fortsetzt, Schmidhäuser in Honig-Festschr. S. 198. 605 Das ist auch eine Rechtswahrheit, die besonders im Recht der Strafzumessung gilt und für welche englische Richter hinsichtlich einer unverhältnismäßig hohen Strafe wegen Entwendung von vier Orangen die bildhafte Formulierung gefunden haben, man solle eine Nuß nicht mit dem Dampfhammer knacken, s. Inhulsen Das englische Strafverfahren (1936) S. 133 zu Nr. 6. 606 So allgemein Fritz v. Hippel Vorbedingungen einer Wiedergesundung heutigen Rechtsdenkens (1947) S. 49; Spendet Über eine rationalistische Geisteshaltung als Voraussetzung der Jurisprudenz, Radbruch-Festschr. (1948) S. 68, 86; Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. (1973) S. 26; s. auch Schroeder 'm Maurach-Festschr. S. 139; zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Krey JZ 1979 710 zu Nr. V f, 714. 607 Wie sie Oetker VDA II (1908) S. 294 ff und jetzt wieder Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 378 (§ 26 II A 4) vorgeschlagen haben; s. auch Otto in Würtenberger-Festschr. S. 148. (140)

Notwehr (Spendei)

§32

RG(St) JW 1925 962; RGZ 111 370 und dazu schon Rdn. 246)608. Daß die Erforderlichkeit einer lebensgefährlichen Abwehrhandlung besonders sorgfältig zu prüfen und oft zu verneinen ist, ist eine andere Frage; so ist z. B. nicht zulässig ein Schreckschuß in Richtung der Obstdiebe, wenn schon ein solcher Schuß „senkrecht in die Luft" ausgereicht hätte, die Täter zu verjagen (RGSt. 56 33), oder die Anbringung einer elektrischen Selbstschutzanlage, wenn die Pfirsichdiebstähle durch weniger schwerwiegende und gefährdende Mittel hätten verhindert werden können (OLG Braunschweig MDR 1947 205 und dazu Rdn. 251). In einer besonderen Notsituation muß es sogar erlaubt sein, die drohende Ent- 316 wendung nur einer Handvoll Früchte mit der Waffe abzuwehren. Der Schiffbrüchige, der umsichtig noch drei Apfelsinen oder ein kleines Bündel Bananen ins Rettungsboot mitnehmen konnte, darf sicherlich den stärkeren Leidensgefährten niederschießen, wenn dieser ihm das wenige Obst, das in der Not gegen Hunger und Durst von unschätzbarem Wert ist, unbeherrscht wegnehmen will. Daß zwischen den durch Angriff und Abwehr bedrohten Rechtsgütern einerseits 317 eine Verhältnismäßigkeit im „positiven" Sinn nicht609, andererseits eine solche im „negativen" Sinn, d. h. eine ganz ungewöhnliche [/«Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (mag auch die Verteidigung anders nicht möglich und erforderlich erscheinen), ist heute weitgehend anerkannt. Zur Unzulässigkeit der Notwehr nach der Rechtsprechung: RGSt. 23 (1892) 116, 117 a. E.: Körperverletzung durch Revolverschüsse, mit denen ein Gastwirt Gäste hinderte, seine Bierkrüge zur Abwehr von Angriffen anderer Wirtshausbesucher zu gebrauchen (in Wahrheit aber kein rechtswidriger Angriff der durch Notstand — heute § 904 BGB — gerechtfertigten Gäste!); OLG Stuttgart DReZ 1949 42 mit Anm. Gallas: tödlicher Schuß auf Dieb, der mit einer Sirup-Flasche im Werte von damals 10 Pfennig floh (in diesem Fall jedoch die Abwehrmaßnahme gar nicht erforderlich, da der Wachmann die Flasche schon vor der endgültigen Wegnahme durch den Täter hätte sicherstellen können, also ein Problem des Festnahme- und nicht des Notwehrrechts vorlag!); BayObLGSt. 1954 59 = NJW 1954 1377: Schlag einer Frau mit dem stumpfen Teil einer Axt auf den Kopf eines Polizisten, der ihr zu Unrecht ein fremdes Huhn wegnehmen wollte, an dem sie ein Pfandrecht erworben hatte; BayObLG NJW 1965 163: Drohung mit Loslassen der Hofhunde und mit Holen einer Flinte, um die Begehung eines (für Schulkinder und Kirchenbesucher freien) Privatweges durch vier Wanderer zu verhindern; BGH MDR 1956 372: Boxhieb ins Gesicht eines Brillenträgers, der dem anderen die Hand auf den Arm gelegt hatte (in diesem Fall jedoch der Schlag schon nicht erforderlich, da die Belästigung anders abgewehrt werden konnte); OLG Saarbrücken VRS 17 (1958) 25: Auf- und Anfahren, um das verhinderte Überholen zu erzwingen; OLG Hamm NJW 1972 1826: langsames Zuund Anfahren, um eine widerrechtlich die Durchfahrt versperrende gehbehinderte Person zur Seite zu schieben; OLG Hamm NJW 1977 590, 592 1. Sp.: Mitreißen eines sich bei dem Anfahren des Autofahrers unerlaubt am Lenkrad festhaltenden Mannes, um die eigene Handlungsfreiheit zu bewahren; BGHSt. 26 51, 52 a. E.:

608 Wie fragwürdig die heutige Lehre und wie unsicher die heutige Tendenz zur „sozialethischen" Einschränkung der Notwehr sind, zeigt z. B., daß RGSt. 55 82 von Bockelmann AT S. 97 (§ 15 I 3) abgelehnt, dagegen von Gribbohm SchlHolstAnz. 1964 157 1. Sp., obwohl er auf „sozialethische" Gründe abstellt, bejaht wird. 609 Auch ist nicht, wie Uttelbach S. 86 f. gemeint hat, eine Verhältnismäßigkeit in der Stärke der im Angegriffenen widerstreitenden Motivationskräfte zu suchen. (141)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Mitnehmen eines a n d e r e n auf der Kühlerhaube über 2000 m bei einer Geschwindigkeit bis zu 120 k m / h , u m d e n nicht aus dem Wege G e g a n g e n e n a b z u s c h ü t t e l n 6 ! 0 . 318

Die UnVerhältnismäßigkeit der kollidierenden G ü t e r m u ß eine ganz außergewöhnliche sein, u m d a s Notwehrrecht e i n z u s c h r ä n k e n 6 " . Es genügt also nicht schon, d a ß - wie der StGB-Entwurf 1927 in § 27 v o r s a h 6 ^ u n d § 228 B G B f ü r die Sachwehr v o r s c h r e i b t 6 1 3 — der durch die Abwehr zu erwartende Schaden „außer Verhältnis" zu dem durch den Angriff d r o h e n d e n Nachteil s t e h t 6 ! 4 . Es ist mehr zu verlangen: das in der Verteidigung zu verletzende Rechtsgut darf gegenüber dem zu verteidigenden Angriffsobjekt nicht „außer jedem Verhältnis" ( O L G Stuttgart D R e Z 1949 42; B G H S t . 26 51, 52 a. E.; B G H bei Holtz M D R 1979 985) oder „ganz a u ß e r Verhältnis" ( B G H VRS 30 281), darf nicht in einem „krassen" ( O L G H a m m N J W 1972 1826, 1827 r. Sp. u n d N J W 1977 590, 592 1. Sp.; O L G K ö l n OLGSt. 1 a § 32) oder „unerträglichen" (BayObLGSt. 1954 59, 65; O L G Saarbrücken VRS 17 25; O L G Koblenz OLGSt. 1 a § 32 S. 5, 7) oder „außergewöhnlichen Mißverhältnis" stehen (BGH[St.] N S t Z 1981 22, 23 zu b), kurz: eine Verteidigung ist d a n n unzulässig, wenn sie „völlig maßlos" erscheint (BGH[St.] M D R 1956 372; BGH[Z] N J W 1976 41, 42 1. Sp.).

319

Diese strenge Fassung des Verbots der nicht mehr vertretbaren Disproportionalität f ü r seltene Extremfälle ist nötig, um eine Aufweichung oder gar A u f h e b u n g des Notwehrrechts zu v e r m e i d e n 6 1 5 . D e n n einmal ist auch der Verlust einer geringwertigen Sache f ü r den A r m e n genauso f ü h l b a r wie f ü r den Reichen die E i n b u ß e eines 610 Zur Sira/rechtslehre, die das Prinzip meist mit dem Begriff des „Rechtsmißbrauchs" koppelt, s. z. B. Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 31; Dreher-Tröndle Rdn. 20 (für die aber zu Unrecht RGSt. 55 82 mit dem Grundsatz in Widerspruch steht); Jescheck S. 279 (§ 32 III 3 b); Otto in Würtenberger-Festschr. S. 146 ff.; Preisendanz Anm. II. 6. c); Samson SK I Rdn. 22 f.; Schaffstein MDR 1952 135 1. Sp.; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 50; Wessels AT S. 79 (§ 8 V 3); zur Z/v/Trechtslehre : v. Feldmann in Münch. Komm. 1 (1978) § 227 Rdn. 6 (S. 1369 unt.); Palandt-Heinrichs BGB, 41. Aufl. (1982) § 227 Rdn. l.d) a. E.; Soergel-Fahse BGB 1 (1978) § 227 Rdn. 39. 611 Einzuschränken, nicht aufzuheben! Wenn in dem berühmten Schulfall der gelähmte Eigentümer den kindlichen Kirschendieb durch einen Knecht vom Baum holen lassen kann, ist diese Nötigung natürlich durch Notwehr auch dem Knaben gegenüber gerechtfertigt. 612 Vgl. auch die insoweit treffende Kritik von Schaffstein MDR 1952 132, 134 r. Sp. 613 Vgl. auch Art. 33 I Schweiz. StGB, wonach der Angriff „in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren" ist. Zu den Bestrebungen in der NS-Zeit, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Notwehr Bedeutung einzuräumen, s. RGSt. 69 308, 310 (anläßlich eines Falles zu § 229 BGB); s. auch RGSt. 72 57, 58. 614 Wie hier Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 50; and. jedoch zu Unrecht die fragwürdige Entsch. des BayObLGSt. 1963 17 = NJW 1963 824: allein schon die (nicht ernstgemeinte!) Drohung des Kraftfahrers, die ihm die Parklücke widerrechtlich versperrende Person an- oder umzufahren, stehe „außer Verhältnis" zum bedrohten Recht des Gemeingebrauchs an öffentlichen Plätzen. 615 Ebenso bezeichnend wie bedenklich die fortlaufende Abschwächung des Grundsatzes bei demselben Gericht schon in der Wortwahl: BayObLGSt. 1954 59, 65 = NJW 1954 1377, 1378 1. Sp. (Notwehr unzulässig, wenn ein „unerträgliches Mißverhältnis" zwischen den kollidierenden Gütern); BayObLGSt. 1963 17/18, 21 = NJW 1963 824, 825 r. Sp. ob. („außer Verhältnis"); BayObLGSt. 1964 111/112; 113 = NJW 1965 163, 164 1. Sp. ob. („in einem Mißverhältnis"). Ganz falsch Landtagsaussch. f. Innere Verwalt. des Landes Nordrhein-Westf. LT-Drucks. 8/5656 S. 91 (6.3. 1980): auch die private Notwehr stehe „unter dem Gebot des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes"(?!). (142)

Notwehr (Spendei)

§32

wertvollen Gegenstandes. In Krisenzeiten wird, wie insbesondere die RG-Fälle lehren (s. Rdn. 246, 315) selbst der Korb Obst oder Sack Kartoffeln ein für Angreifer und Verteidiger gleich wertvolles Objekt. Sodann ist der Wert einer Person immer dem einer Sache, mag sie noch so kostbar sein, übergeordnet, steht also stets „außer Verhältnis" zu diesem 6 ' 6 , so daß es eigentlich eine „barbarische Aufgabe" ist (M. E. Mayer AT S. 281 Anm. 13), die Verhältnis-, besser: die mehr oder minder große UnVerhältnismäßigkeit von Person- und Sachwerten feststellen zu wollen, und sich aus der Bewertung des Angriffsobjekts allzu leicht „geradezu materialistische Gesichtspunkte in die Notwehrlehre einschleichen" (Schmidhäuser AT S. 345 [9/91]; ders. in Honig-Festschr. S. 191). Wo soll überhaupt die Grenze zwischen dem noch verteidigungsfähigen wertvolleren und dem nicht mehr verteidigungswürdigen geringerwertigen Rechtsgut gezogen werden 617 ? Es läßt sich daher keineswegs generell sagen, daß nicht „zum Schutze von 60,— DM notfalls der Dieb erschossen werden" dürfe 618 . Es ist vielmehr daran festzuhalten: „Die Rechtsordnung gäbe sich selber auf, wenn sie" aus der Geringerwertigkeit 320 des Angriffsobjekts stets „die Konsequenz zöge, daß man den Räuber oder Dieb gewähren lassen muß, wo man ihn nur mittels Tötung abwehren kann" 619 . Abzulehnen ist daher — von ganz krassen Ausnahmefällen abgesehen — die heutige Tendenz, das Notwehrrecht mit dem Hinweis auf die Nichtverhältnismäßigkeit der kollidierenden Güter einzuschränken 620 oder sogar, soweit eine unt. Umst. zielgerichtete Tötung zur Verteidigung von Sachgütern rundweg für unzulässig erklärt wird 621 , ganz auszuschließen622. Es kommt darin zum Teil eine „zivilistische", auf

616 Insoweit treffend die Kritik von Schaffstein MDR 1952 132, 134 r. Sp. an der Formel „außer Verhältnis"; ebenso Bockelmann AT S. 94 (§ 15 Β I 2 b). 617 So fragen mit Recht früher schon M. E. Mayer AT S. 281 Anm. 13 und heute wieder Schmidhäuser in Honig-Festschr. S. 191. 618 So jedoch Krey JZ 1979 713; ihm folgend Roxin ZStrW 93 (1981) 95. 619 Bockelmann AT S. 94 (§ 15 Β I 2 b); ähnlich Schaffstein MDR 1952 134 r. Sp.; s. auch OLG Stuttgart DReZ 1949 42, 43 1. Sp. ob. 620 S. ζ. B. BGH VRS 30 (1965) 281: Leibesgefährdung und -Verletzung durch Zufahren auf drei Burschen, die dem Kraftfahrer vor seinem Hauseingang auflauerten und ihn verprügeln wollten, und Anfahren eines der Angreifer unt. Umst. dann „ganz außer Verhältnis" (?) zur bedrohten Freiheit des Zugangs zur eigenen Wohnung (und zur eigenen Körperintegrität?!), wenn (?), spät nachts, polizeiliche Hilfe „sofort und ohne sonderliche Mühe erreichbar war"; OLG Koblenz in OLGSt. l a §32 S. 5 bei Körperverletzung durch Schläge mit Holzknüppel gegen Beine und Körper zweier Burschen, die trotz Warnung nicht aufhörten, einen Maibaum an- und abzusägen, eventuell „unerträgliches Mißverhältnis" (?). 621 Rieh. Lange JZ 1976 548 1. Sp. (Notwehr durch absichtliche Tötung des Diebes stets unzulässig — „und wenn dieser den ,Mann mit dem Goldhelm' stiehlt"); Seelmann ZStrW 89 (1977) 56 ff, 60 (Proportionalität der Güter bei der Nothilfe stets zu beachten, s. dazu schon Rdn. 145); Schwabe Die Notrechtsvorbehalte des Polizeirechts (1979) S. 34 (auch für den Privaten „grundsätzlich die vorsätzliche Tötung zur Abwendung von Vermögensschäden wegen UnVerhältnismäßigkeit grundrechtswidrig"?); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 62 a. E. i. V. m. Rdn. 50 a. E.; Stratenwerth S. 138, Rdn. 437 (wonach die „traditionelle Regel", daß es auf die Verhältnismäßigkeit der kollidierenden Güter bei der Notwehr grundsätzlich nicht ankomme, nicht mehr gelte!?), Rdn. 440; für das Schweizer Recht s. Dubs SchwZStrR 1973 349. Vgl. schon Fußn. 511. 622 Zu dieser Frage näher Krey JZ 1979 710 ff, 712 ff. (143)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

eine „Schadensberechnung" abstellende Denkweise zum Ausdruck 6 2 3 , die im Notwehrrecht von der Zivilrechtsprechung selbst nicht geteilt wird (s. BGH[Z] NJW 1976 41, 421. Sp.; OLG Hamm OLGZ 1978 71/72: Schuß mit einer [allerdings nicht lebensgefährlichen] Spezialschrotladung auf Dieb, wenn er nach Erbrechen eines Zigarettenautomaten mit der Beute flieht) und gerade für den Strafrechtler ganz unangebracht ist.

321

V. Die Rechtsfolgen der Notwehr Wie bei den Voraussetzungen so ist bei den Rechtsfolgen der Notwehr zu differenzieren. Von folgendem ist dabei auszugehen:

1. Die Berechtigung 322 Die Notwehrlage (der gegenwärtige rechtswidrige Angriff) hat, rechtlich gesehen, das Notwehrrecht (die Verteidigungsbefugnis) 624 , die Ausübung dieses Rechts (die erforderliche Verteidigung) wiederum die Rechtmäßigkeit der den Angreifer verletzenden Notwehrhandlung zur Folge, so daß die Notwehr, den Begriff als Rechtsinstitut genommen, einen Rechtfertigungsgrund bildet (s. schon Rdn. 5). Das Recht zur Verteidigung eigener oder fremder Rechte und zum Eingriff in Güter des Angreifers entfällt nicht etwa deswegen, weil der Angegriffene durch die weniger schwerwiegende Verletzung eines Dritten seine Not(lage) wenden könnte. Im Gegenteil: Droht A dem Β mit dessen Ermordung, falls dieser nicht die C schlage (s. das Beispiel Rdn. 212) 625 , so ist Β — falls ihm das möglich ist und er sich retten und nicht opfern will — um so mehr berechtigt, den A notfalls zu töten, als er die Körperverletzung der C zu unterlassen hat 6 2 6 . Gäbe er der Todesdrohung nach und verletzte er die C, so wäre die erzwungene Handlung noch nicht einmal nach § 35 StGB entschuldigt, da sie nicht „not-wendig", vielmehr „anders", d. h. durch Ausübung des Notwehrrechts gegen A „abwendbar" war 6 2 7 . 323

Notwehrlage und Notwehrhandlung haben nicht nur straf-, sondern auch zivilund öffentlich-rechtliche Wirkungen. Die Notwehrlage begründet für den Angegriffenen, soweit er einen Schaden erleidet, neben der Abwehr- und Eingriffsbefugnis zunächst zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Angreifer aus unerlaubter Handlung (§ 823 BGB); umgekehrt entfällt mit der Rechtmäßigkeit der Notwehrhandlung eine Schadensersatzpflicht des Verteidigers für die dem Aggressor zugefügten Verletzungen, und zwar selbst dann, wenn das Angriffswerkzeug

623 Bezeichnend dafür Lehmann-Hübner Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 16. Aufl. (1966) S. 122 zu γ): „Verhältnismäßigkeit" der Güter zwar „nicht ausdrücklich vorgeschrieben", aber aus dem Merkmal der „Gebotenheit" in § 227 BGB zu folgern, da sonst das Niederschießen zur Verteidigung von geringwertigen Sachgütern zulässig sei; Herrn. Dilcher in v. Staudingers Komm, zum BGB, 12. Aufl. I (1979) § 227 Rdn. 21: „richtig" sei (?!), „eine Verhältnismäßigkeit", „also eine Güterabwägung" zu verlangen. And. zu Recht ζ. B. Palandt-Heinrichs BGB, 41. Aufl. (1982) § 227 Anm. l.d) a. A. 624 Zu den Versuchen einer näheren rechtlichen Charakterisierung s. im vorhergeh. Rdn. 2 ff. 625 Daß solche Fälle nicht etwa nur theoretisch sind, zeigt der Sachverhalt in RGSt. 64 30, in dem A den Β unter Todesdrohung sogar zwang, die C zu erschießen. 626 Darüber, daß die Körperverletzung des Β ebensowenig durch § 34 gerechtfertigt wäre, s. oben Rdn. 212 f. 627 Frank § 52 a. F. Anm. II (S. 156); Oetker in Frank-Festg. I S. 363; s. auch Löffler ZStrW 21 (1901) 540 ob. (144)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2 62

einem anderen als diesem gehört (s. auch Rdn. 211) 8 oder wenn er den Angriff verschuldet 629 oder sogar absichtlich herausgefordert hat, sofern die Absichtsprovokation nicht ihrerseits eine zum Schadensersatz verpflichtende unerlaubte Handlung ist 6 3 0 . Außerdem hat der Verteidiger, der „infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat" (Beisp. für die zweite Alternative: die von A auf V! abgegebenen Schüsse treffen den unbeteiligten Dritten D bzw. V2), einen öffentlichrechtlichen Versorgungsanspruch gegen den Staat (Bundesland) nach § 1 OEG von 1976 in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes. Der Nothelfer, der sich bei der Abwehr z. B. verletzt hat und ärztlich behandeln 324 lassen muß, hat einmal einen Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen aus Geschäftsführung ohne Auftrag nach den §§ 677, 683, 670 BGB gegenüber dem Angegriffenen, der seinerseits Regreß beim Angreifer nehmen kann 6 3 1 . Zum andern hat er ebenfalls einen öffentlichrechtlichen Anspruch, und zwar aus § 539 I Nr. 9 c) RVO, ergänzt durch § 1 I OEG i. V. m. BVersG, dort insbesondere § 65 I. 6 3 2 2. Die Verpflichtung Dagegen fragt sich, ob und wieweit der Verteidiger auf Grund der Notwehr 325 nicht nur berechtigt und gerechtfertigt, sondern auch verpflichtet sein kann. Zunächst kommt eine Pflicht zur Notwehr bzw. Nothilfe in Betracht a) auf Grund der Notwehrlage: In der Regel begründet die Notwehrlage hoch- 326 stens eine sittliche (moralische) 633 , jedoch keine rechtliche Pflicht zur Selbstverteidigung oder Nächstenhilfe. Nur ausnahmsweise kommt eine solche Rechtspflicht aus zusätzlichen straf-, zivil- oder öffentlich-rechtlichen Gründen in Frage. So ergibt sich im Strafrecht ein Gebot zur Nothilfe z. B. aus der Hilfeleistungspflicht nach § 323 c StGB, falls jemand den rechtswidrigen Angriff in Gestalt eines Notzuchtsversuchs, der für das angegriffene Mädchen ein „Unglücksfall" i. S. d. Gesetzes ist, ohne eigene Gefährdung verhindern könnte (BGHSt. 3 65, 66; BGH G A 1971 336). Im Zivilrecht folgt eine solche (Not-)Hilfspflicht z. B. aus dem gesetzlichen Sor- 327 gerecht der Eltern oder aus einem Vertragsverhältnis. So darf ein Vater, dessen 628 Ebenso Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anni. 3.a) a) (S. 793); and. jedoch Coing in v. Staudingers Komm, zum BGB, 11. Aufl. (1957) § 227 Rdn. 8 (S. 1193); s. auch Herrn. Ditcher in v. Staudingers Komm. 12. Aufl. I (1979) Rdn. 34; nicht eindeutig Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. 1 (1978) § 227 Rdn. 55. 629 So ζ. B. Knoke in Plancks Komm, zum BGB, 4. Aufl. (1913) § 227 Anm. 3 (S. 569); Oertmann aaO Anm. 2.a) γ) ßß) (S. 791); and. ζ. B. Coing in v. Staudingers Komm.ll § 227 Rdn. 8 I. Abs. a. E. 630 And. in diesem Fall auch Oertmann aaO. S. 791 unt. vor δ); ν. Feldmann in Münch. Komm. 1 (1978) § 227 Rdn. 9. 631 Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. 1 (1978) § 227 Rdn. 8; über die umstrittene Frage, ob der Nothelfer einen unmittelbaren Anspruch gegen den Angreifer hat, (verneinend) SoergelFahse aaO und überhaupt über „Die Entschädigung des Nothelfers" Eike v. Hippel in Sieg-Festschr. (1976) S. 171 ff. 632 Vgl. auch Soergel-Mühl BGB, 11. Aufl. 3 (1980) § 670 Rdn. 27, Rdn. 8 vor § 677; Lauterbach Gesetzl. Unfallversich., 1. Bd., 3. Aufl. (1981) § 541 Anm. 10. 633 Also eine „Pflicht der moralischen Selbsterhaltung" im Sinne Rud. v. Jherings Der Kampf ums Recht, 8. Aufl. (1886) S. 20, s. oben Rdn. 13. (145)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

jugendlichen Sohn ein starker Bursche angreift und zusammenzuschlagen droht, nicht etwa dem ungleichen Kampf aus der fragwürdigen Erziehungsmaxime heraus, daß sein Junge lernen müsse, sich selbst zu behaupten, tatenlos zusehen. Weiter ist gegebenenfalls, wiewohl „nicht unterschiedslos", der Versicherte als verpflichtet anzusehen, durch Ausübung der Notwehr, soweit ihm diese gefahrlos möglich ist, den Versicherungsschaden zu verhindern 6 3 4 , so etwa für den Fall, daß er als Wohnungsinhaber unschwer in der Lage ist, ohne Gefährdung der eigenen Person den Einbrecher zu vertreiben und die Entwendung der versicherten Sache zu vereiteln. 328

Eine Pflicht zur Nothilfe kann sich insbesondere aus dem öffentlichen Recht für die Polizei ergeben, deren Aufgabe gerade die Gefahrenabwehr und Verbrechensverhütung ist, auch wenn ihre vorbeugende Tätigkeit unter dem Opportunitätsprinzip steht 6 3 5 . Ihr Ermessensspielraum wird oft so eingeengt sein, daß der Beamte eingreifen und helfen muß. Wo der rechtswidrige Angriff auf einen Bürger den Versuch (oder die Vollendung) einer Straftat darstellt, die die Polizei nach § 163 StPO (repressiv) zu verfolgen hat und für die uneingeschränkt das Legalitätsprinzip gilt 6 3 6 , da hat sie vernünftigerweise auch nach Polizeirecht in nicht unerheblichen Fällen die Vollendung (oder Fortsetzung) dieser Straftat (ζ. B. einen Vergewaltigungs- oder Raubversuch) präventiv zu verhüten. Denn dem einzelnen und der Allgemeinheit ist nicht damit gedient, daß der Täter für seinen rechtswidrigen Angriff, soweit er eine strafbare Handlung ist, später bestraft wird; es ist vielmehr notwendig und „geboten", dem Angegriffenen sofort gegen die Bedrohung zu helfen, den Angreifer sofort an der weiteren Tatausführung zu hindern 6 3 7 . b) auf Grund der Notwehrhandlung: Schrifttum Bringewat Der Notwehrer als Garant aus vorangegangenem Tun, M D R 1971 716; Arthur Kaufmann-Hassemer Der praktische Fall — Strafrecht: Der Überfallene Spaziergänger, JuS 1964 151; Nahstoll Unterlassen nach Notwehr, Diss. Heidelberg 1951 (Mschr.).

329

Problematisch und umstritten ist, ob und inwiefern die Ausübung des Notwehrrechts, d. h. die Notwehrhandlung den Verteidiger unt. Umst. gegenüber dem Angreifer verpflichten kann. Das wäre dann der Fall, wenn jener nach erfolgreicher und zulässiger, den anderen verletzender Abwehr diesem noch helfen und ζ. B. für den Niedergestochenen oder Angeschossenen ärztliche Hilfe holen müßte. Allgemein formuliert lautet damit die Frage: Folgt für den sich Wehrenden aus seinem gemäß § 32 rechtmäßigen gefährdenden und verletzenden Vorverhalten eine Handlungs- oder sogar Erfolgsabwendungspflicht, die sein nachträgliches Unterlassen einer Hilfeleistung zu einem echten (§ 323 c StGB) oder, im Falle einer sich tödlich 634 So Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. 3.c) (S. 794). 635 Hierzu z.B. Drews-Wacke-Vogel-Martens Gefahrenabwehr, 8. Aufl. 2 (1975) S. 135 ff; weitergehend sogar für eine das Entscheidungsermessen ausschließende Schutzpflicht auf Grund der allgemeinen Pflicht zur Aufgabenerfüllung Knemeyer in VVDStRL H. 35 (1977) S. 221 ff, 236, 258, 289; ders. DÖV 1978 11, 12 f; für eine polizeiliche Pflicht zur Nothilfe allgemein und entschieden in der Strafrechtslehre Bockelmann in DreherFestschr. S. 244. 636 Selbst die repressive Verfolgung mancher Straftaten (§§ 153 ff. StPO) und der Ordnungswidrigkeiten (§§ 47, 53 OWiG) steht ja unter dem Opportunitätsprinzip. 637 So mit Recht ζ. B. Samper (Bay.) Polizeiaufgabengesetz, 11. Aufl. (1980) Art. 11 Anm. 12 a. E. (S. 106). (146)

Notwehr (Spendei)

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auswirkenden Notwehrhandlung, ««echten Unterlassungsdelikt (§§212 oder 222 StGB) stempeln würde 6 3 8 , oder trifft den Verteidiger überhaupt keine Hilfspflicht? Alle drei möglichen Antworten sind vertreten worden: (1) Einmal die für den Angegriffenen günstigste Ansicht, die ihn mit gar keiner 330 Hilfspflicht belastet 639 . Diese Auffassung wird heute vielen zu rigoros erscheinen, besonders der Satz, daß der in Notwehr Handelnde den verwundeten Gegner „getrost seinem Schicksal überlassen darf, obwohl er durch das vorangegangene Tun (die Notwehrhandlung) die Gefahr des Todes herbeigeführt hat" (v. LisztSchmidt AT S. 191, was sich für die Autoren „aus verständiger Auslegung des § 53 StGB [a. F.] ergibt"). Ein solches Verhalten entspräche sicherlich nicht christlicher Liebesethik, die auch die Feindesliebe gebietet, erfordert darum aber noch nicht notwendig staatliche Strafe 6 4 0 . Für die Straflosigkeit des nachträglich nicht helfenden Verteidigers lassen sich 331 Gründe ins Feld führen. Zunächst: der Angreifer hat mit seinem Rechtsbruch die ihm rechtmäßig zugefügte Verletzung selbst rechtswidrig und meist schuldhaft und strafbar verursacht und daher deren Folgen selbst zu verantworten; ferner: dem zu Unrecht Angegriffenen und sich mit Recht Wehrenden würde mit der Auferlegung einer Hilfspflicht oft eine weitere Last aufgebürdet, und zwar die Gefahr einer strafund zivilgerichtlichen Verurteilung 641 . Man denke an den einsamen (vielleicht vorbestraften) Wanderer, der nur durch einen lebensgefährlichen Messerstich seinen (bisher gut beleumdeten) Angreifer, z. B. seinen Todfeind oder einen Triebverbrecher, hat abwehren können, oder an den Wilddieb, der sich gegen den rechtswidrigen Notwehrexzeß oder die rechtswidrige „Putativnotwehr" des rücksichtslosen oder erregten Försters, z. B. dessen nicht erforderliche lebensgefährliche Schüsse, nur durch das den Beamten verletzende Zurückschießen zu retten vermochte! Wer würde hier später im Widerstreit der Aussagen dem Wilderer glauben?! Die Angegriffenen, deren Notwehr nicht überzeugend zu erweisen ist, dürften allenfalls auf einen Freispruch von der Anklage wegen Totschlagsversuchs im Strafprozeß hoffen, müßten aber mit ihrer Verurteilung zu Schadensersatz aus unerlaubter Handlung im Zivilprozeß rechnen (zur Prozeßlage s. nachfolg. Nr. VII, Rdn. 353). Ist angesichts solch einer möglichen Sachlage von demjenigen, der einen anderen in 638 Anders Arth. Kaufmann-Hassemer JuS 1964 151, die in etwas gewundenem Gedankengang für den Verteidiger zwar eine „Garantenstellung i. S. d. § 212" bejahen (S. 153), aber das Unrecht einer Tötung durch Unterlassen verneinen (S. 154) und ihn nach § 221 I, III StGB verurteilen wollen (S. 155 1. Sp.). 639 So Rob. v. Hippel II S. 166 Anm. 7; v. Liszt-Schmidt AT S. 191; Mezger Lehrb. S. 147; Sauer AStrL S. 93 ; Schwarz StGB, 22. Aufl. (1959) Vorb. 3.D.C) vor § 1 a. F. (S. 13), s. auch (Schwarz-)Dreher StGB32 (1970) Vorb. D.I.4 vor § 1 a. F. (S. 25), wo allerdings nur die zweite Lehrmeinung (s. oben) eindeutig abgelehnt wird. Vgl. noch die Kritik von Levita S. 281 an den Landesstrafgesetzbüchern des vorigen Jahrhunderts, soweit diese den Verteidiger bei unterlassener Hilfeleistung nach einer verletzenden Notwehrhandlung wegen deren Folgen oder zumindest wegen unterlassener Meldung an die Obrigkeit bestraften. 640 Die Straffreudigkeit der modernen Doktrin in solchen Fällen, wenigstens was die zweite Lehrmeinung anlangt, steht übrigens in seltsamem Kontrast zu der sonst geführten Klage über die Hypertrophie des Strafens! Daß die unterlassene Hilfeleistung des vorher Angegriffenen weniger „verwerflich" erscheint als die eines höchstens nach § 323 c StGB strafbaren Unbeteiligten, bemerkt auch Pfleiderer Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun (1968) S. 149. 641 Nicht überzeugend dazu die Überlegung von Arth. Kaufmann-Hassemer JuS 1964 154 1. Sp. (147)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

Notwehr schwer verletzt hat, unter Strafe zu verlangen, daß er sich nicht unerkannt entfernt und daß er sich um den Angreifer kümmert? 332 (2) Sodann findet sich als Gegenposition zu der vorstehenden Ansicht die zweite Lehrmeinung, die den Verteidiger, falls er dem von ihm verletzten Angreifer nicht hilft und ihn so sterben läßt, sogar wegen Tötung durch Unterlassen, d. h. wegen eines unechten Unterlassungsdelikts bestrafen, ihn also mit einer Erfolgsabwendungs- bzw. „GaranteDMpflicht belegen will 642 . Diese Auffassung ist abwegig und entschieden abzulehnen (ebenso BGHSt. 23 327) 643 . Denn es wäre eine seltsame Vertauschung der Rollen, wenn die recht mäßige Abwehr eine Erfolgsabwendungspflicht nicht ausschließen644, der rechts widrige Angriff aber eine solche begründen und den sich zu Recht Wehrenden in die Stellung eines nachträglichen Beschützers dessen, der ihm Unrecht getan hat, zwingen könnte. Der Angreifer und Rechtsbrecher wäre dann günstiger gestellt als ζ. B. ein ohne eigenes Unrecht und ohne eigene Schuld Verunglückter (so treffend BGHSt. 23 328)645. Daß dem Angegriffenen der Wegelagerer, dessen er sich gerade mit Müh und Not durch einen Messerstich hat erwehren können, als „Glied der Gemeinschaft" auf Grund seiner nunmehrigen Hilflosigkeit „besonders eng verbunden erscheint" ist eine rechtlich keineswegs überzeugende Überlegung. 333

(3) Schließlich wird als dritte Lehrmeinung die These vertreten, der einen anderen in Notwehr Verletzende habe nur eine Hilfspflicht i. S. einer bloßen Handlungspflicht gemäß § 323 c StGB und sei bei deren Nichterfüllung wegen Begehung des echten Unterlassungsdelikts strafbar (so BGHSt. 23 327)647; denn „der durch § 330 c StGB" (jetzt § 323 c) „strafbewehrte allgemeine Anspruch auf Hilfeleistung" 642 So Traeger Das Problem der Unterlassungsdelikte im Straf- und Zivilrecht (1913) S. 106; Drost Der Aufbau der Unterlassungsdelikte, GerS 109 (1937) 21/22; Vogt Das Pflichtproblem der kommissiven Unterlassung, ZStrW 63 (1950/51) 403; NahstollS. 87 ff., 120/121 ; 123, 140; Alexander Böhm Die Rechtspflicht zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten, Diss. Frankfurt/M 1957, S. 84; Granderath Die Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung aus einem vorangegangenen gefährdenden Verhalten bei den unechten Unterlassungsdelikten, Diss. Freiburg i. Br. 1961, S. 202 ff; Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung (1968) S. 266 ff, 271 ff; ders. in JZ 1971 433; Herzberg Garantenpflichten auf Grund gerechtfertigten Vorverhaltens, JuS 1971 74; ders. Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip (1972) S. 295 ff; Baumann S. 258 (§ 18 II 3 c); Maurach-Gössel-Zipf AT 2. TBd. S. 156 (§ 46 II C 5 c). 643 Ebenso Henkel Das Methodenproblem bei den unechten Unterlassungsdelikten, MschrKrimStrRef. 1961 183; Rudolphi Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz (1966) S. 180 ff; Pfleiderer Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun (1968) S. 149; Welzel S. 215; Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte (1971) S. 314; Jescheck LK § 13 Rdn. 33; Sch.-Schröder-Lenckner § 13 Rdn. 37. 644 In BGHSt. 23 327 wird ausdrücklich offengelassen, ob das gefahrbegründende Vorverhalten rechtswidrig sein müsse; s. jetzt aber BGHSt. 25 218, 221/222. 645 Etwas anderes kann auch nicht gelten, wenn die Notwehr in der eigenen Wohnung geübt worden ist, ebenso Pfleiderer aaO S. 132, 149; s. jedoch Henkel aaO S. 184 Anm. 13; Blei JA 1971 25; Preisendanz § 13 Anm. III. 4.b) cc) ß) (S. 78). 646 So erstaunlicherweise Vogt ZStrW 63 (1950/51) 403. 647 Ebenso Dahm Bemerkungen zum Unterlassungsproblem, ZStrW 59 (1940) 179; Henkel (s. Fußn. 643) S. 183/184; Welzel S. 215 zu γ); Rudolphi (s. Fußn. 643) S. 180/181 ; ders. S Κ I § 13 Rdn. 41 ; Schünemann (s. Fußn. 643) S. 314; Tröndle in GA 1973 295 ; Blei AT S. 290 (§ 87 I 2 c); Jescheck AT S. 508 und Anm. 48 (§ 59 IV 4 a); Wessels AT S. 168 (§ 16 II 6 c); im Ergebnis auch, aber wenig klar in der Begründung Bringewat MDR 1971 718. (148)

Notwehr (Spendei)

§ 3 2

verbleibe dem Rechtsbrecher auch dann, „wenn der Betroffene die Notlage selbst hervorgerufen" habe (BGHSt. 23 328). Aber diese Ansicht ist ebenfalls nicht unproblematisch, da zunächst und hauptsächlich eine Notlage für den bei seiner Notwehr vielleicht selbst verletzten, jedenfalls in dem Kampf meist mehr oder minder seelisch und körperlich „angeschlagenen" Verteidiger besteht; da weiterhin bei einem erfolgreichen Notwehrakt von einem „ Unglücksfall" (§ 323 c StGB) zu sprechen im Hinblick auf den Angegriffenen wie auf den Angreifer sprachlich gekünstelt erscheint 648 ; da endlich gegen eine nachträgliche Verpflichtung des sich vorher rechtmäßig Wehrenden anzuführen ist, daß er sich bei Erfüllung einer solchen Pflicht unt. Umst. unnötigen prozessualen Schwierigkeiten ausgesetzt sieht. Will man sich gleichwohl mit dem BGH für die dritte Auffassung entschei- 334 den 6 4 9 , ist § 323 c StGB insoweit jedenfalls ganz eng auszulegen. Der Umstand, daß von dem verletzten Angreifer, etwa einem gewalttätigen Trinker, nach dessen Versorgung, z. B. aus Wut über den ersten mißlungenen Anschlag, neue Angriffe zu befürchten sind, daß also von ihm eine Dauergefahr ausgeht (s. dazu auch Rdn. 126), muß für die Ablehnung der Strafbarkeitsvoraussetzung des § 323 c StGB, die Hilfeleistung sei dem vorher Angegriffenen „ohne erhebliche eigene Gefahr möglich", ausreichen 650 . Ebenso ist ihm keine Hilfsmaßnahme „zuzumuten", deren Unterlassung vielmehr entschuldigt 651 , falls ihm angesichts der schwierigen Beweislage eine ungerechtfertigte Strafverfolgung oder Verurteilung zu Schadensersatz im Zivilverfahren droht 6 5 2 . Die dritte Lehrmeinung wird damit in manchen Fällen zu demselben Ergebnis (Straflosigkeit) wie die erste gelangen. VI. Die „Putativnotwehr" Schrifttum Ballin Notwehrexzeß und Putativnotwehr, Diss. Erlangen 1902; v. Buri Über Irrtum in Hinsicht auf Notwehr, Arch. f. prakt. Rechtswissensch. 8 (1860) 441; Dreher Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, Heinitz-Festschr. (1972) S. 207; Engisch Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum bei Rechtfertigungsgründen, ZStrW 70 (1958) 566; Fukuda Das Problem des Irrtums über Rechtfertigungsgründe, JZ 1958 143; Häselbarth Die Putativnotwehr, Diss. Rostock 1904; Hirsch, Hans Joachim Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, Der Irrtum 648 Dieser Gesichtspunkt andeutungsweise berührt bei Schünemann (Fußn. 643) S. 314 Anm. 175 (das Vorbringen, die Verletzung durch Notwehr sei kein „Unglücksfall", sprä-, che erst recht gegen eine „Garantenstellung"). 649 Nicht entschieden oder nur halbherzig zustimmend Eb. Schmidt in: Niedersehr, üb. d. Sitz. d. Gr. Strafrechtskommiss. 2 (1958) S. 269: Der Notwehrtäter habe „keine Garantenpflicht, höchstens eine Hilfspflicht"); Bockelmann AT S. 140 (§ 17 Β I 5): Der nicht helfende Verteidiger „mag"(muß also nicht?!) „wegen unterlassener Hilfeleistung, kann aber nicht wegen Tötung bestraft werden . . . " . 650 Daß beim Drohen weiterer Angriffe nach der Hilfeleistung auch eine Erfolgsabwendungspflicht (falls eine solche anzuerkennen wäre) entfiele, räumen die Vertreter der zweiten Lehrmeinung ein, s. Granderath (Fußn. 642) S. 207; Welp (Fußn. 642) S. 266 Anm. 399), S. 273. 651 Die „Zumutbarkeit" ist bei § 323 c StGB nicht als Tatbestands-, sondern als „Schuldelement" aufzufassen, so Welzel Zur Problematik der Unterlassungsdelikte, JZ 1958 494, 495 r. Sp.; Spendel in: Dtsch. Landesrefer. zum VI. Internat. Kongreß f. Rechtsvergleich, in Hamburg 1962 (1962) S. 337, 367 f. 652 Daß die Gefahr einer Strafverfolgung die Unterlassung i. S. d. § 330 c a. F. = 323 c StGB entschuldigen kann, hat schon RG DR 1940 154 anerkannt; ebenso Welzel JZ 1958 496; s. dagegen BGHSt. 11 353. (149)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

über einen Rechtfertigungsgrund (1960); Jerschke Die Putativnotwehr, StrAbh. H. 124 (1911); Nowak Die Putativnotwehr, Diss. Köln 1936; Schaff stein Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum, Göttinger Festschr. f. d. Oberlandesgericht Celle (1961) S. 175; Schröder, Horst Notwehrüberschreitung und Putativnotwehr, ZAkDR 1944 123; Schweigmann Putativnotwehr, Diss. Würzburg 1923 (Mschr.); Weiz Die Arten des Irrtums, StrAbh. H. 286 (1931); Welzel Der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund, NJW 1952 564; s. im übrigen die Angaben bei Schroeder LK § 16 vor Rdn. 47.

335

Der Ausdruck „Putativnotwehr" oder „vermeintliche Notwehr" — in der Rechtsprechung schon früh gebraucht (RGSt. 19 298, 301 unt.; 21 189, 191 ; 54 36/37; 55 161/162, 166; 60 261 ; RG(St) JW 1925 963 Nr. 8; 964 Nr. 9; OLG(St) Hamburg JW 1933 477; RG(Z) 1924 1968; OLG[Z] Karlsruhe HRR 1931 Nr. 1130; heute ζ. B. BGH GA 1975 305; BayObLGSt. NF 1, 1951 362, 363; BGH[Z] NJW 1976 41, 42 r. Sp. a. E.) und in der Rechtslehre seit Anfang dieses Jahrhunderts geläufig 6 5 3 — ist leicht etwas irreführend. Er bezeichnet gerade nicht einen Fall der Notwehr, sondern des Irrtums (RG[St] JW 1925 964 Nr. 9), und zwar zugunsten des Täters. Damit fällt der Terminus unter den Oberbegriff des Irrtums über einen Rechtfertigungsgrund und ist, systematisch gesehen, in der Vorsatz- und Irrtumslehre abzuhandeln. Ohne hier auf die zahlreichen Lehrmeinungen, die zu einem kaum noch entwirrbaren Knäuel von Konstruktionen geführt haben 6 5 4 , näher eingehen zu können, ist im Zusammenhang mit der Notwehr nur soviel anzumerken :

336

„Putativnotwehr" bedeutet allgemein: Der Täter nimmt subjektiv die (tatsächlichen oder wertbezogenen) Voraussetzungen der Notwehr an, die, lägen sie objektiv vor, seine Tat nach § 32 rechtfertigen würden. Er glaubt also irrig, entweder sich in einer Notwehr/age zu befinden, d. h. rechtswidrig angegriffen zu werden, oder aber (womöglich in einer wirklich gegebenen Notwehrlage) eine Notwehr/iowd/ung zu begehen, d. h. die erforderliche Verteidigung zu üben. Infolgedessen ist seine Handlungsweise nach seiner (falschen) Vorstellung rechtmäßig, obwohl sie in Wahrheit rechtswidrig ist 6 5 5 .

337

Wie dieser Irrtum näher zu beurteilen ist, ist umstritten. Richtig erscheint folgende Lösung: Gleich den De/ifc/statbeständen enthalten die Notwehrvoraussetzungen als „Erlaubnis-Tatbestand" deskriptive und normative Merkmale, d. h. einerseits 653 Der Begriff scheint sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eingebürgert zu haben (s. auch Ballin S. 67 f)· Das spätere Mitglied des RG v. Buri spricht schon 1860 von „vermeintlicher Notwehr" (Arch. f. prakt. Rechtswissensch. 8 [1860] 449), in einer späteren Charakterisierung seines Aufsatzes von „putativer Notwehr" (v. Buri Beiträge zur Theorie des Strafrechts und zum Strafgesetzbuche [1894] S. 476 zu Nr. 2). Bei Binding Handb. (1885) S. 754 Anm. 75 und Berner Lehrb. d. Dtsch. Strafrechtes, 18. Aufl. (1898) findet sich der Ausdruck noch nicht, wird dagegen von anderen Autoren um die Jahrhundertwende als selbstverständlich gebraucht, s. z. B. Finger Lehrb. d. Dtsch. Strafrechts (1904) S. 387 und v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 205. 654 Vgl. dazu allgemein Schroeder LK §16 Rdn. 47 ff, 50 ff ; Sch.-Schröder-Cramer § 16 Rdn. 7 ff, 13 ff. Über frühere Auffassungen zur Putativnotwehr s. Jerschke StrAbh. H. 124 (1911) S. 3 ff; Häselbarth S. 38 ff. 655 Im umgekehrten Falle — der Täter handelt objektiv in Notwehr, subjektiv aber in Verkennung der Sachlage — liegt nach richtiger Systematik keine strafbare Handlung vor, so schon klar R G Z 84 306, 307 unt.; v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 206; Rob. ν. Hippel II S. 195 Anm. 3, 248; Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. 4.b) (S. 794); jetzt Spendei in Bockelmann-Festschr. S. 257/258 ; and. die subjektive Verbrechenslehre, die zumindest untauglichen Versuch (KG GA 1975 213, 215), wenn nicht Vollendung annimmt, s. dazu oben Rdn. 138, auch 220. (150)

Notwehr (Spendei)

§32

Merkmale, die eine Tatsache als solche (in ihrem „Dasein") beschreibend wiedergeben (z. B. „Sache" oder „Wegnahme" in § 242, „gegenwärtiger Angriff oder „erforderliche Verteidigung" in § 32), andererseits Merkmale, die eine Tatsache in ihrer Eigenschaft und Bedeutung (in ihrem „Sosein") würdigend und wertend kennzeichnen (z. B. „Fremdheit" der weggenommenen Sache oder „Rechtswidrigkeit" der beabsichtigten Zueignung in § 242, „Rechtswidrigkeit" des Angriffs in § 32). Für die ersteren ist, soweit subjektiv eine Vorstellung von ihnen erheblich ist, eine reine TatsachenYennXms ausreichend, für die letzteren eine auf Tatsachenkenntnis beruhende, aber über sie hinausgehende und sie erweiternde Bedeutungskenntnis notwendig 656 . Zwischen beiden bestehen Übergänge; die Tatsachenkenntnis kann meist nicht einer gewissen Bedeutungskenntnis entbehren, diese bedarf jener als Grundlage, da Fakten das reale Substrat der Beurteilung und Bewertung sind : Der „Angriff ist eine „reine" Tatsache; seine „Gegenwärtigkeit" und erst recht die „Erforderlichkeit" der Verteidigung setzen schon mehr als bloße „Tatsachen"kenntnis voraus 6 5 7 ; die „Rechtswidrigkeit" des Angriffs schließlich verlangt über das Tatsachenwissen hinaus ein gewisses „Wertbewußtsein". Wie bei dem vorsatzausschließenden „(Delikts-)Tatbestands-Irrtum" sind auch 338 bei der Putativnotwehr als „(Erlaubnis-)Tatbestands-Irrtum" zwei Irrtumsformen möglich, einmal ein die Fakten verkennender („reiner") Tatsachen-, zum andern ein die Tatsacheneigenschaft verfehlender Bedeutungsirrtum658. Beispiele für den ersten sind folgende praktische Fälle: Ein Juwelier glaubt in durchaus verständlichem und entschuldbarem Irrtum, von drei Burschen, die zum Scherz mit vorgehaltener Pistole in seinen Laden stürmen und die Herausgabe von Schmuck verlangen, überfallen zu werden, und erschießt daher in vermeintlicher Abwehr einen von ihnen 6 5 9 (Irrtum über eine tatsächlich nicht gegebene Notwehrlage, d. h. einen in Wirklichkeit nicht vorliegenden Angriff). Ebenso: Der Wohnungsinhaber nimmt irrig an, daß der fliehende nächtliche Einbrecher einen (in Wahrheit nicht vorhandenen) Komplicen hat und von diesem unmittelbar ein Angriff droht, und feuert deshalb eine Kugel ab (OLG[Z] Kiel Das Recht 1922 237 Nr. 1138). Oder: Ein Mann gibt noch weitere Schüsse auf seinen Schwager ab, der mit einem Dolch auf ihn losgegangen ist, weil er sich noch bedroht wähnt, obwohl er den Angreifer schon in den Oberschenkel getroffen und kampfunfähig gemacht hat (RGSt. 54 36, 37 : irrige Annahme der Gegenwärtigkeit des in Wirklichkeit nicht mehr fortgesetzten Angriffs). In diesem letzten Fall tut der Täter nach der (zunächst erforderlichen) Abwehr etwas, was nicht mehr nötig ist, da der Angriff beendet ist — Fall der „extensiven" Notwehrüberschreitung, mit der die „Putativnotwehr" keineswegs immer gleichzusetzen ist 6 6 0 . 656 Ebenso im wesentlichen Engisch ZStrW 70 (1958) 584; Dreher-Tröndle §16 Rdn. 27; Jescheck S. 373 (§ 41 III 2); Sch.-Schröder-Cramer § 16 Rdn. 16. 657 Insofern richtig der Hinweis von Welzel NJW 1952 565 r. Sp. 658 Dieser Irrtum darf nicht mit dem besonders vom RG im Gegensatz zum Begriff „ Tarirrtum" = Tatsachenirrtum gebrauchten Begriff „ÂecA/sirrtum" verwechselt werden. 659 Vgl. den praktischen Fall in Italien oben Rdn. 29! Weiter z. B. RGSt. 21 189, 190, 192: Irrige Annahme eines (zumindest noch nicht begonnenen) Angriffs und deshalb Zuschlagen mit Stock; 56 33, 34 a. E.: eventuell irrige Annahme eines von Kirschendieben auch gegen die Person des Bestohlenen drohenden Angriffs; OLG Hamm OLGZ 1978 71/72: irrige Annahme eines noch nicht beendeten Angriffs. 660 So jedoch die Verwechslung bei Schänke StGB 6. Aufl. (1952) § 53 a. F. Anm. VII; Hellm. Mayer AT S. 206 vor Nr. IX. Beide Begriffe können übereinstimmen, müssen es aber nicht, s. schon Häselbarth S. 25 ; näher Spendei LK § 33 Rdn. 24 ff. (151)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

339

Zur Bejahung einer Putativnotwehr bei Schüssen auf fliehenden Wilddieb RGSt. 53 132, 133; RG(Z) JW 1924 1968; OLG(Z) Karlsruhe HRR 1931 Nr. 1130; zur Verneinung RG(St) JW 1934 427 ; zum Vorliegen von vermeintlicher, wenn nicht wirklicher Notwehr beim Zurückschießen des flüchtenden und beschossenen Wilderers RGSt. 54 196, 199, 201.

340

Der Tatsachenirrtum kann wie über die Notwehrlage so auch über die Notwehrhandlung, d.h. über die Erforderlichkeit der Verteidigung bestehen: Ein Mann meint irrig, zur Abwehr seines drohend auf ihn losgehenden betrunkenen Bruders sei nicht nur der Gebrauch eines Hilfsmittels, sondern gleich ein wuchtiger Schlag mit dem Hammer auf den Kopf des Angreifers notwendig, obwohl drei ζ. T. mit Werkzeugen ausgerüstete Bekannte bei ihm stehen (BGHSt. 3 194, 196). Eine Frau verkennt, daß statt des Zuschlagens mit dem Nagelabsatz eines Schuhs auch ein Hieb mit dessen „Breitseite" als weniger gefährliche Abwehr ausgereicht hätte (BGH GA 1969 23, 24 zu Nr. 2)661. j n solchen Fällen bedeutet die Putativnotwehr eine „intensive" N o t w e h r ü b e r s c h r e i t u n g 662 : der Täter tut in der (an sich erforderlichen) Abwehr irrig mehr, als nötig ist.

341

Ein Bedeutungsirrtum als zweite Form der Putativnotwehr, d. h. der Irrtum über die normative, eine Wertung erheischende Notwehrvoraussetzung der „Rechtswidrigkeit" des A n g r i f f s 6 6 3 ( kommt in folgenden Fällen in Betracht: Ein Grundstückseigentümer hält zu Unrecht die Benutzung seines Privatweges durch Spaziergänger für einen widerrechtlichen Eingriff in sein Eigentum und seinen Besitz (Fall des BayObLG NJW 1965 1924, 1926 1. Sp.). Oder: Ein vorzuführender Untersuchungshäftling glaubt irrtümlich, daß seine schwerere Fesselung (Anlegung der „Acht" statt nur der angeordneten „Knebelkette") ein rechtswidriger Eingriff in seine Körperintegrität sei, weshalb er sich gegen diese größere „körperliche Beeinträchtigung" zur Wehr setzt und gegen den Vollzugsbeamten tätlich wird (Fall des OLG Celle NdsRpfl. 1966 251, 252 r. Sp.664).

342

Die irrige Vorstellung von den (tatsächlichen oder wertbezogenen) Notwehrvoraussetzungen, d. h. von den deskriptiven und normativen Merkmalen des § 32, schließt als Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes, der über Recht oder Unrecht der Tat des Irrenden entscheidet, nicht den Tat-Vorsatz, sondern das Unrechts-Bewußtsein aus 665. Denn der Täter (vermeintlicher Verteidiger) weiß und will, was er tut (daß er einen Menschen anschießt, niederschlägt oder nötigt), nur hält er infolge falscher Beurteilung der Sachlage seine Tat, die vermeintliche Notwehrhandlung, für Recht, obwohl sie objektiv als Unrecht gilt. Die Putativnotwehr ist also nur in ihrem Grunde ein „Erlaubnis-Tatbestands-Irrtum" 661 Zum Irrtum über die Erforderlichkeit der Verteidigung s. weiter RG JW 1925 963, 964 1. Sp.; RG HRR 1939 Nr. 472; BGH bei Holtz MDR 1980 453; BGH NJW 1968 1885 r. Sp.; OLG Hamburg JR 1964 265; OLG Neustadt/W NJW 1961 2076. 662 Dazu auch H. Schröder ZAkDR 1944 123 r. Sp. 663 So klar und deutlich Engisch ZStrW 70 (1958) 584 und 585 Anm. 44, s. dazu Rdn. 344 und Fußn. 671. 664 Hier ist allerdings Putativnotwehr nur hinsichtlich § 223 zu prüfen, da für den tateinheitlich damit in Betracht kommenden § 113 die Sonderregelung des § 113 IV gilt, s. Rdn. 345. 665 Insofern klar und treffend bereits Weiz StrAbh. H. 286 (1931) S. 18; Schweigmann S. 110. Auch Behringer Ztschr. f. Rechtspflege in Bayern 1909 141 1. Sp., ein Mitglied des RG, spricht schon davon, daß „infolge des tatsächlichen Irrtums wegen Unkenntnis der wahren Sachlage das Bewußtsein des Täters von der Widerrechtlichkeit seiner Handlung . . . ausgeschlossen sein kann", setzt dabei aber hinzu: „also der strafrechtliche Vorsatz". (152)

Notwehr (Spendei)

§32

(als Tatsachen- oder Bedeutungsirrtum), in ihrer Folge aber ein das Unrechts-Bewußtsein ausschließender „Erlaubnis-Norm-Irrtum", kurz: ein Rechtswidrigkeits- oder „indirekter Verbots"-Irrtum 6 6 6 , d. h. eine falsche Vorstellung vom Unrecht des eigenen Tuns 6 6 7 . Eine andere Frage ist, welche rechtlichen Wirkungen dieser Irrtum hat und ob er 343 nach § 17 StGB zu beurteilen ist, wie das ein Teil der Lehre fordert 6 6 8 . Dagegen spricht einmal die verfehlte gesetzliche Regelung, nach welcher der Unrechts- oder Verbotsirrtum nur bei Unvermeidbarkeit Straflosigkeit vom Vorsatzdelikt begründet, bei Vermeidbarkeit aber wegen vorsätzlichen Handelns strafbar bleibt, so daß mit der Anerkennung des Unrechtsbewußtseins als Strafbarkeitsvoraussetzung letztlich nicht ernst gemacht und im Ergebnis nur Rechtsfahrlässigkeit verlangt wird 6 6 9 . Zum andern ist die Putativnotwehr ein „reiner" oder doch wenigstens — als Bedeutungsirrtum — ein „qualifizierter" Tatsachenirrtum, der genau dem vorsatzausschließenden (Delikts-)Tatbestandsirrtum des § 16 entspricht. Die Rechtsprechung und die vorherrschende Lehre wenden daher zutreffend auf die Putativnotwehr in Form des reinen Tatsachenirrtums § 16 nicht unmittelbar, sondern analog an: BGHSt. 3 194, 196 i. V. m. 105/106; BGH NJW 1968 1885 (mit einer nicht ganz klaren Unterscheidung von „Erlaubnis-Tatbestands-Irrtum" nach § 16 und „Erlaubnis-Norm-" bzw. „Verbots-Irrtum" nach § 17); BGH GA 1969 23, 24; 1975 305; OLG Hamburg JR 1964 265 6 7 0 . Sie kommen damit zu demselben Ergebnis wie das RG, das § 59 a. F. ( = § 16) direkt anwandte mit der Folge, daß die Putativnotwehr — gleichgültig, ob vermeidbar (verschuldet) oder nicht (RGSt. 21 189, 192; 61 242, 258 zu Nr. III; RG JW 1925 963, 964 1. Sp.) - stets Vorsatz und Strafe wegen eines Vorsatzdelikts ausschloß und höchstens im Falle der Vermeidbarkeit (des Verschuldens) als Fahrlässigkeitsdelikt, sofern das Gesetz ein solches kennt (s. insbesondere die §§212—222, 223-230), strafbar war (RGSt. 21 189, 192; 53 36/37; 63 215, 219 ob.; RG HRR 1939 Nr. 472). Umstritten ist dagegen, ob die Putativnotwehr in Form des Bedeutungsirrtums, 344 d. h. des Irrtums über das normative Notwehrmerkmal „Rechtswidrigkeit" des Angriffs als „Erlaubnis- Tatbestands-lrrtum" entsprechend § 16 (so OLG Hamm GA 1973 244; OLG Karlsruhe NJW 1973 378, 380 1. Sp.; anscheinend auch, wenngleich nicht klar BGH JZ 1978 762 r. Sp. unt.) 6 7 1 oder als „Erlaubnis-Norm-" oder (indi666 Im weitesten Sinne ist auch der (Delikts-)Tatbestandsirrtum in seiner Folge ein „Unrechtsoder Verbotsirrtum" ; denn wer z. B. nicht weiß, daß er mit seinem Schuß einen Menschen tötet, hat hinsichtlich seiner objektiv-rechtswidrigen Tötung auch nicht das Bewußtsein, Unrecht zu tun. 667 Insofern richtig Welze! NJW 1952 564; ders. Lehrb. S. 168 F; H. J. Hirsch S. 319 ff und andere Vertreter der „strengen Schuldtheorie"; unrichtig sind nur die Konsequenzen, die diese Autoren, eingestellt auf eine vorgefaßte Bahn, ziehen. 668 Außer den in Fußn. 667 angeführten Autoren s. z. B. noch Arm. Kaufmann JZ 1955 37; Fukuda JZ 1958 143 ff; Bockelmann AT S. 123/124 (§ 16 C II 2 c) cc)). 669 Für die richtige Regelung wäre es gleichgültig, ob man das Unrechts- Bewußtsein als Merkmal des subjektiven Tatbestandes (nicht der Schuld !) selbständig neben den Tat- Vorsatz stellt oder als dessen „Bestandteil" auffaßt. 670 Ebenso Eser Strafr. I, 2. Aufl. (1976) Nr. 14 A Rdn. 24 a (S. 158); Jescheck S. 275 (§ 41 III 2 d); Dreher-Tröndle§ 32 Rdn. 27; § 16 Rdn. 27; Lackner§ 17 Anm. 5.b); Preisendanz § 16 Anm. 3.e); Wessels AT S. 105 ff (§ 11 III 1 b). 671 Ebenso Engisch ZStrW 70 (1958) 584 und 585 Anm. 44; Dreher-Tröndle Rdn. 27; Jescheck S. 376 (§ 41 III 2 d a. E.); Lackner Rdn. 5; in Sch.-Schröder Lenckner§ 32 Rdn. 65, Cramer § 16 Rdn. 16; Wessels AT S. 106 (§ 11 III 1 vor a). (153)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

rekter) „ Verbots-Irrtum" i. S. d. § 17 zu behandeln ist (so BayObLG NJW 1965 1924, 1926; OLG Celle NdsRpfl. 1966 251, 252 r. Sp.; s. auch RGSt. 72 300, 302) 6 7 2 . Richtig ist die erste Alternative, da der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Angriffs, also der fremden Tat als Kennzeichen der Notwehrlage, nicht zu verwechseln ist mit dem Irrtum über die Rechtswidrigkeit der vermeintlichen Abwehr, also der eigenen (vermeintlichen Notwehr-)Handlung. Beide Irrtümer können und werden meist miteinander korrespondieren (wer irrig glaubt, einem rechtswidrigen Angriff gegenüberzustehen, wird in der Regel auch annehmen, selbst recht mäßige Abwehr zu üben), müssen dies aber nicht; denn der Täter kann (trotz irriger Annahme eines rechtswidrigen Angriffs) in (vorsätzlichem) „Putativnotwehrexzeß" durchaus objektiv rechtswidrig und in dem Bewußtsein handeln, in der Verteidigung zu weit zu gehen und im Unrecht zu sein (s. OLG Hamburg JR 1964 265 a. E.). In diesem Fall vermag er sich natürlich nicht auf Putativnotwehr zu berufen, da er in vermeintlicher Notwehr nicht mehr als in wirklicher tun darf (BGH GA 1975 305; BGH bei Holtz M D R 1978 985; s. auch schon RGSt. 60 261, 262 I. Abs.; RG JW 1925 964 1. Sp.; JW 1926 1171 r. Sp. unt.). 345

Eine Ausnahme gilt für den Bedeutungsirrtum im Fall des Widerstandes gegen die vermeintlich rechtswidrige Diensthandlung eines Vollstreckungsbeamten, und zwar auf Grund der fragwürdigen Sonderregelung des § 113 IV StGB (s. schon Fußn. 664 zu Rdn. 341). Dieser Irrtum wird vom Gesetz ähnlich wie ein Verbotsirrtum i. S. d. § 17 behandelt: bei Vermeidbarkeit ist Strafmilderung oder Absehen von Strafe, bei ¿/«Vermeidbarkeit dagegen nur dann Strafausschluß die Folge, wenn es dem Täter nicht zuzumuten war, sich zunächst mit Rechtsbehelfen gegen die vermeintlich rechtswidrige, in Wahrheit aber rechtmäßige Diensthandlung zu wehren (§ 113 IV S. 2 StGB). Für tateinheitlich mit § 113 konkurrierende Delikte gilt diese Sonderregelung nicht. Wehrt sich jemand gegen die für rechtswidrig gehaltene Mitnahme zur Polizeiwache, so ist hinsichtlich § 223 Putativnotwehr, hinsichtlich § 113 jedoch der Irrtum nach § 113 IV zu prüfen (OLG Hamm GA 1973 244)673.

346

Keine Putativnotwehr im herkömmlichen Sinne liegt in den Fällen des Unrechtsoder Erlaubnis- bzw. Verbotsirrtums vor, der auf echten „Rechtsirrtümern" beruht. Das sind die Sachlagen, in denen der Täter die äußeren Umstände durchaus richtig sieht, seine Tat aber auf Grund falscher Rechtsvorstellungen für Notwehr und Recht hält, weil er sich über die Grenzen des Notwehrrechts irrt oder als Notwehr einen Rechtfertigungsgrund annimmt, den es gar nicht gibt (s. auch BGH NJW 1968 1885 r. Sp. a. E.; OLG Neustadt/W NJW 1961 2076, 2077 1. Sp.) 6 7 4 . Ein solcher Irrtum ist nach § 17 zu beurteilen, womit er im Sira/recht nur bei Vermeidbarkeit die Vorsatzschuld ausschließt, während er im Zw/recht stets dieses Ergebnis bedingt, da hier zur Haftung wegen vorsätzlicher unerlaubter Handlung auch das Unrechtsbewußtsein gehört, in der Regel aber auch Fahrlässigkeit ersatzpflichtig macht 6 7 5 . Beispiele für einen derartigen Unrechts- oder („indirekten") Verbotsirr672 So ζ. B. Schaffstein in Göttinger Festschr. S. 193 und erst recht vom Boden der „strengen Schuldtheorie" aus H. J. Hirsch S. 320. 673 Näher dazu v. Bubnoff LK § 113 Rdn. 46 ff ; Sch.-Schröder-Eser § 113 Rdn. 35 ff; zum Recht vor der Neufassung des § 113 durch das 3. StrRefG von 1970 s. Stockei JR 1967 281. 674 Ebenso ζ. B. Dreher-Tröndle Rdn. 27; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 65; Wessels AT S. 108 (§ 11 III 2). Dagegen für grundsätzliche Beachtung allgemein Nowak S. 37. 675 Herrsch. Mein., s. z. B. R G Z 72 4, 6; 84 188, 194; 119 265, 268; BGH(Z) NJW 1951 596, 598 1. Sp.; Fikentscher Schuldrecht, 6. Aufl. (1976) S. 280 ff (§ 53 III 3); Lehmann-Hübner Allgem. Teil des Bürgerl. Gesetzbuches, 16. Aufl. (1966) S. 351; Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. 1 (1978) § 227 Rdn. 52 f, Soergel-Reim. Schmidt^ 2 (1967) § 276 Rdn. 6 f. (154)

Notwehr (Spendei)

§32

tum sind etwa: Der den Sachverhalt sonst richtig Einschätzende nimmt an, von mehreren möglichen Verteidigungsmitteln stets das stärkste, weil sicherste wählen (BGH G A 1969 23, 24 zu Nr. 2 ) 6 7 6 oder sich auch gegen einen rechtmäßigen Angriff wehren (RGSt. 4 98, 100) oder die Sachen des zu Unrecht nicht räumenden und damit Besitz- und Eigentumsinteressen des Vermieters angreifenden Mieters zwangsweise selbst entfernen (in der Begründung verfehlt RGSt. 19 298, 301, s. Rdn. 48 f) oder „Präventivnotwehr" üben, z. B. einen Verbrecher niederschießen zu dürfen, der ihm den Tod geschworen hat, sobald er das nächste Mal allein mit ihm, dem Bedrohten, zusammentreffe (OLG Hamburg JW 1933 477, 478 r. Sp.: nicht vorsatzausschließender „Rechtsirrtum"). Man denke etwa an den Förster, der sich vor der Rache des nur auf seine Ermordung sinnenden Wilderers nicht anders zu retten weiß, oder an Schillers Wilhelm Teil, der seine Tötung Geßlers, in der späteren Auseinandersetzung mit Parricida, „mit der gerechten Notwehr eines Vaters", der sein „Teuerstes" (Familie und Freiheit) verteidigt habe, zu rechtfertigen sucht (V. Aufz., 2. Sz.), obwohl er im Augenblick seines Schusses aus dem Hinterhalt in der „hohlen Gasse" keinem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff des Landvogts ausgesetzt war, sondern ihm nur neue Angriffe für die nahe Zukunft d r o h t e n 6 7 7 , von dem Tyrannen also für Teil und seine Landsleute eine Dauergefahr ausging 6 7 8 . Daß sich die Fälle der „Putativnotwehr" und des „Notwehrexzesses" überschnei- 347 den können, aber zu unterscheiden sind, wurde schon bemerkt (Rdn. 338 und 340). Das Verhältnis beider Begriffe ist näher unter § 33 — Notwehrüberschreitung — zu erläutern. VII. Verfahrensrechtliches Was gelegentlich für das materielle Recht der Notwehr unzutreffend behauptet 348 w i r d 6 7 9 , ist für das formelle herrschende Meinung — die unterschiedliche Behandlung des Rechtfertigungsgrundes im Straf- und Zivilverfahrensrecht. Im Strafprozeß ist es unzweifelhaft nicht Sache des Angeklagten, die Voraussetzungen wirklicher oder vermeintlicher Notwehr nachzuweisen, wenn er sich darauf beruft oder ihr Vorliegen in Betracht kommt, vielmehr Aufgabe des Richters, die entsprechenden tatsächlichen Feststellungen zu treffen. Dieser darf nur dann verurteilen, wenn mit Gewißheit feststeht, daß Notwehr nicht gegeben war (RG JW 1925 1512). Sind die Voraussetzungen des § 32 dagegen weder sicher festzustellen noch ein- 349 deutig auszuschließen, bleiben also Zweifel, ob die Tat des Angeklagten gerechtfertigt ist oder nicht, geht dies „zu Lasten" der Anklage und ist der Beschuldigte nach dem Grundsatz „In dubio pro KO" freizusprechen (RGRspr. 7 664, 665; RGSt. 21 131, 135; RG[St] JW 1925 1512; RGZ 33 352, 353/354; BGH St. 18 274, 276: allge676 Ebenso z. B. Engisch ZStrW 70 (1958) S. 586 Anm. 46; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 65. 677 Vgl. auch 4. Aufz., 3. Sz: „Zu schützen vor der Rache des Tyrannen" (also vor künftigen rechtswidrigen Übergriffen!), „will er zum Morde jetzt den Bogen spannen!" 678 In diesem letzten Fall erscheint die Tat allerdings unter einem anderen Gesichtspunkt (Widerstandsrecht gegen verbrecherischen Gewaltherrscher) gerechtfertigt, so daß der Schütze letztlich doch das richtige Rechtsbewußtsein hatte. 679 So z. B. neuerdings Herrn. Dilcher in v. Staudingers Komm, zum BGB, 12. Aufl. 1 (1979) § 227 Rdn. 31; dagegen richtig Baldus LK.9 I (1974) § 53 a. F. Rdn. 52; Knoke in Plancks Komm, zum BGB, 4. Aufl. I (1913) § 227 Anm. 1 vor a); Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) § 227 Anm. l.b); neuerdings v. Feldmann MünchKomm. 1 (1978) § 227 Rdn. 1 a. A. (155)

§32

2. Abschnitt. Die Tat

mein für Strafausschlußgründe) 680 . Unrichtig und überholt ist daher die gelegentlich geäußerte Ansicht, zum Freispruch sei erforderlich, daß ein Rechtfertigungsgrund zweifelsfrei nachgewiesen sei (so OGHSt. 2 117, 126) 681 . Richtig sagt dagegen BGHSt. 10 374: „Eine Notwehrlage braucht nicht erwiesen zu sein. Wenn sich der Richter nicht davon überzeugen kann, daß sie nicht bestand, muß er den Angeklagten sogar freisprechen." 350

Das Urteil hat sich über die Verneinung der Notwehr auszusprechen, sofern 350 deren Bestehen in der Hauptverhandlung behauptet worden oder nach der Sachlage zu erwägen ist; es liegt sonst die Vermutung nahe, daß die Entscheidung auf einem Rechtsirrtum beruht und § 267 II StPO verletzt worden ist 6 8 2 . Wie das Gericht Entlastungsmöglichkeiten unt. Umst. ohne Hinweis, gegebenenfalls gegen den Willen des Angeklagten zu prüfen hat (so allgemein RG HRR 1940 Nr. 840), so auch die einer Rechtfertigung nach § 32. Selbst wenn der Beschuldigte seine Nothilfehandlung (Messerstich in den Oberarm des auf einen politischen Gegner brutal einschlagenden Angreifers) aus der Befürchtung heraus ableugnet, die Voraussetzungen der Notwehr nicht nachweisen zu können, muß sie der Richter von sich aus nachprüfen und feststellen (RG JW 1932 3070, 3071 1. Sp. mit Anm. Aisberg).

351

Entsprechendes trifft für die „Putativnotwehr" zu. Auch hier darf Verurteilung nur erfolgen, wenn die Behauptung eines solchen Irrtums zweifelsfrei widerlegt worden ist (RG JW 1925 963, 964 1. Sp.)683.

352

Anderes gilt dagegen nach vorherrschender Meinung für die Notwehr im Zivilprozeß. In diesem Verfahren wird die Berufung des Beklagten auf § 227 BGB nicht als Leugnung des Klagegrundes, die Behauptung der die Notwehr begründenden Tatsachen vielmehr als die Erhebung einer rechtshindernden Einrede i. S. der ZPO („Einwendung" i. S. des BGB) aufgefaßt 6 8 4 . Ihre Begründetheit hat danach der Beklagte zu beweisen (RGZ 33 352, 354; 88 118, 120; 159 235, 240; BGH[Z] NJW 1976 41, 42 zu Nr. 3; s. auch BGHZ 24 21, 28: allgemein für Rechtfertigungsgründe) 6 8 5 . Ebenso hat die Beweislast für die behauptete „Putativnotwehr" im Zivilprozeß derjenige, der sich darauf beruft (RGZ 88 118, 120; 159 235, 240; BGH[Z] VersR 1955 579, 580 1. Sp.; NJW 1976 41, 42 zu Nr. 3 a. E.).

353

Diese Lehre hat die Konsequenz, daß der Angegriffene, der sich nachts auf einsamer Straße des Räubers oder seines ihm auflauernden Feindes nur durch Tötung zu erwehren vermochte, seine Notwehr aber nicht sicher nachweisen kann, im Strafprozeß vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen, im Zivilprozeß dagegen zu 680 Beling Dtsch. RStrafprozeßrecht (1928) S. 240; Rob. ν. Hippel II S. 212 Anm. 2 a. E.; ders. Der deutsche Strafprozeß (1941) S. 385 Anm. 1; Stree In dubio pro reo (1962) S. 20/21; Eb. Schmidt Lehrkomm, zur StPO und zum GVG I 2. Aufl. (1964) Rdn. 371 (S. 206/207); Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. (1968) S. 102; Karl Schäfer Strafprozeßrecht (1976) Kap. 13, Rdn. 47/48 (S. 243/244); Gollwitzer in Löwe-Rosenberg 3 (1978) §261 Rdn. 127; Paulus KMR, 7. Aufl. (1980) § 244 Rdn. 316; Roxin Strafverfahrensrecht, 17. Aufl. (1982) S. 77 (§ 15 D 1); Karl Peters Strafprozeß, 3. Aufl. (1981) S. 273 (§ 37 III 1 d). 681 Vgl. auch noch OGHSt. 1 321, 338. Dazu die scharfe Kritik von Eb. Schmidt Lehrkomm. . . . I 1. Aufl. (1952) Rdn. 306 (S. 156 Anm. 41); ferner Karl Peters aaO. 682 So ausdrücklich für die Notwehr Behringer Ztschr. f. Rechtspflege in Bayern 1909 141; s. auch allgemein Gollwitzer in Löwe-Rosenberg 3 § 267 Rdn. 52. 683 So schon kurz und klar Behringer Ztschr. f. Rpflege in Bayern 1909 141 zu Nr. III. 684 L. Rosenberg Die Beweislast, 5. Aufl. (1965) S. 143, 158; Oertmann BGB, AT, 3. Aufl. (1927) §227 Anm. 7; v. Feldmann MünchKomm. 1 (1978) §227 Rdn. 11; Soergel-Fahse BGB, 11. Aufl. 1 (1978) § 227 Rdn. 59. 685 L. Rosenberg6 aaO S. 27/28 mit weit. Nachweisen. (156)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§ 3 3

Schadensersatz aus unerlaubter Handlung durch Zahlung an die Unterhaltsberechtigten des getöteten Angreifers verurteilt werden müßte 6 8 6 . Das aber bedeutet nun einen „höchst unerfreulichen Zwiespalt" (Leonhard)^ zwischen den beiden Verfahrensarten, der sowohl des Ergebnisses wegen als auch insofern einer Überprüfung wert ist, als der Kläger nicht nur die Tatsache der vorsätzlichen Lebensverletzung (§ 823 I BGB), sondern zugleich deren Widerrechtlichkeit zu beweisen hat. Aus diesen Gründen ist denn auch die in der Zivilprozeßrechtslehre vorherrschende Meinung gelegentlich bestritten worden 6 8 8 .

§ 3 3

Überschreitung der Notwehr Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft. Fassung des früheren bis zum 1. 1.1975 geltenden § 53 StGB in seinem dritten und letzten Absatz: (3) Die Überschreitung der Notwehr ist nicht strafbar, wenn der Täter in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Grenzen der Verteidigung hinausgegangen ist. Mit § 33 StGB — abgesehen von der anderen Fassung der Rechtsfolge (Nichtahndung der Handlung statt Nichtbestrafung des Täters) — in den Voraussetzungen wörtlich übereinstimmend § 15 III OWiG. Schrifttum Ballin Notwehrexzeß und Putativnotwehr, Diss. Erlangen 1902; Fischer, Jürgen Die straflose Notwehrüberschreitung, Diss. Frankfurt/M 1971; Heberlein Exzeß der Notwehr, Diss. Bern 1895; Holzheid Der Exzeß bei Putativnotwehr, Diss. Erlangen 1936; Jüttner Der Exzeß der Notwehr unter Berücksichtigung der neuesten Entwürfe, Diss. Breslau 1919; Lange, Oskar Notwehrexceß und Putativnotwehr, Diss. Frankfurt 1930; Lehnemann Die Notwehrüberschreitung nach geltendem und zukünftigem deutschem Recht, sowie nach holländischem, dänischem, österreichischem, italienischem und nach schweizerischem Recht, Diss. Erlangen 1935; Lube Der Notwehrexzeß mit besonderer Berücksichtigung der neuesten Strafgesetzentwürfe, Diss. Breslau 1913; Roxin Über den Notwehrexzeß, in: Schaffstein-Festschr. (1975) S. 105; Rudolphi Notwehrexzeß nach provoziertem Angriff, JuS 1969 461 ; Schmiemann Exzeß im Notrecht, Diss. Köln 1941 (Mschr.); Scholz, Johannes Die Überschreitung der Notwehr im geltenden und geplanten deutschen Strafrecht, Diss. Breslau 1928; Schröder, Horst Notwehrüberschreitung und Putativnotwehr, ZAkDR 1944 123; Sommer Der Exzeß der Notwehr mit Berücksichtigung der neuesten Strafgesetzentwürfe, Diss. Breslau 1913; Weil, Hermann-Georg Der Exzeß bei Putativnotwehr, Diss. Köln 1953 (Mschr.). Vgl. im übrigen die Schrifttumsangaben zu § 32. 686 Zur unterschiedlichen Berücksichtigung der Notwehrvorschrift im Straf- und Zivilprozeß näher schon R G Z 33 352, 353 f und L. Rosenberg aaO S. 27 f. 687 Leonhard Die Beweislast, 2. Aufl. (1926) S. 306. 688 Leonhard aaO (in Auseinandersetzung mit L. Rosenberg); Hellwig System des deutschen Zivilprozeßrechts I (1912, Neudruck 1968) S. 473 Anm. 13). (157)

§33

2. Abschnitt. Die Tat

Entstehungsgeschichte Hierzu ist zunächst auf die Bemerkungen und Angaben zu § 32 unter dieser Rubrik zu verweisen. § 33 bringt, von einer etwas anderen Formulierung im Satzbau abgesehen, gegenüber § 53 III, an dessen Stelle er getreten ist, vier Änderungen: Einmal hat er die Präposition „in", die vor den in der Vorschrift berücksichtigten Gemütsbewegungen steht, durch „aus"ersetzt, um damit klarzustellen, daß die Notwehrüberschreitung durch die Gefühlserregung (mit) bedingt sein muß (BT-Drucks. V/4095, S. 15; BT, SondA f. d. StrRef., Prot. V/1817 1. Sp.); die formelle Änderung bringt in der Sache nichts Neues und ist insoweit nur zu der schon in § 41 Preuß. StGB von 1851 gebrauchten Fassung zurückgekehrt (s. dazu nachfolg. Rdn. 70). Sodann hat der Gesetzgeber für den Ausdruck „Bestürzung" den Begriff „ Verwirrung" gewählt, um noch deutlicher die damit gemeinte seelische Verfassung des Täters auszudrücken (s. dazu nachfolg. Rdn. 66 und Fußn. 54). Schließlich bringt die Neuregelung hinsichtlich der Voraussetzungen wie der Rechtsfolge jeweils eine etwas andere Formulierung, indem sie einerseits nicht mehr von dem Hinausgehen über „die Grenzen der Verteidigung", sondern von dem Überschreiten der „Grenzen der Notwehr", andererseits nicht von der Nichtstrafbarkeit der Notwehrüberschreitung, sondern von der Nichtbestrafung des Täters spricht. Mit der letzten Wortwahl ist die Rechtsnatur des § 33 — im Gegensatz zur Neufassung der Notwehrvorschrift — nicht nur wie bisher unbestimmt geblieben, sondern sogar bewußt offengelassen worden (BT-Drucks. V/4095, S. 15; BT, SondA f. d. StrRef., Prot. V/1817 r. Sp.). Die Abänderungen sind also geringfügig und äußerlich und haben in der Sache an dem bisherigen Rechtszustand nichts Wesentliches geändert (ebenso Roxin in Schaffstein-Festschr. S. 105; Stree JuS 1973 461, 463).

Übersicht

I.

II.

Rdn. Allgemeine Grundlagen der Notwehrüberschreitung 1 1. Begriff und Begrenzung 1 a) Der nach Maß und Art intensive Notwehrexzeß 2 b) Der nachzeitig-extensive Notwehrexzeß 4 c) Die vorzeitige oder „Präventivnotwehr" 10 d) Der räumlich-extensive Exzeß (die „drittwirkende Notwehr") . . 16 e) Die vermeintliche oder „Putativnotwehr" 24 f) Der „Putativnotwehrexzeß" . . . 28 2. Rechtsnatur und Rechtsgrund . . . . 34 Die Voraussetzungen der Notwehrüberschreitung 1. Die objektiven Merkmale 2. Das geminderte Unrecht 3. Die subjektiven Merkmale

42 42 49 52

a) Vorsatz oder Fahrlässigkeit . . . . b) Verwirrung, Furcht oder Schrecken aa) Furcht als ein asthenischer Affekt bb) Schreck als Grund oft solch eines Affekts cc) Verwirrung als Folge auch eines anderen (sthenischen) Affekts c) Verwirrung, Furcht oder Schrecken als Ursache der Notwehrüberschreitung

Rdn. 52 58 60 63

66

70

III.

Die Rechtsfolgen der Notwehrüberschreitung 73 1. Ausnahmslos Schuldausschluß . . . . 73 2. Ausnahmsweise Schadenshaftung . . 77

IV.

Verfahrensrechtliches

83

(158)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

I. Allgemeine Grundlagen der Notwehrüberschreitung 1. Begriff und Begrenzung Was gemeinhin auch im Recht als besonders verurteilenswert gilt, das maßlose, 1 exzessive Verhalten, das schließt ausnahmsweise im Fall der Notwehr unt. Umst. gerade die Verurteilung aus: die Überschreitung der berechtigten Verteidigung. Ein solches Hinausgehen über die Grenzen des tatsächlich Notwendigen und rechtlich Zulässigen ist in mehrfacher Hinsicht möglich: einmal im Maß (Mittel, Modus), sodann in der Zeit und schließlich — was kaum gesehen wird — in der Richtung der erforderlichen und erlaubten Abwehr. Im ersten Falle hat der Verteidiger in seiner Verwirrung gegen den Angreifer zu heftig, im zweiten zu lange, im dritten zu weit um sich geschlagen, so daß er in diesem letzten Falle auch noch einen (unbeteiligten) Dritten getroffen hat. Es ist endlich möglich, daß die verschiedenen Formen einer solchen „Notwehrüberschreitung" zugleich vorliegen: der Überfallene schlägt etwa in seinem Schrecken nicht nur zu heftig, sondern auch zu lange zu (s. dazu Rdn. 9). a) Der nach Maß und Art intensive Notwehrexzeß : Unter Notwehrüberschreitung 2 im ersten Sinne, d. h. hinsichtlich des Maßes oder der Art und Weise, versteht man allgemein, daß der Angegriffene oder sein Nothelfer (OLG Oldenburg NdsRpfl. 1951 211, 212 1. Sp.) während eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs, also in wirklicher Notwehr, ζ. B. aus Furcht über die Grenzen der erforderlichen Verteidigung hinausgeht. Man spricht hier von einem echten oder intensiven Exzeß (s. ζ. B. RGSt. 62 76, 77), weil zwar tatsächlich eine Notwehrlage und rechtlich eine Notwehrbefugnis gegeben sind, die Abwehrhandlung aber nicht dem Angriffsverhalten angepaßt, sondern dafür zu stark, eben zu „intensiv", daher auch unangemessen und unnötig ist. Beispiele einer solchen (ζ. T. schuldhaften) Über-reaktion auf die Aktion des Angriffs und damit einer Überschreitung des Notwehrrechts sind: sich tödlich auswirkender Schreckschuß in Richtung der Obstdiebe, obwohl ein senkrecht in die Luft abgegebener Warnschuß sie auch vertrieben hätte (RGSt. 56 33 ; RG JW 1925 962, 963 1. Sp.); Boxhieb ins Gesicht eines angetrunkenen Brillenträgers, obgleich dessen in einer Belästigung bestehender Angriff auch unschwer durch Abschütteln der auf die Schulter gelegten Hand hätte abgewendet werden können (BGH M D R 1956 372); Messerstich, wiewohl die Androhung des Waffengebrauchs oder ein Faustschlag ausgereicht hätte (BGH bei Holtz M D R 1980 453). Daß § 33 StGB einen besonderen Fall dieses intensiven Notwehrexzesses regelt, 3 soweit er auf bestimmten Gemütsbewegungen beruht, ist unstrittig. Fraglich ist dagegen, ob unter die Vorschrift auch die beiden anderen Sachverhalte fallen, die man als zeitlich oder räumlich zu ausgedehnte Notwehr und daher als „extensiven Notwehrexzeß" bezeichnen kann und hinsichtlich der zeitlichen Überschreitung auch so bezeichnet. b) Der nachzeitig-extensive Notwehrexzeß: Eine Überschreitung der Notwehr 4 nach der Zeit ist in der Form möglich, daß der Verteidiger nach dem nicht mehr gegenwärtigen, sondern schon beendeten rechtswidrigen Angriff weiter Rechtsgüter des Angreifers verletzt. Bei dieser den Angriff nicht mehr verhindernden, nur noch vergeltenden Handlungsweise bestehen also tatsächlich keine Notwehrlage und rechtlich keine Notwehrbefugnis mehr. Ist die Verteidigung beim intensiven Exzeß im Maß oder Mittel zu stark, zu „gesteigert", so währt sie beim extensiven zeitlich zu lange, wird sie in der Dauer zu sehr „ausgedehnt". Beispiel für solch eine extensive Notwehrüberschreitung ist die Abgabe weiterer Schüsse auf den (mit einem Dolch(159)

§33

2. Abschnitt. Die Tat

messer auf den Angegriffenen losgehenden oder sonst überlegenen) Angreifer, nachdem bereits die erste oder zweite Kugel den Gegner getroffen und kampfunfähig gemacht hat (RGSt. 54 36, 37; 62,76, 77). 5 Ob dieser Fall eines extensiven Notwehrexzesses ebenfalls unter § 33 fällt, ist umstritten. Die „ständige Rechtsprechung" (so ausdrücklich RG JW 1936 512 Nr. 10)1 u n d dj e vorherrschende Rechtslehre2 halten dies „begrifflich" für unmöglich (so RGSt. 62 76, 77), da man ein Notwehrrecht, das nach Beendigung eines Angriffs nicht mehr bestehe, auch nicht mehr ausüben und dabei überschreiten könne, der Notwehrexzeß also immer eine wirkliche Notwehrlage voraussetze3. Zur näheren Begründung dieser Ansicht ist vereinzelt der Vergleich gebracht worden, daß man bei der Ohrfeige, die ein Vater seinem gerade volljährig gewordenen Sohne für eine grobe Ungehörigkeit versetze, auch nicht von der Überschreitung, sondern nur von der Anmaßung des erloschenen elterlichen Züchtigungsrechts sprechen würde4. 6

Aber diese Berufung auf die „natürliche Wortbedeutung" des Begriffs „überschreiten" ist keineswegs zutreffend; im Gegenteil — Überschreitung bedeutet zunächst ein Hinaus-gehen über etwas in räumlicher Hinsicht, dann erst im übertragenen Sinne als „Aus-schreitung" („Ex-zeß") ein Übermaß im Gebrauch an Zeit, in der Ausgabe von Geld, im Verzehr von Speis und Trank und so endlich auch in der Abwehr eines Angriffs und damit in der Anwendung von Gewalt und der Ausübung eines Rechts. Wie man örtlich eine (Landes-)Grenze über-schreiten kann, so auch zeitlich eine Frist („Zeit-raum" oder Zeit-grenze)5 oder eine Geschwindigkeit(sbegrenzung), tatsächlich das Maß an erforderlicher Verteidigung und rechtlich den Kreis einer Zuständigkeit oder Befugnis. Man wird daher keine Bedenken tragen, von dem Mieter, der die Mietsache über die vereinbarte Mietdauer hinaus im Besitz hält, zu sagen, daß er sowohl die tatsächliche Mietzeit als auch sein vertragliches Mietrecht „über-schreitet". Die Folgerung muß daher sein : „Hat die Notwehr zwei Grenzen, eine im Maß' (sc. Erforderlichkeit der Abwehr) „und eine in der Zeit (sc. Gegenwärtigkeit des Angriffs), „so ist auch eine Überschreitung beider Grenzen möglich" (Lehnemann S. 9). 7 Bestehen auch im Augenblick des nachträglichen oder „extensiven" Notwehrexzesses „begrifflich" keine Angriffssituation und keine Abwehrbefugnis mehr, so haben sie doch immerhin gerade noch bestanden, so daß der ganze Vor-gang tatsächlich als ein einheitlicher, wenngleich „übertriebener" Abwehrakt erscheint. 1

Vgl. vor allem RGRspr. 6 576, 578; RGSt. 21 189, 190/191 ; 54 36/37; 61 216, 217 a. E.; 62 76/77; 63 215, 223 vor b); 1925 963 Nr. 8; 964 Nr. 9; 1932 3073 Nr. 20; 1935 2960 Nr. 17; RG HRR 1928 Nr. 1364; RG DStR 1939 172/173; RMilG 11 166, 169; OLG Hamburg JW 1933 477, 478 r. Sp.; OGHSt. 3 121, 124; BayObLGSt. N F 1, 1951 363 = JR 1952 113; OLG Frankfurt/M GA 1970 286; nicht eindeutig BGH NJW 1968 1885 1. Sp. zu Nr. 3. 2 Rob. v. Hippel II S. 213 (and. noch ders. JW 1924 1930, 1932); Frank § 53 a. F. Anm. II (S. 163); v. Liszt-Schmidt AT S. 199 Anm. 15; Allfeld S. 127/128; Focke in StrAbh. H. 403 (1939) S. 75; Mezger Lehrb. S. 304/305; Wegner S. 193; Hellm. Mayer AT S. 206 vor Nr. IX; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. X (S. 207); Welzel S. 89; Baldus LK 9 I § 53 a. F. Rdn. 45; Schmidhäuser AT S. 473 (11/27); Jescheck S. 399 (§ 45 II 4); Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 484 (§ 34 III 1); Rudolphi SK I Rdn. 2; ders. JuS 1969 461, 463 r. Sp.; DreherTröndle Rdn. 2 ; Lackner Anm. 2 ; Geilen Jura 1981 379. 3 In diesem Sinne erst wieder in jüngerer Zeit Jürgen Fischer S. 19 ff, 21, der aber insoweit § 33 analog anwendet (S. 103). 4 So das Beispiel von Jürgen Fischer S. 20. 5 Ebenso für die zeitliche Grenzüberschreitung Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 112. (160)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

Diese Einheit folgt aus der Anschauungsform der „fließenden Zeit", die jedes noch zukünftige Ereignis in ein gegenwärtiges „über-gehen", jedes gerade gegenwärtige zum schon vergangenen „ver-gehen" läßt. Daher kann man auch nur dort von einer zeitlich extensiven Notwehrüberschreitung sprechen, wo ein enger und „unmittelbarer zeitlicher Zusammenhangzwischen der Ab-wendung eines wirklichen (gegenwärtigen) Angriffs und dem Sich-wenden gegen einen nicht mehr erfolgenden (beendeten und damit vergangenen) Angriff besteht. Wo dagegen beide Abwehrakte, der gerechtfertigte und der unberechtigte, nicht ineinander übergehen, sondern schon äußerlich klar unterscheidbar auseinander-treten, ist nicht von einer Über-schreitung, einer Über-reaktion, sondern von einer neuen und selbständigen Aktion des bisher Angegriffenen und nunmehrigen Angreifers zu sprechen. In diesem Fall kann sich aber eine Straflosigkeit aus den §§ 199, 233 StGB ergeben. Die zeitliche Über-schreitung der Notwehr muß noch als kontinuierlicher, stetiger „ Übergang " vom berechtigten zum rechtswidrigen Vor-gehen, darf also nicht als abrupter, gesonderter „Aus-gang" für einen von der Verteidigung abgehobenen widerrechtlichen Vor-gang erscheinen. Der Exzeß ist als Fortsetzung und Folge der Abwehr, nicht als Neubeginn und Grund eines (Gegen)Angriffs zu verstehen. Wer ζ. B. bei mehreren Schüssen auf den (nur durch einen gezielten Schuß abzuwehrenden) Angreifer mit der ersten oder zweiten Kugel den Gegner kampfunfähig gemacht hat (s. die Fälle in RGSt. 54 36; 62 76), überschreitet mit dem zweiten bzw. dritten Schuß seine zunächst erforderliche und zulässige Verteidigung durch Waffengebrauch ; wer dagegen den ihn Überfallenden in berechtigter Notwehr mit der Faust niedergeschlagen hat und dann erst zur Pistole greift und auf den Bewußtlosen schießt, „überschreitet" nicht mehr seine Angriffsabwehr, sondern geht nunmehr seinerseits in einem neuen Gegenangriff gegen den ursprünglichen Angreifer vor und übt nur Vergeltung für den vergangenen (und vielleicht noch Vorbeugung gegen einen zukünftigen) Angriff. Bei einem engen und unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen 8 berechtigter Re-aktion und ungerechtfertigter Über-reaktion ist in der Regel die gleiche psychische Situation auf seiten des Angegriffenen oder seines Helfers gegeben, die die „Ausuferung" seines Abwehrverhaltens ebenso verständlich wie verzeihlich macht. Deshalb ist auch der nachzeitig-extensive Notwehrexzeß — entgegen der herrschenden Meinung — unter § 33 zu begreifen 7 ; es bedarf nicht erst der analogen Anwendung der Vorschrift 8 . § 33 bleibt anwendbar, wenn sowohl ein intensiver als auch ein extensiver Not- 9 wehrexzeß vorliegen. Dafür spricht einmal, daß beide Formen kaum unterscheidbar ineinander übergehen können : Der Angegriffene hat teils zu heftig während des 6

7

8

So Heberlein S. 31 ; Joh. Scholz S. 39 ; Oskar Lange S. 28 ; Lehnemann S. 11 ; Jürgen Fischer S. 101/102; Roxin'm: Schaffstein-Festschr. S. 118. Ebenso Hälschner Das gemeine deutsche Strafrecht I (1881) S. 481 ff, 482 Anm. 1); Heberlein S. 30/31; v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 202 Anm. 345 b); M, E. Mayer AT S. 282; Rob. ν. Hippel JW 1924 1930, 1932 (and. jedoch ders. II S. 213 Anm. 5 a. E.); Joh. Scholz S. 38/39; van Calker Strafrecht, Grundr., 4. Aufl. (1933) S. 34; Lehnemann S. 9 ff, 11; Holzheid S. 20; Otto GrK Str. S. 202 (§ 15 II 2 b); ferner die Autoren, die in neuerer Zeit, allerdings unzutreffend, auch die vorzeitige Gewaltausübung als „Notwehrexzeß" ansehen: H. Schröder ZAkDR 1944 125 r. Sp.; Blei AT S. 189 (§ 62); Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 111 ff; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 7; nicht klar Baumann S. 321 (§21 II 1 c). So jedoch Jürgen Fischer S. 102 f ; s. auch Oskar Lange S. 28.

(161)

§33

2. Abschnitt. Die Tat

Überfalls, teils zu lange nach dem Angriff zugeschlagen. Zum andern läßt sich auch der Gesetzeswortlaut dafür anführen, der von der Überschreitung der (Notwehr)„Grenzen" spricht; unter dieser Mehrzahl sind die Begrenzungen der Verteidigung nach Maß und Zeit zu verstehen 9 . 10 c) Die vorzeitige oder „Präventivnotwehr": Abzulehnen sind dagegen der Begriff des extensiven Notwehrexzesses und die Anwendung des § 33 auf den Fall, daß sich der Täter zeitlich zu früh, d. h. vor einem rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt und nach einer bekannten Maxime die beste Verteidigung im eigenen Angriff sieht. Die vorzeitige Gewaltausübung eines Gefährdeten ist von der nacAzeitigen des Angegriffenen verschieden und daher scharf zu unterscheiden10. Wie früher schon betont worden ist, heute aber nicht mehr berücksichtigt wird 1 !, hat hier noch nicht einmal in irgendeinem Augenblick eine Notwehrlage und infolgedessen auch nie ein Notwehrrecht bestanden. Fehlt beim nacAzeitigen, zeitlich extensiven Notwehrexzeß das Merkmal der „Gegenwärtigkeit" des Angriffs, so bei der vorzeitigen oder vorbeugenden „Notwehr" das Merkmal „Angriff überhaupt, da es zu keiner Zeit zu einem solchen kam. Schon aus sprachlichen Gründen ist es schief, hier von einem Notwehrexzeß zu reden. Von „ t/òer-schreitung" eines Zeit-raumes spricht man nur bei längerem als nötigem und zulässigem Zeitaufwand, bei kürzerem oder geringerem dagegen von „ ί/w/er-schreitung". Wenn jedoch ein „Zeitablauf", während dessen ein Geschehen wie der Angriff andauert, noch gar nicht begonnen, die Attacke also noch gar nicht eingesetzt hat, dann ist der Ausdruck „Über-schreitung" der Zeit bereits sprachlich vollends unangebracht 12 . 11

Die als Beispiele eines angeblich vorzeitig-extensiven Notwehrexzesses angeführten Sachverhalte stellen sich denn auch bei näherem Zusehen als Fälle entweder der wirklichen oder aber der vorbeugenden oder schließlich der vermeintlichen Notwehr dar, die nach Notwehr-, Notstands- oder Irrtumsgrundsätzen zu beurteilen, nicht aber als Notwehrüberschreitung zu behandeln sind. Gerät jemand durch die Ankündigung eines Rockers, ihn, den Bedrohten, „sogleich" blutig zusammenzuschlagen, in panische Furcht und macht er deshalb den Drohenden „durch einen Präventivschlag kampfunfähig" 1 3 , so liegt in Wahrheit vor

12

eine (nach § 32 gerechtfertigte) wirkliche Notwehr, wenn die Androhung, jeden Augenblick („sogleich") wahr gemacht werden, d. h. die von dem Schläger ausgehende Gefahr alsbald in eine Verletzung „umschlagen" kann (s. Spendei LK § 32 Rdn. 23,118,131); 13 eine (durch Notstand entweder nach § 34 gerechtfertigte oder nach § 35 entschuldigte, unt. Umst. jedoch strafbare) vorbeugende Notwehr („Präventivnotwehr"), wenn die Äußerung nur die Ankündigung eines erst in einigen Stunden 9

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Diesen Schluß auf Grund des die Pluralform („Grenzen" der Notwehr) gebrauchenden Gesetzeswortlauts hält auch Holzheid S. 24 formal für nicht widerlegbar, obwohl er ihn dann doch im Hinblick auf das „doppelte Übermaß" der Abwehr aus Gründen der „Billigkeit" (?) ablehnt. So mit Recht Joh. Scholz S. 33/34; Lehnemann S. 9; Holzheid S. 22; Weil S. 50; Jürgen Fischer S. 23. Vgl. einerseits die in Fußn. 10 angeführten Autoren, andererseits Roxin in: SchaffsteinFestschr. S. III. Vgl. auch Joh. Scholz S. 33 ; Holzheid S. 23. Beispiel für einen angeblich nach § 33 zu beurteilenden vorzeitig-extensiven „Notwehrexzeß" von Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 111. (162)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

erfolgenden und daher noch zukünftigen Angriffs und damit Ausdruck einer gegenwärtigen Dauergefahr eines gefährlichen Schlägers ist (s. Spendel LK § 32 Rdn. 126, 128,129); eine (wegén Irrtums nach den §§ 16, 17 zu beurteilende) vermeintliche Notwehr, 14 wenn der Ausspruch lediglich kraftmeierisches Gerede und nicht ernst gemeint ist, der andere aber irrig entweder einen unmittelbar bevorstehenden und damit beginnenden Angriff annimmt — s traf/oíe Putativnotwehr'm Gestalt eines tatsächlichen Irrtums über eine in Wirklichkeit nicht bestehende Notwehrlage (s. den Fall in RGSt. 21 189, 191, ferner Spendel LK § 32 Rdn. 338 a. A.) oder wenn er fälschlich an ein Recht zur „Präventivnotwehr" gegen einen richtig als künftig erkannten Angriff nach der Devise „Der Angriff ist die beste Verteidigung" glaubt — unt. Umst. strafbarer Unrechts- bzw. Verbotsirrtum in Form der irrigen Annahme eines nicht bestehenden Rechtfertigungsgrundes (s. Spendel LK § 32 Rdn. 346) - . Eine Notwehrüberschreitung kommt in all diesen Fallgestaltungen nicht in 15 Betracht. Die Ablehnung des § 33 auf die vorzeitige „Notwehr" durch die herrschende Meinung ist also im Ergebnis durchaus begründet, da hier kein „extensiver Notwehrexzeß" vorliegt. Diese Feststellung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Verhalten sowohl einen Notwehrexze/3 als auch eine Präventivoder Pw/a/i'vnotwehr darstellen kann. In solch einem Falle ist die für den Handelnden günstigste Lösung zu wählen. Wenn der Bestohlene aus Furcht vor möglichen, aber noch nicht beginnenden Tätlichkeiten der Obstdiebe, die früher schon gedroht haben, ihn „zu verhauen oder gar umzubringen", in größter Erregung einen tödlich verlaufenden Schreckschuß in Richtung der Täter statt einen Warnschuß in die Luft abgibt, dann ist diese Reaktion eine Notv/ehrüberschreitung i. S. d. § 33, soweit sich der Bedrohte gegen den gegenwärtigen Angriff auf sein Eigentum oder Pachtrecht verteidigt, und je nach der Vorstellung des Schützen eine Präventiv- oder Putatimotwehr, soweit er gleichzeitig den zukünftigen Angriff auf seine Person verhindert (in dem ersten und dritten Sinne RGSt. 56 33, 34). d) Der räumlich-extensive Exzeß (die „drittwirkende Notwehr"): Problematischer 16 als das zeitlich-extensive ist das räumlich-extensive Hinausgehen über die Notwehrgrenzen, das sich auch auf Dritte erstreckt. Daß der Verteidiger z. B. aus Schreck während eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs in wirklicher Notwehr eine andere Person als den Angreifer verletzt, läßt sich ebenfalls als eine Überschreitung der Abwehr, und zwar in der Richtung begreifen (s. oben Rdn. 1). Das wird nur ganz vereinzelt mehr oder minder deutlich gesehen, obwohl das gerade „sprachlich" naheliegt 14 und auch von der Fassung des § 33 nicht ausgeschlossen wird. Denn die ursprüngliche Wortbedeutung von „überschreiten" beruht ja auf einer räumlichen Vorstellung: derjenige Verteidiger, der mit seinen Schüssen außer dem 14

So schon Rob. ν. Hippel II S. 198; in neuerer Zeit wieder, wenngleich vorsichtig, Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 124; anders zu Unrecht Jürgen Fischer S. 24, nach dem hier ebensowenig von einer „Überschreitung" gesprochen werden kann wie von dem Hinausgehen über das Züchtigungsrecht des Vaters, der nicht nur seinen Sohn, sondern gleich noch den sich mit diesem prügelnden anderen Jungen durch ein paar Maulschellen zur Räson bringt. Aber der Vergleich ist schief: der fremde Junge wird nicht notwendig von der Ausübung des elterlichen Züchtigungsrechts mitgetroffen, sondern durch eine gesonderte und selbständige Angriffshandlung verletzt.

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§33

2. Abschnitt. Die Tat

Angreifer noch einen „seitwärts stehenden" Dritten trifft (s. den Fall in RGSt. 54 36), überschreitet sichtbar den örtlichen Bereich und das „Rechtsgebiet", innerhalb dessen er gegen den Aggressor sich wehrend vorgehen darf ; er tritt damit tatsächlich und rechtlich aus der ihm zur Abwehr „ein-ge-räumten" eigenen Rechtssphäre heraus und in einen für ihn rechtsfremden Raum hinüber. Rob. ν. Hippel II S. 198 hat denn auch in einer solchen „Dri'/fwirkung" der Notwehr eine „extensive" Überschreitung — doch offenbar in der Richtung der Verteidigung! — erblickt, bei dieser aber mit Recht nicht § 53 III a. F. = § 33, sondern die Notstandsvorschriften für anwendbar erklärt. 17

In der Tat begründet das räumlich-extensive Hinausgehen über die Notwehrgrenzen nie schon als solches die Straflosigkeit, weder als auf Dritte übergreifende „Notwehr" einen Unrechts- noch als in der Richtung ausgedehnter „Exzeß" einen Schuldausschluß. Die Strafbefreiung kann sich nur ausnahmsweise aus anderen Gesichtspunkten ergeben (dazu näher Spendet LK § 32 Rdn. 204 ff). Hierbei sind folgende Unterscheidungen zu beachten :

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Soweit die Abwehr des Angreifers die Verletzung Dritter notwendig macht, weil die durch den Angriff begründete Gefahr nicht anders abwendbar ist, ist der Übergriff in die Rechtsgüter unbeteiligter Personen unt. Umst. durch Notstand gerechtfertigt (§ 34 StGB, § 904 BGB) oder entschuldigt (§ 35 StGB). Beispiel: V kann sich den ihn in einem engen Lokal angreifenden Betrunkenen A nur durch Schwenken eines Stuhls vom Halse halten, muß dabei aber bedingt-vorsätzlich einen andern Gast D anstoßen und verletzen; er ist hier D gegenüber nach § 35 StGB entschuldigt.

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Soweit der Verteidiger in seiner Aufregung und Bestürzung unnötig in die Rechte eines Unbeteiligten eingreift, kommt Straflosigkeit wegen vorsatzausschließenden Irrtums und fehlenden Fahrlässigkeitsvorwurfs oder aber Strafbarkeit wegen einer Fahrlässigkeitstat in Frage 15 . Beispiel für das erstere: Kann sich der nachts in seinem Zimmer von dem betrunkenen Vermieter angefallene Mieter nur mit einem Stock des Rasenden erwehren und trifft er dabei „in völliger Bestürzung" die Ehefrau des Angreifers, die ihren Mann von hinten umklammert hat und zurückzuhalten sucht, so hat der Verteidiger zwar die „bei einiger Aufmerksamkeit an sich mögliche" Wahrnehmung der Frau nicht gemacht, aber trotz dieser Vorhersehbarkeit des Dritten und seiner Verletzung nicht pflichtwidrig gehandelt (RGSt. 58 27, 30; ebenso RG GA 69 [1925] 441, 443). Beispiel für das letztere: Gibt ein Mann in einer Auseinandersetzung wild feuernd vier Schüsse auf seinen ihn mit einem Dolchmesser attackierenden Schwager ab, von denen bereits der erste den Angreifer kampfunfähig macht und zwei weitere dessen Schwester, die Ehefrau des Angegriffenen, tödlich verletzen, so kommt hinsichtlich des unbeteiligten Opfers weder Notwehr bzw. Notwehrexzeß noch unverschuldeter Irrtum, sondern fahrlässige Tötung in Betracht (so RGSt. 54 36/37; ferner BGH[Z] NJW 1978 2028, 2029 zu Nr.2.c); falsch daher RG JW 1932 1971,19721. Sp. mit zu Recht ablehn. Anm. Coenders).

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Anders ist natürlich die Sachlage, wenn ein Wohnungsinhaber in Furcht vor dem feindlichen Nachbarn, der mit seinem Stock ein Loch in die Türfüllung gestoßen hat und in die fremde Wohnung einzudringen sucht, ohne Vorwarnung durch die Tür schießt und dabei auch die neben ihrem Mann stehende und diesen aufhetzende Ehefrau verletzt. Hier ist dann die gegen den //aup/angreifer gerichtete, aber einen M/fangreifer treffende zu starke Abwehrhandlung (sofortiger Schuß statt 15

Vgl. auch Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. X a. E. (S. 207). (164)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

Androhung des Schußwaffengebrauchs oder Abgabe eines Schreckschusses) als Überschreitung des auch gegen die Frau bestehenden Notwehrrechts gemäß § 33 zu entschuldigen, nach RG(Z) WarnRspr. 1928 147, 149 unzutreffenderweise nur straf-, nicht auch zivilrechtlich (zu dieser Frage näher Rdn. 77 ff, 80); das RG aaO S. 150 hat allerdings in diesem Falle wegen des affektbedingten Erregungszustandes des Schützen (Schwerkriegsbeschädigter, der Angreifer dagegen „ein ziemlich großer und kräftiger Mann") Fahrlässigkeit und damit eine Schadensersatzpflicht gemäß § 823 BGB verneint und ist damit letztlich doch zu einem Haftungsausschluß gelangt. Auf Grund der vorangegangenen Unterscheidungen bestehen im Gegensatz zu 21 Sch.-Schröder-Lenckner § 33 Rdn. 10 „Bedenken", mit BGH NStZ 1981 299 Nr. 3 § 33 auf den in einem tödlichen Abwehrschuß liegenden und gegen § 53 I Nr. 7 a WaffenG verstoßenden Schußwaffengebrauch anzuwenden. Der Schuß hätte, falls er gegenüber dem Angreifer wegen Notwehr rechtmäßig gewesen wäre, darum noch nicht die nach dem WaffenG tatbestandliche Tat gerechtfertigt, da der Rechtfertigungsgrund des § 32 insoweit, d. h. gegenüber dem unbeteiligten „Dritten", hier: der vor einer Gefährdung durch Waffengebrauch zu schützenden Allgemeinheit, nicht eingreift (and. zu Unrecht RG JW 1932 1971 mit krit. Anm. Coenders; 3066 Nr. 15, 3067 1. Sp.) 16 . Es ist daher inkonsequent, anders zu urteilen, wenn der Schuß als Notv/ehrüberschreitung dem Angreifer gegenüber nur entschuldigt ist; diese Entschuldigung durch § 33 erstreckt sich dann ebensowenig wie die Rechtfertigung auf die Rechtsverletzung hinsichtlich der Allgemeinheit. Das Führen und Gebrauchen der Schußwaffe kann nur nach Notstandsrecht gerechtfertigt oder entschuldigt werden (ebenso näher Coenders in seiner krit. Anm. JW 1932 1971). Der Grund für die vorstehende Regelung und Unterscheidung ist darin zu 22 erblicken: Notwehr und Notwehrüberschreitung erfassen prinzipiell nur das Verhältnis „Verteidiger -»• Angreifer", nicht die Beziehung „Verteidiger Dritter"; denn der Unbeteiligte, der von dem einem anderen, dem Angreifer, geltenden Notwehrakt unnötig betroffen wird, ist selbst ein rechtswidrig Angegriffener und Opfer. Ist der intensive und nachzeitig-extensive Notwehrexzeß des Verteidigers gegenüber dem Angreifer wenigstens in seinem Kern und Grund noch Recht und dies nur in seinem Zuviel nicht mehr (dazu Rdn. 39, 50 f), so ist die räumlich-extensive Notwehrüberschreitung gegenüber dem unbeteiligten Dritten „durch und durch" i/nrecht. Dieser braucht daher weder auf das persönliche Selbstverteidigungsrecht noch auf den staatlichen Strafrechtsschutz zu verzichten (s. auch schon Spendel LK § 32 Rdn. 205). Eingriffe in seine Rechtsgüter sind in der Regel nur nach dem Güterabwägungsprinzip nicht verboten und, sofern dieses nicht anwendbar ist, nur in bestimmten schweren, sonst nicht abwendbaren Gefahrenlagen nicht vorwerfbar. Dem Täter darf also nicht die weitergehende Strafbefreiung des § 33 zugute kommen. Eine Ausnahme von den vorstehend entwickelten Grundsätzen ist allerdings für 23 die Fälle zu machen, in denen selbst ein Ein- und Übergriff in die Rechte Dritter durch Notwehr gerechtfertigt ist. Das sind die Sachlagen, in denen fremde Sachen oder Personen dem Angreifer als Angriffsmittel dienen (dazu näher Spendel LK § 32 16

So selbst Sch.-Schröder-Lenckner §32 Rdn. 32, §33 Rdn. 10; zu dieser verschiedenen rechtlichen Bewertung einer einheitlichen tatsächlichen Handlung (Rechtfertigung des Schusses, nicht aber schon des Schußwaffenführens nach Notwehrrecht) klar Rittler Lehrb. d. österr. Strafr., 2. Aufl. I (1954) S. 120.

(165)

§33

2. Abschnitt. Die Tat

Rdn. 210 ff). Hier ist die tatsächlich-räumliche Ausdehnung der Abwehrhandlung über den Angreifer hinaus auf andere Personen keine rechtswidrige Überschreitung des Notwehrrechts, sondern selbst ausnahmsweise rechtmäßige Notwehrausübung. Geht dabei der Angegriffene oder sein Helfer aus Furcht oder Schreck über die erforderliche und zulässige Abwehr hinaus, muß ihm § 33 um so mehr zugebilligt werden, als er die „Richtung" der Verteidigung gegen den Angreifer einhält, auch wenn sich die Wehr zugleich gegen einen Dritten „richtet". Nötigt ζ. B. der sadistische Lageraufseher A den Häftling D unter schwerer Bedrohung des Leibes oder Lebens, seinen Mithäftling V zu schlagen, so ist der sich wehrende V nicht nur durch Notwehr gemäß § 32 D gegenüber gerechtfertigt (dazu Spendet LK § 32 Rdn. 212), sondern auch wegen Notwehrüberschreitung gemäß § 33 entschuldigt, falls er in seiner aus Furcht ausgelösten Erregung zu heftig zurückschlägt. Eine „rä'Mm/i'cÄ-extensive" Überschreitung der Notwehr in der Verteidigungsrichtung ist folglich für § 33 nur dann beachtlich, wenn sie als berechtigte Abwehr die Grundlage für einen intensiven oder nachzeitig-extensiven Notwehrexzeß bildet. 24

e) Die vermeintliche oder „Putativnotwehr": Nicht zu verwechseln und zu vermengen mit dem Notwehrexzeß in dem hier umschriebenen Sinne ist die Putativnotwehr (dazu Spendel LK § 32 Rdn. 335 ff). Verfehlt sind die Behauptung des RG, zwischen beiden Rechtsfiguren bestehe „kein Zusammenhang" (so R G JW 1932 3073 Nr. 20), und der Versuch, beide Begriffe in der Weise „streng auseinanderzuhalten", daß der Notwehrexzeß eine wirkliche Notwehr(lage), die Putativnotwehr dagegen eine irrige Vorstellung über eine solche (in Wirklichkeit nicht bestehende) Sachlage voraussetze (RG JW 1925 964 Nr. 9) oder daß der erstere nur den durch einen Affekt beeinträchtigten Willen, die letztere dagegen die durch einen Irrtum beeinflußte Erkenntnis, also das Wissen des Täters betreffe (RG JW 1932 3073 Nr. 20). Denn auch bei der Überschreitung der Verteidigungsgrenzen vermag eine Gemütsbewegung wie die „Verwirrung" nicht nur das Wollen, sondern zugleich das Bewußtsein von den Abwehrbedingungen einzuschränken, und auch bei der vermeintlichen Verteidigung kann ein wirklicher Angriff gegeben sein. Weder decken sich beide Rechtsfiguren immer miteinander 1 7 , noch schließen sie sich stets aus 1 8 . Intensive und nachzeitig-extensive Notwehrüberschreitung können mit der vermeintlichen Notwehr übereinstimmen, müssen dies aber nicht19.

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Folgende Fallgestaltungen veranschaulichen die mögliche Übereinstimmung: Der Angegriffene schlägt nicht nur in seiner Verwirrung mit einem Hammer statt mit der Faust zu (intensiver Notwehrexzeß), sondern meint auch irrig, den Gegner nicht anders abwehren zu können (Putativnotwehr in Gestalt eines Tatsachenirrtums über die Erforderlichkeit der Verteidigung). Oder: Die von ihrem Mann bedrohte Frau gibt mehr Schüsse ab als erforderlich (RGSt. 62 76/77, extensiver Notwehr exzeß) und verkennt dabei, daß sie schon mit

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18 19

Eine solche Vermengung der beiden Begriffe ζ. B. bei Schänke StGB6 (1952) § 53 a. F. Anm. VII („Putativnotwehr, auch extensiver Notwehrexzeß genannt"); Maurach-Zipf AT l.TBd. S. 484 (§34 III 1): extensiver Exzeß „(vermeintliche Notwehr oder deren Überschreitung)". Wie M. E. Mayer S. 283 Anm. 17 meint; s. auch Ballin S. 96; Weil S. 28. Deshalb dürfte der Vergleich von Häselbarth Die Putativnotwehr, Diss. Rostock 1904, S. 25 und, ihm zustimmend, von Jürgen Fischer S. 26, nach denen sich beide Begriffe wie zwei sich schneidende Kreise verhalten, nicht einwandfrei sein, da die Begriffsinhalte auch ganz auseinanderfallen können. (166)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

der zweiten Kugel den Angreifer kampfunfähig gemacht hat (Putativnotwehr in Form eines Tatsachenirrtums über die Gegenwärtigkeit des Angriffs und damit mittelbar auch über die Notwendigkeit einer Abwehr!). Beide Rechtsfiguren können aber auch ganz auseinanderfallen: Der Verteidiger 26 schlägt bewußt mit dem Hammer statt nur mit der Faust zu, tut dies aber aus Verwirrung durch den Angriff des gewalttätigen Trinkers (BGHSt. 3 194, 196, 198) — nur (vorsätzlicher) intensiver Notwehrexze/?, aber keine Putativnotwehr, da der Zuschlagende nicht im unklaren darüber ist, daß er zu weit geht. Oder: Der Juwelier hält den mit einer Spielzeugpistole in seinen Laden stürmenden und einen Überfall vortäuschenden „Witzbold" für einen Verbrecher und schießt daher auf diesen (s. Spendel LK § 32 Rdn. 29, 338) — nur Putativnotwehr in Form eines Tatsachenirrtums über einen in Wirklichkeit nicht vorliegenden Angriff, aber kein Notwehrexzeß, da der Schuß bei Vorliegen eines solchen Angriffs erforderlich wäre. Bedeutet die Tat sowohl einen (intensiven oder extensiven) Notwehrexzeß als 27 auch eine Putativnotwehr, so ist genau genommen zuerst ein Strafausschluß nach der allgemeinen Irrtumsregelung (§16 oder § 17) zu prüfen; erst wenn wegen Verschuldens des Irrtums (der Putativnotwehr) eine Strafbarkeit auf Grund eines fahrlässigen Delikts in Frage kommt, greift § 33 ein (s. auch Rdn. 57) 20 . f) Der „Putativnotwehrexzeß" : Weiter ist der intensive und extensive (nachzei- 28 tige) Notwehrexzeß von dem besser nicht so genannten „Putativnotwehrexzeß" a b z u g r e n z e n 2 E s handelt sich hier nicht um die „Über-schreitung" einer objektiv gegebenen Notwehrlage, sondern um die ,,Λί«-schreitung" in einer nur subjektiv angenommenen Verteidigungssituation, also um eine auf Irrtum beruhende Rechtsverletzung. Dabei sind verschiedene Fallgestaltungen möglich: Ein furchtsamer Mensch glaubt irrig, von einem mit erhobener Hand auf ihn 29 zustürzenden Mann, der in Wahrheit nur Hilfe sucht, angegriffen zu werden, und sticht diesen im ersten Schreck nieder, obwohl bei einem wirklichen Angriff ein Faustschlag zur Verteidigung ausgereicht hätte. Hier irrt der Täter nicht nur über das Bestehen eines Angriffs, sondern auch über das Ausmaß der Abwehr („intensiver Putativnotwehrexzeß"). Hätte der Täter zwar nur seine Fäuste gebraucht, aber noch zugeschlagen, als 30 der vermeintliche Angreifer schon hinfiel und ein Angriff nicht mehr in Betracht kam, so hätte er sich auch über die Gegenwärtigkeit des Angriffs und damit mittelbar auch über die Notwendigkeit einer Verteidigung geirrt („extensiver [nachzeitiger] Putativnotwehrexzeß"). Schließlich können auch hier beide Fallgestaltungen kombiniert sein : Der ver- 31 meintlich Angegriffene und sich Wehrende schlägt nicht nur zu heftig (insoweit „intensiver"), sondern auch noch zu lange auf den anderen ein (insoweit „extensiver Putativnotwehrexzeß"). In der Rechtsprechung (besonders klar und entschieden RG JW 1922 1211 Nr. 2 32 mit krit. Anm. Baumgarten) und auch in der Rechtslehre wird eine (analoge)

2° Vgl. auch H. Schröder ZAkDR 1944 123 r. Sp. 21 Beide Begriffe nicht auseinandergehalten ζ. B. von Baumann S. 321 (§ 21 II 1 c): „Putativnotwehrexzeß (oft auch extensiver Notwehrexzeß genannt)". (167)

§33

2. Abschnitt. Die Tat

Anwendung des § 33 auf die Fälle des „Putativnotwehrexzesses" abgelehnt 22 . Diese Ansicht ist richtig. Zwar ist auf Seiten des sich vermeintlich Wehrenden und dabei aus Furcht oder Schreck (vorsätzlich oder fahrlässig) für den Fall eines wirklichen Angriffs zu weit Gehenden die gleiche psychische Situation gegeben wie bei dem sich tatsächlich Verteidigenden und dabei sein Notwehrrecht Überschreitenden 2 ^. Anders ist aber die Sachlage auf der Gegenseite. Hier steht kein zuerst Unrecht begehender Angreifer, sondern ein von vornherein im Recht befindliches Opfer, das genauso schutzwürdig ist wie jeder Dritte, in dessen Rechtsgüter rechtswidrig eingegriffen wird. Dem vermeintlichen Verteidiger oder Nothelfer ist daher nur insoweit Straflosigkeit zuzubilligen, als ihm eine solche nach allgemeinen Grundsätzen der Irrtumsregelung zukommt. Nicht aber ist ihm darüber hinaus noch ein besonderer „Rabatt" für Furchtsamkeit, Schreckhaftigkeit oder „Kopflosigkeit" (s. das Merkmal „Verwirrung" in § 33) zuzuerkennen. Für seine wegen Putativnotwehr unvorsätzliche, aber rechtswidrige Verletzung eines Dritten bleibt der Täter straflos (soweit nicht sein Irrtum „verschuldet" ist, d. h. auf Fahrlässigkeit beruht und nicht eine Strafbarkeit wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht kommt). Ihn außerdem noch straflos zu lassen für seine aus Furcht oder einer anderen Gemütsbewegung i. S. d. § 33 verursachte weitergehende und erst recht unnötige Rechtsverletzung besteht kein Anlaß. 33

Auch wenn der Dritte den „Putativnotwehrexzeß" selbst „verschuldet" hat, hat das Gleiche zu gelten 24 . Denn das „mißbilligenswerte" Verhalten des einen entbindet noch nicht den anderen von der Pflicht zu einer rechtmäßigen Reaktion und von der Strafe für eine rechtswidrige. Macht sich jemand den üblen Scherz, einen Überfall vorzutäuschen (s. das zweite Beispiel in Rdn. 25), so ist das Hinausgehen des scheinbar Angegriffenen über die für den angenommenen Fall erforderliche Verteidigung nur dann straflos, wenn dieser „Exzeß" weder vorsätzlich noch fahrlässig begangen wurde.

2. Rechtsnatur und Rechtsgrund Die Rechtsnatur der Notwehrüberschreitung ist umstritten. Der Gesetzgeber hat mit der neutralen Fassung, daß der nach § 33 in seiner Verteidigung zu weit gehende Täter „nicht bestraft wird", eine Stellungnahme bewußt vermieden 25 . 35 Da die Verbrechenssystematik im vorigen Jahrhundert noch nicht näher entwikkelt war und die Begriffe „Straf-" und „Schuldausschließungsgrund", „Rechtfertigungs-" und „Entschuldigungsgrund" mangels klarer Bestimmung noch durchein-

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RGSt. 21 189, 191 ; RG JW 1925 963 Nr. 8, 964 1. Sp.; 964 Nr. 9; 1932 3066 Nr. 15; 1936 512 Nr. 10; RMilG 1 69, 71 ; 2 21, 23; 10 282, 283/284; Oetker in: VDA II (1908) S. 289 Anm. 5; Frank § 53 a. F. Anm. II.2 (S. 164); Focke in StrAbh. H. 403 (1939) S. 77; Jürgen Fischer S. 96; Baldus LK9 I §53 a. F. Rdn. 46; Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 120; Jescheck S. 399 (§ 45 114); Wessels AT S. 99 (§ 10 VII 3 d); Th. Vogt Jura 1981 384. Aus diesem Grunde sind für (analoge) Anwendung des § 33, z. T. nur bei Fahrlässigkeit, z. B. Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 360; Baumgarten in Anm. JW 1922 1211 ; Oskar Lange S. 31 f ; H. Reichel in Anm. JW 1933 477, 478 1. Sp. ; Holzheid S. 31 ff, 37; H. Schröder ZAkDR 1944 125; Weil S. 85, 96; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 8; nur für den Ausnahmefall des vom Verletzten provozierten Putativnotwehrexzesses: Jürgen FischerS. 97; Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 120; nur für den Fall des unvermeidbaren Putativnotwehrexzesses Rudolphi JuS 1969 4641. Sp. Anders jedoch z. B. Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 120. BT-Drucks. V/4095, S. 15; BT, SondA. f. d. StrRef., Prot. V/S. 1817 r. Sp. (168)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

ander gebraucht wurden (s. Spendel LK § 32 Rdn. 5 und Fußn. 17—20), hatte auf der einen Seite die Gesetzgebung ursprünglich die Notwehrüberschreitung ζ. T. noch für „gerechte Notwehr" erklärt (§ 2 g Österr. StGB von 1852) oder der Notwehr „gleich geachtet" (§41 Preuß. StGB von 1851), auf der anderen Seite die Rechtsprechung bis Anfang dieses Jahrhunderts von der Notwehr als „Straf-" oder „Schuldausschließungsgrund" gesprochen (s. Spendel LK § 32 Fußn. 20 zu Rdn. 5) 26 . Erst als man erkannte, daß die Überschreitung der Notwehr dieser keineswegs gleichsteht, bemühte man sich, die erstere von der letzteren, d. h. den nur die Strafbarkeit des Täters ausschließenden Exzeß von der schon die Straf- und ZWúrechtswidrigkeit der Tat ausschließenden Notwehr zu unterscheiden (s. z. B. RGZ 21 [1888] 295, 296). Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat zunächst in § 53 III a. F. ausdrück- 36 lieh (so RGZ 21 [1888] 296; RMilG 1 [1901] 69, 70; 10 [1906] 282, 283) oder in etwas verschlungener Formulierung (so RG[St] JW 1889 333 Nr. 5; s. auch RGSt. 11 [1884] 277) 27 einen „subjektiven" oder „persönlichen Strafausschließungsgrund" gesehen 28 . Das RG in Strafsachen hat dann später vorsichtiger und allgemeiner von der „strafausschließenden Wirkung" des Notwehrexzesses (RG JW 1893 214 Nr. 3) oder davon gesprochen, daß der Täter nach § 53 III a. F. „nicht strafbar" sei (RG JW 1925 962, 963 1. Sp.) oder „straflos" bleibe (RGSt. 21 189, 191 unt.; RG HRR 1929 Nr. 670; JW 1935 431 Nr. 15). Es hat schließlich die systematische Einordnung bewußt offengelassen (RGSt. 66 [1932] 295, 296: „ . . . mag aus dieser Vorschrift ein Sc/iwWausschließungsgrund oder ein persönlicher Sira/ausschließungsgrund zu entnehmen sein"). Noch unter der Herrschaft des RG begann sich aber allmählich in der gerichtli- 37 chen Praxis die auch immer mehr in der Theorie vertretene und heute als herrschend anzusehende Einsicht durchzusetzen 29 , daß die Notwehrüberschreitung als Rechtsinstitut einen Entschuldigungsgrund (Schuldausschließungsgrund) bildet, so 26

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Wie Ende des vergangenen Jahrhunderts die Begriffe noch durcheinandergingen, zeigt RGSt. 11 (1884) 277 f, nach der einerseits „der durch Bestürzung, Furcht oder Schrecken herbeigeführte Exzeß der N o t w e h r . . . , was den Begriff eines die Schuld selbst im Moment der Tat ausschließenden Grundes anlangt, nach dem System des Strafgesetzbuches der innerhalb der Grenzen der erforderlichen Verteidigung gebliebenen Notwehr vollkommen gleichsteht", andererseits „mindestens im Falle echter Notwehr von vornherein jede strafrechtliche Verschuldung schon wegen Mangels der Rechtswidrigkeit ausgeschlossen ist". Nach RG JW 1887 180 Nr. 7 ist die Notwehrüberschreitung „nur dann straflos, wenn sie aus Bestürzung... eingetreten ist, nicht auch wenn dies aus anderen psychologischen Entschuldigungsgründen der Fall ist". Vgl. auch RG JW 1893 214 Nr. 3 („strafausschließende Wirkung"). RGSt. 43 342, 343 bezeichnete noch 1910, Sommer S. 2 noch 1913 die Notwehr als „Sc/mMausschließungsgrund". RG JW 1889 333 Nr. 5 spricht von „der in § 53 Abs. 3 StGB bei Überschreitung der Notwehr als Sfra/äusschließungsgrund anerkannten ,Bestürzung'"; RGSt. 11 277 unterscheidet von den Strafaufhebungsgründen „die Strafausschließungsgründe der §§ 51 flg. StGB". Es ist also unzutreffend, daß „auch die Rechtsprechung sich nie darauf hat festlegen mögen, ob der Notwehrexzeß als Schuldausschließungsgrund oder als persönlicher Strafausschließungsgrund aufzufassen sei", wie Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 125 noch 1975 meint. Nicht so eindeutig kann man diese Ansicht, wie es verschiedentlich geschieht (so z. B. Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 2), schon entnehmen aus den Entscheidungen RGSt. 56 (1921) 33, 34 (nach der der Täter im Falle des § 53 III a. F. für die Folgen seines Tuns „nicht verantwortlich" ist); BGH NJW 1968 1885.

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§33

2. Abschnitt. Die Tat

O L G H a m b u r g J W 1933 477, 478 r. Sp. mit Anm. Grünhut u n d H. Reichel („schuldbefreiender Notwehrexzeß i. S. des § 5 3 Abs. 3 StGB"); BayObLGSt. N F 1, 1951 362, 364 (§ 53 a. F. schließe „die strafrechtliche Schuld des Täters" aus); BGHSt. 3 (1952) 194/195, 198 (eine Notwehrüberschreitung aus Zorn „entschuldige aber nicht"); B G H N J W 1962 308, 309 r. Sp. (das „durch B e s t ü r z u n g . . . entschuldigte Verhalten"); B G H G A 1969 23, 24 zu Nr. 3 (die in § 53 III a. F. „genannten Schuldausschließungsgründe"); B G H NStZ 1981299 zu Nr. 3 (tödlicher Schuß „durch Notwehrüberschreitung entschuldigt"); s. auch noch B G H N J W 1969 802 zu Nr. 4. Damit stimmt die Rechtslehre jetzt weitgehend überein 3 0 . 38

Dagegen sieht eine meist früher anzutreffende beachtliche Mindermeinung in § 33 nur einen persönlichen S/ra/ausschließungsgrund 3 1 , von vereinzelten, aber nicht überzeugenden anderen Charakterisierungsversuchen u n d Begriffsbildungen abgesehen, nach denen § 53 III a. F. bzw. § 33 eine „unwiderlegliche Präsumtion fehlender Fahrlässigkeit", eine „Beweisregel" f ü r den Fahrlässigkeitsausschluß 3 2 oder aber einen „strafrechtlichen Verantwortlichkeitsausschluß" darstellen soll 3 3 . Die Deutung als Strafausschließungsgrund verbietet sich, weil unter diesem Terminus weitgehend strafrechtsfremde Fälle erfaßt werden, in denen dem Täter trotz strafrechtlicher Schuld ζ. B. aus rechtspolitischen oder völkerrechtlichen G r ü n d e n Strafbefreiung gewährt wird.

39

Der Grund, warum die Notwehrüberschreitung wegen bestimmter Gemütsbewegungen rechtlich zu entschuldigen ist, ist folgender: Zunächst ist bereits das Unrecht dieses Exzesses geringer als das einer äußerlich vergleichbaren, aber nicht durch einen rechtswidrigen Angriff ausgelösten Tat. Wie schon früh in der Theorie bei der Frage der Bestrafung der schuldhaften rechtswidrigen Notwehrüberschreitung bemerkt worden ist 3 4 , ist die Verletzung des Angreifers durch den zu weit gehenden Verteidiger immerhin teilweise gerechtfertigt, so daß es unbillig erscheint, wenn das Gesetz die Tat (den auch schuldhaften Exzeß) als Ganzes ohne Abzug dessen, was erlaubt war, straft u n d nicht — wie früher ζ. T. im Schweizer Strafrecht und ζ. B. im 30

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Kohler Leitfaden des deutschen Strafrechts (1912) S. 49; Sauer Grundlagen des Strafrechts (1921) S. 642; Joh. Scholz S. 44/45; v. Liszt-Schmidt AT S. 199; Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 7; Grünhut in Anm. JW 1933 477; Holzheid S. 14; Niethammer in v. Olshausens Komm. § 53 a. F. Anm. 17; Mezger Lehrb. S. 364; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. X (S. 207); Welzel S. 88; Schmidhäuser AT S. 362 (9/114), 471 (11/24ff); Otto Grit Str. S. 201 ; Baumann S. 321 (§ 21 II 1 c); Blei AT S. 188 (§ 62); Bockelmann AT S. 132 (§ 16 D IV); Jescheck S. 398 (§ 45 II 2); Wessels AT S. 98 (§ 10 VII 3); Dreher-Tröndle Rdn. 3; Lackner Anm. 1 ; Rudolphi SK I Rdn. 1 ; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 2; Geilen Jura 1981 378. In der Zivifrechtslehre vereinzelt Reichelm Verh. d. 34. DJT 1926 I (1927) S. 136, 172; ders. in Anm. JW 1933 477. Lube S. 21 ; Schwartz Das StGB f. d. Dtsche Reich (1914) § 53 a. F. 4 (S. 172); Wachenfeld Lehrb. d. deutschen Strafrechts (1914) S. 120; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 359; Jättner S. 23; M. E. Mayer AT S. 283; Rob. ν. Hippel II S. 213, 198 Anm. 5; Gerland S. 149; Allfeld S. 127 Anm. 37); Lehnemann S. 17, 19; Jagusch LK8 I (1957) § 53 a. F. Anm. 7.b) (S. 413); Jürgen Fischer S. 80 ff; unentschieden oder nicht eindeutig Frank §53 a. F. Anm. II (S. 163 vorl. Abs.), III.2 (S. 164); Focke in StrAbh. H. 403 (1939) S. 76. H. SchröderZAkDR 1944 123, 124; Schönke-Schröder StGB17 (1974) § 53 a. F. Rdn. 36. Roxin in Henkel-Festschr. S. 189; ders. in Schaffstein-Festschr. S. 126/127; s. auch Maurach-ZipfAT 1. TBd. S. 463 (§ 33 I A): „Ausschluß der Tatverantwortung". Hälschner Das gemeine deutsche Strafrecht I (1881) S. 482; Heberlein S. 52 ff; Ballin S. 62; JüttnerS. 25; WeilS. 37. (170)

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Bad. StGB von 1845 (§ 92) — einen gesetzlichen Strafmilderungsgrund aufstellt. Wer als geübter Boxer den ihn Überfallenden statt mit der Faust mit einem Hammer niederschlägt oder mit einem Messer niedersticht und schwer verletzt und damit die notwendige Abwehr überschreitet (intensiver Notwehrexzeß), ist ja immerhin zur körperlichen Verletzung des Angreifers berechtigt, aber nur zur einfachen (§ 223), nicht zu dem Mehr einer gefährlichen (§§ 223, 223 a) oder gar schweren Körperverletzung (§§ 223, 224). Das materielle Unrecht der formell rechtswidrigen, weil zu intensiven Verteidigung ist also zweifellos geringer als das einer äußerlich entsprechenden, aber nicht im Notwehrexzeß begangenen qualifizierten Tat i. S. d. §§ 223 ff 3 6 . Auch beim extensiven (nachzeitigen) Exzeß wird das oft so sein37 : Wer unmittelbar nach rechtmäßiger Abwehr aus verständlicher Verwirrung dem Angreifer noch einen unnötigen und darum rechtswidrigen Schlag zuviel gibt, hat damit sicherlich ein viel geringeres Unrecht begangen als derjenige, der einen anderen grundlos schlägt. Erst recht ist die materielle Schuld des Exzeßtäters, die ein Unrecht seines Tuns 40 voraussetzt und darauf aufbaut, so gering, daß das Gesetz dem Täter (Verteidiger) einen Vorwurf ersparen d a r f 3 Auf Grund der durch den rechtswidrigen Angriff, also durch fremdes Unrecht ausgelösten heftigen Gemütsbewegung ist dem Verteidiger eine normgemäße Bewußtseinskontrolle und Willensbildung erschwert. Das RG hat sogar einmal in anderem Zusammenhang, und zwar gelegentlich der Prüfung eines in Bestürzung über einen Verkehrsunfall begangenen Fahrlässigkeitsdelikts und der dabei aufgeworfenen Frage der Schuldfähigkeit, bemerkt, daß „der Zustand der Bestürzung im Falle des § 53 Abs. 3 StGB" (§ 33 n. F.) „geeignet sein kann, die Strafbarkeit des Täters wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit zu beseitigen" (RG GA 47 [1900] 376). Außerdem sollte man den, der infolge einer begreiflichen Gefühlserregung, auch wenn womöglich vorsätzlich oder fahrlässig, rechtswidrig die Grenzen wirklicher Notwehr überschreitet, nicht schlechter stellen als den, der, wenngleich unvorsätzlich und nicht fahrlässig, rechtswidrig vermeintliche Notwehr übt 39 . Die Gesetzesüberschreitung durch den Verteidiger i. S. d. § 33 ist menschlich so 41 verständlich und verzeihlich, daß der aus einem rechtmäßigen „Vor-gehen" erwachsene „Über- und Fehl-tritt" rechtlich nicht vorwerfbar erscheint. Wie bei der Notwehr als Kampf um und für das Recht und gegen das Unrecht mehr erlaubt ist als bei einem sonstigen Eingriff, so ist bei ihrer Überschreitung eben auch mehr entschuldigt als bei einem anderen Übergriff 40 . Es erscheint daher „billig, die Verant-

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Zitiert nach den Ausführungen von Heberlein S. 53; Ballin S. 63. So in neuerer Zeit Rudolphi JuS 1969 462; Jürgen Fischer S. 70 ff; Roxin in: SchaffsteinFestschr. S. 114 f; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 2. Anders nicht überzeugend Roxin aaO S. 115, der aber ζ. B. selbst bemerkt, daß „in vielen Fällen der intensive Exzeß auch unter Abzug dessen, was erlaubt gewesen wäre, ein höheres Unrechtsmaß aufweisen wird als der extensive". Daß sich die Unrechtsminderung auf das Ausmaß der Schuld auswirkt, betonen richtig auch Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 111 vor § 32. Ebenso bereits H. Reichel in seinem Gutachten „Empfiehlt es sich, im Zusammenhang mit der künftigen Strafrechtsreform die Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Schuldfähigkeit, Schuld und Ausschluß der Rechtswidrigkeit zu ändern?" für den 34. DJT 1926 I (1927) S. 136, 172. Vgl. auch Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 116.

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§33

2. Abschnitt. Die Tat

wortung für die Überschreitung der Grenzen der erforderlichen Verteidigung" letztlich „nicht dem in Aufregung befindlichen Angegriffenen, sondern dem rechtswidrigen Angreifer zur Last zu legen" (so schon treffend RMilG 10 282, 283).

II. Die Voraussetzungen der Notwehrüberschreitung 1. Die objektiven Merkmale 42 Der Notwehrexzeß ist strafrechtlich nur von Interesse, wenn damit zugleich ein Deliktstatbestand verwirklicht ist, was in aller Regel der Fall sein wird, aber nicht notwendig sein muß. Äußere Voraussetzung des § 33 ist, daß der Täter die objektiven Grenzen der erforderlichen Verteidigung überschreitet, d. h. bei oder (unmittelbar) nach einem rechtswidrigen Angriff in dessen Abwehr zu weit geht. Im ersten Falle, dem intensiven Notwehrexzeß (s. Rdn. 1 f, 4), hätte sich der Verteidiger, also der Angegriffene oder sein Nothelfer (OLG Oldenburg NdsRpfl. 1951 211 Nr. 7), so nicht, im zweiten, dem nachzeitig-extensiven Exzeß, gar nicht (mehr) wehren dürfen. Bei der ersten Sachlage hat der Verteidiger zu stark (zu intensiv im Maß oder Mittel), bei der zweiten zu lange (zu extensiv in der Zeit) reagiert (s. Rdn. 1, 4 ff). 43

Nicht unterfällt dem § 33 nach den anfangs gemachten Unterscheidungen (Rdn. 10 ff), daß der Täter zu früh handelt, d. h. vor einem noch nicht beginnenden Angriff. Denn gegen einen Angriff, der noch nicht gegenwärtig ist, sondern erst für die Zukunft droht, gibt es keine Defensiv-, sondern nur eine Praveni/vhandlung. Ist aber eine Defensive noch gar nicht möglich, vermag sie auch nicht über-schritten zu werden (Rdn. 10). 44 Ebensowenig anwendbar ist § 33 auf den dritten Fall, in dem man eine räumlichextensive Überschreitung der Notwehrgrenzen sehen kann. Es ist die Sachlage, daß der Verteidiger bei einem rechtswidrigen Angriff seine Abwehr räumlich zu weit, weil auch auf einen (unbeteiligten) Dritten ausdehnt (Rdn. 1, 16 ff). Dieser Fall ist eine Irregularität, deren Beurteilung prinzipiell, von besonderen Ausnahmen abgesehen (Rdn. 23), nicht Notwehr-, sondern je nachdem Notstands- oder Irrtumsregeln unterliegt. 45 Beispiele für einen (in der ersten nachfolgenden Fallgestaltung schuldhaften, in der zweiten wohl entschuldigten) intensiven Notwehrexzeß sind außer den schon in Rdn. 2 angeführten Fällen etwa: Abgabe von zwei Schüssen auf eine Ehefrau, die auf einer Leiter in das im Erdgeschoß liegende Zimmer der Nebenbuhlerin eindringen und diese verprügeln will, obwohl Schreckschüsse zur Abwehr genügt hätten (RG JW1932 2432) — vielfaches Zustechen nach Gesicht und Rumpf des Angreifers, obgleich die zwei Stiche nach dem Körper des Gegners ausgereicht hätten (BayObLGSt. N F 1, 1951 362, 363 ob.). 46 Kein intensiver Notwehrexzeß, sondern rechtfertigende Notwehr sind dagegen das zweimalige Zustechen auf den Oberkörper des Angreifers, der dem Verteidiger bereits mit der Faust oder Hand ins Gesicht geschlagen und hinter sich zur Unterstützung seinen Vater mit gezücktem Messer stehen hat (BGH NStZ 1981 138 r. Sp. a. E.) der Schuß mit der Gaspistole aus nächster Nähe, durch den der allzu dicht herangekommene, dem Bedrohten zudem körperlich überlegene Verfolger abgeschreckt werden soll, aber schwer an einem Auge verletzt wird (BGH[Z] VersR 1966 (172)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

778, 779 1. Sp. ob. ; ähnlich für den Fall des ungezielten Schießens mit dem Gasrevolver BGH[Z] VersR 1971 629, 6301. Sp.) 41 die Benutzung des Revolvers als Schuß- statt als Schlagwerkzeug gegen einen hartnäckig immer wieder tätlich angreifenden Betrunkenen (BGH GA 1968 182 ff) unt. Umst. Schüsse auf rohe Schläger, die mit erhobenen Stöcken auf den Verteidiger zugehen, da Schreckschüsse womöglich die gegenteilige Wirkung haben und die Wut und Streitsucht der Angreifer steigern können (RG JW 1932 3066, 3067 r. Sp.). Umstritten ist dagegen, ob der Messerstich des 18jährigen in die Brust des stärke- 47 ren Mitschülers, der ihn mit Faustschlägen traktiert und erst drei Tage vorher grundlos blutig geschlagen hat, eine zu weitgehende (so nach der Formulierung und Entscheidung BGH NJW 1980 2263, 2264 zu Nr. 3 b) = JR 1980 210 mit Anm. Arzt) oder eine erforderliche Verteidigung war (so in der Sache der BGH, wie auch Arzt aaO S. 213 zu Nr. II.l a. E., III bemerkt; SpendelLK § 32 Rdn. 225, 289). Beispiele für einen (allerdings im ersten Falle schuldhaften) extensiven (nachzei- 48 tigen) Notwehrexzeß sind außer dem schon in Rdn. 4 angeführten Urteilen noch folgende Fälle: Der Verteidiger, der den Angreifer kampfunfähig geschlagen hat, versetzt ihm noch einen Stoß mit dem abgebrochenen Hals einer Bierflasche (BGH[Z] VersR 1967 661) — der Angegriffene fängt nicht nur die nach ihm geschleuderte Bierflasche auf („Schutzwehr"), sondern wirft sie in einem „reflexartigen" Verhalten auf die Angreiferin zurück, obwohl der Angriff beendet und eine solche „Trutzwehr" nicht mehr erforderlich ist (OLG Frankfurt/M GA 1970 286). 2. Das geminderte Unrecht Liegen die Voraussetzungen der Notwehr für das exzessive Verhalten nicht vor, 49 so gilt es als Unrecht, sofern nicht ein anderer Rechtfertigungsgrund eingreift. Solche Fallgestaltungen sind denkbar: Hat ζ. B. ein tatkräftiger Nachbar den gewalttätigen Trinker, der seine Frau schwer mißhandelt hat und beinahe getötet hätte, gerade noch rechtzeitig abwehren und niederschlagen können und dann sofort aus Furcht vor späteren (künftigen) Ausschreitungen, sobald sich der Angreifer erholt hat, in ein Zimmer eingesperrt, so ist die letzte, vorbeugende Maßnahme nicht mehr durch Notwehr gedeckt, weil sie nach Abschlagen des Angriffs geschah und nicht mehr zur Nothilfe erforderlich war. Das Verhalten ist aber bis zur Benachrichtigung der Behörden und Erlangung staatlicher Hilfe durch Notstand nach § 34 gerechtfertigt (Leben und Leib der Ehefrau sind höherwertige Rechtsgüter als die Freiheit des Trunkenboldes). Das Unrecht der Notwehrüberschreitung, ob verschuldet oder nicht, ist, wie 50 bereits dargelegt (Rdn. 39), materiell gesehen, geringer als das einer äußerlich vergleichbaren Tat, die nicht aus einer zunächst gerechtfertigten Verteidigung entstan41

And. (verschuldete Notwehrüberschreitung bei mitwirkendem Verschulden des Angreifers) BGH(Z) VersR 1967 477 für den von dem eingeschüchterten Verteidiger abgegebenen Schuß mit der Gaspistole aus 50 cm Entfernung in das Gesicht des Angreifers, der dadurch schwere Augenverletzungen erlitten hat, da Schußandrohung oder Warnschuß genügt hätte.

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§33

2. Abschnitt. Die Tat

den ist. Denn der sich zum Über-griff auswachsende Ein-griff des Verteidigers in die Rechtsgüter des Angreifers ist wenigstens im „Kern" rechtmäßig. Nur hat das Übermaß der Abwehr, die zu große „Quantität" der faktischen Verteidigungshandlung deren rechtliche „Qualität" verändert 42 . Sind auch die „Aus-läufer" des Vorgehens gegen den Angreifer ins Gebiet des Unrechts „über-gegangen", so ist doch das Auftreten des Angegriffenen oder Nothelfers im „Aus-gang" Recht, wie gerade beim intensiven Notwehrexzeß besonders deutlich wird. 51

Daß die Notwehrüberschreitung materiell im Unrecht gemindert ist, ändert jedoch nichts daran, daß sie formell als rechtswidrig zu bewerten und damit selbst als rechtswidriger Angriff gegen den ursprünglichen Angreifer zu betrachten ist. Dieser ist daher nunmehr seinerseits zur Notwehr gegen den ursprünglichen Verteidiger berechtigt (RGRspr. 6 576, 577; RGSt. 66 289; Spendel LK § 32 Rdn. 55 und Fußn. 110)43, aber eben nur soweit, als er sich gegen den Notwehrexzeß, d. h. gegen das (rechtswidrige) Zuviel der (sonst rechtmäßigen) Abwehr wendet. Der Straßenräuber darf also dem Überfallenen das Messer aus der Hand schlagen, mit dem dieser in zu weitgehender Verteidigung auf den Angreifer wild einsticht; er muß sich aber weiter Fausthiebe gefallen lassen, die ihm nunmehr der Angegriffene als geübter Boxer versetzt, um ihm die Beute wieder abnehmen zu können.

3. Die subjektiven Merkmale 52 a) Vorsatz oder Fahrlässigkeit: Zu den in § 33 nicht ausdrücklich genannten subjektiven Merkmalen gehören zunächst Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Ob eine fahrlässige oder gar vorsätzliche Notwehrüberschreitung überhaupt unter die Vorschrift fallen und straflos sein kann, ist allerdings umstritten. Die Frage ist mit der Rechtsprechung zu bejahen (RGSt. 21189,191 ; 56 33, 34; RG JW 1932 3073 Nr. 20; 1935 431; BayObLGSt. N F 1, 1951 362, 364 = JR 1952 113; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1951 212), so paradox das auch vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Die Rechtslehre stimmt der Ansicht überwiegend zu 44 . Eine Mindermeinung hält demgegenüber § 33 nur bei unbewußter bzw. unvorsätzlicher Notwehrüberschreitung für anwendbar 45 . Für die h. L. sprechen jedoch folgende Gründe: 42 Zu dieser eigenartigen Wechselbeziehung von „Quantität" im Tatsächlichen und „Qualität" im Wertmäßigen im Anschluß an den Aristotelischen Gedanken des Maßes als des Mittleren zwischen einem Zuviel und Zuwenig näher Spendel Zur Lehre vom Strafmaß (1954) S. 170 ff, 174 f. 43 Irreführend und überholt ist daher die Bemerkung von RGSt. 21 189, 192, daß der Angreifer „es sich gefallen lassen muß, daß der Angegriffene in der Bestürzung das nötige Maß überschreitet". 44 Ebenso, allerdings meist nur für den „intensiven" Notwehrexzeß (so ausdrücklich Wessels AT S. 98 [§ 10 VII 3 a u. b], dagegen auch für den „extensiven" Otto GrK Str. S. 202), Lube S. 17; Sommer S. 48; Schwartz Das StGB f. d. Dtsch. Reich (1914) § 53 a. F. Anm. 5; Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 359; Joh. Scholz S. 49; Frank § 53 a. F. Anm. II (S. 163 unt.); Gerland S. 149 zu Anm. 5; Niethammer in v. Olshausens Komm. § 53 a. F. Anm. 16; Mezger Lehrb. S. 365; Weil S. 44, 47; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. X (S. 207); Baumann S. 322 ob. (§ 21 II 1 c); Blei AT S. 189 (§ 62); Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 486 (§ 34 III 3); Jescheck S. 398 (§ 45 II 3); Stratenwerth Rdn. 447; Dreher-Tröndle Rdn. 3; Lackner Anm. 2 ; Rudolphi S K I Rdn. 4 ; Jürgen Fischer S. 41 ff, 43 ; Roxin in : Schaffstein-Festschr. S. 108 ff. 45 Binding Handb. S. 753; Heberlein S. 46; Ballin S. 58; Oetker VDA II S. 287 Anm. 2 a. E.; Lobe LK 5 (1933) § 53 a. F. Anm. 7; Baldus LK 9 I § 53 a. F. Rdn. 43; Holzheid S. 16; Schmiemann S. 56 f; H. Schröder ZAkDR 1944 123 ff; Welzel S. 89; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 6. (174)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

Einmal der Wortlaut des § 33, der nur schlechthin davon spricht, daß der Täter 53 die Grenzen der Notwehr überschritten haben muß, und der nicht auf eine fahrlässige Überschreitung eingeschränkt ist46. Sodann die Beratungen zur Gesetzesneufassung, in denen ausdrücklich eine fakultative Strafmilderung für den bewußten Notwehrexzeß bei Vorliegen bestimmter Gemütsbewegungen abgelehnt worden ist47. Weiter und hauptsächlich eine sinngemäße Auslegung des § 33: Trotz hochgradi- 54 gen Affekts kann der Täter durchaus wissen und hinnehmen, was er tut, aber unter einem starken Zwang stehen, so und nicht anders zu handeln, ohne daß deswegen seine freie Willensbestimmung völlig ausgeschlossen sein müßte. Auch wer sich in Lebensgefahr befindet und daher aus Todesfurcht zur Rettung seiner eigenen Person einen anderen verletzt (Notstandslage gemäß § 35 StGB), steht in der Regel nicht unter einem solchen Motivationsdruck, daß er nicht wüßte, welche Tat er begeht, und das nicht wollte, reagiert also vorsätzlich (so treffend RGSt. 64 30, 31). Er mag zwar „halb irre" vor Todesangst sein, aber er ist deswegen meist noch nicht „ganz von Sinnen". Ähnliches gilt für die Verwirrung oder Furcht vor der Gefahr, die durch einen rechtswidrigen Angriff begründet wird. Sie vermag ebenfalls das klare Denken und freie Wollen einzuschränken, ohne es ausschließen zu müssen. Man kann darum in dem Fall des § 33 geradezu eine besondere Art „verminderter Schuldfähigkeit" sehen, wie es das RG einmal getan hat (RG GA 47 [1900] 376, s. schon Rdn. 40); in neuerer Zeit hat Hellm. Mayer {Stud Β [1967] S. 101) von einem Fall „stark verminderter Willensherrschaft" gesprochen. Ein Unterschied besteht insofern, als im Notstandsfall des § 35 StGB ein übermächtiger Motivationsdruck bei bestimmten Gefahren (für Leben, Leib und Freiheit) vom Gesetzgeber unterstellt wird, in Gestalt von bestimmten, aber bei jedem Angriff möglichen Gemütsbewegungen dagegen im Exzeßfall des § 33 StGB vom Richter festgestellt werden muß. Wer daher nicht nur vorsätzlich, sondern sogar „kaltblütig" die Notwehrgrenzen 55 überschreitet, handelt eben „ruhigen Blutes" und furchtlos und nicht etwa „hitzig" und unüberlegt. So kann es ζ. B. bei einer von der Ehefrau angegriffenen Nebenbuhlerin sein, die bewußt über die erforderliche Verteidigung hinausging, weil ihre „allgemeine kaltblütige Charakterveranlagung" trotz der aus Wut und Feindseligkeit geborenen Erregung über die Rivalin keine Furcht oder Bestürzung in ihr aufkommen ließ und sie „vor dem Verlust der Selbstbeherrschung bewahrte" (RG JW 1932 2432, 2433 unt. Nr. 3). Einem solchen Täter kommt § 33 nicht zugute. Schließlich und entscheidend spricht für die herrschende Lehre, die auch vorsätz- 56 liches Handeln im Falle des § 33 entschuldigt, eine systematische Überlegung: Der Vorschrift bedürfte es nicht, wenn nur die unvorsätzliche oder nicht fahrlässige Notwehrüberschreitung darunter fiele. Denn ein solcher Exzeß wäre bereits nach allgemeinen Grundsätzen der Irrtums- und Schuldlehre nicht strafbar 48 . Daß die in § 33 genannten Gemütsbewegungen ebenso wie andere Affekte, ζ. B. Wut, Zorn usw., den Vorsatz oder die Fahrlässigkeit (s. RGSt. 58 27, 30; RG HRR 1939 Nr. 472; BGH[St] NJW 1968 1885; OLG Frankfurt/M GA 1970 286; RMilG 10 46 47 48

Jürgen Fischerà. 42; Roxinin: Schaffstein-Festschr. S. 108. BT, SondA. f. d. StrRef., Prot. V/1815 ff, 1821. Deshalb hält Schmidhäuser AT S. 472 (11/62); ders. StudB (1982) S. 246 (8/31) § 33 praktisch für bedeutungslos, weil bei vorsätzlichen oder fahrlässigen Exzessen die in der Vorschrift genannten Affekte nicht vorlägen, bei deren Vorliegen aber Vorsatz oder Fahrlässigkeit nicht gegeben wäre; so schon Holzheid S. 16.

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§33

2. Abschnitt. Die Tat

282, 284; RGZ21 295, 297; RG[Z] JW 1911 578 Nr. 16, 579 1. Sp.; RG WarnRspr. 1928 147, 149/150), in ganz seltenen Ausnahmefällen sogar die Schuldfähigkeit überhaupt (s. OGHSt. 3 19, 23; 80, 82; BGHSt. 3 194, 199; 11 20, 23 ff), entfallen lassen können, ist anerkannt; in diesen Sachlagen kommt auch die Rechtsprechung zur Straflosigkeit des nachzeitig-extensiven Notwehrexzesses (s. ζ. B. OLG Frankfurt/M GA 1970 286 zu Nr. 2). Hier ist dann aber Grund des Strafausschlusses nicht der Affekt, sondern der durch ihn verursachte Irrtum bzw. Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsmangel (so schon klar RMilG 10 282, 284). 57

Eine besondere Regelung ist daher allein insoweit notwendig und sinnvoll, als der Täter seine Notwehrüberschreitung erkannte oder hätte erkennen können. Nur in diesen Fällen kommt eine Entschuldigung nach der zwischen Vorsatz (Fahrlässigkeit) und Schuld unterscheidenden „normativen Schuldauffassung" in Frage. Sie gründet sich auf bestimmte Gemütsbewegungen, die das Bewußtsein trüben und den Willen schwächen und deshalb den Vorwurf ausschließen, daß sich der Täter so weit hat „gehen lassen".

58

b) Verwirrung, Furcht oder Schrecken: Die vom Gesetz anerkannten besonderen psychischen Ausnahmezustände, die der fahrlässigen oder gar vorsätzlichen Notwehrüberschreitung zugrunde liegen müssen, sind entweder Verwirrung, Furcht oder Schrecken. Man pflegt sie als „asthenische Affekte"zu bezeichnen, d. h. als Gemütsbewegungen, die auf „Schwäche" beruhen, und sie in Gegensatz zu den „sthenischen Affekten" wie Zorn(mut), Wut, Kampflust, Rachsucht, Empörung, Begeisterung usw. zu setzen, die von „Stärke" des Gefühls zeugen.

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Aber diese Auffassung von den subjektiven Merkmalen des § 33 ist nicht genau und einwandfrei. Denn „Affekt" ist das leidenschaftliche „An-getan-" oder „Mitgerissen-Sein" des Gemüts und als solches eine besonders intensive, gesteigerte Gefühlsbewegung, die körperlich mit Begleiterscheinungen wie verändertem Puls und Blutdruck, Erblassen oder Erröten usw., seelisch mit einer Einengung des Bewußtseins und einer Einschränkung der Willenskontrolle verbunden ist 49 . Eine solche elementare Gefühlserregung, die jede Kreatur kennt, ist von den in § 33 genannten Ausnahmezuständen eigentlich nur die Furcht, während der Schreck als Voraussetzung oder Auslösung, die Verwirrung erst als Folge oder Auswirkung eines Affekts erscheint. 60 aa) Furcht als ein „asthenischer" Affekt: Furcht ist eine beklemmende, das Denken und Wollen beherrschende und beeinträchtigende Gefühlserregung gegenüber einer bestimmten, objektbezogenen Gefährdung oder Verletzung im Unterschied zur Angst als einem Gefühl der Be-engung gegenüber einer mehr unbestimmten, subjektiv empfundenen Bedrohung 50 . Sie ist hier bei § 33 die Befürchtung, durch 49

50

Zu dem Begriff „Affekt" s. Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl. des Großen Brockhaus, I (1966) S. 145; Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl. I (1971) S. 318; Heinr. SchmittSchischkoff Philosophisches Wörterbuch, 20. Aufl. (1978); von medizinischer oder psychologischer Seite: Undeutsch in: Eisen Handwörterbuch der Rechtsmedizin II (1974) S. 100/ 101; Eisen aaO S. 136; Langelüddeke-Bresser Gerichtliche Psychiatrie, 4. Aufl. (1976) S. 46, 48; H. Göppinger/H. Witter (Hrsg.) Handb. der forensischen Psychiatrie I (1972) S. 450; Diesinger Der Affekttäter, Philos. Diss. Bonn 1976, S. 4 f. Brockhaus Enzyklopädie VI (1968), Stichw. „Furcht" (S. 686) und „Angst" (S. 528). Der Begriff wurde schon in der antiken Philosophie unter die wichtigsten Affekte eingeordnet, s. Hoffmeister Wörterb. der philosophischen Begriffe, 2. Aufl. (1955); Lanz in: Ritter Histor. Wörterb. der Philosophie I (1971); Blasche in: Mittelstraß (Hrsg.) Enzyklopädie, Philosophie und Wissenschaftstheorie I (1980), jeweils zu dem Stichw. „Affekt". (176)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

einen Angriff überwältigt zu werden, sei es durch dessen Stärke, Fortsetzung, Wiederholung oder Erweiterung, sei es infolge der Unzulänglichkeit der Abwehrkräfte. Dieser Affekt ist mit körperlichen Reaktionen wie Pupillenerweiterung (furchtsam „aufgerissenen Augen"), Blutdrucksteigerung, Adrenalinausschüttung in die Blutbahn, Ansteigen des Blutzuckers usw. verbunden, die den sich Fürchtenden in einen Zustand gespannter Erregung versetzen 51 . So kann der zur Verjagung der Kirschendiebe in Richtung auf den Baum statt in 61 die Luft abgegebene tödliche Schreckschuß des Obstpächters, der damit die Verteidigung seines Pachtrechts überschreitet, seinen „Grundin der Furcht"des Schützen vor früher angedrohten Mißhandlungen haben (RGSt. 56 33, 34). Die dadurch bewirkte Erregung des Exzedenten ist in diesem Falle um so verständlicher, als „sein Ansuchen um polizeilichen Schutz" gegen die wiederholten Plünderungen seiner Obstplantage „vergeblich gewesen war" (RG aaO S. 34). Wenn man den Messerstich eines 18jährigen Schülers in den Oberkörper eines stärkeren Mitschülers und Angreifers, der den Verteidiger wiederholt drangsaliert und erst drei Tage vorher blutig geschlagen hatte, nicht als erforderliche Abwehr ansehen will (so jedoch Spendel LK § 32 Rdn. 225), dann läßt sich darin zumindest eine Notwehrüberschreitung aus Furcht erblicken (so BGH JR 1980 210, 211 r. Sp. mit zu Unrecht ablehnender Anm. Arzt = NJW1980 2263, 22641. Sp.). Ein Soldat soll sich nach RGSt. 63 421, 422; 69 265, 270 mit Rücksicht auf seine 62 allgemeinen Berufs- und Standespflichten bei Überschreitung der Notwehr gegen den Angriff eines anderen Soldaten nicht auf Furcht vor persönlicher Gefahr berufen dürfen (s. aber auch RMilG 10 282), was nicht überzeugen will, da vorwerfbar nur eine Furcht erscheint, die den Soldaten vor einem feindlichen Angriff zurückweichen, nicht aber, die ihn in gesteigerter und übertriebener Anstrengung vorgehen und die eigene Abwehr überschreiten läßt. Immerhin hat auch das RG dabei richtig geurteilt, daß der Notwehrexzeß auf Grund eines anderen psychischen Seelenzustandes, und zwar wegen der Gemütsbewegung „Bestürzung" bzw. „Verwirrung" oder „Schrecken", straflos sein könne; denn diese brauchten keineswegs mit dem Affekt „Furcht" zusammenzufallen (RGSt. 69 265, 270). bb) Schreck als Grund oft solch eines Affekts: Schreck ist eine Gesamtreaktion 63 des Organismus auf eine überraschende Bedrohung oder ein Reflex auf einen unerwarteten (starken) Sinnesreiz; er ist mit physiologischen Begleiterscheinungen wie Erblassen, gesteigerter Herzfrequenz, Schweißausbruch usw. verbunden und vermag in die vegetativen, d. h. dem Einfluß des Willens entzogenen Funktionen durchzugreifen. Die Reaktion „Schreck" auf einen Angriff beruht auf dessen Plötzlichkeit, die den dadurch Erschreckten „zusammenfahren" und innerlich nicht mehr „unbewegt" sein läßt; sie kann daher äußerlich zu einem „Bewegungssturm", aber auch zu einer „Schreckstarre" führen 52 . Gegen den Schreck als „Reflex" auf einen Reiz ist auch der Mutigste machtlos, 64 da er im allgemeinen eine weithin vom Willen unabhängige Rückwirkung (automatische Reaktion) darstellt: Der Angegriffene, dem etwas ins Gesicht gespritzt wird, schließt „unwillkürlich" oder „instinktiv" die Augen und reißt abwehrend die Arme hoch. Bei einem ängstlichen oder furchtsamen Menschen kann der Schreck zur 51 Brockhaus Enzyklopädie VI (1968) Stichw. „Furcht" (S. 686). 52 Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl. XVII (1973); Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl. XXI (1979), beide zum Stichw. „Schreck"; Christ. Müller (Hrsg.) Lexikon d. Psychiatrie (1973) S. 463 („Schreckreaktionen"). (177)

§33

2. Abschnitt. Die Tat

Furcht und diese zu einer impulsiven und unkontrollierten „Reaktion", ζ. B. zu einem übertriebenen Zurückschlagen, führen. 65

Der Schreck wird also oft zum Grund einer Gefühlserregung werden, die sich bald als Beängstigung, bald als Bestürzung darstellt. Es ist deshalb gerechtfertigt, diese häufige Auslösung eines asthenischen Affekts dem echten Affekt selbst gleichzustellen. Wer in der Nacht auf einsamer Straße plötzlich über- und angefallen wird und erschrocken mit voller Kraft zurückschlägt, obwohl ein Weniger an Abwehrreaktion ausgereicht hätte, handelt entschuldigt 53 .

66

cc) Verwirrung als Folge auch eines anderen („splenischen") Affekts: Unter Verwirrung ist der „Aufruhr" der Gefühle in der Brust des Täters zu verstehen, d. h. die „ Unordnung" in seiner seelischen „Ver-fassung", die durch einen Affekt ausgelöst wird und die den Verteidiger, meist den Angegriffenen, „außer Fassung" bringt, so daß er sich nicht mehr zu beherrschen und zu mäßigen weiß. Die Ersetzung des früher in § 53 III a. F. genannten Merkmals „Bestürzung" durch den Ausdruck „Verwirrung" sollte das noch deutlicher ausdrücken 5 4 . Nach RGSt. 69 265, 270 zu Nr. III ist „ein Handeln in Bestürzung nur ein Handeln ohne Überlegung, in Verwirrung" (seil, ein Handeln), „das durch ein unvorhergesehenes Ereignis hervorgerufen wird". Demgegenüber hat BGHSt. 3 194, 198 vorsichtiger bemerkt, daß § 53 III a. F. = § 33 auch anwendbar bleibt, wenn „ein lange geahntes, gefürchtetes . . . künftiges Ereignis . . . plötzlich wirklich eintritt und ihn" (sc. den Verteidiger) „seelisch überwältigt". 67 Noch klarer und deutlicher ist folgendes auszusprechen : Die Verwirrung i. S. d. § 33 ist eine seelische Ausnahmesituation, die durch einen asthenischen Affekt wie Furcht ausgelöst werden kann (und meist ausgelöst werden wird), nicht aber veranlaßt sein muß. Sie vermag vielmehr auch die Folge eines sthenischen Affekts, ζ. B. des Zorn(mut)s, der Empörung usw., zu sein. Wie die „Verwirrung" als Wirkung den asthenischen Affekt der Furcht nicht notwendig voraussetzt und mit dieser nicht zu verwechseln ist (so ausdrücklich mit Recht RGSt. 69 265, 270), so schließt sie nicht zwingend einen sthenischen Affekt wie Zorn(mut), Empörung usw. als Mitbedingung oder Beweggrund aus. Daß umgekehrt die zuletzt genannten Gefühlserregungen nicht schon zu einer Bestürzung führen müssen, ist dabei zu beachten (s. Rdn. 55). 68 Zwar hat es die vorherrschende Meinung abgelehnt, andere Affekte, ζ. B. Zorn, Wut, Kampflust usw. als solche beim Notwehrexzeß zu berücksichtigen (RGRspr. 9 120 für „gerechten Zorn"; RG JW 1889 333 Nr. 5 für Rachsucht; RG JW 1932 2432.. 2433 und BGH GA 1969 23, 24 für Wut)55, was nach einem öfters angeführten 53

Vgl. auch den ähnlichen Vorfall, von dem der bekannte österreichische Strafrechtler Hans Groß aus seinem Leben berichtet (zitiert nach Undeutsch in : Ponsold Lehrb. der gerichtlichen Medizin, 2. Aufl. (1957) S. 134, wo zu Unrecht die „Handlungseigenschaft" der Reaktion des „Erschreckten" verneint wird)., 54 Vgl. den Entwurf eines StGB 1962 mit Begründung (1962) S. 158 1. Sp. zu § 38 Entw.; BT, SondA f. d. StrRef., Prot. V/1815. 55 Stenogr. Ber. üb. d. Verh. d. Reichstages d. Norddtsch. Bundes, III. Bd. (1870) Ani., Mot. zum StGB f. d. Norddtsch. Bund, S. 57; Rob. ν. Hippel II S. 213; v. Liszt-Schmidt S. 199; Niethammer in v. Olshausens Komm. § 53 a. F. Anm. 16; Mezger Lehrb. S. 364; Baldus LK9 I § 53 a. F. Rdn. 44; Baumann S. 321 (§ 21 II 1 c); Maurach-Zipf S. 485 (§ 34 III 3); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 4. And. noch Motive zu dem Entwürfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund (1869) S. 103 (§ 48 III: „aus Bestürzung . . . oder anderen ähnlichen Geisteszuständen") in Anlehnung an das Bayer. StGB von 1861 (Art. 72: „aus Überraschung, Bestürzung..."); Lobe LK5 (1933) § 53 a. F. Anm. 6. (178)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

Worte M. E. Mayers AT S. 282 eine „grobe Regel" ist, da Fälle möglich seien, in denen auch solche psychischen Gemütsbewegungen Berücksichtigung und Straffreiheit verdienen würden 56 . Aber dieser Ansicht darf dann nicht zugestimmt werden, wenn die genannten sthenischen Affekte zu dem besonderen seelischen Ausnahmezustand der „Verwirrung" geführt haben. Wer aus „kaltem Haß" überlegt die Notwehr überschreitet, verdient sicherlich nicht die Vergünstigung des § 33 ; wer dagegen „in gerechtem Zorn" so „rot sieht" und „außer Fassung" gerät, daß er zwar nicht „irre" in seinem Sinnen und Trachten, wohl aber „verwirrt" in seinem Denken und Wollen erscheint, der fallt unter § 33 (and. noch RGRspr. 9 120). Selbst dort, wo der Angegriffene aus Zorn über eine Mißhandlung oder schwere Beleidigung noch mehr tut, d. h. sogar über einen straflosen (intensiven oder nachzeitigextensiven) Notwehrexzeß „hinausgeht"und sich seinerseits zu einem als Totschlag strafbaren eigenen Angriff hinreißen läßt, mißt das Gesetz dem Geisteszustand des Täters immerhin wenigstens strafmildernde Wirkung bei (§213 StGB). Der hier vertretenen Auffassung nähert sich im Ergebnis auch die neuere Recht- 69 sprechung, wenn RGSt. 69 265, 270 anerkannt hat, daß die „Gemütserregung" der „Bestürzung" (heute: „Verwirrung") „ihre Ursache" nicht in der Furcht zu haben brauche, oder wenn der BGH urteilt, daß Affekte des Zorns oder der Wut die Entschuldigung nicht hinderten, sofern nur bei einem Motivbündel eine der in § 33 genannten psychischen Ausnahmesituationen gegeben sei (BGHSt. 3 194, 198; BGH GA 1969 23, 24 zu Nr. 3; s. auch OLG Oldenburg NdsRpfl. 1951 211, 212 r. Sp.), wobei der BGH ζ. T. die Frage unklar und unrichtig mit dem Vorliegen einer „Verteidigungsabsicht" verquickt hat (BGHSt. 3 198). M. a. W.: Zur Anwendung des § 33 ist „nicht erforderlich, daß der Täter ausschließlich" aus einer der in der Vorschrift genannten Gemütsbewegungen die Notwehr überschritten hat (BGH GA 1969 24 a. E.), ja noch nicht einmal bei dem eigenartigen seelischen Ausnahmezustand der „Verwirrung" notwendig, daß ein asthenischer Affekt, d. h. der Affekt Furcht, (als auslösender Faktor) dominiert 57 , da entscheidend der innere Zustand, nicht dessen Grund ist. c) Verwirrung, Furcht oder Schrecken als Ursache der Notwehrüberschreitung: 70 Was früher bei der Wendung „in Bestürzung, F u r c h t . . . " zweifelhaft sein konnte 58 , ist heute auf Grund der Formulierung „aus Verwirrung, F u r c h t . . . " unstrittig — daß die in § 33 angeführten Gemütsbewegungen für den Exzeß eine Mitbedingung oder ein Beweggrund gewesen sein müssen und nicht allein eine zeitliche Begleiter-

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57

58

Vgl. außer M. E. Mayerz. B. noch Rob. v. HippelU S. 213 Anm. 4; Kohlrausch-Lange § 53 a. F. Anm. X (S. 207). So jedoch Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 122; Maurach-Zipf S. 485 (§34 III 3); Jescheck S. 398 (§ 45 II 2); Dreher-Tröndle Rdn. 3; Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 5. Vgl. dagegen Geilen Jura 1981 379 Anm. 125. Für Kausalität zwischen Gemütsbewegung und Exzeß: Oppenhoff Oas Strafgesetzbuch für den Norddtsch. Bund (1871) §53 Anm. 22 (S. 122); Oetker VDA II (1908) S. 255, 287 Anm. 2; Lube S. 22; Schwartz Das StGB für das Deutsche Reich (1914) § 53 a. F. Anm. 4 (S. 172: Gleichsetzung von „in" und „aus"); Köhler Dtsch. Strafr., AT (1917) S. 359 (tatsächliche Mitwirkung genüge); Jiittner S. 23 (Veranlassung genügend); Niethammer in v. Ophausens Komm., 11. Aufl. (1927) I § 53 a. F. Anm. 16; Oskar Langel. 24 ob.; Lehnemann S. 20; H. Schröder ZAkDR 1944 S. 123 Anm. 2 („in" als „infolge" zu lesen). Gegen Ursächlichkeit: Maurach AT3 (1965) S. 344 (§ 34 IV) (and. ders. ab der 4. Aufl. [1971] S. 408 [§ 34 III 2]; Baldus LK 9 I § 53 a. F. Rdn. 42; Jürgen Fischerà. 39 f, 40.

(179)

§33

2. Abschnitt. Die Tat 59

scheinung gewesen sein dürfen . Bereits unter der Geltung des früheren § 53 III war anzunehmen, daß mit dem Gebrauch der Präposition „in" im RStGB von 1871 statt des Verhältniswortes „aus" im Preuß. StGB von 1851 (§41) keine sachliche Änderung beabsichtigt war 60 . Demgemäß hat auch das RG gefragt, ob die Notwehrüberschreitung „nicht ihren Grund" — und das heißt doch vernünftigerweise nur: ihren realen oder psychischen (Beweg)Grund, ihre tatsächliche Mitbedingung 61 — „in der Furcht des Angeklagten hatte" (RGSt. 56 33, 34), und zwanglos bald den Ausdruck „in", bald „aus Bestürzung . . . " gebraucht (z. B. RG HRR 1929 Nr. 670). Ebenso hat der BGH die in § 53 III a. F. genannten Erregungszustände „als allein entschuldbare Ursachen der Notwehrüberschreitung" bezeichnet (BGHSt. 3 194,197 unt.). 71

(Real)Grund oder Ursache aber kann nach der im Strafrecht herrschenden Kausalitätslehre, der Bedingungs- oder Äquivalenztheorie, nur bedeuten, daß der psychische Ausnahmezustand eine Bedingung des Exzesses, d. h. dafür mitbestimmend ist, ohne die alleinige oder hauptsächliche Ursache sein zu müssen. „Es genügt" also, wie schon RG JW 1935 431 Nr. 15 r. Sp. richtig formuliert hat, daß der Verteidiger „durch diesen Gemütszustand bei seinem inneren oder äußeren Handeln irgendwie beeinflußt worden ist" (wobei der folgende Zusatz des RG aaO „so daß dieses als ein Handeln in einer solchen Geistesverfassung erscheint" eher verwirrend denn klärend ist).

72

Kann man solch eine Mitwirksamkeit der in § 33 genannten Gemütsbewegungen weder sicher feststellen noch ausschließen, steht mithin nur fest, daß der Angegriffene oder sein Helfer „in Verwirrung . . . " gehandelt hat, dann ist aus Beweisgründen nach dem Grundsatz „In dubio pro reo" zugunsten des Täters davon auszugehen, daß er „aus Verwirrung..." in seiner Abwehr zu weit gegangen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt hat sich somit auf Grund der gesetzlichen Neufassung praktisch nichts geändert 62 .

III. Die Rechtsfolgen der Notwehrüberschreitung 1. Ausnahmslos Schuldausschluß 73 Sind die vom Gesetz anerkannten seelischen Ausnahmesituationen gegeben und für den Exzeß mitbestimmend geworden, so ist die straftatbestandsmäßige Notwehrüberschreitung des Verteidigers zwar rechtswidrig, aber trotz Vorsätzlichkeit oder Vorhersehbarkeit, weil verzeihlich und nicht vorwerfbar, schuld- und straflos (Rdn. 37). Die in § 33 anerkannten besonderen Gemütsbewegungen der Verwirrung, Furcht oder des Schreckens brauchen selbst nicht wieder unverschuldet zu

59 So heute Blei AT S. 188 (§ 62); Maurach-Zipf AT 1. TBd. S. 485/486 (§ 34 III 3); Jescheck S. 398 (§ 45 II 2); Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 5; Lackner Anm. 2; Geilen Jura 1981 378; verschwommen für „gewissen inneren Zusammenhang" BT-Drucks. V/4095, S. 15 1. Sp.; BT, SondA. f. d. StrRef., Prot. V/1817; s. auch Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 106; Preisendanz Anm. 3. 60 v. Olshausens Komm. 11. Aufl. (1927) I §53 a. F. Anm. 16; Lube S. 22/23. Daß ein „Gegensatz" zum früheren Recht bestehe (so z. B. Rudolphi SK I Rdn. 3), ist also nicht zutreffend. 61 Zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffes „Grund" s. Spendet Grundfragen jeder Strafrechtsreform, in: Rittler-Festschr. (1957) S. 39,40 ff. 62 So auch Sch.-Schröder-Lenckner Rdn. 3. (180)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

; RG HRR 1929 Nr. 670 formuliert dies so, daß die Gefühlserregungen auch dann beachtlich sind, wenn sie nicht „gerechtfertigt" erscheinen. Daß der Täter eine besonders furchtsame Natur ist, gereicht ihm also nicht zum Nachteil. sein

63

Die Entschuldigung wird nicht etwa dadurch wieder ausgeschlossen, daß der 74 Verteidiger den Angreifer „provoziert" hat. Wie bereits bei der Notwehr als Rechtfertigungsgrund dargelegt worden ist (Spendel LK § 32 Rdn. 281 ff, 290 ff), kann nicht schon allein aus der Tatsache der „Notwehrprovokation", selbst nicht aus der der „Absichtsprovokation", eine Ausschließung oder Einschränkung des Notwehrrechts hergeleitet werden. Dasselbe muß auch für die Notwehrüberschreitung als Entschuldigungsgrund gelten. Verfehlt sind daher die Entscheidungen BGH NJW 1962 308 (dazu Spendel LK § 32 Rdn. 287) und OLG Hamm NJW 1965 1928, die ein schuldhaftes mißbilligenswertes Verhalten des Angegriffenen und Notwehrexzedenten zur Verneinung des § 33 ausreichen lassen. Wenn in dem letzten Fall sich der betrogene Ehemann, durch den Ehebruch „provoziert", im Zorn mit einer Bierflasche auf den ertappten Ehebrecher stürzt, dann nach einer Kampfpause erneut auf den anderen losgeht und ihn schließlich bewußtlos (!) schlägt, so ist er bei der Schlägerei eindeutig der zu t/nrecht Angreifende und der Nebenbuhler der im Recht befindliche Verteidiger. Hier diesem nicht nur rechtfertigende Notwehr, sondern sogar eine entschuldigende Notwehrüberschreitung zu versagen, weil er dem angreifenden Ehemann die Bierflasche entwunden und auch auf den Kopf geschlagen habe, statt sich nur mit den Fäusten gegen den geübten Amateurboxer zu wehren, und weil er mit solch einem Zornesausbruch habe rechnen können (OLG Hamm NJW 1965 1928 zu Nr. 2), ist ein völlig gefühlsbedingtes, rechtlich aber unbegründetes Urteil (die Richter hatten offenbar Mitgefühl mit dem gekränkten Ehemann und Antipathie gegen den Ehebrecher). Daß der Schlag mit der Bierflasche, die der Verteidiger dem Angreifer abnehmen konnte, keine Notwehr«berschreitung, sondern in Wahrheit das Gegenteil, eine (weil nicht ausreichende) „NotwehrurtfCTSchreitung", war, zeigt drastisch der Ausgang des Kampfes — der Angegriffene wurde schließlich trotz seiner angeblich zu weit gehenden Abwehr bewußtlos geschlagen. Selbst wenn er mit seiner Reaktion über die erforderliche Verteidigung hinausgegangen wäre, bleibt unerfindlich, warum ihn „die wütenden Angriffe" des anderen nicht in „Bestürzung" und „Schrecken" versetzt haben sollten. Es ist doch vielmehr naheliegend, daß der Ehebrecher, als er in flagranti ertappt und von dem Ehemann mit dem Ruf „Ich schlage dich kaputt" angegriffen wurde, einen großen Schreck erlitt. Es erhebt sich endlich noch die Frage, wieweit der Entschuldigungsgrund des 75 § 33 über das Notwehrrecht hinaus Bedeutung gewinnt. Einmal fragt sich, ob die Vorschrift zugunsten des Täters analog auch bei anderen Rechtfertigungsgründen, insbesondere bei Notstandsfällen angewandt werden kann, falls er diese in einer Gemütserregung wie „Verwirrung" usw. überschreitet. Sodann entsteht das Problem, wie sich der Notwehrexzeß im Recht der unerlaubten Handlungen (§§ 823 ff BGB) auswirkt. Die erste Frage ist eine vorwiegend straf-, die zweite eine vorrangig zivilrechtliche. Eine analoge Anwendung des § 33 auf andere Fälle ist angesichts der eindeuti- 76 gen Gesetzesregelung abzulehnen, auch für die Sachwehr des § 228 BGB, die der 63

So klar Lobe LK5 (1933) §53 a. F. Anm.7; Nagler LK6 (1944) §53 a. F. Anm. IV.2 (S. 428) ; auch Baldus LK 9 I § 53 a. F. Rdn. 42 ; ferner Mezger Lehrb. S. 364 ; Jüttner S. 23 ; Weil S. 48.

(181)

§33

2. Abschnitt. Die Tat

Notwehr noch am nächsten steht 64 . Denn die Fälle des rechtfertigenden Notstands unterliegen dem Güterabwägungsprinzip, das für § 32 gerade nicht entscheidend ist; und der Notstandstäter verdient, anders als der sich in Notwehr Verteidigende, keine über die allgemeine Irrtumsregelung hinausreichende Entschuldigung für einen fahrlässig oder gar vorsätzlich rechtswidrigen Übergriff in fremde Rechtsgüter, weil ihm ein Unbeteiligter gegenübersteht, der ihm selbst kein Unrecht zugefügt hat und daher auf den staatlichen Strafschutz ebensowenig wie auf den persönlichen Selbstschutz zu verzichten braucht (s. schon Rdn. 22). Einer anderen und gesonderten Beantwortung bedarf dagegen die Frage, ob und inwiefern § 33 StGB im Zivilrecht bei den unerlaubten Handlungen zu berücksichtigen ist. Das Ergebnis muß sein, daß bei Vorliegen der strafrechtlichen Vorschrift auch das zivilrechtliche Verschulden zu verneinen ist. 2. Ausnahmsweise Schadenshaftung 77 Anders als bei der Notwehr unter der Kategorie des Unrechts (§ 32 I und II StGB = § 227 I und II BGB) kennt das Zivilrecht für die Notwehrüberschreitung unter der Kategorie der Schuld keine ausdrückliche und mit dem Strafrecht übereinstimmende Regelung. Die Frage sollte daher naheliegen, inwieweit die Vorschrift des § 33 StGB auch für den Ausschluß des Zivi/rechtlichen Verschuldens und der Schadensersatzpflicht gilt. Sie ordnet sich in das allgemeine Problem ein, ob und welche Folgen die strafrechtlichen Entschuldigungsgründe überhaupt für das Recht der unerlaubten Handlungen (§§ 823 ff BGB) haben (die Frage berührt vom BerufGer. bei BGH[Z] NJW1978 2029 zu Nr. II.l). 78

Eine exakte und befriedigende Antwort der Zivilrechtslehre ist zu vermissen 65 . Für den — offenbar zunächst nicht klar als Schuldausschließungsgrund erkannten, sondern nur als persönlichen Strafausschließungsgrund angesehenen (RGZ 21 295, 296) — Notwehrexzeß sind Rechtsprechung und Rechtslehre davon ausgegangen, daß er zwar „verschuldet" sein müsse (z. B. RG[Z] JW1911 578 Nr. 12), daß § 53 III a. F. StGB aber für die zivilrechtliche Verschuldung und Schadensersatzpflicht unbeachtlich sei, sofern nicht durch die Gemütserregungen im konkreten Falle Vorsatz oder Fahrlässigkeit ausgeschlossen würden (RG[Z] DJZ 1902 193 Nr. 38; JW 1911 578 Nr. 16, 579 1. Sp.; 1914 587 Nr. 4 [kürzer = RGZ 84 306]; RGZ 88 118, 120; BGH[Z] NJW 1976 41, 42 r. Sp. a. E.). Diese Auffassung ist auf zwei Wegen abgeschwächt worden: Einmal hat die Rechtsprechung geurteilt, daß bei einer Notwehrüberschreitung in Bestürzung oder einer ähnlichen Gemütserregung die Anforderungen an die Feststellung der Fahrlässigkeit nicht überspannt werden dürften (z.B. RG WarnRspr. 1928 147, 150); zum andern hat sie §254 BGB großzügig angewandt und das Mitverschulden des ursprünglichen Angreifers so weit berück64

65

Ebenso Roxin in: Schaffstein-Festschr. S. 117; ders. in: Bockelmann-Festschr. S. 283; Sch.-Schröder-Lenckner §34 Rdn. 52; and. Rudolphi SK I Rdn. 1 a; Stratenwerth Rdn. 616. Die Bemerkung, daß der entschuldigende Notstand oder der Notwehrexzeß des Strafrechts nicht das zivilrechtliche Unrecht ausschließe (so ζ. B. Lehmann-Hübner Allgem. Teil des Bürgerl. Gesetzbuches, 16. Aufl. (1966) S. 124; H. Dilcher in v. Staudingers Komm, zum BGB, 12. Aufl. (1980) § 228 Rdn. 4, § 227 Rdn. 37), spricht nur eine Selbstverständlichkeit aus, schweigt sich dagegen über die Frage aus, wie sich § 33 auf das zivilrechtliche Verschulden auswirkt. Nicht eindeutig ζ. B. auch neuerdings Jauernig- Vollkommer BGB, 2. Aufl. (1981) § 276 Anm. I 4e. (182)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

sichtigt, daß es entweder als ganz überwiegend eine Schadensersatzpflicht des Angegriffenen und Notwehrexzedenten auch ganz aufhob (so z. B. RG[Z] JW 1911 578 Nr. 16) oder doch als erheblich die Haftung zur Hälfte einschränkte (so ζ. B. BGH[Z] VersR 1967 477,478 zu Nr. 4 u. 5; 661 r. Sp. vor Nr. 11)66. Demgegenüber wird in der Zivilistik nur sporadisch für strafrechtliche Entschul- 79 digungsgründe allgemein6? oder für die Notwehrüberschreitung speziell die Ansicht vertreten, daß die strafrechtliche Entschuldigung auch das zivilrechtliche Verschulden und damit eine Schadensersatzpflicht i. S. d. §§ 823 ff BGB ausschließen würde. Während der Schuldbegriff der Zivilrechtslehre noch weitgehend auf einer Gleichsetzung von Vorsatz oder Fahrlässigkeit mit der Schuld beruht, wie sie der zu Anfang dieses Jahrhunderts im Strafrecht vertretenen „psychologischen Schuldauffassung" eigentümlich war 69 , zieht die Mindermeinung nur die Konsequenz aus der die heutige Verbrechenslehre beherrschenden „normativen Schuldauffassung", die Vorsatz und Fahrlässigkeit als psychische Sachverhalte und Gegenstand der Wertung versteht und Schuld als normative Kategorie und Wertung dieses Gegenstandes auffaßt. Nach der (heute anscheinend weitgehend in Vergessenheit geratenen) Auffassung Hans Reichels (Anm. JW 1933 All r. Sp. zu B.2, s. vorsteh. Fußn. 68) ist daher § 53 III StGB a. F. = § 33 „auch im Privatrechtsgebiet unmittelbar normgebend" mit der Folge, daß der Exzeß dem Verteidiger zivilrechtlich ebenfalls „nicht zum Vorwurf gemacht, also zum Verschulden zugerechnet werden kann" und deshalb keine Schadensersatzpflicht begründet. Die beiden gegensätzlichen Ansichten zur Notwehrüberschreitung im Zivilrecht 80 dürften zu einseitig sein, die erste (herrschende) „zu zivilistisch", die zweite (vereinzelte) „zu kriminalistisch". Richtig ist der Ausgangspunkt der letzten oder Mindermeinung, daß auf Grund der normativen Schuldauffassung (scharfe Unterscheidung von normativer Schuld und tatsächlichem Vorsatz) und der Deutung des § 33 StGB als eines Entschuldigungsgrundes auch das zivilrechtliche Verschulden ausgeschlossen ist, soweit der Exzeß eine fahrlässige oder vorsätzliche unerlaubte Handlung darstellt. Fragwürdig ist dagegen die Folgerung, daß damit zugleich stets eine Schadensersatzpflicht des Exzeßtäters entfalle. 66

68

69

Ebenso die Rechtslehre: ζ. B. Knoke in Plancks Komm, zum BGB, 4. Aufl. I (1913) § 227 Anm. 6; Schlegelberger-Vogels-Hefermehl Erläuterungswerk zum Bürgerl. Gesetzb. . . . (1939 ff) 6. Lfg. §227 Rdn. 24; Enneccerus-Nipperdey Allgem. Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl. (1960) 2. HBd., S. 1454 (§ 240 III 1); Lehmann-Hübner Allgem. Teil des Bürgerl. Gesetzbuches, 16. Aufl. (1966) S. 123; Heinr. Lange BGB, AT, 14. Aufl. (1973) S. 118 (s. auch Heinr. Lange-Helm. Köhler17 [1980] S. 130/131 [§ 18 II 4]); Soergel-Fahse BGB 11. Aufl. I (1978) §227 Rdn. 50; v. Feldmann MünchKomm. zum B G B l (1978) §227 Rdn. 9 (die Affekte könnten „die Verantwortlichkeit des Verteidigers ausschließen"); H. Dilcher in v. Staudingers Komm, zum BGB, 12. Aufl. (1980) § 227 Rdn. 36. In der Sira/rechtslehre z. B. v. Bar Gesetz und Schuld III (1909) S. 202 Anm. 345 b) a. E.; Rob. ν. Hippel II S. 213 Anm. 6/214; in neuerer Zeit ausdrücklich Jürgen Fischer S. 83, der § 33 nur als persönlichen Strafausschließungsgrund versteht. Fikentscher Schuldrecht, 6. Aufl. (1976) S. 689 (§ 111 V 3); and. ζ. B. Lüderitz StudKomm. zum BGB (1975) § 276 Anm. II.3 (S. 147/148). Hans Reichel in seinem Gutachten über Schuldfähigkeit, Schuld und Ausschluß der Rechtswidrigkeit (s. Fußn. 39 zu Rdn. 40) in: Verh. d. 34. DJT 1926 I (1927) S. 136, 172; ders. in Anm. zu OLG Hamburg JW 1933 477 Nr. 16; Hans Thoma Bürgerl. Recht, Allgem. Teil (1975) S. 32 (ohne Begründung). Dafür heute noch im Zivilrecht unter ausdrücklicher Ablehnung der im Strafrecht herrschenden „normativen Schuldauffassung" Emst Wolf Allgem. Teil des bürgerl. Rechts, 3. Aufl. (1982) S. 225 ff, 232 ff, 235 (§ 4 D I, II r).

(183)

§33

2. Abschnitt. Die Tat

81

Wenn das Zivilrecht trotz fehlender Verantwortlichkeit, d. h. Schuldfähigkeit, wegen Bewußtlosigkeit oder krankhafter Geistesstörung (§§ 827, 828 BGB) eine Billigkeitshaftung des Schädigers kennt (§ 829 BGB), so ist diese auch bei mangelnder Schuld wegen Notwehrüberschreitung i. S. d. § 33 StGB, die auf einer Art „verminderter Schuldfähigkeit" beruht (s. Rdn. 40), anzunehmen und § 829 BGB auf den Fall des § 33 StGB entsprechend anzuwenden. Enneccerus-Nipperdey, die den normativen Schuldbegriff des Strafrechts für das Zivilrecht im wesentlichen, wenngleich nicht vorbehaltlos und konsequent, anerkennen 70 , fordern eine solche „sinngemäße Anwendung" des § 829 BGB, aber nicht für den Notwehrexzeß, der anscheinend nur als „Strafausschließungsgrund" angesehen wird, sondern für den Fall des entschuldigenden Notstandes 71 . Aber gerade für diesen ist die Konstruktion entbehrlich, ja verfehlt, da insoweit eine Schadensersatzpflicht des Notstandstäters in analoger Anwendung aus § 904 S. 2 BGB herzuleiten ist 72 .

82

Mit der vorstehend skizzierten, hier nur kurz zu entwickelnden Lösung wäre die „Einheit der Rechtsordnung" in einer wichtigen Frage des Straf- und Zivilrechts hergestellt und zugleich die Gerechtigkeit der Entscheidung im konkreten Fall gewährleistet, d. h. einerseits für beide Rechtsgebiete ein einheitlicher (normativer) Schuldbegtiif aufgestellt 73 , andererseits für das zu unterscheidende Notwehr- und Notstandsrecht und dementsprechend für die verschiedenen Entschuldigungsgründe der §§ 33 und 35 StGB eine befriedigende Schadensersatzrtgtlung ermöglicht. Wer im entschuldigenden Notstand des § 35 rechtswidrig einen anderen schädigt, ist diesem in analoger Anwendung des § 904 S. 2 BGB grundsätzlich zum Schadensersatz verpflichtet, weil der Geschädigte der von vornherein im Recht befindliche Unbeteiligte ist und schon bei rechtmäßigem Eingriff einen Ersatzanspruch hätte 74 . Wer dagegen im entschuldigenden Notwehrexzeß des § 33 den Gegner rechts widrig verletzt, ist diesem (oder dessen Unterhaltsberechtigten) in entsprechender Anwendung des § 829 BGB nur ausnahmsweise aus Billigkeitsgründen schadensersatzpflichtig, weil der Verletzte der ursprünglich gegen den Exzeßtäter zu Unrecht vorgehende Angreifer ist.

83

IV. Verfahrensrechtliches Was im Strafprozeß für die wirkliche oder vermeintliche Notwehr gilt (s. Spendel LK § 32 Rdn. 348 ff zu Abschn. VII), hat auch für die Überschreitung der Notwehr

70

Enneccerus-Nipperdey Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 2. HBd. (1960) S. 1319 ff (§213 I). 71 Enneccerus-Nipperdey aaO S. 1325 (§213 IV), s. auch S. 1458 (§241 IV); dagegen Wilts Die zivilrechtliche Haftung bei strafrechtlichem Notstand, NJW 1962 1852 1. Sp. 7 2 Vgl. z. B. Wilts aaO, ferner ders. in NJW 1964 708, jeweils mit weit. Nachweisen; Hanau MünchKomm. zum BGB 2 (1979) § 276 Rdn. 76; Palandt-Bassenge BGB, 41. Aufl. (1982) § 904 Anm. 1 ; Erman-Hefermehl HKomm zum BGB, 7. Aufl. (1981) I § 227 Rdn. 3. 73 Vgl. demgegenüber z. B. Soergel-Fahse BGB 11. Aufl. I (1978) Rdn. 14 vor § 227: dieses Verschulden" (seil, im Zivilrecht) „ . . . ist nach Begründung und Funktion von dem strafrechtlichen Verschulden wesensverschieden"; Hanau MünchKomm. zum BGB 2 (1979) § 276 Rdn. 79: „Der Notwehrexzeß (§ 33 StGB) hat im Zivilrecht keine eigenständige Bedeutung . . . " ; Erman-Hefermehl aaO § 227 Rdn. 16. 74 Vgl. außer den in Fußn. 72 Genannten jedoch z. B. Säcker MünchKomm. zum BGB 4 (1981) §904 Rdn. 25 („allenfalls" eine Schadensersatzpflicht des entschuldigten Notstandstäters). (184)

Überschreitung der Notwehr (Spendel)

§33

zu gelten: Der Richter hat sie von Amts wegen zu prüfen 7 5 . Der Schuldausschließungsgrund des § 33 ist zu untersuchen und gegebenenfalls zugunsten des Angeklagten anzunehmen, wenn dieser sich unwiderlegt darauf beruft oder die Entschuldigung nach der Sachlage in Betracht kommt (zu einem Fall i. S. der zweiten Alternative RG JW 1925 962, 963 1. Sp. mit Anm. Oetker). Hat der Tatrichter diese Frage trotz solcher Hinweise nicht geprüft, ist sein Urteil aufzuheben (so schon RG JW 1895 582 Nr. 4). Das Gericht darf nur verurteilen, wenn mit Gewißheit feststeht, daß die Voraussetzungen des § 33 (und des § 32) nicht erfüllt sind 76 . Läßt sich „nicht mehr mit Sicherheit feststellen", ob eine Notwehrlage oder eine Notwehrüberschreitung gegeben war, besteht vielmehr die Möglichkeit, daß der Entschuldigungsgrund vorlag, so ist der Angeklagte freizusprechen (insofern richtig RG JW 1932 1971, 1972 1. Sp. in einer sonst in der Begründung ganz verfehlten Entscheidung). Demgegenüber muß im Zivilprozeß nach der herrschenden Meinung derjenige 84 die Notwehrüberschreitung beweisen, der sie behauptet (RG SeuffArch 76 [1921] 202 = RG LZ 1921 Sp. 218). Hat ζ. B. der auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung (etwa Körperverletzung) in Anspruch genommene Beklagte eine Notwehrlage nachgewiesen, so muß der Kläger eine zu weitgehende Notwehrhandlung als schuldhaften Notwehrexzeß des Gegners beweisen; unaufklärbare Zweifel gehen zu Lasten des Klägers (RG[Z] SeuffArch 76 [1921] 202 = RG LZ 1921 Sp. 218, 219; RG SeuffArch. 79 [1925] 11; RG[Z] JW 1925 939, 940 1. Sp.; BGH [Z] VersR 1966 778; 1971 629/630; NJW 1976 41, 42 r. Sp.). Der Beklagte hat dann wieder sein NichtVerschulden bei der festgestellten Notwehrüberschreitung unter Beweis zu stellen.

75

76

So schon als Vertreter des RG Behringer Die Notwehr, Ztschr. f. Rechtspflege in Bayern 1909 137,141 zu Nr. III. So bereits Behringer aaO S. 141.

(185)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

§ 3 4

§34

Rechtfertigender Notstand Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich Uberwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden. Schrifttum Baumgarten Notstand und Notwehr (1911); Bockelmann Hegels Notstandslehre (1935); ders. Anmerkung zu BGHSt. 12 299, JZ 1959 495 ; Dencker Der verschuldete rechtfertigende Notstand, JuS 1979 779; Gallas Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs, ZStW 80 (1968) 1; Geilen Anmerkung zu OLG Frankfurt NJW 1975 271, JZ 1975 380; Gimbernat Ordeig Der Notstand: Ein Rechtswidrigkeitsproblem, Welzel-Festschr. (1974) S. 485; Grebing Die Grenzen des rechtfertigenden Notstands im Strafrecht, GA 1979 81 ; Grünhut Grenzen des übergesetzlichen Notstands, ZStW 51 (1931) 455; Heinitz Das Problem der materiellen Rechtswidrigkeit, StrafrAbh. 211 (1926); ders. Zur Entwicklung der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit, Eb. Schmidt-Festschr. (1961) S. 266; Henkel Oer Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht (1932); Hirsch Anmerkung zu BGH NJW 1979 2053, JR 198« 115; Hruschka Rettungspflichten in Notstandssituationen, JuS 1979 385; ders. Anmerkung zu BayObLGSt. 1978 82, JR 1979 125; ders. Rechtfertigung oder Entschuldigung im Defensivnotstand?, NJW 1980 21; Hubmann Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155 (1956) 85; Keller Der Dauernotstand im Strafrecht, StrafrAbh. 340 (1934); Kienapfel Der rechtfertigende Notstand, ÖsÜZ 1975 421 ; ders. Anmerkung zu BGH NJW 1976 680, JR 1977 27; Köhler Der Notstand im künftigen Strafrecht (1926); Kohlhaas Rechtfertigungsgründe im Straßenverkehr, DAR 1968 231 ; Küper Noch einmal : Rechtfertigender Notstand, Pflichtenkollision und übergesetzliche Entschuldigung, JuS 1971 474; ders. Zum rechtfertigenden Notstand bei Kollision von Vermögenswerten, JZ 1976 515; ders. Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht (1979); ders. Die sog. „Gefahrtragungspflichten" im Gefüge des rechtfertigenden Notstandes, JZ 1980 755 ; ders. Der „verschuldete" rechtfertigende Notstand (1983); O. Lampe Defensiver und aggressiver übergesetzlicher Notstand, NJW 1968 88; Lange Irrtumsfragen bei der ärztlichen Schwangerschaftsunterbrechung, JZ 1953 9; Lee Hyung Kook Interessenabwägung und Angemessenheitsprüfung im rechtfertigenden Notstand des § 34 StGB, Diss. Heidelberg (1978); Lenckner Der rechtfertigende Notstand (1965); Maurach Kritik der Notstandslehre (1935); R. Merkel Die Kollision rechtmäßiger Interessen (1895); Noll Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, im besonderen die Einwilligung des Verletzten (1955); Oetker Notwehr und Notstand, VDA 2 (1908) S. 255; ders. Notwehr und Notstand, Frank-Festgabe I (1930) S. 359; Otto Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil (1965), mit Nachtrag (1978); K.-H. Peters „Wertungsrahmen" und „Konflikttypen" bei der „Konkurrenz" zwischen § 34 StGB und den besonderen Rechtfertigungsgründen?, GA 1981 445; Roxin Zur Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Entfernung von Leichenteilen (§ 168 StGB), insbesondere zum rechtfertigenden Notstand (§34 StGB) — OLG Frankfurt NJW 1975, 271, JuS 1976 505; Schaffstein Der Maßstab für das Gefahrurteil beim rechtfertigenden Notstand, Bruns-Festschr. (1978) S. 89; Eb. Schmidt Das Reichsgericht und der „übergesetzliche Notstand", ZStW 49 (1929) 350; ders. Der übergesetzliche Notstand, MittlKV N F 5 (1931) 131; Schroeder Notstandslage bei Dauergefahr, JuS 1980 336; Schröder Die Not als Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrund im deutschen und schweizerischen Strafrecht, SchwZStr. 76 (1960) 1 ; ders. Die Notstandsregelung im Entwurf 1959 II, Eb. SchmidtFestschr. (1961) S. 290; Seelmann Das Verhältnis von § 34 StGB zu anderen Rechtfertigungsgründen (1978); Siegert Notstand und Putativnotstand (1931); ders. Notstand und Putativnotstand in der Strafrechtsreform, ZStW 52 (1932) 48; Stammler Darstellung der strafrechtlichen (119)

§34

2. Abschnitt. Die Tat

Bedeutung des Notstandes (1878); Stree Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973 461 ; Strutz Übergesetzlicher rechtfertigender Notstand im Straßenverkehr, DAR 1969 183; Wachinger Der übergesetzliche Notstand nach der neuesten Rechtsprechung des Reichsgerichts, Frank-Festgabe I (1930) S. 469; ders. Der übergesetzliche Notstand, MittIKV NF 5 (1931) 103; v. Weber Das Notstandsproblem und seine Lösung in den deutschen Strafgesetzentwürfen von 1919 und 1925 (1925); ders. Vom Diebstahl in rechter Hungersnot, MDR 1947 78; Welzel Zum Notstandsproblem, ZStW 63 (1951) 47; ders. Der übergesetzliche Notstand und die Irrtumsproblematik, JZ 1955 142. Siehe außerdem das Schrifttum zu § 34 und hoheitlichem Handeln vor Rdn. 6, zum Staatsnotstand LK10 Vor § 32 vor Rdn. 83, zur rechtfertigenden Pflichtenkollision LK10 Vor § 32 vor Rdn. 71, zum gerechtfertigten Schwangerschaftsabbruch LK.10 Vor § 218 vor Rdn. 1, zum entschuldigenden Notstand LKJO § 35 vor Rdn. 1.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG eingeführt worden. Sie ist gleichlautend mit § 39 Abs. 1 E 1962 und dem ebenfalls auf diesen zurückgehenden § 16 OWiG, der als § 12 OWiG bereits 1968 in die Neufassung des OWiG aufgenommen worden war. Im Unterschied zum entschuldigenden Notstand, für den das StGB von Anbeginn in § 54 und 52 a. F. umfassende gesetzliche Regelungen enthielt, gab es vor der Einführung von § 34 und der erwähnten Bestimmung des Ordnungswidrigkeitenrechts nur fragmentarische gesetzliche Regelungen des rechtfertigenden Notstands. Zunächst waren dies namentlich : im bürgerlichen Recht § 228 BGB (Sachwehr, defensiver Notstand) und § 904 BGB (aggressiver Notstand), im Handelsrecht §§ 700 ff HGB (große Haverei), im Strafrecht — innerhalb einer Generalklausel für die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei §§ 185, 186 — der § 193. Dagegen wurde in der Lehre seit langem ein umfassender rechtfertigender Notstand auf allgemeine Prinzipien gestützt, wobei man sich auf Gesichtspunkte wie die Abwägung von Rechten und Pflichten, die Güterabwägung, die Güter- und Pflichtenabwägung, die Interessenabwägung oder die Übelsabwägung berief (vgl. insbesondere Stammler Strafr. Bedeutung des Notstands S. 74 ff; Binding Handb. I S. 760 ff; R. Merkel Kollision rechtm. Interessen S. 42; Beling ZStW 18 [1898] 276f; 44 [1924] 236ff; Oetker VDA 2 S. 328; Heimberger VDA 4 S. 3, 11; Mezger GerS 89 [1924] 313; Graf Dohna Recht und Irrtum S. 11 ff; näher zur damaligen theoretischen Entwicklung Eb. Schmidt ZStW 49 [1929] 370 ff; Lenckner Notstand S. 50 ff). Auch sah sich das RG schon in einigen älteren Entscheidungen veranlaßt, Gesichtspunkte des Unrechtsausschlusses heranzuziehen, die der Sache nach dem später prinzipiell anerkannten übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand entsprachen (vgl. RGSt. 23 116; 37 150). Außerdem enthielten bereits die StGB-Entwürfe 1913 (KE § 28), 1919 (§ 22), 1922 (§ 22), 1925 (§ 22) und 1927 (§ 25) umfassende Notstandsregelungen (und zwar KE 1913, E 1919 und § 25 Abs. 2 1. Halbs. E 1927 als Rechtfertigungsgrund). Bahnbrechend für die allgemeine Anerkennung war die zur medizinisch indizierten Schwangerschaftsunterbrechung ergangene Entscheidung RGSt. 61 242 vom 11. 3. 1927, die den Grundsatz der Güterabwägung ausdrücklich als allgemeines Rechtfertigungsprinzip bejahte (ebenfalls wurde der notstandsähnliche Fälle betreffende Grundsatz der rechtfertigenden Pflichtenabwägung bestätigt; zu dieser Sonderproblematik Vor § 32 Rdn. 71 ff). In den Gründen hieß es: Wenn beim Widerstreit zweier Rechtsgüter ein Ausgleich nicht anders möglich ist als durch Vernichtung oder Schädigung des einen der beiden Rechtsgüter, dann muß das geringerwertige Gut dem höherwertigen Gut weichen, so daß der Eingriff in das geringerwertige also nicht rechtswidrig ist. Die Bezeichnung „übergesetzlicher Notti 20)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

§34

stand" wurde in der Judikatur erstmals in RGSt. 62 35, 46 verwendet (näher zu den grundlegenden Entscheidungen Wachinger Frank-Festgabe I S. 469; MittlKV N F S 103). Der Rechtfertigungsgrund setzte sich dann allgemein durch (vgl. für die st. Rspr. etwa: RGSt. 62 137; 63 215, 226; 65 422, 427; 77 113; BGHSt. 1 329; 2 111; 2 242; 12 299; 14 1 ; BGH GA 1955 178; BGH [Z] NJW 1968 2288). Im Laufe der Zeit erstarkte er zu Gewohnheitsrecht (E 1962 Begr. S. 158). Die Gesetzgebung blieb, da die in den früheren Strafgesetzentwürfen enthaltenen Notstandsbestimmungen das Schicksal dieser Entwürfe teilten, weiterhin auf die Schaffung partieller Regelungen beschränkt. Insbesondere wurde 1935 in § 14 Abs. 1 ErbgesG die Rechtfertigung der medizinisch-indizierten Schwangerschaftsunterbrechung positiviert (zur teilweisen Fortgeltung dieser Vorschrift nach 1949 siehe BGHSt. 1 329; 2 111; 2 242; OGHSt. 3 83). Während in der Judikatur vielfach der übergesetzliche rechtfertigende Notstand und die rechtfertigende Pflichtenkollision miteinander vermischt worden waren (Gedanke der Güter- und Pflichtenabwägung), hat der Gesetzgeber die in § 34 getroffene Regelung auf den echten Notstand begrenzt und „notstandsähnliche" Fälle wie die rechtfertigende Pflichtenkollision bewußt nicht geregelt und der Entwicklung der Rspr. überlassen (E 1962 Begr. S. 159; näher LK10 Vor § 32 Rdn. 740- Außerdem ist der Bereich des gerechtfertigten ärztlichen Schwangerschaftsabbruchs, der bis Mitte der dreißiger Jahre (Einführung von § 14 Abs. 1 ErbgesG) und teilweise nach 1945 eine besonders wichtige Rolle im Rahmen des übergesetzlichen Notstands spielte, durch das 5. StrRG und das 15. StrÄndG im StGB speziell geregelt worden (§ 218 a n. F.). Angesichts der unvermeidlichen Vagheit einer allgemeinen Notstandsregelung und wegen der gesetzgeberischen Notwendigkeit, gesonderte Vorschriften für die Fälle des Schwangerschaftsabbruchs zu schaffen, waren von wissenschaftlicher Seite Bedenken erhoben worden, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine allgemeine Bestimmung für den rechtfertigenden Notstand vorzusehen (vgl. zusammenfassend Gallas ZStW 80 [1968] 23 ff; weitere Nachw. bei Lenckner Notstand S. 204 ff). Hierzu wird in der Begründung zu § 39 E 1962 bemerkt, daß trotz gewisser theoretischer Schwierigkeiten und Bedenken ein unabweisbares Bedürfnis der Praxis bestehe, den rechtfertigenden Notstand festzulegen und damit der Rspr. eine feste Grundlage zu geben. Der Gesetzgeber könne über die Grundsätze des rechten Handelns, wenn sich strafrechtlich geschützte Interessen und Rechtsgüter widerstreiten, nicht schweigen (E 1962 Begr. S. 158). Zur Entstehungsgeschichte des § 34 siehe auch Niederschriften 2 S. 141 ff, Anhang Nr. 22ff; 12 S. 152ff, Anhang A Nr. 36ff; E 1962 Begr. S. 156, 158ff; Prot. V S. 1638 ff, 1739 ff, 1792 ff, 2110f, 2907, 3159; BTDrucks. V/4095 S. 15. Näher zur historischen Entwicklung des rechtfertigenden Notstands Lenckner aaO S. 45 ff. Zur Entwicklung im österreichischen Recht Kienapfel ÖstJZ 1975 421. Übersicht Rdn.

Rdn. I. Allgemeines 1. R e c h t s g e d a n k e der Vorschrift . . . 2. N o t s t a n d s p r i n z i p (Interessenabwägungstheorie) 3. G e f a h r extensiver Auslegung . . . . 4. Rechtfertigende Pflichtenkollision nicht u n t e r § 34 (121)

5.

2 4 5

Hoheitliches H a n d e l n u n d § 34 a) Meinungsstand b) Keine R e c h t f e r t i g u n g hoheitlichen Eingriffshandelns durch §34 aa) Ausschlaggebende Erwägungen f ü r N i c h t a n w e n d -

6

7

§34

2. Abschnitt. Die Tat

barkeit bb) Kritik an den Gegenmeinungen cc) Problematik des praktischen Bedürfnisses dd) Bedeutung der Notrechtsvorbehalte in Polizeigesetzen c) Sonstiges hoheitliches Handeln und § 34 6. Systematik der Vorschrift II. Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands 1. Gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut (Notstandslage) a) Notstandsfähiges Rechtsgut aa) Jedes Rechtsgut bb) Möglichkeit der Notstandshilfe b) Gegenwärtige Gefahr aa) Gefahr bb) Gegenwärtigkeit cc) Ausscheiden von jedermann zu tragenden Gefahren 2. Begehung einer Tat, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden (Notstandshandlung) a) Begangene Tat b) Gefahrabwendungsabsicht . . . 3. Gefahr nicht anders abwendbar als durch die begangene Tat (Erforderlichkeit) a) Grundsätzliches b) Geeignetheit des Mittels . . . . c) Relativ mildestes Mittel . . . .

Rdn. 8 13 17

18 20 21

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Rdn. 4.

Bei Abwägung der widerstreitenden Interessen überwiegt geschütztes Interesse wesentlich das beeinträchtigte (Interessenabwägung) a) Grundsätzliches zur Interessenabwägung b) Abwägung der betroffenen Rechtsgüter c) Abwägung des Grades der den Rechtsgütern drohenden Gefahren d) Weitere Gesichtspunkte der Interessenabwägung aa) Allgemeine Gesichtspunkte der konkreten Abwägung . bb) Interessengesichtspunkte zu Lasten des geschützten Rechtsguts cc) Interessengesichtspunkte zugunsten des geschützten Rechtsguts, insbesondere defensiver Notstand . . . . e) Wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses 5. Gewissenhafte Prüfung keine Notstandsvoraussetzung 6. Angemessenheitsklausel (Satz 2) . . III. Spezialregelungen des rechtfertigenden Notstands IV. Putativnotstand V. Notstandsexzeß VI. Verhältnis des rechtfertigenden Notstands zu anderen Rechtfertigungsgründen VII. Prozessuales

53 55

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72 76 77 78 82 89 92

93 94

I. Allgemeines 1 1. Beim rechtfertigenden Notstand geht es um den Rechtsgedanken, daß eine Tatbestandsverwirklichung dann nicht gegen die Rechtsordnung verstößt, wenn sie bei einer für ein Rechtsgut bestehenden gegenwärtigen Gefahr eine erforderliche Rettungshandlung darstellt und sich bei Abwägung der gegenüberstehenden Interessen, insbesondere Rechtsgüter, ein wesentliches Überwiegen des wahrgenommenen Interesses ergibt. Durch das Erfordernis der Höherwertigkeit des geschützten Interesses unterscheidet sich der rechtfertigende vom nur entschuldigenden Notstand des § 35, der zudem nur bei wenigen Rechtsgütern und nur zugunsten der in Gefahr geratenen Person selbst oder einer ihr nahestehenden Person eingreift. Indem das Gesetz zwischen beiden Notstandsfällen abstuft, folgt es der schon zuvor herrschenden Differenzierungstheorie (näher LK10 § 35 Rdn. 1 f)· Der Rechtfertigung des Notstandstäters entspricht eine Duldungspflicht des durch die Rettungshandlung Betroffenen, so daß dieser einen rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 begeht, wenn er sich gegen die durch § 34 gedeckte Handlung zur Wehr setzt. Eine Pflicht zur Gefahrabwendung ist nicht Voraussetzung des rechtfertigenden Notstands (OLG Düsseldorf NJW 1970 674). Unter § 34 fällt sowohl der aggressive (122)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

§34

Notstand, d. h. die Gefahrabwendung durch Inanspruchnahme eines unbeteiligten Rechtsguts, als auch der defensive Notstand, d. h. die Gefahrabwendung durch Verteidigung gegenüber dem Rechtsgut, von dem die Gefahr ausgeht. Von der Notwehrlage unterscheidet sich die Situation des defensiven Notstands dadurch, daß sie keinen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff (eines Menschen) verlangt (näher Rdn. 72 ff). 2. Hinsichtlich des Notstandsprinzips folgt § 34, indem er (ebenso wie § 16 2 OWiG) ausdrücklich auf die Interessenabwägung abstellt, der Interessenabwägungstheorie (näher Rdn. 3). Noch bis Anfang der sechziger Jahre berief sich die zum übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand vertretene h. M. auf die Güterabwägungstheorie, wie sie in RGSt. 61 242, 254 als Grundsatz formuliert worden war (vgl. die Nachw. bei Lenckner Notstand S. 53 ff). Nach dem Güterabwägungsprinzip soll es f ü r die Rechtfertigung ausschließlich auf das abstrakte Rangverhältnis der kollidierenden Rechtsgüter ankommen : Die Verletzung oder G e f ä h r d u n g eines Rechtsguts sei nicht rechtswidrig, wenn nur dadurch ein höherwertiges Rechtsgut gerettet werden kann. Dieser Theorie traten Teile des Schrifttums mit der Zwecktheorie entgegen (namentlich v. Liszt-Schmidt AT S. 206 f ; Eb. Schmidt ZStW 49 [1929] 376; Heinitz StrafrAbh. 211 S. 117; Henkel Notstand S. 88; Welzel 10 § 14 IV [anders 11. Aufl.]). Sie stellt darauf ab, d a ß die Handlung das angemessene Mittel zur Erreichung des rechtlich anerkannten Zwecks ist. Die Güterabwägungs- und die Zwecktheorie verkürzen jedoch die zu beachtenden Gesichtspunkte. Erstere scheitert bei konsequenter Durchführung daran, daß sie, weil für sie lediglich der Vergleich der Rechtsgüter in ihrem abstrakten Wertverhältnis als statische Größen relevant ist, die übrigen widerstreitenden Interessengesichtspunkte nicht berücksichtigen kann. Ein reines Güterabwägungsprinzip würde dazu führen, daß einerseits — namentlich wenn zwei persönliche Rechtsgüter miteinander kollideren — der Bereich der Rechtfertigung stark überdehnt, andererseits — bei unterschiedlichem Gefahrengrad f ü r bestimmte gleichrangige Rechtsgüter oder ein und dasselbe Rechtsgut — zu eng gezogen wäre. Die Zwecktheorie ist zwar geschmeidiger, aber damit auch zu unbestimmt, um als Grundlage für die Entscheidung der Notstandsfragen dienen zu können. Sie beschreibt nur die formale Struktur der Notrechte, benennt aber nicht die Wertgesichtspunkte, auf deren Abwägung es bei der Entscheidung ankommt. Der Gesetzgeber hat sich deshalb bei der gesetzlichen Vertypung des rechtfertigenden Notstands für das Prinzip der Interessenabwägung entschieden. Die in § 34 zugrunde gelegte Interessenabwägungstheorie, die nach ihrer Veran- 3 kerung in § 39 E 1962 bereits im Schrifttum zum übergesetzlichen Notstand überwiegend vertreten wurde (vgl. die Nachw. bei Hirsch L K 9 Vor § 51 Rdn. 53), modifiziert das reine Güterabwägungsprinzip dahin, d a ß sie über das Rangverhältnis der abstrakten Rechtsgüter hinaus alle widerstreitenden schutzwürdigen Interessen in die Abwägung einbezieht. Der Sache nach bringt die Interessenabwägungstheorie damit allerdings nichts Neues. Sie umreißt vielmehr den U m f a n g des rechtfertigenden Notstands, wie er schon für den übergesetzlichen Notstand seit langem anerkannt war, nur begrifflich zutreffender, als es durch die reine Güterabwägungstheorie geschehen ist. Schon in der grundlegenden Notstandsentscheidung RGSt. 61 242 werden, nachdem zunächst das Güterabwägungsprinzip dekretiert wird, in den folgenden Sätzen (S. 254 ff) Einschränkungen vorgenommen oder erwogen (so die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung im einzelnen Fall) u n d grundsätzliche Erfordernisse aufgestellt, die zeigen, daß die Güterabwägungstheorie von Anfang an zu starr und zu eng war, um ein brauchbares Entscheidungsprinzip zu sein (123)

§34

2. Abschnitt. Die Tat

(vgl. Eb. Schmidt ZStW 49 [1929] 377 f)· Auch die spätere Judikatur hat in problematischen Fällen nie das Wertverhältnis der Rechtsgüter allein entscheidend sein lassen (vgl. etwa RGSt.62 137; 77 113, 116; OGHSt. 1 49, 52 [Interessen]; BGHSt. 12 299, 305 [Gesamtlage]; BGH [Z] NJW 1968 2288 [Interessen]; BayObLG NJW 1953 1602; OLG Köln NJW 1953 1844; darauf weist auch BGH NJW 1976 680 hin ; näher Lenckner Notstand S. 53 ff). Die neue Vorschrift umschreibt die begrifflichen Merkmale daher in Anlehnung an die gesicherten Ergebnisse der Rspr. zum bisherigen übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand und unter Berücksichtigung der in der Wissenschaft entwickelten Grundsätze (E 1962 Begr. S. 159). Daß sie in Satz 2 zusätzlich zur Interessenabwägung eine Angemessenheitsklausel enthält, wird in den Gesetzesmaterialien dahin erläutert, daß damit das Interessenabwägungsprinzip mit dem Prinzip der Wahl des angemessenen Mittels zum richtigen Zweck (Zwecktheorie) überkreuzt werden solle (Prot. V S. 1795; E 1962 Begr. S. 159). Da jedoch ein richtig verstandenes Interessenabwägungsprinzip alle im jeweiligen Fall für und gegen die Zulässigkeit des Eingriffs sprechenden Umstände abwägt, andererseits die Frage, ob die konkrete Notstandshandlung das „angemessene Mittel" zum Schutz des bedrohten Gutes ist, nur durch eine Abwägung eben dieser Umstände beantwortet werden kann, bleiben die Ergebnisse die gleichen (Schröder Eb. Schmidt-Festschr. S. 293; Lenckner aaO S. 123 ff; Sch.-SchröderLenckner2\ Rdn. 52; auch AE Begr. § 15). Die Funktion von Satz 2 besteht deshalb praktisch nur in einer „Kontrollklausel" (näher zu der über Satz 2 geführten Diskussion Rdn. 78 ff). 4

3. Die Unscharfe einiger Voraussetzungen des § 34 birgt die Gefahr extensiver Auslegung der Vorschrift, indem nämlich vermeintlich sozial gebotene Entscheidungen auf Kosten des zu respektierenden Freiheitsraumes des Verletzten und der Autorität der Rechtsordnung getroffen werden (so schon Gallas ZStW 80 [1968] 23 ff)· Dessen sollte sich die Praxis bei der Handhabung der Vorschrift stets bewußt sein und bei der Bejahung besondere Vorsicht walten lassen (zu der übrigens auch die Kontrollklausel des Satzes 2 auffordert). Das um so mehr, als seit der gesetzlichen Vertypung die Häufigkeit der Fälle zuzunehmen scheint, in denen diesem — der Sache nach schon seit Jahrzehnten anerkannten — Rechtfertigungsgrund Bedeutung beigemessen wird.

5

4. Die rechtfertigende Pflichtenkollision fällt nicht unter die Vorschrift, sondern bildet einen selbständigen Rechtfertigungsgrund. Im Unterschied zur früheren Rspr., die vor Inkrafttreten von § 34 die rechtfertigende Pflichtenkollision und den rechtfertigenden Notstand („Gutsnotstand") durch den „Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung" im übergesetzlichen Notstand verbunden hatte (vgl. oben die Entstehungsgeschichte), ist bei der gesetzlichen Vertypung des rechtfertigenden Notstands diese überholte Verquickung, die der sachlichen Verschiedenheit und den diese widerspiegelnden unterschiedlichen Abwägungsmaßstäben nicht Rechnung trug, mit Recht unterblieben (näher zur rechtfertigenden Pflichtenkollision LK10 Vor §32 Rdn. 71 ff). 5. Rechtfertigender Notstand und hoheitliches Handeln Schrifttum Amelung Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates? NJW 1977 833; ders. Nochmals: § 34 als öffentlichrechtliche Eingriffsnorm? NJW 1978 623; Amelung und Schall Zum Einsatz von Polizeispitzeln: Hausfriedensbruch und Notstandsrechtfertigung, Wohnungsgrundrecht und Durchsuchungs(124)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

§34

befugnis - OLG München DVB1. 1973, 221, JuS 1975 565; Blei Probleme des polizeilichen Waffengebrauchs, JZ 1955 625; Bockelmann Notrechtsbefugnisse der Polizei, DreherFestschr. (1979) S. 236; Böckenförde Der verdrängte Ausnahmezustand, NJW 1978 1881; Dahs Wehrhafter Rechtsstaat und freie Verteidigung — ein Widerspruch? ZRP 1977 164; Evers „Unbefugtes" Abhören i. S. §§ 298/353 d StGB und die Rechtmäßigkeit der bisherigen staatlichen Abhörpraxis, ZRP 1970 147; Geilen Anmerkung zu OLG Frankfurt NJW 1975 271, JZ 1975 380; Gössel Über die Rechtmäßigkeit befugnisloser strafprozessualer rechtsgutsbeeinträchtigender Maßnahmen, JuS 1979 162; Grebing Die Grenzen des rechtfertigenden Notstands im Strafrecht, GA 1979 81 ; Kirchhof Notwehr und Nothilfe der Polizeibeamten aus öffentlichrechtlicher Sicht, in: Merten, Aktuelle Probleme des Polizeirechts (1977) S. 67; den. Polizeiliche Eingriffsbefugnisse und private Nothilfe, NJW 1978 969; Klinkhardt Die Selbsthilferechte des Amtsträgers, VerwArch. 55 (1964) 264; Klose Notrecht des Staates aus staatlicher Rechtsnot, ZStW 89 (1977) 61; R. Lange Terrorismus kein Notstandsfall? NJW 1978 784; W. Lange Der neue Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes — Fragwürdiges Schußwaffengebrauchsrecht, MDR 1977 10; de Lazzer und Rohlf Der „Lauschangriff", JZ 1977 207; Lerche Der gezielt tödlich wirkende Schuß nach künftigem einheitlichen Polizeirecht — Zum Verhältnis hoheitlicher Eingriffsbefugnisse zu den allgemeinen Notrechten, v. d. Heydte-Festschr. II (1977) S. 1033; Kinnen Notwehr und Nothilfe als Grundlagen hoheitlicher Gewaltanwendung, MDR 1974 631; Krey Der Fall Peter Lorenz — Probleme des rechtfertigenden Notstandes bei der Auslösung von Geiseln, ZRP 1975 97 ; Krey und W. Meyer Zum Verhalten von Staatsanwaltschaft und Polizei bei Delikten mit Geiselnahme, ZRP 1973 1 ; Ostendorf Die strafrechtliche Rechtmäßigkeit rechtswidrigen hoheitlichen Handelns, JZ 1981 165; Roxin Zur Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Entfernung von Leichenteilen (§ 168 StGB), insbesondere zum rechtfertigenden strafrechtlichen Notstand (§ 34 StGB) — OLG Frankfurt NJW 1975, 271, JuS 1976 505; Schaffstein Die strafrechtlichen Notrechte des Staates, Schröder-Gedächtnisschr. (1978) S. 97; Schmidhäuser Notwehr und Nothilfe des Polizeibeamten aus strafrechtlicher Sicht, in: Merten, Aktuelle Probleme des Polizeirechts (1977) S. 53; Schwabe Die Notrechtsvorbehalte des Polizeirechts, JZ 1974 634; ders. Zur Geltung von Rechtfertigungsgründen des StGB für Hoheitshandeln, NJW 1977 1902; Seelmann Grenzen privater Nothilfe, ZStW 89 (1977) 36; v. Sydow § 34 — kein neues Ermächtigungsgesetz! JuS 1978 222; J. Wilhelm Eingriffsbefugnisse des Staates aufgrund rechtfertigenden Notstands aus strafrechtlicher Sicht, Diss. Köln 1980. Siehe außerdem das Schrifttum LK10 § 32 vor Rdn. 263 sowie in Heise-Riegel Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes 2 (1978) die Angaben zum polizeirechtlichen Schrifttum. a) N a c h h. M . soll § 34 auf hoheitliche E i n g r i f f e in I n d i v i d u a l r e c h t s g ü t e r an- 6 wendbar sein, w o b e i hinsichtlich des U m f a n g s der A n w e n d b a r k e i t u n t e r s c h i e d l i c h e A u f f a s s u n g e n vertreten w e r d e n . Es heißt, er gelte u n e i n g e s c h r ä n k t ( B G H S t . 27 2 6 0 f f ; Gössel J u S 1979 162; G A 1980 154; Lange N J W 1978 784; vgl. a u c h z u m übergesetzlichen r e c h t f e r t i g e n d e n N o t s t a n d O L G M ü n c h e n N J W 1972 2275), soweit ö f f e n t l i c h r e c h t l i c h e S o n d e r r e g e l u n g e n f e h l e n ( B G H S t . 31 304, 307; Blei A T 18 § 4 4 V I I ; Dreher-TröndleW R d n . 2 4 f ; Lackner15 A n m . 3; Otto N J W 1973 668; Roxin J u S 1976 510 ; Sch.-Schröder-Lenckner21 R d n . 7 ; Schwabe J Z 1974 639 ; N J W 19771907 ; Stratenwerthl R d n . 450; Wessels A T 1 3 § 8 II 5; Borchert J A 1982 345), f ü r nicht vorh e r s e h b a r e u n d k o d i f i z i e r b a r e A u s n a h m e s i t u a t i o n e n (Bottke J A 1980 95; 1981 349; Franzheim N J W 1979 2017; Maurach-Zipf6 § 27 I I I 5 b) o d e r b e s c h r ä n k t auf speziell strafrechtliche W i r k u n g e n der R e c h t f e r t i g u n g (Conen Die Polizei 1973 6 5 f f , 72; Götz Polizeirecht 7 S. 175; Günther Strafrechtswidrigkeit [1983] S. 367 ff, 371 f; Kirchhof in : M e r t e n , P r o b l e m e S . 6 9 f , 77 f ; N J W 1978 969, 972; Klose Z S t W 89 [1977] 79; W. Lange M D R 1977 12; Schmidhäuser i n : M e r t e n , P r o b l e m e S. 5 9 f , 62; v. Sydow J u S 1978 224; J. Wilhelm E i n g r i f f s b e f u g n i s s e S. 84, 124). D i e h. M . ist abzulehnen (so mit u n t e r s c h i e d l i c h e r B e g r ü n d u n g : Amelung N J W 1977 833; N J W (125)

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2. Abschnitt. Die Tat

1978 623; Amelung u. Schall JuS 1975 568, 571; Dahs Z R P 1977 168; Evers Z R P 1970 150 [zum übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand]; Grebing GA 1979 83, 105f; Jakobs 13/42; Klinkhardt VerwArch. 55 [1964] 348f; Knoke AöR 94 [1969] 395; de Lazzer u. RohlfJZ 1977 211; Lerche v. d. Heydte-Festschr. II S. 1043; Rudolphi SK2 Vor §331 Rdn. 12; Samson SK4 Rdn. 5 a f ; offengelassen in OLG Frankfurt NJW 1977 2177; siehe auch BVerfGE 33 1, 17). Vielmehr ist bei der Frage der Anwendbarkeit von § 34 auf hoheitliches Handeln zunächst zu differenzieren: Auf staatliches Eingriffshandeln in Individualrechte ist § 34 ohne Ausnahme nicht anwendbar. Dagegen ist eine Rechtfertigung durch § 34 dort unbedenklich, wo es nicht um Eingriffe in die Rechts- oder Freiheitssphäre einzelner geht, sondern ausschließlich staatliche Rechtsgüter oder solche der Allgemeinheit betroffen sind (ebenso Amelung NJW 1977 839; Rudolphi SK2 Vor § 331 Rdn. 12ff, 15). 7

b) Als deliktsrechtliche Positivierung des Notstandsprinzips vermag § 34 hoheitliches Eingriffshandeln entgegen der h. M. nicht zu rechtfertigen, unabhängig davon, ob es einen Straftatbestand erfüllt oder nicht. Die Rechtmäßigkeit hoheitlicher Eingriffe in den Freiheitsbereich des Bürgers beurteilt sich vielmehr abschließend nach den im Verwaltungs-, Verfahrens- und Verfassungsrecht getroffenen Regelungen; die dort aufgestellten öffentlichrechtlichen Eingriffsbefugnisse werden durch § 34 nicht erweitert (vgl. hierzu die Schrifttumsnachw. Rdn. 6). aa) Ausschlaggebende Erwägungen für die Ablehnung der Anwendbarkeit:

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α) Die h. M. vermag bereits aus grundsätzlichen Überlegungen nicht zu überzeugen. Als im Deliktsrecht positivierter Rechtfertigungsgrund erweitert § 34 den Freiheitsbereich des einzelnen Bürgers gegenüber gesetzlichen und damit hoheitlichen Ge- und Verboten in den von der Vorschrift erfaßten Ausnahmefällen. Der freiheitserweiternde Gehalt dieser Regelung wird in sein Gegenteil verkehrt, sobald man sie als auch den Hoheitsträger berechtigende Eingriffsnorm ansieht, die staatliche Befugnisse zu Lasten des einzelnen erweitert (vgl. Böckenförde NJW 1978 1882f; Dahs Z R P 1977 168; v. Sydow JuS 1978 224). Diesem Gesichtspunkt kommt um so größeres Gewicht zu, als § 34 bei einem derartigen Verständnis leicht den Charakter einer Ausnahmeregelung verlöre und in seiner praktischen Handhabung systemwidrig vornehmlich als öffentlichrechtliche Eingriffsermächtigung Bedeutung gewänne. Denn erfahrungsgemäß neigt die Exekutive dazu, den sie positiv zu Eingriffen berechtigenden Normen die — handlungsbestimmende — Kraft einer Regelermächtigung beizumessen und von dieser nach reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten Gebrauch zu machen (vgl. Geilen JZ 1975 382; Amelung NJW 1977 837). Belegt wird dieser Umstand durch wiederholte Versuche von Behörden, sich im Anschluß an anderweitig nicht gedeckte hoheitliche Eingriffe zu deren Rechtfertigung auf § 34 zu berufen (siehe etwa Bericht des Arbeitskreises II der Innenministerkonferenz, StrVert. 1984 350; vgl. außerdem unten Rdn. 17). Die Gefahr einer solchen Vorgehensweise erscheint um so größer, als technokratisches und verfahrensökonomisches Denken heute auf allen Ebenen der Exekutive immer mehr um sich greift. Hält man eine Notstandsbefugnis als ultima ratio für unverzichtbar, so kann sie sich allenfalls aus etwaigen für die Ausübung hoheitlicher Gewalt geltenden übergeordneten Prinzipien des Verfassungsrechts ableiten (Rdn. 17 a. E.). 9 ß) Rechtfertigung hoheitlichen Eingriffshandelns durch § 34 scheidet auch deshalb aus, weil die Vorschrift den an eine öffentlichrechtliche Eingriffsermächtigung zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt (Amelung NJW 1977 835 ff; Evers Z R P 1970 149 f; Kirchhof in: Merten, Probleme S. 73 f; NJW 1978 969f; Klinkhardt VerwArch. 55 [1964] 340f; de Lazzeru. Rohlf1977 21 I f f ; Rudolphi (126)

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SK2 Vor §331 Rdn. 12; Samson SK4 Rdn. 5 a; J. Wilhelm Eingriffsbefugnisse S. 58 ff, 75). Nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sind hoheitliche Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich des Bürgers nur mittels oder aufgrund eines speziellen Gesetzes und nur durch die hierfür zuständigen Organe öffentlicher Gewalt zulässig (vgl. BVerfGE 8 274, 325; 9 137, 147; 13 153, 160 f). Diesen Bestimmtheitsanforderungen des Gesetzesvorbehalts genügt § 34 in zweifacher Hinsicht nicht: Die Vorschrift enthält weder eine gegenständliche Konkretisierung zulässigen Eingriffshandelns, noch läßt sie mangels Kompetenzzuweisung einen durch sie berechtigten Träger derartiger Befugnisse erkennen. Der hiergegen vorgebrachte Einwand Schaff steins (Schröder-Gedächtnisschr. S. 116), daß auch die polizeiliche Generalklausel dem § 34 an Unbestimmtheit nicht nachstehe, entbehrt der Grundlage. Denn einerseits enthält das Polizeirecht sämtlicher Bundesländer über die generelle Aufgabenzuweisung hinausgehend eine substantiierte Regelung von Zuständigkeiten, und andererseits werden gerade die auch dieser Generalklausel gegenüber formulierten verfassungsrechtlichen Bedenken eben nur mit dem Hinweis auf die seit über 100 Jahren durch Rspr. und Literatur erfolgte Konkretisierung der polizeilichen Generalklausel ausgeräumt (vgl. OVG Lüneburg 11 292, 294; 11 360, 362; Maunz-Dürig-Herzog-Scholz GG Art. 2 Abs. 1 Rdn. 81; Drews-Wacke-Vogel-Martens Gefahrenabwehr8 § 9 3b α; Wacke DÖV 1955 457). Eine solche Konkretisierung als hoheitliche Eingriffsermächtigung haben § 34 wie auch der frühere übergesetzliche rechtfertigende Notstand nicht erfahren. Vielmehr hätte das Fehlen jeglicher gegenständlichen Begrenzung und sämtlicher Zuständigkeitsregelungen in § 34 zur Folge, daß bei Bejahung seiner Anwendbarkeit auf hoheitliche Eingriffe — damit seiner grundsätzlichen Anerkennung als öffentlichrechtlicher Eingriffsermächtigung — aus der deliktsrechtlichen Notstandsregelung eine öffentlichrechtliche „Supernorm" (Samson SK4 Rdn. 3 a) erwüchse, eine „perfekte, in sich offene Generalermächtigung" (Böckenförde NJW 1978 1883), der gegenüber jede gesetzliche Ausformung und Begrenzung staatlicher Gewaltausübung relativiert und vorläufig wäre (vgl. Amelung aaO 837 f; Jakobs 13/42 Fußn. 81; v. Sydow JuS 1978 223). Diese Konsequenz ist rechtsstaatlich untragbar. Auch wäre dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nicht Genüge getan (vgl. Rdn. 10). Zur Problematik der Gesetzgebungskompetenz des Bundes in diesem Bereich siehe Rdn. 11. γ) Die Deutung des § 34 als auch hoheitliche Eingriffsbefugnis widerspricht im 10 übrigen sowohl dem in der Gesetzesfassung objektivierten Willen des Gesetzgebers als auch dessen im Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck gelangten Intentionen. In objektiver Hinsicht ergibt sich dies daraus, daß § 34 auch formell nicht den an eine Eingriffsermächtigung zu stellenden Anforderungen genügt, da der Gesetzgeber darauf verzichtet hat, dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S.2 GG zu entsprechen, das für nachkonstitutionelles Recht — und um solches handelt es sich in § 34 — Geltung beansprucht. Was die Gesetzesberatungen angeht, ist dort der Gedanke, mit der Positivierung des rechtfertigenden Notstands eine auch den Hoheitsträger berechtigende Eingriffsermächtigung zu schaffen, zu keinem Zeitpunkt für diskussionswürdig erachtet worden. Angesichts der detaillierten Kommissionserörterungen und der erwähnten weitreichenden Konsequenzen eines solchen Verständnisses des § 34 für die gesamte Rechtsordnung bildet das einen Beleg für den entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers. Deutlicher noch gelangt dieser in einer den Beratungen des E 1962 zugrunde liegenden Vorlage des BMJ zum Ausdruck, in der klargestellt wird, daß Art. 2 MRK für die Neufassung der Bestimmungen über Notwehr (127)

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2. Abschnitt. Die Tat

und Notstand deshalb ohne Bedeutung sei, weil diese hoheitliche Eingriffe nicht beträfen (Niederschriften 2 Anhang Nr. 26 S. 81). Auch wurde im Sonderausschuß auf die von § 34 ausgehende lediglich mittelbare Grundrechtseinschränkung hingewiesen (Horstkotte Prot. V S. 1642 f, 1741, 1793 [Fallaufzählung], weniger deutlich S. 2110). 11

δ) Dem Bundesgesetzgeber fehlt außerdem die sachliche Kompetenz zur Eröffnung und Regelung verwaltungsrechtlicher Eingriffsbefugnisse, soweit sich diese nicht auf die bundeseigene Verwaltung beschränken (vgl. Lerche v. d. HeydteFestschr. II S. 1040 f; Klinkhardt VerwArch. 55 [1964] 328 ff). Denn hierbei handelt es sich um die inhaltliche Gestaltung der Verwaltungstätigkeit der Länder mit Wirkung gegenüber dem Bürger, für welche die Länder nach Art. 70 ff G G die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz haben. Eine solche Kompetenz kommt dem Bundesgesetzgeber auch nicht etwa deshalb zu, weil er befugt wäre, diese Fragen unter dem Gesichtspunkt eines mit dem Straf- oder Zivilrecht bestehenden Sachzusammenhangs mit zu entscheiden. Die straf- oder zivilrechtliche Regelung von Ausnahmebefugnissen des Bürgers betrifft eine sich von der Begründung und Gestaltung hoheitlicher Befugnisse gegenüber dem Bürger grundsätzlich unterscheidende Materie, die weder einen unauflösbaren Sachzusammenhang, noch zwangsläufige Überschneidungen aufweist (näher Rdn. 8; vgl. außerdem Blei JZ 1955 630; Klinkhardt VerwArch. 55 [1964] 328 ff). Wie Lerche aaO Fußn. 16 überzeugend ausführt, würde es zu unerträglichen Unsicherheiten und Kollisionen führen, wenn sowohl der Bund als auch gleichzeitig die Länder zur Regelung der Fälle hoheitlicher Eingriffstätigkeit in Notstands- oder Notwehrsituationen zuständig wären. Daß die Rechtfertigungsgründe nicht notwendig auch unter ihren Voraussetzungen begangenes hoheitliches Handeln erfassen, wird erst recht von denjenigen Autoren übersehen, die so weit gehen, dem Landesgesetzgeber wegen vermeintlicher Bundeskompetenz die Regelungsbefugnis hoheitlicher Eingriffstätigkeit zu versagen, soweit diese von den Voraussetzungen zivil- oder strafgesetzlich geregelter Rechtfertigungsgründe erfaßt wird (so aber Bockelmann Dreher-Festschr. S. 241 ; Sch.Schröder-Lenckner2l §32 Rdn. 42 a; Spendei LK10 §32 Rdn. 278; früher auch Hirsch LK9 Vor § 51 Rdn. 144; krit. Seelmann ZStW 89 [1977] 51). Von den Vertretern dieser Ansicht werden die bei der rechtlichen Charakterisierung solcher Eingriffe zu setzenden Schwerpunkte verkehrt: Sie sind in ihrer Grundlage weder zivil- noch strafrechtlicher Natur und damit Gegenstand der Gesetzgebung des Bundes, sondern erfolgen als öffentlichrechtliche Hoheitstätigkeit der Länder.

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ε) Der hier vertretenen Auffassung der Unanwendbarkeit des §34 auf hoheitliches Eingriffshandeln steht nicht entgegen, daß die Straftatbestände, besonders die der Amtsdelikte, hoheitliches Handeln miterfassen. Die von den Vertretern der Gegenansicht vielfach gezogene Schlußfolgerung, daß, da die „Strafrechtsverbote" sich auch auf den hoheitlich tätigen Amtsträger bezögen, gleiches für die im selben Gesetz geregelten „verbotsdurchbrechenden" Erlaubnissätze gelten müsse ( S c h a f f stein Schröder-Gedächtnisschr. S. 107f; Sch.-Schrôder-Lenckner21 §32 Rdn. 42a; Schwabe JZ 1974 635; NJW 1977 1903), ist vordergründig und überzeugt nicht (vgl. auch Lerche v. d. Heydte-Festschr. II S. 1045 f; Ostendorf JZ 1981 169 ff). Denn was der Hoheitsträger darf oder nicht darf, bestimmt sich ausschließlich nach außerstrafrechtlichen, nämlich öffentlichrechtlichen Regeln. Das Strafrecht konstituiert diese Verbote nicht, es verknüpft sie lediglich für gewichtigere Verstöße mit den besonderen strafrechtlichen Sanktionen. So ist nicht bereits jedes straftatbestandlich nicht erfaßte Verhalten des Amtsträgers rechtmäßig, und andererseits unterliegt (128)

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auch die Rechtfertigung straftatbestandswidrigen Verhaltens des Amtsträgers — der Natur des Verhältnisses von Staatsgewalt und Bürger entsprechend — teils weiteren, teils strengeren Voraussetzungen als den in § 34 aufgestellten. Eine Eingriffsbefugnis kann dem Amtsträger deshalb in Situationen verwehrt sein, in denen Private ausnahmsweise ein Faustrecht in Anspruch nehmen können. Während das durch Private entgegen § 201 begangene Abhören Dritter zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegebenenfalls gerechtfertigt ist, stehen bei hoheitlichem Handeln derartige Notbefugnisse für diesen Fall nicht zur Verfügung (vgl. den Sachverhalt in BVerfGE 34 238; siehe auch Rdn. 68). Die an die Rechtmäßigkeit staatlicher Gewaltausübung zu stellenden strengeren Anforderungen machen überdies deutlich, daß die Behauptung, der Amtsträger dürfe hinsichtlich der Notrechte der §§ 32, 34 nicht schlechter gestellt werden als jeder andere, in dieser Allgemeinheit eben nicht gilt (näher Rdn. 19; anders aber Bockelmann Dreher-Festschr. S. 240, 242 ff; Gössel JuS 1979 165; früher auch Hirsch LK9 Vor § 51 Rdn. 144). Daß sich der hoheitlich Handelnde nicht zur Rechtfertigung tatbestandsmäßigen Verhaltens auf die allgemeinen deliktsrechtlichen Rechtfertigungsgründe berufen kann, ist im übrigen für das Institut der rechtfertigenden Einwilligung bei den Amtsdelikten ganz überwiegend anerkannt (näher hierzu LK10 Vor § 32 Rdn. 114).

bb) Kritik an den verschiedenen Gegenmeinungen α) Nach der den Anwendungsbereich des § 34 am weitesten ausdehnenden Ge- 13 genmeinung soll die Vorschrift unbeschränkt anwendbar sein, sofern die entsprechenden Eingriffsbefugnisse nicht bereits durch spezielle öffentlichrechtliche Bestimmungen gewährt werden. Unter den Voraussetzungen des § 34 sei daher auch eine Verletzung entgegenstehender, hoheitliche Eingriffsbefugnisse beschränkender Vorschriften rechtmäßig (BGHSt. 27 260ff; Gössel JuS 1979 162; GA 1980 154; Lange NJW 1978 784 ff; vgl. auch zum übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand OLG München NJW 1972 2275 f; Blei JZ 1955 629 [siehe aber jetzt einschränkend AT18 §44 VII]; zur benachbarten Nothilfeproblematik Bockelmann DreherFestschr. S. 235 ff). Der BGH stützt sich im wesentlichen auf eine allgemeine Geltung des in § 34 positivierten Notstandsprinzips, dem Wirksamkeit für die gesamte Rechtsordnung zukomme (BGHSt. 27 260, 262 ff). Man beruft sich außerdem auf die besonderen Gefahren des Rauschgifthandels (OLG München aaO) oder Terrorismus (BGHSt. 27 260, 263 ff) und das daraus erwachsende Erfordernis eines starken Staates (Lange aaO S. 786) sowie auf den Umstand, daß die Eingriffsvoraussetzungen des § 34 bereits eine restriktive Ausformung des im öffentlichen Recht geltenden Verhältnismäßigkeitssatzes enthielten (Blei aaO; Lange aaO 784f; krit. dazu Jakobs 13/42 Fußn. 81). Gegen diese Auffassung ist vor allem einzuwenden, daß sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, insbesondere dem Gesetzesvorbehalt, nicht in Einklang zu bringen ist (näher Rdn. 9 ff). Ungeachtet solcher Bedenken stünde die Berufung auf § 34 im Widerspruch zum Grundsatz der Spezialität, da die vom Gesetzgeber für hoheitliche Eingriffe aufgestellten speziellen Regelungen dann zugunsten einer Generalklausel außer Kraft gesetzt werden könnten (zutr. insofern Schwabe NJW 1977 1907; vgl. auch Jescheck AT3 § 33 IV 3d). Ein solches Verständnis hätte die Relativierung aller derjenigen Regelungen des öffentlichen Rechts zum Ergebnis, die staatliche Gewaltausübung ausdrücklich begrenzen und an besondere Voraussetzungen binden. Diese Vorschriften würden dann nämlich letztendlich immer unter dem Vorbehalt einer Interessenabwägung und eines sich hierbei ergebenden Vorrangs abweichender wesentlich überwiegender Interessen (129)

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2. Abschnitt. Die Tat

stehen. Eine solche — rechtsstaatlich gefährliche — Konsequenz gelangt anschaulich in der Argumentation von BGHSt. 27 260, 262 f zum Ausdruck, daß es nämlich, wenn § 34 zur Erhaltung wesentlich überwiegender Interessen schon die Erfüllung von Straftatbeständen rechtfertige, auf der Hand liege, daß es nach dieser Vorschrift um so eher möglich sein müsse, Handlungen zu begehen, die nur durch Verfahrensvorschriften geschützte Interessen verletzen, aber nicht einmal ein Strafgesetz berühren. In dieselbe Richtung weist die in BGHSt. (GS) 32 115, 118 (V-MannBeschluß) zitierte Stellungnahme des Generalbundesanwalts, derzufolge das in § 34 zum Ausdruck gelangte Güterabwägungsprinzip gegebenenfalls auch eine Einschränkung von Beschuldigtenrechten und damit grundsätzlich die Möglichkeit einer Verletzung von Verfahrensvorschriften und -garantien erfordere. Auf der Grundlage solcher Argumentationsweise ließe sich aber letzten Endes bei entsprechender Sachlage eine „nur" § 136 a StPO verletzende Vernehmungsmethode ebenso rechtfertigen wie die gegen §§ 136 a StPO, 343 verstoßende Folter, oder — in Abwandlung eines Beispiels von Krey u. W. Meyer Z R P 1973 2 — die überzeugungswidrige Verurteilung eines Angeklagten durch den Richter zur Verhinderung eines andernfalls drohenden Aufruhrs. Die hier kritisierte Auffassung läßt sich auch mit der Behauptung einer allgemeinen Geltung des in § 34 enthaltenen Notstandsprinzips nicht schlüssig begründen, denn die Eingriffsermächtigungen des öffentlichen Rechts enthalten ihrerseits eine spezielle und umfassende gesetzliche Ausgestaltung des Gedankens des Güternotstands. Sollten Extremsituationen tatsächlich einmal ein von sonstigen Befugnissen nicht gedecktes Notstandshandeln des Staates erfordern, so wäre dies allenfalls unter besonderen öffentlichrechtlichen, namentlich verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu rechtfertigen, nicht jedoch anhand im Strafrecht positivierter allgemeiner Rechtfertigungsgründe. 14

ß) Abzulehnen ist ebenfalls eine einschränkende Richtung der Gegenmeinung, die den Rückgriff auf § 34 wenigstens überall dort als versperrt ansieht, wo ein bestimmter Interessenkonflikt durch öffentlichrechtliche Sondervorschriften abschließend geregelt ist (BGHSt. 31304,307; Blei AT 18 §44 VII; Dreher-Tröndle 41 R d n . 2 4 f ; Lackner Anm. 3; Otto NJW 1973 668; Roxiη JuS 1976 510; Schaff stein SchröderGedächtnisschr. 114ff; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 7; Schwabe NJW 1977 1907; Stratenwerthl Rdn. 450; Wessels AT 13 § 8 II 5). Von Roxin (aaO) wird die einschränkende Auffassung fallgruppenmethodisch begründet, indem er den durchnormierten Bereichen die Fallgruppen noch nicht normierter, aber normierbarer sowie die nicht vorhersehbarer und infolgedessen auch nicht normierbarer Eingriffssituationen gegenüberstellt und einen Rückgriff auf § 34 nur für den ersten, abschließend erfaßten Bereich nicht zuläßt. Andere Autoren betrachten in diesen Fällen bereits die Anwendbarkeit der Vorschrift als ausgeschlossen (etwa Schwabe aaO; Wessels aaO), die Interessenabwägung als gesetzlich vorweggenommen (Sch.-SchröderLenckner2\ aaO) oder aber die Angemessenheit nach § 34 S. 2 als nicht gegeben (vgl. hierzu Jescheck AT3 § 33 IV 3d Fußn. 37). Diese Richtung berücksichtigt zwar die Gesichtspunkte der Spezialität, sie steht jedoch gleichfalls in Widerspruch zu den Grundsätzen, die es überhaupt ausschließen, in § 34 eine öffentlichrechtliche Ermächtigungsnorm zu sehen (Rdn. 8 ff). Auch aus Gründen der Klarheit und Rechtssicherheit erheben sich ihr gegenüber Bedenken. In der praktischen Anwendung ist nämlich dort, wo gesetzliche Bestimmungen nicht ausdrücklich ein Eingriffsverbot konstitutieren, regelmäßig umstritten, ob und in welchem Umfang der entsprechende Regelungsbereich durch vorhandene Vorschriften abschließend erfaßt wird (vgl. Blei, Dreher-Tröndle, Sch.-Schröder-Lenckner, Stratenwerth, sämtlich (130)

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aaO). Dies gilt selbst für den seinem Wortlaut nach eindeutigen § 148 StPO und dessen Sperrwirkung hinsichtlich der Anordnung von Kontaktsperre (vor Geltung der §§ 31 ff EGGVG) oder des heimlichen Abhörens von Verteidigergesprächen (Fall Stammheim, siehe Rdn. 17). Im Hinblick auf die angesichts dieser Fälle bei einzelnen Autoren deutlich gewordene Tendenz, den Geltungsbereich abschließender Regelungen zugunsten einer Ausweitung zusätzlicher Eingriffsbefugnisse einzuschränken (vgl. bezüglich § 148 StPO etwa Blei und Dreher-Tröndle aaO), birgt diese Auffassung noch subtilere Gefahren als die den Anwendungsbereich des § 34 überhaupt nicht durch Sonderregelungen beschränkende Ansicht (Rdn. 13). Denn sie erweckt den Anschein, als seien Normwidrigkeiten nicht vorhanden und damit der Bereich des rechtlich Außergewöhnlichen noch gar nicht erreicht, während die von vornherein weitere Auffassung wenigstens ausdrücklich die Verletzung entgegenstehender Vorschriften einräumt (siehe BGHSt. 27 260ff). Im übrigen führt das bloße Anknüpfen an die sperrende Wirkung vorhandener öffentlichrechtlicher Sonderregelungen zu unsachgemäßen Ergebnissen. Es hätte nämlich zur Folge, daß Eingriffsbefugnisse geringerer Intensität, weil sie positiv geregelt sind, strengeren sachlichen Voraussetzungen und formalen Erfordernissen unterliegen als Eingriffe gravierenderen Gehalts, die nicht ausdrücklich normiert sind. So kann es nicht richtig sein, daß zwar dem Eingriff in das Fernmeldegeheimnis durch das Gesetz zu Art. 10 GG vom 13. 8. 1968 (BGBl. I S. 949) sowie die §§ 100a f StPO enge Grenzen gezogen sind (siehe zum Gesetz zu Art. 10 auch BVerfGE 30 1 [und das noch strengere Minderheitsvotum S. 33 ff]), zugleich aber der — Grundrechte wesentlich empfindlicher beeinträchtigende — heimliche Lauschangriff auf die Privatsphäre von diesen rechtlichen Sicherungen unberührt bleiben und allein unter den — zudem noch in der praktischen Handhabung dehnbaren — Voraussetzungen des § 34 zulässig sein sollte (so aber Sch.-Schröder-Lenckner aaO; wie hier dagegen Amelung u. Schall JuS 1975 571). Wenig Rechtssicherheit verspricht auch die von einzelnen Autoren angedeutete analoge Heranziehung der für vergleichbare Situationen erlassenen Verfahrensvorschriften (so Roxin aaO 511; G. Weber DÖV 1970 416). Schwierigkeiten bereitet bereits die Feststellung der Vergleichbarkeit verschiedener Rechtsgutsbeeinträchtigungen. Vor allem aber erfolgt die Klärung, welche Vorschriften im Einzelfall entsprechend zu beachten gewesen wären, zuverlässig immer erst im Anschluß an den Eingriff, so daß sie keine Schutzfunktion entfalten können. Da die rechtliche Festlegung hoheitlicher Eingriffsbefugnisse Aufgabe des Gesetzgebers, nicht aber der handelnden Behörde oder des später mit der Sache befaßten Richters ist, hat entgegen Sch.-Schröder-Lenckner aaO und Roxin aaO eine Berufung auf § 34 zur Rechtfertigung staatlicher Eingriffe nicht nur bei Vorhandensein abschließender Sonderregelungen, sondern gerade auch in solchen Fällen auszuscheiden, die der Möglichkeit einer typisierten gesetzlichen Regelung offenstehen. Überließe man der Exekutive für diese Fälle mit § 34 ein Handlungsinstrument, bei dessen Anwendung sie Voraussetzungen und Umfang ihres Eingriffshandelns kraft eigener Definitionsmacht praktisch selbst bestimmen könnte, so würde dies zu einem regelmäßigen Rückgriff auf die Vorschrift ermuntern und in gefährlicher Weise die schon vorhandene Tendenz des Gesetzgebers verstärken, sich ihm obliegender Konfliktentscheidungen aus politischer Opportunität und zugunsten einer Erweiterung der Machtbefugnisse der Verwaltung zu enthalten. Das rechtsstaatliche Erfordernis gesetzlicher Vertypung wird auch durch den Umstand unterstrichen, daß die unter Berufung auf rechtfertigenden Notstand erfolgten Rechtfertigungsversuche hoheitlicher Eingriffspraxis vielfach weitaus weniger strengen Anforderungen unterlegen haben, als der Gesetzgeber sie später dann bei der Schaffung der entsprechenden (131)

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2. Abschnitt. Die Tat

Ermächtigungsnorm aufgestellt hat (dazu Amelung N J W 1977 836 unter Hinweis auf O L G München N J W 1972 2275 und die spätere engere gesetzliche Regelung). 15

γ) Die engste Richtung innerhalb der die Anwendbarkeit des § 3 4 bejahenden Auffassung will eine auf diese Vorschrift gestützte Rechtfertigungsmöglichkeit hoheitlichen Eingriffshandelns auf besondere Ausnahmesituationen sowie solche Fälle beschränken, die nicht typisierbar und damit nicht kodifizierbar seien ( M a u rach-Zipfb § 27 III 5 b ; Bottke JA 1980 95; 1981 349; Franzheim N J W 1979 2017). Diesen Autoren ist zwar in ihrer restriktiven Tendenz beizupflichten. Jedoch wird von ihnen übersehen, daß sich die Rechtmäßigkeit hoheitlicher Tätigkeit auch in solchen außergewöhnlichen Situationen nicht nach den im Deliktsrecht positivierten, sondern allenfalls nach besonderen für die Ausübung öffentlicher Gewalt geltenden übergeordneten verfassungsrechtlichen Prinzipien beurteilen läßt (vgl. Rdn. 17 a. E.). Zudem fehlt es an sachlichen G r ü n d e n für eine Durchbrechung der Anwendungssperre in diesen Fällen und vor allem an brauchbaren Kriterien einer Abgrenzung. Eine Beschränkung auf unkodifizierbare Situationen und Ausnahmefälle wäre mangels solcher Kriterien praktisch nicht durchführbar. Der § 34 würde d a n n vielmehr schnell dort zu Legitimationszwecken herangezogen werden, wo auf Seiten der Verwaltung ein konkretes Anwendungsbedürfnis entsteht. Die Unterschiede zu der vorstehend kritisierten Auffassung (Rdn. 14) sind daher vornehmlich terminologischer Natur und ohne praktisches Gewicht. Dies zeigt sich auch an dem Umstand, daß in Situationen, in denen eine Berufung auf § 34 mit der Begründung erfolgt, es handele sich um nicht vorhersehbare Ausnahmesituationen, tatsächlich vielfach Fallgestaltungen vorliegen, die einer gesetzlichen Regelung durchaus zugänglich wären und nicht zuletzt durch ihre Bezeichnung (Lauschangriff etc.) auch bereits eine gewisse Typisierung erfahren haben (hierauf weisen de Lazzer u. Rohlf J Z 1977 212 Fußn. 79 zutreffend hin). Im übrigen besteht auch kein praktisches Bedürfnis, die Möglichkeit einer Rechtfertigung hoheitlichen Eingriffshandelns durch § 34 f ü r besondere Fallgestaltungen offenzuhalten (hierzu näher Rdn. 17).

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δ) Ebenfalls abzulehnen ist die im Schrifttum vertretene Ansicht, die den von den im vorhergehenden kritisierten Auffassungen (Rdn. 13 ff) ausgehenden rechtsstaatlichen Gefahren durch eine Aufspaltung des Rechtswidrigkeitsurteils zu begegnen versucht. Danach sollen die strafrechtlich geregelten Rechtfertigungsgründe (§§ 32, 34) zwar hoheitliche Eingriffe erfassen können, jedoch in ihren Wirkungen auf die strafrechtlichen Rechtsfolgen beschränkt sein, so daß die Beurteilung der Rechtmäßigkeit f ü r das öffentliche Recht hiervon unberührt bleibe ( M E PolG amtl. Begr. in: Heise-Riegel Musterentwurf 2 S. 22, 111; Böckenförde N J W 1978 1883; Conen Die Polizei 1973 65ff, 72; Götz Polizeirecht7 S. 175; Günther Strafrechtswidrigkeit [1983] S. 367 ff, 371 f; Kirchhof in: Merten, Probleme S . 6 9 f , 77 f; N J W 1978 969, 972; Klose ZStW 89 [1977] 79; Kratzsch N J W 1974 1546f; W. Lange M D R 1977 12; Schmidhäuser in: Merten, Probleme S. 59f, 62; v. Sydow JuS 1978 224; J. Wilhelm Eingriffsbefugnisse S. 84, 124). Daraus wird als praktische Folgerung abgeleitet, daß der Amtsträger, dessen Eingriff nicht durch eine öffentlichrechtliche Eingriffsbefugnis gedeckt ist, aber unter den Voraussetzungen des § 34 erfolgt, keiner strafrechtlichen, wegen öffentlichrechtlicher Unrechtmäßigkeit im „Innenverhältnis" jedoch einer disziplinarrechtlichen Sanktion unterliege (so M E PolG amtl. Begr., Kirchhof, W. Lange, Schmidhäuser, sämtlich a a O ; widersprüchlich Spendel LK10 § 32 Rdn. 278ff); oder es heißt, daß der Amtsträger zwar als handelnde Person gerechtfertigt sei, diese Rechtfertigung aber nicht auf die Bewertung der staatlichen Seite des Vorgehens durchschlage (Gintzel Die Polizei 1972 3 ff; v. Sydow (132)

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aaO). Eine solche Aufspaltung in eine strafrechtliche und eine (sonstige) öffentlichrechtliche Rechtswidrigkeit verbietet sich indes bereits deshalb, weil die Frage, ob ein Amtsträger eine bestimmte Eingriffshandlung vornehmen darf, sich nur für die gesamte Rechtsordnung einheitlich und daher im öffentlichen Recht nicht anders als im Strafrecht beantworten läßt. Die Rechtsordnung kann dem Amtsträger nicht zwei sich widersprechende Verhaltensanweisungen erteilen. Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gilt auch für das gesamte öffentliche Recht (siehe zur Unteilbarkeit des Rechtswidrigkeitsurteils im einzelnen LK10 Vor § 32 Rdn. 10 ff; wie hier Klinkhardt VerwArch. 55 [1964] 306 ff; Lerche v. d. Heydte-Festschr. II S. 1037, 1045; Ostendorf JZ 1981 170; ferner R. Lange JZ 1976 547; Schaffstein SchröderGedächtnisschr. S. 108f; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 7, § 32 Rdn. 42a; Schwabe JZ 1974 636 Fußn. 34; NJW 1977 1904 ff; Spendei LK10 § 32 Rdn. 273 ff [im Widerspruch dazu aber Rdn. 278 ff|). Unzutreffend ist auch der Gedanke, der Rechtmäßigkeitsbegriff werde im Strafrecht in der Weise reduziert, daß die dort geregelten Rechtfertigungsgründe allein auf die Strafrechtsfolgen hin orientiert seien und deshalb nur die Bedeutung hätten, bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen eine Straftat zu verneinen (so aber Günther aaO S. 247 f, 257 ff; Kirchhofen: Merten, Probleme S. 70; NJW 1978 972; Klose aaO; Schmidhäuser aaO). Eine solche Vorstellung wird dem unterschiedlichen Gehalt der einzelnen Deliktsstufen nicht gerecht, da sie die Funktion von Rechtfertigung, Entschuldigung und schlichtem Strafausschluß nivelliert. Die Rechtfertigung eines Verhaltens spricht dessen (ausnahmsweises) Erlaubtsein aus und bewirkt damit auf der anderen Seite eine Duldungspflicht des Betroffenen, die ebenfalls unabhängig davon Gültigkeit hat, welchem Gebiet der Rechtsordnung sie zuzuordnen ist (näher hierzu LK 10 Vor § 32 Rdn. 64 f). So wäre im Fall Traube (Rdn. 17) eine entscheidende Frage die gewesen, ob der Belauschte den Angriff dulden mußte oder ob er die „Wanze" seinerseits gerechtfertigt wieder hätte entfernen oder funktionsunfähig machen dürfen. Der ohne öffentlichrechtliche Eingriffsbefugnis handelnde Amtsträger kann daher nicht gleichzeitig öffentlichrechtliches Unrecht und strafrechtliches Nicht-Unrecht begangen haben. Durch die mit der Aufspaltung der Rechtswidrigkeit verbundene Anwendbarkeit des § 34 bezüglich der strafrechtlichen Seite hoheitlichen Eingriffshandelns wird im übrigen der von der Rechtsordnung gewollte Schutz des Bürgers gegenüber Rechtsgutsverletzungen von Hoheitsträgern verkürzt. Wenn ein Amtsträger entgegen seinen Amtsbefugnissen in ein straftatbestandlich geschütztes Rechtsgut eingreift, kann dies nicht strafrechtlich gleichgültig sein. Die Grenzen der Eingriffsbefugnis, die hier zudem noch auf verfassungsrechtlichen Garantien beruhen, sollen doch gerade dem Schutz des Bürgers gegen rechtsstaatlich nicht gedeckte hoheitliche Eingriffe dienen. Die Verkürzung des Schutzes wird noch besonders deutlich, sobald man berücksichtigt, daß sich aus der Bejahung eines Rechtfertigungsgrundes die Rechtswirkung einer Duldungspflicht für den Betroffenen ergibt. Es ist widersprüchlich, wenn einerseits anerkannt wird, daß der betreffende Eingriff mit Rücksicht auf jene rechtsstaatlichen Garantien unzulässig ist, andererseits aber damit, daß man § 34 gleichwohl für das Deliktsrecht als erfüllt betrachtet, dem Bürger eine Duldungspflicht auferlegt. Es geht hier eben nicht lediglich um das „Innenverhältnis" zwischen Amtsträger und Staat, sondern gerade um das Außenverhältnis beider zum Betroffenen. Jene Konstruktion verkürzt den verfassungsrechtlichen Schutz des einzelnen, indem sie durch jene Aufspaltung einen verfassungsrechtlich untersagten tatbestandsmäßigen Eingriff aus den strafrechtlichen Rechtsfolgen herausnimmt und auf einen bloßen Reflex theoretisch möglicher disziplinarrechtlicher Sanktionen beschränkt. Diejenigen Autoren, die dem handelnden Amtsträger zwar eine (133)

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2. Abschnitt. Die Tat

Rechtfertigungsmöglichkeit durch § 34 zubilligen, jedoch argumentieren, daß diese nicht auf den Staat durchschlage, verkennen schließlich, daß der Staat gar nicht anders als durch seine Organe handeln kann und sich deshalb die Annahme rechtswidriger staatlicher Eingriffstätigkeit nicht von der Unrechtsverwirklichung durch den Amtsträger trennen läßt (zur Kritik vgl. Klinkhardt aaO ; auch Gössel JuS 1979 165). Es handelt sich bei der im vorhergehenden abgelehnten Konstruktion um einen in sich widersprüchlichen Kunstgriff, mit dem lediglich formal eine — strafrechtlich folgenlose — Etikettierung der fraglichen hoheitlichen Eingriffe als rechtswidrig vorgenommen wird. 17

cc) Es besteht auch kein praktisches Bedürfnis, die Möglichkeit einer auf § 34 gestützten Rechtfertigung für hoheitliches Eingriffshandeln offenzuhalten, da das öffentliche Recht bereits ein ausreichendes und umfassendes Instrumentarium weitreichender Ermächtigungen zur Bewältigung von Konflikt- und Notstandssituationen zur Verfügung stellt und mit Hilfe der polizeilichen Generalklausel ein situationsangepaßtes Reagieren der Behörden ermöglicht (vgl. Kirchhof NJW 1978 971 f)· B e i den bisher von Exekutive, Rspr. und überwiegendem Schrifttum unter Berufung auf § 34 für gerechtfertigt erklärten Einzelfällen hoheitlichen Eingreifens handelt es sich zum Teil um solche, die sachgemäß in Anwendung vorhandener öffentlichrechtlicher Ermächtigungsnormen zu lösen gewesen wären. Das gilt für bestimmte Formen des polizeilichen Schußwaffengebrauchs (vgl. Blei JZ 1955 631; Κrey u. W. Meyer Z R P 1973 3 ff) ebenso wie für spezielle Fälle des Eingriffs in den durch Art. 13 G G geschützten Bereich zur Abwehr erheblicher Gefahren (für die Art. 13 Abs. 3, 1. Alt. G G eine vielfach übersehene verfassungsunmittelbare Eingriffsermächtigung ausspricht; vgl. de Lazzer u. Rohlf JZ 1977 208; Grebing GA 1979 104). Zum anderen handelt es sich um Eingriffe, die richtigerweise auch bei Annahme der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 34 nicht zu rechtfertigen gewesen wären, da dessen sonstige Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Hierzu zählen der vom OLG München NJW 1972 2275 unter Umgehung entgegenstehender strafprozessualer Vorschriften durch Rückgriff auf rechtfertigenden Notstand entschiedene Fall des Hausfriedensbruchs durch V-Personen der Polizei (Amelung NJW 1977 836; Amelung u. Schall JuS 1975 565; Grebing aaO 99; Jescheck AT3 § 33 IV 3 d ; Otto NJW 1973 668; Roxin JuS 1976 509 Fußn. 38; krit. ferner Sch.-SchröderLenckner2\ Rdn. 7) und auch die sog. Leichenblutentnahmefälle (Amelung aaO 837; Geilen JZ 1975 382ff; Grebing aaO 95 ff; Jescheck aaO; Maurach-Zipf6 § 27 III 5; anders OLG Frankfurt NJW 1975 271 [übergesetzlicher rechtfertigender Notstand]; Blei JA 1975 241, 522; Roxin JuS 1976 510f; offengelassen in OLG Frankfurt NJW 1977 859). Weiterhin ist die unter Berufung auf § 34 erfolgte heimliche Überwachung von Verteidigergesprächen (Fall Stammheim) oder der Privaträume einzelner Bürger (Fall Traube) zu nennen (krit. zu diesen „Lauschangriffen" ebenfalls Dahs Z R P 1977 168f; Grebing aaO 102; Jakobs 13/42; Jescheck aaO; de Lazzer u. Rohlf aaO 207; Rudolphi SK2 Vor §331 Rdn. 12; offengelassen bei Sch.Schröder-Lenckner aaO). Fraglich ist auch, ob die sonstigen Voraussetzungen des § 34, insbesondere das Merkmal der Nicht-anders-Abwendbarkeit (Erforderlichkeit), bei der entgegen § 148 StPO und vor Einführung der §§ 31 ff EGGVG erfolgten totalen Kontaktsperre terrorismusverdächtiger Inhaftierter vorlagen (bejahend BGHSt. 27 260; Lange NJW 1978 784f; verneinend OLG Frankfurt NJW 1977 2177; Amelung NJW 1978 623; Jakobs aaO Fußn. 81; offengelassen von Jescheck aaO und Sch.-Schröder-Lenckner aaO; nicht einschlägig hingegen BVerfGE 46 1 [Rechtslage nach Inkrafttreten der §§ 31 ff EGGVG]). Gerade der letztgenannte Fall (134)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

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zeigt auch, daß der Gesetzgeber dort, wo er ein dringendes Eingriffsbedürfnis als gegeben ansieht, in der Lage ist, innerhalb kürzester Zeit gesetzlich zu reagieren. — Ein praktisches Bedürfnis für die Heranziehung des § 34 bei hoheitlichen Eingriffen läßt sich auch nicht mit dem unvorhergesehenen Eintreten besonderer Gefahrenlagen oder dem Hinweis auf das Anwachsen von Bürgerwehren und sonstigen privaten Schutzorganisationen begründen (so aber Lange aaO ; Schaffstein Schröder-Gedächtnisschr. S. 99 ff; Sch.-Schröder-Lenckner2\ §32 Rdn. 42 a). Außergewöhnlichen Belastungen unterliegt jede Rechts- und Gesellschaftsordnung von Zeit zu Zeit. Diese momentanen Zuspitzungen zum Anlaß zu nehmen, um rechtsstaatliche Garantien zugunsten der Eingriffsmöglichkeiten der Exekutive rechtlich aufzuweichen, würde einen Dauerschaden der Rechtsordnung bewirken, der deren Nerv noch empfindlicher träfe, als es die auslösenden Belastungen vermöchten (ähnlich Dahs aaO). Auch das Anwachsen von Bürgerwehren und sonstigen privaten Schutzorganisationen bildet kein taugliches Argument, den Ordnungsbehörden ähnliche Mittel und Möglichkeiten zu eröffnen, zumal die Gründe hierfür anderer Art und nicht auf das Fehlen einer weitreichenden polizeilichen Eingriffsermächtigung für besondere Notstands- und Gefahrenlagen zurückzuführen sind. Schließlich trifft auch der gegenüber der die Anwendbarkeit des § 34 verneinenden Ansicht geäußerte Vorwurf „fiat iustitia, pereat mundus" (vgl. Lange aaO) nicht zu. Denn Fälle einer Dimension, die zu einem solchen Einwand berechtigen könnten, sind bisher weder ersichtlich, noch sind sie im Schrifttum beschrieben worden oder sonst Gegenstand der Diskussion. Theoretisch sind allerdings Situationen besonders extremer Art vorstellbar, die, sollten sie eintreten, die Zulässigkeit auch außergewöhnlicher hoheitlicher Reaktion erfordern, obgleich diese von vorhandenen Eingriffsermächtigungen nicht gedeckt ist. Zu denken ist an den Fall der Drohung von Privatpersonen mit ihnen zur Verfügung stehenden atomaren Massenvernichtungswaffen oder an andere in ihrer Gefährlichkeit ähnlich weitgehende Situationen, denen die normale Staatstätigkeit nicht gewachsen ist und die eine Bedrohung gesellschaftlicher und staatlicher Existenz enthalten. Die Rechtmäßigkeit von solchen außerordentlichen Eingriffen, die zur Abwehr derartiger Gefahren erforderlich sind, könnte sich aber ausschließlich aus besonderen für die Ausübung hoheitlicher Gewalt geltenden übergeordneten Prinzipien des Verfassungsrechts ergeben, nicht aber aus einem im Deliktsrecht für ganz andere Situationen geregelten Rechtfertigungsgrund (.Böckenförde NJW 1978 1881 ; Klose ZStW 89 [1977] 68, 71 f; Knoke AöR 94 [1969] 395; Rudolphi SK2 Vor § 331 Rdn. 13). Anhaltspunkte der Beurteilung, die Aufgabe des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, nicht des Strafrechts ist, bieten die Notstandsartikel des G G und auch das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG. Nicht zu vertreten ist dagegen, dem § 34 im Hinblick auf solche Situationen den Charakter einer notfalls anwendbaren Eingriffsermächtigung zuzusprechen. dd) Auch die in den Polizeigesetzen der Länder enthaltenen Notrechtsvorbehalte 18 (vgl. statt aller § 35 Abs. 2 ME PolG) begründen keine Anwendbarkeit des § 34 für den dem Polizeirecht zugehörigen Bereich der Ausübung unmittelbaren Zwangs und des Schußwaffengebrauchs (Amelung NJW 1977 839 f; Jakobs 12/42 ff; Klinkhardt VerwArch. 55 [1964] 304, 309, 348f; Ostendorf JZ 1981 172; Samson SK4 §32 Rdn. 35; Seelmann ZStW 89 [1977] 53). Indem diese Vorbehalte ihrem — im einzelnen unterschiedlichen — Wortlaut nach die Vorschriften über (so § 35 Abs. 2 PolG NW) oder Wirkungen von (so § 35 Abs. 2 ME PolG) Notwehr und Notstand unberührt lassen, treffen sie selbst keine Aussage darüber, ob sich hoheitliche Notrechte aus den §§ 32 und 34 überhaupt ergeben oder aber nicht bereits aus anderen Erwä(135)

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2. Abschnitt. Die Tat

gungen ausscheiden (Götz Polizeirecht? S. 175; Kinnen M D R 1974 634; Klinkhardt aaO ; Schwabe JZ 1974 636 ff ; Seelmann aaO). Für die Fälle der Not- und Notstandshilfe sind die Notrechtsvorbehalte daher ohne inhaltliche Bedeutung, da sich in diesem Kernbereich polizeilicher Aufgaben ein Rückgriff auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe, insbesondere die §§ 32, 34, aus den in Rdn. 8 ff genannten Gründen ausnahmslos verbietet (Amelung aaO; Greiner Die Polizei 1971 106f; Jakobs aaO; R. Krüger NJW 1970 1484; Schumacher Die Polizei 1973 259 f; beschränkt auf § 32 auch Blei JZ 1955 626 ff; Krey u. W. Meyer Z R P 1973 4). Lediglich für die Situationen der persönlichen Notwehr oder des persönlichen Notstands des Amtsträgers enthalten die Notrechtsvorbehalte die Klarstellung, daß dem Amtsträger zu seinem eigenen Schutz die privaten Selbsthilferechte der §§ 32, 34 — im Rahmen des im öffentlichen Recht absolute Geltung beanspruchenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes — erhalten bleiben und daß die abschließenden Regelungen des Polizeirechts, speziell des Waffengebrauchsrechts, insoweit zurücktreten (vgl. außer Amelung, Greiner, R. Krüger, Ostendorf, Schumacher, sämtlich aaO, auch Klinkhardt aaO S. 351 ff; Maurach-Zipf6 § 26 II Β 2 a ; Rudolphi SK2 Vor § 331 Rdn. 14; siehe ferner Blei aaO [nur für § 32]). Abw. sollen nach der h. M. die allgemeinen Rechtfertigungsgründe auf sämtliche Fälle der hoheitlichen Ausübung unmittelbaren Zwangs uneingeschränkt {Bockelmann Dreher-Festschr. S. 242 ff [unter unzutr. Berufung auf BGH LM § 53 a. F. Nr. 5]; Jescheck AT3 § 32 II 2 c ; Lackner\5 § 32 Anm. 3 b ; Lange JZ 1976 547f; Merten in: Merten, Probleme S. 101, 104; Schmidhäuser in: Merten, Probleme S. 62; Sch.-Schröder-Lenckner2\ § 32 Rdn. 42a; Spendet LK10 § 32 Rdn. 276ff; Wessels AT 13 § 8 II 5) oder beschränkt allein durch Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit (vgl. Schaffstein Schröder-Gedächtnisschr. S. 106, 11 I f f ; Stratenwerthi Rdn. 443; siehe auch Schwabe aaO) oder Spezialität {Lerche v. d. Heydte-Festschr. II S. 1046 f) anwendbar sein. Zum Teil wird den Notrechtsvorbehalten dabei die Wirkung einer ergänzenden Verweisung beigemessen, welche die Notrechte dem Polizeirecht inkorporiert und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unterordnet (so etwa Lerche aaO). Nur deklaratorische Bedeutung haben sie demgegenüber nach Ansicht derjenigen Vertreter der h. M., welche die allgemeinen Rechtfertigungsgründe bei hoheitlichen Eingriffen ohnehin für anwendbar halten {Bockelmann aaO S. 241; Lange aaO; Schaffstein aaO S. 107f). Von einer dritten Auffassung werden die Notrechtsvorbehalte so interpretiert, daß der Beamte trotz entgegenstehender polizeirechtlicher Bestimmungen Not- und Notstandshilfe leisten dürfe, hierbei jedoch — obgleich im Dienst — als Privatperson und nicht hoheitlich tätig werde {Gintzel Die Polizei 1972 3 f f ; Kinnen M D R 1974 633f; Rupprecht JZ 1973 265), oder aber, daß durch sie klargestellt werde, daß der Beamte bezogen auf die besonderen Rechtsfolgen des Strafrechts gerechtfertigt sei, dienstrechtlich jedoch nicht rechtmäßig handele (ME PolG amtl. Begr. in: Heise-Riegel Musterentwurf 2 S. 22, 111 ; außerdem die Nachw. oben Rdn. 16). Bedeutung hat die über die Interpretation der Notrechtsvorbehalte geführte Kontroverse vor allem für § 32, und zwar bezüglich der auf Nothilfe gestützten Rechtfertigung eines über die polizeirechtlichen Vorschriften hinausgehenden Schußwaffengebrauchs, speziell des gezielten Todesschusses (zum Streitstand siehe die Nachw. bei Spendei LK10 § 32 Rdn. 263 ff). Im Rahmen des § 34 ist dieser Meinungsstreit vornehmlich deswegen von Relevanz, weil die Frage einer sich aufgrund der Notrechtsvorbehalte ergebenden Anwendbarkeit der allgemeinen deliktsrechtlichen Rechtfertigungsgründe nur einheitlich beantwortet werden kann (was von Blei JZ 1955 629 und Schwabe aaO S. 638 f übersehen wird; krit. dazu Klinkhardt aaO S. 322). (136)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

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Gegen die h. M. und für die hier vertretene Auffassung spricht neben den in 19 Rdn. 8 ff dargelegten grundsätzlichen Erwägungen vor allem, daß die dezidierten Vorschriften, die das Polizeirecht für die polizeilichen Befugnisse bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs und den Gebrauch von Schußwaffen aufstellt, mit der Bejahung einer Anwendbarkeit der §§ 32, 34 auf polizeiliche Eingriffstätigkeit nahezu jegliche Bedeutung verlören. Auch wenn man die Notrechtsvorbehalte mit einem Teil der h. M. (Nachw. siehe Rdn. 18) als ergänzende Verweisung betrachtet, wären dem Polizeirecht mit den §§ 32, 34 Bestimmungen inkorporiert, die dessen sonstige Regelungen inhaltlich fast völlig wieder aufheben würden, oder aber die Verweisung wäre ohne sachliche Bedeutung, nämlich dann, wenn man (wie Lerche v. d. Heydte-Festschr. II S. 1047) die Regelungen des Polizeirechts unter Spezialitätsgesichtspunkten wiederum für vorrangig hielte. Denn es unterfällt nahezu der gesamte Bereich einschlägiger Polizeiaufgaben den Voraussetzungen der Nothilfe. Darüber hinaus könnten die Polizeibehörden, wenn sie sich allein auf § 32 stützen dürften, regelmäßig hinsichtlich der Mittel und Intensität ihrer Maßnahmen bis an nur durch Gesichtspunkte der Erforderlichkeit bestimmte Grenzen gehen. Hier den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heranzuziehen, wäre widersprüchlich, aber auch unzureichend, weil die spezifizierten Regelungen des Polizeirechts diesen gerade restriktiv ausformen. Während der Gebrauch von Schußwaffen nach Polizeirecht (§ 10 UZwG; § 42 ME PolG) präventiv im wesentlichen nur zur Abwehr gegenwärtiger Gefahren für Leib oder Leben und zur Verhinderung unmittelbar bevorstehender Verbrechen oder solcher Vergehen, die unter Mitführung von Schußwaffen begangen werden sollen, zulässig ist, wäre durch Nothilfe nach § 32 in bestimmten Fällen sogar der — erforderliche — finale Todesschuß des Polizeibeamten zur Abwehr eines Diebstahls gerechtfertigt (so ausdrücklich und in Widerspruch zu Art. 2 M R K : Bockelmann Dreher-Festschr. S. 247 f; Schaffstein SchröderGedächtnisschr. S. 113 f [die in der Konsequenz noch weitergehend sogar eine entsprechende Verpflichtung des Beamten aus §32 herleiten]; Schmidhäuser in: Merten, Probleme S. 65). Angesichts der aufgezeigten Widersprüche ist Blei JZ 1955 626 darin beizupflichten, daß ein Nebeneinander von Polizeirecht und Nothilferecht — und Paralleles hat für § 34 zu gelten — eine logische Unmöglichkeit darstellt und nur entweder die polizeirechtlichen Vorschriften oder aber die allgemeinen Notrechte Geltung beanspruchen können. Für die Fälle der Not- und Notstandshilfe wird diese Frage durch die speziellere Materie des Polizeirechts eindeutig im Sinne der ersten Alternative beantwortet, so daß es entgegen Schaff stein aaO S. 104 zur Lösung nicht der Befassung mit der Quadratur des Zirkels bedarf (vgl. zum vorhergehenden: Amelung NJW 1977 839 f; Greiner Die Polizei 1971 106 f; Klinkhardt VerwArch. 55 [1964] 304ff, 348 f; Krey u. W. Meyer Z R P 1973 4; Samson SK.4 § 32 Rdn. 35; Schumacher Oie Polizei 1973 259). Gegen die eine ergänzende Verweisung annehmende Richtung der h. M. spricht im übrigen auch der insoweit eindeutige Wortlaut der Notrechtsvorbehalte (siehe Rdn. 18; auch Spendei LK10 §32 Rdn. 272). Die Vertreter der h. M. können sich ferner nicht darauf berufen, daß die Notrechtsvorbehalte nach der hier vertretenen Auffassung ohne Sinn wären (so aber Schaffstein aaO S. 108; Sch.-Schröder-Lenckner2\ § 32 Rdn. 42 a). Der gesetzliche Hinweis auf eine Anwendbarkeit der allgemeinen Notrechte in Fällen der persönlichen Notwehr oder des persönlichen Notstands des Amtsträgers enthält die durchaus sinnvolle Klarstellung, daß diesem seine privaten Selbstschutzrechte auch im Dienst nicht völlig abgeschnitten werden sollen. Während das Gebiet der Notund Notstandshilfe völlig im eigentlichen polizeilichen Aufgabenbereich aufgeht, was zur Unanwendbarkeit der §§ 32, 34 führt, befindet sich der in seinen Rechtsgü(137)

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2. Abschnitt. Die Tat

tern selbst gefährdete Amtsträger in einer Doppelstellung, in der seine persönlichen und dienstlichen Rechte und Pflichten verschmelzen. Dieser Konflikt wird durch die Notrechtsvorbehalte in dem Sinne gelöst, daß die einschränkenden polizeirechtlichen Bestimmungen gegenüber den weitergehenden Selbstschutzrechten zurücktreten (Amelung aaO; Blei JZ 1955 627, 630 [für § 32]; R. Krüger NJW 1970 1484; Ostendorf JZ 1981 172; Rudolphi SK2 Vor § 331 Rdn. 14; Schumacher aaO; siehe auch BGH LM §53 a. F. Nr. 5; anders aber Jakobs 12/42; Seelmann ZStW 89 [1977] 56, die auch in diesen Fällen die §§ 32, 34 für unanwendbar halten). Infolge seiner dienstlichen Stellung handelt der Amtsträger dennoch nicht privat, sondern hoheitlich mit den entsprechenden haftungsrechtlichen Konsequenzen (Götz Polizeirecht7 S. 175; Klinkhardt aaO S. 347; Lerche aaO S. 1041 f; Schwabe JZ 1974 635). Deshalb auch stehen ihm die Selbstschutzrechte nur im Rahmen des Verhältnismäßigen offen, denn als hoheitlich Handelnder unterliegt der Amtsträger den besonderen, sich aus seinem Dienstverhältnis ergebenden Duldungspflichten. Strengere Anforderungen an die Selbstschutzhandlungen des Amtsträgers, speziell des Polizeibeamten, sind entgegen Bockelmann aaO S. 240, 242 ff und Gössel JuS 1979 165 auch deshalb begründet, weil diese Beamten aufgrund ihrer Tätigkeit im Gegensatz zum einfachen Bürger regelmäßig eher auf entsprechende Situationen vorbereitet sind und über die erforderlichen Mittel und Waffen verfügen ( H o f f mann-Riem Z R P 1977 282; Klinkhardt aaO S. 327; Seelmann aaO 52 f; 55). — Gegenüber der Auffassung, die einen lediglich privaten Charakter der nicht durch polizeirechtliche Vorschriften gedeckten, jedoch unter den Voraussetzungen der §§ 32 oder 34 begangenen Eingriffshandlungen des Amtsträgers annimmt (vgl. die Schrifttumsnachw. Rdn. 18), ist einzuwenden, daß es eine reine Fiktion darstellt, den Beamten in dem Moment, in dem er über seine dienstlichen Befugnisse hinausgeht, seiner Uniform und hoheitlichen Stellung zu entkleiden und als Privatmann auftreten zu lassen ( S c h a f f s t e i n aaO S. 110; Schwabe NJW 1977 1903). Auch bleibt zu fragen, wie sich nach dieser Ansicht die haftungsrechtlichen Folgen eines dergestalt „privaten" Einsatzes des Amtsträgers darstellen sollen, da Art. 34 G G dann nicht eingreifen könnte (Klinkhardt aaO S. 306 ff; Schwabe NJW 1977 1903; gesehen wird diese Konsequenz auch von Conen Die Polizei 1973 71 f und Gintzel Die Polizei 1972 5). Entscheidend spricht gegen jene Auffassung letztlich, daß auch sie eine Aufspaltung des Rechtswidrigkeitsurteils vornimmt, indem sie zwischen dem handelnden Amtsträger und der dahinterstehenden öffentlichen Gewalt differenziert und denselben Eingriff gleichzeitig privat rechtfertigt und öffentlichrechtlich für rechtswidrig erklärt. Diese Ansicht findet zwar eine Stütze in der — verfehlten — Begründung des M E PolG, derzufolge hier zwischen straf- und zivilrechtlicher Rechtfertigung einerseits und öffentlichrechtlicher Rechtswidrigkeit andererseits zu unterscheiden sei (Rdn. 18). Wegen ihres grundsätzlichen Widerspruchs zum Prinzip der Einheit der Rechtsordnung ist sie jedoch nicht zu halten (näher hierzu Rdn. 16 und LK10 Vor § 32 Rdn. 10; krit. auch Lerche aaO S. 1037ff; Klinkhardt aaO S. 306ff; Schwabe JZ 1974 636; widersprüchlich Spendei LK10 § 32 Rdn. 273 f einerseits und 278 ff andererseits). 20

c) § 34 ist auf hoheitliches Handeln dort anwendbar, wo nicht in die Rechts- oder Freiheitssphäre der Bürger, sondern ausschließlich in staatliche Rechtsgüter oder solche der Allgemeinheit eingegriffen wird (Amelung NJW 1977 839; Rudolphi SK2 Vor § 331 Rdn. 15; auch insoweit gegen die Anwendbarkeit Jakobs 13/42). In diesen Fällen, in denen der Staat nicht kraft seines Überordnungsverhältnisses dem Bürger gegenüber tätig wird, stehen einer Rechtfertigung straftatbestandsmäßigen (138)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

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Verhaltens des Amtsträgers durch § 34 die in den Rdn. 8 ff aufgeführten grundsätzlichen und verfassungsrechtlichen Bedenken nicht entgegen und ist auch die Ausdehnung hoheitlicher Befugnisse zu Lasten des einzelnen nicht zu besorgen. Einen praktischen Anwendungsfall bildet die gegen §§ 120, 258 a verstoßende Freilassung von Häftlingen zur Rettung von Geiseln (Fälle Lorenz, Freipressung der Olympiaattentäter; näher zu dieser Problematik Κrey u. W. Meyer Z R P 1973 1; Κ rey ZRP1975 97). Entgegen Dreher-Tröndle41 Rdn. 24 und Lange NJW 1978 785 scheidet in solchen Situationen des staatlichen Nötigungsnotstands eine Rechtfertigung hoheitlichen Handelns nicht bereits deshalb grundsätzlich aus, weil der Staat dem Unrecht nicht weichen dürfe, sondern ihm entgegentreten müsse. Vielmehr gilt hier wie auch sonst (siehe allgemein zum rechtfertigenden Nötigungsnotstand Rdn. 69), daß es auf die Interessenabwägung im konkreten Fall ankommt. Ein absoluter Ausschluß der Notstandsrechtfertigung würde die Möglichkeit einer alle Aspekte der jeweiligen Konfliktlage abwägenden Entscheidung von vornherein sachwidrig begrenzen. Der Hinweis auf eine denkbare Entschuldigung des Amtsträgers führt nicht weiter. Abgesehen davon, daß diese leicht mangels echter persönlicher Konfliktlage in ihren Voraussetzungen zweifelhaft sein würde, liefe eine solche Konstruktion auf das dem Amtsträger unzumutbare Ansinnen hinaus, das sachlich Richtige rechtswidrig und nur vielleicht entschuldigt zu tun (vgl. auch Grebing GA 1979 105 Fußn. 137; Κrey aaO; Rudolphi aaO; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 7). Maßgeblich muß daher für die Rechtfertigung die für den Einzelfall zu treffende Entscheidung sein, ob das durch die Freilassung geschützte Interesse das hierdurch beeinträchtigte wesentlich überwiegt, wobei auch dem Gedanken der Wahrung der Rechtsordnung Gewicht zukommt. — Im Unterschied zum Verhalten staatlicher Organe gegenüber dem zur Gefahrabwendung geopferten Rechtsgut der Allgemeinheit handelt es sich bei der rechtlichen Beurteilung der unterlassenen Rettung der in Gefahr geratenen Person (Fälle Schleyer, Moro u. a.) nicht um ein Problem des rechtfertigenden Notstands, sondern schon um die Tatbestandsfrage, ob der Sachverhalt einer Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung (Garantenstellung) gegeben ist. Eine Rechtspflicht jedoch, gravierende unbeteiligte Rechtsgüter der Allgemeinheit zu beeinträchtigen, besteht regelmäßig nicht. Bei der Entscheidung, ob die Rettung unterlassen oder aber von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden soll, durch Notstand gerechtfertigt eine Rettungshandlung durch Beeinträchtigung eines anderen Rechtsguts der Allgemeinheit vorzunehmen, hat die Exekutive deshalb einen erheblichen — politischen — Beurteilungsspielraum (vgl. BVerfGE46 160, 165; Krey aaO 100). — Weitere denkbare Anwendungsfälle des § 34 auf hoheitliches Handeln sind der Scheinkauf von Betäubungsmitteln durch Polizeibeamte oder die Ausstellung falscher Papiere, um Fahndern oder bedrohten Kronzeugen den Aufbau einer anderen Identität zu ermöglichen (vgl. Sch.-Schröder-Lenckrter2i Rdn. 7; aber auch die zutr. kritischen Ausführungen von Franzheim NJW 1979 2014 ff zu hier auftauchenden Problemen des agent provocateur).

6. Systematik der Vorschrift Systematisch gliedert sich § 34 in fünf Voraussetzungen. Die erste ist die Not- 21 standslage. Sie besteht in einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut (wobei die von jedermann zu tragenden gewöhnlichen Gefahren von vornherein außer Betracht bleiben, vgl. Rdn. 38 f)· Abw. wird sie im Anschluß an die verschachtelte Gesetzesformulierung vielfach definiert als Bestehen einer „nicht anders abwendbaren gegenwärtigen Gefahr für ein (139)

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2. Abschnitt. Die Tat

Rechtsgut" (vgl. Jescheck AT3 § 33 IV 3 a ; Sch.-Schröder-Lenckner21 Rdn. 8; Wessels AT 13 § 8 IV 1). Dabei werden jedoch die Notstandslage einerseits und die Frage der Erforderlichkeit der Rettungshandlung andererseits miteinander vermengt. Ebenso wie bei der Notwehr die Notwehrlage allein im Vorliegen eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs zu sehen ist und nicht die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung mitumfaßt, sondern deren Voraussetzung ist (vgl. Jescheck AT3 § 32 II 1 ; Sch.-Schröder-Lenckner2\ § 32 Rdn. 2; Spendei LK10 § 32 Rdn. 23), besteht die Notstandslage im Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr für ein Rechtsgut (ebenso, wenngleich ohne Begründung, Samson SK.4 Rdn. 5; siehe auch Schmidhäuser StudB 2 6/36) ; und dies ist die Voraussetzung für eine erforderliche Rettungshandlung. Daß es sich so verhält, zeigt sich auch klar an der Wortfassung des rechtfertigenden Notstands in § 15 AE. Es wird außerdem deutlich, sobald man bedenkt, daß sich auch derjenige, der ohne Eingriff in ein anderes Rechtsgut gerettet wird, in einer Notstandslage befunden hat; ebenso derjenige, der keine Rettungschance hatte. Die Notwendigkeit, klar zwischen Notstandslage und Erforderlichkeit der Rettungshandlung zu trennen, sollte man systematisch stärker beachten, weil sonst die Stufen der Notstandsvoraussetzungen nicht deutlich unterschieden werden. Das zweite Notstandserfordernis besteht in der Notstandshandlung (Rettungshandlung), nämlich der Begehung einer Tat, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, also einer auf Gefahrabwendung gerichteten tatbestandsmäßigen Handlung. Es ist gegeben, wenn die vor der Rechtfertigungsfrage festgestellte tatbestandsmäßige Handlung mit Rettungsintention vorgenommen worden ist. Als dritte Notstandsvoraussetzung folgt die Erforderlichkeit der Notstandshandlung, die im Gesetz durch die Formulierung „nicht anders abwendbare" Gefahr Ausdruck findet. Die vierte Stufe bildet sodann die Interessenabwägung (innerhalb deren noch einmal abzustufen ist zwischen überwiegendem und wesentlich überwiegendem Interesse). Als fünftes Prüfungserfordernis nennt das Gesetz schließlich in Satz 2 die Angemessenheit der Tat. Hierbei handelt es sich der Sache nach um eine Kontrollklausel, mit der abschließend — unter Zuhilfenahme der Notwehrprobe — kontrolliert wird, ob die Interessenabwägung zutreffend vorgenommen worden ist. II. Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands 1. Gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut (Notstandslage) a) Notstandsfähiges Rechtsgut 22 aa) Notstandsfähig ist jedes Rechtsgut, gleichgültig, ob es dem Täter oder einem Dritten zusteht (Rdn. 25) und ob es eines des einzelnen oder der Allgemeinheit ist (Rdn. 23). Leben, Leib, Freiheit, Ehre und Eigentum werden in der Vorschrift lediglich als besonders wichtige Beispiele hervorgehoben. Die Art der exemplarisch aufgezählten Güter dient auch der Verdeutlichung, daß es beim rechtfertigenden Notstand aber in erster Linie um die Rettung von Individualinteressen geht (Horstkotte Prot. V S. 1795). Gleichgültig ist, auf welchem Teilgebiet der Rechtsordnung das Rechtsgut mit Schutz ausgestattet worden ist. Es braucht sich also nicht um ein strafgesetzlich geschütztes Rechtsgut zu handeln (vgl. für die allg. Auffassung die nachfolgend zitierte Rspr.; Dreher-Tröndle4\ Rdn. 2; Samson SK4 Rdn. 5; Sch.Schröder-Lenckner2\ Rdn. 9). So wurden etwa das Interesse an der Erhaltung der in einem Betrieb vorhandenen Arbeitsplätze (BGH bei Dallinger MDR 1975 723; BayObLGSt. 1953 124; OLG Hamm NJW 1952 838; OLG Köln NJW 1953 1844; OLG Stuttgart VRS 54 [1978] 288; OLG Oldenburg NJW 1978 1869; StA Mann(140)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

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heim NJW 1976 586 m. Anm. Wernicke NJW 1976 1223), die Aufrechterhaltung der Produktion (BGH bei Daliinger MDR 1975 723) und das Interesse der Versicherten, durch ihre Beiträge keine Hinterbliebenenrente mitzufinanzieren, auf die kein Anspruch besteht (OLG Frankfurt NJW 1975 271, 272 m. Anmerkungen Geilen JZ 1975 380 u. Martens NJW 1975 1668; OLG Frankfurt JZ 1977 355, 356; Roxin JuS 1976 508), zu notstandsfähigen Rechtsgütern erklärt. Des weiteren anerkannt wurde das durch Art. 6 M R K geschützte Recht des Angeklagten auf ein den Gesetzen entsprechendes Strafverfahren (vgl. OLG Frankfurt NJW 1979 1172 m. Anm. Hassemer JuS 1979 748). Rechtfertigender Notstand kommt ferner zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche in Betracht (vgl. BGHSt. 1 366, 368 [Verletzung der anwaltlichen Schweigepflicht zur Durchsetzung des Honoraranspruchs; dazu auch Kreuzer NJW 1975 2236]). Weitere Beispiele und Nachweise bei Lenckner Notstand S. 73 ff. Die Anwendbarkeit des rechtfertigenden Notstands bei Eingriffen zur Erhaltung 2 3 von Rechtsgütern der Allgemeinheit ist anerkannt (vgl. RGSt. 62 35, 46 [Erhaltung der Wirtschaft im besetzten Ruhrgebiet durch Einfuhr unverzollter Waren]; RGSt. 77 113, 116; OLG Stuttgart DRZ 1949 93 [Aufrechterhaltung der Lebensmittelversorgung]; OLG München M D R 1956 565; OLG Koblenz NJW 1963 1991; OLG Düsseldorf VRS 30 [1966] 39; NJW 1970 674 [Verkehrssicherheit]; DreherTröndleM Rdn. 2; Jescheck AT3 § 33 IV 3 a ; Maurach-Zipf6 § 27 III 2; Sch.-Schröder-Lenckner^ Rdn. 9; E 1962 Begr. S. 159). Hierbei ist zu beachten, daß Individualrechtsgüter wie Eigentum und Besitz auch dann Individualrechtsgüter bleiben, wenn ihr Inhaber der Staat ist, so daß sich in solchen Fällen keine Besonderheiten ergeben. Geht es dagegen um echte Rechtsgüter der Allgemeinheit (z. B. die Rechtspflege), so ist zu berücksichtigen, daß zur Abwendung von Gefahren für die Allgemeinheit grundsätzlich die Organe des Staates berufen sind. Daher fehlt es hier an der Nicht-anders-Abwendbarkeit, wenn eine rechtzeitige und effektive Einschaltung der zuständigen Staatsorgane möglich ist. Auch muß das im Einzelfall betroffene Rechtsgut klar erfaßbar sein; nicht konkretisierbare Allgemeininteressen erfüllen schon nicht die Voraussetzung eines notstandsfähigen Rechtsguts. Im Hinblick auf das Erfordernis der gegenwärtigen Gefahr reichen ferner bloß abstrakte Gefährdungen der Allgemeinheit nicht aus, um eine Notstandsbefugnis zu begründen. Schlägt dagegen eine abstrakte Gefahr in eine konkrete um, so werden in solchem Fall dann vielfach Individualrechtsgüter betroffen sein (so etwa im Straßenverkehr). Schließlich ist zu beachten, daß es sich bei Gefahren für den Bestand des Staatswesens um das Sonderproblem Staatsnotstand und Widerstandsrecht handelt (dazu näher LK10 Vor § 32 Rdn. 83 ff). Ob das Rechtsgut auch in der konkreten Gefahrenlage schutzwürdig und schutzbe- 24 dürftig ist, betrifft nicht schon den Gesichtspunkt der Notstandsfähigkeit, sondern wird erst bei späteren Notstandsvoraussetzungen erheblich (ebenso Maurach-Zipfö § 27 III 2 [der allerdings erst die Angemessenheit verneinen will]; anders Lenckner Notstand S. 76, 121; in Sch.-Schröder21 Rdn. 11; Wessels AT 13 § 8 IV 1). Wenn das Rechtsgut von Rechts wegen bestimmte Einbußen erfahren soll (z. B. die Freiheit des rechtskräftig Verurteilten), geht es entgegen der abw. Auffassung erst um die (konkrete) Interessenabwägung, wo sich der Gesichtspunkt der besonderen Duldungspflicht dahingehend auswirkt, daß die Abwägung zuungunsten des durch die Gefahr Betroffenen ausfällt (Rdn. 67). In dem ebenfalls von der Gegenmeinung angeführten Fall, daß das Rechtsgut vom Inhaber in rechtlich zulässiger Weise preisgegeben worden ist (z. B. Abbrennen einer alleinstehenden Hütte durch den Eigen(141)

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2. Abschnitt. Die Tat

tümer), fehlt es zwar bereits an der Notstandslage, aber erst deshalb, weil eine notstandsrelevante Gefahr zu verneinen ist (näher Rdn. 38). Die in allen diesen Fällen schon die Notstandsfähigkeit des Rechtsguts verneinende Auffassung dürfte als Nachwirkung der reinen Güterabwägungstheorie anzusehen sein, bei der die Kollisionslage ganz unter dem Blickwinkel der Kollision von Rechtsgütern betrachtet wurde und daher etwaige Einschränkungen schon hier vorzunehmen waren ( M a u rach-Zipf6 § 27 III 2). Sie führt zu einer mangelnden Differenzierung der ausschlaggebenden Gesichtspunkte und zu Auslegungswidersprüchen mit § 35 (näher dazu Rdn. 39). — Das geschützte Rechtsgut braucht auch nicht in einer spezifischen Kollisionsbeziehung zu dem durch die Rettungshandlung beeinträchtigten Rechtsgut zu stehen (Küper JZ 1976 516; Grebing GA 1979 86f; Lackner Anm. 2 c ; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 21 ; anders Bockelmann JZ 1959 459 ; Jescheck AT3 § 33 IV 3 b; Kienapfel ÖJZ 1975 428). Nach der Gegenauffassung soll sich aus diesem angeblichen Erfordernis ergeben, daß beispielsweise die aus Not begangene Unterschlagung von beliebigen Geldmitteln kein Fall des rechtfertigenden Notstands sei und daß für den Transport eines Schwerkranken nicht jedes beliebige, sondern nur das räumlich nächste geeignete Fahrzeug in Anspruch genommen werden dürfe. Dieser vom Gesetzeswortlaut abweichenden Konstruktion bedarf es jedoch nicht, da die geschriebenen Notstandsvoraussetzungen zu sachgerechten Ergebnissen führen. So scheidet Rechtfertigung in den Fällen ausschließlich finanzieller Not aus, weil es an einer notstandsrelevanten Gefahr fehlt (dazu Rdn. 38). In dem zweiten Fall, bei dem es um das Vorhandensein mehrerer Rettungsmittel geht, kommt es allein auf deren Geeignetheit an (Rdn. 50 f). Ist dieser im Rahmen des gesetzlichen Merkmals der Nicht-anders-Abwendbarkeit bedeutsame Gesichtspunkt gegeben, kann der Notstandstäter unter den verfügbaren Rettungsmitteln frei wählen. Für eine Beschränkung auf das räumlich nächstgelegene Mittel besteht keine sachliche Notwendigkeit. Vielmehr erschiene es als willkürlich, wollte man die Rechtfertigung desjenigen, der den Schwerkranken ins Krankenhaus transportiert, davon abhängig machen, daß er von mehreren nebeneinander abgestellten Wagen gerade den ihm räumlich nächsten zum Rettungsmittel auserkoren hat. 25

bb) Das gefährdete Rechtsgut braucht nicht dem Täter zuzustehen (Möglichkeit der Notstandshilfe). Dies folgt sachlich daraus, daß es sich bei § 34 um einen Rechtfertigungsgrund handelt, und wird in der Vorschrift noch ausdrücklich bei der Gefahrabwendungsaèi/cAi durch die Formulierung „von sich oder einem anderen abzuwenden" zum Ausdruck gebracht. Im Unterschied zum nur entschuldigenden Notstand (§ 35) ist der Kreis der von § 34 erfaßten Notstandshelfer nicht auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt. Eine Pflicht, die Gefahr zu beseitigen, braucht der Handelnde nicht zu haben (OLG Düsseldorf NJW 1970 674). Die Befugnis zur Notstandshilfe steht in zweifacher Hinsicht in Abhängigkeit vom Verhalten desjenigen, für den die Notstandslage entstanden ist. Zum einen darf die Notstandshilfe nicht gegen dessen erkennbaren Willen ausgeübt werden, wenn es sich um ein disponibles Rechtsgut handelt (vgl. BGHSt. 5 245, 248 zur parallelen Frage der aufgedrängten Nothilfe). Denn will der durch die Gefahr Betroffene trotz bestehender Notstandslage (zu deren Entfallen, wenn von vornherein bewußte Preisgabe vorliegt, siehe Rdn. 38) erkennbar gar keine Abwehr oder zumindest keine Hilfe eines Dritten, so liegt in bezug auf Nothilfe keine Erforderlichkeit vor, weil der hinsichtlich des Rechtsguts verfügungsberechtigte Betroffene auf Unterstützung verzichtet. Zweitens besteht Akzessorietät insofern, als dem Betroffenen überhaupt eine Notstandsbefugnis zustehen muß. Liegt bei diesem Angriffsabsicht anstatt der (142)

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verlangten Gefahrabwendungsabsicht vor, oder trifft ihn eine Pflicht, die Gefahr zu dulden, so fehlt es an einem Notstandsrecht, weshalb auch ein Dritter nicht zulässigerweise zugunsten des Betroffenen, eines Nichtberechtigten, handeln kann. Ebenfalls schlägt die aus einem pflichtwidrigen Vorverhalten des Betroffenen sich ergebende Reduzierung der Abwehrbefugnis (Rdn. 70) auf den Umfang des Notstandshilferechts durch. Von den genannten Sachlagen ist der Fall zu unterscheiden, daß der an sich notstandsberechtigte Betroffene nichts von der ihm drohenden Gefahr weiß und deshalb nichts gegen sie unternimmt, während der Notstandshelfer die Situation zutreffend überschaut. Hier besteht eine Befugnis zur Notstandshilfe, denn weder verzichtet der Betroffene auf die Ausübung des Notstandsrechts, noch ist es ihm hier wegen fehlender Gefahrabwendungsabsicht genommen (letzteres deshalb nicht, weil es bei dieser Absicht erst um die subjektive Seite bei der gegen das gefahrbringende Rechtsgut gerichteten Handlung geht). Ebenfalls bleibt die Nothilfebefugnis unberührt, wenn der Betroffene die Intensität der Gefahr zu gering einschätzt. b) Es muß eine gegenwärtige Gefahr für das Rechtsgut gegeben sein. aa) Gefahr ist ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahr- 26 scheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht (vgl. RGSt. 10 173, 176; 29 244, 246; 30 178, 179; 61 362, 363 f; 66 98, 100; 66 222, 225; BGHSt. 18 271, 272; 26 176, 179; OLG Frankfurt NJW 1975 840; Baldus LK9 § 52 Rdn. 16; Blei AT18 § 44 III 2; Bockelmann AT3 § 15 Β II 4; Dreher-Tröndle41 Rdn. 3; Horn Gefährdungsdelikte S. 7ff; Jakobs 13/12; Jescheck AT3 § 26 II 2; Maurach-Zipf6 § 27 III 3; Samson SK4 Rdn. 7; Schaffstein Bruns-Festschr. S. 89 ff; Sch.-SchröderLenckner2\ Rdn. 12; Schünemann JA 1975 793, 796; Wekeln § 9 III 4). Dem Schadenseintritt gleich stehen die Intensivierung einer bereits eingetretenen Schädigung sowie deren Fortdauer bei noch nicht abgeschlossener Einwirkung (Samson aaO; Sch.-Schröder-Lenckner aaO). α) Das Vorliegen einer Gefahr ist unproblematisch zu bejahen, wenn sich ein tat- 27 sächlich eingetretener Schaden rückblickend als deren Realisierung darstellt. In allen anderen Fällen ist ein Wahrscheinlichkeitsurteil erforderlich. Für die Urteilsbildung maßgeblich ist der Standpunkt eines objektiven Betrachters ex ante in der konkreten Handlungssituation des Täters (so ausdrücklich für § 34: Blei AT 18 § 44 III 3; Dornseifer JuS 1982 763f; Jakobs 13/13; Lackner 15 Anm. 2a; Schaffstein Bruns-Festschr. S. 92 ff ; Wessels AT 13 § 8 IV 1; vgl. außerdem allgemein zum Gefahrbegriff: Armin Kaufmann Welzel-Festschr. S. 400f; Maurach-Zipf6 §20 III 3, § 27 III 3; Wekeln § 9 III 4). Allein diese Sicht wird dem Umstand gerecht, daß die Beurteilung des Vorliegens einer Gefahr die Prognose eines in der Zukunft liegenden Geschehens, des Eintritts oder Nichteintritts eines Schadens verlangt. Das Wahrscheinlichkeitsurteil muß an tatsächliche Umstände anknüpfen. Bloße subjektive Befürchtungen reichen nicht aus. Es erfaßt jedoch nicht nur den zukünftigen Geschehensgang, sondern auch das Vorliegen hierfür maßgeblicher gegenwärtiger Tatsachen, die in der konkreten Handlungssituation nicht voll aufklärbar sind. Das zu treffende Gefahrenurteil hat daher sowohl prognostischen als auch diagnostischen Charakter. Abw. findet sich die Auffassung, daß streng zwischen gefahrbegründendem 28 Sachverhalt und Prognoseurteil zu unterscheiden und für ersteren zu fordern sei, daß sämtliche der Prognose über die künftige Entwicklung als gegenwärtig zugrunde gelegten Umstände — ex post betrachtet — tatsächlich gegeben sein müssen (143)

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(so insbesondere Sch.-Schröder-Lenckner2i Rdn. 13, Vor § 32 Rdn. 10 a; H. Demuth Der normative Gefahrbegriff, Diss. Bochum 1980 S. 108 ff; ähnlich Bockelmann AT3 § 15 Β II 4; siehe auch Gallas Heinitz-Festschr. S. 177 ff; Schmidhäuser StudB 2 5/42, 11/29). Diese Ansicht kommt zwar zutreffend der Notwendigkeit restriktiver Handhabung des Gefahrbegriffs in § 34 entgegen, der jedoch auf andere Weise Rechnung zu tragen ist (siehe Rdn. 29 ff)· Da Prognose und Diagnose sich vielfältig überschneiden, ist eine derart scharfe Trennung tatsächlich nicht durchführbar. Zumal bei der vornehmlich medizinischer Betrachtung unterliegenden Frage des Vorliegens von Leib- oder Lebensgefahren — einem Hauptanwendungsbereich des § 34 — hängt die künftige Entwicklung häufig von subtilsten gegenwärtigen körperlichen Zuständen ab, so daß Unsicherheiten der Prognose wesentlich solche der Undurchführbarkeit einer bis ins letzte gehenden Diagnose sind (siehe auch die eingehende Kritik bei Schaffstein Bruns-Festschr. S. 95 ff; ferner Dornseifer JuS 1982 763; Armin Kaufmann Welzel-Festschr. S.401). Die vorliegend vertretene Auffassung hat den weiteren Vorzug, daß sie grundsätzliche Widersprüche zum Verwaltungsrecht vermeidet. Nach dortiger h. M. ist auch die sog. Anscheinsgefahr im Gegensatz zur bloßen Scheingefahr echte polizeiliche Gefahr (vgl. hierzu VG Münster NVwZ 1983 238; Hoffmann-Riem Wacke-Festschr. [1972] S. 328; jeweils m. w. Nachw.). 29

ß) Zugrunde zu legender Beurteilungsmaßstab in § 34 ist derjenige eines sachverständigen Beobachters, wobei jedoch Spezialkenntnisse des Täters zu berücksichtigen sind (so ausdrücklich für §34 Jakobs 13/13; Lackner 15 Anm. 2 a ; wohl auch Samson SK.4 Rdn. 7; allgemein für den Gefahrbegriff Jescheck AT3 §26 II 2 m. w. Nachw.). Abw. wollen andere Autoren an den Beurteilungsmaßstab geringere oder auch strengere Anforderungen stellen :

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Von denjenigen, die sich mit geringeren Anforderungen begnügen, wird das Urteil eines verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden für ausreichend erachtet ( S c h a f f s t e i n Bruns-Festschr. S. 102; Dornseifer JuS 1982 764; Maurach-Zipf6 § 27 III 3; Wessels AT 13 § 8 IV 1). Hiergegen spricht jedoch, daß diese Auffassung durch Herabsetzung der Anforderungen an den Urteilsmaßstab den Gefahrbegriff unangemessen ausweitet und damit zu Lasten des durch den Eingriff Betroffenen zu sehr auf die Belange des Notstandstäters abstellt. Durch die dieser Ansicht innewohnende Subjektivierung würden die mit der erfolgten Objektivierung des Gefahrurteils erzielten Ergebnisse wieder in Frage gestellt. Es wäre unerträglich, wollte man die Duldungspflicht eines Dritten von dem zu erwartenden Kenntnisstand eines vom Zufall bestimmten Personenkreises abhängig machen. Ein restriktiver Gefahrbegriff ist — jedenfalls für den Bereich des § 34 — erforderlich, da diese Vorschrift eine echte Eingriffsbefugnis eröffnet und deshalb die Risikoverteilung zwischen Notstandstäter und Duldungspflichtigem nicht verzerrt werden darf (insoweit überzeugend Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 14). In diesem Zusammenhang darf auch § 32 nicht außer Betracht bleiben, der das objektive Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffs fordert. Die Annahme eines weitgefaßten Gefahrbegriffs stünde in einem Wertungswiderspruch zu den engen Eingriffsvoraussetzungen der Notwehr, zumal beim rechtfertigenden Notstand im Unterschied zu § 32 regelmäßig ein ganz unbeteiligtes Rechtsgut als Opfer in Anspruch genommen wird. Hinzu kommt, daß auch der der Notwehr benachbarte Defensivnotstand von § 34 erfaßt wird. Das von Schaffstein aaO S. 100 angeführte Argument, daß der Gesetzgeber sich in § 34 doch für das überwiegende Interesse und gegen das geringere (144)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

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entschieden habe, ist nicht schlüssig, denn es setzt voraus, was es beweisen will, daß nämlich überhaupt die Voraussetzungen einer Gefahrenlage gegeben sind. — Umgekehrt werden zu strenge Anforderungen an den Beurteilungsmaßstab von denjenigen gestellt, die als maßgeblich für das der Prognose zugrunde zu legende Kausalwissen die das gesamte menschliche Erfahrungswissen im Zeitpunkt der Handlung umfassende Sachkunde erachten (Blei AT 18 §44 III 3; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 14). Diese Ansicht hat zwar gegenüber der vorstehend kritisierten Auffassung den Vorzug, daß sie um eine Eingrenzung des dem § 34 zugrunde zu legenden Gefahrbegriffs bemüht ist. Sie vermag aber gleichwohl nicht zu überzeugen, weil das dort vorausgesetzte Maximalwissen überhaupt nur theoretisch denkbar ist und das Vorliegen einer Gefahr sich daher jeder vorstellbaren tatsächlichen Beurteilungsfähigkeit in der Situation des Notstandstäters entziehen würde. Auch ist sie prozessual nicht durchführbar, denn die richterliche Urteilsfindung kann sich als Hilfsmittel allenfalls des normalen Sachverständigen bedienen, nicht jedoch des gesamten menschlichen Erfahrungswissens. Die Schwächen der vorstehend kritisierten Auffassungen werden vermieden, 31 wenn man auf ein sachverständiges Urteil abstellt, da damit einerseits der in § 34 zugrunde zu legende Gefahrbegriff in der notwendigen Weise objektiviert wird, andererseits aber auch durch den Umstand, daß ein unteilbares ex-ante-Urteil erfolgen muß, den Belangen des bedrohten Rechtsguts und des Notstandstäters Rechnung getragen wird. Die Befürchtung Schaffsteins Bruns-Festschr. S. 99 f, daß damit unüberwindliche Unklarheiten über die Frage des Beurteilungsmaßstabes entstünden, ist nicht begründet. Sollte der Gefahrbegriff in anderen Vorschriften, insbesondere solchen des Besonderen Teils, tatsächlich anderen, nämlich geringeren Anforderungen unterliegen, steht dies der Notwendigkeit seiner restriktiven Handhabung in § 34 jedenfalls nicht entgegen. Denn angesichts der unterschiedlichen Funktion des Merkmals der Gefahr in § 34 und den Vorschriften des Besonderen Teils besteht kein Grund, der zu einer einheitlichen Auslegung des Begriffs zwingt ( Jakobs 13/13 Fußn. 27; Sch.-Schröder-Lenckner^l Rdn. 14; anders aber Maurach-Zipf6 §27 III 3). Auch entstehen entgegen Schaffstein aaO nicht Diskrepanzen zu § 323 c. Während § 34 nämlich echte Eingriffsbefugnisse verleiht, geht es in § 323 c allein um die Frage einer — zudem noch durch Zumutbarkeitsgesichtspunkte beschränkten — Hilfspflicht, die in der Regel Eingriffe in Rechtsgüter Dritter nicht verlangt. γ) Der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad eines Schadenseintritts läßt sich le- 32 diglich allgemein angeben. Exakte begriffliche Fixierungen sind hier ebensowenig möglich wie die Angabe bestimmter Prozentzahlen (BGHSt. 18 271, 272; Schaffstein Bruns-Festschr. S. 104f; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 15). Bei Beachtung dieses grundsätzlichen Vorbehalts erscheint es ausreichend, aber auch erforderlich, daß die Möglichkeit eines Schadenseintritts einen Grad erreicht hat, den man als naheliegend bezeichnen kann und der eine entsprechende Besorgnis als begründet erscheinen läßt (vgl. RGSt. 10 173, 176; 30 178, 179; BGHSt. 18 271, 272; DreherTröndle^ Rdn. 3). Enger in der Formulierung RGSt. 61 242, 255; 66 222, 225; BGH NJW 1951 769: der Eintritt der Schädigung müsse sicher oder höchstwahrscheinlich sein. Einschränkend auch BGHSt. 8 28, 31; 11 162, 164; 13 66, 70: der Eintritt eines Schadens müsse wahrscheinlicher sein als dessen Ausbleiben. Zu Unrecht beruft sich hierbei BGHSt. 8 28, 31 auf die Rspr. des RG. Die erwähnte Formulierung ist dort, soweit ersichtlich, nur einmal in RG Rspr. 6 98 verwendet worden. Ein Vergleich der geforderten Art ist kaum jemals möglich. Die Formulierungen in BGHSt. 18 271, 272; 22 341, 344; 26 176, 179 entsprechen deshalb wieder der (145)

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2. Abschnitt. Die Tat

st. Rspr. des RG. Zu weitgehend andererseits RGSt. 62 55, 57; Jakobs 13/12: Es reiche aus, daß der Eintritt eines Schadens nicht unwahrscheinlich sei. Zu den Formulierungsnuancen der Rspr. siehe die Übersicht bei Dreher-Tröndle^i Rdn. 3. 33

δ) Das Wahrscheinlichkeitsurteil muß auf die Umstände des Einzelfalles abstellen; ζ. B. kann für einen Jugendlichen schon eine Gefahr bestehen, wo sie f ü r den Erwachsenen noch nicht gegeben ist; selbst für denselben Menschen kann die gleiche Lage in gesundem Zustand und bei Krankheit (Erschöpfungszustand) verschieden zu werten sein (vgl. RGSt. 6 396, 397).

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Zu trennen von dem Erfordernis einer Einzelfallprüfung des Vorliegens einer Gefahr ist in § 34 die Frage des Werts des gefährdeten Rechtsguts. Dieser erlangt Bedeutung erst bei der im Anschluß an die Feststellung der Notstandslage vorzunehmenden Interessenabwägung (Rdn. 53 ff). Nicht überzeugend ist es daher, wenn versucht wird, die Wahrscheinlichkeit eines drohenden Schadenseintritts von dessen Ausmaß abhängig zu machen und den Gefahrbegriff insofern relativ zu verstehen (so aber Schaffstein Bruns-Festschr. S. 105; Grebing G A 1979 102 f Fußn. 126). Ebenso wie der Wert des bedrohten Rechtsguts ist auch ein gesteigerter Gefahrengrad erst bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen (vgl. Rdn. 60 f ; auch Jakobs 13/12; Maurach-Zipfì § 27 III 3).

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ε) Ohne Bedeutung für das Vorliegen einer Gefahr ist deren Ursprung. Rechtfertigung gemäß § 34 kann auch Platz greifen, wenn die Gefahr von einem menschlichen Verhalten ausgeht, das sich nicht als gegenwärtiger rechtswidriger Angriff im Sinne der Notwehr darstellt (näher Rdn. 72 f, 93).

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bb) Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn sich nach sachverständigem ex-ante-Urteil die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts so verdichtet hat, daß die zum Schutze des bedrohten Rechtsguts notwendigen M a ß n a h m e n sofort einzuleiten sind. Das ist namentlich der Fall, wenn der bedrohliche Zustand alsbald in einen Schaden umschlagen kann (vgl. BGHSt. 5 371, 373; BGH N J W 1979 2053; RGSt. 66 98, 101; Baldus L K 9 § 5 2 Rdn. 18; Sch.-Schröder-Lenckner2l Rdn. 17; siehe ferner B G H G A 1967 113; RGSt. 61 242, 255; 66 222, 225). In der Regel geht es um eine Augenblicksgefahr (ζ. B. die Gefahr des Ertrinkens eines ins Wasser gefallenen Kindes). Aber auch eine Dauergefahr, ein Zustand permanenter Gefahr, kann — anders als bei § 32 (der einen gegenwärtigen Angriff verlangt) — genügen. Im Vordergrund steht hierbei der Fall, daß die Dauergefahr jederzeit, also auch alsbald, in einen Schaden umschlagen kann, mag auch die Möglichkeit offenbleiben, daß der Eintritt des Schadens noch eine Zeitlang auf sich warten läßt (vgl. BGHSt. 5 371, 373; B G H N J W 1979 2053 [m. Anmerkungen Hruschka N J W 1980 21; Hirsch J R 1980 115; Schroeder JuS 1980 336]; außerdem BGH N J W 1951 769; BGH G A 1967 113; RGSt. 59 69; 66 98, 101 ; 66 222, 225 [m. Anm. H. Mayer JW 1932 2290]; R G J W 1934 422; OGHSt. 1 369). Gegenwärtigkeit einer Dauergefahr ist daher beispielsweise angenommen worden bei Einsturzgefahr eines baufälligen Hauses (RGSt. 59 69; B G H LM § 904 BGB Nr. 3) u n d bei jederzeitiger Gefährlichkeit eines in seinem Verhalten unberechenbaren Geisteskranken (BGHSt. 13 197 [zeitweilige Einschließung einer Geisteskranken durch Angehörige]), auch in Fällen zum entschuldigenden Notstand (siehe LK10 § 35 Rdn. 29, 37). Dagegen steht der von B G H N J W 1979 2053 entschiedene „Spannerfall" der Fallgruppe Rdn. 37 näher, da eine Rückkehr des „Spanners" nicht vor dem nächsten Abend zu erwarten war.

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Eine Dauergefahr kann darüber hinaus auch dann eine gegenwärtige Gefahr sein, wenn der Eintritt des drohenden Schadens zwar erst nach Ablauf einer gewissen Zeit (146)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

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zu erwarten steht, aber sofortiges Handeln angezeigt ist, um ihm wirksam begegnen zu können. Dies wird vor allem beim wichtigsten Unterfall des rechtfertigenden Notstands, dem jetzt in § 218 a speziell geregelten zulässigen Schwangerschaftsabbruch, bedeutsam, wenn nämlich der drohende Schaden erst im Zeitpunkt der Geburt eintreten kann. In der Rspr. ist seit langem anerkannt, daß hier Gegenwärtigkeit der Gefahr schon im früheren Stadium der Schwangerschaft in Betracht kommt (vgl. RG JW 1899 788; RGSt. 36 334, 339; 61 242, 255; BGHSt. 14 1, 3), und dem entspricht auch die heutige Gesetzgebung (§ 218 a). Außerdem wird beim entschuldigenden Notstand (aktuell geworden bei Meineid im Nötigungsnotstand und bei „Haustyrann-Fällen") von der Rspr. die Möglichkeit bejaht, daß Gegenwärtigkeit der Gefahr bereits gegeben ist, wenn der Eintritt des drohenden Schadens zwar erst nach Ablauf einer gewissen Zeit zu erwarten ist, er jedoch nur durch sofortiges Handeln wirksam abgewendet werden kann (vgl. etwa RGSt. 60 318, 320; RG JW 1932 3068 [mit abl. Anm. H. Mayer]; RG JW 1934 422; RG HRR 1939 1553; siehe auch BGHSt. 5 371, 373). Da sich die §§ 34 und 35 hinsichtlich des Erfordernisses der gegenwärtigen Gefahr nicht unterscheiden, beansprucht das ebenso für den rechtfertigenden Notstand Gültigkeit (näher Hirsch JR 1980 116 und ausdrücklich die Definitionen bei Blei AT 18 § 44 III 4; Dreher-Tröndle41 Rdn. 4; Jescheck AT3 §33 IV 3a; Schmidhäuser StudB2 6/37; im Ergebnis auch Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 17 [die zwar in diesen Fällen Dauergefahr und Gegenwärtigkeit begrifflich verneinen wollen, jedoch eine „Gleichstellung" mit der gegenwärtigen Gefahr befürworten]; zu eng dagegen Maurach-Zipfö § 27 III 3). So ging es auch der Sache nach im „Spannerfall" BGH NJW 1979 2053 (Körperverletzung durch Schußwaffengebrauch, um einen flüchtenden „Spanner", der eine Familie durch wiederholtes nächtliches Eindringen in die Wohnung terrorisiert hatte, dingfest zu machen) in Wahrheit um rechtfertigenden Notstand (vgl. Hirsch JR 1980 115; Hruschka NJW 1980 21; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 31; wohl auch Schroeder JuS 1980 336). Daß der Begriff der Gegenwärtigkeit in den Notstandsvorschriften also nicht ausschließlich vom zeitlichen Abstand des drohenden Schadenseintritts her zu bestimmen ist, beruht darauf, daß hinter ihm genauer betrachtet ein qualitativer Gesichtspunkt steht: die Eingrenzung der Notstandslage auf diejenigen Fälle, in denen die Gefahr sich so verdichtet hat, daß die Gegenmaßnahme zum Zeitpunkt der Vornahme angezeigt ist. In einigen höchstrichterlichen Entscheidungen wird deshalb die Notwendigkeit sofortigen Handelns als ausschlaggebendes Kriterium genannt (vgl. etwa BGH NJW 1951 769; RGZ 57 187, 191; in dieser Richtung auch Sch.Schröder-LencknerZi Rdn. 17). Angezeigt ist sofortiges Einschreiten, wenn die Gefahr sich ständig vergrößert, es als wenig wahrscheinlich erscheint, daß sie wieder entfällt, und es bei Beginn des drohenden Erfolgseintritts voraussichtlich zu spät wäre, ihr wirksam entgegenzutreten, oder sich bis dahin das Ausmaß der angezeigten Abwehrhandlung unverhältnismäßig gesteigert haben würde (vgl. zu diesen Kriterien auch BGH LM § 904 BGB Nr. 3). Neben Fällen des Schwangerschaftsabbruchs kommen Sachverhalte im Vorfeld der Notwehr (Fälle der „Präventiv-Notwehr") in Betracht (zu diesen vgl. auch Rdn. 73). Läßt sich dagegen noch keine Zwangsläufigkeit oder hohe Wahrscheinlichkeit bejahen — beispielsweise wenn ein Angeklagter einem Zeugen Schadenszufügung für Zeitpunkt nach Haftentlassung androht, falls der Betreffende nicht zu seinen Gunsten aussage (vgl. BGHSt. 5 371 ; RG HRR 1936 Nr. 708) —, ist Gegenwärtigkeit der Gefahr zu verneinen. Im übrigen ist zu beachten, daß das Vorliegen des § 34 noch von weiteren Voraussetzungen abhängig ist und deshalb trotz Bejahung der Gegenwärtigkeit der Gefahr noch weitere Schranken bestehen, vor allem durch das anschließende Notstandserfordernis, (147)

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2. Abschnitt. Die Tat

d a ß die Gefahr nicht anders abwendbar sein darf. In der Regel gilt: Je später das Umschlagen in den effektiven Schaden droht, um so eher ist die Gefahr anderweitig abwendbar (Baldus L K 9 § 52 Rdn. 18). 38

cc) Handelt es sich um eine in Einklang mit der Rechtsordnung von jedermann zu tragende Gefahr, so bleibt sie von vornherein außer Betracht. Denn es fehlt bereits an einer rechtlich relevanten Konfliktsituation und damit an der Notstandslage. Hierher gehören die gewöhnlich mit Schwangerschaft und Geburt verbundenen Beschwerlichkeiten und Risiken (RGSt. 36 334, 338; Jähnke LK10 § 2 1 8 a Rdn. 37). Auch die in Zeiten allgemeiner Volksnot der ganzen Bevölkerung drohenden Gefahren sind hier zu nennen; die sog. Sozialnot begründet keine Notstandslage i. S. der Vorschrift (vgl. O L G Celle HESt. 1 139; v. Weber M D R 1947 78; Maurach-Zipf6 §27 III 6 a ; siehe auch O L G Kiel HESt. 1 140). Erst recht bleiben die von den meteorologischen Gegebenheiten ausgehenden gewöhnlichen, von jedermann selbst zu tragenden Gefahren außer Betracht. Daher begründet die Gefahr, daß man durch einen Platzregen eine Erkältung oder Schäden an seiner Kleidung davonträgt, keine Notstandslage, weshalb keine Befugnis entsteht, einem anderen den Schirm wegzunehmen, auch wenn der andere dadurch nur einen wesentlich geringeren oder gar keinen über den Besitzverlust hinausgehenden Schaden erleiden würde. Nicht sachentsprechend werden solche Fälle häufig erst bei der Angemessenheitsfrage nach Satz 2 (so Bockelmann AT3 § 15 Β II 5 c; Dreher Prot. V S. 1799; Jescheck AT3 § 33 III 3) oder bei der Interessenabwägung (so Lenckner Notstand S. 136) eingeordnet. Eine notstandsrelevante Gefahr ist dagegen zu bejahen, sobald die Grenzen einer generell zu tragenden Gefahr überschritten sind, etwa wenn jemand, nachdem man ihn seiner Kleidungsstücke beraubt hat, auf winterlicher Straße ausgesetzt worden ist, oder wenn ein Verletzter zu erfrieren droht. Weiterhin scheiden Gefahren aus, die sich für das Vermögen des einzelnen als Folge der vom Vermögensträger getroffenen finanziellen Dispositionen ergeben, denn die Rechtsordnung räumt dem einzelnen nicht nur die Chance ein, sein Vermögen zu vergrößern, sondern als Kehrseite bürdet sie ihm auch auf, die wirtschaftlichen Risiken seines Vermögensgebahrens selbst zu tragen. Um die Frage, ob überhaupt eine Notstandslage vorliegt, ging es deshalb in den Fällen BGHSt. 12 299 (KonzertreiseFall) und BGH N J W 1976 680 (Mandantengelder-Fall). Unzutreffend wird in BGHSt. 12 299 erst auf die Interessenabwägung abgestellt und fälschlich zudem rechtfertigender Notstand in dem betreffenden Fall für möglich angesehen. Ebenfalls ist es nicht überzeugend, wenn in BGH N J W 1976 680 sogar erst auf die Angemessenheitsklausel zurückgegriffen wird, um § 34 wenigstens für den konkreten Fall ablehnen zu können (näher Rdn. 79 ff). Von Bockelmann JZ 1959 495 wird zwar mit Recht in Fällen eines eingegangenen wirtschaftlichen Risikos schlechthin das Eingreifen von rechtfertigendem Notstand abgelehnt; jedoch läßt sich seiner Begründung, die sich auf das Fehlen einer angeblich zu verlangenden spezifischen Kollisionsbeziehung der beteiligten Güter (dazu Rdn. 24) sowie auf die Angemessenheitsklausel stützt, nicht folgen. Auch verkürzt es im Mandantengelder-Fall die grundsätzliche Problematik, wenn man hier erst auf die nachrangige Frage der konkreten Eignung zur Gefahrabwendung, also die Erforderlichkeit der Notstandshandlung, abstellt (so aber Kienapfel JR 1977 27; Küper JuS 1976 516; Sch.-Schröder-Lenckner2\ Rdn. 21). In den Bereich des von jedermann selbst zu tragenden Vermögensrisikos gehören auch die gewöhnlichen Risiken des Bankwesens, weshalb beim Betrieb eines Bankgeschäfts nicht schon jede Gefährdung der Vermögenswerte der Bankkunden eine Notstandsbefugnis begründet (BGH G A 1956 382). (148)

Rechtfertigender Notstand (Hans Joachim Hirsch)

§

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Ferner scheiden von vornherein aus dem Notstand Gefahren aus, die generell einkalkulierte Folge einer gesetzlichen Regelung sind ; so etwa die Gefahr für Arbeitsplätze oder von Produktionseinbußen als vom Gesetzgeber in Kauf genommene Folge gesetzlicher Regelungen zum Umweltschutz, zur Unfallverhütung oder zur Wirtschaftslenkung (zurückhaltend in der Anwendung des rechtfertigenden Notstands deshalb OGHSt. 1 343; OGH NJW 1950 182; BayObLGSt. 1953 124; OLG Stuttgart DRZ 1949 93; OLG Hamm NJW 1952 838; OLG Köln NJW 1953 1844; siehe auch Krause BB 1948 45). Auch bleiben die Fälle der bewußten Preisgabe eines disponiblen Rechtsguts durch den Inhaber außer Betracht (ζ. B. bei einer bewußten Inbrandsetzung oder Versenkung der Sache durch den Eigentümer). Hierher gehören jedoch nicht die Suizidfälle (vgl. Rdn. 73). Die allgemeinen Risiken des verkehrsgemäßen Straßenverkehrs begründen schon deshalb keine Notstandslage, weil sie keine gegenwärtige konkrete Gefahr für Leben, Leib oder Eigentum darstellen. Sobald sie sich jedoch im einzelnen Fall zu dieser Intensität gesteigert haben, ist regelmäßig, auch wenn die Steigerung nicht auf Sorgfaltswidrigkeit beruht, eine Notstandslage anzunehmen. Weitergehend will eine Schrifttumsmeinung aus der Notstandslage (und hier 39 schon aus dem Kreis der notstandsfähigen Rechtsgüter) bereits alle Fälle ausscheiden, in denen das Rechtsgut von Rechts wegen bestimmte Einbußen erfahren soll, beispielsweise die Freiheit eines rechtskräftig Verurteilten (Lenckner Notstand S. 76, 121; in Sch.-Schröder21 Rdn. 11; Wessels AT 13 § 8 IV 1; unklar BayObLGSt. 1976 70, 72). Nach dieser abw. Auffassung sollen also auch Gefahren für ein Rechtsgut, die nicht jedermann, sondern nur einen einzelnen berühren, und zwar aufgrund einer ihn individuell treffenden Duldungspflicht, schon keine Notstandslage begründen. Dadurch werden jedoch Fragen, die erst bei der konkreten Interessenabwägung bedeutsam werden (vgl. Rdn. 67), vorweggenommen. Daß eine spezielle Duldungspflicht nicht schon die Notstands/ag