Strafbegriff und Strafrechtspflege [1 ed.] 9783428420759, 9783428020751

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Strafbegriff und Strafrechtspflege [1 ed.]
 9783428420759, 9783428020751

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HEINZ MüLLER-DIETZ

Strafbegriff und Strafrechtspßege

Schriften zum Strafrecht Band 8

Strafbegriff und Strafrechtspflege

Von

Dr. Heinz Müller-Dietz Privatdozent

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, BerUn 41 Gedruckt 1968 bel Alb, Sayffaerth, BerUn 61 Printed In Germany

© 1968 Duncker

Thomas Würtenberger zum 60. Geburtstag

Vorwort Die Schrift stellt die erheblich erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung dar, die der Verfasser am 13. Juli 1967 in Freiburg i. Br. gehalten hat. Zwar ist der Anlaß, zu dem sie erscheinen sollte, vorüber; doch hofft der Verfasser, daß die zeitliche Verspätung keine in der Sache selbst bedeutet. Der Schrift eignet in strengem Sinne essayistischer Charakter; und als Versuch, ein altes Problem auf neue Weise anzugehen, will sie auch verstanden werden. Ihr liegt die überzeugung zugrunde, daß für die Wirksamkeit des Strafrechts viel davon abhängt, inwieweit sich die Kluft zwischen Theorie und Praxis der Strafe verringern läßt. Eine solche Auffassung ist hegelianisch und antihegelianisch zugleich: hegelianisch insofern, als sie von einer präexistenten übereinkunft beider ausgeht; antihegelianisch, weil ihr der Gedanke, jene übereinstimmung vollziehe sich allein in der Vorstellung und durch sie, nicht nur eben diese zu überschreiten, sondern die Lösung des Dilemmas in der Ausklammerung der Realität zu bestehen scheint, auf deren Kenntnis doch jede praktikable Theorie von Strafe angewiesen ist. Der Verfasser glaubt deutlich machen zu können, daß wir erst über Ansätze zu einer solchen Theorie, nicht aber über diese selbst verfügen. Vor der bedrängenden Wirklichkeit der Kriminalität freilich gibt es kein Ausweichen auf die Position dessen, der kriminalpolitische Grundsatzentscheidungen auf eine ungewisse Zukunft mit vielleicht besserem wissenschaftlichen Fundament vertagen möchte: Die praktische Strafrechtspflege darf und muß fordern, daß die Frage nach ihrer Zielsetzung, ihrer theoretischen Basis also, heute schon eine Antwort findet. Freiburg i. Br., im Oktober 1967 Heinz Müller-Dietz

Inhaltsverzeichnis Zur Möglichkeit begrifflicher Bestimmung der Strafe ..................

11

A. Strafe zwischen Metaphysik und Spekulation .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

13

I. Metaphysik der Strafe ................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

II. Strafe in der philosophischen Spekulation ......................

16

1. Methodologische Probleme ..................................

2. Zur Genauigkeit von Begriffsbestimmungen .................. a) Das erste Beispiel: Vergeltung... . .. . . ... ........ . .... .... b) Das zweite Beispiel: Sühne ..............................

16 20 22 26

B. Versuche empirischer Strafbegründung ............................ ,.

28

I. Anfänge im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.............................. 2. Die vorgebliche Empirie der Nachfolger ...................... 3. Zur Soziologie der Strafe bei Durkheim ...................... 4. Zur Empirie der Strafe bei Frllnz von Liszt ..................

28 28 29 30 33

II. Empirische Analysen im 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Strafe und Sozialstruktur (Rusche und Kirchheimer) .......... 2. Die soziale Funktion der Strafe bei Vilhelm Aubert .......... 3. Die heutigen Tendenzen zur Empirie ........................

34 34 38 40

C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe ......................

44

I. Das Verhältnis von Theorie und Empirie... .... . ..... .... .......

44

1. Psychologismus bei Feuerbach

1. Empirische Sozialforschung und geisteswissenschaftliche Real-

analyse in der Soziologie .................................... 2. Versuche empirischer Vermittlung im öffentlichen Recht. ..... 3. Spekulativer Ansatz und empirische Entwicklung....... . . ... a) Primäre Wertentscheidung als Ausgangspunkt. ...... ... .. b) Zum Korrektivcharakter der empirischen Erfahrung ......

45 46 48 48 50

II. Die Anwendung des Modells auf die Erforschung der Strafe . . . . . . 57 1. Rechtsgüterschutz als normative Funktion von Strafrecht und Strafe ...................................................... 57 2. Zum Gegenstand der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 61 3. Zur Begrenztheit der empirischen Basis ...................... 64

10

Inhaltsverzeichnis

D. Die Strafe in empirischer Sicht ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

69

I. Rechtliche Wirkfaktoren des Strafmechanismus ................

69 69 69

1. Methodologische Vorfragen ..................................

a) Rechtsnormen als soziale Tatsachen ...................... b) Zur Unterscheidung rechtlicher Faktoren und sozialer Momente .................................................. 2. Strafe als Rechtseinbuße .................................... a) Zum normativen Gehalt der verschiedenen Strafarten .... b) Die Eintragung der Strafe im Strafregister.. . .. . . .. .... ... c) Exkurs über den Begriff des Strafübels .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strafen als prozessualer Vorgang. . ... ........ ... . .. . ... ..... 11. Soziale Reaktion auf das Verbrechen... . . ....... ... .... .. .. .. ... 1. Zur Problematik einer Sozialanalyse ........................

a) Historische Versuche .................................... b) Zur Differenzierung nach sozialen und psychologischen Momenten .................................................. 2. Soziale Reaktionen und Zustände ............................ a) Zur Präventionswirkung der Strafe im. einzelnen ........ b) Zur generalpräventiven Bedeutung von Strafrecht und Strafe im ganzen ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Negative soziale Folgen der Strafe... ................ .. ... 3. Individual- und sozialpsychologische Momente der Strafe. ... a) Die Strafe in psychoanalytischer Sicht .................... b) Der entwicklungs- und verhaltenstheoretische Aspekt .... c) Der sozialpsychologische Prozeß des Strafens .............. d) Zum Ausgleichs- und Vergeltungsdrang ..................

72 73 74 76 79 81 82 82 83 85 86 87 91 95 97 97 100 104 105

111. Das Ergebnis der empirischen Analyse .......................... 106

E. Versuch einer empirisch-rationalen Zweckbestimmung der Strafe .... 109 I. Die Schutzfunktion von Strafrecht und Strafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 109

1. Vorbemerkung über eine falsche Alternative .................. 2. Die Verwirklichung des Rechtsgüterschutzes ................ a) Präventivfunktion der Strafnorm ........................ b) Rechtsbewährung durch Richterspruch .................... c) Sozialiaationszweck des Strafvollzug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Soziale Leiatung als Strafinhalt .............................. a) Zur Problematik von Repressivfunktion und 'Obelsbegriff ., b) Soziale Pflichten des Täters und der Gesellschaft ..........

109 110 111 112 114 117 117 120

11. Strafen als soziales Geschehen .................................. 121

1. Die Stadien des Strafvorgangs und ihre institutionellen Bezüge 121 2. Exkurs über die Strafzweckbestimmung des § 2 Abs. 1 AE .... 123

Ausklang: Strafe zwischen Hoffnung und Utopie '" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125

Zur Möglichkeit begrifflicher Bestimmung der Strafe "Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat1." Dieses Wort Nietzsches, auf die Strafe bezogen, bedeutete in letzter Konsequenz ihr Ende und damit jeder Theorie von ihr. Denn wo ist mehr Geschichte als in der Strafe, und welcher Vorgang gehörte ihr stärker an als das Strafen? Geschichtslose Strafe gibt es nicht; geschichtsträchtige aber wäre denn undefinierbar, unbeschreibbar, Metaphysik der Historie, die geglaubt, aber nicht gewußt werden könnte, kein Gegenstand rationaler Erkenntnis also, auf den sich einzulassen Vernunft raten müßte? Hegel, der den Apologeten der Zwecktheorien vorwerfen zu können meinte, sie nähmen eine je besondere Seite der Strafe für deren Allgemeinheit!, hätte sich dann gleichfalls der Usurpation eines Begriffs schuldig gemacht, von dessen Bestimmung doch für die Existenz seiner Strafphilosophie alles abhing? Freilich ist die ihr immanente These, daß Strafe nur unter der Voraussetzung ihrer zureichenden begrifflichen Fixierung zulässig sei, außerhalb der Philosophie Hegels wenig mehr als eine Hypothese; und so gilt auch der Einwand Franz von Liszts, daß wir den Menschen und nicht den Begriff strafen3, letztlich dem System selbst und seiner methodischen Fundierung. Doch die Frage nach der Möglichkeit einer Definition der Strafe bleibt4, mag man auch die ironische Glossierung des Begriffsdenkens durch Marx - Verbrechen als "Verspottung von Begriffen" und Strafe als Wiederhel'stellung des Begriffs5 - als polemische Überspitzung abtun, die sich mehr gegen 1 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (Kröners Taschenausg. Bd. 76), Stuttgart 1953, S. 312. I Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Hoffmeister, 4. A., Berlin 1956, § 99. 3 Kriminalpolitische Aufgaben, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1. Bd., Berlin 1905, S. 290-467 (307). Vgl. aber Wegmüller, Die Grundlagen des Strafbegriffs, Diss. jur. Bern 1945; A. v. Bothmer, Der Begriff der Strafe, Berlin 1808. 4 von Dombois, Mensch und Strafe, WittenjRuhr 1957, S. 163, These 22, negativ beantwortet. I "Dieselben Ideologen, die sich einbilden konnten, daß das Recht, Gesetz, der Staat pp. aus einem allgemeinen Begriff, etwa in letzter Instanz dem Begriff des Menschen hervorgegangen und um dieses Begriffes willen ausgeführt worden seien, dieselben Ideologen können sich natürlich auch einbilden, Verbrechen würden aus reinem Übermut gegen einen Begriff begangen. Verbrechen seien überhaupt weiter Nichts als Verspottung von Begriffen und würden nur bestraft, um den verletzten Begriffen Genüge zu leisten." (Die deutsche Ideologie, Marx-Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 325.)

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Zur Möglichkeit begrifflicher Bestimmung der Strafe

die Hegelianer als ihren philosophischen Ursprung selbst richteteG, obwohl doch dieser selbst allen Anlaß dazu gegeben hat: "Die Theorie der Strafe ist eine der Materien, die in der positiven Rechtswissenschaft unserer Zeit am schlechtesten weggekommen sind, weil in dieser Theorie der Verstand nicht ausreicht, sondern es wesentlich auf den Begriff ankommtG."

• Hegel, Rechtsphilosophie, § 99. Vgl. auch: "Der Verbrecher hat sich außer dem Begriff gesetzt, der der Inhalt des Gesetzes ist... (Theolog. Jugendschriften, hrsg. von Noht, Tübingen 1907, S. 277). In der "Phänomenologie des Geistes" heißt es: "Die Wissenschaft darf sich nur durch das eigne Leben des Begriffs organisieren." (SW, V, 6. A., Hamburg 1962, S. 44). Nur der Respekt vor der Bedeutung des Philosophen kann hier noch davon abhalten, die im Text zitierte Wendung mit Schopenhauerschen Epitheta zu bedenken (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung, Köln o. J., S. 472,480,649).

A. Strafe zwischen Metaphysik und Spekulation I. Metaphysik der Strafe In der Tat existiert seit eh und je die Überzeugung, daß es um die Rationalität der Strafe - allen Bemühungen um sie zum Trotz schlecht bestellt, daß ihr eigentlicher Ort in einer spekulativ oder gar theologisch gefaßten Metaphysik zu suchen sei. "Die Frage nach dem Wesen der Strafe ist deswegen immer beunruhigend, weil sie auf ein Rätsel weist1 ." Begreiflich, daß ein so uraltes Menschheitsgeschehen wie das Strafen2 Irrationalität, ehrfurchtsvolle Scheu, sich mit dem Gegenstand kritisch auseinanderzusetzen, auf den Plan ruft, unverständlich jedoch, daß Wissenschaft, die ex definitione Fragen stellen, in Frage stellen muß, sich dadurch einnehmen läßt, um dann voreingenommen zu sein. Definitionen der Strafe demnach Belege für eine im Grunde mißlungene, vergebliche Säkularisierung eines überweltlichen Vorgangs, der eigentlich hier keinen Platz hat, staatliches Strafrecht über seine diesseitige, rechtsimmanente Bedeutung hinaus transzendiert, Strafen Dokumentation also eines Geschehens, das gleichsam nur stellvertretend und unvollkommen wie alle irdische Gerechtigkeit sich ereignet3 ? Solche Überzeugung mochte einer unificatio von Welt- und Göttlichkeit, einer an der Einheit von Thron und Altar partizipierenden Gerechtigkeitspflege, in welcher der Zweifel an ihrer Berechtigung Hochverrat, die mystische Verklärung des Strafvorgangs Trumpf war, selbstverständlich scheinen. Gewiß sind jene Vorstellungen nicht mehr die unsrigen; doch ist die Zeit, da der göttliche Strahl, der Regierung und Staat beschien, im Verständnis der Gesellschaft auch die Strafgerechtigkeit heiligte, da über diese nicht kritisch zu reflektieren war, uns näher, als 1 Trillhaas, Zur Theologie der Strafe, Heidelb. Jb., V (1961), S. 40--54 (41); ebenso Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, Göttingen 1963, S. 15. t "Punishment for antisocial behavior has been with us since the dawn of history." (Halleck, Psychiatry and the Dilemmas of Crime, New York 1967, p. 207). Reiwald spricht vom "Ewigkeitszug der Strafe" (Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, Zürich 1949, S. 216-219). I Die theologische Literatur zur weltlichen Strafe ist kaum zu übersehen. Vg1. z. B. Domhois (Hrsg.), Die weltliche Strafe in der evangelischen Theologie, 1959; Gollwitzer, Das Wesen der Strafe in theologischer Sicht, Evang. Theol., 24 (1964), S. 195-220; Trillhaas, 1. c.; weitere Hinweise bei Noll, Die ethische Begründung der Strafe, Tübingen 1962, S. 9-11.

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A. Strafe zwischen Metaphysik und Spekulation

wir vielleicht wahrhaben möchten. Noch eine der bedeutendsten Positionen des deutschen Idealismus, wiewohl vom Geist der Aufklärung angekränkelt, ja ihn selbst als Mündigwerden des Menschen preisend', war besetzt mit jener Anschauung von der furchtbaren Majestät der Strafe5, die, sich selbst genug, gleichsam Selbstzweck ist, keiner andern Rechtfertigung als der verwerflichen Tat eines zu Verwerfenden, dann also Verworfenen bedürftige. Kant markiert deshalb in diesem Sinne ein Typisches, nicht Zufälliges, und, möchte man meinen, durch den Ausgangspunkt Bedingtes, das bis in unsere Tage hinein Nachfolge gefunden hat7 • An zwei sehr charakteristischen Überlegungen wird deutlich, wie sich heute die Trauer über die Abdankung jener Staats- und Strafmetaphysik und damit das Bekenntnis zu ihr artikuliert. Verbrechen, so heißt es, sei "Machtanmaßung", nicht bloße Grenzüberschreitung allein, sondern der Versuch des Täters, sich anzueignen, was ihm nicht zustehe8 • Als ob es irgend jemandem, irgend einer Einrichtung dieser Erde zustünde, zu rauben, zu morden und zu brennen; und als ob Verbrechen nicht gerade Dokumentation einer Ohnmacht ist, eines Versagens gegenüber den Anforderungen, die soziales Zusammenleben an uns stellt! In Wahrheit verbirgt sich hinter der Kennzeichnung des Verbrechens als Machtanmaßung zweierlei: Einmal wird es dadurch als Verneinung des Sittlichen schlechthin in negativer Weise "überhöht" und dient so der Rechtfertigung einer in positiver Hinsicht übersteigerten Reaktion des Staates; das Feiertagsgewand, mit dem Verbrechen hier drapiert ist, soll durch die Strafe mit einem Armsündergewand vertauscht werden können. Zum zweiten liegt jener Anschauung die überzeugung zugrunde, es existierten sehr wohl Instanzen, denen die Realisierung dessen vorbehalten sei, was dem Rechtsbrecher nicht zukomme, daß also Machtanmaßung Eingriff in den Zuständigkeitsbereich, in die Herrschaftsdomäne einer anderen Instanz bedeute. , Kant: Aufklärung als "Aufbruch des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Was ist Aufklärung? Göttingen 1967). 5 Hegel sprach vom "Gesetz in seiner furchtbaren Majestät" (TheoI. Jugendschriften, S. 278). Vgl. auch Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. 1\4. 1966, S. 229, mit Bezug auf Kant. e Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, hrsg. von Weischedel, Wiesbaden 1956, S. 453 f. Hierzu neuerdings wieder Bauer, Das Strafrecht und das heutige Bild vom Menschen, in: Die deutsche Strafrechtsreform, München 1967, S. 11 bis 23 (11 f). VgI. auch Kahler, Gedanken über die Ziele des heutigen Strafrechts, Leipzig 1909, S. 9. T VgI. etwa Dombois, 1. c., S. 131. Kritisch Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin 1950, S. 213. 8 Dombois, 1. c., S. 12 ff.; Frhr. v. Schlotheim, Sinn und Zweck des Strafens und der Strafe, MSchrKrim. 50 (1967), S. 1-14 (13).

1. Metaphysik der Strafe

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Eng damit verwandt ist die zweite überlegung. In der Sicht der Staats- und Strafmetaphysik gewinnt die Todesstrafe den Rang eines Absoluten, Allgemeinen und ist, aus der Besonderung einer bloßen Strafart herausgehoben, nicht mehr Gegenstand etwa nur präventiver oder humanitärer Erwägungen'. Die Abschaffung der Todesstrafe wird hier als Abdankung der Allmacht des Staates, als Verlust seiner metaphysischen Weihe empfunden: "Ein liberaler oder neutraler Staat kann ihre Anwendung nicht rechtfertigen, aber im totalen Staat ist die Todesstrafe Ausdruck der absoluten Herrschaft des Ganzen über den EinzeInen10. " Dementsprechend liegt hiernach in der Anzweiflung der Todesstrafe nicht ein bloßer Angriff auf eine Strafart, sondern - wie Walter Benjamin sagte - auf "das Recht selbst in seinem Ursprung. Ist nämlich Gewalt, schicksalhaft gekrönte Gewalt, dessen Ursprung, so liegt die Vermutung nicht fern, daß in der höchsten Gewalt, in der über Leben und Tod, wo sie in der Rechtsordnung auftritt, deren Ursprünge repräsentativ in das Bestehende hineinragen und in ihnen sich furchtbar manifestieren ... Denn in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod bekräftigt mehr als in irgendeinem Rechtsvollzug das Recht sich selbst"l1. Dombois hat deshalb - freilich aus einer rechtstheologischen Position heraus - die Todesstrafe richtig als "absolute Strafe" erkannt1 2, deren Rechtfertigung innerhalb der Staatsmetaphysik nicht von Gründen der Nützlichkeit abhängen kann. Aber wer den Staat nicht als Inkarnation des Absoluten, als Apotheose transzendenter Vernunft begreift1 3, sondern in seiner zweckhaften und vernünftigen Begrenzung sieht 14 , wird die Auffassung von der Todesstrafe als einer • VgI. Mehringer, Der Januskopf der Todesstrafe, Neue Polizei, 20 (1966), S. 8-11; Rossa, Todesstrafen. Ihre Wirklichkeit in drei Jahrtausenden. 01denburg u. Hamburg 1966; Christoph, Capital Punishment and British Politics, The British Movement to Abolish the Death Penalty 1945-57, London 1962; Bedan (Ed.), The Death Penalty in America. An Anthology. Chicago 1964, pp. 120-165, 166-231; Koestler, Camus, Müller-Meiningen, Nowakowski, Die Rache ist mein. Theorie und Praxis der Todesstrafe, Stuttgart 1961; Schwagerl, Emotionelle Einflüsse in der Argumentation für die Todesstrafe, in: Kriminologische Wegzeichen, Hamburg 1967, S. 81-96; E. H. Hoffmann, Der Ruf nach dem Scharfrichter, Hamburg 1967. 11 Erik Wolf, Das künftige Strafensystem und die Zumessungsgrundsätze, ZStrW, 54 (1935), S. 544-574 (547); vgI. auch Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. A., Stuttgart 1963, hrsg. von Erik Wolf, § 23 (S. 270). 11 Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a. M. 1965, S. 42 f. 11 1. c., S. 107-132; vgI. die Kritik Gollwitzers an diesem Vorgang theologischer "Rationalisierung" 1. c., S. 204-206. 11 "Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee" (Hegel, Rechtsphilosophie, § 257). l' Vgl. Schopenhauers Polemik gegen die "Bornirtheit und Plattheit der Philosophaster, welche in pompösen Redensarten, den Staat als den höchsten Zweck und die Blüthe des menschlichen Daseins darstellen und damit eine Apotheose der Philisterei liefern." (parerga und Paralipomena, 2. Bd., Leipzig 1851, S. 211).

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A. Strafe zwischen Metaphysik und Spekulation

existentiellen Grundlage von Staat und Recht schwerlich nachvollziehen können; er wird möglicherweise sogar als Verbrechen wider das Recht empfinden, was dort geheiligte Substanz der Staatlichkeit überhaupt ist15 • Nicht zufällig nimmt die Metaphysik der Strafe ihren Ausgang von der Theologie; und noch a:n Hand der wissenschaftlichen Lebensgeschichte Hegels wäre nachzuweisen, daß das Verbrechen als Rechtsbruch ursprünglich kein bloßer Verstoß gegen vergängliche irdische Normen, sondern als Auflehnung gegen das Gesetz als das Höchste und Allgemeine, gegen das Absolute zu begreifen war 1t• Hier figurierte das Gesetz als eine "Macht", "welcher das Leben untertan ist, über welcher nichts, über welcher selbst nicht die Gottheit ist, denn sie ist nur die Gewalt des höchsten Gedankens, nur der Handhaber des Gesetzes"17. Nicht daß Strafe an eine "sakrale Zone" grenzte, wie Trillhaas gemeint hat18, sondern daß sie, gleichsam als Manifestation der Geltung jenes Absoluten, selbst sakralen Ursprungs ist. In der philosophischen Spekulation mit ihren logischen und teleologischen Implikationen hat sich dann die Säkularisierung jener Vorstellung vollzogen; aber selbst in der Abkehr von der theonomen Bestimmung der Strafe teilt die Spekulation deren Abneigung gegen die "Niederungen" der Empirie, die als vorgeblich ideenfeindliche dem Verdikt anheimfällt, positivistische Rechtfertigung des Bestehenden als eines Besonderen zu sein. So schleicht sich durch die Hintertür philosophischer Bestimmung der Strafe die verpönte Metaphysik wieder ein, wodurch die Idee der Strafe den Blick auf ihre eigene Realisation in der Wirklichkeit verstellt; und wäre diese auch nur eine Karikatur jener Idee 19 • 11. Strafe in der philosophischen Spekulation 1. Methodologische Probleme

Gewiß herrschen heute diese Vorstellungen nicht vor und sind keineswegs repräsentativ für die allgemeine Anschauung von Strafe20 ; und doch sind sie in gewisser Weise signifikant für unterschwellige Tenden11 HieJ,". geht es nicht darum.a9schließend~m Problem der Todesstrafe selbst Stellung zu nehmen, sondern nur darum, die Implikationen zu skizzieren, die sich für jene Strafart aus der Bejahung oder Verneinung der Metaphysik ergeben. 18 Theolog. Jugendschriften, S. 278. 17 1. c., S. 28l. 18 1. c., S. 45. U VgI. Engels, Marx, Die heilige Familie, hrsg. von Fetscher, Frankfurt a. M. 1967, S. 189. !O Hierzu etwa Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, Jus, 6 (1966), S. 377-387; Schmidhäuser, 1. c.; Noll, 1. c., mit weiteren Nachweisen.

H. Strafe in der philosophischen Spekulation

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zen der Strafbegründung, die metaphysisch untermauert werden soll, einerseits21 und für einen problematischen Hang zur Spekulation andererseits, der Strafe, wenn schon nicht für theologisch ableitbar, so doch im Wege diskursiven Denkens für logisch oder teleologisch jenseits der Erfahrung erfassen zu können glaubt22 • In diesem Sinne prägen tradierte Muster der Argumentation noch unsere heutige Auseinandersetzung mit der Strafe; und es scheint, als habe das 19. Jahrhundert, das mit einem so bedeutenden Aufwand an Scharfsinn um eine sinnvolle und taugliche Zweckbestimmung der Strafe bemüht war 23 , nichts als den Zwang zur Wiederholung hinterlassen. Noch jede Straftheorie jener Zeit siedelte, wenn sie irgend Anspruch auf philosophische und damit wissenschaftliche Bedeutung erhob eine andere als jene zählte also nicht -, auf dem Feld von Vernunftgründen und -gegengründen an, wo es galt, die Logik des besseren Arguments zu bewähren. Argumentationsbasis bildete stets die Gedankenwelt derer, die über die Strafe nachdachten; das Verhältnis von Denken und Sein mußte einer Anschauung, für welche die Realität nur als gedachte existierte, die Idee gewissermaßen jene erst hervorbrachte 2" unproblematisch erscheinen. Konsequenterweise blieb der Neuhegelianismus damit als Reproduktion jener Vorstellungswelt der These verpflichtet, daß "die Wirklichkeit ... ja überhaupt nur Wirklichkeit der Idee" sei25, woran Realität also erst seine Bestimmtheit habe. War Strafe aber nur, insofern sie gedacht wurde, dann war jede Ermittlung ihres Sinnes von selbst auf das spekulative Verfahren als das einzig zulässige verwiesen; und in deren Rahmen gewann die Kategorie der Logik, der Hegel selbst so entschieden gehuldigt hatte 26 , immense Bedeutung. Vielfach verselbständigte sie sich innerhalb der Diskussion um die Strafe in der Weise, daß sich die "richtige" Straftheorie aus möglichst lückenloser Aufzählung aller Strafgründe und rationaler Auseinandersetzung mit ihnen quasi von selbst herausschälen sollte. 11 Musterbeispiele hierfür: Bianchi, Ethik des Strafens, Neuwied 1966; Dombois, 1. C.; Frhr. v. Schlotheim, 1. c. U Dies gilt, trotz gewisser Zugeständnisse an die Empirie, auch heute noch für zahlreiche Arbeiten über die Straftheorie (vgI. z. B. Bockelmann, Vom Sinn der Strafe, Heidelb. Jb. V (1961), S. 25-39; Frhr. Ostman von der Leye, Vom Wesen der Strafe, Bonn 1959). 18 VgI. z. B. Nagler, Die Strafe, Leipzig 1918, S. 395-467; Loening, Über geschichtliche und ungeschichtliche Behandlung des deutschen Strafrechts, ZStrW, 3 (1883), S. 219-375. 14 VgI. Binder, Zur Lehre vom Rechtsbegriff, Darmstadt 1963 (1929), S. 22 f.; Grundlegung zur Rechtsphilosophie, Tübingen 1935, S. 5 u. Ö. 11 Binder, Rechtsbegriff, S. 28. M Wissenschaft der Logik,!. u. 2. Th., Nürnberg 1812 u. 1816; Rechtsphilosophie, Vorrede, V.

2 MQ])er-Dletz

A. Strafe zwischen Metaphysik und Spekulation

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So begegnet uns nach der Abkehr von den Strömungen des Utilitarismus und der Staatsnützlichkeit im Gefolge der Aufklärung zwischen Feuerbach und den Hegelianern jenes Tableau bekannter Gründe für die Gerechtigkeits- und Vergeltungstheorien und Gegengründe gegen eine zweckhafte Rechtfertigung des Strafrechts, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein den Primat der absoluten Lehren von der Strafe sichern sollte. Das antike Gesamtmodell der Gegenüberstellung beider spekulativ gewonnenen Positionen27 bot - auch und gerade außerhalb der Verpflichtung auf das System, der Kantianer und mehr noch Hegelianer unterworfen waren - die alleinige Grundlage für die. Bestimmung der Strafe; und methodisch "abweichendes Verhalten" - der Modebegriff einer konformistischen Gesellschaft, die darin den ersten Schritt zur Kriminalität sieht - mußte folgerichtig die Verurteilung als unwissenschaftlich hinnehmen. Dieses ehrwürdig zu nennende Verfahren, das fast gewohnheitsrechtlichen Charakter hat, ist in der Tat das bis heute übliche. Die ihm innewohnende Dialektik, die noch kürzlich Roxin und Schmidhäuser eindrucksvoll präsentierten28 , die Umkehrbarkeit vieler Argumente und die Gleichrangigkeit von Argumenten und Gegenargumenten also erweist allenfalls als richtig, was ohnehin schon bekannt ist: daß nämlich die Wahrheit und Richtigkeit einer im Wege philosophischer Spekulation ermittelten Strafbestimmung nur die dieses Systems als eines philosophischen selbst ist, im Bereich der Idee verharrt, jenseits davon aber, in der Wirklichkeit, möglicherweise versagen muß. So kann nicht überraschen, daß ein solcher Denkprozeß, stets zurückverwiesen auf gewisse Stereotypen der Vergeltung, Sühne, Abschreckung und Besserung, sich in der Monotonie des Immergleichen, des deja-vu2t von nietzscheanischem Charakter - nicht immer Bedeutung - erschöpft; daß dieser Prozeß als eine unaufhörliche Rekapitulation von raisonnements erscheinen muß, die sich wider ihr eigenes Verfahren kehren, es zumindest in Frage stellen. So hat etwa eine ganze Literatur das Wesen der Strafe in der Verge:ltung gesehen und tut dies bis zum heutigen Tage noch". Scheler hat 11 Wobei etwa Plato und Aristoteles nur mit Vorbehalt als Protagonisten der vel'llChiedenen Richtungen genannt werden können (vII.. z. B. Smmid· häuser, 1. c., S. 16 f., S. 20 f;Ginsberg, On justice in society, London 1965,

p. 180). 28 Roxin, 1. C., S. 377-381; Schmidhäuser, 1.

C., S. 39-60. Zum erlebnispsychologischen Aspekt dieses Vorgangs Theo Hermann, Das Deja-Vu-Erlebnis, in: Psyche, XIV (1960-61), S. 60-76. 80 Vg1. etwa Bockelmann, Das Problem der Kriminalstrafe in der deutschen Dichtung, Karlsruhe 1967, S. 10; Sjorza, Rechtsphilosophie, München 1966, S. 133; Henrici, Die Begründung des Strafrechts in der neueren deutschen Rechtsphilosophie, Aarau 1961, S. 27-31; Kelsen, Aufsätze zur Ideolo29

II. Strafe in der philosophischen Spekulation

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das in der Nachfolge Kants nachdrücklich ausgesprochen: "Die Strafe z. B. kann den Zwecken des Gesellschaftsschutzes, der Vorbeugung, der Besserung der Verbrecher usw. dienen; aber ihr Wesen - die Vergeltung - bleibt von diesen Zwecken unberührt31 ." Die Abkunft dieser kategorialen Bestimmung von der Ontologie und Phänomenologie ist unverkennbar. Dagegen wäre - vom vorausgesetzten Standpunkt aus - auch nichts zu erinnern, trüge eine solche erkenntnistheoretische Position einen Maßstab zur praktischen Handhabung der Strafe ein und verwiese sie nicht bloß auf die Tat - oder Täterschuld zurück, an der sich jede Theorie von Strafe ohnedies zu orientieren hatS2 ; es sei denn, man erblickte gerade in der Bezugnahme auf die Schuld jenes repressive Moment33 und folgte damit einer alten These, die heute mehr und mehr an überzeugungskraft verliert34 • Die Schwierigkeit, vom postulierten, erschauten oder wie immer vorgefundenen Wesen der Strafe zu dieser selbst zu gelangen, ist indes in der Sicht der dialektischen, aber auch der "neopositivistischen" Kritik ein Problem der "Wesensphilosophie" allgemein35 und kein spezielles der Straftheorie selbst. Manches spricht deshalb dafür, daß die neuerdings immer mehr aufkommende Frage nach dem Sinn der Strafe eher an den Gegenstand giekritik, Neuwied 1964, S. 220 f.; Maurach, Strafrecht Allgern. Teil, 4. A., Karlsruhe 1965, S. 49 f., 63-66; Hardwig, Tat- und Täterstrafrecht im Licht der Strafrechtsreform, MSchrKrim. 42 (1959), S. 1-25 (4); Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß, Frankfurt a. M. 1954, S. 71 ff.; Rombach, Das Wesen der Strafe, in: Pädagogik der Strafe, Freiburg i. Br. 1967, S. 3-31; Frhr. Ostman von der Leye, 1. C., S. 148; Betschart, Das Wesen der Strafe, Einsiedeln 1939. So neuerdings auch das BVerfG (NJW 67, 1656): Die Kriminalstrafe "ist unbeschadet ihrer Aufgabe, abzuschrecken und zu resozialisieren - Vergeltung für begangenes Unrecht". 81 Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, 2. A., Bern 1963, S. 195. Zu Schelers Straftheorie etwa Noll, I. c. S. 7; Naegeli, Das Böse und das Strafrecht, München 1966, S. 30 ff. IZ Zum "konditionellen" Charakter der Schuld im Hinblick auf die Strafe Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, Karlsruhe 1967, S. 31; Bockelmann, 1. C., S. 12; Rombach, 1. c., S. 17-21. Von der Antiposition des Maßnahmenrechts her neuerdings bestätigend Mergen, Die Antwort der Gesellschaft auf das Verbrechen - Strafe oder Maßnahme, in: Die deutsche Strafrechtsreform, München 1967, S. 40-55 (46). Ba Vgl. Bockelmann, 1. c., S. 12-14. U Vgl. Roxin, 1. c., S. 378; Arthur Kaufmann, Gedanken zur Strafrechtsreform, in: Schuld und Strafe, Köln 1966, S. 292-327 (295); Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldgedankens im Strafrecht, JZ, 22 (1967), S. 553-560 (556 f.); NoH, 1. C., S. 6-9; Maihofer, Menschenbild und Strafrechtsreform, in: Gesellschaftliche Wirklichkeit im 20. Jahrhundert und Strafrechtsreform, Berlin 1964, S. 5-28 (16-18). H VgI. Adorno, 1. c., S. 67 ff., 102 ff. Repräsentativ für die "Wesensphilosophie" etwa Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. A. 1954, S. 68 ff. Kritisch zum "Wesensbegriff" auch Topitsch, Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, Neuwied 1967, S. 56.



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heranführt38 , wiewohl dann die innere Legitimation der Unterscheidung von Wesen und Sinn zu erweisen wäre. Doch wie immer es um deren begriffliche Festlegung im einzelnen bestellt sein und diese ihren idealistischen Ausgangspunkt verleugnen mag, bleibt sie letztlich der Spekulation verhaftet37 , weshalb Adorno einer als hilflos gebrandmarkten Sozialwissenschaft vom Strafrecht noch die letzte Krücke philosophischer Absicherung nehmen zu können meinte: "Wo die Wissenschaft die Entscheidung des von ihr Unauflöslichen von der Philosophie erhofft, empfängt sie von dieser nur weltanschaulichen Zuspruch38." 2. Zur Genauigkeit von Begriffsbestimmungen

Der "Wiederholungszwang" in der Argumentation um Sinn und Zweck der Strafe ist darum durch das methodologische Vorgehen bedingt. Bekannte Gründe für die absoluten und relativen Straftheorien, die teilweise schon bei Heinrich Heine nachzulesen sind39 , feiern im Rahmen der Strafrechtsreform - je nachdem - fröhliche oder traurige Urständ40 • Man wähne deshalb nicht, diese wohl bedeutendste Kontroverse innerhalb der jüngeren Geschichte der Strafrechtswissenschaft habe sich im Zeitalter der sog. Vereinigungstheorie 41 überlebt, als welches unsere Epoche gemeinhin gilt; und die Auseinandersetzung zwischen der klassischen und der modernen Schule habe nur noch historische Bedeutung42 • Sie mag an Schärfe verloren haben, weil die kriminc>.lpolitischen Ergebnisse der verschiedenen Positionen nicht allzu weit

a. Vgl. z. B. Welzel, Deutsches Strafrecht, 10. A., Berlin 1967, S. 231 f.; Frhr. von Schlotheim, 1. c., S. 9; SchmidhäuseT, 1. C., S. 14 f., 39 ff. n Vgl. AdoTno, 1. c., S. 25. as Vgl. 1. C., S. 213. Wobei freilich die Einschränkung auf tradierte Bestände der idealistischen und phänomenologischen Philosophie mitspielen mag (vgl. LangemejeT, Der Jurist und die Philosophie, Karlsruhe 1964, S. 5). 3D Gefängnisreform und Strafgesetzgebung (Paris, Juli 1843), in: Werke, Bd. 10, S. 100 ff. Vgl. auch Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 313 f. 40 Vgl. Reigl, Vergeltungsstrafe und Zweckstrafe nach den Arbeiten zum Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches 1958, Diss. jur. München 1960, S. 17 ff., Sinn der Strafe und Strafrechtsreform, ZStrW, 73 (1961), S. 634-645; Middend.orJi.Der Zweckiedanke im Strafrecht, in: Kriminalpolitische Gegenwartsfragen, Wiesbaden 1959, S. 81-90; Lang-HinTichsen, Betrachtungen zur Strafrechtsreform, Paderborn 1959, S. 53-140 (105-112); vgl. auch Naegeli, 1. C., S. 30--53; Eb. Schmidt, Vergeltung, Sühne und Spezialprävention, ZStrW, 67 (1955), S. 177-195; RoedeT, Vergeltungsidee und Vorbeugungsgedanke im Spiegel der österreichischen Strafrechtsreform, JBI. 83 (1961), S. 137-144. Vgl. ferner das Referat von Gallas auf der Strafrechtslehrertagung 1967. 41 Hierzu z. B. Bockelmann, Zur Reform des Strafensystems, JZ, 6 (1951), S. 494-498 (495); SchmidhäuseT, I. c., S. 26 f. 4! Wie hier auch Reigl, 1. c., S. 29; vgl. ferner SchüleT-SpTingoTum, Die Rechtsstellung des Gefangenen, Stuttgart 1968, S. 158-162 (im Erscheinen).

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voneinander entfernt scheinen; doch existiert ihr gedankliches Stereotyp fort. Denn das Trugbild einer Vereinigungstheorie kaschiert nur mühsam die innere Unwahrhaftigkeit eines Strafbegriffs, der die Gleichrangigkeit verschiedener Zielsetzungen vortäuscht, während in Wahrheit die relativen Strafzwecke Bedeutung nur im Rahmen des absoluten Verständnisses der Strafe entfalten können und sollen43 • Allenfalls die These Peters, daß es die Theorie der Strafe überhaupt nicht gebe, weil diese jeweils nach Tat und Täter differenzieren müsse44 , könnte solchem Einwand entgehen. Man mag daher, im Blick auf die neuere Geschichte der Straftheorien, mit gutem Grund beklagen, daß tieferer Sinn in der Unterscheidung von Vereinigungs- und Vergeltungstheorien nicht zu finden ist. Noch schlechter aber wäre es um eine Vereinigungstheorie bestellt, die ihrer Bezeichnung gerecht werden und eine Position jenseits der beiden Antipoden beziehen wollte. Vom Boden absoluter Lehren von der Strafe aus wäre denn doch besser Richard Schmidts - für den Verbrechensbegriff gegebene - Empfehlung, zu Hegel zurückzukehren 45 , als Anerkennung gedanklicher Klarheit der Auflösung des Strafbegriffs im System heterogener Zweckbestimmungen vorzuziehen. Mit Recht hat Roxin darum - wenn auch vom Standpunkt der Rechtspraxis aus - vor einer solchen Kumulierung von Eingriffsmöglichkeiten gewarnt". Was hier unter dem Vorzeichen des Eklektizismus Strafe als Ganzes in den Griff zu bekommen sucht, hält Hegelscher Kritik, auf die sich zu berufen eine wahrhaft absolute Theorie nicht scheuen müßte 47 , ca Schon Heget, Rechtsphilosophie, § 99 (Anrn.); heute z. B. Jagusch, Die Praxis der Strafzumessung, Berlin 1956, S. 3; kritisch zur Vereinigungstheorie SchüleT-SpTingoTum, 1. C., S. 162; vgI. auch Heinitz, ZStrW, 70 (1958), s. 3; StTatenweTth, Schuld und Sühne, Evang. TheoI. 18 (1958), S. 337-353 (348); Noht, Der Sinn der Strafe, in: Aufgaben und Wege der Sozialpädagogik, Weinheim 1965, S. 36--44 (37). 44 Zur Theorie der Kriminalstrafe, in: Pädagogik der Strafe, Freiburg i. Br. 1967, S. 375--404 (379). "Relativierend und differenzierend das Strafproblem anzugehen scheint dem wissenschaftlichen Zeitgeist ... adäquat" (SchüleT-

Springorum, 1. C., S. 158). 45 Rückkehr zu Heget, Tübingen 1913. 48 1. C., S. 381. 4T Hegets Straftheorie bedürfe materieller Auffülllung· (vgI. Reigt, S. 24). NoH hält heute eine Auseinandersetzung mit den Straftheorien Kant und Heget offensichtlich für eine historische Angelegenheit (1. c., Anm. 10). Auf Kant trifft dies weitgehend zu; auf Heget nur, soweit es

1. c.,

von S. 6 sich um das übliche "voraussetzungslose" Verfahren handelt, das seine Strafphilosophie nach Büchmannscher Art traktiert und Zitate a la carte goutiert. Im übrigen entspringt die verbreitete Unsitte, Kant und Heget in straftheoretischer Hinsicht als identisch zu begreifen, so daß man gut und gerne auf einen von beiden verzichten könnte (vgI. z. B. Mergen, 1. C., S. 45), entweder mangelndem Unterscheidungsvermögen oder schlichter Unkenntnis. Die solchem Vorgang sich zudem assoziierende Vorstellung von Castor und Pollux, Max und Moritz ist schwer erträglich.

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nicht Stand, weil ihre begriffliche Unzulänglichkeit allzu offen zutage liegt. Wollen die absoluten Straftheorien den ihnen vindizierten Gehalt an Wahrheit und Richtigkeit nicht selbst dementieren, dann müssen sie sich zu jener begrifflichen Präzision zwingen, die ihre methodische Basis bildet. Jede Theorie, die Vergeltung oder Sühne als Sinn der Strafe begreift, ohne diese Begriffe exakt zu bestimmen, setzt ihr Wesen in den Schein oder plädiert in Wahrheit gar um ihrer eigenen Nichtigkeit willen für die Zwecke der Abschreckung oder Besserung, denen sie doch so entschieden widersprechen möchte. "Solange die Begriffe hierüber nicht bestimmt erkannt sind" - statuiert Hegel in seiner Rechtsphilosophie - "so lange muß Verwirrung in der Ansicht der Strafe herrschen48 ." Wer der Wesenlosigkeit gegnerischer Auffassungen spottet, darf sie nicht selbst zum System erheben. a) Das erste Beispiel: Vergeltung

So mag Vergeltung einst einen eindeutigen Sinngehalt gehabt und der Gebrauch des Wortes für die Sache selbst gestanden haben. Obwohl der Begriff nach wie vor im Schwange ist, läßt man sich jedoch selten genug herbei, ihn genau zu bestimmen. Schon Kohlrausch hat darauf hingewiesen, daß es sich "hier wesentlich um einen Streit um Worte handelt und alles auf die nähere Ausfüllung des Wortes "Vergeltung" ankommt", wenngleich ihm selbst an der berufenen Genauigkeit nicht eben viel gelegen hat 48 ; und FreudenthaI ist gleichfalls von der Existenz verschiedener Vergeltungsbegriffe ausgegangen50 • In um so stärkerem Maße nähert sich heute der Begriff der Vergeltung den von Topitsch so beliebten Leerformeln, die durch die Beliebigkeit ihrer inhaltlichen Fixierung und ideologischen Manipulierbarkeit ein probates Versuchsfeld für philosophische Spekulation abgeben~l. "Die Formel der Vergeltung" - bemerkt Kelsen - "ist ebenso inhaltslos wie die der Gleich.. 1. C., § 99. ft

Sollen und Können als Grundlagen der strafrechtlichen Zurechnung. in:

Festgabe f. Gate-rbode, Berlin 1910, S. 1-34 (18); vgl. ferner J. Stern; über

den B~gr~Uder Verielt~ ~b::W, 2.4 (1904), S .. 35-52; R. Schmidt. Die Strafrechtsreform in ihrer staatsrechtlichen und politischen Bedeutung, Leipzig 1911, S. 53 ff.; W. Mittermaier, Die Straftheorien in kriminalpsychologischer Betrachtung, SchwZStr. 39 (1926), S. 137-147 (141 ff.). 10 Der Sinn der Strafe, in: MSchrKrim. 17 (1926), S. 22-32 (26); vgl. auch Mütter-Dietz, 1. C., S. 35; Hellmer,Erziehung und Strafe, Berlin 1957, S. 178. 51 über Leerformeln, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift für V. Kraft, Wien 1960, S. 233 ff.; Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, 2. A., Neuwied 1966, S. 37 f., 158; Degenkolbe, über logische Struktur und gesellschaftliche Funktionen von Leerformeln, Kölner Zeitschr. f. Soziologie, 17 (1965), S. 327-338.

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heit"; "ja sie ist selbst eine Gleichheitsformel, indem sie nichts anderes besagt, als daß dem Guten Gutes, dem Bösen Böses, also Gleiches dem Gleichen oder ... Jedem das Seine zuteil werden solle52 ." Darum müßte, wer den Begriff verwendet, in der Unterscheidung seiner je aktuellen oder historischen Sinngehalte herauspräparieren, was gegenwärtig damit gemeint ist. Allein in der Theoriengeschichte sind wenigstens drei verschiedene Vorstellungen von Vergeltung hervorgetreten: das alttestamentarische Talionsprinzip als das archaische Modell des "Auge um Auge, Zahn um Zahn"53, das Heinrich Heine das "alte, harte Gesetz der Urzeit nannte"54; der Grundsatz der Tatvergeltung, wie er dem RStGB von 1871 vindiziert wird 55 ; und schließlich das Prinzip der Schuldvergeltung, das dem E StGB 1962 zugrundeliegen soll". Das Talionsprinzip erblickt Vergeltung in der Reproduzierung der Tat, diesmal zum Nachteil des Täters, der Opfer deshalb nicht heißen kann, weil die Wiederholung des verwerflichen Geschehens einer Umkehrung der Wertung unterliegt. Was der Täter einem anderen zugefügt hat, soll er selber leiden; das Maß der Annäherung an den ursprünglichen Vorgang spiegelt das der (irdischen) Gerechtigkeit57 . Diese überaus konkrete Nutzanwendung der Vergeltungstheorie wurde im Zuge wachsender Abstrahierung, der Abkehr vom Sinnfälligen des äußeren Strafgeschehens, verlassen. Die Tat diente freilich nach wie vor als Anknüpfungspunkt und Rechtfertigungsgrund für die vergeltende Strafe. Vergeltung verstand sich nunmehr aber als realsymbolischer Ausgleich des Rechtsbruchs durch die Strafe: real insofern, als nach wie vor der äußere Akt der Bestrafung dem Täter ein Übel auferlegte und Mißbilligung der Tat zum Ausdruck brachte; symbolisch jedoch insofern, als das Äquivalent für die Tat nicht mehr in dem gleichen Übel gesehen wurde, das die Tat produziert hatte, sondern in einer gedachten Wertgleichheit, die eine Abstufung der Sanktionen 52 1. c., S. 220 f. Anders Perelman, Über die Gerechtigkeit, München 1967, S. 29 ff. (vg1. auch Viehweg, .1. C., S. 5). 53 "Auge um Auge, Zahn um Zahn, am besten noch mit einer Zugabe: auf einen Schelm werden anderthalbe gesetzt." (Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt a. M. 1961, S. 277). 84 Gefängnisreform usw., I. C.; vg1. auch Kelsen, Vergeltung und Kausalität, TheHague 1941, S. 59 ff.; Bauer spricht I. c., S. 13, mit Bezug auf das heutige Strafrecht vom "nahezu archetypischen Charakter des Vergeltungsgedankens". . S5 Vg1. Eb. Schmidt, Probleme staatlichen Strafens in der Gegenwart, in: Justitia Fundamentum Regnorum, Tübingen 1947, S. 51-74. 5ft Vg1. Begr. z. E., S. 96; Schüler-Springorum, 1. C., S. 169, Anm. 85. 87 So noch Marat, Phln einer Criminalgesetzgebung, 1790 (Berlin 1955), S. 51 f.: "Die Art der Strafe soll der Natur der Verbrechen entnommen werden." .

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entsprechend der unterschiedlichen Schwere der Rechtsgüterverletzungen zur Folge hat58• Die aktuelle Theorie von der Schuldvergeltung orientiert sich im Grundsatz an einem analogen Schema. Auch sie geht davon aus, daß Strafe die Tat und den durch sie hervorgebrachten Schaden in der Rechtsgüterwelt, wenn zwar nicht real, so doch rechtspsychologisch, symbolisch auszugleichen habe; nur verändert sie den Anknüpfungspunkt. Nicht das bloße äußere Geschehen der Tat, das als Unwiderrufliches ohnedies irreparabel ist, sondern die in ihr sich manifestierende Schuld des Täters als eine tatbezogene soll durch die Bestrafung getilgt werden. Diese Subjektivierung des Vergeltungsbegriffs, deren dogmatischen Gründen wir hier nicht nachzugehen haben, hat jedoch das ursprüngliche Konzept der Repression zumindest formal weitgehend unberührt gelassen. Signifikant für den geschichtlichen Wandel der Vergeltungstheorie ist somit vor allem eine wachsende Tendenz zur Symbolisierung und "Idealisierung" der vergeltenden Funktion der Strafe, gleichsam das Eingehen der Materie in die Idee, die nur an begrifflicher Bestimmtheit ihre Wahrheit hat. Freilich könnte (und müßte) in Weiterverfolgung der Gedanken Topitsch's nach der Definition der Schuld gefragt werden, welch letztere es nach dem E StGB 1962 auszugleichen gilt; doch mag diese Frage hier auf sich beruhen5'. Die Problematik der Vergeltungstheorie freilich ist insoweit nicht nur die mangelnder definitorischer Bestimmung durch ihre Anhänger, sondern ganz allgemein die ihrer begrifflichen Fixierung durch ihre Interpreten überhaupt. Denn noch immer schwelt der Meinungsstreit darüber, ob Vergeltung mit Rache gleichzusetzen oder seiner Natur nach ein aliud sei. So hat man ethnologisch oder psychologisch Vergeltung wiederholt als Rache gedeutet oder aus dieser hergeleitet80 und tut dies heute &8 Hegel hat bekanntlich diese Gleichheit von Tat und Strafe nicht "in der spezifischen, sondern in der an sich seienden Beschaffenheit der Verletzung, - nach dem Werte derselben" gesehen (Rechtsphilosophie, § 101). Ebenso noch Marx 1842/43 in seinen "Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz", in: Marx, Engels, Werke, Bd. I, Berlin 1957, S. 109--147; hierzu Helfer, Du Kavaliersdelikt, MSchKrim. 50 (1967), S. 175-192 (186 f); später löste sich Marx aum 1n der Strattheorle von Hegel. 59 Vgl. hierzu Müller-Dietz. 1. C., S. 44-57, 59-73; Arthur Kaufmann, JZ, 22 (1967), S. 555-557, der dem Schuldprinzip bemerkenswerterweise eine kriminalpolitische Funktion zuspricht. GG Vgl. Steinmetz, Ethnologische Studien"zur Entwicklung der ersten Strafe, 2. A., Groningen 1928, I, S. 100; hierzu Kelsen, Vergeltung und Kausalität, S. 50-59; R. Schott, Ethnologische Forschungen, in: Handwörterbuch der Kriminologie, 2. A., hrsg. von Sieverts, I, Berlin 1966, S. 191-205. 'Ober den geschichtlichen Wechsel des Strafverständnisses Bittner and Platt, The meaning of punishment, in: Issues in Criminology, 2 (1966), pp. 79-99.

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nochtl. Insbesondere bei Schopenhauer findet sich die bemerkenswerte Feststellung, daß jeglicher Vergangenheitsbezug Strafe in Rache verwandle. "Alle Vergeltung des Unrechts durch Zufügung eines Schmerzes ohne Zweck für die Zukunft ist Rache und kann keinen anderen Zweck haben, als durch Anblick des fremden Leidens, welches man selbst verursacht hat, sich über das selbst erlittene zu trösten1J2." Ähnlich hat Durkheim die vergeltende Strafe zumindest teilweise aus der Rache hergeleitet und auf dieser bis heute beachteten BasisG3 das imponierende Bauwerk seiner Straftheorie errichtett4 • Freilich hat es an Versuchen, sich solcher, als mißlich empfundener Nachbarschaft zu entledigen, nicht gefehlt; und Nagler hat jener These mit der Qualifizierung als wissenschaftlich tiefststehende ... Verwechslung" von vornherein das Mandat entziehen zu können geglaubtes. Die "assoziative Besetzung" der Vergeltungsidee mit Rachevorstellungen war indes damit nicht abgetan, was etwa R. v. Frank daran hat zweifeln lassen, ob es überhaupt sinnvoll ist, am Ausdruck Vergeltungsstrafe festzuhalten". Doch garantiert ein solches Verfahren schon deshalb keine Lösung des Problems, weil sich den Angriffen auf die Vergeltungstheorie vielfach eine Identifizierung von Strafe schlechthin mit Rache verbindet. Dies führt wiederum zum Ausgangspunkt zurück, daß alles davon abhängt, was unter den einzelnen Begriffen, Vergeltung und Rache, zu verstehen ist; ihre Freistellung von negativen Komponenten, wie es hinsichtlich der Vergeltungstheorie für deren Anhänger 81 "Punishment can be considered as having the same dimension as revenge" (Heider, The Psychology of Interpersonal Relations, 4. Print., New York, London, Sydney 1965, p. 273; vgl. ferner Szerer, La Morale Lai'que de la Punition, Revue intern. de Criminologie et de Pol. Techn. 18 (1964), pp. 98---105 (99); Mergen, 1. c., S. 45; Eysenck, Crime and Personality, Boston 1964, p. 147; früher etwa Wittels. Die Welt ohne Zuchthaus, Stuttgart-LeipzigZürich 1928, S. 76; Margorin, The Element ofVengeance in Punishment, Journ. of Criminal Law, Criminology, 24 (1933), pp. 755-767). 81 Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 387; vgl. auch Bauer, 1. c., S. 15; Gollwitzer,l. c., S. 36 f. (zit. nach: Universitätstage 1964). ea Vgl. R. König, Vorwort zu: Gramatica, Grundlagen der Defense Sociale, 1. T., Hamburg 1965, S. 10. 14 "La peine si generale du talion n'est-elle pas une satisfaction accordee a la passion de la vengeance?" "La peine est restee, du moins en partie, une oeuvre de vengeance." (De la Division du Travail Social, 7. Ed., Paris 1960, pp. 53, 55; insgesamt vgl. pp. 35-78); hierzu Toby, Is Punishment Necessary? Journ. of Criminal Law, Criminology and Pol. Science, 55 (1964), pp. 332-337

(333) . •• 1. c., S. 672-691 (672) .

.. "Denn diese Bezeichnung führt sogleich in die Fragen der Weltanschauung hinein, und je verschiedener sich der Begriff der Vergeltung fassen läßt, um so leichter kann man gegen ihn ankämpfen." (Vom intellektuellen Verbrechensschaden, AcP, Beil. H. z. 13. Bd., NF, 1931, S. 47-59 (56).

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sich von selbst verstehtl7 , wie sie aber Durkheim in Bezug auf die Rache in gewisser Weise vorzunehmen gewagt ha~8, mag indes die Situation schlaglichtartig verändern und bis dato virulente Emotionen binden. b) Das zweite Beispiel: Sühne

Während die verschiedenen Vorstellungen von der Vergeltung ihren je eigenen historischen Standort haben oder gar weltanschaulich in be-

stimmter Weise fixiert sind und nur von dort her zureichend zu erfassen sind, erschließt sich der theologische - nicht der rechtsgeschichtlichmittelalterliche1l9 - Begriff von Sühne als gleichsam geschichtsloser inhaltlicher Bestimmung leichter70• Denn daß er mit Vergeltung nichts gemein hat, vielmehr in der Unterscheidung von ihr lebt, sollte füglich kein Diskussionsgegenstand mehr sein und die Absurdität einer "vergeltenden Sühne" straftheoretischer Distinktion selbstverständlich71 • Aber auch zu Recht hat die Theologie den Begriff von Sühne bis heute für sich reklamiert; die Umsetzung eines gegenwärtig wie ehedem biblischen Begriffs in die Rechtssprache hat ihm von seiner ursprünglichen Bedeutung - wenn anders Worte noch ihren Sinn haben und nicht wie Münzen austauschbar sein sollen - nichts nehmen können. Vor der Identifizierung von Strafe und Sühne steht darum deren theologische Interpretation, und nur soweit diese Strafe mit Sühne zur Deckung bringen kann, ist Gleichsetzung beider statthaft72 • "Nur von 17 Z. B. Schmideberg, Prinzipien der Kriminalpsychotherapie, MSchrKrim. 49 (1966), S. 145-151 (145) . • 8 Vgl. 1. c., p. 54. " Vgl. Bader, Schuld- Verantwortung- Sühne als rechtshistorisches Problem, in: Schuld, Verantwortung, Strafe, Zürich 1964, S. 61-79. 70 Z. B. Rendtorff, Die Begründung des weltlichen Strafrechts in der theologischen Ethik seit Schleiermacher, in: Die weltliche Strafe in der evangelischen Theologie, WittenjRuhr 1959, S. 9-97 (61 ff.); Ratschow, Vom Sinn der Strafe,!. C., S. 108--110; Trillhaas, I. c., S. 43-48; vgl. auch Stratenwerth, 1. C., S.342fL Tl Vgl. Naegeli, 1. C., S. 35-42; Schmidhäuser, 1. C., S. 45-48; Noll, 1. c., S. 8 f.; Schüler-Springorum, 1. c., S. 171 ff.; Trillhaas, 1. c., S. 47; Spendel, 1. c., S. 105; weitere Nac:t\w. b. M«ller-Dtefz, 1. c., S. 3~, Anm. 34. Beispielhaft HeUmuth Jl4"a.yery Strafrecht. Allgern.Teil, Stuttgart u. Köln 1953, S. 33: "Die Strafe ist gerechte und sühnende Vergeltung." Vgl. ferner Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, Köln 1962, S. 140. Treffend dagegen Arthur Kaufmann, JZ, 22 (1967), S. 556:

"Sühne ist nicht Vergeltung, ganz im Gegenteil. Vergeltung ist eine übelzufügung wegen eines übeltuns ... Sühne hingegen ist eine aktive sittliche Leistung." TI Dies geht gegen ein verbreitetes Verfahren (vgl. z. B. Baumann, Kleine Streitschriften zur Strafrechtsreform, Bielefeld 1965, S. 154-157). Zur "sühnenden Funktion der Strafe" etwa Peters, Zur Theorie der Kriminalstrafe, 1. C., S. 383 f.; Bockelmann, Heidelb. Jb., 1. c., S. 498.

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der Hoheit eines in sakralen Hintergründen wurzelnden Sühnegedankens her erschließt sich auch der Gedanke der Versöhnung73." Danach meint Sühne die dreifache, freiwillige und spontane Aussöhnung des Täters mit Gott, dem Mitmenschen und mit sich selbst durch bereitwilliges, ja sogar freudiges Ertragen, Auf-Sich-Nehmen eines Leides. Sühne ist durch ein triadisches Verhältnis gekennzeichnet, dessen Elemente unauflöslich miteinander verknüpft sind; denn nur allseitige Aussöhnung befreit den Täter von der Last der Schuld, die auf ihm ruht. Sühne im theologischen Verständnis duldet mithin weder "unaufgelösten Restbestand" in mitmenschlicher Beziehung noch irgendwelchen theonomen Vorbehalt, sondern fordert restlose Preisgabe all dessen, was sich durch die Schuld des Täters als störend und verletzend im Verhältnis zu Gott und der Mitwelt in den Weg gestellt hat. Erleiden in diesem Sinne heißt aber nicht passive Hinnahme eines übels, sondern setzt Aktivität und Spontaneität als äußere Momente innerer Bereitschaft zur Sühneleistung voraus. In Hegels These von der Selbstbefreiung des Täters durch die Strafe als einem Akt spontaner Selbstwerdung, Zu-Sich-Selbst-Kommens74 leuchtet schlaglichtartig auf, worin Sühne gründet. Von daher erscheint die Frage zulässig, ob und inwieweit die Kriminalstrafe dem theologischen Vorverständnis von der Sühne entspricht, und ob sich nicht die Wege beider - eben um der Respektierung ihrer Eigensphären willen - trennen müssen. Sühne teilt hiernach mit den Vergeltungstheorien klassischer Observanz den metaphysischen Ausgangspunkt, der in philosophischer Sicht an die Spekulation anknüpft. Jede Auseinandersetzung mit ihr weiß sich daher zurückverwiesen auf die methodologische Problematik spekulativer Strafzweckbestimmung, wie sie eingangs skizziert wurde.

Trillhaas, 1. C., S. 48. Vg1. über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (SW, 1. Bd., Stuttgart 1927, S: 435 ff., bes. S. 477 ff.). Zwang sei "nichts Reelles, nichts an sich" (S. 480); er könne "als eine Bestimmtheit und als schlechthin Endliches" daher auch nicht das Wesen der Strafe charakterisieren (S. 485). In der absoluten Negation der einander entgegenstehenden Bestimmtheiten des Subjekts offenbare sich erst die (absolute) Freiheit; denn dadurch werde nicht gezwungen, sondern bezwungen. Solch erweise "ist die Strafe Wiederherstellung der Freiheit... In dieser ihrer Bestimmung ist also die Strafe etwas an sich, wahrhaft unendlich und etwas Absolutes, das hiermit seine Achtung und Furcht in sich selbst hat; sie kommt aus der Freiheit, und bleibt selbst als bezwingend in der Freiheit" (S. 485). Hierzu etwa Trillhaas, 1. C., S. 52; Flechtheim, Die Funktion der Strafe in der Rechtstheorie Hegels, in: Von Heget zu Kelsen, Berlin 1963, S. 9-20 (12 f.). 73

7f

B. Versuche empirischer Slrafbegründung I. Anfänge im 19. Jahrhundert 1. Psycllologismus bei Feuerbadl Daß Kritik an einem solchen Verfahren sich hingegen an der Empirie als Erfahrungsbasis der Strafe versuchen wird, liegt auf der Hand. Die Absage an die Metaphysik der Strafe impliziert die Bejahung oder zumindest Auseinandersetzung mit der Realität. Bemühungen, das Strafproblem auf diesem Weg in den Griff zu bekommen, um von da aus eine tragfähigere Grundlage für die Rechtfertigung und Zielsetzung der Strafe zu finden, sind spätestens seit Feuerbach immer wieder unternommen worden; wobei Feuerbach nicht zufällig in solchem Zusammenhang erscheint, hat er doch in mehrfacher Hinsicht eine Wende in der Strafrechtswissenschaft eingeleitet1 • In gewisser Weise repräsentativ für derartige Ansätze zur Einbeziehung der Empirie in die Methodik des Forschens ist seine bekannte Antrittsrede "über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft" selbst gewesen2 • Wenn sich darin auch noch nicht die These von der Priorität des Erfahrungswissens niedergeschlagen hat3 , so bleibt doch als bemerkenswertes Faktum festzuhalten, daß die Wirklichkeit hier rechts(mit)prägende Bedeutung erlangen sollte. Feuerbach fand den Rechtsstoff in der Erfahrung und nur durch sie erkennbar'. über jedweder Rechtsschöpfung vorausliegenden Tatsachen vermag der Gesetzgeber nichts. "Jene gesetzlichen Voraussetzungen (= Tatsachen) liegen außer den Grenzen der Gesetzgebung selbst ... Der Gesetzgeber soll von ihnen und in Ansehung ihrer etwas gebieten, 1 ViI. vor allem Eb. Schmidt, Einführung in die Geschidlte der deutschen Strafrechtspftege, 3. A., Göttingen 1965, S. 232-246; Radbruch, Paul Johann An~lmFeul!'Tbam, 2. A., GOtttngen 19M; Hartmann, P. J. A. Feuerbachs politische und strafrechtliche Grundanschauungen, Berlin 1961; Coenders, Richtlinien aus den Lehren Feuerbachs für die moderne Strafrechtsreform, Tübingen 1914; GTÜnhut, Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, Hamburg 1922. I Landshut 1804; vgl. auch Blick auf die teutsche Rechtswissenschaft, München 1810. t Die Verbindung von Philosophie und Empirie bringt schon der Titel zum Ausdruck (vgl. zum Verhältnis beider 1. c., S. 32 ff.). , Vgl. 1. c., S. 34.

I. Anfänge im 19. Jahrhundert

29

aber er soll und kann nicht über sie gebieten5 ." Diese Abkehr von der Unfruchtbarkeit bloßer Spekulation spiegelte sich auch in der psychologischen Zwangstheorief , deren rationalistischer und psychologistischer Charakter freilich all zu sehr verdeckte, daß es ihrem Schöpfer vornehmlich darum ging, dem Strafgesetzgeber ein praktikables, wirksames und damit an der Lebenswirklichkeit orientiertes Modell von Strafe zu liefernT• 2. Die vorgebliche Empirie der Nachfolger

Feuerbachs Beispiel hat Nachfolge gefunden, doch vielfach in Form unkritischer Assoziierung von spekulativem Denken und - vermeintlich - realitätsgetreuer Erfassung des in der sinnlich wahrnehmbaren Welt Existierenden. Freilich stand dabei nicht selten die Verwechslung von Geschichte und Empirie Pate, wobei sich die Spekulation in Form geschichtsphilosophischer Reminiszenzen wiederum Eingang in die Theorie der Strafe zu verschaffen wußte. Oft genug gerierten sich darum - und das gilt insbesondere für das spekulative Denken der Hegelianer, an der Spitze Abegg und Köstlin8 - historische Analysen der Strafe als Vermittlung von Erfahrungswissen und gaben so selbst später noch der Kritiklosigkeit die "Legitimation", geistes- und kulturgeschichtliche Reflexionen über die Strafe für deren empirische Bestandsaufnahme zu halten'. So fand sich sogar die eigene Straftheorie des Historikers, in die Geschichte hineinprojiziert, als Erfahrungsmaterial wieder, um damit der Rationalisierung des vorgefaßten Standpunktes zu dienen. Selbst der allen geschichtsphilosophischen Konstruktionen abholde Nagler - als Vergeltungstheoretiker ein gewiß unverdäch1. c., S. 53 f. , Vg1. Revision der Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, 1. Th., 2. A., Giessen u. Wetzlar 1808; Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 9. Ausg., Giessen 1826, §§ 7 ff. T Vom Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit einmal abgesehen (hierzu vor allem Eb. Schmidt, Einführung, 1. c.). 8 Vg1. Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, Neustadt a. d. O. 1836, S. 32 ff.; Die verschiedenen Strafrechtstheorien in ihrem Verhältnisse zu einander und zu dem positiven Rechte und dessen Geschichte, Neustadt a. d. O. 1835. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, Tübingen 1845; System des deutschen Strafrechts, Tübingen 1855, S. 386 ff. Vg1. auch Berner, Entwurf zu einer phänomenologischen Darstellung der bisherigen Straftheorien usw., Arch. d. Criminalrechts, NF, 1845, S. 144-171. • Kritisch schon F. A. von ZeiHer, Von dem Streite der Theorie und Praxis im Strafrechte, Materialien für Gesetzkunde und Rechtspflege in den Oesterr. Staaten, 8 (1824), S. 388-402 (388 ff.). Jedoch Henke: "Wenn dagegen die Empirie stets in jugendlicher Lebensfrische fortblühte, und dadurch die Ueberlegenheit an innerer Kraft hinlänglich bewährte; so kann gleichwohl die anmaßende Kraft ihres Urtheils nicht gebilligt werden, womit sie aller Theorie die Anwendbarkeit auf das Leben abzusprechen pflegt." (Ueber den Streit der Strafrechtstheorien, Regensburg 1811, S. 11). Diese Antikritik ging praktisch ins Leere. I

30

B. Versuche empirischer Strafbegründung

tiger Zeuge - glaubte durch einen Rückblick auf die Geschichte der Strafe deren Empirie zu erfassen, "um nicht in eine neue Scholastik zu verfallen"10; und seine bedeutende Arbeit über die Strafe trägt den bezeichnenden Untertitel "eine juristisch-empirische Untersuchung". Doch sucht man die vielberufene Empirie im System dogmengeschichtlicher, etymologischer und logischer Betrachtungen vergebens ll . Mag man darin auch einen exzeptionellen Vorgang erblicken, so blieben aber jedenfalls bis ins späte 19. Jahrhundert hinein - nicht zuletzt aufgrund des vorwissenschaftlichen Standes der Human- und Sozialwissenschaften - Forderungen nach einer Synthese von philosophischer und empirischer Erforschung der Strafe oder gar nach einem völligen Verzicht auf die Philosophie weitgehend leere Proklamationen; der Hang zur Spekulation, von Hegel einem dankbaren Publikum eingepflanzt, blühte weiterhin. Eine nur scheinbare Hinwendung zur Empirie vollzog das kriminalpolitische Denken im Gefolge von Naturalismus und Positivismus 12 ; denn was hier beanspruchte, Wirklichkeits befund zu sein, erwies sich bei näherem Zusehen nicht selten als der Herren eigener Geist, als pure Spekulation also. Der im Verdacht stand, ihnen zu huldigen, F. v. Liszt, war es selbst, der - in Anerkennung des empirischen Ansatzes - die Fragwürdigkeit und Unzulänglichkeit ihres Verfahrens aufdeckte 13. 3. Zur Soziologie der Strafe bei Durkheim

Und doch hatte noch zu seinen Lebzeiten Emile Durkheim den Grundstein zu einer sozialwissenschaftlichen Analyse von Verbrechen und Strafe gelegt, auf dem heute noch die Soziologie aufbaut. 1893 erschien sein insoweit außerordentlich bedeutsames Werk über die Arbeitsteilung in der Gesellschaft und 1895 folgten "Die Regeln der soziologischen Methode", die jene aufsehenerregende These vom Verbrechen als eines existentiellen Regelungsfaktors des Sozialen weiterentwickelten14 • I. c.,S. 9, unter ausdrücklicher Berufung auf Kant. Der "Erfahrungsstoff" soll eben aus der "Dogmengeschichte des Strafbegriffs bestehen (vgl. S. 106 ff., 120 ff.). über einen solchermaßen amputierten Begriff von Erfahrung 1st kein Wort zu verlieren. 12 Hierzu z. B. Radzinowicz, I~ and Crime, London 1966, pp. 29-50. 13 Vgl. Kriminalpolitische Aufgaben, in: Strafrechtl. Aufsätze und Vorträge, 1. Bd., S. 290 ff., (293 ff., 307 ff.); über den Einfluß der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, 1. c., 2. Bd., S. 75-93; Der Zweckgedanke im Strafrecht, 1. c., 1. Bd., S. 126-179 (131). 14 De la Division du Travail Social (cit.); Die Regeln der soziologischen Methode, hrsg. v. R. König, Neuwied 1961. Zur Bedeutung Durkheims König, 1. c., S. 21-82; zu seiner Straf- und Verbrechenstheorie, 1. c., S. 67 f.; Toby, 1. c., pp. 333-335; Aubert, Om Straffens Sosiale Funksjon, Oslo 1954, pp. 206-207; Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts, Neuwied 1960, 10 11

I. Anfänge im 19. Jahrhundert

31

Dem Wirkungsmechanismus von Verbrechen und Strafe kommt hiernach insgesamt sozialstabilisierende Funktion zu. In ihm bezeugt sich jene "solidarite meeanique", welche die Gesellschaft um ihrer Selbsterhaltung willen brauchtl5 • Dem Verbrechen eignen bestimmte Charakteristika, welche als typische die entsprechende Reaktion der Gesellschaft, die Strafe, hervorbringen. Zunächst verletzt (beleidigt) das Verbrechen die Kollektivgefühle der normkonformen Mehrheit l6 ; solche Gefühle zeichnen sich, als gemeinsames, die Sozialität zusammenhaltendes Band, durch besondere Intensität und Eindeutigkeit aus17 • An diese Definition des Verbrechens knüpft die der Strafe an: "Der Reziprozität" beider sozialer Erscheinungen 18 entspricht es, daß die Verletzung der Kollektivgefühle eine leidenschaftliche (gefühlsmäßige) Reaktion der am Kollektivbewußtsein partizipierenden und mit ihm übereinstimmenden Glieder der Gesellschaft hervorruft, eine Reaktion, deren Intensität wiederum sich abstuft je nach Art und Grad des Normbruchs: die StrafelD. Aus ihrer Natur als einer sozialen Institution folgt zwangsläufig, daß sie gerade keine Form privater Rache repräsentiert, sondern sich vielmehr erst durch Vermittlung des (integrierten) Sozialkörpers äußert 2o . Die Strafe wiederum bestätigt gleichsam die normkonforme Mehrheit in ihrem Kollektivbewußtsein; sie stärkt deren Solidarität und erhält mithin die Sozialverfassung in ihrem Bestande. Haben die Kollektivgefühle für die Gesellschaft existentielle Bedeutung, so kann ihre Verletzung durch das Verbrechen nicht sanktionslos hingenommen werden; "denn jene Gefühle würden bald erschlaffen, wenn die ihnen zugefügten Verletzungen nicht gesühnt würden"21. "Sans cette satisfaction necessaire, ce qu'on appelle la conscience morale ne pourrait pas etre conserve 22 ." Dies erklärt die eminent soziale Funktion der Strafe, die freilich nur unter der Voraussetzung abweichenden Verhaltens wirksam werden kann. S. 81-83; Lunden, Pioneers in Criminology - Emile Durkheim, Journ. of Crim. Law, Criminology, 49 (1958-59), pp. 2-9; Sutherland-Cressey, Principles of Criminology, 7ed., Chicago 1966, p. 361. 15 Vgl. Division du Travail: Solidarite Mecanique ou par Similitudes, pp. 35-78. 11 Division du Travail, p. 43; Regeln, S.157. 17 Division du Travail, pp. 45-47. 18 Vgl. Regeln, S. 181; Division du Travail, pp. 64-73. 11 "La peine consiste done essentiellement dans une reaction passionnelle, d'intensite graduee, que la societe exerce par l'intermediaire d' un corps constitue sur ceux de ces membres qui ont viole certaines regles de eonduite." (Division du Travail, p. 64). 10 Division du Travail, pp. 57-64. 11 Regeln, S. 181. Bei G. H. Mead hingegen erzeugt gerade das Verbrechen (ebenso wie der Krieg) eine "solidarisierende" Wirkung (The Psychology of Punitive Justice, American Journ. of Sociology, 23 (1918), pp. 577-602). 11 Division du Travail, p. 77.

B. Versuche empirischer Strafbegründung

82

Daß aber das Verbrechen ein konstituierendes Merkmal jeder Gesellschaft bildet - eine These, die Gemeingut auch moderner soziologischer Vorstellungen ist23 - hat Durkheim in seinen "Regeln" nachzuweisen versucht2'. Eine Gesellschaft ohne Verbrechen würde einen so hohen Grad von übereinstimmung des einzelnen mit dem Kollektivbewußtsein voraussetzen, daß abweichendes Verhalten schlechthin undenkbar wäre. Ein solches Maß an - präsumiertem - Konformismus widerspräche jedoch in elementarer Weise den Seinsbedingungen des Individuums, das, wiewohl als "animal sociale" gesellschaftlich verfaßt, doch jeweils aus seiner Besonderung heraus lebt. Daher ist das Verbrechen "eine notwendige Erscheinung", weil lImit den Grundbedingungen eines jeden sozialen Lebens verbunden und damit zugleich nützlich. Denn die Bedingungen, an die es geknüpft ist, sind ihrerseits für eine normale Entwicklung des Rechtes und der Moral unentbehrlich"25. Aus der Paradoxie wird Logik: So schließt sich der Kreis, in dem die mit Beziehung auf Verbrechen und Strafe gestellte Frage nach Ursache und Wirkung nebensächlich erscheint. Diese erste bedeutende Sozialanalyse von Verbrechen und Strafe, die beide Erscheinungen sozialen Lebens ausschließlich aus den Bedingungen des Sozialen zu erklären sucht2G , ist freilich hinsichtlich Methodologie und Inhalt straf theoretischer Erörterungen zunächst praktisch folgenlos geblieben. Während sich etwa im amerikanischen Bereich eine weitgehende Rezeption jener Vorstellungen vollzog, die zur Vorherrschaft soziologischer Vorstellungen innerhalb der Kriminologie beitragen sollte 27 , nahm die deutsche Strafrechtswissenschaft von ihnen keinerlei Notiz 28, sondern verharrte in ihrem elfenbeinernen Turm selbstgewählter Abschließung. 13 Vg1. Soziologie, hrsg. v. R. König, 1967, S. 23 f.; vg1. Regeln, 1. C., S. 68. In ähnlicher Weise hat sie Bockelmann jüngst - ohne Berufung auf Durkheim - wieder aufgegriffen (vg1. Verkehrssoziologie und Verkehrsrecht, in: Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Hamburg 1967, S. 223-254

(228 f.).

u Vg1. 1. c., S. 85 f., 156-159.

16

Regeln, S. 159.

Vg1. König, Regeln, 1. c., S. 70. !T Vg1. Jettery, The structure of American criminological thinking, Journ. of Crfmlnal Law, Crlmlnology, 46 (1955-56), pp. 658-6'72; Crlme, Law and SocialStructure, 47 (1a56--6'l).pp. W 435; TUTk, Prospect8 for theorie» of criminal behavior, Journ. of Criminal Law, Criminology, 55 (1964), pp. 454-461; Quinney, Is criminal behavior deviant behaviour? Brit. Journ. of Criminology, 5 (1965), pp. 132-149. tl Freilich gilt dies schon in abgeschwächtem Maße - für die deutsche Soziologie selbst (vg1. König, Regeln, 1. C., S. 15 ff.). Kaupen spricht von einer "interdisziplinären Verspätung der Rechts- gegenüber den Sozialwissenschaften" (Naturrecht und Rechtspositivismus, Kölner Ztschr. f. Soziologie und SozialpsychoL 18 (1966), S. 113-130 (115). Lediglich bei Nagler, 1. C., S. 51-53, wird Durkheims Theorie kurz erwähnt, aber (zusammen mit anderen Lehren) als positivistisch abgetan. tI

I. Anfänge im 19. Jahrhundert

83

4. Zur Empirie der Strafe bei Franz von Liszt

Dies trifft sogar in gewisser Weise auf die "soziologische Schule" und ihren gewichtigsten Repräsentanten, F. v. Liszt, selbst zu. Denn gerade die scheinbar selbstverständliche These, deren Richtigkeit Durkheim mit aller Entschiedenheit bestritt2U , lag als eine kriminalpolitische Selbstverständlichkeit den Erwägungen F. v. Liszts zugrunde: "Das Verbrechen als sozialpathologische Erscheinung"30 sei mithin kein (normales) Konstituens des Soziallebens. Gleichwohl erscheint sein Bemühen, Strafe als empirisches Phänomen zu erfassen, unter allen Versuchen der Moderne innerhalb der Strafrechtswissenschaft selbst am bemerkenswertesten. "Metaphysische Spekulation" - so heißt es bei ihm - "mag sie sich auch in das Gewand einer der beliebten ,absoluten Strafrechtstheorien' kleiden, hat mit der Wissenschaft und daher auch mit der Strafrechtswissenschaft nichts zu tun3t ." Die Absage an die Metaphysik durchzieht wie ein - freilich nicht im politischen Sinne roter Faden seine Phänomenologie der Strafe32 • Jedoch hat das wissenschaftspopuläre Mißverständnis seiner Zeitgenossen und der Nachwelt viel daran gesetzt, seine Gegnerschaft zu den Vergeltungs- und Sühnetheorien Kantscher und Hegelscher Provenienz als das herausragende Moment seines straftheoretischen Programms zu kennzeichnen; seine Einsicht, daß Erfahrung und empirische Erfassung des Verbrechensphänomens sowie der Wirkungen der Strafe erst deren Verständnis erschließe, kam darüber zu kurz. Freilich mochte die eigentümliche Verbindung, die Methode und Ergebnis bei ihm eingingen, vorschnell jene über diesem vergessen machen. Anthropologische, psychologische und vor allem soziologische Kategorien sollen hier den Strafmechanismus erklären helfen und gleichzeitig die Basis für die Zweckbestimmung der Strafe abgeben33 • F. v. VgI. Regeln, S. 85, 156. 1898, in: StrafrechtI. Aufsätze und Vorträge, 2. Bd., S. 230-250. 31 Die Aufgaben. und die Methode der Strafrechtswissenschaft, in: StrafrechtI. Aufsätze u. Vorträge, 2. Bd., S. 284-298 (297). 32 VgI. auch: Der Zweckgedanke im Strafrecht, I. C., S. 135, 153. Hierzu Rebhan, Franz von Liszt und die moderne defense sociale, Hamburg 1963, S. 17; Hering, Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft, Hamburg 1966, S. 173-181. über die wissenschaftstheoretischen Ursprünge E. HUTwicz, Rudolf von Ihering und die deutsche Rechtswissenschaft, Berlin 1911, vgI. insbes. S. 105--128. F. v. Liszt wollte "jeder metaphysischen Spekulation den Einfluß auf die empirische Gestaltung der Strafe" verwehren (I. C., zg

30

S. 133).

33 VgI. etwa: über den Einfluß der soziologischen und anthropologischen Forschungen usw., I. c.; Die psychologischen Grundlagen der Kriminalpolitik, I. C., S. 170-213; Das Verbrechen als sozialpathologische Erscheinung, I. c.; Der Zweckgedanke im Strafrecht, 1. c.

3 Müller Dietz

B. Versuche empirischer Strafbegründung

34

Liszt sah im Verbrechen vornehmlich eine "sozial-pathologische" Massen erscheinung und dementsprechend in der Kriminalstatistik ein vorzügliches Instrument zu seiner analytischen Erforschung34 • Die Entwicklung der Strafe von der blinden, instinktartigen Reaktion der "Triebhandlung" zum "zweckbewußten Rechtsgüterschutz" sollte den Weg zu einer affektfreien, objektiven Einsicht in ihre soziale Schutzfunktion öffnen und damit ihre zweckhafte gesellschaftliche Bedeutung herausstellen; erst dies würde es - unter Heranziehung kriminologischer Erkenntnisse - erlauben, das kriminalpolitische Optimum aus der Strafe hera uszuholen35 • Aber eine noch unentwickelte Kriminologie38 versagte ihren Dienst an der empirischen Erhellung der Strafe; und so mußte vieles bei F. v. Liszt wiederum im Spekulativen haftenbleiben. Die kritische Analyse der Kriminalstatistik, die ihm zufolge die weitgehende Wirkungslosigkeit zeitgenössischer Maßnahmen der Verbrechensbekämpfung dokumentierte37 , bot einen zu dürftigen Ersatz für das, was die Wissenschaften vom Menschen - zumindest teilweise noch - einer aufstrebenden Kriminalpolitik vorenthielten; und allzu viel Kraft und Zeit mußten auf die Widerlegung der törichten These verschwendet werden, der Schöpfer des Marburger Programms sei ein Parteigänger eines Lombroso, Ferri oder Garofalo '8•

11. Empirische Analysen im 20. Jahrhundert 1. Strafe und Sozialstruktur (Rusche und Kirdlheimer)

Die methodologische Einsicht F. v. Liszts überlebte indes alle Einwände, die sich gegen seine Vorstellungen im einzelnen erheben ließen. Dort, wo sich die philosophischen Einflüsse des Pragmatismus und Rea34

über die Bedeutung statistischer Daten z. B. Strafrechtl. Aufsätze usw.,

1. Bd., S. 316, 322; Die Kriminalität der Jugendlichen, 1. c., 2. Bd., S. 331-335.

35 Zum ganzen insbes. Zweckgedanke im Strafrecht, 1'. c.; vg1. aber auch Kriminalpolit. Aufgaben, 1. c. as Vg1. Göppinger, Die gegenwärtige Situation der Kriminologie, Tübingen

1964, S. 3-5.

Vg1. etwa das Fazit hinsichtlich der kurzzeitigen Freiheitsstrafe (1. C., Bd., S. 340-359): "Eine Strafe, die das Verbrechen fördert: das ist die letzte und reifste Frucht der (vergeltenden Gerechtigkeit>." (S. 353). 38 Kritisch 1. c., 1. Bd., S. 131, 293 u. ö. über Ferri insbes. das Sammelwerk Enrico Ferri, Maestro della scienza criminologica, Milano 1941; über Lombroso z. B. Castiglione, Lombroso perante a criminologia contemporänea, Sao Paolo 1962; Wolfgang, Pioneers in Criminology: Cesare Lombroso, Journ. of Criminal Law, Criminology, 52 (1961), pp. 361-391; Brauneck, Zu Lombrosos Methode, MSchrKrim. 44 (1961), S. 230-234. 1.

37

II. Empirische Analysen im 20. Jahrhundert

35

lismus geltend machten, etwa im amerikanischen Bereich3', gerieten die Phänomene Verbrechen und Strafe zunehmend in den Sog empirischer Analysen. Der Akzent lag freilich vorwiegend auf der Erforschung ,abweichenden Verhaltens', als welches Verbrechen gemeinhin deklariert wurde. Doch allmählich wandte sich auch der Strafe die Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaftler zu, nachdem ihre empirische Durchleuchtung allzulange im Schatten endloser - und überdies spekulativer - Theorienbildungen gestanden hatte 40 • 1939 veröffentlichten Rusche und Kirchheimer ihre historisch-soziologische Untersuchung des Verhältnisses von Strafe und Sozialstruktur und brachten damit an den gängigen Vorstellungen von der Funktion der Strafe bemerkenswerte Korrekturen an. Ihr Anknüpfungspunkt war die verblüffend simple Erwägung, daß die enge Beziehung zwischen dem Verbrechen und der jeweiligen sozialen Umwelt es eigentlich nahelegt, ähnliche Relationen zwischen der Strafe und der Gesellschaftsverfassung zu vermuten, in der sie angewendet wird41 • Die Autoren lösten sich von der - für unfruchtbar erachteten - Frage nach der Strafe schlechthin und setzten stattdessen die Hypothese an den Anfang ihrer Analyse, daß Strafe je nach ihrer kulturellen Einbettung verschiedene Erscheinungsformen und Gestalten aufzuweisen habe. Dem verband sich Kritik am üblichen Bemühen, Strafe als "bloße Konsequenz des Verbrechens" oder als "Gegenstück" zu ihm zu erklären: "Punishment must be understood as a social phenomenon freed from both its juristic concept and its social ends42 ." In der Konsequenz eines solchen soziologischen Ansatzes lag die These, daß jede Gesellschaft ihr spezifisches Strafsystem hervorbringe, daß also die Struktur der Sanktion bestimmten konkreten Merkmalen einer je geschichtlichen (ökonomischen) Kultur entspreche4S • at Vg1. PeiTce, Zur Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967 (Schriften 1); CaspeT, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, Berlin 1967 (über den Pragmatismus S. 43 ff.). 40 "The multiplicity of theories of punishment and the confusion of thinking they have produced seems to be due to a confusion of ends with means." (Th. SeHin, Foreword, in: Punishment and Social Structure, by Rusche and KiTchheimeT, London 1939, p. VI). 41 Vg1. 1. c., p. 3. Hinweise auf diese Arbeit z. B. bei GlaseT, The Effectiveness of a Prison and Parole System, Indianapolis, New York 1964, p. 224, und vor allem bei AubeTt, 1. c., pp. 94--95, 103-106, 109; vg1. ferner SutheTlandCTessey, 1. c., pp. 329, 358, 588. Eine "Sozialgeschichte von Verbrechen und Strafe" hat neuerdings HibbeTt, The roots of evil, London 1966, geliefert. 41 I.c., p. 5. 4' "We see ... that speciftc forms of punishment correspond to a given stage of economic development" (1. c., p. 6). Vg1. insoweit auch Solis/QuiToga, Industrializaci6n y delincuencia, Criminalia (Mexiko), 30 (1964), pp. 204--216; CaldeTeTa, L'inftuenza deI cambiamento deI sistema sociale sulla criminalita, La Guistizia Penale (Rom), 69 (1964), pp. 4--5,103-115.

36

B. Versuche empirischer Strafbegründung

Sklaverei als Strafart ist nur denkbar in einer Sozialität, die jene als aligemeines Mittel menschlicher Ausbeutung kennt, Gefängnisarbeit unmöglich ohne Manufaktur oder Industrie; Geldstrafen für alle Klassen der Gesellschaft setzen eine Geldwirtschaft voraus44 • Umgekehrt unterliegt die Strafe in ihren je geschichtlichen Erscheinungsformen wiederum den Veränderungen, die sich innerhalb ihrer sozialen Umwelt vollziehen. Bestimmte ökonomische Bedürfnisse produzieren - so läßt sich hiernach pauschal formulieren - bestimmte pönologische Institute. Dementsprechend markierten die zunehmende Industrialisierung und das Aufkommen der kapitalistischen Geldwirtschaft gleichzeitig Epochen in der Entwicklung der Strafe von ihren frühen Formen der Leibes- und Lebensstrafen bis hin zu den modernen der Zwangsarbeit und Geldstrafe. Das Zeitalter des Merkantilismus ließ die Bedeutung der Gefängnisarbeit hervortreten45 ; aber erst relativ spät vollzog sich die "Evolution des Gefängnissystems"4iI. Die "industrielle Revolution" mit ihrem tiefgehenden Wandel der Gesellschaftsstruktur wies gleichfalls dem Strafensystem neue Wege47 • Mit dem Ende der merkantilistischen Wohlfahrtspflege und der Zunahme von Eigentumsdelikten setzten auch Reformbestrebungen auf dem Gebiet des Gefängniswesens ein, denen freilich auf die Dauer kein durchgreifender Erfolg beschieden war 48 • "The blind alley of solitary confinement"49 zwang angesichts der Aporien der Freiheitsstrafe damaliger Prägung dazu, nach anderen Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung Ausschau zu halten. Der Ausweg wurde im Zeitalter wachsenden Lebensstandards und dementsprechend sinkender oder wenigstens gleichbleibender Kriminalität vor 1914 in einer wachsenden Anwendung der Geldstrafe gesehen50 • Diese sollte in der jüngeren Gegenwart eine dominierende Rolle erlangen, die sich nicht zuletzt in der Funktion eines allgemeinen Ersatzes für die Freiheitsstrafe äußerte5t • Der Niedergang der Prosperität und das Absinken des Lebensstandards vor allem der unteren Schichten im Gefolge der Wirtschaftskrisen beschworen wieder das Problem der Gef&ngnisarbeit mit allen seinen Implikationen herauf. Die ökonomischen " Vg1. 1. c., pp. 8-52, 53-71, 84-l13. " 1. c., pp. 24-52. " 1. C., pp. 62-71. 47 1. C., pp. 84-113. "The Failure of Solitary Conftnement": l. c., pp. 127-137. 1. C., p. 145. so l. c., pp. 138-145. SI 1. C., pp. 166-176; R. und K. weisen hierbei die Annahme zurück, daß die Zunahme der Geldstrafen lediglich auf neue Verbrechensarten, insbesondere etwa auf eine Vermehrung der Verkehrsdelikte, zurückgehe; sie sei vielmehr auch "the consequence of a general policy of substituting the fine for inprisonment" (167). 48

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H. Empirische Analysen im 20. Jahrhundert

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und politischen Veränderungen der zeitgeschichtlichen Szene, die sich unter dem Diktat des Faschismus vollzogen, erzwangen sich dann Eingang in die Strafrechtspflege. Die Ideologisierung der Kriminalitätsbekämpfung in den totalitären Gesellschaften stand nunmehr unter dem Vorzeichen einer Rückkehr zu den Prinzipien der Abschreckung und Repression5!. Aber auch diese Möglichkeiten der Tatreaktionen, mit denen sich Rusche und Kirchheimer abschließend auseinandersetzen, sind "kulturell eingebunden", d. h. der Gesellschaftsverfassung verhaftet, in der sie praktiziert werden, und damit vergänglich. Das Fazit der Analyse führt indes über die Feststellung solcher Binsenweisheit hinaus: Ihr sowie einem Vergleich verschiedener Kriminalstatistiken entnehmen die Autoren, daß die Kriminalpolitik und ihre Veränderungen keinen effektiven Einfluß auf die Verbrechensentwicklung hat53• Auf diese - in begrenztem Maße - einzuwirken, gelinge nur in einer Gesellschaft mit hoher ökonomischer und sozialer Stabilität; denn je defekter die Gesellschaftsverfassung, desto brüchiger das Strafensystem. Solange eine intakte Sozietät dem Allgemeinbewußtsein nicht Verständnis für die Notwendigkeit kriminalpolitischer Reformen vermitteln könne, sei der Erfolg neuer Formen der Verbrechensbekämpfung in Frage gestellt und die Rückkehr zum "bewährten Rezept" repressiver Maßnahmen wahrscheinlich. So endet die Untersuchung von Strafe und Sozialstruktur im wesentlichen mit einem negativen Befund: Einsicht in das Funktionieren des Strafmechanismus bietet noch keine Gewähr für eine wirksame Kriminalpolitik54• Soweit damit aber, vor allem etwa im Aufweis der Beziehungen zwischen Gefängnisarbeit und Wirtschaftsstruktur, Sozialkritik geübt wurde, stand diese in der Nachfolge von Marx, der als einer der ersten derartigen Zusammenhängen Aufmerksamkeit geschenkt hatte 55 • Strafe 1. c., pp. 177-192. "Changes in penal praxis cannot seriously interfere with the operation of the social causes for delinquency. If the effects of the policy of punishment could be isolated, that is to say, if they could be examined in aperiod of complete social and political stability, then it might be possible to discover a certain measure of influence. This very necessity for isolation, however, itself reveals the social irrelevance of methods of punishment as a factor in determining the rate of crime." (pp. 204-205). S4 Noch schärfer formuliert 1. c., p. 207: "There is a paradox in the fact that the progress of human knowledge has made the problem of penal treatment more comprehensible and more soluble than ever, while the question öf afuridamental revision in the policy of punishment seems to be further away today than ever before because of its functional dependence on the given social order." 55 1. c., pp. 107, 108, 174; vg1. auch Rusche, Arbeitsmarkt und Strafvollzug, Ztschr. f. Sozialforschung, 2 (1933), pp. 63-78. Auf gewisse Ähnlichkeiten mit Sorokins Thesen weisen Sutherland-Cressey hin (1. c., p. 362). 51 53

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B. Versuche empirischer Strafbegründung

solchermaßen auf ökonomische Funktionen reduziert und als Instrument kapitalistischer Ausbeutung deklariert, lautet denn konsequenterweise die postmarxistische Fortsetzung jener Kritik, wie sie etwa in E. Blochs Formel von "Arbeitsmarkt und Strafe" zutagetritt5e • In der Entsprechung von Straf- und Sozialstruktur erweist sich hiernach die Strafe als Mittel repressiver Unterdrückung der "lower c1asses", deren "Slum-Verfassung" als häufige Ursache des Verbrechens jener zugehörig57 • Was hier jedoch polemisch zugespitzt erscheint, teilt, wiewohl in Abkehr von Hegel, nicht den empirischen Ausgangspunkt Rusches und Kirchheimers, bleibt ihm vielmehr von seiner philosophischen Abkunft her verpflichtet58• Dennoch scheint die Sozialverfassung der Massengesellschaften solche Thesen in gewissem Umfang zu bestätigen. So wird etwa aus den derzeitigen Existenzbedingungen und Lebensformen in den USA ein Großteil der Kriminalität erklärt und daraus das Bedürfnis nach einer durchgreifenden Sozialreform hergeleitet. "Our problem of crime in the streets is basically a problem of the poor59 ." Hiernach erwächst aus der sozialen Ungleichbehandlung von Armen und Reichen, aus rassischer Diskriminierung und ähnlichen Faktoren jene "slum-culture", die das Verbrechen produziertto.

2. Die soziale Funktion der Strafe bei Vilhelm Aubed

Die methodologische Gegenposition von "Punishment and Social Structure" zur ausschließlich spekulativen Bestimmung der Strafe bei Hegel81 , welch letztere Marx treffend als "bloße ,Idee' der gangbaren empirischen Kriminalstrafen" bezeichnetee2 , suchte auch die sozialwissenschaftliche Analyse der Strafe durch V. Aubert (1954) zu beziehen4l3 • &8 Naturrecht usw., S. 277-279: "Strafmaß und Strafvollzug variierten mit den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt." (277). 17 1. C., S. 290 f., 298 f. Gewisse Anklänge bei Radbruchs These vom .. Ursprung des Strafrechts aus dem Stande der Unfreien" in: Elegantiae Juris Criminalis, 2. A., Basel 1950, S. 1-12. &8 Deutlich I. C., S. 299. ft Bazelon, The relation between criminal and social justice, Israel Law

Rev., 2 (1967), pp. 36-46 (36). VII. auch J. Spef'gel, Racketville, Siumtown, Haulburg. An exploratory study ofdelinquent subcultures. London 1964;

Ja'lewardene. Criminogenic areas, Probation and Child Care (Colombo), 4 (1965), pp. 30-38. 10 Vgl. 1. c. Diese Diskriminierungen sollen sich sogar im Strafverfahren spiegeln (p. 43). 81 Vgl. 1. c., p. 10l. .. Die heilige Familie, S. 190. es Vgl. 1. c. Hierzu z. B.Jaakola, Social background and criminality, in: Unrecorded criminaIity in Finland, Helsinki 1966, pp. 23-35 (35).

II. Empirische Analysen im 20. Jahrhundert

39

Was die Untersuchung grundsätzlich von jener älteren unterscheidet, ist ihr umfassenderer Ansatz, der das ganze Spektrum etablierter Hypothesen und Kategorien zur Erklärung und Einordnung der Strafe zu erfassen sucht. Mit der Sammlung und kritischen Auswertung von soziologischem und sozialpsychologischem Erfahrungsmaterial verbindet sich hier eine entschiedene Absage an die philosophische Spekulation". Dies impliziert die Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Kriminalstatistik, insbesondere dem Stellenwert der Dunkelziffer65 , dem Verhältnis von Strafe und Sozialstruktur, vor allem der Beziehung zwischen Rechtsnormen und Statusdiskriminierung, dem Zusammenhang von Strafe und Sozialstatus sowie den Strafarten und der Wirtschaftsverfassungee, mit der Frage nach dem Abschreckungswert der StrafeG7 , der autoritäts- und legalitätsbildenden Wirkung des Strafrechts68 , dem Verhältnis von Strafrecht und sozialer Kontrolle in Primärgruppen69 und insoweit der Beziehung zwischen internalisierten Normen und sozialem Druck70, mit der symbolischen Funktion des Strafrechts7t, seiner friedensstiftenden Bedeutung und "ideologischen Funktion"72, mit seiner "solidarisierenden Wirkung" (Durkheim) und damit seinem Verhältnis zu Aggressionstendenzen73 und schließlich mit den psychoanalytischen Deutungen der Strafe74 • Zum Schluß diskutiert Aubert die neuen Entwicklungstendenzen des Strafinstituts, insbesondere das bis heute umstrittene Verhältnis von Strafe, Behandlung und Generalprävention75 • Diese funktionelle Analyse sucht mithin eine Pluralität mehrerer sozialen Eigenschaften der Strafe als deren konstituierende Momente zu erweisen. Deutlicher als jeweils zuvor tritt hier trotz gewisser soziologischer Begrenzungen76 die Vielschichtigkeit des Strafphänomens Vgl. Forord, 1. c. Vgl. 1. C., pp. 65-90 (72) . .. 1. c., pp. 91-108 (93-96, 96--103, 103-108). 17 1. C., pp. 109-132. Wobei die bekannten psychologischen Erklärungsversuche (Lustprinzip, Frustrationstendenzen, Strafbedürfnis usw.) erörtert werden. 18 1. c., pp. 133-155. .. 1. c., pp. 156--177. Gemeint sind damit insbesondere Familien. 70 1. c., pp. 172-173. 71 1. c., pp. 178--193. 71 1. C., pp. 194--204 (zur "ideologischen Funktion" des Strafprozesses, konfliktlösenden und befriedenden Wirkung der öffentlichen Strafe). 73 1. C., pp. 205-211. 74 1. c., pp. 212-217. 7S 1. c., pp. 220-230. 78 Vgl. etwa die These von der Organisierung jedweder Gesellschaft zum Schutze der herrschenden Gruppen und zur Abwehr der "lower classes", deren Verhalten folgerichtig als "deviant behavior" in stärkerem Maße der Kriminalität anheimfälIt (p. 93). 14

es

B. Versuche empirischer Strafbegründung

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zutage, so daß Auberts Arbeit wohl zu den bis dato umfassendsten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen der Strafe gerechnet werden darf. 3. Die heutigen Tendenzen zur Empirie

Was als Frucht solcher Erörterungen bleibt, sind nicht einzelne Thesen, deren vorschnelle Fixierung nur neuen Dogmen Vorschub leisten könnte und das Verständnis der Strafe weiterhin im Bereich reiner Theorienbildung beließe. Vielmehr ist es der methodologische Ansatz, der Strafe aus dem Zustande bloßer Begrifflichkeit heraushebt. Einem Zeitalter, das wie das unsrige die Abdankung der philosophischen Spekulation zugunsten der Empirie und damit die Sozialwissenschaften gewissermaßen als Krönung der Wissenschaftsentwicklung erlebt - vermutlich, um demnächst wieder ihren Widerpart zu inthronisieren -, muß eine empirische Erfassung auch der Strafe sehr naheliegen. Der Versuch einer solchen Analyse stellt sich jedenfalls als Aufgabe in einer Epoche, die bereits 1923 ein hellsichtiger Geist von ungewöhnlicher "c1arte" der Diktion wie der Einsicht, Robert Musil, als "die Zeit der Tatsachen" gekennzeichnet hat: "Ihre Vorstellung von Wirklichkeit erkennt nur das an, was sozusagen wirklich isF7." Aber die dieser Feststellung immanente Kritik am Faktenglauben ist zugleich eine an den "großen deduktiven Systemen" der Neuzeit, die bei Musil "als gewaltige logische Denkbauten auf einem sehr schmalen Fundament von Erfahrung" figurieren 78 , während doch nach seiner eigenen Prämisse ein solches System zuverlässig nur auf der Grundlage breiter Tatsachenkenntnis zu gewinnen isF'. Solche Erfahrungsbasis auch dem Strafrecht zu verschaffen, folgt daher als Forderung aus den Aporien philosophischer Spekulation wie aus dem Sachzwang rationaler Kriminalpolitik gleichermaßen8o • So hat 77 Der deutsche Mensch als Symptom, Reinbek b. Hamburg 1967, S. 36. 78 11

1. C., S. 38. 1. c., S. 39.

80 Vgl. z. B. Würtenberger, Kriminologie und Strafrechtsreform, in: Gedanken zur Strafrechtsreform, Paderborn 1965, S. 23-38; Leferenz, Aufgaben einer modernen Kriminologie, Karlsruhe 1967; Lackner, Kriminologie und

Strafrecht, In: Kriminalbiolog. Gegenwartsfragen, H. 6, Stuttgart 1964, S. 6 bis 20; Radzinowicz, Strafrecht u. Kriminologie, in: Strafrechtspflege und Strafrechtsreform, Wiesbaden 1961, S. 17-34; van Bemmelen, Strafrecht u. Kriminologie, MSchrKrim. 50 (1967), S. 99-108; ders., Les rapports de la cri-

minologie et de la politique criminelIe, Revue de Science Criminelle et de Droit penal compare, 18 (1963), pp. 467--480; Sutherland-Cressey, 1. c., pp. 3-26; Vermes, Kriminalpolitik und Kriminologie, Acta Juridica Academiae Scientiarum Hungariae, 8 (1966), S. 115-143; Brauneck, Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? MSchrKrim. 46 (1963), S. 193-201; H. Kaufmann, Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? JZ, 17 (1962), S.193-199.

H. Empirische Analysen im 20. Jahrhundert

41

St. Ehrlich die gewiß problematische Forderung erhoben, "der moderne Strafrechtswissenschaftler" müsse "gleichzeitig Kriminologe sein"81. Und vom rechtssoziologischen Standpunkt aus hat kürzlich Hirsch insoweit die - rhetorische - Frage aufgeworfen, ob es "etwa keine Pfuscherei" wäre, "Strafen anzudrohen, zu beantragen, zu verhängen und zu vollziehen, über Strafen und Strafarten nur zu diskutieren, ohne von den gefestigten Erkenntnissen der Kriminologie ... auch nur Notiz zu nehmen?"82 Was an dieser Bemerkung Anstoß erregen muß, ist nicht ihr prinzipieller Gehalt, sondern die ihr innewohnende Behauptung, die Faktenkenntnis sei vorhanden, nur verschlössen sich Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspflege ihr, während doch manches dafür spricht, daß es an Tatsachen zwar nicht fehlt, wohl aber an ihrer zureichenden Kenntnis, die ja ihrem eigenen Anspruch zufolge anderes als bloße Spekulation zu sein hätte 83 • Ein derartiger Einwand vermag indes die grundsätzliche Notwendigkeit empirischer Erforschung der Strafe nicht in Frage zu stellen. Der zunehmend stärker hervortretende Wandel des Denkens insoweit spiegelt sich in der Abkehr von der spezifisch strafrechtsdogmatischen Sicht der Strafe84 und ihrer Orientierung an kriminologischen und pönologischen Wirklichkeitsmodellen. In diesem Sinne heißt Kriminalpolitik der Strafe - unbeschadet ihrer inneren Rechtfertigung von den allgemeinen Zielen des Strafrechts her - in erster Linie nach den praktischen Auswirkungen und Möglichkeiten ihrer Anwendung im einzelnen fragen und danach ihre Ausgestaltung bestimmen85 . So schlägt 81 Rechtspositivismus, Rechtssoziologie und Polit. Wissenschaften, Der Staat,

5 (1966), S. 407-422 (415).

Das Recht im sozialen OrdnungsgefÜge, Berlin 1966, S. 47 f. Es wirkt auf den Gesetzgeber nicht gerade ermutigend, wenn er, vor die Beantwortung konkreter, kriminalpolitischer Fragen gestellt, hierzu häufig ein "non liquet" oder "non sciremus" von kriminologischer Seite vernehmen muß (vgl. vor allem Lackner 1. c.; vgl. ferner Andenaes, Busch u. MüllerDietz, in: Kriminolog. Gegenwartsfragen, H. 8, Stuttgart 1968). Van Bemmelen bezweifelt freilich 1. c., S. 104 f., aus anderen Gründen die Möglichkeit größerer Einflußnahme der Kriminologie auf das Strafrecht. 84 Allgemein zur "Denkform der Rechtsdogmatik" Thul, ARSP, XLVI 81 83

(1960), S. 241-260.

85 Der Begriff Kriminalpolitik selbst ist freilich bis heute schillernd und wird darum immer noch verschieden definiert. Hierzu z. B. v. Liszt, Strafrechtl. Aufsätze, 1. Bd., S. 290-296; 2. Bd., S. 15, 22, 62-74, 78-82, 102, 170 u. ö.; R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, I, Berlin 1925, S. 534-577; Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei Bestimmung der Tatfolgen, Berlin 1932, S. 1-18; Gallas, Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik unter bes. Berücksichtigung des sowjetruss. Rechts, Berlin 1931; Mezger, Kriminalpolitik, in: Handwörterbuch der Kriminologie (1. A.), I, Berlin u. LeIpzig 1933, S. 861-871; Kriminalpolitik und ihre kriminologischen Grundlagen, 3. A., Stuttgart 1944, S. 1 f., 241-243; Sax, Kriminalpolitik und Strafrechtsreform, JZ, 12 (1957), S. 1-7; v. Weber, Kriminalpolitik und Strafrechtsreform, in: Kriminalpolit. Gegenwartsfragen, Wiesbaden 1959, S. 17-26; Mergen, Die

42

B. Versuche empirischer Strafbegründung

sich solche Hinwendung zur Empirie nicht zuletzt in der Forderung nach Neugestaltung des Strafen- und Maßregelsystems nieder. Im Gang der Strafrechtsreform selbst lassen sich daher Spuren des Bemühens nachweisen, den Wirklichkeitsbefund der Strafe zu registrieren und damit Ansätze für neue Orientierungen zu liefern. Nicht so sehr im Detail als in gewisser Anerkennung einer derartigen Priorität der Realität erstanden die straftheoretischen Einsichten F. v. Liszts im Alternativ-Entwurf von 1966 neu. Denn hier versteht sich der Strafbegriff in der Tat als ein weitgehend, wenn auch nicht allein, kriminalpolitisch bestimmter, als der Ertrag - freilich begrenzter - kriminologischer und pönologischer Erkenntnisse, letztlich als das Resultat einer kritischen Auseinandersetzung mit einer vielfach empirisch analysierten WirklichkeitS'. Im Rückgriff auf diese gewinnt das Strafen Konturen eines realiter erlebund sinnlich faßbaren sozialen Geschehens, das sich hingegen in der reinen Begrifflichkeit hegelscher Provenienz gleichsam nur als Selbstbewegung des Geistes vollzieht. Und nichts charakterisiert beide Antagonismen schärfer als der Widerspruch zwischen dem Diktum Hegels, wonach Strafe die des Täters selbst und nicht der Gesellschaft istS7, und soziale Zweckmäßigkeit in der modernen Kriminalpolitik, in: Festschr. für Rittler, Aalen 1957, S. 21-27; Pampe, Kriminalpolitik, in: Staatslexikon, 5. Bd. (Freiburg 1. Br. 1960), Sp. 150-155; Maurach, Das Unrechtsbewußtsein zwischen Kriminalpolitik und Strafrechtsreform, in: Festschr. f. Eb. Schmidt, Göttingen 1961, S. 301-318 (302 f.); Die kriminalpolit. Aufgaben der Strafrechtsreform (Verh. des 43. DJT, I, 3 A), Tübingen 1960; Geerds, Gnade, Recht, Kriminalpolitik, Tübingen 1960, S. 35; Die Kriminalität als soziale und als wissenschaft!. Problematik, Tübingen 1965, S. 28 f.; Hellmer, Kriminalpolit. Besinnung, Kriminalistik, 20 (1966), S. 225-228, 287-290, 336-339; Lang-Hinrichsen, Die kriminalpolit. Aufgaben der Strafrechtsreform (Verh. des 43. DJT, I, 3 B), Tübingen 1960; Spendel, Die kriminalpolit. Aufgaben der Strafrechtsreform, NJW, 13 (1960), S. 1700-1706; Kaiser, Zur kriminalpolitischen Konzeption der Strafrechtsreform, ZStrW, 78 (1966), S. 100-152; umfassend jetzt Sieverts, Kriminalpolitik, in: Handwörterbuch der Kriminologie, 2. A., H, Berlin 1967, S. 1-19; vgI. ferner Leferenz, Kriminologie u. Kriminalpolitik, in: Kriminolog. Gegenwartsfragen, H. 8, Stuttgart 1968. Allgemein, J. Strahl, Den svenska kriminalpolitiken, Stockholm 1967; U. Eisenberg, Strafe und freiheitsentziehende Maßnahme, Hamburg 1967. se VgL Begr. z. AE, S. 29, 71 ff.; zum AE Lacknef', Der Alternativ-Entwurf u. die praktische Strafrechtspflege, JZ, 22 (1967), S. 513-522; Kaiser, Der kriminalpolit. Standort des Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuches, Kriminalistik, 21 (11167), S. 287-HO.

Zum_Strafen- und Maßre&elsystem des AE Kaiaer 1. Co, S. 337-340, 3&3 bis

396; Lekschas, Neue Wege in der Strafrechtsreform? Bemerkungen z. Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Allgern. Teil, NJ, 21 (1967), S. 226-230, 283-287 (mit wenig ergiebiger Kritik); vor allem aber die gewichtige Kritik von Eb. Schmidt, Freiheitsstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe u. Strafzumessung im Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, NJW, 20 (1967), S. 1929-1940. 87 Vgl. Wissenschaftliche Behandlungsarten des Naturrechts, I. c. VgI. auch "Rechtsphilosophie" (§ 100): "Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht, - als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht; sondern sie ist auch ein Recht an den Verbrecher selbst, d. h. in seinem daseienden Willen, in

II. Empirische Analysen im 20. Jahrhundert der sozialen Realität, in welcher der Täter die vorgeblich selbstauferlegte Strafe als unmittelbaren gesellschaftlichen Zwang erfährt88 •

seiner Handlung gesetzt." Kritisch hierzu Marx, Die Todesstrafe, in: Ges. Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels 1852 bis 1862, hrsg. v. Rjasanoff, 1. Bd., Stuttgart 1917, S. 79-82 (81): "Diese Theorie, die die Strafe als das Ergebnis des eigenen Willens des Verbrechers ansieht, ist nur der metaphysische Ausdruck des alten Rechts auf Wiedervergeltung, des jus talionis." 88 Marx hat diese Kritik überspitzt formuliert: "Eine Straf theorie, welche zugleich im Verbrecher den Menschen anerkennt, kann dies nur in der Abstraktion, in der Einbildung tun, eben weil die Strafe, der Zwang, dem menschlichen Verhalten widersprechen." (Die heilige Familie, S. 190). Die Strafe droht hiernach in gefährliche Nähe zum Terror zu geraten, wovon sie sich doch, ihrer Bestimmung gemäß, entschieden abzusetzen hätte (vgI. Walter, Violence and the process of terror, American Sociological Rev. 29 (1964), pp. 248-257 (255-256). Treffend an jener Kritik erscheint indes der Hinweis auf das Scheitern der metaphysischen Position Hegels an der Wirklichkeit (vgI. auch Flechtheim, 1. c., S. 17-20; Lernell, Exc. crim. 5 (1965), N. 1416: Theory of punishment according to Marxists). Eine "Entlastung des Strafrechts von metaphysischen Strafzwecken" fordert Gollwitzer, 1. c., S. 214 (vgI. auch S. 206 f.).

C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe I. Das Verhältnis von Theorie und Empirie Die Absage an die philosophische Spekulation als methodischer Basis der Strafzweckbestimmung fordert zwangsläufig die Klärung des Verhältnisses von Theorie und Empirie heraus. Sie bildet die crux jeder Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit als einer nicht bloß vorgestellten, sondern in der sinnlichen Welt erfahrbaren. Diese Fragestellung lebt - freilich in veränderter Form - spätestens seit Kants Erörterung des Gemeinspruchs: "Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" immer wieder in der Diskussion um Notwendigkeit und Möglichkeit einer praktikablen und d. h. richtigen Theorie sowie einer theoretisch zureichenden Praxis auf'. Stationen des Weges bilden etwa die an Kant anknüpfende Kritik von Gentz und Rehberg 2 , vor allem aber die revolutionierenden "Thesen über Feuerbach" von Marx 3• Selbst die Strafrechtswissenschaft hat hierzu einenallerdings überaus bescheidenen - Beitrag geleistet4 • Die Problematik, die bekanntermaßen in der Frage nach der Aufhebbarkeit der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis gründet, hat indes durch die Methodenkritik der neueren Sozialwissenschaften eine Verlagerung der Diskussionsbasis und eine Verschärfung der Akzentsetzung erfahren. Dennoch besteht sie im Grunde auch heute noch forts. So dekretiert die analytische Soziologie mit Bezug auf die Voraussagen künftigen Geschehens etwa: "Nichts ist in der Praxis brauchbarer als eine richtige Theorie8." 1 Jetzt in: Über Theorie und Praxis, hrsg. von Henrich, 1967, S. 39-87; hierzu außer Henrich 1. c., S. 9-36, v. Oertzen, Kants "über den Gemeinsprudl" und das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Politik, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, 1. Bd., Tübingen 1966, S. 369-381. 2 1. c., S. 89-111, 113-130. • Vg1. Marx, Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 5-7. , Z.B. Gl4uer, Über das VerhäUnis von Theorie und Praxis im Strafredlt in: Ges. kleinere Schriften über Strafrecht, Civil- und Strafproceß, 1. Bd., Wien 1868, S. 65-72 (worin Praxis freilich in einem anderen Sinne fungiert). 5 Vg1. den Sammelband "Theorie und Realität", hrsg. v. Albert, Tübingen 1964; Rosenmayr, Über das wechselseitige Verhältnis von Empirie, Theorie u. Praxis, Kölner Ztschr. f. Soziologie u. SozialpsychoL 19 (1967), S. 440-'-453. • Albert, Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 1, Stuttgart 1962, S. 39-63 (55) (jetzt: 2. Auf1. 1967, hier benützt: 1. Auf1.). Vg1. auch Adorno, Negative Dialektik, S. 238: "Eigentlich gibt es keine andere Instanz für richtige Praxis und das Gute selbst als den fortgeschrittensten Stand der Theorie."

I. Das Verhältnis von Theorie und Empirie

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1. Empirische Sozialforschung und geisteswissenschaftliche Realanalyse in der Soziologie

Die Problematik jedweder Theorie gesellschaftlichen Verhaltens, durch welche Strafe zumindest dem äußeren Anschein nach bestimmt wird, ist die Fixierung ihres Standorts zwischen Positivismus und Spekulation, also die Meidung der Preisgabe des Sinnzusammenhangs an die leere Faktizität und des Verrates der Empirie an bloße Gedankenmodelle gleichermaßen. Noch jeder solcher Versuch einer Ortsbestimmung steht vor der Frage nach der wissenschaftstheoretischen Basis sozialwissenschaftlicher Aussagen. Die Lösung dieses methodologischen Problems einer Annäherung an die Wirklichkeit durch die empirischanalytische und die dialektische Richtung innerhalb der Soziologie spiegelt eigentlich das Spektrum jener Möglichkeiten, die sich unter den Stichworten "empirische Sozialforschung" und "geisteswissenschaftliche Realanalyse" als polare, entgegengesetzte Tendenzen festhalten lassen. Was dort durch Anwendung analytischer Methoden nach dem tradierten Gesetz von "error and trial" als Wirklichkeitsbefund herausdestilliert werden solF, will die dialektische Richtung aus eben einem deduktiv-hermeneutischen Ansatz, dem dialektischen Begriff der (gesellschaftlichen) Totalität, explizieren8• Doch durch die Kennzeichnung der analytisch verfahrenden Sozialwissenschaft als eine funktionalistische und instrumentalistische schimmert der Vorwurf positivistischer Rechtfertigung des Bestehenden und des Verrates einer besseren Zukunftsgesellschaft an die schlechtere Gegenwart durch. Die Auslöschung objektiven Sinns im Verstande Adornos und Habermas durch das Diktat des Methodenpurismus und die Verpflichtung auf meßbare Daten wird als Selbstauflösung kritischer Theorie der Gesellschaft disqualifiziert9 • 7 Vor allem Albert, in: Handbuch, 1. c.; Probleme der Theoriebildung, in: Theorie und Realität, S. 3-70; Zur Logik der Sozialwissenschaften: Die These der Seinsgebundenheit und die Methode der kritischen Priifung, Arch. Europ. de Sociologie, V (1964), S. 241-254; Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Logik der Sozialwissenschaften, Köln 1965, S. 181-210; Soziologie und empirische Sozialforschung, ARSP, XLIV (1958), S. 235-257; Theorie und Praxis, in: Die Philosophie und die Wissenschaften, S. Moser z. 65. Geburtstag, Meisenheim a. GI. 1967, S. 246-272; Popper, Logik der Forschung, 2. A., Tübingen 1966 (über ihn Albert, Der kritische Rationalismus K. R. Poppers, ARSP, XLVI (1960), S. 391-415; Wellmer, Methodologie als Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1967 (vom Standpunkt der "dialektischen Kritik" aus). Vgl. ferner Kaplan, The Conduct of Inquiry, San Francisco 1964. Zum ganzen auch Brecht, Politische Theorie, Tübingen 1961, S. 19, 29 ff. S Vgl. z. B. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, in: Sociologica II, Frankfurt a. M. 1962, S. 205-222; Notiz über sozialwissenschaftl. Objektivität, Kölner Ztschr. f. Soziol. 17 (1965), S. 416-421; Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963. • Vgl. Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, Kölner Ztschr. f. Soziol. 16 (1964), S. 635-659; vgl. auch Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Logik der Sozialwissenschaften, S. 291-311.

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C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

Aber was in der kritischen Theorie als Objektivation eines ansichseienden Ganzen erscheint, ist der analytischen Richtung unter dem Vorzeichen der Ideologiekritik als "Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht" suspektl°. Tatsächlich sind in dieser Auseinandersetzung hegelianische und marxistische Fragestellungen nach dem Verhältnis von Idee und Materie virulent. Was die empirische Analyse vermag und wozu sie auszuwachsen droht, ist - in hegelianischer Denkweise nichts anderes als die Entdeckung eines Besonderen als das Allgemeine, während wiederum - in spekulationsfeindlicher Sicht - dialektisches Verfahren letztlich in der Verwechslung des Subjektiven als dem Besonderen des einzelnen mit dem Objektiven als dem Allgemeinen der Gesellschaft endetl l • 2. Versuche empirischer Vermittlung im öffentlichen Recht

Das solchermaßen in mehreren Denkebenen und Denkkategorien innerhalb der Sozialwissenschaften betriebene Gesellschaftsspiel, den wissenschaftlichen Gegner auf eine selbstmordheischende Extremposition festzulegen, die einer Widerlegung zwar nicht bedürftig, ihr aber desto häufiger teilhaftig scheint, gewinnt, auf das Recht übertragen, für dieses existentielle Bedeutung. Denn das jeder Frage nach objektiver FeststeIlbarkeit sozialer Daten vorausliegende Problem, wie denn das Verhältnis der Norm zum Faktum zu bestimmen sei, greift an die Substanz des Rechts. Die durch Georg Jellineks bekannte Formel von der "normativen Kraft des Faktischen"l! in der Staatsrechtswissenschaft besonders virulent gewordene Auseinandersetzung um das Verhältnis von Norm und Wirklichkeit hat denn auch bis heute immer wieder zu Versuchen empirischer Vermittlung des Normativen geführt. Vorab zu nennen ist hier Hermann Heller, dessen vorbildliches Methodenbewußtsein11 von vornherein auf Klärung des Verfahrens drän10 Albert, Der Mythos der totalen Vernunft, Kölner Zeitschr. f. Soziol. 16 (1964), S. 225-256 (236); Im Rücken des Positivismus? 1. c., 17 (1965), S. 879 bis 908. 11 Zur Auaeinandel'lJetzunt zwi8dlen Albert und Hllbe1'm4' Hülsmcftft, Hermeneutik und Gesellschaft, Soziale Welt, 18 (1967), S. 1-28, der Albert - noCh Qber Habermas hinausgehend - von einem umfassenden Begriff von

Hermeneutik aus kritisiert. Die Sicht ist im Text bewußt verkürzt; tatsächlich ist die Problemlage ungleich differenzierter (vgl. zum ganzen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Philos. Rundschau, Beih. 5, Tübingen 1967). Baldamus hingegen hält den traditionellen Dualismus zwischen Theorie und Empirie für fragwürdig (vgl. The category of pragmatic knowledge in sociological analysis, ARSP, LII! (1967), pp. 31-51). 11 Kritisch zu dieser Formel Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", Karlsruhe 1965, S. 10 f. 11 Vgl. Staatslehre, Leiden 1934, S. 30-65.

I. Das Verhältnis von Theorie und Empirie

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gen mußte, in dem die Kategorien der Staatslehre zu gewinnen sind. Mit Entschiedenheit bekämpfte er die in der Nachfolge Hegels vollzogene Fixierung staatlicher Äußerungen auf den objektiven Geist als den allein wirklichen. "Objektiver Geist ist nur als subjektiver Geist wirklich und hat unabhängig vom realpsychischen Erleben und Verstehen durch Menschen überhaupt keine Existenz I4 ." Dementsprechend bestimmte Heller die Aufgabe der Staatslehre dahin, "den Staat als Wirklichkeit zu erforschen"15. Freilich gab er diesen Anspruch teilweise dadurch wieder preis, daß er die Staatslehre als Wirklichkeitswissenschaft von der Rechtswissenschaft als sog. Sinneswissenschaft unterschied 1s. Die Frage bleibt, ob nicht nach seiner eigenen Prämisse, wonach Wirklichkeitswissenschaft der Herstellung eines Sinnzusammenhangs gleichfalls nicht entraten kann, sich das für die Staatslehre entwickelte Modell auch auf die Rechtswissenschaft hätte übertragen lassen l7 • Ähnlich wie eingangs hinsichtlich der Strafrechtswissenschaft skizziert, zeigte sich auch in der Staatsrechtswissenschaft das Phänomen, daß das Versprechen empirischer Erhellung der Rechtswirklichkeit im weiteren Verfolg der Methode denn doch nicht eingelöst wurde. So hat etwa Leibholz staatsrechtliche "Wesensbegriffe" zwar als "seinsmäßig gebundene Begriffe" qualifiziert, die nur "mit Hilfe der Empirie nicht auf normativer, sondern allein politisch soziologischer Grundlage" zu ermitteln seienl8 , und in der Nachfolge Husserls und Schelers die phänomenologische Betrachtungsweise zur Grundlage genommen. Aber die von ihm empfohlene "material-intuitive Schauung"l1 ist, wie kürzlich F. Müller darlegte, nichts als "metaphysisch verwurzelte Irrationalität"20; und die vorgeblich empirische Erforschung von Rechtsbegriffen als Seinsbegriffen enthüllt sich als leeres Postulat, das die Empirie letztlich doch wieder der Spekulation ausliefert. Stärker an den Fakten orientiert sich hingegen Draths "soziologische Staatslehre" mit ihrer konsequenten Übertragung sozialwissenschaftlicher Kategorien und Modelle auf die "sozialen Realitäten" Recht und 1. C., S. 38. 1. C., S. 43. 11 Vgl. 1. C., S. 37-48. 17 Gegen Hellers "positivistischen" Ansatz hingegen F. Müller, Normstruktur und Normativität, Berlin 1966, S. 81; vgl. auch Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied u. Berlin 1963, S. 22; anders Drath, Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts, Tübingen 1963, S. 20. 18 Zur Begriffsbildung im Öffentlichen Recht, in: Strukturprobleme der modemen Demokratie, Karlsruhe 1958, S. 262-276 (269). Zugunsten der Phänomenologie plädiert heute wieder A. Troller, Der Einfluß der phänomenolog. Methode auf das zivilprozessuale Denken, zmv, 7 (1967), S. 3-11. 11 1. C., S. 270. 10 1. c., S. 88. l'

15

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C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

Staat21 • Im Rückgriff auf die strukturell-funktionalistische Theorie Parsons etwa 22 sollen die staatlichen und rechtlichen Ordnungszusammenhänge, die Bezüge zwischen sozialem Verhalten und bestimmten Institutionalisierungen, einsichtig gemacht werden. Die Erforschung der Rechtswirklichkeit als eines gesellschaftlichen Wirkungszusammenhangs soll das Funktionieren des Rechts begreifen lehren und Einsichten für die Rechtsanwendung und -gestaltung liefern. Der Katalog soziologisch vorgeformter Begriffe wie Rolle, Interaktion, Internalisierung von Normen, Status und Mobilität wird damit als ein normativ brauchbarer exemplifiziert, eben weil die Rechtsnorm nicht als im Gegensatz zur sozialen Wirklichkeit stehend, sondern vielmehr als aus ihr hervorgehend befunden wird. Dieses von F. Müller als Einbruch sozialwissenschaftlicher Methodik in die juristische zurückgewiesene Verfahren23 droht jedoch, eigenem Anspruch zuwider, der Ideologie von der totalen Verifizierbarkeit und Normativität sozialer Phänomene zu erliegen; mithin bleibt auch hier die Frage nach der Beziehung von Faktum und Norm offen. 3. Spekulativer Ansatz und empirische Entwicklung a) PTimäTe WeTtentscheidung als Ausgangspunkt

Eine gängige Lehrmeinung haftet an der These vom Dualismus von Sein und Sollen24 , die wie die Unterscheidung und Entgegensetzung von Subjekt und Objekt25 nicht nur ein systematisches Bedürfnis befriedigen soll, sondern sich an realen Entsprechungen zu orientieren 21 Vgl. über eine kohärente sozial-kulturelle Theorie des Staats und Rechts, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, 1. Bd., Tübingen 1966, S. 35-80; Der Staat der Industriegesellschaft, Entw. einer sozialwiss. Staatstheorie, Der Staat, 5 (1966), S. 273-284; Staatstheorie oder politische Philosophie? In: Die Philosophie u. die Wissenschaften, Meisenheim a. GI. 1967, S. 287-300; vgl. auch Grund und Grenzen usw.; hierzu z. B. EveTS, Aspekte der Gerechtigkeit, JZ, 22 (1967), S. 73-79 (75). Die "Entdeckung des Sozialen" schreitet im öffentlichen Recht fort (vgl. Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, Tübingen 1967). 22 Vgl. Parsons, Essays in Sociological Theory, New York, London 1964; vor allem: The Present Positions and Prospects of Systematic Theory in Sociology, pp. 212-237; Die jüngsten Entwicklungen in der strukturell-funktionalen Theorie, Kölner Ztschr. f. Soziol. 16 (1964), S. 36--49. Uber Panons jetzt Bergmann, Die Theorie des sozialen Systems von Talcott Parsons, Frankfurt a. M. 1967. !3 Vgl. I. c., S. 31 ff. Zu Drath auch H.-L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, Berlin 1966, S. 152, Anm. 1. !4 Vgl. z. B. Valdes, über das Verhältnis zwischen dem rechtlichen Sollen und dem Sein, ARSP, Beih. 41, NF 4 (1965), S. 299-321; Ackermann, Das Verhältnis von Sein und Sollen als ein Grundproblem des Rechts, Winterthur 1955. 2$ Kritisch F. Müller, I. c., S. 15, S. 26; Adorno, I. c., S. 174 f., 182 ff.

I. Das Verhältnis von Theorie und Empirie

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sucht. Die Lösung des Konflikts findet sie entweder in der Statuierung der Priorität der Norm oder aber in der Aufhebung des Gegensatzes durch den bergenden Begriff der hegeIschen Idee. In letzterem Falle wird jedoch die für das Recht bedeutsame Empirie praktisch verabschiedet; und das Bekenntnis zu ihr - soweit es überhaupt existiert scheint allenfalls als ein modisches, von der Zeit abgerungenes Zugeständnis an den Faktenglauben einer realitätsbesessenen Wissenschaft. Der erstere Gedankengang ist - als kantisches Erbe - traditionell in der Rechtswissenschaft beheimatet. Ihm entspricht die bekannte Formel von der Jurisprudenz als Norm- und der Soziologie als Tatsachenwissenschaft, welche jüngst wieder Bockelmann am Modell des Verkehrsrechts exemplifizierte26 . In ihm kehrt der Dualismus von Norm und Faktum, als rechtsphilosophische Erkenntnis und Realie des Rechtslebens zugleich, wieder. Ausgangspunkt für die Bestimmung jenes Verhältnisses ist die Einsicht, daß auch jede empirische Erforschung sozialer Phänomene sich an einem Ziel orientieren muß. Daran hat das tradierte Schema von Normund Tatsachenwissenschaften seine innere Wahrheit, daß ohne eine letzte Setzung, sei sie Norm oder Hypothese, nicht auszukommen ist. "Jedes angeblich voraussetzungslose Verfahren in der Philosophie" so heißt es schon bei Schopenhauer - "ist Windbeutelei"27; und man muß hinzufügen: nicht nur in der Philosophie. Selbst das operationalistische Verfahren der empirisch-analytischen Soziologie28 ist diesem Gesetz unterworfen; und man mag allenfalls berechtigt sein, nach der Zulänglichkeit der Methoden zur Falsifizierung oder Verifizierung von Hypothesen sowie danach zu fragen, wie es denn in einem gesellschaftlichen Zustande gehalten werden soll, in dem die Kenntnis sozialer Daten in umgekehrtem Verhältnis zur Notwendigkeit der Regelung sozialer Verhältnisse steht. Daß Denkentwürfe, Hypothesen, Modelle und was immer2u - als gewissermaßen spekulativer Ansatz vonnöten sind, lehrt jede sozialwissenschaftliche Untersuchung; und selbst der ZI a.a.O., S. 229 ff.; so auch Hirsch, Ordnungsgefüge, S. 45. Zu verweisen wäre auf den Vorgang Max Webers (vgI. neuerdings wieder J. Winckelmann. Einführung in: Girndt, Das soziale Handeln als Grundkategorie erfahrungswissenschaftlicher Soziologie, Tübingen 1967, S. 18 f). Z7 Parerga und Paralipomena, 2. Bd., § 27, S. 29: "denn immer muß man etwas als gegeben ansehen, um davon auszugehen". Z8 Hierzu Bergmann, Sinn und Unsinn des methodologischen Operationalismus, in: Logik der Sozialwissenschaften, S. 104-112. 20 Zu den verschiedenen Stufen theoretischer "Fixierungen" König, in: Handbuch der empir. Sozialforschung, I, S. 1-17 (5-8); Grundlagenprobleme der soziologischen Forschungsmethoden, in: Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Berlin 1963, S. 23-44 (32); Kaplan, Concepts, pp. 34-83, Laws, 84-125 (I. c.); Segerstedt, Bemerkungen zur soziolog. Theoriebildung, Kölner Ztschr. f. Soziologie u. Sozialpsychol. 19 (1967), S. 429-439.

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MÜlIer-Dletz

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c. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

entschiedenste Positivismus, wie sehr er sich sonst von dem fatalen Hang zur vorschnellen Theorienbildung distanzieren mag und aus dem Teufelskreis der Ideologien durch Ausbildung versachlichter Terminologien auszubrechen versucht, widerspricht dem nicht. Denn auch jede Erforschung eines sozialen Phänomens steht unter einer bestimmten Fragestellung, empfängt von dort ihren Sinn und ist schwerlich vom Kontext eines umfassenderen gesellschaftlichen Konzepts ablösbar. Das Ziel, im Hinblick auf welches soziale Wirklichkeit zu befragen ist, liegt dieser voraus; und empirische Daten, welcher Art auch immer, liefern keineswegs die Explikation eines Sinnzusammenhangs mit3o • Für sich genommen erscheinen sie vielfach sinnlos und zufällig; Bedeutung wächst ihnen erst zu auf dem Hintergrund bestimmter wissenschaftlicher Erwartungen und Interessen. Empirische Analysen können daher immer nur in eine Bestätigung oder Verwerfung solcher Vorausentwürfe münden; in der Herstellung objektiven Sinnes wirken ihre Daten freilich auch normbeeinflussend. b) Zum Korrektivcharakter der empirischen Erfahrung

Auf das Recht bezogen, heißt dies, daß eine primäre Wertentscheidung, die freilich ihrerseits kritisch zu reflektieren ist, auch am Ausgangspunkt jeder empirischen Erforschung der Rechtswirklichkeit zu stehen hat31 • Nur muß wissenschaftliche Redlichkeit darauf insistieren, daß bis zu dem Punkt zurückgefragt wird, wo Erkenntnis und Kenntnis im Bekenntnis ihren Ursprung haben, damit dieses nicht zum bequemen Ausweg werde, sich hinter nicht mehr diskutierbaren Wertsetzungen zu verschanzen. Nur wo das mögliche Maximum an Rationalität auf dem Weg wissenschaftlicher Erforschung sozialer Phänomene ausgeschöpft wird, läßt sich dem Einwand spekulativen Verfahrens zureichend begegnen3!. Der normative Gehalt jener Ausgangshypothese aber weiß sich gebunden an den sehr subjektiven Erfahrungs- und Erlebnisbereich des einzelnen, freilich auch - und hier tritt die gesellschaftliche Vermittlung ins Spiel83 - an kulturell vorgeformte Denkmuster und Verhal.. Vgl. z. B. Adorno, Soziologie und empirische ForschunS, 1. c.; Poppet",

Logik der Forschung, S. 22 ff., 31 ff.; Albert, Probleme der Theoriebildung, 1. c., S. 19 ff. 31 Zur Problematik rechtssoziologischer Analysen LassweH, Das Qualitative und das Quantitative in politik- und rechtswissenschaft1. Untersuchungen, in: Logik der Sozialwissenschaften, S. 464-476. 82 Vg1. auch F. MüHer, 1. c., S. 68 ff., der freilich einen sozialwissenschaftlichen Ansatz ablehnt und stattdessen im Anschluß an Gadamer einen hermeneutischen vorzieht (S. 32 u. ö.). aa Vg1. Adorno, Notiz über sozialwissenschaftliche Objektivität, 1. c.

I. Das Verhältnis von Theorie und Empirie

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tensweisen. Insofern ist er doch, wiewohl als ein Absolutes gesetzt, analytischer Durchleuchtung zugänglich und damit relativiert. Damit zeigt der empirische Befund - immer unter der Voraussetzung sachgerechter Ermittlung - die Bedingungen, Voraussetzungen und Grenzen der Strafe wie jeder anderen sozialen Erscheinung an. Dementsprechend kann er entgegen der puristischen Lehre vom reinen Normativismus zu einem Wandel primärer Wertentscheidungen führen, zum Umbau von Institutionen und zur Veränderung von Funktionen. Denn jede, selbst aus vorwissenschaftlicher Primärerfahrung34 gewonnene Einsicht kann im Lichte wissenschaftlich reflektierter Empirie fragwürdig werden, sofern sie nicht als fundamentale Wertentscheidung jeglicher Diskussion entzogen ist. "Erfolgreiche Theorien pflegen ... nicht selten bisheriger Erfahrung zu widersprechen85 ." Aber nicht jede Diskrepanz zwischen Faktum und Norm zwingt zu deren Berichtigung. Adornos Einsicht, wiewohl hegelianischen Ursprungs, daß die Fakten, auf die empirische Sozialforschung "ihren Methoden nach als auf ihr Letztes stößt, ... selber kein Letztes, sondern ein Bedingtes" sind38, daß also das Absolutsetzen sozialer Daten das Ende jedweder kritischer Auseinandersetzung mit der Gesellschaft in ihrem gegenwärtigen Zustand bedeutet und damit die Abschaffung der Reflexion überhaupt, gilt gleichermaßen für die analytische Erforschung der Strafe. Der Korrektivcharakter, der empirischer Erfahrung zukommt, ist damit seinerseits relativiert. Denn daß ein gewisser, gleichsam vorwissenschaftlich gewonnener Normbestand, firmiere er als Naturrecht oder wie immer37 , auch durch empirische Analysen nicht zu korrigieren ist, folgt aus den Konsequenzen einer Barbarisierung des Strafrechts, die sonst kaum abzuweisen wäre: Die restlose Hingabe an die Faktizität wäre nur um den Preis einer regredierten, ihrer Humanität beraubten Gesellschaft zu haben. So wäre weder die Wiedereinführung mittelalterlicher Leibes- und Lebensstrafen demoskopisch zu rechtfertigen38 - und erbrächten Umfragen auch die maximalen Ziffern 84 Ein Terminus, der an Schelskys Prägung "verwissenschaftlichte Primärerfahrung" anknüpft (Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf

1959, S. 81). 35 Albert, Im Rücken des Positivismus, 1. c., S. 881. 31 Soziologie und empir. Forschung, 1. C., S. 220 f.

37 Auf die Bezeichnung kann es hier nicht entscheidend ankommen; gravierender wiegt schon das Bedenken rechtsphilosophischer Ableitung und Abgrenzung im einzelnen (vg1. hierzu Kaupen, 1. C., und die Naturrechtskritik Kelsens in: Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964, S. 232-292; zum ganzen Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 3. A., Karlsruhe 1964; Evers, 1. c.; vgl. auch Werner, Das Problem der Objektivität von rechtlichen Grundwerten, St. Gallen 1967). as Zur Funktion der sog. öffentlichen Meinung etwa Noelle, Öffentliche Meinung und soziale Kontrolle, Tübingen 1966; Adorno, Meinung, Wahn,

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C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

totalitärer Gesellschaften3U - , noch wäre die Abschaffung der Menschenwürde überhaupt, des Rechtes des Menschen auf den "aufrechten Gang"40 auch im Stande der Unfreiheit, gegen eine deshalb etwa erfolgreichere Kriminalpolitik einzuhandeln41 • Insoweit gilt der von Oberndörfer für die "praktische Wissenschaft von der Politik"42 sowie von Geerds für die Kriminalpolitik43 entwickelte Gedanke, daß Politik und damit auch Kriminalpolitik44 sich nicht allein in empirisch-analytischer Erforschung bestimmter sozialer Gesellschaft, in: Eingriffe, Frankfurt a. M. 1963, S. 147-172; Weischedel, Wahrheit und Unwahrheit der öffentlichen Meinung, in: Wirklichkeit und Wirklichkeiten, Berlin 1960, S. 266-275. 3D Hierzu Ludz, Entwurf einer soziolog. Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft, Kölner Ztschr. f. SozioI. 16 (1964), Sonderh. 8, S. 11-58; zum Selbstund Fremdbild der komplementären Kriminologie Buchholz, Hartmann u. Lekschas, Sozialistische Kriminologie, Berlin 1966; Kaiser, Zum Verhältnis Kriminologie und Kriminalpolitik in der Sozialistischen Gesellschaft, in: Kriminolog. Wegzeichen, Hamburg 1967, S. 211-232. 40 Bloch, 1. c., S. 237: "Das naturrechtliche Anliegen war und ist das Aufrechte als Recht, so daß es an den Personen geehrt, in ihrem Kollektiv gesichert werde." J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1. T. 1784 (hierzu Kant, Rezension, in: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik u. Politik, Hamburg 1959, S. 21-46 (27 f.). 41 VgI. z. B. Sveri und Gripne, The integrity of the individual's personal rights in connexion with the individual treatment of transgressors of law, Nord. kriminalist. Arsbook, 1962, pp. 77-80,93-95; Ancel, Droit penal classique et defense sociale, SchwZStr. 81 (1965), pp. 1-23; Merle, Pinatel, Confrontation du droit penal classique et de la defense sociale, Revue de Science criminelle et de droit penal compare, 4 (1964), pp. 725-736, 757-773; Göransson, Human dignity in the execution of punishment, in: Studies in penology, The Hague 1964, pp. 108-112. 42 Politik als praktische Wissenschaft, in: Wissenschaftl. Politik, Freiburg i. Br. 1962, S. 9-58 (19 ff.). Zur Undenkbarkeit wertfreier politischer Theorie auch Hennis, 1. c., S. 19 ff., 56 ff.; D. Grimm, Polit. Wissenschaft als normative Wissenschaft, JZ, 20 (1965), S. 434-440. VgI. auch hinsichtlich der Sozialwissenschaften Simpson, Naturalist ethics and the social sciences, Amer. Psychologist, 21 (1966), pp. 27-36; vgI. ferner Faupel, Die internat. Politik im Rahmen der Sozialwissenschaften, PVS, 8 (1967), S. 167-199; v. Ferber, Bemerkungen zum Verhältnis der Gesellschaftswissenschaften zur Sozialpolitik, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, 1, Tübingen 1966, S. 323-342; Gutenberg, Zur Frage des Normativen in den Sozialwissenschaften, in: Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Berlin 1963, S. 121-129. n Die Kriminalität als soziale und als wissenschaft!. Problematik, Tüblngen 1965; ähnlidl schon v. Web.,., Kriminalpoliük und Strafrechtsreform, 1. c., S. 17 f. 44 Oberndörfer bezeichnet die Politikwissenschaft im Anschluß an Fraenkel als "Integrationswissenschaft" (1. c., S. 22), nach Geerds ist "die Kriminalpolitik als Teilgebiet der Politik den gesamten Kriminalwissenschaften unmittelbar zugeordnet" (1. c., S. 29, sog. "kriminalpolit. Synthese"). Dementsprechend erblickt O. den "synoptisch-integralen Charakter der Politik" darin, daß Wirtschafts-, Sozial- und Rechtspolitik "in ihren spezifischen Bezügen mit der Politikwissenschaft verbunden" seien. "Sie bleiben dabei auf die Wissenschaft von der Politik verwiesen, insofern sie das Partikuläre auf das Ganze hin integriert." (1. c., S. 38 f.).

I. Das Verhältnis von Theorie und Empirie

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Phänomene sowie der praktischen Auswertung sozialer Daten erschöpft, sondern diese ihrerseits ebenso an vorformulierten Wert- und Leitvorstellungen zu messen haben, wie die Wertsetzungen selbst sich kritischer Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit zu stellen haben45 • In diesem Sinne kann Kriminalpolitik nicht mehr länger als utilitaristisches Nützlichkeits- und Zweckdenken in einern von der Strafrechtsdogmatik gezogenen Rahmen verstanden werden 48 , sondern allein als die Vereinigung normativer und empirischer Gesichtspunkte, als welche sich in Wahrheit noch jede Strafgesetzgebung, wie dürftig auch ihre empirische Basis gewesen sein mag, empfunden hat. Eine solche Bestimmung der Kriminalpolitik ist unabweisbar, setzt man diese, wie Schwalm es tut, mit Strafrechtsreform gleich47 • Nur eine weitgehend dogmatisch strukturierte Strafrechtswissenschaft hat die Einsicht Robert v. Hippels aus ihrem Bewußtsein verdrängen können, daß eine ungerechte Strafrechtspflege niemals zweckmäßig sein könne48, daß also die Ablösung der Gerechtigkeit vorn Zweck und umgekehrt nichts anderes ist als der Versuch einer wissenschaftsideologischen Rationalisierung, der - je nach dem Standort des Betrachters - die Gerechtigkeit als impraktikabel mit dem Zweck oder dessen Verfolgung als plane Preisgabe des Täters an die Staatsnützlichkeit mit eben der Gerechtigkeit auszuspielen sucht. Dementsprechend kann die Frage nach dem Verhältnis von Norm und Faktum nicht allein unter dem Aspekt der Selbstbehauptung absoluter Wertvorstellungen gegenüber positivistischer Anmaßung gesehen werden, wonach empirische Analyse beansprucht, aus den Realfaktoren purer Tatsächlichkeit die Steuerungsmechanismen einer idealen Gesellschaft herauszupräparieren. "Die politisch-soziale Deskription" - so bemerkt Oberndörfer für die Politikwissenschaft - "soll prinzipiell in die Frage nach den in der jeweiligen historischen Konstellation enthaltenen Alternativmöglichkeiten politischen Handeins einmünden49 ." Wer wie gebannt auf den Fetisch des Geltungsanspruchs bestimmter Normen 45 Ein polares Verhältnis beider behauptet Arthur Kaufmann, in: Die ontologische Begründung des Rechts, Darmstadt 1965, S. 47~508 (vgl. hierzu Evers, 1. c., S. 74). 48 So aber noch Sax, 1. c., S. 1 (einschränkend aber S. 3 f.); Maurach, in: Festschr. f. Eb. Schmidt, 1. c., S. 302 f. Derartige Interpretationen werden natürlich leicht durch Gegenpositionen zur h. M. wie die Mergens (Die soziale Zweckmäßigkeit in der modernen Kriminalpolitik, 1. c.) herausgefordert (vgl. auch Mergen, Kriminologie, Berlin 1967, S. 465). 47 "Strafrechtsreform ist in erster Linie Kriminalpolitik." (In: Kriminalpolit. Gegenwartsfragen, Wiesbaden 1959, S. 62). 48 Deutsches Strafrecht, I, S. 534, Anm. 1: "Zu beachten bleibt dabei, daß zweckmäßig nur eine zugleich gerechte Rechtsordnung ist." Vgl. auch v.

Weber, 1. C., S. 25 f. 4t

1. C., S. 20.

C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

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als geschichtlicher und jeweiliger Kultur verhafteter starrte, übersähe, daß das Studium der Empirie gleichzeitig auch Ansatzmöglichkeiten für neue Orientierungen liefern kann, freilich nicht immer muß. Ihr Korrektivcharakter äußert sich nicht zuletzt in der Entlarvung von irrealen Idealen als utopischen Wunschbildern, deren Verwirklichung allein der Phantasie möglich und vorbehalten ist50 • In diesem Sinne siedelt empirische Interpretation der Strafe zwischen Positivismus und Utopie. An ihrem Beispiel wäre zu zeigen, daß sinnvolle Kriminalpolitik niemals auf die Eliminierung der Kriminalität schlechthin bezogen sein kann51 , weil sie in der Verfolgung dieses unerreichbaren Zieles möglicherweise das realisierbare Weniger verfehlte: Wirkt der soziale Mechanismus von Verbrechen und Strafe in jeder Gesellschaft stabilisierend, dann kann schon der Versuch, eine jener sozialen Erscheinungen zu beseitigen, das gesamte Sozialgefüge ins Wanken bringen, gerade die abzuwehrende Anomie produzieren52 • Zugleich aber unterliegen Ermittlung und Kenntnis empirischer Daten selbst den diesen vom Gegenstand, dem Menschen in seiner sozialen Umwelt, her immanent gesetzten Grenzen. Involviert der Korrektivcharakter der Empirie die Verneinung von Spekulation und Utopie, so erzwingt die grundsätzliche Offenheit und Entwicklungsfähigkeit des Menschen zur Zukunft hin eine Absage an planen naturwissenschaftlichen Kausaldeterminismus, der nach dem alten Schema von Ursache und Wirkung aus bestimmten sozialen Handlungsabläufen der Vergangenheit mit Hilfe der Theorie gleichsam das Bild der Zukunft herausdestillieren möchte. Hiernach erscheint die These Alberts problematisch, daß die Feststellung bestimmter empirischer Vorgänge exakte Voraussagen hinsichtlich anderer Vorgänge zuließe, "gleichgültig ob es sich um so Gemeint ist hier der klassische Utopiebegriff, nicht Pichts Verständnis einer "aufgeklärten Utopie" (Prognose. Utopie. Planung. Stuttgart 1967, S.14 f., 32 ff.; vgl. ferner Bloch, Antizipierte Realität - wie geschieht und was leistet utopisches Denken? In: Universitätstage 1965. Wissenschaft und Planung, Berlin 1965, S. 5-15; W. Moore, The Utility of Utopies, Amer. socio1. Rev. 32 (1966), pp. 765-772). Vg1. auch Valdes, 1. c., S. 318: "Das Faktische vermittelt dem Sollen keinen Inhalt,· aber es begrenzt es negativ." 51 Der Kriminalität schlechthin kann nicht vorgebeugt, sie kann nur reduziert werden (vg1. Malagoda, Can crime be prevented? Probation and Child Care,5 (1966), pp. 11-17). U

VII. hierzu KÖftifl, Anornie, in: Soziologie, S. 22-31; Clinerd et aI., Ano-

mie and Deviant Behavior, London 1964; Cohen, The sociology of the deviant act: anomie theory and beyond, Ameriean Socio1. Rev. 30 (1965), pp. 5-14; vor allem Merton, Social Theory and Social Strueture, rev. ed., Glencoe/Ill. 1959, pp. 131-194; vg1. ferner Rose, Anomie and Deviation: A conceptual framework for empirical studies, Brit. Journ. of Sociology, XVII, (1966), pp. 29-45; Me Closky, SchaaT, Psychological dimensions of anomie, Amer. sociol. Rev. 30 (1965), pp. 14-40; Jones, Punishment and social values, in: Criminology in Transition, London 1965, pp. 3-22 (10-18); Powetl, Crime as a function of anomie, Journ. of Crim. Law, Criminology, 57 (1966), pp. 161-171.

I. Das Verhältnis von Theorie und Empirie

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Erscheinungen im Bereich der unbelebten Natur, der vitalen Prozesse oder der sozialen Beziehungen zwischen Menschen handelt"53. Popper selbst hat "die Möglichkeit einer historischen Sozialwissenschaft, die der theoretischen Physik entsprechen würde", aus dem - nichtvorhersehbaren - Anwachsen der wissenschaftlichen Erkenntnis heraus negiert und der Sozialprognose nur einen begrenzten Wirkungsbereich zugesprochen54 ; deren Einflußnahme auf das Geschehen selbst schließe exakte Vorausberechnungen aus 55 • Diese Einsicht erscheint heute als Gemeingut jeder sich nicht als nur positivistisch interpretierenden Sozialwissenschaft56• "Eine exakte Vorausberechnung menschlicher Aktionen und konkreter Ereignisse in der Zukunft ist ausgeschlossen, und zwar nicht nur weil die Faktoren, die menschliches Handeln bedingen, viel zu komplex sind, zu reich an Variablen ... sondern weil Menschen im Gegensatz zu Stoffen die Eigenschaft haben, auf Voraussagen zu reagieren57 ." Noch entschiedener ist B. Moore von der Unmöglichkeit, "Voraussagen über den Gang gesellschaftlicher Abläufe zu machen", ausgegangen und hat sie nicht mit "unserem unzulänglichen Wissen" begründet, sondern mit der überlegung, daß "das Moment der Unbestimmbarkeit künftiger sozialer Entwicklung ... selber ein Bestandteil dieser Entwicklung" sei58• An den Aporien der Prognoseforschung58 läßt sich ablesen, wie sich die Projektion naturwissenschaftlicher Kausaltheorien auf das Verhal53 Probleme der Wissenschaftslehre usw., in: Handbuch der empir. Sozialforschung, S. 55; vgl. ferner: Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften, in: Logik der Forschung, S. 126-143. 54 Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, S. XII (vgl. S. XI f., 30 f., 123 u. ö.); vgl. auch Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften, in: Logik der Sozialwissenschaften, S. 113-125. 55 Vgl. 1. c., S. 11. 58 Vgl. z. B. Sontheimer, Voraussage als Ziel und Problem moderner Sozialwissenschaft, in: Universitätstage 1965, Berlin 1965, S. 16-33 (20 ff.). 57 Sontheimer, 1. c., S. 21. 58 Strategie der Sozialwissenschaft, in: Zur Geschichte der politischen Gewalt, Frankfurt a. M. 1966, S. 85-123 (119 f.). SI Vgl. neuerdings Middendorff, Die kriminologische Prognose in Theorie und Praxis, Neuwied 1967 (S. 82 ff.); Stark, Statistische Prognose und verantwortliche Entscheidung, in: Prognose und Bewährung, Berlin 1966, S. g.:.:..39 (32 ff.); Ward, Validating prediction scale, Brit. Journ. of Criminology, 7 (1967), pp. 36-44; van Gils, Het prediktieonderzoek in de kriminologie, Tijdschrift voor Strafrecht, 73 (1964), pp. 130-142; Börjeson, Kriminologisk prognosforskning, Nord. Tidsskrift for Kriminalvidenskab, 52 (1964), pp. 150-174; Glaser, The Effectiveness of a Prison and Parole System, pp. 289-310; Rose, Trends in the use of prediction, Howard Journ. of Penology, XII (1966), pp. 26-33; Klapdor, Die Rückfälligkeit junger Strafgefangener, zugleich ein Beitrag zur Prognoseforschung, Göttingen 1967; Skaberne, Kriminalna prognoza, Rev. za Kriminalistiko in Kriminalogijo, 15 (1964), pp. 191-201; Munkwitz, Zur Prognose der Fruhkriminalität, Neuwied 1967; vgl. auch W. Wimmer, Psychiatrisch-kriminolog. Prognose. Eine katamnest. Unters. Diss. jur. Heidelberg 1967.

C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

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ten des Menschen faktisch auswirken kann. Nicht nur, daß die quantitative Bedeutung meßbarer Fehlprognosen möglicherweise in eine qualitative umschlägtll O, sondern daß die Voraussage künftiger Kriminalität für jeden potentiellen oder reellen Täter Fixierung auf eben diese zur Folge haben, den Charakter eines neurotischen Zwangs erhalten kann, dem sich der im vorhinein als kriminell Abgestempelte zu fügen hat1l 1 • Die Voraussage birgt demnach, wenn nicht eine Verpflichtung, so doch ein Schicksal, das zu erfüllen dem einzelnen aufgegeben scheint. Der Anspruch des Ehepaars Glueck, schon bei Kindern im Alter von 2 bis 3 Jahren Kriminalität prognostizieren zu können1l2 , steht hiernach, abgesehen von der methodischen Problematik63 , in Gefahr, auf eine Preisgabe der Zukunft des Menschen an die leere Faktizität seiner Vergangenheit hinzuwirken: Seine Hoffnung kann nur noch in der Möglichkeit einer Falsifizierung jener Prognose liegen; der Mensch lebt hier also von und in der Widerlegung eines mechanistischen Kalküls, dessen Bestätigung existenzvernichtend wäre, das aber - um seiner Wissen10 Vgl. hierzu insbes. F. Meyer u. Horstkotte in: Prot. des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, 4. Wp., S. 881-887, 887-891; Sader (Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Testverfahren, Bern u. Stuttgart 1961) erblickt selbst in den Ergebnissen psychologischer Tests "Wahrscheinlichkeitsaussagen", die mit einem erheblichen "Irrtumsrisiko" belastet seien

(S. 102).

81 Zur Veränderung der sozialen Szene durch Voraussagen z. B. Popper, Historizismus, S. 11; Streeten, in: Myrdal, Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Hannover 1965, S. 17 ff.; M erton, The self-fulfilling prophecy, in: Social Theory and Social Structure, pp. 421-436 (jetzt unter dem Titel: Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, in: Logik der Sozialwissenschaften, S. 144--161). Popper nennt das "Thomassche Theorem": "Wenn die Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real," den "Odipuseffekt". Auf das spezielle Problem der "Behandlung und Resozialisierung psychisch gestörter Täter" gemünzt, heißt es bei Baan (in: Psychiatrie und Gesellschaft, Bern u. Stuttgart 1958, S. 251-262 (258): "Bei einer klassifizierenden Haltung wirkt die hoffnungslos falsche Diagnose und Prognose durch die Reziprozität dieser armseligen Begegnung lähmend auf das Opfer und neigt dazu, rezidivogen zu sein. Diagnostizieren wir· Psychopathie, Amorphie usw., dann bleibt das nicht ohne Rückwirkung auf den Probanden, und er zeigt dann in der Tat das unserer Diagnose entsprechende

Bild;"

.

Vg1. Identification of potential delinquents at 2-3 years of age, Exc. crim. 6 (1966), pp. 3Oa--314; vgl. audJ. Potential juvenile delinquente can be identified: What next? Brit. Journ. of Criminology, 4 (1963-64), pp. 215--226. Vgl. ferner Stulllllebine, The potential delinquent, Mental Hygiene, 49 (1965), pp. 538-543. 83 Vg1. Rose, Early identification of delinquents, Brit. Journ. of Criminology, 7 (1967), pp. 6-35 (19-25); Reiss, Critique of the Glueck Social Prediction Table, in: The Sociology of Punishment and Correction, ed. by Johnston, Savitz, Wolfgang, New York, London, 1962, pp. 273-274. Vg1. zur Methode Middendorff, 1. c., S. 24-42; Craig, GUck, Ten Years' Experience with the Glueck Social Prediction Table, Crime and Delinquency, 9 (1963), pp. 249-261; Mergen, 1. c., S. 511-512; unkritisch E. L. und R. E. Hartley, Die Grundlagen der Sozialpsychologie, Berlin 1955, S. 257-260. et

II. Die Anwendung des Modells auf die Erforschung der Strafe

schaftlichkeit willen tion drängV'4.

57

nach einem immer stärkeren Grad von Perfek-

Dieser Gefahr wäre einmal mit dem Hinweis auf die begrenzte Richtigkeit kriminologischer Prognosen, mehr indes noch mit der engen Verknüpfung von Prognose und Therapie, die dem Dementi negativer Vorausschau dient, zu begegnen65 • Die Paradoxie, daß kriminologische Prognosen lediglich bestimmte Trends und also korrelationsstatistisch und intuitiv als wahrscheinlich interpretierte Geschehensabläufe, aber gerade nicht die Gewißheit ihres Eintretens demonstrieren können, daß dieser Umstand andererseits "Therapie" noch in ungünstig beurteilten Fällen ermöglichV'6, scheint den Widerspruch zwischen Wissenschaft und Humanität zu lösen. Was an Ungewißheit bleibt, mag zu Lasten der Gesellschaft gehen; dar an hat jedoch der einzelne seine Freiheit. Hiernach wäre es ein fundamentaler Irrtum zu glauben, man könne die Vielfalt und Vielgestaltigkeit des sozialen Lebens in bestimmte Handlungsschemen pressen und damit die Pluralität der Deutungsmöglichkeiten auf einzelne und folglich zufällige Interpretationen reduzieren. Denn der methodische Fehler eines solchen Vorgehens liegt in der überzeugung von der "Mathematisierbarkeit", der Logizität und Kausalität sozialen Geschehens. Empirische Untersuchungen menschlichen Verhaltens im Kontext der Gesellschaft liefern zwar Bausteine für die Etablierung oder Manifestierung bestimmter Handlungsmodelle. Ihre Ergebnisse sind aber, weil durch die Varietät und Interdependenz sozialer Erscheinungen bedingt, hinter denen ja immer die Natur des Menschen steht, nach der Zukunft hin offen, niemals abgeschlossen und abschließbar; sie bewegen sich, als stetem Wandel unterworfen, im Bereich des Vorläufigen und sind damit jedweder Dogmatisierung unzugänglich.

ß. Die Anwendung des Modells auf die Erforschung der Strafe 1. Rechtsgfiterschutz als normative Funktion von Strafrecht und Strafe

Diese methodische Basis als eine realitätszugewandte hat auch einer empirisch-analytischen Erforschung des Phänomens Strafe als Grund14 Entschieden Stark, l. c., S. 34: "Die statistischen Prognosen stehen im Widerspruch zum Erziehungsvollzug. " 85 Vgl. Stark, l. c., S. 35; hinsichtlich der Sozialprognose z. B. Picht, l. c., S. 21 f. 8e H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, S. 268, weist auf das Wort W. Benjamins hin: "Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben."

C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe .

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lage zu dienen. Der skizzierten Beziehung zwischen Norm und Faktum entsprechend ist zunächst die Ausgangshypothese oder das normative Leitbild zu bestimmen, an das die Empirie anzuknüpfen hat. Dabei fächert sich das formale Modell Strafe in deren Verhältnis zum Strafrecht im ganzen und zu den einzelnen Strafarten als seinen Partialstrukturen auf. Strafe in diesem Sinne partizipiert an der allgemeinen Funktion des Strafrechts; die Strafarten sehen sich als je einzelne Besonderungen auf die Allgemeinheit der Strafe bezogen und empfangen von dieser ihren Gehalt, der vor ihren je spezifischen Funktionen liegt. Deshalb ist vor der Bestimmung der Strafzwecke die des Strafrechts; und das einigende Band gemeinsamer Zwecksetzung kennzeichnet Freiheitsstrafe und Geldstrafe gleichermaßen67 • In jene Zielsetzung gehen die speziellen, an der eigentümlichen Struktur der besonderen Strafarten orientierten Funktionen ein. Es gilt also die für die Strafe typischen Momente ihrer einzelnen Formen herauszufinden. Die Prämisse, daß gewisse essentialia allen Arten von Strafe gemeinsam sind, erscheint so lange unverzichtbar, als man am Begriff der Kriminalstrafe schlechthin festhält und ihn nicht durch mehrere, vielleicht sogar qualitativ verschiedene und jeweils ausschließlich durch die besondere Weise, in der Strafe sich verwirklicht, bestimmte setzen will. Strafrecht allgemein bildet die normative Bürgschaft für geordnetes soziales Zusammenleben, soweit Recht mit dem Mittel der Pönalisierung solches überhaupt garantieren kann. Es hat den einzelnen wie die Gemeinschaft, die um seiner Selbstverwirklichung willen existiert, vor Einbußen an lebenswerten Rechtsgütern zu schützen. Wir setzen also die umfassende Aufgabe des Strafrechts und darum auch der Strafe in den Rechtsgüterschutz. Darin liegt zugleich inhaltliche Bestimmung und Begrenzung. Zunächst einmal hat das Strafrecht "als zweckbewußter Rechtsgüterschutz", wie F. v. Liszt die Funktion der Strafe selbst kennzeichnete 68 , die durch die kulturellen Wertungen präfabrizierten und sanktionierten Lebensgüter einer Gemeinschaft vor Verletzung und Bedrohung zu bewahren. Strafrecht ist daher in einem sehr nüchternen und rationalen Sinn "in erster Linie Verbrechensbekämpfungsrecht" 69. Der Strafnorm . . Nur in strukturell-funktionaler Sicht erscheint die Auffassung Schüler1. C., S. 152, daß die Freiheitsstrafe fundamental anders sei als alle anderen Strafarten, treffend (ähnlich schon Sauer, Die Bedeutung der Strafvollzugsordnung vom 22. 7. 1940 für das Strafurteil und die Strafverfolgung, DStR, 7 (1940), s. 136--141); in holistischer Perspektive hingegen muß sich das Zuordnungsverhältnis verändern (vg1. auch Nagler, 1. C., S. 76). 88 Der Zweckgedanke im Strafrecht, S. 29 ff. 8. Würtenberger, Art. Strafrecht, in: Staatslexikon, 7. Bd., 6~ A., Freiburg i. Br. 1959, Sp. 742-771 (742); vg1. ferner Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 2. Aufl., Karlsruhe 1959, S. 66 f.; Noll, Schuld 87

Springorums,

II. Die Anwendung des Modells auf die Erforschung der Strafe

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eignet gleichsam eine staatliche Bestandsschutzgarantie für bestimmte, als existentiell empfundene Werte innerhalb einer je geschichtlichen Gemeinschaft. Freilich werden die vorfindlichen kulturellen Wertungen - unbeschadet der FeststeIlbarkeit einer communis opinio überhaupt - vom modernen Strafgesetzgeber nicht unvermittelt übernommen, wenngleich sich manches von der je besonderen Gesellschaftsverfassung in tatbestandlichen Normierungen niederschlägt7o. Umschreiben diese den jeweiligen Schutzbereich, den es gegen Eingriffe von außen zu sichern gilt, so vollzieht der Strafgesetzgeber mit der Abstufung der Sanktionen in Art und Grad eine zweite Wertung je nach der Einschätzung der Rechtsgüter, denen er Schutz zuteil werden läßt. Die jeweilige "Rechtsgüterordnung"71 stellt mithin gewissermaßen das Endprodukt eines zweistufigen Wertungsvorgangs dar, der zunächst in der Auswahl strafrechtlich zu schützender Lebenswerte und dann in ihren strafrechtsimmanenten Wertkorrelationen seinen Ausdruck findet. Wer dem Strafrecht die alleinige Aufgabe des Rechtsgüterschutzes vindiziert, begrenzt zugleich den Aufgabenbereich der Strafe. Er verabschiedet damit spekulative Vorstellungen metaphysischen Ursprungs, die der Strafe die Herstellung der Gerechtigkeit auf Erden (Kant) oder die Wiederherstellung der sittlichen Idee, die durch den Rechtsbruch verletzt werde, abverlangen72 . Solche Metaphysik der Strafe implizierte deren Selbstaufhebung; denn das hoffnungslose Zurückbleiben der Realität hinter der Idee verwiese Strafe aus jener in die Utopie, um damit - in hegelschem Verstande - den Mord als Mord gelten zu lassen, anstelle der Norm, die ihn verbietet. Die Entscheidung für den Rechtsgüterschutz enthält aber auch die Absage an jeden Versuch, die Funktion des Strafrechts in den Schutz vor dem "Abfall von Gesinnungswerten" und insbesondere der Rechtsund Prävention unter dem Gesichtspunkt der Rationalisierung des Strafrechts, in: Festschr. f. H. Mayer, Berlin 1966, S. 219-233 (221); ZStrW, 78 (1967), S. 657; Baumann, Strafrecht, AT, 4. A. 1966, S. 8 ff. 70 Hierzu sowie zum "Umbau der Rechtsgüterordnung" Würtenberger, Geistige Situation, S. 67-87; auch Jäger, Motive des neuen Strafrechts, in: Strafrechtspflege und Strafrechtsreform, Wiesbaden 1961, S. 63-71; Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, Stuttgart 1957, S. 6 bis 28. Hier tut sich ein reiches Feld sozialer Wechselwirkungen auf, wie es etwa aus ökonomischer Sicht von Rusche und Kirchheimer hinsichtlich der Strafe selbst analysiert wurde. 71 Vgl. Würtenberger, Das System der Rechtsgüterordnung in der deutschen Strafgesetzgebung, Karlsruhe 1933; Oehler, Wurzel, Wandel und Wert der strafrechtlichen Legalordnung, Münster 1950. 71 Als - historische - Prototypen seien Stahl (vgl. Philosophie des Rechts, 2. Bd., 3. A., Heidelberg 1856, §§ 182 ff.) und Rothe genannt (hierzu z. B. Rendtorff, 1. c., S. 21-29). Aktuelle Bedeutung kommt diesem Hinweis nicht mehr zu; er dient nur der Klärung der eingenommenen Position. Hier wie im folgenden ist eine Wiederbelebung alter Kontroversen nicht beabsichtigt.

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C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

gesinnung zu setzen73• Das Strafgesetzbuch ist kein sozialpädagogisch formulierter und repressiv gefaßter Moralkodex, der etablierte Gesinnungswerte zu sichern hätte. Nicht der Abfall von der Rechtsgesinnung, der doch nur im Falle seiner äußeren Manifestation in der Tat zu konstatieren wäre - von tiefenpsychologischen Analysen abgesehen - hat den Strafgesetzgeber zu interessieren, sondern die Schädigung oder Bedrohung eines Rechtsguts in seinem Bestande. Nur insofern Strafrecht an den Willen und an die Vorstellung des Bürgers appelliert, sich normgemäß zu verhalten, mag gesinnungsbildende Kraft von ihm ausgehen und zur Schaffung einer wert ethisch untermauerten Sozialität beitragen 74 • Wer durch Strafrecht vornehmlich auf die Gesinnung des Täters wirken und nicht so sehr auf den äußeren Schutz der Rechtsgüter mit dem Mittel der Strafe abheben möchte, ist zum Nachweis verpflichtet, daß eine solche These vor der Realität Bestand hat; anders verkäme zum leeren Postulat, was doch unter dem Aspekt einer anthropologischpsychologischen Sicht des Menschen Anteil am Wirklichkeitsbefund zu haben beansprucht75 • Strafrecht verwirklicht sich nicht zuletzt durch das Mittel der Strafe und also ist die Funktion des Strafrechts - so lautete die Quintessenz unserer formalen Strafrechtsinterpretation - auch die der Strafe. Bestimmt durch die Schutzaufgabe des Strafrechts, hat Strafe daher die Rechtsgüter zu erhalten, d. h. vor Bedrohung und Verletzung zu bewahren. In ihren je verschiedenen Ausprägungen der Freiheitsstrafe und Geldstrafe geht sie dabei auch verschiedene Wege, um der Varietät potentieller und aktueller Rechtsverletzungen möglichst adäquat zu begegnen. Insofern erfährt die Allgemeinheit der Strafzwecke in der Bedrohung der einzelnen Strafarten institutionen- und leistungsspezifische Akzentuierungen, die freilich - obiger Prämisse zufolge - ihre grundsätzliche Aufgabe nicht in Frage stellen dürfen. Die Orientierung der Strafe am Gedanken des Rechtsgüterschutzes bildet damit die Ausgangshypothese für die empirische Erforschung des Strafvorgangs. Im Hinblick darauf ist die Rechtswirklichkeit zu befra73 Vi!. z. B. Welzel, Deutsches Strafrecht, 10. A., Berlin 1967, S. 1 ff. (2 ff.), freilich nuancierter, als es sich in summarischer Betrachtung darstellt. Krit. z. ·B. Wilrtenberger, Geistige Situation, S. 47 ff. (~O ff.); Baumann, AT, S. 13 f. 74 Hierzu etwa Jones, Punishment and social values, 1. c., pp. 3-22; Rettig, Ethical risk sensitivity in male prisoners, Brit. Journ. of Criminology, 4 (1964), pp. 582-590; Sutherland-Cressey, 1. c., pp. 341}-353; Carlston, Law and Structures of Social Control, London 1956 (Lawas a means for social control, pp. 5-9); Parsons, The law and social control; Bredemeier, Law as an integrative mechanism, in: Law and Sociology, ed. by Evan, Glencoe/III. 1962, pp. 51}-72, 73-90; Stone, Social dimensions of law and justice, London 1966 (Lawand social control, pp. 743 ff. et seq.). 75 Vgl. z. B. Welzel, Persönlichkeit u. Schuld, ZStrW, 60 (1941), S. 428-474.

II. Die Anwendung des Modells auf die Erforschung der Strafe

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gen. Wie schützt die Strafe die wesentlichen Rechtsgüter des einzelnen und der Allgemeinheit, deren Rechtsgüter im Grunde auch nur, durch die societas vermittelt, solche des einzelnen sind? In welchem Maße wird die Strafe dieser ihrer Funktion tatsächlich gerecht? Das sind die Fragen, die an die sozialwissenschaftIiche Erkundung der Wirklichkeit zu stellen sind. Sie repräsentieren gleichsam das theoretische Modell von Strafe, das Bestätigung durch die Realität erheischt76 • Der skizzierten Korrelation von Norm und Faktum entsprechend meint Strafe als verifizierbarer Befund im Leben der Gesellschaft nun keineswegs dessen unkritische, unreflektierte übernahme in die Theorie, die dann quasi spiegelbildlich Wirklichkeit wiedergäbe. Die grundsätzliche Offenheit unseres Systems verlangt kritische Reflexion gerade dort, wo die Diskrepanz zwischen Norm und Faktum die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit der Berichtigung des einen oder des anderen herausfordert. 2. Zum Gegenstand der Analyse

Was empirische Erforschung der Strafe heißt, bedarf in dreifacher Hinsicht näherer Erläuterung. Zunächst einmal bedeutet dies kriminologische und pönologische Erfassung ihrer Seinsgrundlagen. Setzen wir die Aufgabe der Kriminologie in die Analyse von Tat und Täterpersönlichkeit auf dem Hintergrund ihrer sozialen Umwelt, so lassen sich damit die letztlich auslösenden Katalysatoren des Strafvorgangs, genauer: die Wirkfaktoren bestimmen, denen Strafe - freilich nicht allein sie - unter dem Aspekt der Verbrechensbekämpfung zu begegnen hat77 • In der mechanistischen Sicht des naturwissenschaftlichen Kausal71 Hierin gründen die meisten sozialwissenschaft1. Analysen der Strafe (vg1. z. B. Solomon, Punishment, Amer. Psychologist, 19 (1964), pp. 239-253; Appel and Peterson, What's wrong with punishment? Journ. of Crim. Law, Criminology, 56 (1965), pp. 450-453; Trincas, La pena e veramente utile e razionale? Minerva Medicolegale e Archivio di Antropologia Criminale, 56 (1965), pp. 4014-4020). 77 Zum Gegenstand und zur Methode der Kriminologie Leferenz, 1. c.; Göppinger, 1. c.; Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft, in: Kriminalbiolog. Gegenwartsfragen, H. 7, Stuttgart 1966, S. 1-14; Ferracuti, Wolfgang, The integration of criminology, Quaderni di Criminologia clinica, 7 (1965), pp. 275-306; Desmarez, Contribution a l'etude de la methodologie medicolegale, medico-sociologique et criminologique, Revue de Droit Penal et de Criminologie, 45 (1965), pp. 887-934; Houchon, Methodology of criminological research and interdisciplinary team-work, Intern Rev. of Criminal Policy, No. 23 (1965), pp. 37-46 (vg1. aucb: Die Strategie der Ursachenforschung in der Kriminologie, MSchrKrim. 49 (1966), S. 343-358); Wilkins, Research methods in criminology: a critical note, Intern. Rev. of Criminal Policy, No. 23, pp. 47-55; Johnson, Occupational system of criminology: its environment and problems, Ann. intern. de Criminologie, 1965, pp. 77-87; Szab6, Questions of principle in basic criminological research, Acta Juridica Academiae

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C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

prozesses beschriebe Kriminologie Verbrechen als die Ursache der Strafe, die als Wirkung auf jene folgte. Pönologie in einem weiteren Sinne als der seinswissenschaftlichen Erforschung bloß des strafrichterlich verfügten Freiheitsentzugs hingegen hat den Strafvorgang in seinen sämtlichen Spielarten zu analysieren, also darzulegen, wie die Geldstrafe, die Freiheitsstrafen im Hinblick auf das intendierte Ziel des Rechtsgüterschutzes wirken78 • Gegenstand der Untersuchung hat dabei allemal nur die Kriminalstrafe, also das staatliche Strafen im Rahmen des Strafrechts zu sein, weil die Frage nach der Strafe überhaupt die vorgestellte Basis sprengte, ziellos und ungerichtet wäre. Göttlicher Bannstrahl, Gewissenspein, soziale Ächtung, pädagogische Strafe sind gewiß Institutionen, in denen sich gleichfalls Strafe bekundet. Als je spezifische Repräsentanten der zahllosen Möglichkeiten, die der Begrüf von Strafe schlechthin in sich schließt, empfangen sie aber alle ihren Inhalt von dem jeweiligen theonomen, metaphysischen, personalen oder pädagogischen System selbst, in das sie eingebettet sind7t • Die Begrenzung der Analyse auf die Kriminalstrafe bedeutet freilich nicht Ausklammerung Scientiarum Hungaricae, 7 (1965), pp. 65--92; Ellenberger, La criminologie du passe et du present, Union medicale du Canada, 95 (1966), pp. 317-325; vgl. auch H. J. Schneider, Entwicklungstendenzen ausländischer und internat. Kriminologie, JZ, 21 (1966), S. 369-381; Kaiser und Schellhoss, Entwicklungstendenzen der Kriminologie, JZ, 21 (1966), S. 772-778; Nass, Die Krise in der Kriminologie, in: Prognose und Bewährung, Berlin 1966, S. 71-80. Zur Kriminalphänomenologie speziell v. Weber, Die Aufgaben der Kriminalphänomenologie, MSchrKrim. 50 (1967), S. 133-143; Geerds, Kriminalphänomenologie. Ihre Aufgaben und Möglichkeiten. In: Beiträge z. ges. Strafrechtswissenschaft, Berlin 1966, S. 605--627; Mergen, 1. c., S. 145--416. 78 Die Abgrenzung von Kriminologie und Pönologie ist umstritten (vgl. hierzu Peters, Kriminalpädagogik, 1960, S. 29 ff.; Lopez-Rey, Analytical penology, in: Studies in Penology, 1964, pp. 138-183; Francis and Johnson, Some theories of penology, in: Sociology of crime, ed. by Roucek, New York 1961, pp. 257-268; Schüler-Springorum, 1. c., S. 32; vgl. ferner Müller-Dietz, Methoden u. Ziele der heutigen Strafvollzugswissenschaft, ZStrW, 79 [1968]). Begrifflicher Klarheit sowie der Wortgeschichte würde es entsprechen, unter Pönoloiie die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Anwendung und den Auswirkungen von Strafen und Maßregeln zu verstehen. 7t Hinsichtlich des theologischen Strafbegriffs wäre auf die Abschn. A, Anm. 3, 70, zit. Autoren zu verweisen, htnstmtUch des plldagoglschen auf die Beiträ&e des Sammelbandea "Päda;oaik dar Strate", Freiburg i. Br. 1~7, in&bes. auf Pöggeler, Erziehende Strafe in der Familie, S. 78-110; vgl. ferner Fischer, Strafvollzug und Erziehung, in: Was ist Erziehung? München 1966, S. 58-79; Scheibe, Pädagogische Grundfragen, in: Die Pädagogik im XX. Jahrhundert, Stuttgart 1960, S. 27-118 (87-92); Hävernick "Schläge" als Strafe, ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in rechtskundlicher Sicht, Hamburg 1964 (hierzu krit. Klaus Horn, Dressur oder Erziehung, Frankfurt a. M. 1967); Lewin, Die psychologische Situation bei Lohn und Strafe, Darmstadt 1964 (1931); Götte, Strafbedürfnis, Strafprovokation und erzieherisches Handeln, München 1965, Wettig, Das Problem der Strafe in der Erziehung, Ravensburg 1949.

11. Die Anwendung des Modells auf die Erforschung der Strafe

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jener Realfaktoren, welche staatliche Strafe mit anderen Begriffen von Strafe teilt; sie müßte denn schon quasi keimfrei unter Laborbedingungen außerhalb jeglicher anthropologischer, psychologischer und soziologischer Momente existieren sowie ermittelt werden können8o • Strafe als soziales Phänomen erfassen heißt schließlich sich des Verhältnisses vergewissern, in dem die einzelnen Strafarten zum Ganzen der Institution stehen. Die Frage ist, ob umfassende und über partiale Bereiche weit in die Gesellschaft hineinreichende Begriffe wie die Strafe (genauer: ihr supponierter Gehalt) in ihrer Totalität überhaupt unvermittelt zu verifizieren sind. Denn allenfalls für die Theorie der einzelnen Strafarten selbst gilt, daß wir es, auf die Strafrechtspflege insgesamt bezogen, mit abgegrenzten und abgesteckten sozialen Feldern zu tun haben, deren Erforschung nach Art quantitativer Analysen die Möglichkeit weiterreichender Aussagen implizieren würde. Der im Grunde deduktive Ansatz, der Untersuchung der Strafe als Ganzes ins Auge faßt, erscheint daher im Lichte der allseits akzeptierten middlerange-theory Mertons problematisch81 , nach deren Verständnis der spekulative - Vorgriff aufs Ganze Verfehlen eben dieser Totalität bedeutet. In diesem Sinne mag man einwenden, daß ein derart theoretisch und nicht erfahrungsmäßig vorgeprägter Begriff wie der der Kriminalstrafe kaum ein brauchbares Modell für eine sozialwissenschaftliche Analyse abgebe, weil er die Verflechtung der Strafe mit dem Leben der Gesamtgesellschaft82, die Interdependenz sozialer Kontakte und deren Beziehungsreichtum künstlich aus der Betrachtung ausgeschieden habe. Solcher Kritik ist allein durch Rückgriff auf die einzelnen Strafarten, ihre besonderen Erscheinungsformen und spezifischen Wirkungsmechanismen als Gegenstände einer empirischen Untersuchung zu begegnen. Hiernach läßt sich erst auf der Grundlage der Erforschung von Freiheitsstrafen ihrer je eigentümlichen Ausprägung und der Geldstrafe in ihrer Realverfassung, also von der Auflösung der gesamten Institution 80 Nagler, 1. C., S. 40-69, grenzt die sog. Rechtsstrafe gegenüber "parallelen Erscheinungen", wie der "natürlichen", "moralischen", "sozialen" und "göttlichen" Strafe ab. So sehr dieses Verfahren begrifflicher Festlegung der Strafe zustatten kommt, so problematisch ist es unter dem Aspekt der Rechtswirklichkeit im Hinblick auf die Ausklammerung etwa sozialer Momente (vg1. S. 48-54) aus der Kriminalstrafe. 81 Der Begriff der "Theorien mittlerer Reichweite" hat sich nunmehr in Soziologie (vg1. König, Handbuch der empir. Sozialforschung, I, S. 5; Soziologie, S. 307) und Kriminologie (vg1. z. B. Schüler-Springorum, 1. C., S. 191; Quensel, Sozialpsycholog. Aspekte der Kriminologie, Stuttgart 1964, S. 5 f., 171) allgemein eingebürgert (vg1. auch Hall, Comparative Law and Social Theory, New York 1963, p. 122). 8! Zu dieser allgemeinen soziologischen Problematik Fürstenberg, "Sozialstruktur" als Schlüsselbegriff der Gesellschaftsanalyse, Kölner Ztschr. f. Soziol. 18 (1966), S. 439-453.

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C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

in ihre Teilstrukturen her, ein umfassender Begriff von empirischer Strafe entwickeln, der wiederum für deren Zweckbestimmung ausschlaggebend sein könnte. 3. Zur Begrenztheit der empirischen Basis

Freilich bewegen wir uns insoweit noch auf ungesichertem Boden, weil es gerade an der Herausarbeitung solcher einzelnen Momente und Realfaktoren der Strafe weitgehend fehlt und den Vorrang vielfach noch die problematischen Totalanalysen genießen, als welche ja auch die Untersuchung des strafweisen Freiheitsentzugs schlechthin gelten muß. Je nach ihrer besonderen Ausgestaltung hat die Freiheitsstrafe selbst verschiedenartige Realaspekte, handle es sich um den Intramuranvollzug in einer sog. totalen Institution83 oder um die Strafvollstreckung in den gelockerten Formen offener oder halboffener Anstalten. Der Mechanismus der Geldstrafe in der Praxis gar ist noch weniger erforscht, so daß wir hier vielfach noch auf Mutmaßungen, nicht verifizierte Hypothesen angewiesen sind. Selbst die gewiß verdienstliche Untersuchung von Zipf rekapituliert - freilich ihrem eigenen Vorsatz entsprechend - lediglich in wissenschafts immanenter Weise dogmatische und kriminalpolitische Argumente hinsichtlich der Auswirkungen der bisherigen Geldstrafenpraxis84 • Insoweit mag man allenfalls die Behauptung wagen, daß das Unbehagen über die - vom Gesetzgeber sicher nicht gewollte - Etablierung sozialer Ungerechtigkeit realer Erfahrung entspringt und daß sich hiernach im Plädoyer für die übernahme des skandinavischen Tagesbußensystems nicht so sehr spekulative Erwägungen als empirisch vermittelte Einsichten niedergeschlagen haben85 • Indes ist solche Erkenntnis nicht eben neu, wie uns schon ein Blick in Seumes "Apokryphen" von 1806/07 lehrt: "Der Arme leidet seine Strafe am Körper, der Reiche bezahlt sie; eine Inconsequenz, die an Dummheit grenzt, als ob man die Verbrechen absichtlich vermehren wollte! Den Armen lasse man bezahlen, wenn er kann und will; den Hier in einem wertfreien soziologischen Sinne verstanden. Vgl. etwa Die Subkultur des Gefllngnisses, Stuttgart 19117; Waldmann, Z1elkonflikte in einer Strafanstalt, Stuttgart 1967 (im Erscheinen), m. w. Nachw.; auch Ellenberger, Introduction biologique a l'etude de la prison, in: Kriminolog. Wegzeichen, Hamburg 1967, pp. 305-321. 84 Die Geldstrafe in ihrer Funktion zur Eindämmung der kurzen Freiheitsstrafe, Neuwied 1966, S. 26 ff.; Zur Ausgestaltung der Geldstrafe im kommenden Strafrecht, ZStrW, 77 (1965), S. 526-562; vgl. auch Szerer, Fine penalty and recidivism (hierzu Exc. crim., 7 (1967), N. 732); Pitschet, Die Praxis in der Wahl der Geldstrafe, Leipzig 1929. es Vgl. z. B. Begr. z. E 62, S. 169 ff. 113

Harbordt,

II. Die Anwendung des Modells auf die Erforschung der Strafe

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Reichen und Vornehmen strafe man am Körper! das ist psychologisch und gut und gerecht. Qui non habet in aere, luat in corpore, schnarren die Criminalisten in einer Stunde funfzigmal unsinnig vom Katheder. Qui habet in aere, luat in corpore, sollte es vernünftigerweise heißen, und alle Geldstrafen sollten nach den Vermögensumständen der Beleidiger eingerichtet werden. Keine bestimmte Summe, sondern eine bestimmte Proportion; für die capite censos könnte ein Minimum gesetzt werden. Eine anscheinend gleiche Strafe für Alle ist eine solche Ungleichheit, daß die Gesetze nur in praevaricationem et contumeliam justitiae et sanae rationis gemacht zu sein scheinen8e ." Abgesehen von derartigen vereinzelten, im Wege der Erfahrung gewonnenen Einsichten ist es mit einer empirischen Straftheorie noch nicht zum Besten bestellt. Wer sich über die Strafwirklichkeit Gewißheit verschaffen will, steht also ständig in Gefahr, der Spekulation das Feld wieder preiszugeben, das er doch gerade für sich beanspruchen wollte. Denn was wissen wir schon von der Realität der Strafe, ihren Wirkungen und Auswirkungen auf die Person des einzelnen wie die Gesellschaft? Spärlich genug sind die bisher verifizierten Thesen über das Funktionieren des Strafmechanismus87 • Allein was etwa über seine - vermeintliche oder tatsächliche - Abschreckungswirkung philosophiert wurde, füllt Bände einer gelegentlich allerdings recht antiquiert anmutenden Bibliothek als einer Art Sammlung historischer science fiction. Dabei ist nicht ein Mangel an Erklärungsversuchen, sondern gerade ihr überfiuß, in dem sich wohl ein gewisser Antriebsüberschuß spekulativen Denkens bezeugt, kennzeichnend für unsere heutige Situation88 ; und der Hegelianer mag in der verwirrenden, sich gegenseitigen aufhebenden Vielfalt psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Aggressions- und Frustrationstheorien, soziologischer und psychologischer Lern- und Verhaltenstheorien, die je spezifische Funktionen des Strafmechanismus als allgemeine prätendieren, den geheimen Triumph der von jenen verpönten objektiven Idee erkennen. So ist etwa an jene von der Psychoanalyse inaugurierten Anschauungen zu erinnern, die Strafe als Ausdrucksform einer frustrierten Gesellschaft oder von unterschwelligen Aggressionstendenzen verstehen wollen, ohne sich der Begrenzung ihres methodischen Ansatzes bewußt zu werden; das Unterbewußtsein scheint hier - bese Frankfurt a. M. 1966, hrsg. von Schweppenhäuser, S. 31. 87 Krit. insoweit auch Gunzert, Verkehrssicherheit eine wichtige Aufgabe der modernen Gesellschaft, DAR, 35 (1966), S. 326-343 (340 f.); Lackner, JZ, 22 (1967), S. 515; vgI. ferner Schiller-Springorum, 1. c., S. 37 (hinsichtlich der Freiheitsstrafe). 88 Vgl. z. B. die Übersicht bei Sutherland-Cressey, 1. c., pp. 340-363.

5 Mnner-Dle!z

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C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

",;.ißt - seinen Analytikern einen Streich zu spielen, indem es die Einsicht verdrängt, daß dadurch ein gewiß bedenkenswerter Aspekt des Strafvorgangs zur Allgemeinheit der ganzen Institution erhoben wird. Und ähnliche Perspektiven tun sich in manchen Spielarten der heutigen Verhaltenstheorie auf, die z. B. im auslösenden Schlüsselreiz den Schlüssel zum Reiz erblicken, der in der Gesellschaft der Strafe als einer verbrechensnegierenden und prävenierenden zugedacht ist; hiernach ließe sich das Strafgeschehen auch als eine Art Aversionstherapie praktizieren und interpretieren, die quasi in spezialpräventiver Weise jedem Wunsch zur erneuten Begehung von Straftaten auf chemotherapeutischer, medikamentöser, physikalischer oder tiefenpsychologischer Gruridlage die Unlustempfindung assoziieren soll, um dadurch ursprünglich vorhandene kriminelle Neigungen schon im Ansatz zu eliminieren. Die Karikatur, zu der das Ganze der Strafe bei solchem Anspruch gerät, belegt deutlich die Problematik jedweden Versuchs, den Einstieg in jenes soziale Phänomen von der Plattform besonderer ätiologischer oder therapeutischer Momente aus zu unternehmen. Noch die pragmatischen Reflexionen eines Cesare Beccaria in "Dei delitti e delle pene" über das Wirken von Lohn und Strafe, Erziehung und Aufklärung als brauchbarer Mittel der Verbrechensbekämpfung scheinen in dieser Beziehung mehr zu taugen als etliche mit psychologischen, anthropologischen oder soziologischen Modellvorstellungen angereicherten spekulativen Aussagen der Moderne über die Strafe in der Gesellschaft89 ; hat sich doch Beccaria gerade insoweit zu der - freilich populärwissenschaftlich interpretierten - Forderung bekannt, "die komplizierten und äußerst wandelbaren Verhältnisse in den gesellschaftlichen Verbindungen" zu analysieren". So bildete denn jedes Bemühen, eine empirische Basis für die Strafe zu gewinnen, zumindest heute noch eine Art untauglicher Versuch, der - wie allgemein im Strafrecht - nicht nur den Mißerfolg birgt, sondern auch den Urheber diskreditiert? Indes können solche methodologisch und interdisziplinär begründeten Schwierigkeiten, die im derzeitigen Wissenschaftssta:nd liegen, einen prinzipiellen Einwand gegen • Ober Verbredlen und Stl-afeD, hrai. von AlII. Frankfurt a. 1\4. 1966 (1764) (vgI. II, III, VI, XLI, XLIV). Ober Beccarias Bedeutung etwa Alff, 1. c., S. 7-40; Radzinowicz, 1. c., pp. 7-9, 14--20; Jacomella, L'actualite de 1a pensee de Cesare Beccaria, Revue intern. de Crimino1ogie et de police technique, 18 (1964), pp. 84--97 (93-94); Monachesi, Pioneers in Crimino1ogyCesare Beccaria, Journ. of Crimina1 Law, Crimino10gy, 46 (1955/56), pp. 439-449; Th. Würtenberger, Cesare Beccaria (1738-94) und sein Buch "Von Verbrechen und Strafen" (1764), ZfStrVO, 13 (1964), S. 127-134; Cesare Beccaria und die Strafrechtsreform, in: Erinnerungsgabe für Grünhut, Marburg 1965, S. 199-212. 80 1. c., S. 46.

II. Die Anwendung des Modells auf die Erforschung der Strafe

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das Verfahren nicht rechtfertigen;· und fatal wäre es, wollte man deshalb das beliebte Rezept befolgen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Vielmehr darf sich eine methodisch zureichende Analyse eben nicht in der Besonderheit singulärer Betrachtungsweisen verlieren, sondern muß sich - in Einbeziehung ihrer je differenten Aspekte - um Universalität bemühen. Die außerordentliche Schwierigkeit eines solchen Verfahrens folgt ersichtlich aus der wissenschaftlichen Vermittlung vielfach eigenständiger methodologischer Gesichtspunkte mit den ihnen eigenen Begriffssprachen. Verständigung hierüber erscheint nicht unmöglich, wenngleich allein Habermas' überblick über den gegenwärtigen Stand der Sozialwissenschaften9 1, der ja bei weitem nicht die Totalität humanwissenschaftlichen Vorgehens repräsentiert, am Erfolg verzweifeln lassen könnte. Aber die Notwendigkeit mehrdimensionaler Betrachtungsweise ist möglichst starker Annäherung an die Empirie wegen unabweisbar, will man nicht auf den ursprünglichen Ausgangspunkt verzichten. Denn sonst böte sich als Ausweg nur die Rückkehr zur spekulativen Betrachtungsweise an, die, wie erörtert, dem heutigen Verständnis von Norm und Realität, Theorie und Empirie nicht mehr angemessen erscheint, im Grunde schon - wissenschaftstheoretisch gesehen - auf historischem Boden siedelt. Wozu hier vielmehr kritische Selbstreflexion zwingt, läßt sich wiederum am Beispiel der empirisch-analytischen Soziologie ablesen. Die Begrenztheit der Kenntnis sozialer Daten ist bekanntlich ein allgemeines sozialwissenschaftliches Problem; und der wissenschaftstheoretische Optimismus, der sich - wenn er je rein existierte - an singuläres statistisches Wissen knüpfte, hat sich längst überlebt. Mag auch die Feststellung Poineares von 1908: "Die Soziologie ist eine Lehre, die die meisten Methoden und die wenigsten Resultate zu verzeichnen hat"V!, heute in weiten Bereichen nicht mehr zutreffen, so ist doch solche Kritik noch nicht schlechthin überholt. Nicht umsonst rechnet das Problem der Theorienbildung in der Sozialwissenschaft zu den heikelsten Fragen, weil die Relation zwischen empirischer Basis und Deutung sozialer Vorgänge sich mit zunehmender Allgemeinheit und wachsendem Abstrak.1 Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1967. HabeTmas unterscheidet in methodologischer Hinsicht die normativ-analytischen und empirisch-analytischen Sozialwissenschaften, die Lehre vom intentionalen und stimulierten Verhalten sowie die verschiedenen Theorien des Funktionalismus voneinander. Die "sinnverstehenden" Betrachtungsweisen werden mit den Begriffen des phänomenologischen, linguistischen und hermeneutischen Ansatzes umschrieben. . .1 Zit. nach Szczepanski, in: Handbuch der empir. Sozialforschung, S. 552. Das erinnert an eine kritische Bemerkung jüngeren Datums über die Kriminologie: "Criminology is a bastard scienee whose praetitioners propose a variety of explanations of eriminality." (Me Intosh,.Brit. Journ. of Soeiology,

16 (1965), p. 173).

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C. Zur Methodik empirischer Analyse der Strafe

tionsgrad der Aussage immer mehr zu verschlechtern droht. Die Zurückhaltung, die sich hier die empirische Sozialforschung im Interesse exakter Beobachtung und Analyse auferlegt, bezeugt sich in der Beschränkung der Reichweite, die für eben jene Untersuchungen und Aussagen zugleich gelten soll, einerseits und dem Untersuchungsvorbehalt, dem jedes theoretische Axiom gnadenlos unterworfen wird, andererseits. Jedes Modell, jede Hypothese steht unter dem Vorbehalt seiner Falsifizierung und erst seine Verifizierung rechtfertigt es, von einer Theorie zu sprechenus• Dabei wird allerdings vorausgesetzt, daß sich die Methoden der empirischen Sozialforschung allmählich auf den Stand zureichender Erfassung der Wirklichkeit, die ermittelten sozialen Daten in einen adäquaten Sinnzusammenhang bringen lassen; denn nicht nur, daß die Zuverlässigkeit in der Gewinnung von Fakten die Vorentscheidung über den Wert ihrer Kenntnis trifft, sondern daß die Herstellung eines realitätsgerechten Sinnzusammenhangs in hermeneutischem Verständnis den Daten die ihnen tatsächlich zukommende Bedeutung einräumt, will bei einem solchen Vorgehen erwogen werden. Schon das Eingeständnis, daß universelle Theorien nicht zu verifizieren seien, läßt erkennen, daß empirisch-analytische Theorie nach ihrem Selbstverständnis wissenschaftlich Brauchbares nur von der Begrenzung der Operationsbasis aus zu leisten vermag, und daß sie damit auf den Anspruch, über die Gesellschaft als Allgemeines zu reflektieren, verzichten mußu,.

81 Vgl. König, Handbuch der empirischen Sozialforschung, S. 8. " Diese Ausklammerung der holistischen Perspektive (vgI. Albert, Hdb. der empir. Sozialforschung, S. 40) als eine Vorbedingung für Annäherung an die Empirie gerät freilich der analytischen Theorie durch die dialektische zum bekannten grundsätzlichen Einwand, hier werde mit der "Machtergreifung" durch die bloße Faktizität des Besonderen die Preisgabe der Idee von Gesellschaft in ihrer Allgemeinheit vollzogen.

D. Die Strafe in empirischer Sicht Daß unser Wissen von den Erscheinungsformen und Wirkungen der Kriminalstrafe - noch oder vielleicht überhaupt? - begrenzt ist, zwingt in ähnlicher Weise zur Zurückhaltung bei der Bildung von Hypothesen und der Entwicklung von Theorien. Der Wirklichkeitsbefund, um dessen Ermittlung es dabei geht, ist, wie bei einem sozialen Phänomen solcher umfassenden Kategorie kaum anders denkbar, äußerst komplex 1 ; und jede Deutung, die es wagte, sie auf einen einheitlichen Nenner zu bringen, würde sich gerade des Anspruchs begeben, empirische Analyse zu sein. Der Befund schließt nämlich diejenigen personalen und sozialen Vorgänge sowie Zustände innerhalb der Gesellschaft in sich, in denen die Kriminalstrafe zum Ausdruck kommt oder die deren Auswirkungen manifestieren. Dabei lassen sich - systematisch, nicht sachlogisch - zwei Gruppen von Tatsachen unterscheiden: die rechtlichen Wirkfaktoren der Strafe und die außerrechtlichen sozialen Fakten, die sich in gesellschaftlicher Vermittlung bezeugen. Beide Arten von Tatsachen machen, weil zugleich in der Realität wirksam und sichtbar, erst in ihrer Gesamtheit die empirische Basis der Strafe aus.

.1. Rechtliche Wirkfaktoren des Strafmechanismus 1. Methodolopsdle Vortragen a) Rechtsnormen als soziale Tatsachen

Rechtliche Faktoren in diesem Verständnis sind diejenigen Manifestationen der Strafe und Folgeerscheinungen des Verbrechens, die sich durch die Rechtsordnung, insbesondere durch das StGB und die StPO, als Merkmale der Strafe und des Strafvorgangs darstellen. Das bedarf freilich näherer Erläuterung. Recht, sollte· man annehmen, ist kein Gegenstand einer Seinsbetrachtung, gehört es doch der Welt des Sollens an. Hiernach wäre es als normative Kategorie empirischer Ermittlung unzugänglich. Eine solche Sicht erschöpft jedoch das Spektrum möglicher Betrachtungsweisen nicht. Denn über die Existenz bestimmter Normen, ihr Zusammenspiel und ihre Funktionen innerhalb der je 1

vgI. z. B. Aubert, 1. c., p. 232.

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D. Die Strafe in empirischer Sicht

geschichtlichen Wirklichkeit sind durchaus sozialwissenschaftliche Aussagen möglich. In diesem Sinne lassen sich Normen, ja selbst die ihnen zugrundeliegenden wertethischen Aspekte, durchaus als soziale Tatsachen einordnen und damit als Gegenstand phänomenologischer Beschreibung erfassen. So hat etwa Ehrlich die Rechtssoziologie als selbständige Tatsachenwissenschaft verstanden2 , die Rechtsnormen und gesellschaftliche Normen als faktisch wirkende Verbandsordnungen behandelt3 . Hierher rechnet auch Nußbaums Programm einer Rechtstatsachenforschung4 , die sich die "systematische Untersuchung der sozialen, politischen und anderen tatsächlichen Bedingungen, auf Grund deren einzelne rechtliche Regeln entstehen", sowie die "Prüfung der sozialen, politischen und sonstigen Wirkungen jener Normen" zum Ziele setzte5 • Besonders deutlich tritt dieses Verständnis des Rechts als Gegenstand soziologischer Betrachtungsweise bei Max Weber hervor; hiernach geht es im Gegensatz zur dogmatischen Sicht um die "empirische Geltung" des Rechts, das dann "nicht (mehr) einen Kosmos logisch als ,richtig' erschließbarer Normen, sondern einen Komplex von faktischen Bestimmungsgründen realen menschlichen HandeIns" bedeute8 . Rechtssoziologie befaßt sich demnach mit Geltungsart und Geltungschancen der Rechtsnormen, deren Ursachen und Auswirkungen innerhalb der Gesellschaft. In noch umfassenderer Weise zielten Roscoe Pounds Bemühungen auf die Begründung einer soziologischen Jurisprudenz 7 und dementsprechend auf eine Offenlegung des sozialen Mechanismus, der in der Strafrechtspflege wirksam ist8 • Das durchgängige Motiv solcher AuseinandersetI Grundlegung der Soziologie des Rechts, München u. Leipzig 1929 (1913), S. 1; vg1. auch Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, Wien 1911, S. III f., wonach "positives Recht als ein System tatsächlicher Regeln des gesellschaftlichen Lebens begriffen werden muß, denen eine normative Funktion nur infolge dieser ihrer tatsächlichen Geltung zukommt". Über die Begründer der Rechtssoziologie Rehbinder; Entwicldung·u. gegenwärtiger Stand der rechtssoziolog. Literatur, Kölner Ztschr. f. Soziologie, 16 (1964), S. 533-567 (549 ff.); Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, Berlin 1967; vg1. auch KantorotDiez, Rechtswissenschaft und Soziologie, brsg. von Tb. Würtenberger, Karlsruhe 1962, S. 117-144. a Vgl. 1. c~, S. 20 ff., 31 ff., 49 ff. 4 Die Rechtstatsachenforschung, Tübmgen 1914. I Die Rechtstatsachenforscbung, AcP, 154 (1955), S. 453-484 (462; von Rehbinder, Kölner Ztschr., L c.,.S. 556, zit.). I Rechtssoziologie, Neuwied 1960, hrsg. von Winckelmann, S. 54. 7 The Need .of a Sociological Jurisprudence(1907), Crime and Delinquency, 10 (1964), pp. 385--397. Über ihn etwa Sh. Glueek, Roseoe Pound and tbe Criminal Justice, Crinie and Delinquency, 1. c., pp. 299-352 (vor allem pp. 312-336); Rehbinder, JZ, 20 (1965), S. 482-484. 8 Z. B. Inherent and acquired difficulties in the administration of punitive justice (1907), Crime and Delinquency, 1. c., pp. 398-414; The Rise of Socialized Criminal Justice (1942), Crime and Delinquency, 1. c;, pp. 475-489.

I. Rechtliche Wirkfaktoren des Strafmechanismus

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zung mit dem Strafrecht war freilich die historisch gewonnene Einsicht, daß diesem im Gegensatz zu früher nicht mehr die Aufgabe gestellt sei, "die Strafe dem Verbrechen anzupassen", sondern die "strafrechtliche Behandlung dem Rechtsbrecher"'. War hier in gewisser Weise ein human bestimmter Voluntarismus am Werk, so griff Th. Geiger Max Webers Frage nach der Geltungschance der Norm in veränderter Sicht erneut auf: Hier erscheint die Norm als Substrat gesellschaftlich verfaßter und sanktionierter Wirklichkeit, als soziale Tatsache, deren Existenz gleichzusetzen ist mit ihrer "Wirkungs-Chance"lo, und Geiger konzentrierte daher seine ganze Aufmerksamkeit. auf das Problem, unter welchen sozialen Bedingungen jene sich entfalten könne l1 • Freilich stand er in Gefahr - was hier nicht weiterverfolgt zu werden braucht -, nach dem Denkschema des Positivismus die Auflösung des normativen Gehalts in barer Faktizität zu vollziehen und die von ihm als solche verpönten Kategorien des Rechtsempfindens und des Werturteils auf die Ebene ideologischer Bewußtseinsfakten zu transponieren, welche jede Orientierung am objektiven Begriff von Idee verstellt12 • Von dieser Sonderproblematik abgesehen, bleibt die Einsicht festzu~ halten, daß sich Normen in rechtssoziologischen Systemen verschiedenster Provenienz als soziale Tatsachen auffassen lassen1'. Doch was etwa Rehbinder, der "Forderung nach Rechtstatsachenforschung" folgend, als "heute noch gültige(n) Ansatz" bezeichnet14, ist vor der vorschnellen Fixierung auf soziologische und insbesondere rechtssoziologische- Momente zu bewahren, um nicht der ohnedies - zu Unrecht - grassierenden Meinung Vorschub zu leisten, empirische Erforschung der Rechtswirklichkeit sei gleichzusetzen mit Rechtssoziologie und erschöpfe· sich in dieser15 • Mit Grund hat daher Ormrod die Kommunikation zwischen . 'Rise etc., 1. c., p. 478. 10 Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (1947), Neuwiedl964, S. 68: "Die Wirklichkeit der Norm ist ihre Wirkungs':Chance." 11 Fragen des sozialen Drucks (1. c., S. 78 ff.), des Kontrollmechanismus (S. 81 f.) usw. . -. . 11 Krit. F. Milller, 1. c., S. 30; Welzel, Die Frage nach der Rechtsgeltung, Köln u. Opladen 1966, S. 21 f.; Lange, JZ, 20 (1965), S. 738, 21 (1966), S. 346; vgI. auch Albert, Theorie und Praxis, in: Die Philosophie und _die Wissenschaften, S. 263. Soweit ersichtlich, wurde Geigers Rechtssoziologie von der Jurisprudenz nicht rezipiert; dies mögen außer der Problematik seiner Thesen nicht zuletzt die Schwierigkeiten einer interdisziplinären Verständigung verschuldet haben. . . I' Hinzuweisen wäre auch auf Drath. Kohärente sozio:-kUlturelle Theorie, 1. c., S. 44, und Eskola. Normit sosiologi.n tutkimuskohteena, Sosiologia, 1 (1965), pp. 13-15. . . . l' 1. c., S. 556. lS Dies hängt nicht zuletzt mit der sozialen Funktion des Rechts zusammen, das innerhalb der außerjuristischen Disziplinen soziologischem Denken in der Tat noch am ehesten den Zugang eröffnet. Der zeitgenössische Trend zur

72

D. Die Strafe in empirischer Sicht

Recht und Sozialwissenschaften nicht in dem verengten Sinn von Beziehungen zwischen Recht und Soziologie interpretiert, sondern in sie auch Psychologie und Psychiatrie miteinbezogen1t . b) Zur Unterscheidung rechtlicher Faktoren

und sozialer Momente

Lassen sich Rechtsnormen hiernach als soziale Tatsachen analysieren, so ist freilich damit die Frage, wie es dann mit ihrer Unterscheidung von sonstigen sozialen Momenten bestellt ist, vor allem, womit sich eine solche rechtfertigen läßt, noch nicht beantwortet. Außerrechtliche soziale Wirkungsfaktoren sind als Gegenstand empirischer Erforschung wohl vertraut; die Auseinandersetzung mit ihnen gehört quasi zum täglichen Brot der Sozialwissenschaften. Doch was verbleibt an gesellschaftlichen Wirkungsmechanismen der Strafe nach Abzug der Rechtstatsachen, in denen sich Strafe bekundet? Jene rechtlichen Faktoren beschreiben nur einen Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit der Strafe. Denn die Gesellschaft reagiert bekanntermaßen auf das Verbrechen nicht nur in den Formen, die im Strafrecht ihren Ausdruck gefunden haben. Doch nicht, daß dessen Normen völlig abzulösen wären von den Verhaltensweisen, -erwartungen und Denkstereotypen kollektiver Vorstellungen, denen sie, wenngleich verändert, entwachsen sind, macht die Unterscheidung sozialer Tatsachen und rechtlicher Faktoren möglich, sondern daß im Strafrecht .ein besonders stark formalisierter und akzentuierter Teil jener umfassenden gesellschaftlichen Institution wirksam ist, die unter dem Stichwort "soziale Kontrolle" in die Soziologie eingegangen ist17 • Mit diesem Begriff,den E. A. Ross prägte18, verSoziologie wirkt nur mehr als Verstärker. Vgl. zur derzeitigen Rechtssoziologie außer dem Bericht von Rehbinder, 1. C., der Bibliographie Trappes, in: Geiger, Vorstudien, S. 423-'466; und Hirsch, 1. c.: Ganong and Pearce, Law and society, London 1965; Aubert, Researches in the sociology of law, Amer. Behavioral Scientist, 7 (1963), pp. 16--20; J. Stone, Law and the social scienees in the second half. century,. Minneapolis .196CJ; Sodal dimensions o.f law and justice, London 1966; SaweT, Law in society, Oxfo.rdI965; Hall, Comparative law and social theory, New York 1963; zum Thema Recht und Soziologie aum AndretD und KudTja'f1cet1 (v~1. Exc. crim., 6 (1966), N. 1550 et 1577). . U TM deve10Pinl relatioDa between the law anc1 the soclal sciences, Brit. Joum. of Criminology, 4 (1964), pp. 320--331 (321). 17 Vg1. Toby, I. c., p. 333; J. Stone, Social dimensions etc., pp. 743 et seq. (Lawand Social Control); Parsons, The law and social control, in: Lawand Sociology, ed. by Evan, Glencoe/Ill. 1962, pp. 56--72; Arens and Lasswell,. In defense of public order, New York 1961; H. Becker, Current Sacred-Secular Theory and its Development, in: Modem Sociological Theory, ed. by Becker and Boskoff, o. 0.1957, pp. 133-185 (142-176); Quinney, Is criminal behavior deviant behavior? Brit. Joum. of Crim. 5 (1965), pp. 132-142; M. E. Spiro, Sodal systems, personality, and functional analysis, in: Studying Personality Cross-culturally, ed. by B. Kaplan, New York, Evanston, London 1961, pp.

I. Rechtliche Wirkfaktoren des Strafmechanismus

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bindet sich der Gedanke gesellschaftlicher Wirksamkeit gegenüber dem einzelnen, dessen Verhalten eben an den Kollektivnormen gemessen wird und entsprechende Reaktionen der Sozietät erfährt. Das gilt nicht nur im Sinne der bereits von Ehrlich apostrophierten Binsenweisheit, daß das Recht kein Monopol als sozialer Ordnungsfaktor beanspruchen kann l ', sondern mehr noch im Sinne der Einsicht, daß staatliche Strafe in ihrer je speziellen normativen Ausprägung nur einen, wenn auch besonders intensiven Sanktionsmodus im Sozialisationsprozeß repräsentiert. Damit reduziert sich die Bedeutung jener Unterscheidung zwischen Rechtsfaktoren und sonstigen sozialen Tatsachen auf eine Systematisierung des vorfindlichen empirischen Materials; die Abgrenzung verläuft im Abstrakt-Theoretischen und wird daher im Grunde der sozialen Wirklichkeit nicht gerecht, die ja gerade in der Reaktion auf das Verbrechen ihr gemeinsames Bezugssystem hat. Die Trennung beidet Kategorien sozialer Faktoren darf somit nicht dogmatisiert werden; entspringt sie doch lediglich einem Bedürfnis nach systematischer Aufgliederung des gesamten Wirklichkeitsbefundes, bezogen auf das, was normativ in der Rechtsordnung formuliert ist und was sich sonst realiter im gesellschaftlichen Leben vorfindet. Immerhin lassen sich gewisse signifikante Momente als der einen oder anderen Gruppe sozialer Fakten zugehörig herauskristallisieren. 2. Strafe als RechtseinbuBe

Rechtsnormen, welche die Strafe und den Strafvorgang regeln und beschreiben, präsentieren sich in unserer gegenwärtigen Strafrechtsordnung unter zwei Aspekten. Einmal kennzeichnen bestimmte Normen des StGB die Strafe als Rechtseinbuße, als Minderung der allgemeinen Rechtsstellung, die grundsätzlich jedem Staatsbürger zukommt. Zum anderen lassen Vorschriften der StPO in Verbindung mit der StVollstrO 93-127; Aubert, I. C., pp. 156-165; Merton, Social Theory and Social Structure, pp. 341-368; J. Davis, Foster, Jejjery, E. Davis, Society and the Law, Glencoe/Ill. 1962 (Lawas· a type of social control, pp. 39 et seq.). 18 Vgl. E. A. Ross, Social control and the foundations of sociology (Ed. by Borgatta and Meyer), Boston 1959, pp. 35-50; hierzu Noelle, 1. c., S. 8--10; König, Soziale Kontrolle, in: Soziologie, S. 277-280 (277); J. Stone, Law and the Social Sciences, p. 13; Young and Freeman, Social psychology and sociology, in: Modern Sociological Tlieory, pp. 550-573 (555). 11 1. c. S. 46; vgl. auch Dahrendorj, Über Gestalt und Bedeutung des Rechts in der modernen Gesellschaft, Hamburger Jb. 7 (1962), S. 126-133; König, Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Vom Recht, Hannover 1963, S. 119-139; vgl. ferner H. Krüger, Das Recht und die soziale Wirklichkeit, in: Vier Jahre Bundessozialhilfegesetz und Jugendwohlfahrtsgesetz (Schriften des Dt. Vereins f. öff. u. priv. Fürsorge, 232), Frankfurt a. M.

1966, S. 14-27.

D. Die Strafe in empirischer Sicht

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und der DVollzO das Strafen selbst als prozessualen Vorgang erscheinen, der sich von der Urteilsverkündung über die Strafvollstreckung bis hin zur Beendigung des Strafvollzugs erstreckt. Beide Normenkomplexe zusammen machen die empirische Basis der Strafe aus, soweit sie rechtlich geordnet ist. Auch sie seien nur aus systematischen, nicht aus Gründen der Sachlogik voneinander geschieden; denn sie wissen sich beide bezogen auf die Verwirklichung des Strafrechts und damit des diesem gesetzten Ziels. Die Kriminalstrafe äußert sich zunächst in einer vielfältigen capitis deminutio zum Nachteil des Täters 20 • Er erfährt sie in normativem Blickwinkel als Rechtseinbuße oder Rechtsminderung. Dies gilt, wenn auch unterschiedlich und vor allem in verschiedener Intensität, für alle Verurteilten, gleichgültig, welche Strafe als Haupt- oder Nebenstrafe ihnen auferlegt wurde21 • Voraussetzung ist lediglich, daß sich an den Schuldspruch überhaupt die Verhängung einer Strafe anschließt, wovon etwa beim Absehen von Strafe oder bei dem in § 58 AE vorgeschlagenen Schuldspruch unter Strafverzicht gerade nicht die Rede sein kann; die sowohl in der Neufassung des E StGB 1962 22 als auch im AE (§ 57) vorgesehene Verwarnung unter Strafvorbehalt stellt ebensowenig eine Verurteilung zu einer Strafe dar, wenn und solange eben vom Vorbehalt kein Gebrauch gemacht wird. a) Zum normativen Gehalt der verschiedenen Strafarten

Der zu Freiheitsstrafe als der schwersten Strafe Verurteilte erlebt mit dem Verlust seiner persönlichen Freiheit eine zwangsweise Einschränkung seiner Rechte, wie sie sonst kaum in vergleichbarer Weise von der Rechtsordnung praktiziert wird. Gewisse Parallelen enthalten lediglich das JWG hinsichtlich der Fürsorgeerziehung, die Unterbringungsgesetze der Länder in bezug auf die Einweisung gemeingefährlicher Geisteskranker in psychiatrische Landeskrankenhäuser23 und die Zwangseinweisung arbeitsscheuer Hilfsbedürftiger in Arbeitshäuser nach § 26 BSHG24; ein besonderer Hinweis auf die freiheitsentziehenden MaßVgl. Radbruch,Elegantiae Juris Criminalis, S. 11; vgl. ferner Ullrich, verwalt~echWchen und sozialen Folgen einer-atrafred1tl. Verurteilung, ZfStrVO, 7 (1957/58), S. 265-275; Heinitz, Frhr. von StackeIbera, Dlegesetzltd!.en, verwaltungsrechtuchen und sozialen Folgen der strafgerichtlichen Verurteilung, in: Dt. Beiträge z. VII. Internat. Strafrechtskongreß (Sonderh. der ZStrW), 1957, S. 151-180, 181-192. '1. Für die folgende Betrachtung wird.in Übereinstimmung· mit der derzeitigen Anschauung vom Strafcharakter auch der Nebenstrafen ausgegangen. e § 80 a (vgl. Übersicht über den Entw.· eines Strafgesetzbuches Drucks. V/32 1. d. F. der 1. Lesung des Sonderausschusses, Stand: 1. 7. 1967). !I Hierzu Baumann, Unterbringungsrecht, Tübingen 1966. 14 Vgl. Herzoa, Die rechtliche Stellung der in einer Anstalt oder in einem Heim untergebrachten Gefährdeten, in: Die Hilfe für Gefährdete in der 20

Dieg......tz1iOO en,

I. Rechtliche Wirkfaktoren des Strafmechanismus

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regeln der Sicherung und Besserung (§§ 42 b-42 e StGB), die dem dualistischen System entsprechend keinen Strafcharakter haben sollen, ihn aber nach ihrer praktischen Ausgestaltung doch weitgehend haben25 , erscheint hier entbehrlich. Den strafweise seiner Freiheit beraubten Verurteilten trifft - in Anwendung des Art. 12 Abs. 4 GG - regelmäßig eine Arbeitspflicht. Der Zuchthausgefangene unterliegt nach § 15 StGB uneingeschränktem Arbeitszwang; für den Gefängnisgefangenen ist die Arbeitspflicht nach § 16 Abs. 2, 3 StGB in Verbindung mit NI'. 214 DVollzO dahin modifiziert, daß die Beschäftigung den persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen angemessen sein muß2iJ. Für die sog. verschärfte Haft (§ 361 NI'. 3-8 StGB, NI'. 227 DVollzO) gilt insoweit Entsprechendes wie für den Vollzug der Gefängnisstrafe. Lediglich die - theoretisch wie praktisch - weitgehend bedeutungslosen sonstigen Haft- und Einschliessungsstrafen (§§ 1 Abs. 3, 17 StGB, NI'. 222, 237 DVollzO) kennen den Arbeitszwang nicht. Jenen Rechtseinbußen, die vitale Freiheitsrechte berühren27 , gesellen sich noch bei der Verurteilung zu Zuchthausstrafen - und gelegentlich auch zu Gefängnisstrafen (§§ 32, 35 StGB) Nebenfolgen und Nebenstrafen, die vor allem den status civitatis des Verantwortung der Gesellschaft (Schriften des Dt. Vereins f. öff. u. priv. Fürsorge, 225), Frankfurt a. M. 1965, S. 103-108; vg1. auch Petersen, Recht!. Grundlagen einer Hilfe für Gefährdete, 1. C., S. 60-96; Schellhorn, Jirasek, Seipp, Das Bundessozialhilfegesetz, 4. Aufl., Berlin, Neuwied 1966 (zu § 26); Gottschick, Das Bundessozialhilfegesetz, 3. Aufl.,· München 1966, NI'. 3-5 zu § 26; Berg, Sawusch, Sozialhilferecht des Bundes und der Länder, Köln, Berlin 1966 (Loseblattausgabe), zu § 26 BSHG; Jehle, Sozialhilferecht, 4. Aufl., München 1965 (Loseblattausgabe), A, Nr. 2, 3, 8, 9 zu § 26 BSHG; Oestreicher, BundessozialhIlferecht, Komm. (Loseblattausgabe), München u. Berlin 1965, Nr. 3-13 zu § 26 BSGH; Mertens, Zur Verfassungsmäßigkeit des § 26 BSHG, NDV, 45 (1965), S. 127-130. Zur Zwangseinweisung in Anstalten nach dem BSRG jetzt auch Urt. des BVerfG v. 18. 7. 1967 (Zur Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen des JWG und des BSRG, Frankfurt a. M. 1967). 11 Hierzu z. B. Baumann, Die Dienst_ und Vollzugsordnung vom 1..12. 61, in: Kleine Streitschriften zur Strafrechtsreform, Bielefeld 1965, S. 158-197 (161 f.); Herzog, Prot. des Sonderausschusses f. d. Strafrechtsreform, 5. Wahlp., S. 297-301; Schafheutle, 1. C., S. 293 f.; hingegen billigen weitgehende Angleichung von Verwahrungs- und Strafvollzug BVerfGE 2, 118; BayVerfGH, JR 61, 395; OLG Hamm; NJW 66, 607; NJW 67, 217; OLG Nürnberg, Vollzugsdienst, 14 (1967), Nr. 6 - VAS 12/66 - ; ..:.. VAS 21/66 - ; OLG Hamburg, Vollzugsdienst, 11 (1964), Nr. 1 - VAS 24/63 - S. 23. "Zur Auslegung dieses Passus Altenhain, Arbeitszwang und das Recht des Gefangenen auf Arbeit, JVB1. 97 (1961), S. 117"":'120; Foth, über das Recht des Gefangenen auf Arbeit in den Gefängnissen' (§ 16 II StGB), JZ, 16 (1961), S. 401-406; Tiedemann, Zum Recht des Gefangenen auf angemessene Arbeit, JR 1962, S. 6-9; OLG Saarbrücken,NJW 60,230; OLG Düsseldorf, NJW 60, 1071; OLG Oldenburg, Vollzugsdienst, 12 (1965), Nr. 4 - 3 VAS 27/64 - S. 13. 27 Schüler-Springorum,1. C., S. 150 ff., kommt das Verdienst zu, die faktisch allseitige Beschränkung der Freiheit als das herausragende Moment der Freiheitsstrafe entwickelt zu haben.

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D. Die Strafe in empirischer Sicht

Täters berühren: die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter und der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (§§ 31-35 StGB); hervorzuheben ist hierbei in erster Linie der Verlust der staatsbürgerlichen Rechte, des aktiven und des passiven Wahlrechts. Bei der rechtlich - der Zahl der Strafdrohungen entsprechend - wie praktisch - nach ihrer tatsächlichen Anwendung28 - außerordentlich bedeutsamen Geldstrafe sind zwar die Rechtseinschränkungen in geringerem Maße, aber doch deutlich wahrnehmbar vorhanden (§ 27 StGB). Der Verurteilte muß einen Teil seines Einkommens oder Vermögens an den strafenden Staat abführen, wird also, finanziell und rechtlich gesehen, unter Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz, stärker als der straffreie Staatsbürger belastet. Im Falle mangelnder Leistung unterliegt er dem Beitreibungszwang (§ 48 StVollStrO). Solange er die Geldstrafe nicht bezahlt hat, schwebt das Damoklesschwert einer Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe über ihm (§ 29 StGB, §§ 49 ff. StVollStrO). Freilich kann der Verurteilte - anders als bei der Freiheitsstrafe - die Rechtseinbuße auf einen zahlungsfähigen und -willigen Dritten abwälzen, da die Rechtsordnung gegen ein solches Verfahren keine hinreichenden Vorkehrungen trifft29 • Auch die Nebenstrafen bewirken u. U. empfindliche Rechtseinschränkungen. Die Einziehung der dem Täter oder Teilnehmer gehörenden producta oder instrumenta sceleris (§ 40 StGB) trifft den Verurteilten kaum minder hart als etwa die Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte. Die faktische Bedeutung des Fahrverbots (§ 37 8tGB) scheint seine rechtliche noch zu übertreffen. b) Die Eintragung der Strafe ins Strafregister

Grundsätzlich haben alle Bestrafungen die Eintragung im Strafregister zur Folge (§ 2 Abs. 1 StRegVo); nur einige wenige, vergleichsweise unbedeutende Verurteilungen sind davon ausgenommen (§ 2 Abs. 2 u. 3 StRegVo)So. Wenn auch hierin keine Strafsanktion zu erblicken ist, so Z8

Von 516895 Verurteilten hatten allein 348 332 1964 Geldstrafen erhalten

(vgI. Bevölkerung und Kultur, Reihe 9, Rechtspflege; Stuttgart 1964, S. 14), 19815 von 15015 441 Verurteflten 330810 (vgl. 1. c., Stuttgart 19815, S. 14). 11 VgI. Zipf, 1. c., S. 29 H.; zur Frage der Anwendbarkeit des § 257 StGB Stree, JZ, 19 (1964), S. 588-590; Baumann, AT, S.648. Ob man sich dabei beruhigt hat, daß der Egoismus des Unternehmers, der sich in der Bezahlung einer Geldstrafe für seine Angestellten bekundet, oder der entsprechende Altruismus von Freunden oder Verwandten, die den Verurteilten vor dem Freiheitsentzug bewahren wollen, nicht eben häuflg sind? 10 Hierzu Hartung, Das Strafregister, 2. Aufi., München 1963, S. 275 f.; vgl. ferner Lenz, Die rechtliche Stellung des Vorbestraften, (ungedr.) Diss. jur. Hamburg 1951.

I. Rechtliche Wirkfaktoren des Strafmechanismus

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wirkt doch die Eintragung vielfach strafähnlich. So verneint Hartung zwar ausdrücklich ihren Strafcharakter mit dem Hinweis, daß die Einrichtung des Strafregisters dazu bestimmt sei, "das Gedächtnis an die Verurteilungen für die Bewertung des Verhaltens im Staatsleben wach zu halten"31, weist aber gleichzeitig darauf hin, daß sie vielleicht als eine Art Strafe empfunden werde. Die weitgehende Publizität der Strafvermerke, die selbst Privatpersonen in begrenztem Umfange die Kenntnisnahme von Vorstrafen ermöglicht (vgl. § 36 Abs. 2 StRegVo), hat offensichtlich soziale Konsequenzen, die über den engeren normativen Bereich weit hinausgehen. Knüpft man an den Kreis der nach § 32 Abs. 1 StrRegVo auskunftsberechtigten Stellen an, so lassen sich die jener Institution zugrundeliegenden öffentlichen Interessen in rechtlicher Sicht mit dem OLG München dahin fixieren, daß "bestimmten Behörden (für die Zwecke der Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung) noch nach längerer Zeit die Kenntnisnahme von Verurteilungen ermöglicht wird und daß mit Hilfe des Strafregisters Personen von Stellungen ferngehalten werden sollen, für die sie nicht in Betracht kommen"32. Hiernach gründet die Einrichtung des Strafregisters nicht nur in bestimmten verwaltungs- und beamtenpolitischen Erwägungen, sondern ganz allgemein gerade in einer auch dem Strafrecht zugedachten Präventivfunktion; somit hat die Eintragung als Tatfolge in einem weiteren Sinn strafähnlichen Charakter. Die aus ihm sich ergebenden weitreichenden sozialen Implikationen werden heute kaum mehr in Frage gestellt und haben bekanntlich zu den Reformbestrebungen auf dem Gebiet des Strafregister- und Straftilgungsrechts geführtS3 ; der E StGB 1962 selbst hebt die Notwendigkeit hervor, hier Remedur zu schaffens,. Freilich ist - und das berührt die eingangs erwähnte Problematik einer Unterscheidung von Rechtstatsachen und sonstigen sozialen Fakten - schwer auszumachen, inwieweit das Strafregister und seine tatsächliche Ausgestaltung über seinen 1. C., S. 12. VAS 2/64 (BI. f. Strafvollzugskunde, Beil. z. Vollzugsdienst, 12, 1965, Nr. 2, S. 1). aa Vg1. Dünnebier, Möglichkeiten der Rehabilitation durch strafregisterliche Maßnahmen, JZ, 13 (1958), S. 713-719; Hennecke, Beiträge zur Reform des Straftilgungsrechts, (ungedr.) Diss. jur. Hamburg 1960; Creifelds, Straftilgung und Akteneinsicht, GA 1957, S. 257-264; Fleischmann, Zur Problematik der beschränkten Auskunft aus dem Strafregister, JZ, 9 (1954), S. 147-148; Peters, Rehabilitierung Straffälliger' (Verh. des 42. DJT, H, G), Tübingen 1958; Hartung, Der Stand der Rehabilitationsfrage in Deutschland, Festschr. f. Mezger, München 1954, S. 503-513; Heuser, Zur Reform des Strafregisterwesens, in: Kriminalpolit. Gegenwartsfragen, Wiesbaden 1959, S. 197-204. Neuerdings auch Thoman~, Die Reform des Strafregisterwesens, Der Wanderer, 1967, Nr. 2, S. 17-21. .. Begr., S. 103. 11

I!

D. Die Strafe in empirischer Sicht

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bloßen Schutzzweck hinaus nicht doch selbst Ausdruck einer gewissen iceologischen Verhärtung des Publikums sind, das repressive Unterdrückung des Täters als diesem allein angemessene Verhaltensweise perpetuieren möchte; manches in der von Hartung zitierten Begründung zum StrTilgG, die allerdings mit erstaunlicher Selbstgewißheit theoretische Reflexionen als Fakten ausgibt, deutet darauf hin85• Mustert man die rechtlichen Konsequenzen näher, die sich aus der Eintragung einer Verurteilung im Strafregister ergeben, so lassen sich weitreichende Eingriffe in die Privatsphäre schwerlich leugnen; nur vom Standpunkt einer Strafauffassung aus, die den Täter prinzipiell zur Disposition des Staates gestellt sähe - wie sie etwa in der 1935 vorgeschlagenen schwersten Strafe der Ächtung zum Ausdruck kamso - , ließe sich umgekehrt annehmen, daß der Staat durch die Regelung der StrRegVo sich. gewissermaßen selbst Schranken auferlegt habe. Der Verurteilte muß es innerhalb von 5 Jahren in Fällen geringerer Kriminalität und innerhalb von 10 Jahren in Fällen mittlerer und schwerer Kriminalität nach Strafverbüßung hinnehmen, daß Gerichten, Strafverfolgungsbehörden, höheren Verwaltungsbehörden und Polizeibehörden volle Auskunft über seine Bestrafung erteilt wird (§ 6 StrTilgG). Sogar Privatpersonen können bei Vorliegen eines berechtigten Interesses über den Inhalt des Strafregisters informiert werden (§ 36 Abs. 2 StrRegVO). Der Verurteilte darf sich während des Laufes jener Frist nicht als unbestraft bezeichnen. Erst mit dem Eintritt der Auskunftsbeschränkung erhält er nach § 4 Abs.5 StrTilgO das Recht, privaten Personen oder Stellen gegenüber nicht nur jede Auskunft über Tat und Strafe zu verweigern, sondern ihnen gegenüber auch als Unbestraftet aufzutreten37• In diesem Fall verzeichnen polizeiliche Führungszeugnisse Verurteilungen gleichfalls nicht mehr (§ 4 Abs.3 StrTilgG). Aber selbst dann verbleiben noch spürbare Rechtseinbußen. So kann sich der Verurteilte staatlichen Dienststellen gegenüber nicht als unbestraft bezeichnen (§ 4 Abs. 5 StrTilgG); in gerichtlichen Verfahren steht ihm allenfalls ein Auskunftsverweigerungsrecht zur Seite38• Eine weitgehende rechtliche Gleichstellung mit dem unbescholtenen Staatsbürger hat der Verurteilte erst durch die Tilgung .des Strafregistervermerks zu erwarten (§ 4 Abs.4 StrTilgG). Diese kommt aber 16

1. c., S. 10.

le VgI. Rietzsch, Die Strafen und Maßregeln der Sicherung, Besserung und

Heilung, in: Das kommende deutsche Strafrecht, Allgem. Teil, hrsg. v. F. Gürtner, 2. Aufl., Berlin 1935, S. 118-162 (119-121); vgI. auch Weithase, Ober den bürgerlichen Tod als Straffolge, Diss. jur. Berlin 1966. 37 VgI. Hartung, 1. C., S. 116-118; vgI. auch BAG, JZ 58, 512; Heinitz, Folgen,I. c., S. 176-179. 18 VgI. Hartung, S .. 118.

I. Rechtliche Wirkfaktoren des Sttafmechanismus

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grundsätzlich wiederum erst nach Verstreichen weiterer 5 bzw. 10 Jahre - je nach Schwere der Tat - in Betracht (§§ 1 Abs. 2, 7 StrTilgG). Nunmehr kann sich der Verurteilte auch gegenüber staatlichen Stellen als unbestraft bezeichnen und läuft nicht mehr Gefahr, aufgrund einer solchen Behauptung vor Gericht strafrechtlich belangt zu werdens,. Dementsprechend darf er jetzt nichtprivaten Stellen gegenüber jede Auskunft über Tat und Strafe verweigern. Doch auch nach Tilgung des Vermerks, die im Regelfall der mittleren und schweren Kriminalität erst 20 Jahre nach Strafende erfolgt, besteht kein uneingeschränktes Recht des Verurteilten, von Gericht und Staatsanwaltschaft als unbestraft behandelt zu werden; § 4 Abs. 4 S. 3 StrTilgG läßt insoweit Ausnahmen zu40 • Wer mit Zuchthaus bestraft ist, bleibt ohnedies grundsätzlich von einer Vergünstigung - ob Auskunftsbeschränkung oder Straftilgung - ausgenommen und damit lebenslänglich stigmatisiert (§ 1 Abs. 3 StrTilgG). Zwar gestattet § 8 StrTilgG in begrenztem Umfange Vergünstigungen auch in Fällen der Verurteilung zu Zuchthaus; ein Rechtsanspruch hierauf gewährt jedoch jene Vorschrift nicht41 • Im Grunde ruht also die Last der Verurteilung bis ans Lebensende auf dem Täter; sie wird nur - im Laufe der Jahre - spürbar leichter, worin man eine signifikante übereinstimmung der Rechtsordnung mit einer - präsumierten - communis opinio der Gesellschaft erblicken mag. c) Exkurs über den Begriff des Strajübels

Der überblick über die Rechtsminderungen, die durch die Strafe oder in unmittelbarem Zusammenhang mit ihr eintreten, legt die Erwägung nahe, daß die Begehung einer Straftat erhöhte Rechtspflichtigkeit des Täters bewirkt, die eben die Einschränkung seiner allgemeinen bürgerlichen Rechtsstellung rechtfertigen solL Dem entspricht es, daß dem sog. staatlichen Strafanspruch Anforderungen an den Täter immanent sind, die über das vom Staatsbürger seinem Gemeinwesen Geschuldete erheblich hinausgehen. Soweit sich dies in der Pflicht zur Duldung von Rechtseinschränkungen manifestiert, sprechen Judikatur und Literatur vielfach vom Strafleiden oder Strafübe142 • Die darin liegende Kennzeichnung der Strafe wird offensichtlich aU$ dem idealistischen Reser.. Hartung, S. 119. 40 Vg1. Hartung, S. 122 f.

41 Vgl. OLG München, 1. c.; Götz, Vorzeitige Anordnung von Strafregistervergünstigungen, NJW, 16 (1963), S. 1815-1817; Oppe, Nochmals: Die Anfechtung der richterlichen Entscheidung über beschränkte Auskunft aus dem Strafregister, NJW, 17 (1964), S. 1710--1711. 4! So z. B. BGHSt 19, 201; BVerfG, NJW 67, 1656; Wetzet,I. c., S. 230 ff.; Zipf, 1. c., S. 29 ff.; Bocketmann, 1. c., S. 15; SaueT, Allgemeine Strafrechtslehre, 3. Aufl., Berlin 1955, S. 8; Maura.ch, AT, S. 63.

80

D. Die Strafe in empirischer Sicht

voir der Vergeltungstheorien gespeist und sie verleugnet auch diese ihre philosophische Abkunft nicht4J • Wertungen solcher Art - wie systemkonform sie immer sein mögen - implizieren aber schon den Vorgriff aufs Ganze der Straftheorie und sind daher in empirischer Sicht mit einer Analyse ihrer partialen Strukturen unvereinbar. In Wahrheit haben wir es hier mit der spekulativen Auffüllung und Ausdeutung von Normenfragmenten zu tun, als welche sich. die überaus punktuelle und bruchstückhafte Regelung der Strafe in unserer derzeitigen Rechtsordnung darstellt. Der Positivismus, dem jegliches Denken außerhalb purer Faktizität als Ideologie erscheint, würde dieses Verfahren als Ideologisierung von Normen kennzeichnen" und hätte gar nicht so unrecht damit. Zur Empirie der Norm in dem oben umrissenen Sinne läßt sich ein solcher Begriff des Strafübels also schwerlich rechnen. Aber selbst davon abgesehen, hätte absolute Straftheorie, welche die normative Brauchbarkeit der Kategorie des übels prätendierte, mit der Genauigkeit, die sie eben ihrer Herkunft und damit methodischen Basis schuldig ist, auf Klärung dessen zu bestehen, was unter übel und Leiden zu verstehen ist und wie diese Begriffe zu Vergeltung und Sühne in Beziehung zu setzen sind. Zu fragen wäre, wie es um die Vereinbarkeit des Strafübels mit der Sühne stünde, ob also umgekehrt selbstauferlegte Strafe im Sinne Hegels dem Begriffe des übels genügen könnte. Zu fragen wäre weiter, ob Strafe, wiewohl nicht als übel zugefügt, auf den Täter wie ein übel wirken würde oder könnte, was doch wohl die Feststellung ausschlösse, daß sie - trotz vergeltender Natur - repressive Funktionen habe. Aber auch unabhängig davon, ob und inwieweit Hegels Implikationen mit den Begriffen von übel und Leid zu vereinbaren sind, werden jene Fragestellungen immer wieder vertauscht, womit dem begrifflichen Chaos, dem sich die Strafrechtspftege gegenübersieht, Vorschub geleistet wird. Strafe kann als übel zugefügt werden; damit ist sie Repression. Die Auferlegung des übels wird in finalem Sinne Zweck der Strafe. Man will dem Täter bewußt ein malum zudiktieren. In diesem Verständnis spricht die Judikatur vielfach vom Strafübel, das dem Täter um seiner Tat willen auferlegt wird. Nicht selten liegt indes einem solchem Sprachgebrauch die Verwechslung jenes ideellen Momentes mit der individual- und sozialpsychologischen Tatsache zugrunde, daß Verurteilter und Gesellschaft die Strafe als - oder zumindest - wie ein übel empfinden. Damit ist die Übelszufügung nicht mehr intendiert oder der eigentliche Kern des Strafvorgangs, sondern erhält allenfalls 43 44

VgI. etwa Spendel, 1. C., S. 87 ff. Vgl. HiTsch, 1. C., S. 250; Tb. GeigeT,I. c., S. 240.

I. Rechtliche Wirkfaktoren des Strafmechanismus

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den Charakter eines Nebeneffekts, einer Begleiterscheinung der Strafe, deren Zielsetzung anders bestimmt wird. In diesem Sinne kommt dem Begriff des übels keinerlei normative Bedeutung mehr zu; er gehört vielmehr zum Inbegriff jener sozialen Fakten, in denen sich Strafe innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges manifestiert. 3. Strafen als prozessualer Vorgang

Die bisherige übersicht suchte den - freilich fragmentarischen normativen Gehalt, den die Rechtsordnung der Strafe zuspricht, quasi punktuell zu fixieren. Dabei blieb der Umstand ausgeklammert, daß Strafe sich ja in Wahrheit stufenförmig, im Prozeß verwirklicht, zu ihrem Recht kommt45 • Der Strafvorgang äußert sich im procedere als einem normativ geregelten geschichtlichen Geschehen, das mit der Urteilsverkündung einsetzt und erst mit dem Strafende, vielleicht sogar noch später mit der völligen Rehabilitierung des Täters seinen Abschluß findet. Diese je verschiedenen Stufen des Strafvorgangs sind alle bezogen auf das übergeordnete Ziel des Strafrechts und damit der Strafe, lassen sich also um der Einheitlichkeit der Zwecksetzung willen nicht in differente oder gar einander entgegengesetzte Besonderungen auflösen. Aber was insoweit in der StPO, der StVollstrO und der DVollzO als die prozessualen Stadien des Haupt-, Vollstreckungs- und Vollzugsverfahrens zum Ausdruck kommt, erweist sich im Grunde nur als ein - wenn auch wesentlicher - Teilaspekt eines umfassenderen Ganzen. Denn das Strafrecht erfüllt seine Aufgabe nicht allein durch Verhängung und Vollziehung von Strafen, sondern schon durch die bloße Existenz der Norm". Fichte, der sich als Besserungstheoretiker kaum einen guten Ruf erwerben47 , sondern dadurch höchstens sein Ansehen als Philosoph aufs Spiel setzen konnte, hat die Funktion der "peinlichen Gesetzgebung" mit dem klassischen Satz umrissen: "Der Zweck des Strafgesetzes ist der, daß der Fall seiner Anwendung nicht vorkomme48 ." Freilich ist dieser Gedanke hier nicht weiterzuverfolgen, weil er schon ins Reich spekulativer Strafzweckbestimmung hinübergreift; wir müssen uns bei der Analyse normativer Realfaktoren damit bescheiden 45 Heute weitgehend anerkannt (vg1. z. B. Roxin, 1. c., S. 381 ff.; Peters, Strafprozeß, 2. Aufl., Karlsruhe 1966, S. 601; Ruprecht, Prot. des Sonderausschusses f. d. Strafrechtsreform, 4. Wahlp., S. 394; vg1. auch Grassberger, Die Strafe, ÖJZ, 16 (1961), S. 169-178 (170). Selbst Nagler, 1. c., S. 76, spricht von "einzelnen Stadien dieses Prozesses". " Vg1. wiederum Roxin, 1. C.; Grassberger, I. C.; Noll, Ethische Begründung, S.22f. 4T Vg1. Nagler, 1. c., S. 418. t8 Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1960 (1796), § 20.

6 MnUer-Dletz

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D. Die Strafe in empirischer Sicht

zu konstatieren, wie sich der Strafvorgang nach der Rechtsordnung und nicht nach ihr supponierten Tendenzen darstellt. Bezieht man die Strafnorm solcherweise in den Gesamtprozeß der Rechtsverwirklichung ein, so erscheint die Urteilsverkündung als zweite Stufe des Strafvorgangs; sie ist es, die durch Teilhabe der Öffentlichkeit in den Formen der Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit einer Verurteilung heute weitreichende Publizität sichern kann"; daß sich hieraus bestimmte - freilich begrenzte - Schlüsse auf das soziale Wirken der Strafe ziehen lassen, erscheint gewiß. Im Urteil wie in der Strafvollstreckung als dem letzten Stadium des Strafgeschehens bekundet sich die Entschlossenheit der Rechtsordnung, mit ihren eigenen Ankündigungen Ernst zu machen, es also nicht bei der bloßen Androhung von Strafen bewenden zu lassen. Ihre eigentümliche Aufgabe könnte demnach vor allem in der Selbstbestätigung oder -durchsetzung der Norm gesehen werden, die auf dem Papier stünde, würde ihr die praktische Verwirklichung versagt. Darüber hinaus erteilt Nr.57 DVollzO dem Freiheitsstrafenvollzug einen besonderen spezialpräventiven Auftrag50• So weisen die verschiedenen Stufen, auf denen sich Strafrecht und Strafe realisieren, je spezifische Strukturen auf, deren Bedeutung für ein theoretisches Modell von Strafe augenscheinlich ist.

11. Soziale Reaktionen auf das Verbrechen 1. Zur Problematik einer Sozlalanalyse

An diesen Überblick über den normativen Bestandteil der Empirie ist die erheblich schwierigere Realanalyse sozialer Vorgänge und Zustänqe im Gefolge der Tat anzuschließen. Denn kodifizierte Normen bieten, wiewohl gedankliche Gebilde, handfestere Anhaltspunkte für das, was als Strafe wirkt oder zumindest wirken soll, als jene gesellschaftlichen Reaktionen, die sich auf das Verbrechen hin einstellen, oder deren Existenz man - exakter formuliert - vermutet. Diese Paradoxie gilt freilich nur, sofern man sich bei der Betrachtung der Wirklichkeit in spekulativer Hinsicht Zurückhaltung auferlegt. Wird diese Grenze - absichtlich oder unabsichtlich - überschritten, dann 41 Vgl. hierzu Eb. Schmidt, Lehrkomm. z. StPO u. z. GVG, T. I, 2. Aufl., Göttingen 1964, N. 401-424; Die Sache der Justiz, Göttingen 1961, S. 23-28; Bockelmann, Öffentlichkeit und Strafrechtspflege, NJW, 13 (1960), S. 217-221; vgl. auch Stock, Das Ziel des Strafverfahrens, in: Festschr. f. Mezger, München 1954, S. 429-453 (440-446). so Zu deren Auslegung Herzog, Zweck und Ziel des Strafvollzugs, ZfStrVO, 14 (1965), S. 135-137; Baumann, in: Streitschriften usw., S. 173-175. VgI. auch die etwas modernere Formulierung des § 20 Abs. 1 des österr. Entw. eines Strafvollzugsgesetzes vom 1. 6. 1967.

H. Soziale Reaktionen auf das Verbrechen

S3

mündet das Verfahren wieder in die reine Idee, von der es doch, eigenem Anspruch gemäß, Abstand nehmen sollte. Belege für solche Selbstwidersprüche weist die neuere Erforschung des Strafmechanismus in der Gesellschaft zur Genüge auf. Dabei erscheint bemerkenswert, daß sich der Widerspruch selten genug am Ergebnis, das jeweils über das soziale Wirken der Strafe zutage gefördert wird, fast immer aber an der Methode, die dabei beobachtet wurde, ablesen läßt. Denn solange die Zahl der ermittelten Fakten in. umgekehrtem Verhältnis zu den daran geknüpften Deutungen steht, dürften sich schwerlich bestimmte Aussagen ohne weiteres widerlegen lassen, die genau so gut richtig sein können; und so verfängt noch am ehesten Methodenkritik, die aber leicht als unfruchtbar abgetan werden kann, weil sie für unumstößlich gehaltenen Wahrheiten die Grundlage entziehen könnte, damit indes neue noch nicht zu präsentieren vermag. a) Historische Versuche Es ist hier nicht der Ort, eine Art Binnenkritik solcher Versuche der jüngeren Wissenschaftsgeschichte zu leisten; doch seien stellvertretend für die latente Problematik einige wenige Bemühungen um eine Realanalyse der Strafe durch die Strafrechtswissenschaft selbst genannt, in denen der Empirismus teils erklärtermaßen und offenkundig ist, teils nur unterschwellig zu spüren. Mit Einschränkungen wäre auf Feuerbach selbst zu verweisen, mehr noch aber auf seinen Schüler Welcker, der spekulativ entwickelten individual- und sozialpsychologischen Verbrechenswirkungen adäquate Straffunktionen korrespondieren ließ51. Des weiteren wären hier auch H. Seuffert52 , G. Jellinek53 , W. Mittermaier54 und R. v. Frank55 einzuordnen. Trotz ihrer - teilweise recht heterogenen Strafauffassungen war ihnen das Bestreben gemeinsam, das Wirken der Strafe in der und durch die Gesellschaft zu deuten und von daher Ansätze für eine normativ brauchbare Straftheorie zu gewinnen. Alle diese Versuche beschieden sich jedoch mit Reflexionen ohne eigene Erfahrungsbasis; gleichwohl - oder vielleicht gerade deswegen? - gelangten sie im Ergebnis zu einigen signifikanten übereinstimmungen. Seuffert erklärte ausdrücklich, daß die Fragen nach Sinn, Zweck und Wirkung der Strafe ohne Rückgriff auf "Erfahrungsthatsachen" nicht zu 51 Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, Gießen 1813, (Aalen

1964), S. 249-275.

Was will, was wirkt, was soll die staatliche Strafe? Bonn 1897. Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. AufI., Berlin 1908. 14 Die Straftheorien in kriminalpsychologischer Betrachtung, 1. Co 65 Vom intellektuellen Verbrechensschaden, 1. c. 51

53

Ci'

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D. Die Strafe in empirischer Sicht

beantworten seien66, blieb dann aber doch im weiteren Verfolg seiner Untersuchung die geforderte umfassende empirische Analyse schuldig. Bei G. Jellinek standen die sozialpsychologischen Verbrechenswirkungen im Vordergrund der überlegungen. "Alles normwidrige Handeln oder doch bei weitem der größte Teil desselben bringt, sobald es bekannt wird, psychologische Wirkungen hervor. Aber die Wirkungen müssen erst eine gewisse Höhe erreicht haben, damit der Staat gegen sie reagiere." Das Mittel hierzu sei die Strafe qua Repression57 • In seiner psychologischen Betrachtung der verschiedenen Straftheorien bezog W. Mittermaier entschieden Stellung gegen die bisherigen Anschauungen, da sie "stets auf· philosophisch-ideale Spekulationen gegründet wurden und mit einer els" (vgl. ferner Arthur Kaufmann, JZ, 22 (1967), S. 557). "Gegen die vergeltende Übelszufügung des deutschen Schuldstrafrechts" Schörcher, MSchrKrim. 50 (1967), S. 260 bis 263 (mit freilich nicht billigenswerter Begründung). SI Vgl.Die Dienst- und Vollzugsordnung vom 1. 12. 1961, 1. C.; Die Reform des Strafvollzuges, 1. c. I! 1. c., S. 220 ff. n KG, Vollzugsdienst, 13 (1966), Nr. 6 (S. 15) - 3 VAS 34/65) -. sc OLG Hamburg, Vollzugsdienst, 13 (1966), Nr. 1 (S. 10)- VAS 83/65 -. SI OLG Oldenburg, NJW 64, 2070. sa OLG Schleswig, Vollzugsdienst, 11 (1964), Nr. 4 (S. 78) - VAS 3/63 -. IT OLG Hamburg, Vollzugsdienst, 11 (1964), Nr. 4 (S. 78 f.) VAS 41/63 -. ss OLG Frankfurt, Vollzugsdienst, 14 (1967), Nr.4/5 (S. 23) - 3 VAS 36/66 -.

120 E. Versuch einer empirisch-rationalen Zweckbestimmung der Strafe

diese Entscheidungen im Ergebnis zutreffen. Aber die Berufung auf die übelsnatur der Strafe ist ein zu dürftiger Ersatz für fehlende Gründe; und Rechtsprechung, 'die solchermaßen argumentiert, eben weil sie eine andere ratio nicht finden kann, ist von übel3D •

b) Soziale Pflichten des Täters und der Gesellschaft Strafe als Position mag in hegelianischem Verständnis eine Denkunmöglichkeit sein, eine Selbstaufhebung des Begriffs, die durch keinerlei Setzung mehr zu retten wäre. Aber der Versuch, Strafe zu positivieren, orientiert sich an der sozialen Wirklichkeit, die Repression schlechthin nicht erträgt: Der Schlag, der dem Täter gilt, trifft in Wahrheit die Gesellschaft40 • Darum legt die Strafe, wenn sie ihre Funktion als Rechtsgüterschutz ernst nimmt und nicht zur leeren Proklamation degradiert, dem Täter Rechtseinbußen nicht als Selbstzweck auf, sondern um ihn dadurch (wieder) für die Rechtsordnung zu gewinnen. Die Rechtseinbuße bringt keine Antithese, Negation oder was immer zum Ausdruck; sie stellt vielmehr das Mittel dar, in positivem Sinne auf den Täter einzuwirken. Wie auch sonst im Recht grundsätzlich dem Rechtsanspruch des einen die Verpflichtung des andern entspricht, findet der staatliche Strafanspruch sein· Gegenstück in der besonderen Pflichtigkeit des Täters. Schon de Jancourt dekretierte in der französischen Enzyklopädie: "Wenn der Souverän ein Recht zum Strafen hat, muß den Schuldigen eine entsprechende Verpflichtung treffen: denn ein Recht kann es nicht geben ohne eine entsprechende Pflicht41 ." Diese Pflichtigkeit ist nun aber nicht als bloße Duldungspflicht des passiv Leidenden - malum passionis -, sondern nach dem Vorgang Sauers4!, Stocks", deI Vecchios", Würtenbergers u. a. 45 als Leistungspflicht des zu aktivem Tun gehaltenen Täters - bonum actionis - zu bestimmen. Hiernach hat der Rechtsminderung eine Pflichtensteigerung 3D Auf die Strafe schlechthin bezogen: "Ja, fehlt ein Rechtsgrund, dann ist die Strafe ein Unrecht. Aus der Strafe ist ein Verbrechen geworden: the crlme of punishment." (Olivecrona, zstrW, 69 (1957), S. 405). co Bloch, 1. C., S. 297: "Der Schlag, der hier hilft, gilt selber als verboten." 41 Zit. nach Heath, 1. C., p. 100 et seq. 4t Die Strafe als Steigerung von Pflichten, GS, 97 (1928), S. 27-43. -Dle--Strafe als Leistung,- Ami. Unlv. Saraviensis - Rechts- und Wirtschaftswiss. I (1952), S. 97-110; Zur Neuregelung des Strafvollzugs gegenüber Erwachsenen und zum Strafmaß, in: Festschr. f. H. v. Weber, Bonn

1963, S. 407-417. « Das Problem der Grundlage des Strafrechts, in: Grundlagen und Grundfragen des Rechts, Göttingen 1963, S. 288-304. 45

Strafrichter und soziale Gerechtigkeit, in: Melanges Germann, Bern

1959, S. 35-55 (46 ff.); Reform des Strafvollzugs, 1. c" S. 238 f.; vgl. ferner

Kühler, Die Entschädigung des Verletzten in der Strafrechtspflege, ZStrW,

71 (1959), S. 617-634; Sax, JZ, 12 (1957), S. 5; Lackner, JZ, 22 (1967), S. 519.

H. Strafen als soziales Geschehen

121

zu korrespondieren; und jene rechtfertigt sich erst durch diese. Ein solches Verständnis der Strafe wirkt nicht nur inhaltsbestimmend und zielsetzend, sondern trägt auch einem rechtsstaatlichen Bedürfnis Rechnung: Vom Täter kann nicht mehr gefordert werden, als dem Maß seiner gesteigerten Sozialpftichtigkeit entspricht. Die daraus resultierende besondere Leistung des Täters hat vor allem in seinem eigenen ernsthaften Bemühen zu bestehen, sich wieder oder überhaupt in die Rechtsordnung einzufügen, Rechtsgesinnung zu entwickeln und zu praktizieren, die realen von ihm verschuldeten Tatfolgen im Rahmen des Möglichen auszugleichen. Freilich mag diese Leistung oft genug unvollkommen sein oder gar ganz ausbleiben; aber wo nichts zu holen ist, nützt auch die beste Zwangsvollstreckung nichts: Rechtstreue ist nicht erzwingbar. Doch ist die Strafe gehalten, das ihre dazu zu tun, um die Leistung überhaupt zu ermöglichen. Darum muß sie sozialem Ausgleich und sozialer Entfaltung Raum geben. Sie muß sich Funktionen des allgemeinen Sozialisationsprozesses aneignen, will sie nicht zur dissozialisierenden Maßnahme denaturieren. Denn hierin liegt eine der bedeutendsten kritischen Einsichten der Sozialwissenschaft, daß die positive Bewertung sozialer Phänomene mit ihrer Eignung steht und fällt, die Integration des einzelnen in die Gesellschaft und in die je besonderen Gruppenkulturen zu fördern. Die Strafe darf deshalb nicht durch die Art ihrer Ausgestaltung ihrer eigenen Zwecksetzung im Wege stehen, sich gewissermaßen selbst aufheben. Wo dies geschähe, wäre - in Analogie zum Zivilrecht (vgl. § 254 Abs. 1 BGB) - darauf zu verweisen, daß der Staat soweit und solange nicht auf Leistung dringen kann, als er sie durch sein eigenes Verhalten unmöglich macht. Fair trial gebührt gerade demjenigen, der faire Behandlung seinem Opfer versagte«. Denn hierin bewähren sich wesentlich die Rechtsstaatlichkeit und innere Vernunft einer Strafrechtspftege, daß sie nicht die Unvernunft und Inhumanität des Täters erwidert, um sie zu perpetuieren, sondern ihnen ein Ende zu setzen sucht.

ß. Strafen als soziales Geschehen 1. nie Stadien des Strafvorgangs und ihre institutionellen Bedce Daß Strafen ein dynamischer Vorgang mit verschiedenen Verfahrensstadien ist, wurde schon an der Übersicht über die Realfaktoren deutlich. Eine realitätsgerechte Funktions- und Ortsbestimmung der Strafe " Harris, The right to a fair trial in criminal proceedings as a human right, The Intern. and Comparative Law Quarterly, 16 (1967), pp. 352-378,

122 E. Versuch einer empirisch-rationalen Zweckbestimmung der Strafe kann diese Tatsache nicht ignorieren, sondern muß sie vielmehr in ihre überlegungen einbeziehen. Dabei sind zwei Gesichtspunkte voneinander zu unterscheiden. Einmal geht es um die Differenzierung nach je spezifischen Aufgaben der Strafe im Rahmen der übergeordneten Zielsetzung des Rechtsgüterschutzes. Zum zweiten ist zu fragen, ob und inwieweit jenen Funktionen bestimmte Verfahrensstufen entsprechen, d. h. ob von einer Zuordnung von Strafzwecken und Prozeßinstitutionen die Rede sein kann. Diese Fragestellung erlaubt es in stärkerem Maße als die übliche punktuell-statische Betrachtungsweise, das Wirken der praktischen Strafrechtspflege und die Analyse des Strafvorgangs zur Deckung zu bringen. Bestimmt die soziale Natur der Strafe ihre Zielsetzung insgesamt, so die Zuordnung der je besonderen Strafzwecke, der Prävention, Rechtsbewährung und Sozialisation, zu einzelnen prozessualen Instituten den Charakter des Strafvorgangs. Durch Androhung der Strafe sucht die Strafnorm auf den einzelnen und die Gesellschaft in spezial- und generalpräventiver Weise einzuwirken. Verhängung und Vollzug sollen den Ernst der Strafdrohung beglaubigen und das Normengefüge stabilisieren. Der Vollzug selbst hat in seiner speziellen Ausprägung als Freiheitsstrafenvollzug in erster Linie die Aufgabe der Sozialisation zu erfüllen. Daraus folgt, daß die spezifische Leistungsfähigkeit der einzelnen Stufen des Strafvorgangs, ihre besondere intentionale Ausrichtung auf bestimmte, ihnen adäquate Strafzwecke eine Aufgabenverteilung innerhalb des zeitlichen und prozessualen Ablaufs bewirkt. Dieser Versuch prozessualer und damit funktionaler Systematisierung hat freilich nur Modellcharakter. Sie verabsolutieren, hieße die Rechtswirklichkeit verkennen. Denn Akzentuierungen und nicht totale Entsprechungen sind es, welche die Zuordnung der besonderen Strafzwecke zu den einzelnen Verfahrensstadien bestimmen. So kann man sicher der Strafvollstreckung auch generalpräventive Wirkung keineswegs völlig absprechen; und die Aufgabe der Rechtsbewährung läßt sich nicht ausschließlich dem Strafurteil vindizieren. Nur unter diesem grundsätzlichen Vorbehalt kann von einer Typizität der gekennzeichneten Korrelationen die Rede sein. Aueh im Blick auf die umgreifende Aufgabe des Rechtsgüterschutzes muß der Stellenwert einer solchen Systematik als eines heuristischen Modells richtig bestimmt werden. Die Aufteilung der Verfahrensabschnitte darf nicht dazu verleiten, den integralen Aspekt des Strafrechts aus den Augen zu verlieren und damit das einigende Band gemeinsamer Zielsetzung zu zerreißen. Daß die Akzente hinsichtlich der Strafnorm, des Strafurteils und des Strafvollzugs intentional und funktional jeweils verschieden gesetzt werden, hat seinen Grund ausschließlich in der dif-

H. Strafen als soziales Geschehen

123

ferenten Struktur und Leistungsqualität der einzelnen Rechtsinstitute, nicht dagegen in einem - ohnedies problematischen - Bestreben, die sog. Antinomie der Strafzwecke zeitlich und prozessual aufzulösen. Spannungen zwischen diesen lassen sich kaum gänzlich vermeiden; Prioritäten können im Einzelfall nur an Hand des höheren Maßstabes des Rechtsgüterschutzes ermittelt werden. Insoweit auftretende Schwierigkeiten können jedoch einen Verzicht auf die Einheit der Zielsetzung nicht rechtfertigen. Denn Tendenzen dieser Art schaffen möglicherweise Antagonismen innerhalb der Strafrechtspflege, welche die Wirksamkeit des überaus kunstvollen Systems der Verbrechensbekämpfung im ganzen erschüttern können. Die Notwendigkeit gemeinsamer Orientierung der Straffunktionen am übergeordneten Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes bestimmt daher das Wertverhältnis der einzelnen Strafzwecke zu dieser umfassenden Aufgabe des Strafrechts.

2. Exkurs über die strafzweckbestimmung des § 2 Abs. 1 AB

Darum ist es weder logisch noch teleologisch möglich, etwa im Sinne des § 2 Abs. 1 AE die besondere Straffunktion der Wiedereingliederung des Täters in die Gemeinschaft auf eine Ebene mit dem allgemeinen Ziel des Rechtsgüterschutzes zu bringen. Eine Zweckbestimmung der Strafe kann vielmehr nur die speziellen Funktionen oder Möglichkeiten der Zielverwirklichung auf eine Ebene stellen und etwa als besondere Modalitäten der umfassenderen Zielsetzung begreifen. Hiernach müßte in § 2 Abs. 1 AE an Stelle des verbindenden "und" - "Schutz der Rechtsgüter und Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft" - richtigerweise das Wort "durch" treten, um deutlich werden zu lassen, daß der Zweck der Wiedereingliederung nur eine besondere Form darstellt, in der sich der Rechtsgüterschutz verwirklicht. Aber selbst dann könnte die Strafzweckbestimmung jener Vorschrift noch nicht befriedigen, weil der Begriff der Resozialisierung nicht die Totalität der einzelnen Strafzwecke repräsentiert. Die Definition müßte daher im Sinne unserer Prämisse durch einen Hinweis auf die Gesichtspunkte der Prävention und Rechtsbewährung ergänzt werden, wobei freilich zweifelhaft sein kann, welcher der bis heute üblichen Begriffe den Sachverhalt am besten umschreibt; denn weder die Charakterisierungen "Androhung", "Abschreckung", "Warnung" und "Generalprävention", noch die Ausdrücke "Rechtsbewährung" oder "Aufrechterhaltung oder Bewährung der Rechtsordnung" sind völlig eindeutig und bedenkenfrei. In jedem Fall müßten dann aber die verschiedenen Straffunktionen alternativ und nicht kumulativ in die Strafzweckbestimmung eingeordnet werden, weil nicht immer alle Strafzwecke gleichmäßig verfolgt werden.

124 E. Versuch einer empirisch-rationalen Zweckbestimmung der Strafe

Damit ist jedoch die Kritik an jener Definition noch keineswegs erschöpft. So wäre gegen diese zu erinnern, daß sie die Zwecke von Strafen und Maßregeln miteinander identifiziert. Sie verstößt hierdurch gegen den grundsätzlichen Ausgangspunkt des AE, wonach - dem Prinzip der Zweispurigkeit folgend - Strafe die Reaktion auf die schuldhafte Tat, Maßregel die der Behandlungsbedürftigkeit und Gefährlichkeit des Täters adäquate Sanktion darstellt. Gewiß gehen Strafe und Maßregel weithin paralle1 47 ; doch müssen sie sich funktional differenzieren lassen, solange man an ihrer Unterscheidung festhält. Die jetzige Formulierung läßt den Einwand zu, daß Strafe und Maßregel ausschließlich von ihren Voraussetzungen her, nicht aber nach ihren besonderen Aufgaben zu unterscheiden sind; sie gibt damit den Anhängern des monistischen Systems - sicher ungewollt - ein gewichtiges Argument gegen die propagierte kriminalpolitische Ausgangsposition an die Hand48 • Erwägt man diese - zweifelsohne kursorisch vorgetragenen - Bedenken, so könnte und sollte die Definition des § 2 Abs. 1 AE unter Beibehaltung ihrer Grundstruktur wie folgt neu gefaßt werden: "Strafen dienen dem Schutz der Rechtsgüter durch Warnung der Allgemeinheit, Bewährung des Rechts oder Eingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft. "

C7 Vg1. z. B. Woesner, Die krimlnalpolit. Grundsatzentscheidungen der Großen Strafrechtsreform in krit. Sicht, NJW, 19 (1966), S. 321-326 (322 f.); Schultz, Kriminalpolit. Bemerkungen zum Entwurf eines Strafgesetzbuches, E 1962, JZ, 21 (1966), S. 113-123; Arthur Kaufmann, JZ, 22 (1967), S. 554. 48 Kritisch zum § 2 Abs. 1 AE Lackner, 1. c., S. 515; Kaiser, Kriminalistik, 21 (1967), S. 288 f.; Gallas, Der dogmat. Teil des Alternativ-Entwurfs (Referat auf der Strafrechtslehrertagung 1967).

Ausklang: Strafe zwischen Hoffnung und Utopie Damit mag das Bemühen, auf der schmalen Basis empirischer Erfahrung eine eigene Strafzweckbestimmung zu formulieren, sein Ende finden. Hiernach erscheint unserer Zeit angemessen ein Strafverständnis, das den Wirklichkeitsbefund kritisch reflektiert, den Vorgang des Strafens prozessual und dynamisch erfaßt und sich selbst als kriminalpolitisch bestimmt, das will heißen: nach der Zukunft und neuen Möglichkeiten hin offen, versteht. Ein solches Bestreben enträt zwar wie jedes andere nicht des spekulativen Ansatzes, einer Ausgangshypothese, die wir mit der alten These vom Rechtsgüterschutz gesetzt haben; doch sucht es Metaphysik der Strafe ebenso zu meiden wie eine Dogmatisierung des Strafbegriffs, die fruchtbare Entwicklungen nur hemmen könnte. Von einer metaphysisch und irrational bestimmten Strafe steht für eine wirksame Bekämpfung des Verbrechens nichts zu erhoffen, weil das so überaus gefährliche und empfindliche Instrument human und rational steuerbar sein muß, wenn anders es nicht unserer Kontrolle entgleiten soll. Es hat seinen guten Grund, daß wir heute den mittelalterlichen Ausdruck "Gerechtigkeitspflege" nicht mehr gebrauchen und stattdessen schlicht von "Strafrechtspflege" sprechen; nicht, daß die Gerechtigkeit hier nunmehr abgedankt hätte oder daß ihr dies gar abzufordern sei, sondern daß Erfahrung uns gelehrt hat, wieviel bescheidener wir im Hinblick auf das, was Strafe leisten soll und kann, zu sein haben. Glaubwürdige Kriminalpolitik - und andere käme einem Selbstwiderspruch gleich - hängt nicht zuletzt davon ab, daß sie sich am Maß des Erreichbaren mißt und nicht die Utopie für die - bessere - Wirklichkeit nimmt, der sich die schlechtere Gegenwart partout nicht fügen will. Freilich heißt dies nicht Verzicht auf realisierbare Hoffnungen, von denen Täter wie Gesellschaft im Grunde zehren. Auch gegen ihren eigenen Anspruch, empirische und d. h. wirkliche Strafe zu sein, haftet ihr ein eschatologisches Moment an, das die Utopie möglicherweise zur Hoffnung, niemals aber diese zu jener werden läßt!. 1 Vg1. allgemein Picht, 1. c., S. 41; ReveTs, Über die Hoffnung. Die anthropolog. Bedeutung der Zukunft, Jb. f. PsychoL, Psychotherapie u. mediz. Anthropologie, 14 (1966), S. 175-185; MooTe, The utility of utopias, 1. c.; Rei{1Totzki, Die Utopialität als wissenschaftliche Kategorie, in: Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Berlin 1963, S. 103-119; vg1. auch Abschn. C, Anm. 50.

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Jeder Versuch, das Strafproblem zu lösen, ist selbst ein historischer und gehört im Grunde selbst der jeweiligen Wirklichkeit an, die er zu regeln vorgibt. Die Anmaßung, als Subjekt das Objekt zu reflektieren, indes doch beide aneinander sich verändern2 , erfährt ihre Zurückweisung, indem solche Reflexion selbst wieder Befund wird, den neue Bemühungen um die Strafe als Material zugrundelegen. Gewiß sind gewisse Grundwerte, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, jedem Begriff von Strafe immanent, der diese Bezeichnung rechtfertigen soll; nur falsches, ideologisiertes Bewußtsein' könnte terroristische und willkürliche Behandlung des Täters für Bestrafung ausgeben. Doch ist damit gewissermaßen nur der Rahmen gezogen, den jede Zeit selbst auszufüllen bestrebt sein muß. Die Prämisse, daß heute nur auf empirischem Weg Annäherung an den Gegenstand zu erreichen ist, mag selbst unserer so faktennahen Zeit unakzeptabel erscheinen und als Wiederkehr abgelebter Naturalismen und Positivismen denunziert werden. Doch hat sich das spekulative Verfahren selbst gerichtet. Marx behielt gegen Hegel recht, wenn er gegen ihn einwandte, Strafe als Selbstbefreiung des Täters sei nur in der Idee wirklich und habe darum in der Realität keinen Platz'. Dies war noch stets die Wahrheit der Sühne als eines theologischen Phänomens, daß sie innerer Freiheit entspringe, nicht aber - wie die Strafe ~ äußerem Zwang; und daß deshalb Strafe, als Sühne gefaßt, dieses ihr Wesen in die Wirklichkeit der Idee verbannt, welche jede Idee von Wirklichkeit verstellt5 • Doch ist der Triumph der dialektischen Umkehr bei Marx kein vollkommener: die wirkliche Idee der Dialektik als eines spekulativ praktizierten Verfahrens' rächt sich auch an ihm. Seine VgI. Adorno, Negative Dialektik, S. 176 ff. VgI. Ideologie, in: Soziologische Exkurse (Frankfurter Beiträge z. Soziologie, 4), Frankfurt a. M. 1956, S. 162-181; Streeten, in: Myrdat, Wertproblem, S. 34-42; Gabet, Ideologie und Schizophrenie, Frankfurt a. M. 1967; Formen der Entfremdung, Frankfurt a. M. 1964; Personalisation und das Unvollendetsein des Menschen, in: Personalisation, S. 18--27; vgI. auch Emge, Das Wesen der Ideologie, Wiesbaden 1961; Barion, Was ist Ideologie? Bonn 1964; Lieber, Philosophie - Soziologie - Gesellschaft, BerUn 1965; H.-J. Btank, Aufgeklärte Gesellschaft als Idee, Ideologie u. Wirklichkeit, in: Aufklärung heute, Freiburg i. Br. 1967, S ..89-108. VgI. fefller die Be:t;ichte von U. Weber (JZ, 21 (1966), S. 412 f.) und E. Küchenhoff (Recht u. Politik, 1966, H. 2, S. 26-28) über "IdeolC)!ie und Recht". 4 Die heilige Familie, S. 190. , Die Krönung dieser Selbstaufhebung markiert der Satz: "Strafe ist erzwungene Sühne." (Stratenwerth, 1. C., S. 349). Arthur Kaufmanns These (1. C., S. 557), daß die Sühneidee akzeptieren müsse, wer für den Resozialisierungsgedanken eintrete, halte ich nicht für zwingend. Treffend hingegen Wettig, 1. C., S. 13. I Kritisch zum dialektischen Verfahren Topitsch, Die Sozialphilosophie Hegets als Heilslehre usw., S. 100 f.; vgI. ferner Gurvitch, Dialektik und Soziologie, Neuwied 1965. J

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Überzeugung nämlich, daß Strafe äußerer Zwang nur in der jetzigen, sozial regredierten Gesellschaft sei, daß sie aber in der erlösten Zukunftsgesellschaft zu der wahrhaft sühnenden, selbstauferlegten Strafe im Sinne Hegels werde 7, ist nichts als eine jener Sozialutopien, die den Menschen von seiner Unvollkommenheit mit dem alten Hausmittel der Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse kurieren zu können glauben und dabei übersehen: Selbst wenn die Verhältnisse nicht so wären, so bliebe doch der Mensch. Etwas hiervon spiegelt sich auch in der überzeugung E. Blochs, daß man im Wege von Sozialreformen die Ursachen des Verbrechens wie einen Sumpf austrocknen könne 8 ; was sich bei ihm als Empirie geriert, geht gleichfalls unter dem - negativen - Vorzeichen Hegels wieder in die Idee als eine spekulative und utopische zugleich ein. Utopie und Spekulation verfallen so gleichermaßen dem Verdikt, daß sie die Selbstaufhebung der Idee in ihrer Entgegensetzung zur Realität vollziehen. Darum ist das, was gestern im Begriff der reinen Idee als wahrhaft und wirklich erschien, heute als realitätsfremd unwirklich, und bedeutet das, was im System strengster begrifflicher Logik wahre Strafe war, der Gegenwart nur mehr glanzvolle philosophische Abstraktion. Doch ist der Schritt, der uns schon von Hegel zu trennen scheint, noch nicht getan9 • In diesem Sinne heißt es auch für die Straftheorie noch, "Abschied von Gestern" zu nehmen.

Die heilige Familie, 1. c. Naturrecht und Menschenwürde, S. 297. Utopisches Denken findet sich wider erklärte Absicht auch bei Th. Geiger (Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit), dem es darum ging, den "ewig getretenen, gequälten, geschändeten "Menschen" aus der Knechtschaft der ... ismen und Systeme zu befreien" (S. 8). Ob nicht auch ein solches Programm wiederum neue Knechtschaft ankündigt? • "Der anerkannte Sühnezweck der Strafe beruht darauf, daß der Bestrafte das Strafübel nicht nur gezwungenermaßen erträgt, sondern kraft freien, sittlichen Entschlusses als gerecht hinnimmt und auf diese Weise sühnt." (BGHSt 19, 201). Das vulgärhegelianische Gepräge ist unverkennbar. Sax erblickt in ähnlich lautenden Äußerungen "die moderne Rückwendung zu Heget" (JZ, 12 (1957), S. 4). 7

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