Ästhetik und Organisation: Ästhetisierung und Inszenierung von Organisation, Arbeit und Management [1. Aufl. 2019] 978-3-658-21977-2, 978-3-658-21978-9

Die Beiträge des Bandes diskutieren die Ästhetisierung und Inszenierung von Arbeit, Organisation und Management im Konte

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Ästhetik und Organisation: Ästhetisierung und Inszenierung von Organisation, Arbeit und Management [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-21977-2, 978-3-658-21978-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Ästhetik und Organisation – Pfade durch ein sich entwickelndes Forschungsfeld (Ronald Hartz, Werner Nienhüser, Matthias Rätzer)....Pages 1-25
Praxis und Kritik ästhetischer Arbeit (Hannes Krämer)....Pages 27-44
Organisationale Ästhetik versus organisationale Anästhetik – Eine atmosphärentheoretisch fundierte Analyse von Machtkonstellationen in Organisationen (Christian Julmi)....Pages 45-68
Tanz, Organisation und Leadership: Eine kritische und ästhetische Perspektive (Brigitte Biehl)....Pages 69-92
Alltagsästhetik der Arbeit – Was wir zeigen, wenn wir über Arbeit sprechen (Pierre Smolarski)....Pages 93-129
Transparenz als Inszenierungsmittel von Kreativität und Innovation (Julia Deppe)....Pages 131-159
Zur Ästhetisierung der Finanzmärkte – Eine explorative Analyse des Films The Wolf of Wall Street (Ronald Hartz, Simon Kötschau)....Pages 161-188
Ästhetische Arbeit: Erkundungen am Beispiel eines Kinobetriebs (Irma Rybnikova, Markus Kleiszmantatis)....Pages 189-215
Die (Wieder-)Erfindung der Welt: die Rolle ästhetischer Praktiken in pädagogischen Experimenten mit alternativen Räumen des Organisierens (Anke Strauß)....Pages 217-245

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Organisation und Gesellschaft

Ronald Hartz · Werner Nienhüser Matthias Rätzer Hrsg.

Ästhetik und Organisation

Ästhetisierung und Inszenierung von Organisation, Arbeit und Management

Organisation und Gesellschaft Reihe herausgegeben von Günther Ortmann, Institut für betriebliche Logistik und Organisation, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg, Deutschland Thomas Klatetzki, FB 1 Soziologie, Universität Siegen, Siegen, Deutschland Arnold Windeler, Berlin, Deutschland

Wie wünscht man sich Organisationsforschung? Theoretisch reflektiert, weder in Empirie noch in Organisationslehre oder -beratung sich erschöpfend. An avancierte Sozial- und Gesellschaftstheorie anschließend, denn Organisationen sind in der Gesellschaft. Interessiert an Organisation als Phänomen der Moderne und an ihrer Genese im Zuge der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus. Organisationen als Aktionszentren der modernen Gesellschaft ernstnehmend, in denen sich die gesellschaftliche Produktion, Interaktion, Kommunikation – gelinde gesagt – überwiegend abspielt. Mit der erforderlichen Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Organisation und Ökonomie, lebenswichtig nicht nur, aber besonders für Unternehmungen, die seit je als das Paradigma der Organisationstheorie gelten. Gleichwohl Fragen der Wahrnehmung, Interpretation und Kommunikation und also der Sinnkonstitution und solche der Legitimation nicht ausblendend, wie sie in der interpretativen resp. der Organisationskulturforschung und innerhalb des Ethik-Diskurses erörtert werden. Organisation auch als Herrschaftszusammenhang thematisierend – als moderne, von Personen abgelöste Form der Herrschaft über Menschen und über Natur und materielle Ressourcen. Kritisch gegenüber den Verletzungen der Welt, die in der Form der Organisation tatsächlich oder der Möglichkeit nach impliziert sind. Verbindung haltend zu Wirtschafts-, Arbeits- und Industriesoziologie, Technik- und Wirtschaftsgeschichte, Volks- und Betriebswirtschaftslehre und womöglich die Abtrennung dieser Departments voneinander und von der Organisationsforschung revidierend. Realitätsmächtig im Sinne von: empfindlich und aufschlussreich für die gesellschaftliche Realität und mit Neugier und Sinn für das Gewicht von Fragen, gemessen an der sozialen Praxis der Menschen. So wünscht man sich Organisationsforschung. Die Reihe „Organisation und Gesellschaft“ ist für Arbeiten gedacht, die dazu beitragen.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12277

Ronald Hartz · Werner Nienhüser · Matthias Rätzer (Hrsg.)

Ästhetik und Organisation Ästhetisierung und Inszenierung von Organisation, Arbeit und Management

Hrsg. Ronald Hartz University of Leicester Leicester, Großbritannien Matthias Rätzer Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Technische Universität Chemnitz Chemnitz, Deutschland

Werner Nienhüser Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Universität Duisburg-Essen Essen, Deutschland

Organisation und Gesellschaft ISBN 978-3-658-21977-2 ISBN 978-3-658-21978-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort: Organisation, Ästhetik – und Widerstand

„Wissenschaftliche Labore, Fließbänder, Flugzeuge, Gefängnistrakte, Lager und Hospize besitzen ihre eigene Ästhetik. Das gilt für Geldscheine, Krankheiten, Folterinstrumente, Uniformen, Staats- und Wappentiere und Waffen im Krieg gleichermaßen. Darin verkörpert sich jeweils eine bestimmte Macht und bringt ihre eigentümliche Herrschaft und spezifische Gewalt zur Erscheinung: Kein politisches System, keine ökonomische Organisation und epistemische Ordnung, keine häusliche, sexuelle oder bürokratische Institution kann es sich leisten, ästhetisch abstinent zu sein. Um wirksam zu sein und ihre eigentümliche Kraft und Gewalt zu entfalten, sind sie jeweils in konstitutiver Weise auf Fiktionen, auf Repräsentationen, Gründungsmythen, Visualisierungen, Inszenierungen, Phantasmen, Narrative, Symbole, auf Beobachtungs-, Registrierungs- und Identifizierungsmaßnahmen angewiesen. Welche Rolle, so fragen wir, spielen ästhetische Verfahren, Wahrnehmungsweisen und Darstellungsformen für die Konstitution des Politischen im Widerstreit mit der Politik?“

Dieser Text von Iris Därmann, entnommen der Website des Lehrstuhls für Kulturwissenschaftliche Ästhetik und Kulturtheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin (http://www.aesthetik.hu-berlin.de), skizziert Grundzüge des Forschungsprogramms einer kulturwissenschaftlichen Ästhetik. Die Frage, mit der die Passage endet, ließe sich für die Organisationsforschung so übersetzen: „Welche Rolle spielen ästhetische Verfahren, Wahrnehmungsweisen und Darstellungsformen für Organisationen und das Organisieren – und, nota bene, für die Konstitution des Politischen via Organisation?“ Darum dreht sich der vorliegende Band. Ästhetik und Ästhetisierung figurieren darin als Teil der Organisationskultur, als Dimensionen organisationaler Artefakte, Interaktionen und Kommunikationen und gar als Quelle von Kreativität, wie etwa – angeblich – im Design Thinking. In all diesen Hinsichten geben sie Anlass zur Kritik strikt rationalistischer Organisations- und Managementforschung, können aber

V

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Vorwort: Organisation, Ästhetik – und Widerstand

auch selbst zum Gegenstand von Kritik werden – Stichworte: „schöner Schein“, „Affirmation“, „Komplizenschaft mit dem Dargestellten“, „ästhetischer Kapitalismus“. Beide Arten der Kritik werden auch von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes artikuliert. „Konzepte und Methoden der Tanzwissenschaft“, heißt es zum Beispiel bei Brigitte Biehl, „können … neue und auch kritische Perspektiven der Organisationsforschung eröffnen“ – sie können aber auch in den Dienst des schönen Scheins und der Affirmation gestellt werden, wie am Titel eines Weltbestsellers der Managementliteratur abzulesen: „When Giants Learn to Dance“ („The definite guide to corporate success“; Rosabeth Moss Kanter). Theorie, heißt das, kann Konzepte und Methoden der Ästhetik für eine Kritik von Theorie und Praxis fruchtbar machen. Etwas anderes ist es, wenn ästhetische Verfahren, Wahrnehmungsweisen und Darstellungsformen in der Praxis, von Praktikern selbst als Weisen der Kritik, nämlich praktischer Kritik, also des Widerstands genutzt werden. Der Tanz selbst, um es an diesem Beispiel zu erläutern, kann zu einer Form subtilen Widerstands werden, wie Astrid Kusser in ihrem schönen Buch „Körper in Schieflage. Tanz im Strudel des Black Atlantic um 1900“ gezeigt hat, in dem es um Arbeit und Tanzwut im (Post-) Fordismus und um polemische Bewegungen und Einstellungen wider die Idee der Selbstbefreiung durch Arbeit geht, dargestellt am „cakewalk“, einer Tanzform der „black diaspora“, mit der eine Parodie „weißer“ Tanzetikette zur Aufführung gebracht wurde. Die Ästhetik als Dimension von Organisation(en) in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, ist das große Verdienst dieses Bandes. Zu seinen Verdiensten zähle ich, dass er Ästhetik als organisationale Ressource (im Guten und auch im Schlechten) kenntlich macht, aber auf diese Weise auch, über sich hinausweisend, das Widerstandspotenzial des Ästhetischen in Sichtweite rückt und zu erforschen nahelegt. Ich zitiere daher die Fortsetzung der programmatischen Skizze von oben: „‚Wo Macht ist, ist auch Widerstand.‘ Wo es Gewalt gibt, die ‚zwingt, beugt, bricht, zerstört‘, da gibt es Gegengewalt. Nietzsches und Foucaults Einsicht in relationale und machtdiagnostische Dynamiken hat auch und gerade Konsequenzen für Ästhetiken des Widerstands, für Erfahrungen des Leids, des Verloren-, Bedeutungslos-, Unsichtbar-, Zurückgelassen-, Abgekoppeltseins einerseits und für die erstaunlichen Möglichkeiten andererseits, die sich in Situationen von Passivität und Ohnmacht für neue Sensibilitäten und Resonanzräume, für Umwertungen, Transformationen, fintenreiche Neucodierungen und Stile, listige Enteignungs-, Konsum- und Gebrauchsweisen, subversive Praktiken, Irritationen, Ordnungsstörungen, Lebensformen und revolutionäre Bewegungen nicht zuletzt im ästhetischen Sinne ergeben.

Vorwort: Organisation, Ästhetik – und Widerstand

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Doch Befehlsmacht und Verweigerung, Gewalt und Widerstand, Fremd- und Selbstbestimmung sind vielfach keine Handlungs- und Leidenssphären, die sich wie Weiß und Schwarz, Land und Meer gegenüberstehen und klar und deutlich voneinander unterschieden wären. Sie entfalten ihre signifikanten Kräfte und Wirkungen vielmehr in vertrackten Beziehungsnetzen, nicht selten in extremer Nähe und in polymorphen Machtrelationen. Unsere kulturhistorische und kulturtheoretische Aufmerksamkeit gilt daher vor allem den Ästhetiken der Grauzonen und Ambiguitäten.“

Wäre das nicht, mutatis mutandis, ein Programm für die weitere Arbeit – ja, einer kulturwissenschaftlich inspirierten kritischen Organisationsforschung? „Resistance Redux“1? Günther Ortmann

1So

der Titel der äußerst umsichtigen Einführung in das einschlägige Special Issue der Organization Studies 38 (9) 2017, 1157–1183, von D. K. Mumby et al.

Inhaltsverzeichnis

Ästhetik und Organisation – Pfade durch ein sich entwickelndes Forschungsfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ronald Hartz, Werner Nienhüser und Matthias Rätzer Praxis und Kritik ästhetischer Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Hannes Krämer Organisationale Ästhetik versus organisationale Anästhetik – Eine atmosphärentheoretisch fundierte Analyse von Machtkonstellationen in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Christian Julmi Tanz, Organisation und Leadership: Eine kritische und ästhetische Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Brigitte Biehl Alltagsästhetik der Arbeit – Was wir zeigen, wenn wir über Arbeit sprechen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Pierre Smolarski Transparenz als Inszenierungsmittel von Kreativität und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Julia Deppe Zur Ästhetisierung der Finanzmärkte – Eine explorative Analyse des Films The Wolf of Wall Street. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Ronald Hartz und Simon Kötschau

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Inhaltsverzeichnis

Ästhetische Arbeit: Erkundungen am Beispiel eines Kinobetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Irma Rybnikova und Markus Kleiszmantatis Die (Wieder-)Erfindung der Welt: die Rolle ästhetischer Praktiken in pädagogischen Experimenten mit alternativen Räumen des Organisierens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Anke Strauß

Ästhetik und Organisation – Pfade durch ein sich entwickelndes Forschungsfeld Ronald Hartz, Werner Nienhüser und Matthias Rätzer 1 Einleitung There’s a starman waiting in the sky He’d like to come and meet us But he thinks he’d blow our minds David Bowie: Starman, 1972

Am 6. Februar 2018 startete die „Falcon Heavy“ des privaten Raumfahrtunternehmens SpaceX erfolgreich ins All. Im Laderaum der Rakete befand sich das rote Elektro-Cabriolet des Unternehmensgründers Elon Musk. Das Cabriolet fliegt seitdem auf einer Umlaufbahn um die Sonne und passiert dabei den Mars, dessen Besiedlung Musks erklärtes Fernziel ist. Am Steuer sitzt der „Starman“, eine Puppe in einem Weltraumanzug. Sollten die Batterien noch funktionsfähig sein, ‚hört‘ dieser „Starman“ während seiner Reise durch das All auf seinen Kopfhörern „Space Oddity“ und „Life on Mars?“ von David Bowie – in Endlosschleife. Nach dem Start veröffentlichte SpaceX Bilder von „Starman“, welcher am Steuer des Cabriolets an der Erde vorbeischwebt. Ein ‚Marketing-Gag‘? Die

R. Hartz (*)  University of Leicester, Leicester, Großbritannien E-Mail: [email protected] W. Nienhüser  Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Rätzer  Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_1

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R. Hartz et al.

mehr oder weniger verrückte, öffentlichkeitswirksame Aktion eines vermeintlichen Egozentrikers? Ein Cabriolet auf seinem Weg zum Mars lässt sich aus Perspektive dieses Bandes als ein Symptom der konsequenten Ästhetisierung und Inszenierung von Ökonomie, Organisation und Management begreifen – ein Ensemble von Phänomenen, das man mit Begriffen wie „ästhetischer Kapitalismus“ (Böhme 2016) oder „surrealer Kapitalismus“ (Metz und Seeßlen 2018) bezeichnen kann. So konstatiert Gernot Böhme (2016, S. 14): „Die Aufmachung, die Explikation, das Sich-Zeigen von Dingen wird immer bedeutungsvoller, […] wir befinden uns in einem theatralischen Zeitalter, einem neuen Barock.“ Ästhetisierung und Inszenierung von Ökonomie und Organisation bildeten den Ausgangspunkt des im Oktober 2017 an der Universität Duisburg-Essen durchgeführten fünften Workshops des Forums „Kritische Organisationsforschung“, aus welchem heraus auch ein Teil der hier veröffentlichten Beiträge entstand. Die Aktion von SpaceX war hier noch nicht Thema, an ähnlichen, mitunter profaneren Ereignissen und Phänomenen herrschte jedoch auch zuvor kein Mangel: Im März 2002 wurde in Dresden die Gläserne Manufaktur von Volkswagen eröffnet, konzipiert für den Bau des VW Phaeton. Phaeton – Sohn des Sonnengottes in der griechischen Mythologie. Das Fließband läuft über Parkett, die MonteurInnen tragen weiße Overalls und Handschuhe. Hinter Glas konnte der/die interessierte ZuschauerIn die Endmontage beobachten (Böhme 2016, S. 105–108). Kein Schmutz, nirgends. Im Dezember 2004 wurde im brandenburgischen Halbe, rund 60 km südlich von Berlin, in einer vormals durch Cargolifter erbauten Zeppelinhalle das Erlebnisbad „Tropical Island“ eröffnet. Hier erwartet die/den BesucherIn „Kurzurlaub auf einer tropischen Insel“, „Schwimmen, Baden und Tauchen in der Südsee oder der Lagune“, der „größte Indoor-Regenwald“ und „Deutschlands höchster Wasserrutschen-Turm“ (www.tropical-islands.de). Eine Shopping-Mall nahe Leipzig trägt den Namen ‚Nova Eventis‘. Einkaufszentren werden inszeniert als ‚Passagen‘ oder ‚Arkaden‘, in Referenz an den Mythos Arkadiens, jenem von der Mühsal der Arbeit und gesellschaftlichen Zwängen befreiten Ort. In Urban Entertainment Centern wie dem Sony-Center am Potsdamer Platz in Berlin, verschränken sich Konsum und Unterhaltung und verwandeln urbane Räume in privat kontrollierte Zentren des Konsums (Roost 1998). Unternehmen wie IKEA oder Bang & Olufsen streben nach „ästhetischer Kohärenz“, in denen Produkte und deren Qualität und Wahrnehmung mit der Unternehmensgeschichte, dem Vertrieb, dem Auftreten der Beschäftigten etc. eine ästhetische Einheit bilden (Biehl-Missal 2011a, S. 54; Strati 1992, 1999). Generalversammlungen und Meetings erweisen sich als Events mit präziser Choreografie (Biehl-Missal 2011b). Die Beschäftigten und ihr Erscheinungsbild werden dabei zum integralen

Ästhetik und Organisation – Pfade durch ein sich entwickelndes …

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Bestandteil der Inszenierung. So zitieren Witz et al. (2003, S. 38 f.) in einem Beitrag über „ästhetische Arbeit“ eine weibliche Angestellte eines angesagten Einzelhandelsgeschäftes: „If I was to have my hair done or anything … if you’re going to cut your hair in any way, well drastically or highlights, you’ve got to discuss it with the manager first.“ Obwohl die Auseinandersetzung mit Ästhetik und der Ästhetisierung, Inszenierung und auch Theatralisierung von Produktion, Konsum, Freizeit, Arbeit und Organisation kein neues Phänomen im sozialwissenschaftlichen Diskurs ist, hat die Diskussion in den letzten Jahrzehnten und Jahren erheblich an Dynamik gewonnen.1 Der Begriffs des Ästhetischen ist über die Sphäre der Kunst hinaus ausgeweitet worden und rückt ästhetische Praktiken im Sinne der Hervorbringung spezifischer sinnlicher Wahrnehmungen ins Zentrum der Analyse (Reckwitz 2015, S. 21 f.). Für Böhme (2016, S. 26, Herv. i. O.) bezeichnet „ästhetische Arbeit“ die „Gesamtheit jener Tätigkeiten …, die darauf abzielen, Dingen und Menschen, Städten und Landschaften ein Aussehen zu geben, ihnen eine Ausstrahlung zu verleihen, sie mit einer Atmosphäre zu versehen oder in Ensembles eine Atmosphäre zu erzeugen.“ In den Diagnosen einer Kulturalisierung der Ökonomie, des Aufstiegs kreativer, immaterieller und ästhetischer Arbeit, der ästhetischen Inszenierung von Personen, Ereignissen, Dingen und Organisationen wird somit der Stellenwert ästhetischer Praktiken und Prozesse für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft neu verhandelt (Reckwitz 2013, 2015). Folgt man der historischen Rekonstruktion von Reckwitz und weiteren AutorInnen, lässt sich im Sinne einer Genealogie der Moderne von einer Sequenz von drei Ästhetisierungsformen und Ästhetisierungsschüben sprechen, welche eine Veränderung ästhetischer Praktiken und somit der Art und Weise der Hervorbringung ästhetischer Wahrnehmungen mit sich bringen. So zeigen sich im 19. Jahrhundert die Bemühungen um eine Etablierung einer genuinen Sphäre des Ästhetischen in der bürgerlichen Lebenswelt, welche, fokussiert auf das Feld der Kunst, sich auch als Gegenpol zur Versachlichung und Rationalisierung der Industriegesellschaft verstand. Während man hier Ästhetik und ästhetische Erfahrung als exklusive bürgerliche Sphäre abzugrenzen versuchte, lässt sich im 20. Jahrhundert eine Veralltäglichung des Ästhetischen und der ästhetischen Rezeption im Kontext des Fordismus und des sich entwickelnden Massenkonsums festhalten. Die Schallplatte, das Radio, das Kino und später das Fernsehen stehen als audiovisuelle Medien für eine inklusive ästhetische

1Für wichtige frühe Referenzen vgl. Böhme (2016) sowie die in Reckwitz et al. (2015) versammelten Texte.

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R. Hartz et al.

­ ezeption, verschränkt mit der massenhaften Ästhetisierung von Subjekten – der R Filmstar steht hierfür stellvertretend. Ab den 1970er Jahren erfolgte im Kontext der Postmoderne, des Postfordismus und einem sich beschleunigenden Prozess der Medialisierung und Digitalisierung eine generelle Kulturalisierung der Ökonomie, eine weitere Bedeutungszunahme kultureller, immaterieller und ästhetischer Produktion – prominent in den Creative Industries, aber inzwischen weit darüber hinaus – und damit korrespondierenden Formen des Konsums und der Inszenierung von Lebenswelten. Dabei scheint zu gelten, dass „formale Rationalisierung, insbesondere die Vermarktlichung, unter spätmodernen Bedingungen vollends auf Ästhetisierungsprozesse angewiesen [ist], um die Subjekte zur Teilnahme zu motivieren und sich zu legitimieren“ (Reckwitz 2015, S. 41). Gernot Böhme (2016) spricht dann auch vom „ästhetischen Kapitalismus“ als einer neuen Phase des Kapitalismus, insofern die „Ästhetisierung einen bedeutenden Faktor in der Ökonomie fortgeschrittener kapitalistischer Volkswirtschaften darstellt“ (Reckwitz 2015, S. 26). Sind die wesentlichen Bedürfnisse befriedigbar bzw. grundsätzlich stillbar, lässt sich weiteres (ökonomisches) Wachstum nur durch eine ‚Steigerung des Lebens‘ – eine Steigerung der ‚Ausstattung‘ des Lebens mit Konsumprodukten, einer Steigerung der Sichtbarkeit, des Glanzes oder der Mobilität erzielen. Böhme spricht hierbei von Begehrnissen, welche im Konsum nicht zu befriedigen sind, sondern durch diesen sogar weiter angereizt werden – nun begehrt man (noch) mehr Mobilität, mehr Glanz, mehr Sichtbarkeit, mehr ‚Steigerung des Lebens‘. Neben der klassischen Marx’schen Dichotomie von Gebrauchswert und Tauschwert gewinnt der Inszenierungswert eine eigenständige ökonomische Bedeutung. Der Inszenierungswert ist für Böhme ein eigenständiger Wert, weil dieser sowohl im Tausch- als auch im Gebrauchszusammenhang eine Rolle spielt. Waren werden einerseits in Szene gesetzt, um den Tauschwert zu erhöhen und dienen andererseits im Gebrauch der Inszenierung und Ausstaffierung des eigenen Lebens (Böhme 2016, S. 27). Böhmes These eines „ästhetischen Kapitalismus“ zufolge ist die Konsumsphäre derjenige gesellschaftliche Ort, an dem die Inszenierung und Ästhetisierung des Ökonomischen seinen deutlichsten Ausdruck findet. Wenn wir im Folgenden das im Kontext der Organisationsforschung entstandene und sich weiter entwickelnde Feld der organisationalen Ästhetik näher betrachten, einigen Pfaden folgen und vielleicht sogar selbst neue Pfade anlegen, ist zunächst festzuhalten, dass in den dort entwickelten Perspektiven die tradierte Organisationsforschung und Organisationen als solche den Ausgangspunkt bilden. Am Anfang stand hier nicht die gesellschaftliche Diagnose, sondern der Stand der Untersuchung von Organisationen, welche durch eine weitgehende Ausblendung ästhetischer Phänomene gekennzeichnet war. Im Feld der organisationalen Ästhetikforschung w ­ erden

Ästhetik und Organisation – Pfade durch ein sich entwickelndes …

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ästhetische Praktiken und Prozesse hingegen nun als wichtiges und zum Teil auch grundlegendes Phänomen von Organisationen thematisiert. Dass und warum Ästhetisierung sich historisch in Form und Intensität verändert hat, wird von der Organisationsforschung bisher allerdings kaum behandelt. Die deutliche Fokussierung der meisten Beiträge unseres Bandes auf die Sphäre von Organisation und Arbeit erlaubt einerseits einen präzisen Blick auf das Verhältnis von Ästhetik und Organisation. Der Preis für diese (Selbst-)Beschränkung liegt andererseits in der nur indirekten Behandlung, zum Teil Ausblendung des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft. Diese Fokussierung wirft Fragen für die (kritische) Relevanz der Management- und Organisationsforschung auf. Darauf wird am Ende dieses Kapitels zurückzukommen sein.

2 Die ästhetische Perspektive in der Organisationsforschung „Working in that organization is ugly. Buildings are ugly, people are ugly, everything’s ugly, and we grow more and more ugly as the days pass.“ (Interviewauszug, zitiert in Strati 1999, S. 104)

Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ästhetik und Organisation und die Etablierung einer ästhetischen Perspektive auf Organisation, Arbeit und Management reichen zurück in die 1980er und 1990er Jahre.2 Ausgangspunkt dieser ästhetischen Perspektive ist ein Interesse an der sinnlichen Erfahrung von Arbeit und Organisation und einem damit hervorgerufenen und verbundenen Wissen und Handeln in Organisationen, welches als grundlegend für die alltägliche Aufrechterhaltung und Prozessierung von Organisationen angesehen wird. Pasquale Gagliardi schildert diese Hinwendung zur sinnlichen Erfahrung vor dem Hintergrund eigener Feldforschung. So beschreibt ein Arbeiter, welcher an einer alten Drehmaschine tätig war, seine Arbeit und sein Unternehmen wie folgt: „For me, this company is that damned gate I come through every morning, running if I’m late, my grey locker in the changing-room, this acrid smell of iron filings and grease – can’t you smell it yourself? – the smooth surface of the pieces I’ve milled –

2Um

Missverständnisse zu vermeiden: Mit ästhetischer Perspektive ist hier das gesamte Feld der Forschung zum Zusammenhang von Ästhetik und Organisation gemeint. Die jeweilige Forschung ist dabei nicht notwendig in ihrer Perspektive ästhetisch. Dies ist eher die Ausnahme, wie auch die weiter unten diskutierten Unterscheidungen deutlich machen.

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R. Hartz et al. I instinctively rub my fingers over them before putting them aside – and … yes! That bit of glass up there, in front, where sometimes – there you are – I spot a passing cloud“ (Gagliardi 1996, S. 565).

Was hier sichtbar wird, ist die sinnliche Erfahrung von Arbeit und Organisation – die Gerüche und Farben, die taktilen Empfindungen, der Blick, welcher sich durch das Fenster nach draußen richtet, aber auch die Empfindung des Zeitdrucks und des Abscheus während des morgendlichen Gangs durch das Fabriktor. In dieser Hinsicht eröffnet sich für die ästhetische Perspektive zunächst ein an Phänomenen reiches Feld der Erfahrung in und von Organisationen. Ein Feld zudem, das in der bisherigen Geschichte der Organisationsforschung ein eher kümmerliches Dasein führte. Für die VertreterInnen einer ästhetischen Perspektive geht es somit nun darum, die ästhetische Dimension vordergründig bekannter organisationaler Phänomene zu erschließen, bisher vernachlässigte ästhetische Erfahrungen in Organisationen sichtbar zu machen und somit eine neue Sicht auf Organisationen und den Prozess des Organisierens zu etablieren. Dabei soll zugleich auf die Beschränktheit und die Defizite der bisherigen theoretischen Perspektiven auf Organisation und Management hingewiesen werden. Deren dominante Ausrichtung an den Problemen der Effizienz und Effektivität, so die ProtagonistInnen einer ästhetischen Perspektive, verstelle den Blick auf ästhetische und sinnliche Erfahrung oder betrachte diesen als nicht-relevant (vgl. u. a. Gagliardi 1996; Strati 1999, 2000; Taylor und Hansen 2005).3 Die Ausblendung der ästhetischen Perspektive in der Organisationsforschung hat historisch tiefreichende Wurzeln, welche für Taylor und Hansen und andere AutorInnen bis in das Zeitalter der Aufklärung und der dortigen Forcierung der Auftrennung der Welt in eine instrumentelle, moralische und ästhetische Sphäre zurückreichen (Gagliardi 1996; Taylor und Hansen 2005). Die Emanzipation der Wissenschaften von religiösen, moralischen und ästhetischen Fragen und die damit verbundenen Erkenntnisfortschritte wurden in dieser Hinsicht auch in der sich im 20. Jahrhundert etablierenden Organisationsforschung mit dem Preis bezahlt, ästhetische Fragen systematisch zu negieren oder als irrelevant zu ignorieren. Organisations- und Managementforschung reproduzieren damit jene die Moderne kennzeichnenden Bifurkationen, welche zugleich Hierarchien hinsichtlich der Formen des Wissens und Handelns etablieren: So s­cheiden sich

3Dies

entspricht auch dem generellen Befund von Eßbach und Reckwitz für die Soziologie, welche für den klassischen soziologischen Diskurs eine weitgehend ‚antiästhetische‘ Haltung diagnostizieren (Reckwitz 2015; Eßbach 2001).

Ästhetik und Organisation – Pfade durch ein sich entwickelndes …

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Wissenschaft und Kunst, wissenschaftliches (objektives) Wissen und intuitives (subjektives) Wissen, Arbeit und Muße, Nützlichkeit und Schönheit, Instrumentalität und Expressivität, Aktivität und Kontemplation (Gagliardi 1996, S. 567). So spricht dann auch Strati (1999, S. 3) von der „deliberate and collective blindness of organizational scholars“ im Hinblick auf Ästhetik und Organisation. Organisation erscheint als rationales Gebilde, bevölkert von körperlosen Wesen und befreit von jenen „earthly features of physicality and corporeality“ (Strati 1999, S. 4). Dies, so Strati, widerspricht jedweder alltäglichen Erfahrung von Arbeit und Organisation. Auch Gagliardi (1996) thematisiert und kritisiert eine klassische Sicht auf Organisationen, welche diese als utilitaristische Form sozialer Gebilde thematisiert und damit den Fokus auf Entscheidungsprozesse, Zielvorstellungen, kollektive Aufgabenbewältigung etc. lenkt, ohne auf sinnliche Erfahrung und ästhetische Phänomene einzugehen. Was zeichnet nun erstens ästhetische Erfahrung und zweitens eine ästhetische Perspektive auf Organisationen näher aus? Für Gagliardi (1996, S. 566) besteht ästhetische Erfahrung aus drei Komponenten. 1. Ästehtische Erfahrung ist eine Form des Wissens, im Sinne eines Resultats dieser Art von Erfahrung. Es ist ein sinnliches Wissen, welches sich von einem intellektuellen oder kognitiven Wissen unterscheidet. Dieses Wissen ist oftmals unbewusst, verborgen und nicht oder nur schwer in Worte zu fassen. 2. Damit verschränkt ist eine Form des Handelns, welche als expressiv, als eher an Impulsen und Gefühlen als an Interessen und Zwecken ausgerichtetes Handeln bestimmt werden kann. 3. Schließlich kennzeichnet ästhetische Erfahrung auch eine bestimmte Form nicht-sprachlicher Kommunikation, in welcher das sinnliche Handeln selbst zum Gegenstand sinnlichen Wissens wird und dieses geteilt und weitergegeben werden kann. Eine ästhetische Perspektive umfasst den Blick auf die genannten Phänomene und ist nach Strati (2000) durch folgende Aspekte gekennzeichnet: 1. Eine ästhetische Perspektive richtet den Blick auf organisationale Dynamiken, welche mit einem tacit knowledge, einem sinnlichen Wissen verknüpft sind und sich (oftmals a posteriori) gegebenen kausalen Begründungen entziehen. 2. Eine ästhetische Perspektive (er)fordert die Aufmerksamkeit des/der Forschenden für Sinneserfahrungen (sehen, hören, riechen, berühren, schmecken). Diese Aktivierung der Sinne ist Teil eines empathischen Verständnisses von Organisationen (Strati 1999, S. 67).

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3. Eine ästhetische Perspektive kritisiert schließlich die aus ihrer Sicht heuristischen Mängel einer an kausalen Erklärungen ansetzenden Organisationsforschung und die damit verbundenen Rationalitätsmythen, Objektivitäts- und Universalitätsansprüche. Zu einem späteren Zeitpunkt spricht Strati (2010) davon, dass die ästhetische Perspektive auf Arbeit und Organisation die Materialität der alltäglichen Routinen in Organisationen hervorhebt. Materialität wird hierbei hervorgebracht bzw. besteht aus organisationalen Artefakten, welche mit einer ästhetischen Qualität bzw. mit ästhetischen Kategorien versehen werden, wie es auch in der eingangs zitierten Aussage des Drehmaschinenarbeiters über die Hässlichkeit der Organisation deutlich wird. Materialität meint aber auch die Körperlichkeit und die körperbezogene Erfahrung in Organisationen, jenseits mentaler oder kognitiver Kategorien. Diese sinnliche Erfahrung, das sinnliche Wissen, Körperlichkeit und organisationales Handeln erhellen sich auch in dem folgenden Beispiel (Strati 1999, S. 88–89, 2010, S. 881): „Through the window I could see three workmen stripping the roofing tiles from a small building. […] I was struck by the fact that as the three workmen dismantled the roof, they were in a literal sense removing the ground from beneath their feet. I was also struck by the speed at which they worked, as if they had been overcome by a destructive frenzy. […] What I still could not understand, though, was why they never slipped nor even put a foot wrong. Above all, I was astonished by their recklessness in not moving more carefully or working more slowly: there was the steep slope of the roof; there was the physical effort required to rip free the old roofing materials; there was the dexterity required to ensure that the material thrown away landed in the yard below, and not on a workmate or on the roof itself.“

Kann die ästhetische oder sinnliche Erfahrung als ein zentraler Bezugspunkt der Debatte um Ästhetik und Organisation und damit auch der ästhetischen Perspektive auf Organisation gelten, ist drittens schließlich nach dem Zugang zur ästhetischen Erfahrung zu fragen bzw. nach den methodologischen Konsequenzen der hier skizzierten Perspektive. Aus dem bisher Dargestellten wird deutlich, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ästhetischen Beschaffenheit von Organisation und Arbeit hier zunächst nur gewinnbringend erscheint, wenn diese einen Zugang zur sinnlichen Erfahrung, zu den oftmals unbewussten und sprachlich schwer artikulierbaren ästhetischen Empfindungen, expressiven Handlungen und damit verbundenen Wissensformen gewinnt. Diesen Pfad betritt Strati (1999, S. 49–74) und schlägt mit Rekurs auf Max Weber hierfür den Modus eines empathischen Verstehens von Organisationen vor. Neben einer grundsätzlichen Einfühlungsbereitschaft und Aktivierung der eigenen Sinne zählen Selbstbeobachtung, Intuition oder der imaginative

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­ achvollzug sinnlicher Erfahrungen zu den wissensgenerierenden Methoden, welche N sich, so Strati, auch in einer offenen, reflexiven Form des Schreibens äußern sollte. Eine ästhetische Perspektive auf Organisationen kann sich dabei auf eine Vielzahl von Referenzen berufen, welche einerseits philosophischen und andererseits sozial- und kulturwissenschaftlichen Ursprungs sind. In philosophischer Hinsicht finden sich insbesondere Bezüge zur Ästhetik von Baumgarten und Vico (vgl. etwa Strati 2000; Taylor und Hansen 2005), als auch in Teilen zur Ästhetik Kants, wie sie in der Kritik der Urteilskraft formuliert ist (vgl. etwa Guillett de Monthoux 2000). Auf Baumgarten und Vico ist ein breites, nicht rein kunstbezogenes Ästhetikverständnis zurückführen. Dieses adressiert Ästhetik als eine spezifische Form des Wissens, die sich vom rationalen Wissen und kognitiver Erkenntnis – hier historisch in Abgrenzung zum Descartschen cogito ergo sum – unterscheidet und zugleich eine eigene, im rationalistischen Diskurs unterschlagene Perspektive auf die Welt bereitstellt. Sowohl Baumgarten als auch Vico geht es hierbei um eine Rehabilitation der Ästhetik als einer ars analogi rationis, einer Kunst des vernunftähnlichen Denkens, um deutlich zu machen, dass diese Art des Denkens auf derselben Stufe zu sehen ist wie eine rationale Weise des Denkens und der Erkenntnisgewinnung. Baumgarten spricht von „sinnlichem Wissen“, Vico von einer Art „poetischer Weisheit“. Ebers (1985) reformuliert dies als „poetic mode“ der Untersuchung von Organisationen. Strati (2010, S. 883) führt weiter einen „chorus of ‚inner voices‘“ an, welcher Inspiration für die ästhetische Perspektive liefert – so finden sich Bezugnahmen zur Soziologie Simmels, zur Phänomenologie, der Emotionenforschung oder zu feministischen Theoriezusammenhängen, welche auf unterschiedlichen Pfaden Fragen der Körperlichkeit und des sinnlichen Wissens adressieren. Diese sehr heterogenen philosophischen und theoretischen Bezüge spiegeln die Diversität des gesamten aktuellen und sich entwickelnden Feldes wider. Damit ist zugleich zu bedenken, dass der hier vorgenommene Aufriss einer ästhetischen Perspektive auf Organisationen und die von Strati angeführten Aspekte nur selten vollumfänglich in der Forschung zum Tragen kommen. Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Ästhetik und Organisation ist breit angelegt und umfasst unterschiedliche Herangehensweisen, welche im Folgenden näher skizziert werden.

3 Ästhetik und Organisation – Forschungsfelder Eine erste instruktive Einteilung in vier Forschungsfelder schlagen Strati und KollegInnen vor (Strati 1999, S. 188–190, 2009, 2010; Strati und Guillett de Monthoux 2002). Ausgangspunkt sind hierbei zu beobachtende unterschiedliche

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Forschungsstile in Bezug auf den Gegenstand Ästhetik als auch verschiedene Schwerpunkte hinsichtlich der interessierenden Phänomene. So findet sich ein erster Forschungsstil, welcher sich für Ästhetik als Teil der Organisationskultur interessiert und hierbei ästhetische Phänomene als Merkmale von Organisationskulturen in den Blick nimmt. Mit Strati lässt sich dies als archäologischer Ansatz beschreiben, bei welchem man im Gestus des/der HistorikerIn nach Gestalt und Wandel organisationaler Artefakte, verstanden als ästhetische Phänomene, fragt, welche Schlüssel zum Verständnis von Organisationskultur, zu Identität und Image von Organisationen bereitstellen. Die zweite Perspektive wird von Strati als empathisch-logischer Ansatz bezeichnet, welcher mit der archäologischen Perspektive das Interesse an organisationalen Artefakten teilt, jedoch primär auf die emotionale Wirkung und den prä-kognitiven Einfluss organisationaler Artefakte abstellt. Dies bedingt, dass man sich den Phänomenen weniger mit dem Blick des/der interessierten HistorikerIn nähert, sondern vielmehr empathisch in die Organisation und deren ästhetische Manifestationen ‚eintaucht‘ (Strati 2010, S. 885). Nicht das ‚interesselose Wohlgefallen‘ Kants, sondern empathisches „as if we are there to stay“ (Gagliardi 1996, S. 577) sei hier gefordert. Das Pathos organisationaler Artefakte und Manifestationen lässt sich dabei in kritischer Analyse als weitere Form organisationaler Kontrolle begreifen, welches über die Manipulation und Beeinflussung sinnlicher Erfahrung Wirkung entfaltet (Gagliardi 1990a, 1996, S. 575). An diesen empathischen Zugang schließen sich Interpretation und auch Kommunikation der Ergebnisse an, welche nicht selbst in ästhetischen Kategorien gefasst oder gedacht werden, sodass hier die ‚logische‘ Seite dieses Stiles zum Tragen kommt. Beide Forschungsstile überschneiden sich in ihrem Gegenstand, welchen man, Gagliardi folgend, als Untersuchung der „corporate landscape“ (Gagliardi 1996) bezeichnen kann. „Corporate landscape“ meint hier die Materialisierung organisationaler Weltsichten, welche die ästhetische Perspektive für ein ästhetisches Verständnis von Organisationskultur (und darüber hinaus) entschlüsseln kann, denn jede Organisationskultur und deren Manifestationen „educates the sense of taste, of smell, of touch, of hearing as well as of sight“ (Gagliardi 1996, S. 573). Dieser Metaphorik folgend, wird ein Land zu einer Landschaft durch einen Prozess der Ästhetisierung, welcher sich entweder direkt, in situ, in ihren Manifestationen anzeigt (Gebäuden, Büros, Fabrikräume, Kleidung, Gesten etc.) oder sich, in visu, als Lenkung und Training von Wahrnehmung, als bestimmter Blick auf die Organisation und deren Realität äußert (Gagliardi 1996, S. 572). Hier zeigt sich auch die Nähe zum organisationalen Symbolismus, insofern Symbolisierungen und sinnliche Erfahrung als eng zusammenhängend gedacht werden. Symbole und Artefakte der „corporate landscape“ können dann Stühle

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(Strati 2016), Vorgesetzten- und SekretärInnen-Büros (Strati 1992) oder auch Organisationslieder (Nissley et al. 2003) sein. Die Beiträge im Band von Gagliardi (1990b) zeigen die Diversität der Phänomene, welche aus einer Ästhetik-Perspektive in den Blick genommen werden können. Zu nennen sind hier etwa die Studie von Berg und Kreiner (1990) zur Unternehmensarchitektur, welche von einer zunehmenden symbolisch-ästhetischen Bedeutung von Architektur als kommunikatives Mittel von Organisationen ausgehen sowie der Beitrag von Hatch (1990) zur symbolischen Wirkung von offenen oder geschlossenen Bürodesigns und deren Zusammenhang mit Arbeitszufriedenheit oder Kommunikationsprozessen. Mit Blick auf die Architektur von Organisationen und Unternehmen und deren symbolischer und ästhetischer Qualität sind hier schließlich auch die Studie von Yanow (1998) zur Museumsarchitektur sowie die Beiträge von Rosen et al. (1990), Burrell und Dale (2003; Dale und Burrell 2003) sowie Kersten und Gillardi (2003) anzuführen. Je nach Forschungsstil stehen einem bei der Untersuchung dieser und anderer ästhetischer Phänomene und sinnlicher Erfahrung der archäologische oder der empathisch-logische Weg offen, welche in jeweils unterschiedlicher Ausprägung zum Tragen kommen. Strati unterscheidet hiervon schließlich den ästhetischen Ansatz als dritte Forschungsperspektive. Dieser liegt auch seinen eigenen Arbeiten zugrunde (Strati 1992, 1999). Er lenkt den Blick weg von den Artefakten und Manifestationen von Organisationen und richtet diesen vielmehr auf die kollektiv vollzogenen, alltäglichen Routinen und Aushandlungsprozesse in Organisationen in ihren sinnlichen und ästhetischen Dimensionen. Dieser Ansatz ist aus ästhetischer Sicht insofern konsequent, da er nicht nur ein empathisches Herangehen an ästhetische Phänomene einfordert, sondern die Person des Forschenden auch selbst-­reflexiv den Prozess der Wissensgenerierung – so im Abgleich mit selbstgemachten Erfahrungen – gestaltet und dessen Ergebnisse in Form einer Beschreibung dieses Erkenntnisprozesses als ‚open text‘ anlegt (vgl. auch Zanutto 2008). Über diese drei Perspektiven hinweg zeigt sich ein zunehmender Grad (und eine zunehmende Einforderung) der Reflexion des eigenen (Re-) Konstruktionsprozesses ästhetischer Phänomene in Organisationen als auch – damit einhergehend – eine gewisse Verabschiedung der in der empirischen Sozialforschung klassischen Fragen nach Validität und Reliabilität. Vertreter einer Ästhetik-Perspektive präferieren eine empathische Haltung, ein ‚Eintauchen‘ in den Erkenntnisgegenstand; sie verstehen auch das wissenschaftliche Schreiben als ästhetischen Vorgang. Damit kritisieren sie den wissenschaftlichen Mainstream der Organisationsforschung und arbeiten sich auch an der Trennung von Kunst und Wissenschaft ab bzw. versuchen sich an gezielten Grenzüberschreitungen.

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Sind alle drei bisher genannten Perspektiven in ihrem Entstehen Ende der 1980er und während der 1990er Jahre zu verorten, betritt zu Beginn der 2000er Jahre mit dem künstlerischen Ansatz eine neue Perspektive das Feld von Ästhetik und Organisation (Guillet de Monthoux 2000, 2004). Diese fokussiert auf die künstlerische Erfahrung und Prozesse der Kreativität und des Spielerischen in Organisationen und ist dabei überwiegend auf die Effizienz managerialer oder organisationaler Prozesse gerichtet. Dies geht insbesondere einher mit dem zunehmenden Einsatz kunstbasierter Methoden in Organisationen. Taylor und Ladkin (2009) unterteilen die Anwendung kunstbasierter Methoden für die Entwicklung von Management und Führung dabei in vier Bereiche. Im Bereich des Transfers von Fähigkeiten geht es um die Implementierung künstlerischer Fähigkeiten, so sollen etwa AssistenzärztInnen durch Theaterspielen ihre Empathiefähigkeit verbessern. Projektionstechniken sollen helfen, insbesondere solche Gefühle und Gedanke besser ausdrücken zu können, die in konventionellen organisationalen Settings nur schwer artikulierbar sind. Hierunter fallen etwa LEGO-Workshops, in denen organisationale Strategien visualisiert werden. Durch die Visualisierung essenzieller managerialer und organisationaler Zusammenhänge, etwa durch filmische Mittel, versucht man den ‚Kern‘ von Prozessen, Situationen etc. herauszuarbeiten. Schließlich soll das Herstellen, etwa von Masken, Collagen oder Skulpturen, zu einer tieferen Erfahrung von personeller Präsenz und Zusammenhang führen – ein Mittel gegen die Fragmentierung des eigenen Selbst. Gegen diesen künstlerischen Zugang lässt sich einwenden, dass dieser weit entfernt ist von der ursprünglich recht radikal formulierten ästhetischen Perspektive auf Organisationen. Durch den starken Kunstbezug drohen zum einen organisationstheoretische Fragen in den Hintergrund zu treten; zum anderen öffnen sich neue Möglichkeiten einer instrumentellen, an der Kapitalverwertung ausgerichteten (Ver-)Nutzung ästhetischer Perspektiven. Eine weitere, alternative Möglichkeit der Strukturierung des Feldes wird von Taylor und Hansen (2005) vorgeschlagen.4 Diese basiert auf der Unterscheidung von Methode und Inhalt und ermöglicht so die Konstruktion einer Vierfeldermatrix, wobei die jeweiligen Achsen eher als Kontinuum denn als Distinktionen zu verstehen sind. Aufseiten der Methode unterscheiden die Autoren einen intellektuellen von einem künstlerischen oder artistischen Zugang zum Feld organisationaler Ästhetik. Der intellektuelle Zugang folgt dem klassischen sozialwissenschaftlichen Instrumentarium des Forschens, Schreibens und Präsentierens.

4Vgl.

hierzu auch den Beitrag von Brigitte Biehl in diesem Band, welche das Schema von Taylor und Hansen auf die Perspektive des Tanzes bzw. der Tanzforschung überträgt.

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Es geht dabei im weitesten Sinne um diskursive oder sprachbasierte Formen der Wissensgenerierung und -vermittlung, so etwa durch Interviewtechniken oder Feldtagebücher und die finale Publikation in Zeitschriften oder Büchern. Der ästhetische Zugang basiert hingegen auf künstlerischen oder der Kunst entlehnten Formen der Wissensgenerierung. Auf inhaltlicher Seite findet sich eine eher instrumentelle Betrachtung von Organisationen, welche im Wesentlichen Themen der tradierten Organisationsforschung, etwa Führung oder Kultur, aufgreift und diese unter ästhetischem Blickwinkel, je nach Methode intellektuell oder ästhetisch, betrachtet. Im Kontrast hierzu steht der mehr oder minder unverstellte, am ästhetischen Phänomen selbst interessierte Blick auf Organisationen. Die folgende Matrix führt diese Dimensionen zusammen und benennt einzelne bisherige Forschungsfelder (vgl. Abb. 1). Es ist wenig überraschend, dass Feld 1, das Feld intellektueller Forschung über klassische und auch eher instrumentell zu verstehenden Themen am stärksten ausgeprägt ist (Taylor und Hansen 2005, S. 1218). Für Taylor und Hansen fallen hierunter erstens Arbeiten, welche sich künstlerischer Metaphoriken zur Beschreibung von Organisationen bedienen. Zu nennen sind hier die Vorstellung von Organisationen als Theater, des Managers bzw. der Managerin als Künstler, Metaphoriken des Jazz und der Improvisation als auch das weite Feld narrativer Ansätze und des Storytelling (vgl. hierzu nur Czarniawska 1997 sowie Boje 1991). Zweitens werden in diesem Quadranten künstlerische Arbeiten und Werke aufgegriffen, um hieraus Erkenntnisse und Lernmöglichkeiten für das Management abzuleiten, so etwa im eher populärwissenschaftlichen Feld unter Bezug auf das Werk von Shakespeare (Corrigan 1999). Drittens lassen sich hier eine Vielzahl von Arbeiten einordnen, welche grundsätzlich auf die Bedeutung einer ästhetischen Perspektive für ein Verständnis von Organisationen hinweisen – so auch die bereits zitierten Beiträge von Strati oder Gagliardi. Schließlich existieren viertens Beiträge, welche traditionelle Management- und Organisationstopoi aufgreifen und diese mit der ästhetischen Perspektive an- bzw. bereichern. Hier finden sich Arbeiten zu den Bereichen Leadership, Ethik, Strategie, Marketing, Lernen, Emotionen oder Macht. Vielen dieser Arbeiten ist durchaus eine kritische Perspektive eigen, welche der dominanten instrumentellen Lesart organisationaler Phänomene entgegensteht. Übergreifend bleibt für dieses Feld zu konstatieren, dass es zum einen Gefahr läuft, die ästhetische Perspektive intellektuell einzuhegen und zum anderen den tradierten Themen der Organisationsforschung folgt (Taylor und Hansen 2005, S. 1221). Im Feld künstlerischer Methoden, welche einem instrumentellen Zugang folgen (Feld 2), finden sich auf individueller Ebene ansetzende kunsttherapeutische Ansätze, so die mit theatralischen Mitteln operierende Praxis des ­Psychodramas und der Bereich der visuellen Anthropologie, welcher mit

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Inhalt Instrumentell Feld 1 - Künstlerische Formen als Metaphern für Organisationen

Intellektuell

- Was kann Management von den Künsten lernen? - Bedeutung organisationaler Ästhetik - Ästhetik als Erweiterung und Vertiefung des Wissens über

Methode

klassische organisationale

Ästhetisch Feld 3 - Fokus auf Branchen, Produkte oder Praktiken, welche der Ästhetik nahestehen bzw. mit einer ästhetischen Perspektive verknüpft sind (z.B. Design, Mode, Marketing) - Ästhetische Phänomene in Organisationen - Sinnliche Erfahrungen in Organisationen

Phänomene Feld 2 - Kunst als Möglichkeit individueller

Künstlerisch

Problembearbeitung - Kunst als Möglichkeit

Feld 4 - Nutzung ästhetischer Formen zur Präsentation alltäglicher sinnlicher Erfahrung in Organisationen

organisationaler Problembearbeitung - Ästhetik als Form der Illustration / Präsentation intellektueller Argumente

Abb. 1   Forschungsfelder organisationaler Ästhetik. (In Anlehnung an Taylor und Hansen 2005, S. 1217)

v­ isuellen Repräsentationstechniken (etwa Fotografie, Film, Videotechnik) arbeitet (Leeuwen und Jewitt 2001). Auf organisationaler Ebene erfreute sich das Unternehmenstheater einiger Beliebtheit; auch zeichnerische Ausdrucksformen oder Formen des fiktionalen Schreibens finden hier Anwendung. In diesem Feld finden sich schließlich vereinzelt akademische Arbeiten, welche selbst auf künstlerische Ausdrucksmittel zurückgreifen, so etwa durch den Gebrauch von Short Stories (Jermier 1985), Theaterstücken (Taylor 2000) oder die Konstruktion eines ­Journal-Artikels als Bühnenmanuskript (Steyaert und Hjorth 2002).

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Im Feld intellektueller Methoden, welche sich auf ästhetische Phänomene beziehen (Feld 3), steht an erster Stelle die breite Auseinandersetzung mit dem Bereich der Cultural Industries und jenen Branchen und Produkten, welchen per se eine ästhetische Qualität zugeschrieben werden und wo für den Konsumenten bzw. die Konsumentin die ästhetische Erfahrung im Vordergrund steht. Hierunter fallen zweitens Arbeiten, welche sich dezidiert ästhetischen Praktiken widmen, so etwa Formen des Storytellings oder organisationaler Lieder (Nissley et al. 2003). Am weitesten entwickelt präsentiert sich dieses Feld in jenen Beiträgen, welche die alltägliche sinnliche Erfahrung in Organisationen zum Gegenstand haben, so etwa die Gerüche, Geräusche oder Berührungen in Altenheimen (Martin 2002), die körperliche Präsenz von ManagerInnen (Harding 2003) oder die Erfahrung des Abscheus im Hinblick auf organisationale Wandelprozesse (Pelzer 2002). Die Grenze dieser dritten Perspektive liegt für Taylor und Hansen (2005, S. 1223) dann darin, ob mit intellektuellen Methoden – hier dann insbesondere Praktiken der Verschriftlichung sinnlicher Erfahrung – die Qualität sinnlicher Erfahrung überhaupt eingefangen werden kann. An diesem Punkt setzt das letzte Feld (Feld 4) an, welches sich zugleich als das bisher am schwächsten ausgeprägte darstellt. Für Taylor und Hansen (2005, S. 1223) ist die Verschränkung von künstlerischer Methode und ästhetischem Inhalt eher eine „unrealized hope“ als ein voll entfaltetes Forschungsprogramm. Aufgeführt werden hier entsprechend und lediglich das Theaterstück von Taylor (u. a. Taylor 2003) über die im Wesentlichen negativen sinnlichen Erfahrungen junger WissenschaftlerInnen sowie die Arbeiten von Brearley, in welcher die Erfahrungen organisationalen Wandels in das Schreiben von Gedichten, Liedern oder die Erstellung von MultiMedia Stücken eingeflossen sind (u. a. Brearley 2001).

4 Ästhetik, Organisation und Kritik – Desiderata und Forschungsperspektiven Die Beiträge in diesem Band wie auch die Einleitung machen deutlich, dass Begriffe wie Ästhetik, Ästhetisierung, ästhetische Sphäre etc. sehr unterschiedlich verwendet werden. Dies ist sicher wenig verwunderlich, denn auch die konzeptionellen oder theoretischen Grundlagen, vor deren Hintergrund die Begriffe zu verstehen sind, differieren. Zugleich besteht ein breiter Konsens darüber, dass die mit diesen Begriffen beschriebenen Phänomene und ihre Erforschung wichtig sind. Die sehr unterschiedlichen Beiträge des Bandes zeigen die begriffliche und theoretische Spannweite ästhetischer Perspektiven – wenn man so will: die ‚ästhetische Heterogenität‘ – und das Potenzial einer solchen Sichtweise für die Organisationsforschung.

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Bevor wir allerdings eine Vorschau auf die Beiträge des Bandes geben, wollen wir in zweierlei Hinsicht ein Fazit aus unseren einleitenden Ausführungen ziehen. Erstens wollen wir kurz zusammenfassen, welche unterschiedlichen Begriffsverwendungen in der Literatur auffindbar sind, auf die sich auch die folgenden Beiträge beziehen. Zweitens ist nach dem Kritikpotenzial einer Analyse des Ästhetischen in der Organisationsforschung zu fragen. Zum ersten Punkt: Der Umgang mit sehr unterschiedlichen Ästhetikbegriffen wird erleichtert, wenn man zwischen Ästhetik als Analysegegenstand und Ästhetik als Analyseperspektive unterscheidet. Ästhetik ist zum einen ein Merkmal von Objekten. Objekte können Gebäude sein, Maschinen oder Menschen, aber auch Ereignisse oder Events wie etwa Messen, Theaterpremieren, Buchvorstellungen, Möbelhauseröffnungen etc. Ästhetik mag dann – je nach theoretischer Perspektive – lediglich ein Merkmal neben vielen anderen sein. Man könnte z. B. neben der MitarbeiterInnenzahl und dem Gewinn eines Unternehmens auch die Hässlichkeit oder Schönheit der Architektur der Hauptverwaltung, der Fabrikhallen oder Büros mit betrachten. Zum anderen wird Ästhetik als Analyseperspektive verstanden. Aus dieser Sicht ist Ästhetik nicht ein Merkmal unter vielen, sondern sie nimmt sämtliche (besser: andere, unvermeidlich immer ausgewählte) Aspekte in den Blick – und zwar aus einer umfassenderen Sicht des Erlebens. Erleben wird hier verstanden als das Erfassen mit allen Sinnen, das letztlich zu einer wahrgenommenen Gestalt führt. Man könnte etwa fragen, wie wir vermeintlich nüchterne Fakten wie die Zahl der MitarbeiterInnen, die Höhe des Gewinns oder den Geschäftsbericht eines Unternehmens mit all seinen Kennzahlen, Grafiken, aber auch Fotografien sinnlich erfahren, welche Gestalt eines Unternehmens in unserer Wahrnehmung daraus entsteht. Dabei spielen auch immer Maßstäbe dessen, was als schön oder nicht schön, als angenehm oder unangenehm gilt, eine Rolle. Eine analytisch-ästhetische Perspektive kann grundsätzlich auch diese gesellschaftlich-diskursive Ebene erfassen. Die Unterscheidung zwischen Ästhetik als Objekt der Analyse einerseits und als analytische Perspektive andererseits macht auch deutlich, dass nicht jede Analyse des Ästhetischen aus einer Ästhetik-Perspektive erfolgen muss. Zum zweiten Punkt: Worin besteht das Kritikpotenzial einer ästhetischen Perspektive? Wir meinen, dass nicht jede Analyse, die sich mit Ästhetik befasst, von vornherein als kritisch zu bezeichnen ist. Vielleicht hat manch eine Analyse gar affirmativen Charakter. Nun ist die ästhetische Seite in der Organisationsforschung immer wieder in kritischer Absicht thematisiert worden. Um nur zwei Beispiele aus dem deutschsprachigen Bereich zu nehmen: Klaus Türk etwa skizziert in seinem Band „Bilder der Arbeit“ eine kritische Geschichte der bildlichen Repräsentationen von Arbeit und Arbeitsorganisationen, aber auch der

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Entwicklung der Organisation von Arbeit selbst (Türk 2000). Carmen Losmann zeigt in ihrem Film „Work Hard Play Hard“ (siehe auch das Buch von Bockenheimer et al. 2014) u. a. die vereinnahmende Ästhetik, die ästhetische Gewalt auf, die der Architektur von Verwaltungsgebäuden und deren Raumgestaltung innewohnt. Ästhetik, so könnte man sagen, ist nun einmal ubiquitär, daher war und ist sie immer wieder einmal Gegenstand der Organisationsforschung (zu der man bei einem weiten Verständnis von Forschung auch Filme wie den von Losmann rechnen kann). Neu scheint uns allerdings die zunehmende Intensität und Breite einer geplanten Nutzung des Ästhetischen für Zwecke der Kapitalverwertung zu sein, die immer mehr Lebensbereiche auch über die Arbeitstätigkeit hinaus durchdringt. Beispielsweise wird für viele Arbeitende ein ‚ansprechendes Äußeres‘, ein kundenfreundlicher Habitus immer wichtiger, um sich (tatsächlich aber Produkte und Dienstleistungen) gut zu verkaufen (Warhurst und Nickson 2007). Dieses Äußere und erst recht ein entsprechender Habitus können nicht „am Werkstor“ oder am „Service Desk“ abgelegt werden. Nicht nur die Beschäftigten, auch alle anderen TeilnehmerInnen eines Events, einer Kaufveranstaltung oder einer Filmpremiere sollen zu einer ‚angenehmen Grundstimmung‘ beitragen, sie werden gezielt als Ko-ProduzentInnen ästhetischer Wahrnehmungen benutzt. Eine Gesamtheit von vielleicht auf den ersten Blick als unbedeutend und singulär erscheinenden Ereignissen breitet sich aus und durchdringt unser Leben. Umso wichtiger ist es, die Gesamtheit von ästhetischen Ereignissen als Inszenierungen zu begreifen, als ästhetisch wahrgenommene Erlebnisse, die individuelle, organisationale und gesellschaftliche Folgen haben. Sie stellen massive Anforderungen an die Subjekte (in organisationalen Zusammenhängen, aber auch darüber hinaus), deren psychische Auswirkungen weiter zu erforschen sind. Wir unterstellen zudem, dass Ästhetik für die Aufrechterhaltung und Entwicklung der Funktionalität von Organisationen gezielt eingesetzt wird. In diesen Überlegungen kommt eine Sichtweise zum Ausdruck, die Ästhetisierung als gewollten (wenn auch nicht immer vollständig beherrschten) Prozess der Gestaltung von Wahrnehmung sieht. Ästhetisierung bedeutet in diesem Sinne, dass wir durch die Anordnung von Objekten und Prozessen „anders sehen“, wir sehen eine andere Gestalt. Ästhetik ist dann der Zustand, der aus dieser Gestaltung entsteht. Böhmes „ästhetischer Kapitalismus“ (Böhme 2016) wäre eine Form des Kapitalismus, der Wahrnehmungen gestaltet, Waren, deren Produktion und Verwertung eine andere Gestalt gibt und letztlich der Kapitalverwertung unterwirft. Diese von uns behauptete und als negativ bewertete Instrumentalisierung des Ästhetischen funktioniert nur, weil sie Bedürfnisse trifft – wir streben nach Schönheit, nach einer angenehmen Gestalt, nach positivem, sinnlichem Erleben. Diese Bedürfnisse verführen, so vermuten wir, allzu leicht dazu, die

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I­nstrumentalisierung aus dem Blick zu verlieren. Vielleicht ist auch genau das eines ihrer Ziele. Wir ertappen uns bei Fragen wie: Was soll schlecht daran sein, dass wir in angenehm wirkenden Räumen arbeiten (dürfen, so scheint es uns womöglich)? Was spricht denn gegen die Inszenierung von Geschäftsgebäuden durch schönes Licht und angenehm wirkende Farbgestaltung? Was ist einzuwenden gegen die Untermalung des Einkaufserlebnisses durch gefällige Musik, gegen die Beratung oder wenigstens Bedienung durch gutaussehendes, freundlich wirkendes Personal? Weiter: Warum sollten ManagerInnen sich nicht durch Tanz und Theater ihres Körpers und ihrer Positionierung im imaginären Raum der Personalführung bewusst werden? Warum sollten wir nicht den angenehmen Schauer genießen, der manchen beim Anblick einer ehemaligen Zeche, die heute als Industriedenkmal zu besichtigen ist, überkommt, weil man froh ist, hier nicht gearbeitet haben zu müssen? – Vielleicht ist das eine mögliche Antwort: Am Ästhetischen an sich ist nichts schlechtes, es ist unschuldig. Es kommt darauf an, wie Ästhetik von wem wofür genutzt wird. Fragen nach den Interessenlagen und -gegensätzen, nach dem Macht- und Herrschaftskontext, in dem Ästhetisierung geschieht, und wie diese Herrschaftsstrukturen reproduziert werden, werden unserer Auffassung nach allerdings zu selten gestellt. Betrachten wir aus diesem Blickwinkel die weiter oben skizzierten bisherigen Felder der Ästhetik-Perspektive, so lässt sich behaupten, dass die empirische Fokussierung auf den Gegenstand Organisation, bei allen guten Gründen, das kritische Potenzial einer Ästhetik-Perspektive einschränkt. Neue kritische Einsichten lassen sich durch eine Öffnung des Feldes gewinnen. So erscheint uns für eine Ästhetik-Perspektive in kritischer Absicht eine stärkere Auseinandersetzung mit der Vielfalt ästhetischer Repräsentation von Organisation, Management und Arbeit im Feld der Kunst als ungemein fruchtbar. Wie unser Verweis auf Klaus Türk und Carmen Losmann nur andeutet, finden sich im Bereich der Kunst zahlreiche Reflexionen des Zusammenhangs von Ästhetik und modernen Arbeitsund Organisationsformen. Exemplarisch erfolgt im Medium des Films sowohl die Reflexion der Ästhetik und Ästhetisierung von Organisationen als auch die genuine Erprobung ästhetischer Mittel der Kritik (vgl. u. a. Hassard und Holliday 1998; Weiskopf 2014). Auch eine Öffnung hin zu gesellschaftstheoretischen und -diagnostischen Perspektiven erschließt kritische Räume. Unsere Verweise auf Gernot Böhmes „ästhetischen Kapitalismus“ oder Andreas Reckwitz’ Ästhetisierungsdiagnose deuten auch dies nur an. Dies gilt dann auch umgekehrt: Wenn Organisationen die mächtigen Akteure der Moderne sind (Ortmann 2010) und wir in einer „Organisationsgesellschaft“ (Perrow 1991; Türk 1995) leben, kann auch die Management- und Organisationsforschung durch die Analyse

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o­rganisationaler Ästhetisierungen und Inszenierungen relevante Beiträge zum Verständnis der gegenwärtigen machtvollen Ästhetisierung des Sozialen liefern. Der vorliegende Sammelband will zum einen zur Diskussion der Frage nach dem Kritikpotenzial ästhetischer Perspektiven beitragen. Zum anderen und in erster Linie geht es uns aber darum zu zeigen, wie breit das Spektrum der unterschiedlichen Ansätze, aber auch der in den Blick genommenen Untersuchungsgegenstände ist. Im Folgenden geben wir eine kurze Vorschau auf die einzelnen Aufsätze dieses Bandes.

5 Zu den Beiträgen Die folgenden Beiträge sind vielschichtig. Sie starten an unterschiedlichen Punkten (um mit unserer Feld- und Pfadmetapher zu sprechen), ihre Wege, das heißt auch ihre Methodiken und Ergebnisse, differieren. Insgesamt kann man drei Gruppen von Beiträgen unterscheiden: Eine erste Gruppe umfasst die Beiträge von Hannes Krämer, Christian Julmi und Brigitte Biehl, die konzeptionelle Fragen der ästhetischen Organisationsforschung behandeln. In der zweiten Gruppe von Beiträgen geht es um die Inszenierung und Repräsentation des Ästhetischen. Hierzu zählen die Aufsätze von Pierre Smolarski, Julia Deppe sowie von Ronald Hartz und Simon Kötschau. Und wir können eine dritte Gruppe unterscheiden, zu der die Beiträge von Irma Rybnikova und Markus Kleiszmantatis sowie von Anke Strauß zu rechnen sind. Im Mittelpunkt dieser dritten Gruppe steht die Erfahrung, die sinnliche Wahrnehmung von ästhetischer Arbeit, aus einer ethnografischen Perspektive. Hannes Krämer greift in seinem Beitrag die vielfach geäußerte Diagnose einer „Ästhetisierung von Arbeit“ auf und fragt danach, was man sich unter dieser Diagnose vorstellen muss und welche Möglichkeiten der Kritik dieser Arbeitspraxis sich eröffnen. Dabei wird unter Rückgriff auf theoretische sowie empirische Studien zur ästhetischen Arbeit zunächst den Verankerungen des Ästhetischen in der Erwerbsarbeit nachgespürt. Drei Formen ästhetischer Arbeitspraxis werden dabei sichtbar: Arbeitspraktiken gelten als ästhetisch, wenn sie auf die routinierte Hervorbringung ästhetischer Objekte zielen, wenn ihnen eine inhärente ästhetische Dimension zugeschrieben wird oder wenn sie als Resultat einer Wanderbewegung vom Kunstfeld in die Ökonomie begriffen werden. Mit diesen drei Formen korrespondieren analytisch drei Kritikformate, die Kritik an den Arbeitsbedingungen, Affekt- und Entfremdungskritik und Oberflächenkritik. Die so entworfene Systematik eröffnet einen Weg, konkrete Ausprägungen ästhetischer

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Erwerbsarbeit zu bestimmen, in Relation zur Diagnose einer „Ästhetisierung“ zu setzen und kritisch zu hinterfragen. Christian Julmi geht von der Differenz zwischen Ästhetik und Anästhetik aus und unterscheidet unter Bezugnahme auf eine ästhetische Theorie der Atmosphären drei verschiedene Machtkonstellationen ästhetischer und anästhetischer Atmosphären in Organisationen. Sinnliche Wahrnehmung bilde den analytischen Kern organisationaler Ästhetik, aber es könne keine Ästhetik ohne Anästhetik (das die sinnliche Wahrnehmung „Betäubende“) geben. Besonders wichtig ist Christian Julmi die Frage des Machtpotenzials und der Ausübung von Macht: Die Förderung und Unterdrückung sinnlicher Wahrnehmung könne von Unternehmensleitungen strategisch zur Beeinflussung des Verhaltens der Beschäftigten genutzt werden. Julmi argumentiert, dass für eine Analyse unterschiedlicher Machtkonstellationen eine Differenzierung zwischen dem Ästhetischen und dem Anästhetischen notwendig ist. Ausgehend von einer Kombination von Ästhetik und Anästhetik unterscheidet Julmi drei „Atmosphären“ als Machtkonstellationen. Der wissenschaftliche Diskurs müsse die Unterschiedlichkeit dieser Machtkonstellationen berücksichtigen, um sein kritisches Potenzial zu entfalten. Der Beitrag von Brigitte Biehl diskutiert die Methoden und Konzepte der Tanzwissenschaft und deren Integration in die Organisationsforschung, wobei der sich bewegende Körper als das Bindeglied zwischen beiden Feldern angesehen wird. Tanz ergänzt bestehende Kunst-Metaphern in der Organisationsforschung und lenkt den Blick auf die verkörperte, nonverbale Erfahrung von Menschen in Organisationen. Die sich daraus entwickelnden Perspektiven richten sich ihrem Ursprung nach nicht an der Effizienz aus, sondern untersuchen die Ästhetik als sinnliche Wahrnehmung. Tanz (und dessen Reflexion) kann dann dabei helfen, über andere und alternative Formen des Organisierens zu reflektieren und diese ‚in Bewegung‘ zu bringen. Eine Analyse kinästhetischer Praxis zeigt exemplarisch die soziale Erzeugung von Körperpolitiken (so im Bereich Gender), erklärt soziale Choreografien als verkörperte Machtstrukturen; und stellt kinästhetische Empathie als Mechanismus vor, der hierarchische Führungsperspektiven zugunsten kollektiver Dynamik demontiert. Tanz kann aber auch als künstlerische Intervention zur Organisations- und Personalentwicklung eingesetzt werden und eignet sich als qualitative Forschungsmethode in der Wissenschaft. Für die Autorin sind es gerade die aktiven Formen von Tanz als Methode, welche sich als ein Ausgangspunkt für eine performative und kritische Einmischung in Organisationen eignen. Pierre Smolarskis Beitrag untersucht, wie menschliche Arbeit im öffentlichen Raum verhandelt wird. Unter Nutzung eines rhetorischen Verständnisses

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von Ästhetik nähert sich der Essay dem Alltagsverständnis und dessen bildhafter Herstellung von Arbeit und ihrer Bedeutung für das soziale Miteinander. Konzeptionell leistet der Autor eine Bestimmung des Begriffs der Alltagsästhetik, um hierauf aufbauend die Bilder von Arbeit, ihrer sozialen Bedeutung und deren Darstellung und Verhandlung aufzuzeigen. Der Beitrag zeigt dabei umfassend, dass ein aktuelles Arbeitsverständnis auf vielfältigen historischen Entwicklungen aufbaut und somit – je nach Kontext – in ihrer alltagsästhetischen Anschlussfähigkeit rhetorisch aktiviert werden kann. Über die Darstellung und Analyse alltagsrelevanter Medien, ergibt sich für die Lesenden das Bild einer mittels Bilder der Arbeit erschaffenen Hegemonie. Die alltägliche Anrufung (und Zumutung), kreativ und innovativ zu sein, bilden den Hintergrund des Beitrages von Julia Deppe, welcher sich mit dem visuellen Einsatz von Transparenz als Inszenierungsstrategie von Kreativität und Innovation auseinandersetzt. Im Kontext des von Andreas Reckwitz beschriebenen Kreativitätsdispositivs wird die Zuschreibung von Kreativität zu einem entscheidenden Faktor des gesellschaftlichen Ansehens. In der Konsequenz inszenieren sich Individuen, Unternehmen oder auch Branchen als kreativ und innovativ. Um die Reichweite des Kreativitätsdispositivs zu verdeutlichen, nimmt der Beitrag die Selbstdarstellung von Unternehmen und Branchen in den Blick, welche (eigentlich) mit geringer Kreativitätszuschreibung in ihrer Tätigkeit behaftet sind. Unter Bezugnahme auf den Toposbegriff von Bornscheuer wird dabei eine unternehmerische Bildsprache rekonstruiert, welche mit Transparenz arbeitet und die Motive Kompetenz, Kundenorientiertheit, Kreativität und Innovation zu kommunizieren sucht. Ronald Hartz und Simon Kötschau analysieren in ihrem Beitrag den Film „The Wolf of Wall Street“. Filme sind ein wichtiges Medium der Reflexion moderner Arbeits- und Organisationsverhältnisse und prägen unsere Vorstellungen von Organisationen. Umso wichtiger sind eine Bewusstmachung und kritische Reflexion des Gezeigten und der Art und Weise, wie uns etwas gezeigt wird. Die Autoren nutzen für ihre kritische Analyse die multimodale Diskursanalyse und Filmsemiotik. Sie untersuchen, wie die Arbeitsplätze der Finanzindustrie, die Finanzinstrumente und -produkte und Finanzmärkte dargestellt werden. Dem Film gelinge es, durch filmische Ästhetisierung der Finanzmärkte eine „Faszination Wall Street“ zu erzeugen. Finanzmärkte erschienen als ein durch Gier und Exzess zu charakterisierendes Spiel, das für alle, auch die „Wölfe“, undurchschaubar ist. Der Film mache die ZuschauerInnen trotz seiner kritischen Intention gleichwohl zu „KomplizInnen“, die zwar das Spiel nicht durchschauten, zugleich aber ebenso wie seine profitierenden AkteurInnen Bescheid wüssten über die „Verlogenheit und Irrationalität des Systems“.

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Irma Rybnikova und Markus Kleiszmantatis verbinden Konzepte ästhetischer Arbeit mit Ansätzen der Analyse von Eventisierung und untersuchen unter Rückgriff auf autoethnografisches Material Dienstleistungstätigkeiten im Kontext von Kino-Events. Bei Kinoevents wird nicht nur der Film gezeigt, sondern dessen Präsentation ist eingebunden in eine Art Empfang und Party. Das Dienstleistungspersonal muss mitspielen, vielleicht mitfeiern (wollen), damit das Ereignis als gelungen wahrgenommen wird. Zum Event passende Kleidung und die Interaktion mit den Gästen sind wichtige Elemente der Produktion solcher Events. Allerdings präzisiert das Management die Erwartungen vor allem an die Interaktion nicht, es setzt auf die soziale Kompetenz der Beschäftigten. Damit entfaltet sich eine widersprüchliche Wirkung: Einerseits ist die Tätigkeit durch große Interpretations- und Handlungsspielräume gekennzeichnet, andererseits bewirken die unklaren Anforderungen erhebliche Verhaltensunsicherheiten. Konflikte entladen sich dann an auf den ersten Blick als unwichtig erscheinenden Regeln über das Tragen von Dienstkleidung. Der Beitrag von Anke Strauß diskutiert die Frage, wie alternative Formen des Organisierens zu lehren sind. Dabei werden theoretische Abstraktionen und exemplarische Fallstudienarbeit um den Einbezug spezifischer Lebenswelten erweitert. Im Fokus der konzeptionellen Herleitung steht die Ermöglichung von Vorstellungskraft im Kontext sozialer Beziehungen, die vom Streben nach Autonomie, Solidarität und Verantwortungsbewusstsein geprägt sind. Der Artikel verdeutlicht diese spezifische Pädagogik in der Rekapitulation einer universitären Lehrveranstaltung. Es wird deutlich, dass die Spezifik der Organisations- und Managementlehre einerseits in der Imaginationsbefähigung von Alternativen sowie andererseits im Einfangen organisationaler ‚handlungsauffordernder Umweltgegebenheiten‘ liegt. Im Austausch erfahren Lernende so ein konkretes Verständnis über alternatives Organisieren und die (Re)Produktion von Raum in Organisationen. Die Beiträge nehmen unterschiedliche Pfade durch das Feld der organisationalen Ästhetik. Das Kartenmaterial und die Navigationsinstrumente, welche von den AutorInnen genutzt werden, sind ganz unterschiedlich und nicht für jedes Gebiet liegt gutes Kartenmaterial vor. Für den amerikanischen Dichter Robert Frost ging es in „The road not taken“ darum, sich an einer Weggabelung zu entscheiden. Das Feld organisationaler Ästhetik bietet erheblich mehr Pfade, aber auch hier scheint uns der Weg ab und an wichtiger als das Ziel: „Two roads diverged in a wood/and I took the one less traveled by/And that has made all the difference“ (Robert Frost 1916).

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Praxis und Kritik ästhetischer Arbeit Hannes Krämer

In der prominenten Diagnose um die Ästhetisierung von Arbeit steckt die Beobachtung, dass Anderes, zuvor nicht Dagewesenes auf die Sphäre der Arbeit übergreift. Das bedeutet, dass vormals Nichtästhetisches „ästhetisch gemacht oder als ästhetisch begriffen wird“ (Welsch 1996, S. 20 f.) – in diesem Fall die Arbeit.1 Ein solches Thema berührt zentrale Debatten der Sozial- und Kulturwissenschaften – von der Gestalt der Arbeit über die Ästhetik bis hin zur Modernetheorie. Trotz dieser Berührungspunkte und der vielfältig diskutierten politischen, ethischen und gegenwartsdiagnostischen Implikationen einer solchen Deutung scheint dennoch Klärungsbedarf zu herrschen hinsichtlich der Frage nach den konkreten Formen der Veränderung von Erwerbsarbeit im Zuge eines Ästhetisierungsprozesses. Was muss man sich unter einer „Ästhetisierung von Arbeit“ vorstellen? Was wird ästhetisch am Arbeiten? Wie setzt sich dieses Ästhetische fest? Welche Erwerbsarbeit ist damit beschrieben? Mein Beitrag hat zum Ziel, in einem ersten Schritt den Verankerungen des Ästhetischen in der Praxis der Erwerbsarbeit nachzuspüren, also im Kontext jener marktförmig organisierten Tätigkeit, die der Einkommenserwirtschaftung und der Sicherung des

1Die

Deutung gesellschaftlicher Entwicklung als „Ästhetisierung“ ist keineswegs neu wie Katharina Scherke (2000) anhand verschiedener Modernisierungstheorien ab 1900 vorführt (siehe aber auch Bubner 1989; Honneth 1994; Rebentisch 2012).

Dieser Beitrag stellt eine erweiterte Fassung von Krämer (2017) dar H. Krämer (*)  Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_2

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­ ebensunterhaltes dient (Kocka 2001, S. 10). In einem zweiten Schritt sollen L diese Praktiken des Ästhetischen auf ihre Kritikdimension befragt werden. Denn derartige gesellschaftliche Veränderungsprozesse wie etwa die Ästhetisierung zielen nicht nur auf die Bestimmung eines Zeitgeists, sondern sind immer auch Gegenstand kritischer Auseinandersetzung. Warum ist ein solcher Blick auf die Praxis der Ästhetisierung im Kontext interdisziplinärer Arbeits- und Organisationsforschung überhaupt sinnvoll? Dies lässt sich in zweifacher Hinsicht begründen. Erstens gilt die Diagnose einer Sinnlichkeitsdimension sozialer Prozesse keineswegs exklusiv für einzelne Nischen sozialen Lebens, sondern markiert auch auf der Ebene der Arbeits- und Organisationswirklichkeiten eine Neujustierung traditioneller Praktiken, Diskurse, Objekte und Wissensordnungen kapitalistischer Produktion (Reckwitz 2012). Zweitens steckt in der Rede von der „Ästhetisierung“ ein Verweis auf einen Aktivposten. Ästhetisches wird als solches erst gemacht und diese Aktivität oder Arbeit transformiert damit zuvor Nicht-Ästhetisches. Dass etwas als ästhetisch begriffen wird, kann damit durchaus als Ergebnis eines Arbeitsprozesses begriffen werden. Eine solche Aktivitätsdimension lässt sich auch für Organisationen bestimmen, die in diesem Sinne als Praxiskomplexe erfasst werden können, also als ein Produkt praktischer Hervorbringungen. Eine solche Perspektive setzt an einem breiten Ästhetikverständnis an: Wenn im Folgenden von Ästhetik die Rede ist, ist nicht in erster Linie ein Geschmacksurteil im Sinne von „(kunst)schön“ oder „hässlich“ gemeint, sondern wird, bezugnehmend auf den ursprünglichen Begriff der aisthesis, auf eine spezifische Form sinnlicher Wahrnehmung hingewiesen. Diese sinnliche Wahrnehmung ist dabei eigendynamisch, selbstreferentiell und verfügt über eine affektive Intensität (Böhme 1995; Reckwitz 2012). Sie ist damit zunächst auch nicht zweckgerichtet. Dies bedeutet zwar keineswegs, dass derartige Wahrnehmungen nicht auch in den Dienst von Zwecken gestellt werden können – im Gegenteil: Ästhetische Wahrnehmungen können therapeutische, didaktische und ebenso ökonomische Funktionen erfüllen. Aber sie kommen auch ohne derartige Bezüge aus, da sie ihre Spezifität gerade aus der Selbstreferentialität ihres Vollzuges ableiten. Ein derartig weiter Begriff des Ästhetischen ermöglicht es, über das Kunstfeld hinaus verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche hinsichtlich ihrer ästhetischen Formatierungen in den Blick zu nehmen. Für eine Analyse zeitgenössischer Erwerbsarbeit bedeutet das, in den Arbeitstätigkeiten nach den Momenten der Versinnlichung zu suchen, also diejenigen Formen der Arbeitspraxis analytisch scharf zu stellen, in denen selbstreferentielle, zwecklose, sinnlich-affizierende Wahrnehmungen aufscheinen. Hierzu werden theoretische sowie empirische Studien zur ästhetischen Arbeit konsultiert, besonders zur Kultur- und

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­Kreativwirtschaft (Hartley 2007). Allerdings soll die Analyse weniger eine spezifische Branche ästhetischer Arbeit abstecken. Der Vorschlag, der hier unterbreitet wird, besteht vielmehr darin, eine allgemeine Systematik für Ästhetisierungsprozesse von Erwerbsarbeit zu bestimmen. Dabei gilt es, sowohl nach den Formen ästhetischer Arbeit, als auch nach den Möglichkeitsbedingungen ihrer Kritik zu fragen.

1 Drei Formen ästhetischer Arbeitspraxis Für eine solche Fragestellung bietet sich ein praxeologisches Vorgehen an, da damit abstrakte Überlegungen zur Ästhetik an konkrete Phänomene und empirische Forschungen rückgebunden werden. Einer solchen Praxisanalyse (Schäfer 2016) folgend lassen sich drei verschiedene Formen ästhetischen Arbeitens unterscheiden: Arbeitspraktiken können als ästhetisch gelten, wenn sie auf die gewohnheitsmäßige und routinierte Hervorbringung ästhetischer Objekte zielen, wenn sie über eine inhärente ästhetische Dimension verfügen oder wenn sie als Resultat einer Wanderbewegung vom künstlerischen Feld in die ökonomische Arbeitspraxis begriffen werden.

1.1 Kreativarbeit als ästhetische Arbeitspraxis In einem ersten Verständnis können Arbeitspraktiken als ästhetisch bezeichnet werden, wenn sie auf die routinierte Hervorbringung ästhetischer Objekte zielen. Gernot Böhme formuliert das in Hinblick auf Ästhetisierungsprozesse wie folgt: „Mit ästhetischer Arbeit wird die Gesamtheit jener Tätigkeiten bezeichnet, die darauf abzielen, Dingen und Menschen, Städten und Landschaften ein Aussehen zu geben, ihnen eine Ausstrahlung zu verleihen, sie mit einer Atmosphäre zu versehen oder in Ensembles eine Atmosphäre zu erzeugen“ (Böhme 2008, S. 29, Hervorh. i. O.).

Es geht hier also nicht um spezifische Tätigkeiten oder Personen, die aufgrund einer Sonderstellung, weil sie etwa aus dem Kunstfeld kommen, und in Abgrenzung zu vermeintlich profanen Bereichen wie der Angestelltenarbeit oder der industriellen Fertigung bestimmt werden, sondern dieses Verständnis ästhetischer Arbeitspraxis setzt grundlegender an. Es geht um jegliche Arbeitstätigkeiten, die mit der Erschaffung eigendynamischer, sinnlicher Wahrnehmung okkupiert sind. Ästhetische Arbeitspraktiken bringen „immer wieder ästhetische

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Wahrnehmungen oder Objekte für eine solche Wahrnehmung routinisiert oder gewohnheitsmäßig“ (Reckwitz 2012, S. 25) hervor. Dies umfasst verschiedene Arbeitstätigkeiten, vom Anstreichen von Wänden über das Arrangieren von Objekten bis zum Ausstatten von Szenerien. Als ästhetisch sind in diesem Zusammenhang diejenigen Objekte und Momente zu verstehen, die eine sinnliche und selbstbezügliche, ästhetische Wahrnehmung evozieren. Gemeint sind damit Dinge, Artefakte, Erlebnisse, die nicht in einer reinen Zweckrationalität aufgehen, sondern eine Form sinnlicher Selbstbezüglichkeit aufweisen. Im Kontext zeitgenössischer Erwerbsarbeit ist es vor allem der Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft, in dem Objekte produziert werden, die über einen konstitutiven „Inszenierungswert“ (Böhme 2008, S. 29) verfügen (u. a. Lash und Urry 1994; Zukin 1995, Kap. 1; Haug 2009). Die Produkte der Kultur- und Kreativwirtschaft reichen von hochkulturellen Kunstobjekten über alltägliche Designgegenstände bis hin zu hedonistischen Musik- und Performanz-Erlebnissen im Nachtleben.2 Mit einer derartigen Bestimmung von ästhetischer Arbeit als erwerbsarbeitliche Anstrengung am Ästhetischen gehen in der Gegenwartsgesellschaft ebenso spezifische Subjektivierungsweisen einher (Hieber und Moebius 2011), die sich unter anderem in Berufsfeldern wie der Architektur, der Werbung, des Designs und entsprechenden Ausbildungswegen niederschlagen.3 Beispiele für ästhetische Arbeitspraktiken im Feld der Kultur- und Kreativwirtschaft umfassen Entwurfspraktiken, Verfahren der Ideengenerierung, Gestaltungs- oder auch Aufführungspraktiken. Empirisch lassen sich dabei Arbeitspraktiken beobachten, wie sie in der Bildenden Kunst aber ebenso im

2Die Arbeitsformen, mit denen derartige Objekte gezielt hervorgebracht werden, werden auch als „cultural work“ (Beck 2003), „creative labour“ (Hesmondhalgh und Baker 2012; McKinlay und Smith 2009) oder „Kreativarbeit“ (Krämer 2014a; Manske 2016) bezeichnet. 3Dass damit ein großer Anteil nicht-ökonomisch organisierter Arbeitstätigkeit ausgeschlossen wird, liegt auf der Hand. Beispielsweise lassen sich im Bereich der „Hausarbeit“ und des „Care Work“ ebenso ästhetische Aktivitäten und Anstrengungen finden, die nicht als Erwerbsarbeit konzipiert sind. Aber auch künstlerische Tätigkeiten verweigern sich wiederholt einer primären erwerbsarbeitlichen Orientierung (Müller et al. 1972). Und auch in anderen Lebensbereichen zielen vielgestaltige Anstrengungen auf die Evozierung ästhetischer Erlebnisse – etwa in der Freizeit, wenn sowohl die Garten- als auch die Körperarbeit im Fitnessstudio oder das gemeinsame Spiel im Sportverein nicht nur der physischen und psychischen Erholung dient, sondern ebenso auf die Erschaffung eines ästhetischen Objekts abzielt: des Gartens, des Körpers oder des Spielzugs.

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Handwerk Verwendung finden – etwa Schnitzen, Malen, Zeichnen, Arrangieren, Performieren, Inszenieren. In diesem Zusammenhang ist auf zwei Entgrenzungsoder Erweiterungstendenzen hinzuweisen: Erstens sind ästhetische Arbeitspraktiken über die Felder der Kulturproduktion hinaus zu beobachten. Es finden sich zahlreiche weitere Bereiche, welche ebenso ästhetische Objekte erschaffen. So wird etwa in den letzten Jahren wiederholt auf die Nähe des Handwerks zur Kulturproduktion hingewiesen (Sennett 2008; Müller et al. 2011). Ebenso zeigen Studien zum Programmieren, dass das Schreiben von Code keineswegs nur eine technologische, sondern ebenso eine ästhetische Komponente aufweist (Cox und McLean 2013). Zweitens sind die Ränder ästhetischer Arbeitspraxis unscharf. In der Analyse konkreter Arbeitsprozesse ist zu beobachten, dass traditionelle künstlerische Praktiken mit weiteren Praktiken verknüpft sind, die ebenso eine maßgebliche Rolle für die Emergenz ästhetischer Objekte spielen. Etwa finden sich in der Arbeit von Werbeagenturen oder Architekturbüros verschiedene Formen der Bewertungspraxis, mithilfe derer darüber entschieden wird, ob die hochästhetisierten Gestaltungsentwürfe richtig, passend oder verbesserungswürdig sind (Farias 2013; Krämer 2014a, S. 254 ff.). Derartige Praktiken sind konstitutiv für die Entstehung ästhetischer Objekte.

1.2 Ästhetisches Erleben beim Arbeiten Dies führt zu einem zweiten Verständnis von ästhetischen Arbeitspraktiken. Arbeitspraktiken sind nicht nur „äußerlich“ an der Erschaffung ästhetischer Objekte beteiligt, sondern verfügen selbst über eine affektiv-ästhetische Tätigkeitsdimension. Das bedeutet, dass Entwurfspraktiken (Texten, Gestalten, grafisches Entwerfen etc.) und Techniken der Ideenfindung (Brainstormings, Introspektion, Inspirations-Recherchen etc.) nicht nur auf die Vorbereitung eines ästhetischen Objekts abzielen. Sie bringen zugleich eine Form des Arbeitens hervor, die selbst ein hoch-affektives und sinnliches Erlebnis darstellt. Durch den körperlichen Vollzug der Arbeitspraktiken begeben sich die Akteur*innen in einen Zustand sinnlich-sensibler und affektiver Zuwendung zum Arbeitsobjekt, was zu einem maßgeblichen und gewünschten Bestandteil der Objektproduktion werden kann. Dabei ist nicht selten zu beobachten, dass die affektiv hoch aufgeladene Arbeitspraxis – etwa im Modus so genannter Flow-Erlebnisse – nicht in einer reinen Zweckhaftigkeit aufgeht. Vielmehr entzieht sich die Arbeitspraxis einer solchen Zwecksetzung dahingehend, dass das Erleben im Moment des Erlebnisses verortet bleibt. Es geht um das Aufgehen im Vollzug der Praxis als tätige sinnliche Wahrnehmung. Die Parameter erfolgreicher Tätigkeit liegen dabei in der

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Situation selbst und sind eher sensorisch zu erspüren, als kognitiv zu bestimmen. Einen solchen Moment beschreibt Michael Burawoy (1979) in seiner ethnografischen Studie über die Arbeitspraxis in der industriellen Fertigung. Indem die Arbeitenden am Fließband in einen Zustand des Spiels gegen die Uhr verfallen, entwickelt sich eine spezifische situative Arbeitsdynamik, die einen Zustand veränderter sinnlicher Wahrnehmung und affektiver Eingebundenheit eröffnet, der einer repetitiven, monotonen und ermüdenden Aktivität entgegensetzt wird. Ähnliche Beispiele finden sich im Feld der Creative Industries. In der Entwurfspraxis von Designer*innen lässt sich beobachten, wie diese ein ästhetisches Gespür für das Entworfene entwickeln, um über den sinnlichen Nachvollzug die affektive Qualität des Gestaltungsangebots einzuschätzen. Im Prozess der grafischen Gestaltung sind immer wieder Momente zu beobachten, die durch hohes Tempo, körperliche Anspannung, atmosphärische Dichte und zahlreiche Zustandsänderungen am (digitalen) Material gekennzeichnet sind (Krämer 2014b; Schön 1991). Andreas Reckwitz benennt solche Momente – einen Begriff von Gerhard Schulze (1992, S. 98) borgend – als „ästhetische Episoden“. In diesen „scheint momenthaft und unberechenbar eine ästhetische Wahrnehmung auf. Ein Subjekt lässt sich durch ein Objekt affizieren und durchbricht damit den Kreislauf der Zweckrationalität“ (Reckwitz 2012, S. 25). Derartige Episoden sind nicht nur beiläufiges Nebenprodukt, sondern zentraler Bezugspunkt der Arbeitsaktivitäten. Die Organisationen sowie die Arbeitsabläufe in der Kultur- und Kreativwirtschaft sind so strukturiert, dass sie die Emergenz ebensolcher affektiv-ästhetischer Episoden begünstigen (Grabher 2002). Der affektiv-ästhetische Gehalt der Tätigkeiten wird als entscheidende Grundlage der ökonomischen Unternehmensleistung betrachtet. Ein derartiges Verständnis von Arbeitspraxis als affektive Praxis erweitert das in der Arbeitsforschung etablierte Konzept „affektiver Arbeit“ (Hardt 2002) in einem entscheidenden Maße: Es geht nicht mehr ausschließlich um die Arbeit am Affekt als Kennzeichen zeitgenössischer Ökonomie, sondern ebenso um eine Arbeit als Affekt. Im Gegensatz zum ersten Fall sind Arbeitspraktiken nicht nur äußerlich an der Hervorbringung ästhetischer Wahrnehmungen und Wahrnehmungsobjekte beteiligt, sondern können selbst als ästhetisches Erlebnis begriffen werden. Sicherlich kommt es empirisch zur Überlagerung beider Formen – ästhetischer Genuss im Arbeitsvollzug ist häufig maßgeblich an der Erschaffung ästhetischer Objekte beteiligt und entspricht damit jenen Routinen, von denen bereits die Rede war. Allerdings sind derartige Überlagerungen nicht zwingend. Industrielle Fertigungsprozesse oder Arbeitssituationen im Angestelltenalltag können prinzipiell ebenso eine ästhetische Dimension aufweisen, auch wenn sie nicht auf die Produktion ästhetischer Objekte, sondern auf Stahlprofile und Aktennotizen gerichtet sind.

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1.3 Ästhetische Arbeitspraxis als Import aus dem Kunstfeld Schließlich lässt sich ein drittes Verständnis ästhetischer Arbeitspraktiken identifizieren. Arbeitspraktiken gelten demnach als ästhetisch, da sie aus dem Feld der Kunst in die ökonomische Arbeitspraxis diffundiert sind. In diesem Sinne lassen sich Arbeitspraktiken wie etwa das Skizzieren, Praktiken des Objektarrangements, Techniken kreativen Schreibens aber auch Verfahren der Ideengenerierung als ästhetische Praktiken verstehen, weil sie entweder ihren Ursprung im Kunstfeld haben oder eine Nähe dazu aufweisen. In der Arbeitsforschung wird eine solche Kunstreferenz dort deutlich, wo künstlerische Bezüge als Interpretationsfolien für die zeitgenössische Arbeitswelt herangezogen werden. Die Diffusion „künstlerischer Logiken“ (Eikhof und Haunschild 2007) in die ökonomische Arbeitspraxis führt dabei zu einer Veränderung der ursprünglichen Praktiken, was in Studien zur Erwerbsarbeit auf einer synchronen sowie einer diachronen Ebene nachgezeichnet wurde. Beispielsweise werden symbolische Praktiken der Selbstbeschreibung als Ausrichtung am Subjektideal des Künstlers interpretiert (Menger 2006) oder Praktiken der Selbstpositionierung auf dem Arbeitsmarkt in Analogie zu Künstler*innenarbeitsmärkten diskutiert (Haak und Schmid 1999). In anderen Fällen wurden Übertragungen auf der Ebene der Inneneinrichtung, der Kleidung sowie des Habitus als eine Betonung expressiver, künstlerischer Individualität gedeutet (Reckwitz 2012). Auf synchroner Ebene wurden derartige Modellierungen als Künstler*innensubjekt und die „Nutzung“ künstlerischer Tätigkeiten auch innerhalb der Berufsausbildung nachgezeichnet (Schumacher und Glaser 2008), sie lassen sich aber auch stärker historisch bestimmen: So sind beispielsweise in der Geschichte der visuellen Kommunikation und der Gebrauchsgrafik mehrere Annährungen zwischen künstlerischer und ökonomischer Praxis zu beobachten (Meffert 2001).4 Neben der Frühphase moderner Wirtschaftswerbung mit der so genannten „Plakatkunst“ ist es vor allem die „Kreativwerbung“, die als Beispiel anzuführen ist (Frank 1997). Galt die Werbeproduktion lange Zeit als eine Tätigkeit, die maßgeblich durch die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Produktvorzügen und dem Abgleich mit Rezipient*innenwünschen mithilfe psychologischer Tests durchgeführt wurde (Regnery 2003), so geriet seit den 1950er Jahren der schöpferische Prozess der Werbedarstellung und des Werbekonzepts in den Fokus. Auf der Ebene der Arbeitspraktiken bedeutete dies, in

4Zum

Überblick: Krämer (2014a, S. 69 ff.).

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neuen Teamstrukturen zu arbeiten, die zuvor an Kunsthochschulen – wie etwa dem Bauhaus oder Black Mountain College – ausprobiert wurden (Blume et al. 2015). Zugleich stieg die Bedeutung und Auseinandersetzung mit Strategien zur Förderung von Kreativität stark an: Brainstormings, assoziative Gruppenverfahren und selbst Spiele fanden in der Arbeitspraxis vermehrt Verwendung (Fox 1984). So findet sich eine deutliche Fokussierung auf Einfälle als Ergebnis von Verfahren (im Gegensatz zu den Eingebungen eines Genies) schon früh in den Avantgardebewegung der 1920er Jahre, beispielsweise im Dadaismus, Surrealismus oder dem russischen Formalismus. Assoziationsverfahren wie etwa die so genannte écriture automatique im Surrealismus, nach der assoziative Schreibübungen auf ein Flow-Erlebnis der Schreibenden abstellten, schlagen sich in zeitgenössischen Kreativtechniken nieder. All dies zielt auf eine spezifische Auseinandersetzung mit dem Einfall ab, bei der weniger die rationale, als eher eine ästhetische Auseinandersetzung betont wird.

2 Arbeitspraxis und Kritik Bislang wurden drei analytisch unterscheidbare Formen von Ästhetisierung herausgearbeitet. Ästhetische Praktiken können demnach als „ästhetisch“ im obigen Sinne gelten, da sie ein ästhetisches Objekt erschaffen, in ihrem Vollzug ein ästhetisches Erleben aufscheint oder weil sie dem Kunstfeld entstammen. Diese Formen sind keine exklusiven Perspektiven auf den Gegenstand ästhetischer Arbeit, sondern werden in Studien auch immer wieder gemeinsam angeführt. Allerdings stellen sie zugleich drei heuristisch unterscheidbare Zugriffe auf das Phänomen der Ästhetisierung dar, die verschiedene Aspekte in den analytischen Fokus rücken. Ich möchte diesen Punkt verdeutlichen, indem ich nach dem spezifischen Standpunkt von Kritik innerhalb dieser jeweiligen Perspektiven frage. Wenn Ästhetisierung Unterschiedliches betont, werden zugleich verschiedene Fundamente der Kritik möglich. Im Falle der Diagnose einer „Ästhetisierung der Arbeit“ stellt sich die Frage nach dem Standpunkt der Kritik noch einmal besonders, da der Ästhetisierungsdiskurs als ambivalente Zuschreibung zwischen den Polen der Krisendiagnose und einem affirmativem Gestaltungspotenzial schwankt (Honneth 1994; Rebentisch 2012). Gerhard Schulzes (1992) einflussreiche Beschreibung der Gegenwart als Erlebnisgesellschaft etwa sieht maßgeblich ästhetische Elemente in der Entwicklung hin zur spätmodernen Gesellschaft. Diese Entwicklung zeigt sich laut Schulze vor allem im Übergang von einer marktgetriebenen Außenorientierung hin zu einer Erlebnis- oder ­ ­ Innenorientierung, die zeitgenössische Subjekte motiviert und

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sinnliches Erleben sowie Fragen des Geschmacks, Genuss und Gestaltung als einen zentralen Wert positioniert. Die so freigesetzte Kreativität, Spontaneität und Sinnlichkeit entwickelt dabei eine produktive, schöpferische Kraft, die veränderte Selbstbeschreibungen, neue Objektformationen und innovative soziale Praktiken möglich macht. Innerhalb der sozial- und kulturwissenschaftlichen Ästhetisierungsdebatte wird einer derartigen Betonung der Potenziale des Ästhetischen häufig die Krisenhaftigkeit eben dieser Entwicklung entgegenhalten. Rüdiger Bubner (1989) beispielsweise weist darauf hin, dass eine umfassende „Ästhetisierung der Lebenswelt“ zum Verlust des Ästhetischen führe. Gerade wenn das Ästhetische funktionalisiert und in den Dienst verschiedener Zwecke gezwungen wird, verliert die „ästhetische Erfahrung“ ihre fundamentale Qualität, „vor dem Hintergrund komplexer Alltagsfunktionen [einen] außergewöhnlichen und unerwarteten Bereich […] völliger Funktionslosigkeit“ (Bubner 1989, S. 658) zu eröffnen und so der Überformung und Zumutung heutiger Lebenswelten durch die Omnipräsenz von „Funktionen“ und „Zwecken“ entgegen zu wirken. Insofern kann die Tendenz, viele Gegenwartsbereiche – auch die Erwerbsarbeit – als ästhetisch zu begreifen, durchaus auch negativ eingeschätzt werden. In Anlehnung an diese beiden diversen – eher affirmativen und eher kritischen – Positionen ist nun zu fragen, welche Kritikverständnisse sich im Zusammenhang mit einer Ästhetisierungsdiagnose im wissenschaftlichen Diskurs um eine veränderte Arbeitspraxis finden lassen und zwar sowohl empirisch als auch theoretisch. Diese Kritiken sind hier weder ausschließlich einem Autor*innen zuzuordnen, noch lassen sie sich empirisch umstandslos nur auf einen Aspekt ästhetischer Arbeit begrenzen. Im Gewimmel dichter Arbeitswirklichkeit gehen diese einzelnen Kritiken häufig Hand in Hand – wenn beispielsweise prekäre Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit Fragen der Identitätsbildung diskutiert werden. Wie auch bei den oben identifizierten Praktiken handelt es sich auch bei den damit korrespondierenden Kritiken um eine analytische Unterscheidung. Dies bedeutet, dass einzelne Aspekte scharf gestellt und von bestimmten Autor*innen besondere Aufmerksamkeit zugesprochen bekommen. Es werden drei Kritikformen herausgestellt: Kritik an den Arbeitsbedingungen, Affekt- und Entfremdungskritik und Oberflächenkritik.

2.1 Kritik an den Arbeitsbedingungen Im ersten Fall wurde die ästhetische Arbeitspraxis dadurch bestimmt, dass sie an der Erschaffung ästhetischer Objekte beteiligt ist. Sowohl ästhetische Praktiken als auch ästhetische Objekte sind damit keine Verfahren und Gegenstände an und

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für sich, sondern Ergebnis zahlreicher Aktivitäten. Eine derartige Produktionsästhetik interessiert sich für die objektualen, performativen und praktischen Gegebenheiten ästhetischer Arbeit. Ästhetische Praktiken beschränken sich damit keineswegs auf die Ebene der künstlerischen oder kreativen Tätigkeit, sondern sind prinzipiell in allen möglichen Bezugnahmen auf ein ästhetisches Objekt denkbar. Entsprechend sind daran verschiedene Akteur*innen beteiligt, auch jene, deren Kompetenz gemeinhin nicht im Bereich der Ästhetik verortet wird. Ebenso erweitert ein solches Verständnis ästhetischer Praktiken auch die Menge ästhetischer Objekte. Wenn ästhetische Objekte eine sinnliche und selbstbezügliche ästhetische Wahrnehmung evozieren, dann kann die Inneneinrichtung designter Bürowelten genauso gemeint sein wie Gegenstände alltäglicher Hausarbeit. Was hier als ästhetisches Objekt zählt, wird nicht zwingend durch die Zugehörigkeit zum künstlerischen Feld bestimmt, etwa dadurch, dass es im Museum ausgestellt wird, sondern durch verschiedene Praktiken entsprechend als ästhetisches Objekt behandelt und hervorgebracht. Ein solcher Blick auf das Tun der Akteur*innen gibt Aufschluss über die konkreten Produktionsgegebenheiten. Die Gestalt von Arbeit wird so nicht mehr als black box, sondern als materiale Arbeitsform beobachtbar. Es wird sichtbar, was konkret im Fall ästhetischer Arbeit getan wird. Wenn mithilfe detaillierter empirischer Analysen die konkreten Arbeitsbedingungen und -formen perspektiviert werden, ermöglicht das wiederum einen spezifischen Standpunkt der Kritik, der auf die alltäglichen Bedingungen und Umstände ästhetischer Arbeit sowohl im Detail als auch in ihrer Gesamtheit zielt. Der Blick wird hinter die Kulissen verschiedener Arbeitsmythen gelenkt, wie sie beispielsweise im Diskurs um Kreativarbeit als passionierte Tätigkeit zu finden sind (exemplarisch: Florida 2002). Demgegenüber werden zum Beispiel die vielfältigen Anforderungen an die Arbeitssubjekte deutlich. Deutlich wird so, dass Arbeitnehmer*innen im Feld der Kreativarbeit, wie auch in anderen Arbeitsbereichen, mit einer ausgeprägten Unsicherheit ihrer erwerbsarbeitlichen Lage konfrontiert sind und ein korrespondierendes Risiko- und Kontingenzmanagement ausbilden (müssen), was sich in konkreten Praktiken niederschlägt, zum Beispiel im Aufbau von beruflichen Netzwerken, im proaktiven Akquirieren von Aufträgen, im möglichst langen Offenhalten von Optionen (Manske 2007), allesamt keine konkrete Arbeit am Inszenierungswert von Objekten, aber zentraler Bestandteil ästhetischer Arbeit. Analysen ästhetischer Arbeitspraxis und -prozesse verdeutlichen so die vielfältigen Strategien, zwischen künstlerischem Ausdruck und wirtschaftlichen Zwängen zu vermitteln und nehmen die Anforderungen ständiger Reorganisation und Aushandlungsprozesse in der ästhetischen Ökonomie zum Ausgangspunkt der Kritik (Boltanski und Chiapello 2006). Eine solche Perspektive vergrößert

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analytisch den Bereich der vielfach unsicheren Verknüpfungen von alltäglicher Arbeits- und Lebensführung im Bereich ästhetischer Arbeit und macht sie damit kritisierbar. Die vielfältigen Erwerbskonstellationen in der ästhetischen Produktion mit ihren Multijobs, simultanen Projektverantwortungen, beschleunigten Arbeitsbedingungen, sowie dem periodischen Auf und Ab der Existenzsicherung gehen oft mit privaten Unsicherheiten einher, die durch eine solche Perspektive im Detail sichtbar werden (etwa McRobbie 2016, S. 87 ff.). Ebenso deutlich werden durch diese Mikroperspektiven auf den Arbeitsprozess die Wiedereinführung von Machtasymmetrien und Weisungsbefugnissen in den vermeintlich machtlosen Zentren flacher Hierarchien (McKinlay und Smith 2009). Indem Brainstorming-Sitzungen etwa konversationsanalytisch aufgeschlüsselt werden, kann gezeigt werden, dass derartige (vermeintlich) egalitäre Praktiken auch hierarchisch strukturiert sind (Matthews 2009).5 Traditionelle Befugnisse werden hier unterschwellig wieder in die Organisation ästhetischer Arbeit eingeführt, obwohl sie in zahlreichen Bereichen gerade keine Rolle spielten.

2.2 Affekt- und Entfremdungskritik Die zweite Form einer Ästhetisierung der Arbeitspraxis bezieht sich auf das affektive Erleben von Arbeit. Arbeit wird hiernach zu einem Erlebnis, dessen Vollzug eine ästhetisierende Dimension aufweisen kann. Ästhetische Arbeit gerät als unmittelbare sensorische Erfahrung in den Blick, die zugleich eine zentrale Qualität von Arbeit darstellt. Die Bedeutung dieses ästhetischen Arbeitserlebnisses wird zum einen von den Arbeitenden selbst als eine positive Erfahrungsdimension bestimmt, die so eine erfüllte Tätigkeit ermöglicht. Zum anderen gilt die ästhetische Eingebundenheit als Garant für ökonomischen Erfolg. Es ist der strategische Einbezug jeglicher Tätigkeitsdimension in den Arbeitsprozess, der für Innovation sorgen soll. In der Arbeitsforschung wurde diese Entdeckung subjektbezogener, spezifischer Erfahrungsdimensionen unter anderem mit dem Begriff der „Subjektivierung von Arbeit“ (Moldaschl und Voß 2002) oder dem Hinweis auf „affective labor“ (Hardt 2002) gefasst. Genau hier setzt eine Kritik ästhetischer Arbeitspraxis als affektiver Arbeitspraxis an. Zunächst wird die konkrete Form der praktischen Anrufung als selbstästhetisierende Arbeitsakteurin deutlich. Die Einbindung in die Arbeitstätigkeit,

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dies allerdings von Fall zu Fall differiert, zeigt Krämer (2014a, S. 205).

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verstanden als „passionate work“, (McRobbie 2016, S. 103), kann als materielle Tätigkeit beschrieben und in ihrer Sogwirkung empirisch nachvollzogen werden. Wie hat man sich affektive Arbeitstätigkeiten vorzustellen? Wie wird in der Arbeitspraxis eine derart „seductive offer […] with pleasure in work“ (McRobbie 2016, S. 105) angeboten? Kritisierbar wird somit das grundsätzliche Eingenommensein von der Arbeit, welches ganz anders als bei Marx nicht in der Entfremdung von der eigenen Person liegt, sondern in einem Zuviel an Nähe zwischen Selbst und Arbeitsgegenstand verortet ist. Bei Marx heißt es, der oder die Arbeitende sei in der Arbeit „außer sich“, da der zergliedernde Prozess der Fabrikarbeit nicht zum Wesen der Arbeitsperson gehöre und diese daher „keine freie physische und geistige Energie“ (Marx 1968, S. 514) ermögliche. Die Arbeit „ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen“ (Marx 1968, S. 514). Anders in der ästhetischen Arbeit: Hier geht es um den Einbezug des ganzen Wesens mitsamt eigener Fähigkeiten und affektiver Gestimmtheiten. Aber gerade die Intensität des Einbezugs verhindert die nötige Selbstreflexion gegenüber der Arbeitstätigkeit. Die Freude an der Arbeit wird dann als Selbstverwirklichung interpretiert, was beispielsweise die Prekarität der Arbeitssituation verschleiere (Boltanski und Chiapello 2006; Lorey 2007). Auch jenseits dieser Grundsatzkritik finden sich weitere Kritikmaßstäbe: Erstens lassen sich über die Analyse konkreter Formen ästhetischen Arbeitens die Unterschiede ästhetisch-affektiven Eingebundenseins identifizieren. Nicht jede Art hingabevollen, selbstzweckhaften Arbeitens ist gleichermaßen kritisierbar. Beispielsweise zeigt Angela McRobbie (2016, S. 110), dass sich im Feld der Kulturproduktion bei jungen Frauen zuweilen ein „girlish enthusiasm“ beobachten ließe, der eine Re-Traditionalisierung von Geschlechterrollen nach sich ziehe, die kritisch einzuschätzen sei. Hingegen ist Affektivität am Arbeitsplatz nicht per se ein Nachteil, wie Sennett in seiner Suche nach Bedingungen guter Arbeit zeigt (Sennett 2012, S. 267 ff.). Dies verweist zweitens auf feldinterne Wertordnungen verschiedener ästhetischer Tätigkeiten. Ist etwa ein enthusiatisches Eingebundensein besser als eine analytisch-ästhetische Herangehensweise, die ihren Genuss aus der systematischen Zergliederung des Arbeitsgegenstandes zieht? Frag- und kritikwürdig wird hierbei der Maßstab ästhetischen Erlebens im Arbeitsprozess. So scheint das Fehlen eines ekstatischen Moments auf die mangelnde Qualität der Arbeit hinzuweisen. Dies wurde bereits von Arlie Russel Hochschild (1990) in ihrer Studie zur Gefühlsarbeit angeführt: Erst wer lernt zu lächeln, schafft es auch, eine gute Flugbegleiter*in zu sein. Dies lässt sich auch für das Feld der kreativen Arbeit erweitern. Das richtige Gespür für den Entwurf zu besitzen, ist an die richtige Form ästhetischer Arbeit geknüpft. Eine Mikroanalyse ästhetischer Arbeitspraxis ermöglicht es, derartige Formen der Selbstentfremdung zu verdeutlichen.

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2.3 Oberflächenkritik Schließlich wird im dritten Fall die ästhetische Arbeitspraxis durch einen genealogischen Verweis bestimmt. Arbeit ist demnach ästhetisch, weil einzelne Arbeitspraktiken und Objekte dem künstlerischen Feld entstammen bzw. grundlegende Bezüge dazu aufweisen. Ob die einzelnen Praktiken dabei historisch in ihrem Ursprung auf das Kunstfeld zurückzuführen sind, ist nicht immer eindeutig festzumachen. Wichtig ist allerdings die soziale Identifikation derartiger Praxis als künstlerisch oder als ursprünglich dem Kunstfeld zugehörig. In diesem Kontext findet sich eine Kritik an der Ästhetisierung von Arbeit, welche diese als falsche Schönheit, als Oberflächenschein entlarven möchte. Prominent ist dies von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (2002) in ihrer Kritik der „Kulturindustrie“ sowie in Wolfgang Fritz Haugs (2009) „Kritik der Warenästhetik“ formuliert worden. Eine solche Position setzt maßgeblich auf eine Differenz von ästhetisch als selbstreferenzielle Qualität auf der einen und die Indienstnahme des Ästhetischen in die kapitalistische Warenproduktion auf der anderen Seite. Adorno disqualifiziert einen damit einhergehenden Lebensstil: „Der ästhetische Schein wird zum Glanz, den Reklame an die Waren zediert, die ihn absorbieren; jenes Moment der Selbständigkeit jedoch, das Philosophie eben unterm ästhetischen Schein begriff, wird verloren“ (Adorno 1984, S. 299). Was hier kritisiert wird, ist der Verlust der (bürgerlichen) Autonomie künstlerischer Produktion. Ästhetische Arbeit wird zu einer Arbeit an der Aufrechterhaltung eines äußerlichen Scheins degradiert. Eine derartige Vereinnahmung künstlerischer Ideale und Prozesse verschaffe innerhalb der kapitalistischen Ökonomie einen Wettbewerbsvorteil, allerdings zulasten der Eigenart des künstlerisch Schöpferischen – die Ästhetisierung der Arbeit entpuppt sich so als Ökonomisierung des Ästhetischen. Bei Haug wird diese Deutung noch zugespitzt: In der spätkapitalistischen Warenproduktion wie auch im zeitlich darauffolgenden High-Tech-Kapitalismus ist die Ästhetisierung der Objekte Ausdruck einer Verschiebung des Verhältnisses von Gebrauchs- und Tauschwert. Es geht laut Haug in kapitalistischen Tauschverhältnissen nur um das „Gebrauchswertversprechen“ einer Ware und nicht um deren eigentlichen Gebrauchswert. Dieser wird für die Tauschtransaktion nur als bloßer Schein virulent: „Das Ästhetische der Ware im weitesten Sinne: sinnliche Erscheinung und Sinn ihres Gebrauchswerts, löst sich hier von der Sache ab. Schein wird für den Vollzug des Kaufakts so wichtig – und faktischer wichtiger – als Sein. Was nur etwas ist, aber nicht nach ‚Sein‘ aussieht, wird nicht gekauft. Was etwas zu sein scheint, wird wohl gekauft“ (Haug 2009, S. 30).

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Dabei werden nicht nur Kulturgüter, wie noch im Konzept der „Kulturindustrie“, sondern nahezu alle Waren über ihren Tauschwert bestimmt. Die Kritik zielt auch hier auf die Indienstnahme des Ästhetischen für die Ökonomie, allerdings geschieht dies, ohne den Verlust des Ästhetischen als Reflexionspotenzial zu beklagen, sondern es wird der Anteil der Ästhetik an der Inszenierung des Sozialen hervorgehoben. Bezogen auf die ästhetische Arbeit, qualifiziert eine solche Kritik ehemals künstlerische Praxis in ökonomischen Kontexten als bloße Atmosphärenproduktion, die nichts Substantielles anbietet, als falsche Inszenierungsqualität. Eine Ergänzung bietet Gernot Böhme an. Er hält Haug vor, dass dieser die Inszenierungsdimension als szenischen Wert der Produktion unterschätze: „Der Wert der Waren, wenn er nicht in der Nützlichkeit zu irgendwelchen lebensweltlichen Verrichtungen besteht, braucht keineswegs nur darin zu bestehen, daß sie einen Tauschwert repräsentieren. Vielmehr werden sie gebraucht gerade in ihrer szenischen Funktion, als Bestandteil eines Stils, als Elemente zur Erzeugung von Atmosphären“ (Böhme 1995, S. 46).

Eine solche Position setzt die Kritik nicht am grundsätzlichen Übergriff der Ökonomie auf die Praxis an, sondern am Hinweis auf die Suggestionskraft der ästhetischen Praxis, die im radikalen Fall zu „Befangenheit, Entfremdung und Verblendung“ (Böhme 1995, S. 47) führe.

3 Fazit Was lässt sich an diesen Praxisformen des Ästhetischen und den korrespondieren Kritikverständnissen sehen? Es wird deutlich, auf welchen unterschiedlichen Ebenen eine Theorie und Empirie der Ästhetisierung der Arbeit ansetzen kann und was das für Konsequenzen für die Formulierung von Kritik bedeutet. Die verschiedenen Analyseebenen stellen entsprechende Perspektiven scharf, die von professionssoziologischen Fragen über Fragen der Subjektwerdung bis hin zu Fragen der Geschichtlichkeit von Praxis reichen und damit auch eine Erweiterung oder Veränderung der eingeschliffenen Kritikdifferenz zwischen Künstler- und Sozialkritik anbieten (Sutter et al. 2017). Im Sinne einer praxistheoretischen Perspektivenergänzung liegt der Gewinn der vorliegenden ­analytischen Z ­ ergliederung in der Fokussierung verschiedener Ebenen, um so verschiedene Mechanismen einer Ästhetisierung von Arbeit auseinanderhalten. Dies gilt gleichermaßen für Ebenen der Kritik. Denn eine differenzierte Analyse

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dessen, was Ästhetisierung der Arbeit heißen kann, setzt bereits den Startpunkt ihrer kritischen Durchdringung. Es bleibt sicherlich weiter zu überprüfen, in welcher Art und Weise sich die Praxis- sowie Kritikformen miteinander vermischen, überlappen oder auch ausschließen und zwar nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern auch auf empirischer Ebene. So lässt sich beispielsweise zeigen, wie sich in neuen sozialen Bewegungen, beispielsweise bei der Euro-Mayday-Bewegung oder auch bei neuen Arbeitsformen wie im Co-Working, Kritikformen miteinander verbinden und etwa die Kritik an Arbeitsbedingungen mit einer Affekt- und Entfremdungskritik einhergehen. Zugleich gilt es, diese Praktiken und Kritikformen auch innerhalb der jeweiligen empirischen Felder zu verorten und aus diesen heraus zu begründen, um nicht nur transzendente, externe Kritikmaßstäbe, sondern auch immanente, interne Perspektiven zu eröffnen. Schließlich ist die Reflexion der eigenen Praxis im Feld ästhetischen Arbeitens, wie in vielen Bereichen auch, ein fester Bestandteil der Selbstbeschreibung.

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Organisationale Ästhetik versus organisationale Anästhetik – Eine atmosphärentheoretisch fundierte Analyse von Machtkonstellationen in Organisationen Christian Julmi 1 Einleitung Das Forschungsfeld der organisationalen Ästhetik – im Folgenden kurz als organisationale Ästhetik bezeichnet – beschäftigt sich allgemein mit der sinnlichen Wahrnehmung und deren ästhetischer Beurteilung in Organisationen bzw. in organisationalen Kontexten (Strati 1999, S. 2; Biehl-Missal 2011, S. 17). Die ästhetische Beurteilung des Wahrgenommenen basiert auf einem implizit-ästhetischen Wissen über das Aussehen, Fühlen, Riechen, Schmecken und Hören von Dingen oder Gestalten des organisationalen Lebens (Ewenstein und Whyte 2007, S. 689). Auch wenn das Feld der organisationalen Ästhetik-Forschung sehr heterogen ist (z. B. McAuley et al. 2007, S. 453 ff.), liegt ihr allgemeines Augenmerk auf sinnlichen und damit nicht-rationalen Elementen des organisationalen Zusammenlebens, um dasjenige zu erforschen, das in der traditionell ausgerichteten Management- und Organisationsforschung verborgen blieb ­(Warren 2008, S. 559). Dies ist deshalb bedeutend, weil die sinnliche Ebene das organisationale Zusammenleben wesentlich beeinflusst – und nicht nur bereichert. Die organisationale Ästhetik zeigt nicht zuletzt, wie dieser Einfluss stattfindet, sodass Möglichkeiten erschlossen werden können, diesen gestaltend zu nutzen. Gerade weil dieser Einfluss auf einer sinnlichen und damit präreflexiven Ebene stattfindet, geht er nicht nur mit einem erheblichen Machtpotenzial einher, ­ C. Julmi (*)  FernUniversität Hagen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_3

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s­ ondern bedarf auch eines kritischen Diskurses. Voraussetzung dafür ist allerdings zunächst ein grundlegendes Verständnis dafür, wie sich ästhetische Phänomene in organisationale Machtverhältnisse einordnen lassen. Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin aufzuzeigen, dass es für einen kritischen Diskurs über die mit ästhetischen Phänomenen verbundenen Machtpotenziale nicht ausreichend ist, das Augenmerk ausschließlich auf das Ästhetische zu lenken. Vielmehr ist eine Differenzierung zwischen dem Ästhetischen einerseits und dem Anästhetischen andererseits notwendig, um eine Vermischung grundsätzlich verschiedener Diskurse zu vermeiden. Beide Aspekte berücksichtigend setzt der vorliegende Beitrag der organisationalen Ästhetik damit eine organisationale Anästhetik entgegen, die bislang entweder vernachlässigt oder implizit – aber verkürzt – in der organisationalen Ästhetik mitgedacht wurde. Der Beitrag gliedert sich wie folgt. Zunächst werden ausgehend von Welschs Unterscheidung zwischen Ästhetik und Anästhetik zwei verschiedene, aber unmittelbar aufeinander bezogene Seiten der Wahrnehmung herausgearbeitet. Im Anschluss wird diese Unterscheidung in Böhmes Theorie der Atmosphären eingebettet, um die (an)ästhetische Wahrnehmung in einen intersubjektiven Wirkzusammenhang zu stellen. Davon ausgehend werden dann drei verschiedene Machtkonstellationen erarbeitet: 1) die ästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären, 2) die anästhetische Erzeugung anästhetischer Atmosphären sowie 3) die anästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären. Wie der Beitrag zeigt, sind diese Konstellationen aus einer kritischen Perspektive sehr unterschiedlich gelagert und bedürfen jeweils eines eigenständigen Diskurses. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit ab. Insgesamt versteht sich der Beitrag als Ausgangspunkt für weitere Forschungsarbeiten, die sich dem kritischen Diskurs der aufgezeigten Machtkonstellationen im Detail widmen.

2 Die ästhetische und die anästhetische Seite der Wahrnehmung Der Begriff der Ästhetik geht auf den griechischen Begriff aisthesis zurück und bedeutet zunächst „die Wahrnehmung betreffend“. Von der Wahrnehmung ausgehend lassen sich in Bezug auf die Ästhetik dann mit Welsch zwei wesentliche Aspekte ableiten. Auf der einen Seite steht die Empfindung, die bei der Ästhetik als lustvoll und allgemein gefühlsbezogen beschrieben wird. Ästhetische

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Empfindungen beschreiben eine positive Qualität. Auf der anderen Seite steht die sinnliche Erkenntnis des Wahrgenommenen (Welsch 1996, S. 26), das sich auf ein Verstehen in der Wahrnehmung bezieht (Ropo und Sauer 2008, S. 470). Ästhetische Erfahrungen vermitteln ein sinnliches, leibliches, ganzheitliches und implizites Wissen (Strati und Montoux 2002, S. 764). Derartige Erfahrungen beschränken sich in keiner Weise auf das Betrachten von Kunstwerken, sondern finden sich potenziell in allen Lebensbereichen wieder. Auch das Lösen eines Problems kann beispielsweise eine ästhetische Erfahrung darstellen (Zuo 1998, S. 310), vor allem dann, wenn sie als Geistesblitz intuitiv und ganzheitlich vermittelt wird. Lösungen zu finden wird allgemein als lustvoll erlebt, selbst dann, wenn von der Lösung kein unmittelbarer Nutzen ausgeht (Brodbeck 1995, S. 22). Erkenntnis stellt allgemein „Gewinn von Wissen“ dar (Schmitz 1990, S. 207), sodass die sinnliche Erkenntnis in der ästhetischen Erfahrung auf etwas Neues, Besonderes, Außeralltägliches verweist, das als gewinnbringend empfunden wird. Eine Wahrnehmung kann entsprechend dann als ästhetisch bezeichnet werden, wenn sie erstens positiv besetzt ist und zweitens in ihr bzw. durch sie etwas Neues verstanden wird. Beide Aspekte sind für ästhetische Erfahrungen notwendig. Eine unlustvolle Erfahrung ist ebenso wenig ästhetisch wie ein haltloses „Naschen an Reizen“ (Schmitz 1977, S. 645). Als ästhetische Einstellung in Bezug auf das Wahrgenommene wird dann jene Einstellung bezeichnet, „die dieser Erfahrung zugrunde liegt, also jene, in der wir uns auf deren Erscheinungsweise konzentrieren“ (Kutschera 1998, S. 74). Kant hat diese ästhetische Einstellung als uninteressiertes oder interesseloses Wohlgefallen bezeichnet, das sich als Wohlgefallen an dem Wahrgenommenen um seiner selbst willen – also ohne einen damit verbundenen Zweck – kennzeichnen lässt (Kant 2001, S. 49 f.). Von diesem Verständnis ausgehend lässt sich dem Begriff der Ästhetik ebenfalls mit Welsch der Begriff der Anästhetik gegenüberstellen, der auf den griechischen Begriff anaisthesis zurückgeht, was so viel wie Empfindungslosigkeit bedeutet. In der Medizin findet sich diese Bedeutung beispielsweise im Begriff der Anästhesie. Die Anästhetik stellt gewissermaßen eine Nicht-Wahrnehmung dar, bei der die Wahrnehmung misslingt oder nicht möglich ist, sodass neben der Empfindungslosigkeit auch keine Erkenntnis in der bzw. durch die Wahrnehmung möglich ist. Geht man von der gestaltpsychologischen Annahme aus, dass menschliche Wahrnehmung notwendigerweise selektiv ist und jedes Wahrnehmen auch ein Nicht-Wahrnehmen ist, zeigt sich, dass jede Wahrnehmung immer eine anästhetische und eine ästhetische Seite hat. Die anästhetische Seite der Wahrnehmung bezieht sich auf den selbstreferenziellen Aspekt der

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­ ahrnehmung,1 der die Wahrnehmung zu einem teilweise geschlossenen SysW tem macht (Welsch 2017, S. 35). Wahrnehmung beruht auf Erfahrungen und den durch diese gebildeten Kategorisierungen. Ohne diese wäre es dem Menschen unmöglich, etwas Bekanntes zu erkennen (Edelman 1993, S. 58). Die ­ästhetische Seite der Wahrnehmung bezieht sich dagegen auf die Umweltoffenheit der Wahrnehmung, also darauf, dass etwas Neues in Erscheinung tritt, das nicht in die gebildeten Kategorien passt und mit der eigenen Erwartungshaltung bricht. So wie das Ästhetische für Neues, Besonderes, Außeralltägliches steht, so steht das Anästhetische für Bekanntes, Normales, Alltägliches. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die von Uexküll (1956) eingeführte Unterscheidung zwischen dem „Merkbild“ und dem „Suchbild“. Das Suchbild entspricht dem, was jemand in der Umgebung erwartet und steht für die anästhetische Seite der Wahrnehmung. Das gleichsam „von den Sinnesorganen gelieferte Merkbild“ (Uexküll 1956, S. 67) repräsentiert demgegenüber das Idealbild einer ungefilterten Wahrnehmung und steht für die ästhetische Seite der Wahrnehmung. Wenn das tatsächlich Vorhandene (Merkbild) zu sehr vom Erwarteten (Suchbild) abweicht, kann es geschehen, dass das Suchbild das Merkbild überschreibt, wie Uexküll an folgendem Beispiel veranschaulicht: „Als ich längere Zeit bei einem Freunde zu Gast war, wurde mir täglich zum Mittagessen ein irdener Wasserkrug vor meinen Platz gestellt. Eines Tages hatte der Diener den Tonkrug zerschlagen und mir statt dessen eine Glaskaraffe hingestellt. Als ich beim Essen nach dem Krug suchte, sah ich die Glaskaraffe nicht. Erst als mein Freund mir versicherte, das Wasser stünde an seinem gewohnten Platz, schossen auf einmal verschiedene Glanzlichter, die auf Messern und Tellern verstreut lagen, durch die Luft zusammen und bildeten die Glaskaraffe. […] Das Suchbild vernichtet das Merkbild“ (Uexküll 1956, S. 83).

1Der

Begriff der Selbstreferenzialität bezieht sich hier (in Anlehnung an Welsch) auf das Wahrnehmungsverständnis der Gestaltpsychologie, nach dem Wahrnehmung immer auch ein selektiver und konstruierender Prozess ist und somit auf die eigene Erfahrung referenziert: „Die Übereinstimmung [des Wahrgenommenen] mit der Wirklichkeit ist niemals unmittelbar gegeben. Was wir im täglichen Leben so bezeichnen, ist allenfalls die Übereinstimmung einer Vergegenwärtigung, z. B. einer Vorstellung, mit dem anschaulich Angetroffenen […], niemals aber die Übereinstimmung des anschaulich Angetroffenen mit dem erlebnisjenseitigen Tatbestand, der in ihm, d. h. in der Wahrnehmung, abgebildet ist“ (Metzger 1941, S. 229, Hervorhebungen im Original). Nicht gemeint ist mit dem Begriff die Selbstreferenzialität als Selbstzweck ästhetischer Einstellung im Sinne eines uninteressierten Wohlgefallens (s. o.). Ein solches Begriffsverständnis findet sich beispielsweise bei Reckwitz (2015).

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Auf der anderen Seite ist es ebenso möglich, dass das Merkbild das Suchbild verändert, wenn das Wahrgenommene nicht den Erwartungen entspricht. Dann vollzieht sich eine spontane Umgestaltung der Wahrnehmung, in der plötzlich Dinge an Gewicht gewinnen, die vorher im Hintergrund waren. Eine solche (ästhetische) Umgestaltung in der Wahrnehmung vollzieht sich bereits auf der Erfahrungsebene, also noch bevor Denkprozesse in Gang gesetzt werden (Waldenfels 2000, S. 66). Jede Wahrnehmung setzt voraus, dass man sich auf etwas einstellt, weshalb Wahrnehmung kein passiver, sondern ein aktiver Prozess ist, in dem Merkund Suchbild, Ästhetik und Anästhetik aufeinander bezogen sind (Waldenfels 2000, S. 145). Weil etwas Neues immer nur auf einem bereits vorstrukturierten Hintergrund hervortreten kann (nichts Außeralltägliches ohne Alltägliches), stellen Ästhetik und Anästhetik zwei Seiten einer Medaille dar. Die Anästhetik stößt der Ästhetik nicht von außen zu, sondern kommt aus ihrem Inneren: „Alles Ästhetische ist als solches schon unweigerlich mit Anästhetischem verbunden“ (Welsch 2017, S. 35). Weil der Mensch selbstreferenziell geschlossen ist, kann er umweltoffen agieren. Die Tatsache, dass jede Wahrnehmung immer ästhetisch und anästhetisch zugleich ist, bedeutet freilich nicht, dass hier keine Spielräume bestünden. Welche Seite der Wahrnehmung betont wird, hängt davon ab, ob jemand eher anästhetisch oder ästhetisch eingestellt ist. Anästhetisch eingestellte Menschen verschließen sich eher gegenüber den Eindrücken ihrer Umwelt und agieren tendenziell eher selbstreferenziell. Ästhetisch eingestellte Menschen bringen dagegen eine höhere Sensibilität und Offenheit für neue Situationen mit und können die Eindrücklichkeit ihrer Umgebung in stärkerem Maße wahrnehmen bzw. sich von dieser ergreifen lassen (Rappe 2006, S. 336). Die Anästhetik der Wahrnehmung hat einen konfirmatorischen Charakter. Sie zeigt sich an einer Betäubung der Sinne und lässt in der Umgebung nur das finden, was sie als Suchbild in diese hineinprojiziert hat. Sie sucht gewissermaßen nach Bestätigung und verkümmert in ihrer Extremform zu einem reinen Konstatieren (Welsch 2017, S. 69–70). Welsch gibt hierzu ein Beispiel: „Viele Touristen bringen heute aus Urlaubsorten als ihre eigenen Erinnerungsbilder Remakes der Werbefotos der Fremdenverkehrsindustrie mit; je größer die Übereinstimmung ist, für desto gelungener gelten dann das Dokument und der ganze Urlaub; dass die Blumen des Schlossparks rot statt wie auf dem Prospekt gelb sind, wird mit einem entschuldigenden Hinweis auf die Jahreszeit erklärt – so drastisch ist die Herrschaft des vorgegebenen Anschauungsideal und die Sehnsucht nach dessen identischer Reproduktion geworden. Der Idealpark wäre der jahreszeitneutrale: synthetisches Gras, synthetische Blumen, synthetische Menschen“ (Welsch 2017, S. 69 f.).

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Die Ästhetik der Wahrnehmung schärft demgegenüber die Sinne und hat einen explorativen Charakter. Sie öffnet sich gegenüber neuen Eindrücken und Abweichungen vom Erwarteten. In ästhetischer Andacht ist sie lustvoll auf sinnliche Ergriffenheit und Erkenntnis gefasst (Schmitz 1977, S. 645). Die Gleichsetzung von Anästhetik mit Nicht-Wahrnehmung ist allerdings insofern etwas irreführend, als die Wahrnehmung im Modus des (überwiegend) Anästhetischen ja durchaus stattfindet, aber eben auf einen konfirmatorischen Charakter beschränkt ist. Das Wahrgenommene wird alleine danach beurteilt, inwieweit es den Erwartungen entspricht. Dazu gehört aber mehr, als alles auszublenden, was nicht ins Bild passt. Dazu gehört auch, in der Umgebung Dinge wahrzunehmen, die nicht ins Bild passen. Da derartige ‚Störelemente‘ nicht ins Bild gehören, lösen sie bei der anästhetisch eingestellten Betrachterin2 ein ‚Störgefühl‘ im Sinne einer kognitiven Dissonanz aus. Kognitive Dissonanzen entstehen, wenn ein neues Ereignis oder eine neue Information nicht zu den bestehenden Erwartungen passt. Kognitive Dissonanzen lösen häufig ein Gefühl des Unbehagens aus, sodass die Betroffenen (bewusst oder unbewusst) auf die Auflösung der kognitiven Dissonanz drängen. Diese Auflösung kann grundsätzlich auf zwei Arten geschehen: entweder durch die Anpassung der eigenen Erwartungen oder durch die Ablehnung der neuen Ereignisse bzw. Informationen (Festinger 1957, S. 1 ff.). Während die Betrachterin im Modus ästhetischer Wahrnehmung für eine Anpassung der eigenen Erwartungen offen ist, tendiert sie im Modus anästhetischer Wahrnehmung zu einer Ablehnung des Neuen, um den Status quo aufrecht erhalten zu können. Entspricht demgegenüber alles den Erwartungen, wird dies als kognitive Konsonanz empfunden. Insofern ist die anästhetische Wahrnehmung auch nicht empfindungslos, sondern bei derjenigen, die anästhetisch eingestellt ist, nicht nur lustvoll besetzt, sondern sie richtet auch ihre Bestrebungen aktiv danach aus, ihre Sinne zu betäuben: Weil die Störung beunruhigend wirkt, verlangt sie nach einem Beruhigungsmittel. Demgegenüber erleben ästhetisch eingestellte Personen das Neue nicht als störend, sondern als anregend und lustvoll. Eine solche Einstellung spiegelt sich beispielsweise in der von dem englischen Dichter John Keats beschriebenen Fähigkeit der „Negative Capability“ wider, die es erlaubt, in Unsicherheit, Mysterien, Zweifeln zu leben, ohne nach Fakten und Begründungen suchen zu müssen, um diese aufgrund der bestehenden kognitiven Dissonanz auf-

2Zur

Berücksichtigung einer gendersensiblen Schreibweise wird im Folgenden ausschließlich die weibliche Form verwendet, obwohl Personen weiblichen und männlichen Geschlechts gleichermaßen gemeint sind (generisches Femininum).

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zulösen und zu rationalisieren. Eine solche Fähigkeit verweist auf eine fantasievolle Offenheit und eine erhöhte Rezeptivität gegenüber der Realität, die darauf abzielt, diese in ihrer vollen und mannigfaltigen Erscheinung zu erfassen (Bate 1963, S. 18). Sowohl das Anästhetische als auch das Ästhetische werden als lustvoll erlebt, allerdings nur für diejenige, die anästhetisch oder ästhetisch eingestellt ist. Bei der Erkenntnis lässt sich dagegen eine scharfe Grenze zwischen Ästhetik und Anästhetik ziehen, denn anästhetische Wahrnehmung ermöglicht keinen (explorativen) Gewinn neuen, sondern nur (konfirmatorische) Bestätigung bestehenden Wissens. Selbst Abweichungen vom Erwarteten dienen dann als Bestätigung dessen, was ohnehin schon gewusst wurde. Beide Modi der Wahrnehmung sind idealtypisch zu betrachten, da jede Wahrnehmung wie beschrieben notwendigerweise anästhetische wie ästhetische Elemente enthält. Entscheidend sind die Schwerpunkte, die gesetzt werden, um vorhandene Spielräume auszuschöpfen.

3 Zur Unterscheidung von ästhetischen und anästhetischen Atmosphären Ob jemand etwas als ästhetisch empfindet oder nicht, hängt vom ‚Geschmack der Betrachterin‘ ab und verweist auf eine subjektive Erfahrung. Auf der anderen Seite bezieht sich die ästhetische oder anästhetische Erfahrung immer auf ein externes Objekt, eine externe Umgebung oder einen externen Event, die als Auslöser etwas Neues in Erscheinung treten lassen oder etwas Bekanntes bestätigen. In der allgemeinen Ästhetik-Forschung wird vor diesem Hintergrund seit Jahrhunderten eine Debatte darüber geführt, ob es sich bei ästhetischen Erfahrungen um eine ausschließlich subjektive Angelegenheit handelt oder nur über den Bezug zu ihrem objektiven Auslöser adäquat verstanden werden kann (Warren 2008, S. 560). Hier wird der Auffassung gefolgt, dass es verkürzt wäre, ästhetische und anästhetische Wahrnehmung nur von der subjektiven Seite aus zu denken, weil beide Modi der Wahrnehmung immer auf eine konkrete Umwelt bezogen sind. Sie lassen sich nur über die Verbundenheit von Subjekt und Umgebung begreifen, sodass sich hier eine enge Verflochtenheit des (An-)Ästhetischen mit dem Atmosphärischen zeigt, die bereits von Schmitz im Rahmen seiner Neuen Phänomenologie herausgearbeitet wurde. Schmitz definiert Atmosphären als „Besetzung eines flächenlosen Raumes oder Gebietes im Bereich erlebter Anwesenheit“ (Schmitz 2012, S. 39). Atmosphären beziehen sich damit sowohl auf die (räumliche) Umgebung als auch auf das (erlebende) Subjekt, wobei diese Verbundenheit insbesondere auf die von Atmosphären ausgehende Macht zurückgeführt

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wird, die sich in der Ergriffenheit oder dem affektiven Betroffensein von Atmosphären zeigt (Schmitz 1969, S. 138 ff.). Atmosphären sind in diesem Sinne ­ganzheitlich wahrgenommene, objektive Gefühlsmächte,3 die den Menschen auf einer leiblich spürbaren Ebene ergreifen und ihn so in seiner Wahrnehmung und seinem Verhalten beeinflussen (Julmi 2018, S. 107). Diese Macht der Atmosphären kann von unterschiedlicher Intensität sein; sie kann den Menschen in eine leichte Stimmung versetzen und ihn eher unterschwellig beeinflussen, sie kann jedoch auch bis zur Besessenheit reichen, bei der die Atmosphäre das Verhalten eines Menschen sehr aufdringlich steuert (Rappe 2006, S. 66 f.). Schmitz betont, dass ästhetische Erfahrungen immer auf einer atmosphärischen Ebene vermittelt werden. Ästhetische Objekte müssen demnach „von objektiven Gefühlen, die an ihnen als Atmosphären zum Vorschein kommen, durchzogen oder umhüllt sein“. Andernfalls blieben sie „kalt und leer, wie eine nichtssagende Schönheit“ (Schmitz 1977, S. 623). Von Schmitz ausgehend hat dann Böhme seine Neue Ästhetik explizit als Theorie der Atmosphäre konzipiert: In Atmosphären von Umgebungen, seien es nun Atmosphären von Landschaften, von Plätzen oder Innenräumen, kann man ‚hineingeraten‘. Atmosphären ‚hängen‘ an Dingen und gehen von Dingen und Menschen aus, Atmosphären sind zwar nicht ‚objektiv‘ – und das heißt im Sinne neuzeitlicher Wissenschaft durch Apparate – feststellbar, aber es gibt gleichwohl darüber eine intersubjektive Verständigung. Ebenso wie eine Theorie der Befindlichkeit könnte man also die Ästhetik, auf die wir uns zubewegen, eine Theorie der Atmosphären nennen. Die Ästhetik als Wahrnehmungstheorie in uneingeschränktem Sinn hat eben damit zu tun, dass man sich durch Umgebungen und Gegenstände affektiv betroffen fühlt bzw. sich jeweils in Umgebungen oder in Anwesenheit bestimmter Gegenstände in charakteristischer Weise befindet (Böhme 1989, S. 11).

3Es

sei darauf hingewiesen, dass Schmitz ein nicht-dualistisches Verständnis von Subjektivität und Objektivität eingeführt hat, das als Grundlage der Atmosphärenforschung gelten kann. Für Schmitz sind es nicht primär Objekte oder Subjekte, die objektiv oder subjektiv sind. Vielmehr beziehen sich Objektivität und Subjektivität auf Tatsachen (oder allgemeiner Sachverhalte). Eine objektive Tatsache ist gegeben, wenn sie von jeder Person ausgesagt werden kann, die über hinreichend Informationen verfügt. Eine subjektive Tatsache ist dagegen gegeben, wenn sie nur von der betroffenen Person ausgesagt werden kann. Die Atmosphäre stellt eine objektive Tatsache dar, die jedoch auch zu einer subjektiven Tatsache werden kann, wenn sie jemanden ergreift. Subjektive Tatsachen sind gegenüber objektiven Tatsachen reichhaltiger, weil sie eine Ichhaftigkeit oder (mit Heidegger) Jemeinigkeit besitzen, die der objektiven Tatsache fehlt. In einem Raum kann es verschiedene objektive Atmosphären geben, aber eine Person kann höchstens von einer Atmosphäre subjektiv ergriffen sein (Schmitz 1969, S. 51–51; Julmi 2016a).

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Hat der Begriff der Atmosphäre als eigenständiges Konzept lange Zeit kaum eine Rolle in der organisationalen Ästhetik gespielt (Julmi 2015, S. 81), existieren inzwischen einige Ansätze, die das Potenzial des Atmosphärischen für die organisationale Ästhetik aufzeigen (z. B. Biehl-Missal 2013; Michels und Steyaert 2017; Sloane 2015; Beyes 2016). Die Beschäftigung mit Atmosphären erlaubt es, die Verbindung des Menschen mit seiner Umgebung als Knoten leiblicher, räumlicher, situativer und affektiver Kräfte zu verstehen, der den Menschen mit seiner Umgebung auf einer präreflexiven Ebene verschränkt. Dabei gilt, dass sowohl das Ästhetische als auch das Anästhetische atmosphärisch vermittelt werden. Ästhetische Atmosphären gehen über das Konventionelle hinaus oder brechen mit herrschenden Konventionen, indem sie die Aufmerksamkeit auf einzigartige Qualitäten lenken, die die Erfahrung auf eine neue und kreative Weise stimulieren. Anästhetische Atmosphären basieren dagegen auf Qualitäten, die den Erwartungen der in ihnen weilenden Menschen entsprechen bzw. bestätigen. Ein Museum stellt beispielsweise eine Umgebung dar, in der die Sinne durch ästhetische Atmosphären angeregt werden sollen, um bei der auf Resonanz treffenden Besucherin eine ästhetische Erfahrung zu evozieren. Auf einem Weihnachtsmarkt basiert die Atmosphäre dagegen in erster Linie auf den Erwartungen der Besucher darüber, wie die Atmosphäre auf einem Weihnachtsmarkt zu sein hat (Julmi 2016a, 2017, S. 13). Hier kann schon das falsche Wetter die weihnachtliche Atmosphäre verderben, weshalb sich die weihnachtliche Atmosphäre auch nur schwer im Hochsommer inszenieren lässt (Großheim et al. 2015, S. 37). Bei beiden Beispielen gilt selbstverständlich, dass sie sich nur über ihre Schwerpunkte unterscheiden und Bekanntes in Museen schon wegen der Orientierung ebenso zu finden ist wie ein ‚bisschen Neues‘ dem Weihnachtsmarkt sicher nicht schadet (Julmi 2016a, 2017, S. 13). In anästhetischen Atmosphären sind die Erfahrungen durch die von der Alltäglichkeit vorgegebenen Erwartungen begrenzt, die ihrerseits darauf warten, bestätigt zu werden. Anästhetische Atmosphären können schon dadurch gestört werden, dass ein Fremder in die zwischenmenschliche Atmosphäre eindringt und diese stört, da er nicht auf sie ‚eingestimmt‘ ist und den Rahmen des Erwartbaren sprengt (Böhme 2006, S. 41). Gerade dieser Verweis auf die zwischenmenschliche Atmosphäre zeigt aber auch, dass anästhetische Atmosphären keineswegs von Stumpfsinn und Trägheit geprägt sein müssen. Eine anästhetische Atmosphäre kann auch „handlungsentlastet erfahren“ (Böhme 2013, S. 16) werden, wenn von ihr kein Impuls in Richtung einer bestimmten Handlung (oder eines bestimmten Gedankens) ausgeht. Dies trifft in besonderem Maße auf die gemütliche Atmosphäre zu, die eine anästhetische Atmosphäre darstellt, deren beruhigende Wirkung die Anwesenden spürbar entlastet. Wenn jemand in eine gewohnte Umgebung, in der alles ‚an

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seinem Platz‘ ist, zur Ruhe kommt, fungiert die Umgebung gewissermaßen als Sedativum, das die Erfahrung auf eine angenehme Art und Weise betäubt und vorhersehbaren Raum zur Erholung bietet. Anästhetische Atmosphären können ihren ‚Bewohnerinnen‘ in diesem Sinne Identität, Kontext, Orientierung und Erholung stiften (Julmi 2017, S. 18). Anästhetische Atmosphären können von den eigenen vier Wänden ausgehen, in denen jemand ganz bei sich ist, aber auch von Familien, Partnerschaften und Freunden, deren Geselligkeit Geborgenheit und Bestätigung bietet. Schmitz spricht von einer Atmosphäre des Wohnens, die dadurch entsteht, dass sich eine Person in einer räumlichen Umgebung so einrichtet, dass sich dauerhaft eine Atmosphäre der gewünschten und für angemessen erachteten Weise einstellt (Schmitz 2014, S. 62 f.). Die Möglichkeit eines solchen Wohnens ergibt sich dadurch, dass es ein ‚Drinnen‘ gibt, das vor dem ‚Draußen‘ abgeschirmt wird (Soentgen 1998, S. 80), sodass auch hier ein Störgefühl entstehen kann durch das, was nicht ‚rein‘ oder ‚ins Bild‘ passt und daher die Entlastung stört. Insgesamt ist daher festzuhalten, dass die selbstreferenzielle Geschlossenheit anästhetischer Atmosphären auch aus einer kritischen Perspektive heraus nicht per se als negativ zu betrachten ist.

4 Machtkonstellationen ästhetischer und anästhetischer Atmosphären 4.1 Über die Erzeugung und Wahrnehmung von Atmosphären Indem die Atmosphäre zum zentralen Gegenstand der Erforschung ästhetischer und anästhetischer Erfahrungen erhoben wird, lassen sich die mit diesen Erfahrungen einhergehenden Machtaspekte differenziert beleuchten – denn Atmosphären wirken nicht nur, sie werden auch bewusst erzeugt, um bestimmte ästhetische und anästhetische Erfahrungen hervorzurufen. Es gilt daher, neben der Wahrnehmung auch die Erzeugung oder Produktion ästhetischer und anästhetischer Atmosphären in den Blick zu nehmen und ihr gegenüberzustellen. Böhme differenziert in seiner Neuen Ästhetik vor diesem Hintergrund zwischen der Rezeption und der Produktion von Atmosphären: „Die neue Ästhetik ist also auf seiten der Produzenten eine allgemeine Theorie ästhetischer Arbeit. Diese wird verstanden als die Herstellung von Atmosphären. Auf seiten der Rezipienten ist sie eine Theorie der Wahrnehmung im unverkürzten Sinne. Dabei wird Wahrnehmung verstanden als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen“ (Böhme 2013, S. 25).

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Die ästhetische Arbeit als Herstellung von Atmosphären lässt sich dann mit Reckwitz als ästhetische Praxis bezeichnen (Reckwitz 2015, S. 22), der angesichts der hier zusätzlich eingeführten Differenzierung jedoch eine anästhetische Praxis gegenüberzustellen ist. Anästhetische Praktiken stellen primär routinisierte und gewohnheitsmäßige Verhaltensformen dar, die auf implizitem Wissen beruhen und einen überwiegend handwerklichen Charakter haben. Sie können erlernt und mehr oder weniger zuverlässig ausgeführt werden. Ästhetische Praktiken stellen dagegen primär improvisierte und experimentelle Verhaltensformen dar, die zwar letztlich auch auf Routinen und damit auf implizitem Wissen beruhen, sich aber gleichzeitig spielerisch und kreativ von diesen lösen, um der Einmaligkeit und der Besonderheit des aktuellen Kontextes Rechnung zu tragen bzw. der eigenen Inspiration zu folgen (Julmi 2016b, S. 47 f.). Ästhetische Praktiken sind im Vergleich zu anästhetischen Praktiken eher Kunst als Handwerk, auch wenn sie auf einem handwerklichen Fundament aufbauen. Sie sind nicht wiederholungsfähig bzw. verlieren durch die Wiederholung ihren ästhetischen Charakter. Da mit Böhme die praktische Erzeugung (Produktion) von der Wirkung (Rezeption) zu trennen ist, implizieren weder ästhetische Praktiken eine ästhetische Erfahrung noch umgekehrt anästhetische Praktiken eine anästhetische Erfahrung der Rezipienten. Vielmehr können ästhetische Praktiken auch überwiegend anästhetisch wirken, während anästhetische Praktiken ästhetische Erfahrungen hervorrufen können. Insgesamt sind daher vier Konstellationen der Erzeugung und Wirkung zu unterscheiden: 1) die ästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären, 2) die anästhetische Erzeugung anästhetischer Atmosphären, 3) die anästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären sowie 4) die ästhetische Erzeugung anästhetischer Atmosphären. Wie die nachfolgende Analyse zeigt, ergeben sich für die genannten Konstellationen aus einer Machtperspektive heraus höchst unterschiedliche Implikationen und sind daher jeweils gesondert zu diskutieren. Das im Kontext atmosphärentheoretisch motivierter Untersuchungen verwendete Verständnis von Macht bezieht sich auf das Vermögen atmosphärischer Kräfte, in die Befindlichkeit des Menschen einzugreifen und ihn auf diese Weise in seiner Wahrnehmung und seinem Verhalten zu beeinflussen. Atmosphären drücken oder heben das Gemüt, sie manipulieren die Stimmung, sie evozieren bestimmte Emotionen und wirken damit handlungsleitend. Sie bemächtigen sich eines Menschen auf einer unbewussten oder präreflexiven Ebene und sind von diesem meist schwer zu durchschauen. Demgegenüber lassen sich ästhetische oder anästhetische Praktiken ganz bewusst dazu einsetzen, in die Befindlichkeit eines Menschen einzugreifen und sein Verhalten auf einer unterschwelligen Ebene zu manipulieren. In der Wirtschaft wird diese Macht seit jeher genauso genutzt wie in der P ­ olitik

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oder in religiösen Gemeinschaften. Vor diesem Hintergrund betont Böhme die immense Bedeutung einer kritischen Auseinandersetzung mit der „Ästhetik der Atmosphären“ (Böhme 2013, S. 39), die nachfolgend gemäß der genannten Konstellationen strukturiert werden und damit um den Aspekt einer „Anästhetik der Atmosphären“ erweitert werden soll. Da der vierte Fall der ästhetischen Erzeugung anästhetischer Atmosphären für eine organisationsbezogene Analyse wenig relevant erscheint,4 soll dieser zwar nicht ausgeschlossen werden, findet in der nachfolgenden Analyse jedoch keine Berücksichtigung.

4.2 Die ästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären Eine fundamentale Eigenschaft ästhetischer Atmosphären liegt in ihrer Macht, die Wahrnehmung auf einzigartige und unerwartete Aspekte zu lenken, die den Wahrnehmenden mit dem aktuellen Moment verbindet. Aufgrund der Nicht-­ Alltäglichkeit heben ästhetische Atmosphären den Menschen aus ihrer Alltagswahrnehmung heraus und öffnen dadurch einen Spielraum für neue Einflüsse (Rauh 2012a, S. 205). Ästhetische Atmosphären haben die Macht, die Erwartungen zu modulieren. Wenn Besonderheiten bestimmter Erscheinungsformen wie selbstverständlich ins Auge fallen, wird eine ästhetische Aufmerksamkeit erregt, die in Museen durch die Möglichkeit eines Innehaltens in großzügigen, nicht zu stark frequentierten Räumen geboten wird (Kazig 2008, S. 158). Die erzeugte ästhetische Aufmerksamkeit öffnet den Raum für neue Einflüsse, die sich in Aha-Erlebnissen, neuen Gelegenheiten, Serendipität, Andeutungen, Implikationen oder subtilen Stoßen in eine bestimmte Richtung äußern können (Linstead 2000, S. 72). Die ästhetische Atmosphäre in einem Museum etwa erzeugt eine spürbare Präsenz, die sich mit unseren alltäglichen Konzepten nicht vereinbaren lässt (Bjerregard 2015, S. 31). Gerade indem unsere Erwartungen durchbrochen werden, können sich neue Erwartungen herausbilden, die das Potenzial haben, das soziale Miteinander neu zu formen. Die in einem Museum vermittelten ästhetischen Atmosphären gehen von der künstlerischen Qualität bzw. der mit dieser verbundenen Einmaligkeit der Exponate aus. Man spricht auch von der spezifischen Aura eines Gemäldes,

4Ein

solcher Fall ist etwa gegeben, wenn ein inspirierter Künstler Atmosphären schafft, die auf andere (z. B. ein Kunstkritiker) wenig innovativ wirken. Derartige Konstellationen scheinen für eine Machtperspektive im Kontext von Organisationen wenig ergiebig.

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ein Begriff, der in diesem Zusammenhang insbesondere von Benjamin geprägt wurde. Benjamin wandte den Aura-Begriff hauptsächlich auf Kunstwerke an und machte die Aura eines Kunstwerks vor allem an seiner Einmaligkeit und Besonderheit fest (Benjamin 1996, S. 13; Julmi und Rappe 2018, S. 28). Über die Aura der Mona Lisa schreibt beispielsweise Rauh: „Die Aura der ‚Mona Lisa‘ besteht […] in der Besonderheit der Erscheinung, die einem Wahrnehmenden in einem augenblicklichen Hier und Jetzt seitens des Bildträgers der ‚Mona Lisa‘ die Gegenwärtigkeit der unverfügbaren Vergangenheit und der Historie – nicht nur des materiellen Bildträgers, sondern auch des dargestellten Bildobjektes, die persönlich und gesellschaftlich mit ihm verbundenen Assoziationen und Konnotationen – gewahr werden lässt, damit die Augenblicksempfindung bewusst macht und die Gegenwart der Wahrnehmung aus der alltäglichen Wahrnehmung heraushebt“ (Rauh 2012b, S. 46).

Auf diese Weise hebt die Betrachtung des Kunstwerks die Betrachterin aus ihrer alltäglichen Wahrnehmung heraus und fördert eine Öffnung für neue Impulse des Hier und Jetzt. Es werden Lernvorgänge initiiert, die eine Künstlerin bei der Schaffung eines Werks nutzen kann, um die Betrachterinnen auf eine bestimmte Weise zu manipulieren. Das Beispiel der Mona Lisa zeigt zudem, wie wichtig die räumliche Gestaltung einer Ausstellung ist, denn die touristisch-hektische Atmosphäre im Mona-Lisa-Saal des Louvre lädt eher nicht zu einer ehrfurchtsvoll-ästhetischen Andacht ein (Rauh 2012b, S. 161), sodass sich auch die ästhetische Wirkung des Werks nur eingeschränkt entfalten kann. Neben Gemälden können beispielsweise auch inspirierte und einzigartige Musikstücke die Hörerin derart fesseln, dass sie ganz aus ihren alltäglichen Erwartungen herausgehoben und für neue Impulse geöffnet wird. Die negative Seite einer solchen ästhetisch-manipulativen Erfahrung lässt sich plakativ mit den Sirenen der griechischen Mythologie veranschaulichen, die mit ihrem betörenden Gesang Schiffer anlockten, um sie zu töten. Selbst Odysseus konnte sich dieser ‚archaischen Übermacht‘ nur mit dem Trick entziehen, sich fesseln zu lassen, während seine rudernden Gefährten Wachs in den Ohren hatten, um dem Gesang nicht zu verfallen (Horkheimer und Adorno 2012, S. 66–67). Das Gemälde oder das auf einen Tonträger gebannte Musikstück stellen fixierte ästhetische Atmosphären dar (Rappe 2013, S. 69), die die ästhetische Praxis der Künstlerin gleichsam konservieren und damit auch für den Einsatz in Organisationen dauerhaft zugänglich machen – was allerdings nicht jede Künstlerin gut findet und es Fälle gibt, in denen die Künstlerin das von einem Unternehmen erworbene Kunstwerk wieder zurückkauft, weil der Einsatz als Missbrauch zur Aufwertung der Unternehmensreputation gewertet wird

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(Biehl-Missal 2011, S. 103). Gegenüber künstlerisch fixierten ästhetischen Atmosphären ist die Möglichkeit, durch ästhetische Praktiken in der direkten Interaktion ästhetische Atmosphären zu erzeugen, weitaus fragiler. Da ästhetische Atmosphären als solche immer einzigartig sind und der aktuellen Situation entspringen, liegt die Schwierigkeit ihrer Erzeugung in einer allgemeinen Unverfügbarkeit und damit Unvorhersehbarkeit (Julmi 2017, S. 18). Hierzu bedarf es einer Art ‚dionysischen‘ Denkhaltung, die Costea et al. (2005) als Geist der spielerischen Überschreitung und Zerstörung von Grenzen fassen und als eine zunehmend an Relevanz gewinnende Denkfigur modernen Managements beschreiben. Die gezielte Herbeiführung einer ästhetisch induzierten atmosphärischen Modulation geht weit über das Handwerkliche hinaus. Sie hat oft etwas ‚Geniales‘ und basiert auf einer Hingabe an eine Inspiration, die sich spontan entfaltet und sich so ihre eigene Ausdrucksform schafft (Rappe 2010b, S. 696). Dies lässt sich metaphorisch gut an der mythologischen Figur des ‚Tricksters‘ veranschaulichen. Ein ‚Trickster‘ ist ein doppeldeutiger, schelmischer Charakter aus alten Volkssagen, der in verschiedenen Spielarten in vielen Kulturen vorkommt (z. B. Hermes in Griechenland, Loki in Nordeuropa, Krishna in Indien) und meist eine Art ‚Halbgöttin‘ verkörpert, was sowohl auf seine geniale Macht als auch auf seine fehlbare Menschlichkeit verweist. Der ‚Trickster‘ zeichnet sich dadurch aus, dass er gegen etablierte Rituale und Moralvorstellungen verstößt bzw. diese umdeutet und so zur Erschaffung neuer Werte und sozialer Ordnungen anregt. Eine wesentliche Eigenschaft des ‚Tricksters‘ ist seine Wandlungsfähigkeit und die künstlerische Raffinesse, mit der er sich unermüdlich in alle möglichen Richtungen zu drehen vermag. Als Grenzüberschreiter hinterfragt er den Status quo und steht damit für Bewegung und Wandel. Der ‚Trickster‘ hat aber auch eine dunkle Seite und gilt als arrogant und hybrid. Er führt die Menschen häufig absichtlich in die Irre, um seine wahren Motive zu verschleiern und eigene, egoistische Ziele zu erreichen (White und Wastell 2014, S. 57 ff.). Die ästhetische Inszenierung des ‚Tricksters‘ wird meist durch sein Charisma unterstützt (SealeCollazo 2012, S. 186 f.), das als „außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit“ (Weber 1980, S. 140) auf eine ästhetische Weise imponiert. Nach Gabriel spiegelt die Figur des Tricksters ein verbreitetes Narrativ in Organisationen wider, das um die Fantasie einer Heldin kreist, die unvermittelt auftaucht, um selbst die unmöglichsten Situationen des ‚alltäglichen Wahnsinns‘ aufzulösen und gegen die blinden und korrupten Mächte ankämpft, denen sich die Organisationsmitglieder ausgesetzt sehen (Gabriel 1995, S. 486). Eine solche Fantasie kann sinnstiftend wirken und die Atmosphäre des Alltags mit Esprit erfüllen. Sie birgt

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jedoch auch die Gefahr eines Manipuliertwerdens von Personen, die derartige Fantasien zu bedienen wissen und sich entsprechend ästhetisch in Szene setzen können. Insgesamt eröffnen sich mit der Möglichkeit, mittels ästhetischer Praktiken eine atmosphärische Modulation der Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen herbeizuführen, einerseits erhebliche Manipulationsmöglichkeiten (Beyes 2016, S. 115; Michels und Beyes 2016, S. 313), andererseits bedarf es für die Ausübung ästhetischer Praktiken einer hohen Kunstfertigkeit, die sich nicht einfach handwerklich erlernen lässt. Der für die ästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären entscheidende Punkt ist daher, dass dem hohen und in vielen Fällen an der ‚Genialität‘ einzelner Personen – zum Beispiel des charismatischen und in einer Organisation allgegenwärtigen Gründers – hängenden Machtpotenzial eine hohe Unverfügbarkeit gegenübersteht, die aufgrund der Unvorhersehbarkeit einer beständigen (Selbst)Reflexion bedarf, die im Vordergrund eines kritischen Diskurses stehen sollte. Gerade weil die Macht nicht selten in den Händen weniger liegt und von außen schwer zu durchschauen ist, ist sie – durchaus im Sinne der von Juvenal geprägten Redewendung „Quis custodiet ipsos custodes?“ („Wer wird die Wächter selbst bewachen?“) – kritisch zu hinterfragen.

4.3 Die anästhetische Erzeugung anästhetischer Atmosphären Die Fähigkeit zur Erzeugung anästhetischer Atmosphären (z. B. eines Weihnachtsmarkts) durch anästhetische Praktiken stellt gegenüber den ästhetischen Praktiken ein erlernbares Handwerk dar, das sich darin widerspiegelt, inwieweit jemand die Erwartungen derjenigen zu antizipieren vermag, die die Atmosphäre wahrnehmen (sollen). Da anästhetische Atmosphären an ihrer Vorhersehbarkeit festgemacht werden können, liegt ihr Machtpotenzial weniger in einer ästhetischen Modulation (der Erwartungen), sondern vielmehr in einer anästhetischen Affirmation (der Erwartungen), also darin, dass die bestehenden Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern weiter verfestigt werden. Obwohl die Macht auf den ersten Blick bei denjenigen zu liegen scheint, die eine bestimmte Erwartungshaltung haben (z. B. die Kundin als Königin), können anästhetische Atmosphären gezielt dazu genutzt werden, diese selektiv in eine bestimmte Richtung zu verfestigen. Anästhetische Atmosphären erlauben zwar keine direkte Modulation, vermögen aber Gewohnheiten auszubilden, und von denen kommen Menschen bekanntlich nur schwer wieder los (Julmi 2017, S. 19).

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Aus einer kritischen Perspektive sind anästhetische Atmosphären eng mit der Abhängigkeit der Betroffenen und einer damit einhergehenden ­Unmündigkeit verbunden. Wenn Menschen immer das bekommen, wonach sie verlangen, entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem die abhängige Seite paradoxer Weise dieselbe Seite ist, die ihren Willen durchsetzt. Ein plakatives Beispiel eines solchen Machtparadoxons ist die Drogendealerin, die ihren abhängigen Kundinnen nur das gibt, ‚wonach sie verlangen‘, und sich so von jeglicher Verantwortung freimacht. Die Abhängigen werden gleichsam zu ‚unmündigen Kindern‘, die hysterisch werden, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, und alles in Bewegung setzen, um an ihren ‚Stoff‘ zu kommen (Julmi 2017, S. 19). Versteht man Geschmack als Atmosphäre oder atmosphärische Qualität (Tellenbach 1968, S. 14; Schmitz 2013, S. 41), lässt sich ein vergleichbarer Effekt für Teile der Lebensmittelindustrie aufweisen, die mit ausgefeilten Rezepturen bei ihren Produkten über eine optimale Zusammensetzung von Zutaten wie Zucker, Salz und Fett (sogenannter ‚bliss point‘) ein hohes Suchtpotenzial kreieren, obwohl der Verzehr der Produkte bekanntermaßen ungesund ist (Moss 2015, S. 130; Moskowitz 1984, S. 244). In diesen Beispielen lassen sich die anästhetischen Machtstrategien daran festmachen, die Kundinnen solange ‚gefügig‘ zu machen (z. B. durch Gratisproben), bis sie ‚auf den Geschmack‘ kommen und die Befriedigung dieses Geschmacks zu ihrer eigenen Aufgabe machen. Das mit dem Einsatz solcher Praktiken verbundene Machtpotenzial liegt weniger an einer Modulation des Verhaltens, als vielmehr in der Ausbildung von Gewohnheiten und Abhängigkeiten, die eine eindeutige Dominanz des „Suchbilds“ über das „Merkbild“ (Uexküll, siehe oben) aufweisen und jede Abweichung des Wahrgenommenen von diesem Suchbild als negativ erscheinen lässt. Als Organisation die Verantwortung der resultierenden Unmündigkeit von sich zu weisen, greift in jedem Fall zu kurz, auch wenn man mit Rappe durchaus von einer „selbstverschuldete[n] Unmündigkeit“ im Sinne „eine[r] karmische[n] Selbst-Anästhesierung“ (Rappe 2010b, S. 930) sprechen kann. Für Rappe stellt diese selbstverschuldete Unmündigkeit die Folge eines unkontrollierten, alltäglichen Nachgebens „gegenüber gewissen an sich zunächst nicht grundsätzlich negativen Wünschen und Verlangen [dar], das aber auf Dauer zu einer negativen Ausrichtung“ und in „die karge Dimension menschlicher Selbst-Anästhesierung“ führt (Rappe 2010a, S. 64). Obwohl Kunstwerke im eigentlichen Sinne durch ästhetische Praktiken entstehen und eine ästhetische Wirkung entfalten (sollen), gilt dies nicht zwangsläufig für jede Form der Raumgestaltung, des Designs oder der Musik, vor allem dann nicht, wenn nicht die künstlerische Qualität im Vordergrund steht, sondern das Objekt dazu genutzt wird, das Verhalten zum Beispiel von Mitarbeiterinnen und Kundinnen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Insbesondere in

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­ aufhäusern und Hotels wird Musik professionell eingesetzt, um spezifische K atmosphärische Effekte zu erzielen. Meist wird über eine dezente Hintergrundmusik versucht, die Kundinnen auf einer unbewussten Ebene in eine positive Stimmung zu versetzen, um die Kauflaune zu fördern beziehungsweise das Serviceangebot in ein gutes Licht zu rücken, wobei die Musik selbst uninspiriert und langweilig (sprich: vorhersehbar) ist. Ähnliches gilt für die laute Beschallung von Filialen in Modeketten durch aktuelle und beliebte Musik, die zur Identifikation mit vorhersehbaren Reizen und damit zum Eintritt einladen (Biehl-Missal 2011, S. 62). Selbst die Assoziation einer bestimmten Tonfolge mit einer Marke setzt alleine auf Konditionierung durch Wiederholung und nicht auf ästhetische Wirkung, sodass es sich bei derartigen Praktiken nicht um ästhetische, sondern um anästhetische Praktiken handelt, die auf einen anästhetischen Effekt abzielen. Letztlich gehört eine anästhesierende Praxis zum Kern jeder Organisation, da alle Organisationen auf eine Verdrängung und Leugnung jener Aspekte der Organisation zielen, die bei bestimmten Anspruchsgruppen negative emotionale Reaktionen hervorrufen würden. Stattdessen präsentieren sich Organisationen gerne als schön, ordnungsgemäß, human und positiv und leiten einen entsprechenden Prozess der Leugnung oder Maskierung ein, der den Blick auf hässliche, unrechtmäßige, inhumane oder negative Aspekte verstellt (d. h. anästhesiert). Dieser Prozess kann je nach Adressatin innerhalb und zwischen Organisationen sehr verschieden ausgestaltet sein. Ein Hersteller für Fleischprodukte würde beispielsweise kaum auf die Idee kommen, in seiner Werbung die Bedingungen zu thematisieren, unter denen die Tiere gehalten und geschlachtet werden. Vielmehr wird diese Realität gezielt geleugnet, beispielsweise indem das fröhliche Abbild des verarbeiteten Tieres als Emblem für die gute Qualität des Produkts verwendet wird. Obwohl die meisten Kundinnen um die mit den Produkten verbundenen Probleme wissen, wird dieses Wissen gezielt aus der Inszenierung einer Organisation isoliert, um die Organisation als gutartig und allgemein positiv darzustellen. Ähnliches gilt für die Inszenierung einer Organisation gegenüber den eigenen Mitgliedern mit den Mitteln eines Orwellschen Newspeak, verstanden als hyperreale Führungssprache, die ihnen sagen kann, dass sie das größte Kapital der Organisation sind, während sie zur gleichen Zeit ersetzt werden, oder dass die Leistungsbeurteilung ein positives Instrument für die Selbst- und Karriereentwicklung darstellt, während sie gleichzeitig dazu genutzt wird, die Organisationsmitglieder zu kontrollieren und sie für ihre wahrgenommenen Unzulänglichkeiten zur Rechenschaft zu ziehen. Indem die Rhetorik jeden negativen Aspekt in eine gutartige Sprache verpackt, werden die negativen Aspekte beständig verneint, um bei den Organisationsmitgliedern eine positive emotionale Reaktion

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h­ervorzurufen. Durch die beständige Wiederholung der eingesetzten Rhetorik bzw. Praktiken wird die eigene Erfahrung zunehmend anästhesiert. Damit büßen die Organisationsmitglieder wiederum die Fähigkeit ein, die Realität adäquat beurteilen zu können, weshalb sie ihre Verantwortung an höher liegende Instanzen abtreten müssen, wodurch wiederum ihre Abhängigkeit von diesen erhöht wird. Auf diese Weise wird Regelkonformität erzeugt, aufrechterhalten und belohnt. Ein offener Umgang mit negativen Aspekten wäre für die Legitimation einer Organisation und die Aufrechterhaltung des Status quo allerdings problematisch, da Organisationen letztlich gar nicht umhin kommen, ihre Mitglieder durch ihre Praktiken auf lange Sicht zu anästhesieren (Carter und Jackson 2000). Anästhetische Atmosphären dienen aus einer Machtperspektive allgemein dazu, bestehende Machtverhältnisse zu zementieren und jegliche Abweichungen niederzuhalten. Die Festigung von Machtverhältnissen kann sogar durch die Gemeinschaft selbst erfolgen – ein Phänomen, das Heidegger mit seinem Begriff des „Man“ zu fassen versuchte, dass seine Diktatur gerade durch seine Unauffälligkeit und Alltäglichkeit entfaltet: „In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; […] Das Man […] schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor“ (Heidegger 2006, S. 126 f.).

Dadurch, dass der Alltag dem Dasein Struktur verleiht und es durch seine anästhetische Wirkung entlastet, verfestigt es seine hartnäckige Herrschaft. In jedem Fall ist die Wirkung des Anästhetischen mit einem Machtpotenzial der (oft subtilen) Kontrolle verbunden, das sich von demjenigen des Ästhetischen – auch aufgrund der schwierigen Frage nach der Verantwortung – grundlegend unterscheidet und entsprechend gesondert kritisch zu diskutieren ist.

4.4 Die anästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären Aus einer Machtperspektive ist auch eine ‚ästhetische Asymmetrie‘ relevant zwischen denen, die die Atmosphäre erzeugen, und denen, die sie wahrnehmen. In dem hier betrachteten Fall werden anästhetische Praktiken dazu genutzt, eine in den Augen der Adressaten ästhetische Atmosphäre zu evozieren. Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn ein Publikum angesprochen wird, das mit den dahinterstehenden Konventionen nicht vertraut ist. In derartigen Fällen stellt die Erzeugung der Atmosphäre ein Handwerk dar, das vom Publikum als

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e­ inzigartiges Kunstwerk wahrgenommen wird. Derartige Konstellationen finden sich häufig im Tourismusbereich (Julmi 2017, S. 19). Für eine Touristin, die mit den weihnachtlichen Konventionen nicht vertraut ist, kann ein Weihnachtsmarktbesuch beispielsweise in hohem Maße ästhetisch anregend sein. Schmitz spricht ähnlich von sogenannten „Eindruckstechniken“ und veranschaulicht sie an der Werbung für eine Zigarettenmarke mit dem Slogan Peter Stuyvesant. Der Duft der großen weiten Welt, der wie „die Verwandlung der großen weiten Welt in einen Duft, den man in Gestalt des Zigarettenrauchs optisch (als Rauchschwaden), schmeckend und riechend wie eine verträumte Atmosphäre bequem ins traute Heim holen kann, verführerisch auf die diffusen Sehnsüchte vieler Menschen [wirkt]“ (Schmitz 2005, S. 39).

Die ästhetisch wirkende Außeralltäglichkeit werde dabei nicht zuletzt durch den etwas fremdartigen Namen erreicht: „Man denke nur, statt „Peter Stuyvesant“ hätte es geheißen: „Peter Schmitz. Der Duft der großen weiten Welt“. Statt verführerisch wäre der Effekt komisch und ohne jede Wirkung der gewünschten Art gewesen“ (Schmitz 2005, S. 40).

Kritisch zu sehen sind derartige Eindruckstechniken dort, wo eine gezielte Modulation der Wahrnehmung intendiert ist, da diese nur durch einen Informationsmangel des Publikums zu erzielen ist, der gegebenenfalls künstlich aufrechterhalten werden muss. Jede Zaubershow wirkt nur, wenn das Publikum nicht weiß, wie die Kunststücke funktionieren. Sobald die Adressatinnen die Zusammenhänge hinter den Eindruckstechniken kennen, reagieren sie anders und sind gegebenenfalls weniger anfällig für die intendierte Wirkung. Eine derartige Manipulation setzt daher letztlich auf Unwissenheit (Kieser 1995, S. 27). Demgegenüber ist denkbar, dass die Betroffenen eine Lust am Betrogen-sein-wollen entwickeln und sich mit einer Art ‚zynischem Bewusstsein‘ auf die Manipulation einlassen, obwohl sie um sie wissen. Die anästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären muss aber keineswegs einer Aufklärung im Wege stehen und kann diese im Gegenteil fördern. Hier lässt sich als Beispiel die von Michels und Beyes (2016) im Ausbildungskontext von Managern diskutierten pädagogischen Atmosphären anführen. Da die Autoren die Wahrnehmung der Atmosphäre insbesondere an räumlichen Gegebenheiten wie Geräusche, Licht, Farben, Geruch oder Gegenständen festmachen, verweist der Terminus der pädagogischen Atmosphären hier vornehmlich auf die ­räumliche Gestaltung und Architektur der Unterrichtsumgebung und adressiert eine räumliche Sensibilität für die atmosphärischen Effekte und die räumliche Vielfalt ­­­dieser

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Umgebung. Mittels ästhetischer Praktiken – die im Verständnis dieser Arbeit anästhetische Praktiken darstellen – soll bei den Teilnehmerinnen eine ästhetische Erfahrung induziert werden. Durch die Modulation der räumlichen Umgebungen sollen die Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen der Teilnehmerinnen aufgebrochen werden, um bei diesen eine ästhetische Offenheit zu erreichen und über die atmosphärische Ebene Lernprozesse in Gang zu setzen. Die Autoren unterscheiden dabei zwischen drei anästhetischen Praktiken: die Verwendung von neuem und unkonventionellem Material, die Zerlegung und Neuzusammenstellung von vorhandenem Material sowie die Verlegung des Unterrichts vom Klassenraum in städtische Räume. Mit diesen Praktiken sollen die räumlichen Routinen durchbrochen werden, um unvorhersehbare affektive Reaktionen zu initiieren. Auf diese Weise soll die intellektuelle Entwicklung der Teilnehmerinnen stimuliert und die Lernerfahrung lebendiger und leiblich erfahrbar gestaltet werden. Aufgrund des hohen Machtpotenzials, durch die Erzeugung ästhetischer Atmosphären bestimmte affektive Gefühlsqualitäten hervorzubringen, die den Menschen auf einer Wahrnehmungs- und Verhaltensebene manipulieren, betonen die Autoren die Wichtigkeit einer kritischen Sensibilität der Unterrichtenden bezüglich ihrer eigenen atmosphärischen Macht im Rahmen der Managementausbildung. Grundsätzlich lassen sich all jene Techniken als anästhetische Praktiken zur Erzeugung ästhetischer Atmosphären bezeichnen, die auf eine vorgegebene Weise eingesetzt werden, um bestehende Routinen gezielt aufzubrechen. Dies trifft etwa auf Kreativitätstechniken wie das Rad der Kreativität (Julmi und Scherm 2014) oder Praktiken der theatralen Arbeit in Organisationen (Bloem und Renvert 2011, S. 40 f.) zu. Auch die zunehmende Relevanz ästhetischer oder emotionaler Arbeit, mit der für die Kundin besondere, außeralltägliche Erlebnisse geschaffen werden sollen (Biehl-Missal 2011, S. 45 f.), aber selbst in hohem Maße handwerklich ist, lässt sich hier einordnen. Wie alle der hier behandelten Machtkonstellationen ist auch die anästhetische Erzeugung ästhetischer Atmosphären per se weder negativ noch positiv. Kritisch sollte diese Konstellation allerdings dort diskutiert werden, wo die eröffnenden Spielräume der Verhaltens- und Wahrnehmungsmodulation durch eine künstliche Informationsasymmetrie aufrechterhalten werden müssen, um die gewünschten Effekte zu erzielen, beispielsweise indem die dahinter stehenden Mechanismen verschwiegen oder die dahinter stehenden ‚wahren‘ Ziele nicht transparent gemacht werden. Auch dies geht dann letztlich mit einer Art Unmündigkeit der Betroffenen einher, die von diesen selbst jedoch nicht durchschaut – und daher auch nur begrenzt als selbstverschuldet bezeichnet – werden kann, da die ­Ausarbeitung der Inszenierung gleichsam ‚hinter den Kulissen‘ stattfindet, in die nur Einblick hat, wer über einen ‚Backstage-Pass‘ verfügt.

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5 Schluss Es zeigt sich, dass die Berücksichtigung anästhetischer Elemente nicht nur einen wesentlich differenzierteren Blick auf ästhetische Phänomene erlaubt, sondern auch verschiedene Machtkonstellationen in Organisationen zutage fördert, die nicht vermischt werden sollten und sowohl theoretisch als auch praktisch gesondert zu diskutieren sind. Wenn beispielsweise Mitarbeiterinnen ihr Aussehen im Rahmen ihrer emotionalen Arbeit bestimmten Markeneigenschaften von Unternehmen anpassen sollen, stellt dies gerade keine „ästhetischen Zwänge“ (Biehl-Missal 2011, S. 47), sondern anästhetische Zwänge dar. Es geht darum, bestimmten Erwartungen gerecht zu werden, auch wenn die erzeugte Atmosphäre dann für Außenstehende oder Einzelne ästhetisch wahrgenommen werden kann. Ein auf Hochglanz poliertes äußeres Erscheinungsbild impliziert noch lange keine ästhetische Erfahrung – weder für diejenigen, die Teil der Inszenierung sind, noch für diejenigen, die als Publikum an der Inszenierung teilhaben. Kein Ästhetisches lässt sich nur an der äußeren Erscheinung festmachen, da jedes ästhetisch Besondere irgendwann zu einem anästhetisch Normalen wird, wodurch das ursprünglich Ästhetische seine Bedeutung verliert und bedeutungslos wird (Dale und Burrell 2003, S. 160). Diese Dynamik ästhetischer Erfahrungen gerät leicht aus dem Blickfeld, wenn dem Ästhetischen nicht das Anästhetische gegenübergestellt wird. Dabei ist es gerade dieser beständige Wechsel zwischen Ästhetik und Anästhetik, der den „ästhetischen Kapitalismus“ (Böhme 2016; Reckwitz 2012) in besonderem Maß kennzeichnet, der rastlos von einem ästhetischen Höhepunkt zum nächsten eilt, um die sich immer schneller einstellenden anästhetischen Abstumpfungseffekte zu kompensieren. So wie für die Wahrnehmung gilt: „Keine aisthesis ohne anaisthesis“ (Welsch 2017, S. 36), sollte daher auch für die organisationale Ästhetik gelten: Keine organisationale Ästhetik ohne organisationale Anästhetik.

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Tanz, Organisation und Leadership: Eine kritische und ästhetische Perspektive Brigitte Biehl

In einem postfordistischen und digitalen Zeitalter wird die Welt der Kunst für Innovation, Kreativität und Zusammenarbeit verstärkt mit Organisationen in Verbindung gebracht (Adler 2006). Gerade die Welt des Tanzes erscheint vielversprechend für Theorie und Praxis der Organisation: Tanz steht für ständige Veränderung, temporäre Strukturen und dynamische Interaktion. Tanz bedeutet mehr als Ballett und Paartanz, sondern steht für verkörperte und kollaborative Praxis. Das beinhaltet flüchtige und nicht immer sichtbare Einflüsse von Choreographien, Körperpolitik und Wahrnehmung, wie Menschen miteinander empathisch interagieren, wie sie ihre Handlungen auch ohne Worte in Einklang bringen, ‚führen‘ und ‚folgen‘. Mit Tanz beschäftigt sich die Tanzforschung als wissenschaftliche Disziplin, und ihr geht es heute um die ästhetische Erfahrung anstelle der künstlerischen oder historischen Beurteilung von Aufführungen (Brandstetter und Klein 2013; Fabius 2009), um kooperative Formen der Choreographie und Zusammenarbeit (Butterworth 2004), um Anwendungen choreographischer Methoden und den experimentellen Umgang mit Bewegung und Tanz (Klein 2015), und kulturwissenschaftlich um „Bedeutung in Bewegung“ (Desmond 1997). Konzepte und Methoden der Tanzwissenschaft können somit neue und auch kritische (Hartz 2011) Perspektiven der Organisationsforschung eröffnen. Die Organisationsforschung hat ein Interesse an künstlerischen Analogien, künstlerischer Praxis und ästhetischen Prozessen gefunden (Taylor und Hansen 2005; Biehl-Missal 2011), und sich dabei neben dem rationalen Geist auch dem lange als unwürdig befundenen leiblichen Körper zugewandt (Hassard et al. 2000). B. Biehl (*)  SRH Hochschule der populären Künste hdpk, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_4

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Dieser Beitrag integriert Methoden und Konzepte der Tanzwissenschaft in die Organisationsforschung, wobei der sich bewegende Körper das Bindeglied zwischen beiden Feldern darstellt. Das Leben ist Tanz, denn die Welt ist voll von Bewegung. Bewegungspraktiken im Sinne von ‚Tanz‘ sind Interaktion und Wahrnehmung konstituierende Praktiken sowohl im sozialen Leben als auch in der Arbeitswelt. Somit geht es nicht um Organisationen, metaphorisch gesprochen, ‚als‘ Tanz, sondern um verkörperte Interaktion und Wahrnehmung, was eine Vielzahl kritischer Sichtweisen wie effizienzkritische, machtkritische, wissenschaftspolitische und feministische eröffnet. Die Beschäftigung mit Tanz ist recht jung in der Organisationsforschung und hat erst in den letzten Jahren konzentriertes Interesse erfahren. Generell hat es die Tanzwissenschaft nicht einfach gehabt, da sie als abstrakte, nonverbale und flüchtige Kunstform weder Texte noch Artefakte hervorbringt, die für etwas ‚stehen‘ und ‚valide‘ untersucht werden können (Butterworth und Wildschut 2009). Tanz wird oft als ‚feminine‘ Kunstform bezeichnet, was sie im rationalistischen Wissenschaftsdiskurs weiter abwertet. Es ist wenig überraschend, dass Tanz als bisher letzte vieler Kunstformen in die Organisations- und Managementforschung eingezogen ist, die für ihre funktionale, an Effizienz orientierte Sicht und die Ablehnung des Körperlichen in den letzten Jahrzenten zunehmend Kritik erfahren hat (Taylor und Hansen 2005). Nach singulären Erwähnungen von Tanz als bloße Metapher für Organisationen und Führung (Scott 2008) beschäftigten sich die ersten beiden thematischen Tracks auf der Art of Management and Organization-Konferenzreihe im Jahr 2014 und 2016 mit „Dance, Leadership and Organisation“. Aus den Beiträgen entstand schließlich das erste Sonderheft zum Thema Tanz in Organizational Aesthetics (Biehl-Missal und Springborg 2016). Mein Buch „Dance and Organisation. Integrating Dance Theory and Methods into the Study of Management“ (Biehl 2017) stellt eine ausführliche Zusammenfassung des Themas in englischer Sprache dar, auf die ich im mich Weiteren beziehe. Die Integration von Tanz in die Organisationsforschung schließt sich an die Organizational Aesthetics (Taylor und Hansen 2005) an, beziehungsweise im Deutschen an die Wirtschaftsästhetik (Biehl-Missal 2011). Solche Ansätze lassen sich als kritische Organisationsforschung verstehen, was im Folgenden in Bezug auf verschiedene Aspekte erörtert wird. Zunächst richtet sich diese interdisziplinäre Perspektive, wie die Critical Management Studies ebenso, nicht an der Effizienz einer Organisation aus und möchte diese auch nicht steigern (Fournier und Grey 2000; Grey und Willmott 2005; Hartz 2011). Die ästhetische Forschung stellt die Ästhetik in den Mittelpunkt, hier nicht verstanden wie im landläufigen Umgang als Schönheit, sondern als sinnliche Wahrnehmung im Rückgriff auf

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Baumgarten (Taylor und Hansen 2005, S. 1213) und andere wie Böhme (2003), die philosophisch-kritisch eine Ästhetisierung im Sinne der sinnlichen Aufladung der Wirtschaftswelt beobachten. Von diesem ästhetischen Ausgangspunkt lassen sich Konzepte und Methoden der Tanzforschung integrieren und vier kritische Perspektiven auf Organisationen eröffnen: Erstens eine Kritik an effizienzgetriebenen Ansätzen, die Kunst als bloße Metapher sehen oder Körper in Organisationen diszipliniert haben, anstatt die nicht-rationale, nonverbale, körperliche Erfahrung der Menschen wertzuschätzen. Dies führt zweitens zur Untersuchung kinästhetischer Praxis, die (i) Körperpolitiken als nicht natürlich, sondern sozial geschaffen – auch in Bezug auf Gender – bloßstellt, die (ii) soziale Choreographien als unsichtbare, in den Körper eindringende Machtstrukturen zeigt, und (iii) kinästhetische Empathie als Mechanismus vorstellt, der hierarchische Führungsperspektiven zugunsten kollektiver Dynamik demontiert. Drittens kann Tanz eine emanzipative Methode im Kontext der Organisations- und Personalentwicklung darstellen, oder als kinästhetisches Training kritisiert werden. Viertens eignet sich Tanz auch als kritische Methode der Organisationsforschung, die sich von funktionalen Ansätzen abgrenzt und Machtverhältnisse aufdecken kann. Ebenso bestehen hier Möglichkeiten feministischer Kritik an traditioneller phallogozentrischer wissenschaftlicher Publikationspraxis.

1 Der ästhetische Ansatz der Organisationsforschung Traditionelle Organisationsforschung mit ihrer Ausrichtung auf Effizienz wird von ästhetischen Ansätzen der Organisationsforschung abgegrenzt, die ihr Augenmerk auf die sinnliche Wahrnehmung legen (Taylor und Hansen 2005). In Bezug auf diese Unterscheidung soll zunächst das Potenzial des hier verfolgten Ansatzes im Anschluss an die kritische Organisationsforschung diskutiert werden. Die ästhetische Forschung lässt sich als kritische Perspektive sehen, denn die Ausrichtung auf ästhetische Kategorien kollidiert mit dem Leitgedanken der Effizienz, welcher die Wirtschaftswissenschaften bestimmt (Biehl-Missal 2011, S. 28). Die ästhetische Perspektive ist damit ein impliziter Affront und eine Form der Kritik, die das Streben nach Schönheit und Wohlgefallen über Effizienz und Profit stellt (Strati 1999) und damit auch die Frage nach einer anderen Form von Gewinn (statt Profit) und nach einer anderen Form von Wirtschaft stellt. Zweifel an der dominanten Praxis des Managements kennzeichnen viele Ansätze der ästhetischen Organisationsforschung, die zwar auch manchmal untersucht, wie Kunst

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und Ästhetik zum Profit beitragen kann, aber eine starke Orientierung am Gewinn (anstelle von Profit) und Sinn besitzt (Adler 2006). Die meisten Autoren möchten sich vom Mainstream der Management-Forschung abgrenzen, wobei sie auch deren Unzulänglichkeiten hervorheben: Künstlerische Forschungsmethoden etwa können Formen des taziten Wissens beschreiben, die traditionellen Methoden verborgen bleibt (Taylor und Hansen 2005, S. 1213). Verkörpertes Wissen oder tacit knowing (Polanyi 1958) hat starke Aufmerksamkeit in der Organisationsforschung erfahren: Der Begriff beschreibt, dass Akteure in Organisationen oft auf intuitive Art handeln und reagieren, automatisch, spontan oder aufgrund von Erfahrungswerten. Sie können ihr Handeln und zugrundeliegendes Empfinden aber nicht in logisch-analytischen Worten ausdrücken, höchstens metaphorisch umschreiben. Die Wirtschaftsästhetik geht davon aus, dass dieses implizite Wissen in Organisationen sich als ästhetisches Wissen verstehen lässt, was durch sinnliche Wahrnehmung entsteht und die Grundlage für alle dort vorhandenen Arten des Wissens bildet, für die Interaktion mit anderen und das gesamte Handeln nach innen und nach außen in die Gesellschaft hinein (Taylor und Hansen 2005, S. 1213). Die Rolle von Bewegung als Ursprung verkörperter Erfahrung und Wissens hat gerade in der Tanzforschung Interesse erfahren (Snowber 2012), womit sich diese Perspektive daher besonders zur Erschließung verschiedenster ästhetischer Zusammenhänge in Organisationen empfiehlt. Diese Herangehensweise ist nicht an Effizienz orientiert, sondern der ästhetische Ansatz will eher interpretieren, beurteilen und zum Nachdenken anregen, als generalisierbares Wissen und Theorien aufzustellen. Taylor und Carboni (2008) ziehen eine Parallele zur Kunstkritik, die beschreibt und beurteilt, anstatt konkrete Verbesserungsvorschläge zu liefern. Ästhetische Analysen wecken ein Bewusstsein für ästhetisches Handeln und können es bewerten, sind aber nicht per se eine effektive Anleitung zum wirtschaftlichen Handeln. Es gibt durchaus stark instrumentell getriebene Studien wie etwa zu ästhetischen Atmosphären in der Marketing-Forschung oder Bemühungen zu inspirierender Benutzung von Kunst, um die Leistungsfähigkeit von Unternehmensberatern zu steigern (Bockemühl und Scheffold 2007). Der reine Effizienzblick auf ästhetische und damit nicht immer sichtbare Formen (Böhme 2003) übersieht oft Formen der Einflussnahme, die von kritischen Perspektiven thematisiert werden. Eine Tanz-Perspektive innerhalb der Organisationsforschung ist geistes- und kulturwissenschaftlich geprägt und ergänzt Unzulänglichkeiten der Mainstream Managementforschung. Der Körper hat eine unwichtige Rolle gespielt und im Kontext des Scientific Management wurden Körper und alles, was mit ihnen zusammenhängt, als triebhaft abgestempelt, als eine Bedrohung für die „kühle

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Rationalität“, die den Arbeitsplatz vordergründig regiert (Brewis und Sinclair 2000). Eine Forschung, die Körper explizit auslässt oder auch nur übersieht macht sich zwangsläufig zum Mittäter körpergebundener Diskriminierungspraxis, auch gerade in Bezug auf Gender und Ethnie. So wurde etwa der weibliche Körper konsequent aus Organisationen und organisationalem Raum verdrängt (Höpfl 2007; Rippin 2015), der weibliche Körper als Bedrohung und, in manchen Zuständen, als abstoßend wahrgenommen und marginalisiert (Gatrell 2011). So eignet sich diese Perspektive als feministische und kritische Sicht auch für die Genderforschung in Organisationen. Eine Forschung, die Körper auslässt, übersieht auch andere verkörperte soziale Strukturen in Organisationen („Choreographien“) und Prozesse der Wahrnehmung von Menschen und deren Reaktion auf Führung, Arbeitsräume und Interaktionen. Sie konstituieren nicht nur das Arbeitsleben, sondern können es auch ändern, wenn etwa Folgen nicht nur als eine Reaktion auf Führung von einem zentralen Leader gedacht wird, sondern als permanente Verhandlung. Die Tanz-Perspektive kennzeichnet das Bemühen, den Menschen und seinen Körper und seine Empfindungen in die Organisation zu bringen, um ihn nicht als bloßes Objekt zu behandeln, und diesem auch Verantwortung auf neuen Wegen zuzugestehen.

2 Anbindung von Tanz an die Organisationsforschung In diesem Beitrag werde ich den Ansatz von Tanz und Organisation mithilfe einer vierteiligen Struktur vorstellen, die sich auf den ästhetischen Ansatz zur Organisationsforschung nach Taylor und Hansen (2005, S. 1217) bezieht. Der ästhetische Ansatz lässt sich in eine Matrix mit vier Feldern einteilen, die folgendermaßen aufgebaut ist: Die Achse mit der Beschriftung „Inhalt“ teilt sich in „instrumentell“ und „ästhetisch“, die Achse der Methode in „intellektuell“ und „künstlerisch“. Diese Unterscheidung basiert auf der angenommenen Unterscheidung traditioneller Organisationsforschung mit ihrem Fokus auf Effizienz (instrumentell) und ästhetischer Forschung mit ihrem Fokus auf der sinnlichen Wahrnehmung (ästhetisch). Die Methode ästhetischer Organisationsforschung schließt sich entweder der „intellektuellen“ Wissenschaftstradition gerade in den Sozialwissenschaften beziehungsweise der betriebswirtschaftlichen Forschung an, oder verwendet ihrem Fokus entsprechend ästhetische Formen, also künstlerische Methoden zur Arbeit an Organisationsthemen oder zur Erhebung von Daten oder zur Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen.

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Methode intellektuell

künstlerisch

instrumentell Tanz als Metapher

ästhetisch Untersuchung kinästhetischer Praxis: Kinästhetische Politik (Gender), Choreographien des Sozialen, Kinästhetische Empathie (Führung)

Anwendung von Tanz als Methode in Organisationen: Bewegungs- oder Tanzworkshops

Tanz als Forschungsmethode

Abb. 1   Klassifizierung von Tanz als Teil der ästhetischen Organisationsforschung. (Eigene Darstellung)

Zum Zwecke der Eingliederung von Tanz und Organisation ist die Matrix übersetzt und an die Thematik Tanz und Organisation angepasst worden (Abb. 1).1

1Eine

ausführliche Darstellung ästhetischer Ansätze der Organisationsforschung findet sich in meinem Buch „Wirtschaftsästhetik“ (Biehl-Missal 2011). Hier werden verschiedene künstlerische Perspektiven wie Theater, Musik (Orchester oder Jazzband), Bilder und Kunstwerke und Storytelling anhand folgender Struktur einzeln diskutiert: Metaphern aus der Welt der Kunst (Matrix: intellektuell/instrumentell), einschließlich der Sicht auf Unternehmen ‚als Theater’ und dem Manager ‚als Künstler’; Ästhetische Phänomene (Matrix: intellektuell/ästhetisch) einschließlich der Inszenierung von Erlebnisräumen und emotionaler Arbeit; der Einsatz künstlerischer Formen in Unternehmen (Matrix: instrumentell/ künstlerisch) inklusive des Einsatzes von Musik- und Kunstworkshops oder Unternehmenstheater. Die Methoden ästhetischer Forschung (Matrix: künstlerisch/ästhetisch) wurden in einem separaten Methoden-Kapitel behandelt (Biehl-Missal 2011, S. 29–41). Bei der Darstellung von Tanz werde ich kurz auf einige Beispiele aus dem Bereich der ästhetischen Organisationsforschung Bezug nehmen. Eine ausführliche Diskussion der Tanzperspektive als Erweiterung der Organisationsforschung findet sich in meinem Buch zu Tanz und Organisation (Biehl 2017). Die dort verfolgte Struktur richtet sich nicht nach der Matrix, jedoch lassen sich die besprochenen Elemente wieder auf diese zurückführen.

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2.1 Tanz als Metapher Die Perspektive von Tanz und Organisation ergänzt nicht nur ein bisher fehlendes Teil im Kanon der Ansätze, die Kunstformen wie Theater, Musik oder Lyrik auf Organisationen beziehen. Vielmehr geht sie über die Anwendung als Metapher hinaus, um in ihrem Fall konkret die tatsächlichen ästhetischen beziehungsweise kinästhetischen, also bewegungsbezogenen (kines) und sinnlich wahrnehmbaren (aisthesis), Vorgänge in Organisationen zu erfassen. Im ersten Sektor der Matrix dienen die intellektuell/instrumentellen Ansätze dazu, Lehren aus der Welt der Kunst für die Organisations- und Managementforschung zu ziehen, und mit der ästhetischen Perspektive ein neues Verständnis von Organisationen zu erlangen (Taylor und Hansen 2005, S. 1218 ff.). Dabei führt der Weg über die Metapher als probate Tür zu einem Blick auf Dinge, die in Bezug auf Tanz verkörpert, transitorisch (flüchtig) und ständig wandelbar sind, und von anderen Perspektiven nicht erfasst werden. Generell ist die Anwendung von Kunst-Metaphern wie Organisationen ‚als‘ Theater, Unternehmen als Jazzband oder Manager als Künstler Kennzeichen eines Paradigmenwechsels. Metaphern dienen in der Management-Forschung seit mehreren Jahrzehnten als wichtiges heuristisches Werkzeug, das neue Einsichten in die Praxis bietet und einen wichtigen Beitrag zur Theoriebildung leistet (Tsoukas 1991). Künstlerische Analogien betonen die Wichtigkeit von in der heutigen Arbeitswelt erwünschten Aspekten wie Kreativität, Innovation und Teamwork, die besonders in der Welt der Kunst anzutreffen sind (Degot 1987; Biehl-Missal 2011, S. 69). Tanz wurde zunächst vereinzelt als einfache Analogie auf Organisationen übertragen (Scott 2008), seit dem Jahr 2000 und dann vermehrt um und nach 2010, dann allerdings unter Berücksichtigung der wirklichen körperlichen Erfahrung. In Bezug auf Leadership zeigt etwa die Tanzform des Walzers, wie hierarchische Führung auf dem flexiblen Folgen der anderen Personen basiert, während der Rave als Bewegung zu elektronischer Musik das Chaotische, sich ständig Verändernde im Unternehmensalltag erkennen lässt (Ropo und Sauer 2008). Zwar sind solche Vergleiche im Grunde genommen richtig, wurden aber dafür kritisiert, dass sie die körperlich erfahrene Wirklichkeit des Tanzes hinter den Klischees nicht behandeln. Vom Walzer lernen Turniertänzer und Unternehmensforscher (Matzdorf und Sen 2016) beispielsweise, dass Führung ein permanentes Wechselspiel aus Führen und Folgen ist, das von der kinästhetischen Empathie und körperlichen Wahrnehmung lebt. Auch die bloße Metapher des Balletts, die im Goffman’schen Sinne den Blick auf Vorderbühne und Hinterbühne der Arbeitswelt schärfen soll

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(Chandler 2012, S. 870), erweist sich ohne die körperliche Praxis als oberflächlich und wenig ergiebig. Hingegen hat Satama (2017) anhand von Ballett erforscht, wie in der Arbeitswelt relevante Aspekte wie Leidenschaft und Leiden körperlich erfahrbar und verhandelt werden. Mit dem Fokus auf körperliche Bewegung schließt sich Tanz auch an frühe Studien von Frank und Lilian Gilbreth (1917) an, die auf dem Gebiet der Zeit- und Bewegungsstudien arbeiteten und Bewegungsabläufe von Arbeitern analysierten, neu zusammensetzten und damit optimieren wollen. Hier wurde der Körper mit dem Ziel der Effizienzsteigerung als Objekt instrumentell betrachtet, gesteuert und diszipliniert. Eine ästhetische und kritische Perspektive hingegen hat dies nicht zum Ziel. Wie bei Satama (2017) geht es um die ergebnisoffene Untersuchung individueller körperlicher Empfindung, die auch dazu dient, eine Praxis der Disziplinierung und unsichtbare Machtstrukturen aufzuzeigen und zu ändern. Die Perspektive des Tanzes soll nicht körperliche Arbeitsprozesse effizienter machen, sondern vielmehr die sinnlich erfahrene Verkörperung und Interaktion erkunden. So gerät die Perspektive auch nicht in die Sackgasse, dass sie nicht anwendbar sei, weil der Büroalltag mehrheitlich nur aus Bewegungen der Finger bei Tippen bestehe (Chandler 2012, S. 875). Mit dem Einbringen von Tanztheorie und -praxis kann dieser Ansatz über die bloße Analogie von Unternehmen ‚als‘ Ballett, Tango oder Rave hinausgehen, und kinästhetische Praxis untersuchen, um zu beschreiben, was im dynamischen Raum zwischen ko-präsenten und sich bewegenden Körpern stattfindet, und Situationen erfassen, die flüchtig und transitorisch sind. Dieses Potenzial der Tanz-Perspektive wurde von der Organisationsforschung lange übersehen, die eher bemängelte, dass der nonverbale Tanz Sprache nicht ernst genug nehmen würde und damit in Organisation nicht gut anwendbar sei (Chandler 2012, S. 40). Tanz ist aber nicht defizitär, weil das Wort fehlt. Ganz im Gegenteil: Tanz wird als „universelle Sprache“ (Leavy 2009, S. 179) gesehen, die zwar kulturell spezifisch ist, aber körperlich und unmittelbar verstanden wird. So haben Studien erörtert, dass Führung über körperliche Wahrnehmung funktioniert (Ladkin 2013; Küpers 2013), weil wir die Welt durch unseren Körper wahrnehmen, den wir nicht verlassen können. So ist auch die Interaktion in Organisationen und auch im Raum des Virtuellen immer noch von unserer körperlichen Wahrnehmung beeinflusst, dem sinnlichen Empfinden. Der Zugang zur verkörperten Erfahrung kann über Tanz als Theorie und Methode geschehen, wobei die Tanzperspektive die Körperlichkeit ins Z ­ entrum stellt und ihre Grenzen und auch ihre Möglichkeiten zeigt. Trotz der D ­ ichotomie von Körperlichkeit und ‚körperloser‘ Arbeit im virtuellen Raum, die viele Arbeitsprozesse kennzeichnet, befinden wir uns immer in unserem Körper

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und benutzen unsere verkörperte Erfahrung, um Einschätzungen unseres Handelns und unserer Interaktion mit anderen zu finden. Tanz als Praxis verweist auf vielfältige Formen der dynamischen Kooperation zwischen Menschen, die sich ständig verändern und von vielen Akteuren abhängen. Die relationale Sicht auf Führung und der Einbezug der Follower wird in der Leadership-Forschung (Uhl-Bien und Fairhurst 2012) zunehmend vertreten, wobei sich die Frage stellt, wie solche Zwischenräume (in-between spaces – Ladkin 2013) zwischen den Akteuren verhandelt werden. Der hier vorgestellten Perspektive ist es möglich, durch Einbezug von Konzepten und Methoden des Tanzes und der Tanzwissenschaft einige Erklärungen für Dynamiken und Relationen abzugeben, die mit kinästhetischer Empathie und Choreographien zu tun haben, und im Folgenden vorgestellt werden.

2.2 Untersuchung kinästhetischer Praxis Die Fortführung von Tanz als bloßer Metapher führt uns zum ergiebigen Feld der Erforschung kinästhetischer Phänomene, das sich in der Matrix im intellektuell/ästhetischen Quadranten ansiedelt. Nach Taylor und Hansen (2005, S. 1222) sind hier Studien angesiedelt, die sich auf ästhetische Formen in Organisationen konzentrieren, auf ästhetische Produkte und Industrien, und die direkte sinnliche Wahrnehmung der tagtäglichen Realität in Organisationen erfassen. Das Einbeziehen von Theorien und Methoden der Tanzwissenschaft in die Organisationsforschung kann hier zunächst drei Aspekte eröffnen: Körperpolitik, Choreographien des Sozialen und Organisationalen, und kinästhetische Empathie (Biehl 2017, S. 44–112), die in den folgenden Unterkapiteln vorgestellt werden. Im größeren Kontext der Wirtschaftsästhetik bildet dieser Ansatz eine Fortführung von Metaphern wie beispielsweise der des Theaters, indem nicht nur die Inszenierung der Wirklichkeit, sondern auch die Wirklichkeit der Inszenierung untersucht wird (Biehl 2007). „Ästhetische Arbeit“ und das Schaffen von „Atmosphären“ (Böhme 2003) vollzieht jede(r) in einer Organisation, sei es im Service oder als Führungsperson. Atmosphären werden auch erzeugt durch den Einsatz von Bewegung als kinästhetischer Politik, durch Choreographien im sozialen Kontext, und durch den Einbezug kinästhetischer Empathie.

2.2.1 Kinästhetische Politik Die kinästhetische Politik habe ich in meinem Buch „Dance and Organisation“ (Biehl 2017) mit der zweiten Überschrift „Gender“ besetzt, denn diese Perspektive eignet sich zur Erörterung des persönlichen Ausdrucks durch Bewegung, der gesellschaftlich geprägt und beileibe nicht ‚natürlich‘ ist. Eine solche Dis-

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kussion wurde im Bereich der Organisationsforschung nicht detailliert geführt, da der Körper nicht hinreichend thematisiert wurde und damit seine flüchtige Bewegung noch weniger (Huopalainen 2015). So habe ich mich auf Cultural Studies gestützt, die Bedeutung in Bewegung („Meaning in Motion“) untersuchen (Desmond 1997), darunter Iris Marion Young’s (1990) wegweisende Publikation „Throwing like a girl“. Young untersuchte, dass Bewegung nicht angeboren ist, sondern gesellschaftlich vermittelt und damit als verkörperte Praxis den Raum und die Grenzen für individuelle Erfahrung setzt. Eine soziale Rolle kann man nicht nur durch seine Kleidung erfüllen, sondern auch durch die Bewegung. Diese ist geprägt von Kultur (beispielsweise die Untersuchung von Bewegung bestimmter ethnischer Gruppen), sozialen Gruppen (die körperlich ausgedrückte Attitüde von Hippies oder Rappern), beruflichen Gruppen (die passende Bewegung und kinästhetische Fertigkeit etwa in der Gastronomie) und von Gender (sich wie „ein Mädchen“ oder „ein Kerl“ bewegen). Damit werden Fragen für verkörperte Führung in Organisationen aufgeworfen. Wenn charismatische Leadership-Theorien etwa den gekonnten Einsatz von Impression Management in Wort, Aussehen und Sprechen betonen, was bedeutet dies dann in Bezug auf Bewegung. Walking like a leader? Inwiefern ist dies auch unbewusst von Gender und Kultur geprägt und demnach in einem nicht diskriminierungsfreien organisationalen Raum zu verhandeln? Mein Blick in die Welt der Bewegungskunst hat immerhin gezeigt, dass moderne Formen des Tanzes – während Ballett vielkritisierte Fehlbilder von der Frau als federleichtes, müheloses und ach-so-schönes Wesen propagiert – selbstbestimmte Choreographien, gender-unkonforme Bewegungen und Körper unterschiedlichster Fähigkeiten zeigen (Biehl 2017, S. 66). Hier lässt sich aus der Welt des Tanzes eine Schärfe für die Perspektive gewinnen, die ein blinder Fleck sind bei anderen Ansätzen, die den Körper und seine Bewegung ignorieren oder als „natürlich“ abtun.

2.2.2 Choreographien des Sozialen Diese Perspektive der individuellen Bewegung, die nicht natürlich ist, sondern die soziale Ordnung stützt oder auch herausfordert, ist auch mit der Bewegung im sozialen Raum verbunden. In kulturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung wird der Begriff der Choreographie jenseits der künstlerischen Welt des Tanzes angewandt. Choreographie ist hier keine bloße Metapher für soziale Interaktion, sondern benennt die tatsächliche Matrix und Materie sozialer Interaktion in Bezug auf die Disposition, Ausrichtung und Anpassung von Körpern auf andere Körper. Organisationale Ordnungen lassen sich damit auch als Choreographien untersuchen, als Zusammenhang von Menschen in Bewegung.

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Im Kontext sozialer und kultureller Regeln wurde dieser Ansatz in Bezug auf die Choreographien des Sozialen schon verfolgt (Alkemeyer et al. 2009). Auch hier geht es nicht darum, Menschen in Interaktion oberflächlich als von einem Puppenspieler gesteuerte Marionetten (Scott 2008, S. 220) zu skizzieren. Die Einflüsse organisationaler Choreographien wurden bereits in Bezug auf den Habitus beschrieben und untersucht als Muster der Körperpositionierung, die Akteuren antrainiert, und so verinnerlicht werden (Pille 2009). Verkörpertes Wissen steckt in den Gliedern (ist also verinnerlicht oder „re-member-ed“ – Brandstetter und Völckers 2000). In der kritischen Organisationsforschung geht es darum, nicht nur die Ausführung vorgeschriebener Choreographien zu verstehen, sondern auch das Potenzial zur ihrer Mitgestaltung und Selbstgestaltung. Dieser Trend wurde bereits in der Tanzforschung beschrieben, die ein choreographisches Spektrum aufzeigt: Auf der einen Seite der Tänzer als Marionette eines Choreographen, auf der anderen Seite Tänzer als Miterfinder und Ko-Kreateure der Strukturen (co-owner) (Butterworth 2004). Menschen werden zum co-owner oder Mitschaffenden von Choreographien, wenn sie ihre kinästhetischen Erfahrungen im Raum machen und mitbestimmen. Während typische Marketing-Atmosphären und Shoppingmalls darauf ausgerichtet sind, Bewegung, Verhalten und Verweilen im Sinne der Konsumsteigerung zu steuern (Biehl-Missal und Saren 2012) und die Anwesenden „sinnlich zu betäuben“ (Murtola 2010), können Räume auch Angebote eröffnen für andere verkörperte Erfahrungen. So können ortsspezifische (site-specific) Performances, die von der kulturellen Historie beeinflusst werden, etwa Widerstand zur kapitalistischen Zeitstruktur und Möglichkeitsräume zur nicht-heteronormativen Genderpraxis eröffnen (wie am Beispiel des Berliner Techno-Clubs Berghain beschrieben – Biehl-Missal 2019). Ein anderes Beispiel ist das Jüdische Museum im Berlin, das als physische Provokation arbeitet und schiefe und schräge Gänge, leere und kalte Betonräume und einen schlecht zu bewandernden „Garten des Exils“ bietet. Die Räume lassen unangenehme Erfahrungen entstehen, mit denen Besucher das persönliche Verständnis von deutsch-jüdischer Geschichte erweitern können. Aktivistische Formen des Widerstandes in organisationalen Räumen, wie die Kapitalismus-Kritik von Reverend Billy and the Church of Earthalujah in Schalterhallen von global agierenden Banken (Biehl 2017, S. 100) können auch unter dieser Perspektive diskutiert werden.

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2.2.3 Kinästhetische Empathie Bewegung ist nicht nur eine Repräsentation von Gender, Kultur und persönlicher Erfahrung, die als kinästhetische Politik einen Effekt auf die „embodied minds“ (Lakoff und Johnson 1999) oder verkörperten Geiste haben, die Bewegungen wahrnehmen. Bewegung bedeutet auch, mit performativen Aspekten der sozialen und organisationalen Ordnung als ‚Choreographien‘ zu interagieren, und mit anderen Menschen ebenfalls. Gerade in Bezug auf letztgenannten Aspekt spielt die kinästhetische Empathie eine wichtige Rolle. Kinästhetische Empathie beschreibt Prozesse der Wahrnehmung von Bewegung von anderen Menschen und der eigenen körperlichen – und mentalen – Reaktion darauf. Dieses Konzept habe ich auf Leadership beziehungsweise Führung in Organisationen angewendet (Biehl 2017, S. 70–85), denn in der Leadership-Forschung hat traditionell nicht nur der Körper und seine sinnliche Wahrnehmung wenig Aufmerksamkeit erfahren, sondern damit auch die körperliche Bewegung. Relationale Leadership-Theorien (Uhl-Bien und Fairhurst 2012; Ladkin 2013) gehen nicht vom Leader als der zentralen Einheit oder dem aktiven Teil von Führung aus, sondern untersuchen die Dynamik zwischen Leadern und Followern, die durch körperliche, visuelle und auditive Wahrnehmung ermöglicht wird. Dabei wird auch eine phänomenologische Sicht vertreten, die körperliche, sinnliche Wahrnehmung als maßgeblichen Kompass in der verkörperten Interaktion zeigt (Hansen et al. 2007). Über die Tanzwissenschaft lassen sich neue Einsichten in die verkörperte Praxis der Interaktion gewinnen. Eine solche Erweiterung der Leadership-Forschung ist notwendig, da Führung heutzutage in einem nicht klar hierarchischen, sondern zunehmend komplexen, oft paradoxen oder kollektiven organisationalen Zusammenhang geschieht. Damit stellt sich die Frage, was in der Interaktion passiert, „in and through the very in-between of leading and following“ (Küpers 2013, S. 348). Dieser „in-between space“ (Ladkin 2013), oder eben Zwischenraum, ist von ästhetischen Prozessen getragen, die nicht oder nur kurzzeitig sichtbar sind und nicht nur visuell, sondern körperlich erfahren werden. Die Tanzwissenschaft hat hier einige Ansätze, die den für die bestehende Forschung bisher mysteriösen Raum besser erklären. So habe ich die Konzepte der kinästhetischen Empathie und der kinästhetischen Feedbackschlaufe benutzt (Biehl 2017, S. 73), um verkörperte Führungssituationen zu beschreiben. Als Ansatzpunkt für die Untersuchung habe ich eine nonverbale Führungssituation aus dem künstlerischen Bereich gewählt, bei der Menschen wortwörtlich „in Bewegung“ gebracht werden: Ein DJ legt elektronische Musik in einem Technoclub auf und hält die Menge über viele Stunden am Tanzen (Biehl-Missal 2015). Die Untersuchung basiert auf Interviews mit DJs. Die eigene körperliche Erfahrung der Interaktion fließt im ästhetischen Ansatz

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auch in die Datenerhebung ein als „participant construction“, also eigener Bewegung auf der Tanzfläche, anstelle von bloßer „participant observation“ (Taylor und Hansen 2005, S. 1225). Es zeigte sich in der Untersuchung (Biehl 2017, S. 74, 2019), dass DJs nur oberflächlich auf der visuellen Ebene einen charismatischen Leader darstellen, und in der Situation ständig mit ihren Bewegungen und ihrer Musikwahl auf das Publikum reagieren, das sie nicht nur visuell, sondern kinästhetisch in Bezug auf Energie und Stimmung wahrnehmen (Abb. 2). Während die Situation im Club mit dem DJ erhöht am Pult und den Tänzern auf der Tanzfläche bei der bloßen Betrachtung als Leader-zentrierte Situation eingeordnet wird, bei der Tänzer nur folgen, operiert tatsächlich eine permanente Feedback-Schlaufe. Eine solche Feedback-Schlaufe findet sich in sinnlich wahrnehmbarer Form auch in einer Theater-Situation mit Bühne und ko-präsentem Publikum (Fischer-Lichte 2005, S. 111). Die Interaktion wird durch ein Hin und Her ständig dynamisch neu geschaffen und verhandelt, ist damit das Produkt aller an der Situation Beteiligten. Man könnte auch von einer organisationalen Choreographie

Abb. 2   Co-Kreation anstelle von hierarchischer Führung (GENAU pres. Norman Nodge (Berghain), Azimut Club, Turin) – Mit freundlicher Genehmigung von Matteo Brigatti (GENAU)

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sprechen, die von allen Beteiligten als co-owner mitgeschaffen ist. DJs leisten körperliche Arbeit, indem sie ihren Körper als Ausdrucksmittel einsetzen (Tanzen, Gestik, Blickkontakt), und nutzen ihren Körper als Kompass oder Eindrucksmittel, um die ästhetisch vermittelte Realität aufzunehmen, permanent zu evaluieren und wiederum nonverbal zu steuern. Diese Einsichten lassen sich auf verkörperte Interaktionen anwenden, bei denen die Interaktion einschließlich Körperhaltung nicht vordefiniert ist, aber intuitiv bewertet und ständig neu verhandelt wird. Eine solche tanzwissenschaftliche Analyse ist kritisch, indem sie die hierarchische Perspektive mit dem zentralen, charismatischen Leader demontiert, also zeigt, dass nicht nur die Führungsperson der zentrale Akteur ist (Learmonth und Morrel 2017). Vielmehr macht die Untersuchung deutlich, wie Co-Kreation von Führung geschieht, dass die Follower nicht nur folgen, sondern durch ihr Verhalten Einfluss nehmen, und damit auch Verantwortung zugestanden bekommen.

2.3 Anwendung von Tanz als Methode in Organisationen Während die oberen Felder der Matrix sich auf den intellektuellen Zugang zu ästhetischen beziehungsweise kinästhetischen Phänomenen beziehen, sind im unteren Teil der Matrix die tatsächlichen künstlerischen Methoden als Herangehensweise an die ästhetische Realität gefasst. Im weiteren Bereich der ästhetischen Organisationsforschung fassen Taylor und Hansen (2005, S. 1221) hier künstlerische oder kunstbasierte Methoden zusammen, die im sozialwissenschaftlichen Kontext und in anderen Disziplinen schon lange verwendet werden, in der Organisationsforschung aber noch nicht so etabliert sind. Hierzu zählen künstlerische Formen zur Arbeit an individuellen Themen, wie auch in der Kunsttherapie praktiziert oder im so genannten psychologischen Kunstcoaching (Fitzek 2013). Ebenso gehören dazu künstlerische Methoden zur Arbeit an organisationalen Themen (Taylor und Hansen 2005, S. 1221). In Hinblick auf die erste Stufe der intellektuellen Beschäftigung mit Kunst-Metaphern finden sich hier ihre praktischen Anwendungsformen in der Organisation, die sich als künstlerische Interventionen (Berthoin Antal 2009) oder in Hinblick auf ihre Zweckbezogenheit auch als kunstbasierte Interventionen (Biehl-Missal 2011, S. 91–154) bezeichnen lassen. Beispiele sind Workshops mit Musikern oder Orchestern, Gedichtworkshops, das Herstellen von Skulpturen (Biehl-Missal 2011, S. 91–154), die die Analogien vom Manager als ‚Dirigenten‘ eines Unternehmens, von der Organisation ‚als Jazzband‘ oder ‚als Theater‘ mit Leben füllen und dazu dienen, Unternehmensthemen wie aktuelle Change-Problematiken zu vermitteln oder generelle Fragen

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wie Zusammenarbeit und Kommunikation zu verbessern. Diese Anwendung hat sich in den letzten zehn Jahren professionalisiert, auch mit der Existenz von Intermediären zwischen Kunstwelt und Organisationen (Berthoin Antal et al. 2011). Tanz wird in sozialen und politischen Kontexten schon lange eingesetzt (Butterworth und Wildschut 2009; Klein 2015), in Unternehmen hingegen erst seit einigen Jahren (Biehl-Missal und Springborg 2016; Bozic Yams 2016, 2018). Den Grund dieser relativen Verzögerung kann man in einer rationalistisch geprägten Managementrealität vermuten, die durch eine Historie des Mäzenatentums als Präsentation von Reichtum und Privilegien (Ullrich 2000) einen recht einfachen Zugang zur Bildersammlung und damit eher zu Ansätzen wie Kunstcoaching hat. Gedichte als körperlose Textform mit Bildungsniveau haben selbst ihren Zugang zu Workshops in Unternehmensberatungen wie Boston Consulting (Morgan et al. 2010) gefunden, die Theaterregisseur Falk Richter (zit. in Biehl 2018) als repressive Systeme inszenierte, bei denen Menschen wie „Unter Eis“ arbeiten müssen. Tanz hingegen ist nichts für ‚harte Manager‘ in einer Organisationswelt, die sich im Allgemeinen nicht als Raum der Diversität, sondern als von ‚klassischer‘ Männlichkeit geprägt kritisieren lässt (Höpfl 2000). So sind schon Interventionen missglückt, als die Berater leichtsinnigerweise bei einem DAX-Unternehmen anstelle von einem „Movement“-Workshop von einem „Tanz“-Workshop gesprochen hatten, den sie anleiten wollten, weil männliche Führungspersonen nur ungern miteinander in koordinierte Bewegung des Tanzes oder gar der Berührung treten wollten (Biehl 2017, S. 117). So wird häufiger mit improvisierter Bewegung gearbeitet als mit Tanzformationen (Kolo 2016; Ludevig 2016). Tanz-Methoden lassen sich als kinästhetisches Training verstehen, das sowohl auf individueller Ebene als auch auf Gruppenebene wirkt (Biehl 2017, S. 123). Das macht den Einsatz von Tanz zur Personal- und Organisationsentwicklung einerseits zu einem Machtinstrument, eröffnet andererseits aber auch Möglichkeiten der kritischen Reflexion und Veränderung von Machtstrukturen. Der Einsatz künstlerischer Methoden als Machtinstrument zeigt sich auch beim schon etablierten Unternehmenstheater, das praxisorientiert bereits ohne große Ansprüche an transdisziplinäre Theoriebildung untersucht wurde (Schreyögg und Dabitz 1999), und das nun die Theaterwissenschaft wiederentdeckt hat, nachdem sie es aufgrund seiner Zweckbezogenheit oft einfach verschmäht hatte (Lempa und Lewandowska 2016). So konnte der Theaterwissenschaftler Fabian Lempa Momente des Zwangs herausarbeiten, die im Unternehmenstheater aufgrund seiner Zweckgerichtetheit und der Instrumentalisierung ästhetischer Mittel und der Wirkungsversprechen der Praktiker zu finden sind. Sie zeigen auf, dass im Zuge der Theatralisierung oder Ästhetisierung der Wirtschaftswelt die in einem solchen Kontext eingeforderte Selbstinszenierung von

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Lernbereitschaft und Weiterentwicklungswillen zu einem „zwingend notwendigen Kriterium für die Partizipation am und im Unternehmen geworden ist“ (Evers und Lempa 2017, S. 248). Die ästhetische Untersuchung solcher angewandten Theater-Praktiken macht es einer kritischen Organisationsforschung möglich, Praxen der Unterdrückung zu zeigen und Fragen nach möglichem Widerstand zu stellen. In Bezug auf Tanz und traditionelle Paartanz-Vorführungen zur Schulung von Personal habe ich aus tanzwissenschaftlicher Perspektive darauf aufmerksam gemacht, dass die dort praktizierte ‚natürliche‘ Führungsrolle des Mannes vorgeführt wird und damit implizit vorgeschlagen werden kann, also zwingend einer verbalen Reflexion der Trainer bedarf (Biehl 2017, S. 125) – im aktiven Sportbereich ist es so, dass die weibliche Tanzpartnerin auch einen Teil der Führung übernimmt, obwohl es die Zuschauer von außen nicht sehen (Matzdorf und Sen 2016). Standardtanz kann nur so als kritischer Spiegel für Leadership und als Grundlage für eine Analyse von Gender im Führungskontext dienen. Berthoin Antal und Strauß (2013) greifen diese Ambivalenz und Skepsis gegenüber der ‚Vernutzung‘ künstlerischer Methoden zur Personal- und Organisationsentwicklung auf, finden in ihrer Evaluation aber vielschichtige Wirkungen. Die Erfahrungen der Befragten sind positiv, nicht nur in Bezug auf Aktivierung, sondern bezüglich des Erlebens neuer Formen der Zusammenarbeit und der persönlichen Weiterentwicklung. Generell kann man solche Interventionen auch als Schaffung von Möglichkeitsräumen (spaces of possibility, „interspaces“) in der formellen und informellen Organisation sehen (Berthoin Antal und Strauß 2013, S. 32). Hiermit eröffnen sich kritische Potenziale. Vom ethischen Gesichtspunkt ist zunächst immer Vorsicht und Respekt geboten, da der Körper in Organisationen historisch ständig diszipliniert und ausgebeutet wurde – von der Fabrikarbeit bis zur kräftezehrenden emotionalen Serviceroutine. Gerade solche Workshops sollten freiwillig, nicht repressiv und unter fachlich kompetenter Aufsicht stattfinden, um keine weiteren Ängste zu schüren oder zu verbreiten (Bozic Yams 2016). Der Vorteil von Tanz als kritischer Methode ist jedoch, dass Tanz flüchtig und abstrakt und nicht textgebunden, und somit mit hohen Freiheitsgraden in der Ausführung verbunden ist, und so verschiedene Zugänge zu persönlicher und kollektiver verkörperter Erfahrung zulässt, für die Tanz als kulturelle Praxis immer eingesetzt wurde. Durch die aktive Teilnahme an Tanz- oder Bewegungsworkshops können nicht nur im Sinne der Effizienzsteigerung Faktoren wie körperliche Wahrnehmung und kinästhetische Empathie als Grundlage für Leadership und Followership geschult werden (Ludevig 2016). Durch Bewegung lassen sich auch organisationale Themen noch einmal anders angehen. Ähnlich wie bei anderen

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kunstbasierten Interventionen etwa mit Skulptur, bei denen Mitarbeiter die tazite Wahrnehmung ihrer Organisation in eine nonverbale Metapher bringen und Dinge „anders sehen“ (Berthoin Antal und Strauß 2013, S. 28), kann auch Bewegung zum Hervorbringen verkörperten Wissens dienen. Von einer Gruppe geschaffene Bewegungsskulpturen können abstrakte und nicht fassbare Wahrnehmungen von Zusammenarbeit und Unternehmenskultur ‚abbilden‘. Solche Körperskulpturen kommen aus dem therapeutischen Kontext und machen sich wieder die Eigenschaft von Bewegung als Medium (universelle Sprache) zunutze. Kolo’s (2012) Projekt zur UnternehMENSCHoreographie – eine Verbindung von Unternehmen und Choreographie mit dem Menschen im Zentrum – machte deutlich, wie manche Teilnehmerinnen Räume durch Bewegung besetzten, während andere an den Rändern blieben, wie manche andere aktiv in die Raumnutzung einzubinden versuchten. Gender-spezifische Muster wurden hier erkennbar, welche bereits unter dem Begriff kinästhetische Politik theoretisch angesprochen wurden. Auch die Choreographien der Organisation wurden sichtbar, wenn Interaktion im Raum verhandelt wurde. Auch für diese Bewegungsworkshops ist eine Verbalisierung des Erfahrenen maßgeblich (Ludevig 2016), um das verkörperte Wissen der Analyse und Veränderung zugängig zu machen. Wenn in Übungen in Zweierpaaren zu Führen und Folgen das Gefühl eines Sich-gezerrt-Fühlens entsteht, lässt sich beispielsweise darüber reflektieren, welche ‚Freiräume‘ wie ermöglicht werden können und welche ‚Distanz‘ als persönlich sinnvoll empfunden wird. Kolo (2016, S. 44) spricht davon, die Begriffe quasi durch den Körper zu ‚bewegen‘ und wieder zu versprachlichen. Bewegungsaktivitäten lassen sich als Gegenpunkt zum rationalistischen Menschenbild in einer Organisation sehen und als aktive, emanzipative performative Methode. Wenn der Körper das Medium ist, durch das wir die Welt wahrnehmen, können Bewegungsaktivitäten eine Einladung sein, aus dem verkopften und vorgefertigten Diskurs, etwa von Führung und Folgen, auszubrechen, und aus der eigenen, verkörperten Empfindung der Organisation eine kritische Einsicht zu entwickeln, die in der Gruppe bearbeitet wird.

2.4 Tanz als Forschungsmethode Eine weitere Möglichkeit zum Einsatz von Methoden des Tanzes bietet sich im Quadranten der künstlerischen Methode im wissenschaftlichen Bereich. In der ästhetischen Organisationsforschung sprechen Taylor und Hansen (2005, S. 1224) von den Vorteilen einer solchen Methodik, die ästhetische Sachverhalte erschließen und beschreiben kann, die herkömmliche Methoden nicht erfassen können:

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Ästhetische Methoden erweitern die bestehenden Methoden der Organisationsforschung, um schwer fassbare, körperlich und sinnlich erfahrene Faktoren zu erschließen, die gemeinhin auch nicht einfach verbalisiert werden können. Neben verschiedenen künstlerischen Methoden der Organisationsforschung, darunter visuelle Methoden (Warren 2008), bildnerischen und plastischen Methoden (Rippin 2013), oder Lyrik (Darmer 2006), bildet Tanz die jüngste Erweiterung. Künstlerische Methoden bieten sich generell für Explorationen und Fragestellungen an, die prozessorientiert sind und verschiedene Perspektiven einbeziehen. Wenn der sich bewegende Körper im Sinne der ästhetischen Organisationsforschung oder der Cultural Studies und Tanzwissenschaft als Reservoir verkörperten Wissens und Erfahrung verstanden wird, ist es nur folgerichtig, Bewegungsmethoden zu verwenden, um diese Erfahrung zugängig zu machen. Eine kritische Perspektive nimmt ein solcher Ansatz ein, weil er eine Abkehr von positivistischer Suche nach „Wahrheit“ bedeutet und Machtverhältnisse aufdecken will (Leavy 2009, S. 9). Tanz als Methode eignet sich für alle Phasen des Forschungsvorhabens, für die Erhebung von Daten, die Analyse, Interpretation und Repräsentation der Erkenntnisse (Leavy 2009, S. 12). Ein Beispiel zur Erhebung von Daten ist die Arbeit mit Probanden mit einem Choreographen und aktiven, selbst-choreographierten Übungen. So haben wir mit jungen Berufstätigen in einem Workshop Übungen gemacht, bei denen sie ihre Wahrnehmung etwa von Führungsbereitschaft ohne Worte ausdrücken konnten, wobei sich zeigte, welche Hemmungen und Vorurteile bestehen (Biehl 2017, S. 146). Die Video-Mitschnitte lassen sich mit Methoden der Bewegungsanalyse wie Laban Movement Analysis und deren Kategorien wie Körperbewegung, Raumnutzung und Energie interpretieren (Biehl 2017, S. 157), und auch mit den Teilnehmerinnen als Basis für individuelle oder Fokusgruppen-Interviews besprechen. Weitere Ansätze sind der improvisierte Tanz über die eigene Wahrnehmung der Interaktion mit der Führungsperson, wobei sich auch hier Aspekte der Kollaboration oder des Widerstands anders erschließen und ausdrücken lassen (Hujala et al. 2016). Bewegung, wie andere künstlerische Methoden, bietet sich nicht nur dafür an, Forschungsfragen einmal anders zu stellen, sondern auch neue Wege bei der

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Vermittlung von Erkenntnissen (Biehl-Missal 2011, S. 35–41) einzugehen. Eine künstlerische Methode vermittelt ästhetische Erfahrung, ohne den Umweg über die „intellektuelle“ Methode des üblichen wissenschaftlichen Verschriftlichens zu gehen. Als Beispiele lassen sich hier Theaterstücke nennen, etwa das auf der Academy of Management Conference sowie auf der Art of Management and Organization Conference aufgeführte „Ties that Bind“ unter der Regie von Steven Taylor (2018), welches die sinnliche Erfahrung von Konkurrenzdruck und Konfrontation im Hochschulbetrieb durch körperliche Interaktion, Bewegung, lautes Diskutieren und die aggressive Präsenz der Akteure vermittelt. Zu solchen künstlerischen Projekten als Forschung gehört eine wissenschaftliche Rahmung in Form weiterer Artikel (Taylor und Hansen 2005, S. 1224). In den letzten Jahren sind vermehrt Theaterstücke auf Konferenzen aufgeführt worden, als „kritischer Kommentar zur Arbeitswelt“ (Taylor 2018). Tanz eignet sich auch, neue Formen der Datengeneration und der Vermittlung zu erschließen. Neben Theaterperformances haben auch erste DJ-Performances mit elektronischer Musik bei Management-Konferenzen die Teilnehmerinnen integriert, um ihnen ein besseres Gefühl zu vermitteln, welche emotionalen Faktoren ganze Industrien am Laufen erhalten (Warren 2016, 2018). Solche Ansätze besitzen ein kritisches Potenzial, auch weil sie die etablierte Textform akademischen Schreibens umgehen, beziehungsweise sie ablehnen. Ein ästhetischer Ansatz wendet sich dann gegen die Tradition des wissenschaftlichen Schreibens, das die Perspektive oftmals einengt, ästhetische Erfahrung nicht ungebrochen sondern nur gefiltert vermitteln kann, und darüber hinaus – wie Phillips et al. (2014) sagen würden – im phallogozentrischen Diskurs einer maskulinistischen Tradition von ‚harten Kerlen‘, die ‚harte Daten‘ erheben gefangen ist. Die Kritik an der männlich dominierten Publikationspraxis in der Organisationsforschung nimmt zu: Pullen (2017) setzt aus einer feministischen Perspektive die Einreichungen zu von Machtstrukturen durchsetzen peer-reviewed Journals bildlich einer chirurgischen Verkleinerung der sichtbaren weiblichen Geschlechtsteile gleich. So werden neue Wege des wissenschaftlichen Ausdrucks gesucht. Darunter fallen auch kunstbasierte Methoden als „feminine creation“ (Biehl-Missal 2015), die diesem Mainstream nicht als Anti-These widersprechen können – was wieder ‚harte Zahlen‘ erfordern würde – sondern ihn mit seinen traditionellen Methoden darstellen und bloßstellen möchte. So müssten kritische Forschungsmethoden weitere Wege erkunden, das Wissenschaftssystem infrage zu stellen und zu ändern.

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3 Fazit Bei der Diskussion von Konzepten und Methoden des Tanzes in der Organisationsforschung und -praxis zeigt sich durchgehend das Spannungsfeld von instrumenteller (Ver-)Nutzung und emanzipatorischem Potenzial. Konzepte der Tanzwissenschaft wurden bereits als oberflächliche Metapher auf Organisationen angewendet, eignen sich aber durch ihren Fokus auf den sich bewegenden Körper und ihre interdisziplinäre Tradition im Wissenschaftsdiskurs hervorragend für eine kritische Perspektive im Feld der intellektuellen Analyse. Bei Anwendungen von Tanz als Methode zum ästhetischen Training in Organisationen kann der Körper zwar wie in historischer Tradition weiter diszipliniert und beeinflusst werden, aber auch emanzipatorisch genutzt werden. In den ästhetischen Methoden besteht meines Erachtens das größte Potenzial zur Fortführung der kritischen Managementforschung als performatives Projekt, das laut Spicer und Kollegen aktive Einmischung verlangt als „active and subversive intervention into managerial discourses and practices“ (Spicer et al. 2009, S. 538). Hier bestehen Möglichkeiten der „welterschließenden Kritik“ (Hartz 2017), welche den Gegensatz von Affirmation und permanenter Kritik unterläuft und so zu einer Revitalisierung von Kritik beitragen kann. Tanz hilft uns, über andere und alternative Formen des Organisierens zu reflektieren und diese auch ‚in Gang‘ oder ‚in Bewegung‘ zu bringen. Gerade künstlerische Methoden sind performativ im Sinne der Tanzwissenschaft oder Performance Studies und können kritisch in Organisationen und die Organisationsforschung eingreifen. In den letzten Quadranten der besprochenen Matrix, mit den aktiven Formen von Tanz als Methode zur Arbeit an organisationalen Themen wie Führen und Folgen und als Forschungs- und Publikationsmethode, lässt sich ein Ausgangspunkt für eine performative und kritische Einmischung in Organisationen sehen, die nun noch weiter umgesetzt werden muss. Danksagung  Ich möchte an dieser Stelle sehr herzlich Prof. Dr. Ariane Berthoin Antal (WZB) danken, die mit ihrer Forschung zu künstlerischen Interventionen („Artistic Interventions“) das Feld maßgeblich international vorangetrieben hat, für ihre Unterstützung meiner Forschung zur Wirtschaftsästhetik und auch für den Zuspruch zu Tanz und Organisation. Mein Dank gilt auch allen Forscherinnen im Bereich Tanz und Management und den Praktikerinnen, wie Katrin Kolo, die sich in den Diskurs eingebracht haben. Ebenso dem Herausgeberteam für das konstruktive Feedback während des Prozesses der Entstehung dieses Beitrages

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Alltagsästhetik der Arbeit – Was wir zeigen, wenn wir über Arbeit sprechen Pierre Smolarski

Der Beitrag möchte zwei Dinge leisten. Zum einen soll versucht werden, einen Vorschlag zur Bestimmung des Begriffs der Alltagsästhetik zu machen. Zum anderen soll über Visualisierungen von Arbeit gesprochen werden. Da dieser zweite Teil als eine Ausführung zur Alltagsästhetik verstanden werden soll, gilt es zunächst, einige Bemerkungen zur Alltagsästhetik zu machen. Die im weiteren Verlauf sich abzeichnende alltagsästhetische Analyse bleibt allerdings fragmentarisch und soll lediglich exemplarisch auf die visuelle Kommunikation innerhalb eines der unumstritten größten Diskurse der Sozialpolitik aufmerksam machen: die Bilder der Arbeit. Durch die im Weiteren verfolgte alltagsästhetische Annäherung an das Phänomen ‚Arbeit‘ ist der hier verwendete Arbeitsbegriff deutlich umfassender als das, was mit Lohn- oder Erwerbsarbeit bezeichnet wird. Der Aufsatz ist getragen von der These, dass die historisch variablen Bestimmungen des Arbeitsbegriffes keineswegs als einander ablösend und damit nacheinander überwindend zu denken sind. Von der antiken Auffassung als Mühsal, Last und sklavischem Unterworfensein unter die Notwendigkeiten des Lebens, über das nach Max Weber protestantisch inspirierte Arbeitsethos als Dienst und Pflicht gegenüber Gott und Gemeinschaft und Disziplinarmaßnahme gegenüber dem Selbst, bis hin zu marxistischen Interpretationen als conditio humana und den modernen Auffassungen von der Arbeit als Selbstverwirklichung und Bedingung gesellschaftlicher Teilhabe, sind Elemente aller dieser er- und verklärenden Ansätze heute noch präsent. Sie sind der geheime Schatz rhetorischer Topoi, die je nach Situation, Soziallage und politische Intention mal mehr, mal weniger im Fokus des Diskurses stehen, P. Smolarski (*)  Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_5

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dessen verbindendes Element das Wort ‚Arbeit‘ ist. Dieses Wort immer wieder auf den Begriff zu bringen, ist zweifelsohne ein wesentliches Kennzeichen des politischen und gesellschaftlichen Kampfes um Hegemonie. Die Alltagsästhetik dieses Arbeitsdiskurses, wie sie im Weiteren entwickelt wird, beabsichtigt diese Herstellung von Hegemonie, also die Konstruktion und Aufrechterhaltung einer herrschenden und beherrschenden Interpretation, rhetorisch und ästhetisch zu untersuchen. Ich nenne diese Untersuchungsart ‚Alltagsästhetik‘, weil es vorrangig um Audio-Visuelles, um Designprodukte wie Plakate, Werbefilme und Talkshow-Einspieler gehen wird und weil die hier verhandelten Gegenstände in jedweder Weise ‚alltäglich‘ sind.

1 Was ist Alltagsästhetik? Wir können in einer ersten Annäherung an den Begriff drei Gegenstandsbereiche unterscheiden, die mitunter als Bereiche der Alltagsästhetik bezeichnet werden. Alltagsästhetik kann verstanden werden als die ästhetisch geleitete Untersuchung von Phänomenen, die Alltag thematisieren, ihn also etwa im Falle von Bildern abbilden. In diesem Sinne wären die sozialgeschichtlichen Familienzyklen von Émile Zola oder die Darstellungen Gustave Courbets ebenso Gegenstand der Alltagsästhetik wie die Arbeiterfotografie oder Reportagen über das Leben unter Hartz IV. Zweitens kann darunter eine ästhetische Untersuchung von Phänomenen, die alltäglich sind, etwa alltägliche Praktiken oder Artefakte, die im alltäglichen Umgang eine Rolle spielen oder diesen Alltag ausmachen verstanden werden. Hierunter fiele dann im Grunde fast alles: schreiende Kinder, schmutzige Fenster, Bushaltestellen, Einkaufswägen, Kassenschlangen und Trenner für das Warenband, Stifthalter im Büro und Teeküchen ‚auf Arbeit‘. Drittens kann Alltagsästhetik aber auch Darstellungskonventionen in den Blick nehmen, die direkt auf den Alltag wirken, oder besser: deren primäre und eigentliche Wirkung sich im Verständnis von Alltag entfaltet. In dieser Weise können etwa Haushaltsgeräte, deren primäre Wirkung die nachhaltige Veränderung alltäglicher Prozeduren ist, zu Symbolen für Alltagspraktiken werden. Alltagsästhetik würde dann die symbolische Seite der letztlich kommunikativen Herstellung von Alltag zum Gegenstand haben. Mehr in dieser letzten Weise möchte ich Alltagsästhetik als die Untersuchung verstehen, die nach den Erscheinungsweisen grundlegender Ordnungsmuster des Alltags in einem Artefakt fragt. Das schließt die Untersuchung von Reportagen über Alltägliches nicht aus, gibt dieser aber eine spezifische Richtung. Denn nun stehen vor allem die Elemente der Darstellung im Fokus, die sich mit den

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Strukturen des Alltäglichen befassen. Möchte man die Formulierung ‚etwas alltagsästhetisch untersuchen‘ verwenden, die man meines Wissens nach bislang im Grunde nicht gebrauchen kann, da sie eine Methode der Alltagsästhetik impliziert und nicht nur einen Gegenstandsbereich, der, wie wir gesehen haben, im Grunde noch alles umfassen kann, was uns umgibt, so müssen wir dieser Untersuchung einen spezifischen Sinn und geeignete Mittel zur Erreichung dieses Sinns an die Hand geben. Entscheidend wird sein, wie wir dabei den Wortteil ‚ästhetisch‘ verstehen. Er wird im Weiteren nicht, wie es häufig geschieht, als Ausdruck für ‚visuell‘ oder für ‚schön‘ verwendet, sondern für eine Ausdruckweise, die sich vor allem durch Prägnanz auszeichnet. Die perceptio praegnans, die Alexander Gottlieb Baumgarten (2007) als die ästhetische Sichtweise versteht und die er seiner Ästhetik als der Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis zugrunde legt, ist für uns der Wegweiser zur Bestimmung des Ästhetischen. Prägnanz meint ‚voll sein‘, ‚schwanger‘ und ist gerade das Gegenteil von Präzision. Die ästhetische Idee, wie sie Kant in der Nachfolge Baumgartens bestimmt, kommt eben in der Darstellungsweise zum Ausdruck „die viel zu denken veranlasst“1. Prägnant ist eine Darstellung, wenn „sie bei größtmöglicher Klarheit und Einfachheit maximalen Bedeutungsreichtum birgt“ (Müller 1989, Sp. 1249). In dieser Weise verstanden, können wir sagen: Die alltagsästhetische Untersuchung fragt nach den prägnanten Erscheinungsweisen grundlegender Strukturen des Alltags in einem Artefakt. Es geht also um die ästhetische Präsentationsweise von Alltagsstrukturen. Oder anders formuliert: Die alltagsästhetische Untersuchung sucht nach möglichst einfachen und klaren Darstellungsweisen von bedeutungsreichen Alltagsstrukturen. Ihr muss demnach eine Theorie des Alltags zugrunde gelegt werden, die es ermöglicht, diese Strukturen zu erkennen.

2 Alltagsästhetik als eine Rhetorik der Ideologie Bevor wir uns dieser Theorie des Alltags annehmen, von der wir uns erhoffen können, dass sie uns die Begriffe an die Hand gibt, mit denen wir eine alltagsästhetische Untersuchung angehen können, werden wir noch einmal auf die Fragen nach dem Was und Wie der Alltagsästhetik zurückkommen müssen. Bereits

1Kant (2006, § 49) schreibt: „unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“

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Baumgarten (2007, § 5) nahm den Vorwurf in seiner Aesthetica vorweg, die Ästhetik behandele doch dasselbe wie die Rhetorik und Poetik. Und in der Tat ist der Bezug zur Rhetorik fundamental. Die Rhetorik, als die Kunst, in allem das möglicherweise Glaubenerweckende und damit Überzeugende zu erkennen, ist in ihrem Kern eine Technik des wirkungsintentionalen Umgangs mit Meinungen (Aristoteles Rhetorik I.2,1355b,26).2 Es geht der Rhetorik nicht primär um Wahrheit, sondern um das, was glaubwürdig ist; also um Meinungen, die sich vertreten lassen. Der Schlüssel hierbei liegt in den Meinungen, die vom Publikum bereits anerkannt werden, an denen das Publikum hängt und denen es bereits Glauben schenkt. Die Identifikation mit diesem Publikum auf der einen Seite und die Identifikation der eigenen Meinung mit den bestehenden Meinungen ist damit das Kerngeschäft des Rhetors (Burke 1969; Smolarski 2017). In den Worten Umberto Ecos: „Einerseits neigt die Rhetorik dazu, die Aufmerksamkeit auf eine Rede zu fixieren, die auf ungewohnte (informative) Art von etwas überzeugen will, was der Zuhörer noch nicht wusste. Andererseits erreicht sie dies Ziel dadurch, dass sie von etwas ausgeht, was der Hörer schon weiß und will, und dass sie zu beweisen versucht, wie die Schlussfolgerung sich ganz natürlich daraus ableitet“ (Eco 2002, S. 184). Gegenstand der Rhetorik ist demnach das, was auch anders gesehen, bewertet oder sich ereignet haben kann und worüber zu beraten folglich lohnt. Denn, wie Aristoteles schreibt, „über das, was nicht anders sein, werden oder sich verhalten kann, beratschlagt niemand, sofern er annimmt, dass es sich so verhält; das bringt ja nichts mehr ein“ (Aristoteles Rhetorik I.12,1357a). Gerade das aber, was rhetorisch nichts mehr einbringt, das, was aufgefasst wird, als das, was ‚nicht anders sein kann‘, was notwendig ist und notwendig so ist, wie es ist, ist Gegenstand der Alltagsästhetik. Auf der Gegenstandsebene lässt sich also Alltagsästhetik von Rhetorik klar unterscheiden. Auf der Ebene der Methode aber sieht dies anders aus. Denn in dem Moment, wo etwas alltagsästhetisch in den Blick genommen werden soll, muss es, um überhaupt erfasst werden zu können, gegen ein Anderes, das wenigstens verworren vor Augen steht, abgegrenzt werden. Die alltagsästhetische Untersuchung rhetorisiert damit die Gegenstände der Alltagsästhetik und kann dann Fragen der Glaubwürdigkeit und Strategien der Erzeugung von Glaubwürdigkeit auch an Darstellungsweisen und Gegenstände richten, deren zentrale Eigenschaft es ist, auf Glaubwürdigkeit nicht angewiesen zu sein.3

2Zur 3Zur

Wirkungsintentionalität siehe auch: (Scheuermann 2009; Smolarski 2017). Rhetorisierung der Alltagsästhetik, siehe: Smolarski (2018).

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Darin ist aber nicht ein Verfehlen ihres Gegenstands zu sehen, sondern vielmehr kommt darin eine grundlegende Ausrichtung der alltagsästhetischen Untersuchung zum Ausdruck: Eine alltagsästhetische Untersuchung ist, so kann zugespitzt werden, in ihrem Kern ideologiekritisch. Sie gründet auf einem prinzipiellen Werterelativismus, der jede Proklamation der Notwendigkeit und Alternativlosigkeit als ideologisches Zeichen interpretiert. Und weil es die Alltagsästhetik ihrem Gegenstandsbereich nach letztlich mit ‚bloßen‘ Bestätigungen der herrschenden Alltagsideologie zu tun hat, also mit Gegenständen, die sich dem Diskurs weitgehend entziehen, ist das rhetorische Problematisieren dieser Gegenstände ideologiekritisch; auch wenn der alltagsästhetischen Betrachtung im Allgemeinen das fehlt, was eine rhetorische Intervention ausmacht: die klare Parteinahme für eine Gegenposition. Der Alltag ist eben nicht agonal, nicht durch den Streit der Meinungen bestimmt, sondern in erster Linie routiniert und affirmativ. Da, wo Streitbares auftritt, werden wir aus dem alltäglichen Einerlei gerissen und betreten die Bühne der Rhetorik. Womit hat es also die Alltagsästhetik zu tun? Die Alltagsästhetik untersucht nicht primär die Gegenstände des Alltags, sondern prinzipiell alle Gegenstände in ihrem Bezug zur Alltäglichkeit des Daseins, das heißt, in ihrem routinierten, stabilisierenden und affirmativen Charakter. In genau diesem Sinne ist auch die Theorie des Alltags der ungarischen Philosophin Agnes Heller zu verstehen, die den Alltags in der Wechselwirkung von Subjekt- und Gesellschaftsebene bestimmt: „Um die Gesellschaft reproduzieren zu können, ist es notwendig, dass die einzelnen Menschen sich selbst als einzelne Menschen reproduzieren. Das Alltagsleben ist die Gesamtheit der Tätigkeiten der Individuen zu ihrer Reproduktion, welche jeweils die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Reproduktion schaffen“ (Heller 2015, S. 24).4

3 Theorie des Alltags – rhetorische Strukturen Es gibt verschiedene Wege, sich dem Alltag zuzuwenden. Man kann sich etwa mit dem Alltag eines konkreten einzelnen Menschen befassen, wie es eine psychologische Untersuchung tun würde, die aus dieser Untersuchung Rückschlüsse beispielsweise auf psychische Störungen oder Abweichungen ziehen will. Oder man kann sich dem Alltag einer Gruppe von Menschen zuwenden, wie

4In

diesem Sinne könnte auch fruchtbar an Konzepte der Lebensform angeknüpft werden, wie sie unter anderem im Umfeld der kritischen Theorie weitergedacht worden sind. Siehe hierzu u. a.: Jaeggi (2014).

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es ­Aufgabe der Soziologie ist, um Erkenntnisse über alltagsbedingtes Gruppenverhalten zu erhalten. Schließlich kann man nach Strukturmomenten des Alltäglichen suchen und versuchen diese innerhalb einer ‚Philosophie des Alltags‘5 begrifflich zu fassen. Alle diese Herangehensweisen sind theoretischer Natur, denn praktisch lässt sich der Alltag nur ‚bewältigen‘ oder ‚bestreiten‘, nicht aber erforschen. Eine alltagsästhetische Auseinandersetzung tendiert eher in die Richtung einer Philosophie des Alltags (Vgl. Smolarski 2018). Im Weiteren wird diesbezüglich vor allem an die Arbeiten Martin Heideggers, Hannah Arendts und Agnes Hellers angeknüpft.6 Gemeinhin wird Arbeit als ein Alltagsphänomen verstanden. Gerade die Alltäglichkeit der Arbeit und ihre Omnipräsenz – insbesondere heutzutage, wo im Grunde jede Tätigkeit die Form der Arbeit anzunehmen scheint – macht sie jedoch für eine ästhetische Untersuchung fast unsichtbar. Eben weil sich die Alltäglichkeit in der Indifferenz dessen äußert, was ‚zunächst‘ und ‚zumeist‘ ist, gerät sie in ihrer Durchschnittlichkeit aus dem Blick (Heidegger 2006, S. 43). Diese Durchschnittlichkeit – nicht im mathematischen Sinne – interessiert aber vor allem bei einer alltagsästhetischen Betrachtung der Arbeit. Ich werde nun versuchen einige Aspekte des Alltäglichen herauszuarbeiten, die auch helfen werden, die alltagsästhetische Betrachtung von der rhetorischen zu unterscheiden, gleichwohl beide aufs Engste miteinander verzahnt sind. Ich werde dies anhand der Auseinandersetzung mit den drei klassisch-rhetorischen Überzeugungsmitteln tun und zeigen, dass allesamt – Ethos, Pathos und Logos – im Alltäglichen prekär sind. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – ist

5Eine

solche Philosophie des Alltags schließt u. a. auch soziologische, ethnologische oder auch ethnomethodologische Ansätze selbstverständlich mit ein. 6Auch wenn diese Arbeiten sich im Detail sehr unterschiedlich mit dem Alltag befassen, haben sie doch einiges gemeinsam. Insbesondere Heidegger und Heller erheben die Alltäglichkeit des Daseins zu einem zentralen Ausgangspunkt der eigenen Theoriebildung, wenn auch aus unterschiedlichen Motivlagen heraus. Will Heidegger – und ebenso Arendt – die Alltäglichkeit, als das Graue, das Eintönige, den Ort des Geredes und der Diktatur des ‚Man‘ überwinden, so stellt der Alltag für Heller ein unüberwindliches Faktum dar, das es allerdings so zu gestalten gilt, dass Individualität möglich wird. Heller leugnet nicht den affirmativen, routinierten Charakter des Alltags, der eben jene Eintönigkeit zu erzeugen vermag, in der sich für Heidegger und Arendt der Alltag eben auch schon wieder zu erschöpfen scheint. Alltag ist aber eben auch der Garant für Stabilität und Sicherheit. Diese mit Freiheit und Individualität in Einklang zu bringen ist die eigentliche Herausforderung einer gelungenen Praxis des Alltags. Siehe dazu: Heidegger (2006), Arendt (2015), Heller (2015).

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das Alltägliche der Ort, an dem sich unsere grundlegenden Überzeugungen und die uns tragenden Meinungen herausbilden und im Allgemeinen unkritisch und unreflektiert den Korpus ausbilden, der von einem Rhetor im persuasiven Geschäft bedient werden will.

3.1 Das Ethos des ‚Man‘ Auch wenn wir unser alltägliches Dasein als privat empfinden und meinen, unseren Alltag allein ‚meistern‘ zu müssen, ist der Alltag ein zutiefst gesellschaftliches Phänomen. Mehr noch: In einen Alltag wächst man hinein und er findet sich dabei immer schon vorgezeichnet durch die Anderen. Nach Heidegger sind die Anderen, „die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, [… diejenigen], die im alltäglichen Miteinandersein immer schon da sind“ (S. 126). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wer eigentlich das Subjekt im alltäglichen Dasein ist. Heideggers (Heidegger 2006, S. 43) Antwort auf diese Frage ist bezeichnend: „Das Wer [des alltäglichen Daseins] ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das ‚Wer‘ ist das Neutrum: das Man.“ Dieses Wer, das ‚Man‘, ist eine interessante Figur. Nicht ich bestreite meinen Alltag, sondern ‚man bestreitet seinen Alltag‘. Wir beziehen uns auf dieses ‚man‘ unentwegt in unserer alltäglichen Orientierung. Wir weisen andere zurecht, indem wir sagen, dass man dieses oder jenes nicht macht, dass man so etwas nicht sagt oder dass man das nicht denkt. Wir sehen die Sachen, wie man die Sachen eben sieht, wir erledigen unsere Besorgungen, wie man sie eben erledigt und selbstverständlich arbeiten wir, wie man eben arbeitet. Gerade in Bezug zur Arbeit ist eine Beobachtung des französischen Sozialphilosophen André Gorz bemerkenswert. Er stellt in seinem Buch Arbeit zwischen Misere und Utopie von 1997 fest: „Die ideologische Botschaft hat sich geändert. Aus der Losung: ‚Egal welche Arbeit, Hauptsache eine Lohntüte‘ wurde: ‚Egal wieviel Lohn, Hauptsache ein Arbeitsplatz“‘ (Gorz 2000, S. 80). Ein in dieser Hinsicht bemerkenswerter Einspieler aus der Talkshow Anne Will mag dies exemplarisch verdeutlichen.7 (Abb. 1). Zwei Frauen, alleinerziehend, beide mit drei Kindern, stehen vor der Frage: Hartz IV oder Schrott sammeln? Da Arbeitslosigkeit als nicht normal gilt, bleibt

7Es

handelt sich um einen Einspieler aus der Sendung: Anne Will: Immer mehr Hartz IV-Sanktionen – fiese Schikane oder notwendige Kontrolle? Das Erste: 28.11.2012.

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Abb. 1   Vorbildliche Opferbereitschaft. Anne Will: Immer mehr Hartz IV-Sanktionen – fiese Schikane oder notwendige Kontrolle? Das Erste: 28.11.2012. https://www.youtube. com/watch?v=UXmRkCYpTZs

den Frauen unter Normalisierungsdruck in dieser Frage nur eine Antwort, die der Einspieler vermittelt: Seit fünf Jahren, sechs Tage die Woche, nicht weniger als eine Tonne am Tag Schrott sammeln. Der herrschende Diskurs preist Gorz zufolge „die Zentralität der Arbeit, stellt sie als ein ‚Gut‘ dar, anders gesagt, als eine knappe Ware, als etwas, das man hat oder nicht hat, und nicht als etwas, das man tut“ (S. 81). Wir können also den alltäglichen, gesellschaftlichen Konsens zusammenfassen und sagen: Man hat Arbeit und man hat Arbeit zu haben. Das Beispiel zeigt aber noch mehr: Wenn zwei Frauen, mit den Worten Gorz, „zu allen Zugeständnissen und Demütigungen“ (S. 80) bereit sind, um nicht in die als abnormal geltende Arbeitslosigkeit abzurutschen und dafür auch eine Tonne Schrott am Tag körperlich stemmen, sich – wie die Betroffene im Einspieler deutlich macht – schuldig gegenüber ihren Kindern fühlen und am Ende sicherlich keine üppige Lohntüte haben, so wird klar, dass die hier gezeigten Frauen nicht nur als Beispiel angeführt werden, sondern überdies als beispielhaft gelten sollen. Sie werden damit Teil einer Normalisierung dieser Verhältnisse, eine Normalisierung, gegen die keiner der Studiogäste Einspruch erhebt und es sicherlich auch kaum überzeugend könnte. Es ist vor dem Hintergrund des eben formulierten gesellschaftlichen Konsenses, nämlich dass man Arbeit hat und dass man Arbeit zu haben hat, auch verständlich, warum der Arbeitsbegriff im alltäglichen Sprachgebrauch heute im Grunde mit jeder Tätigkeit verbunden werden kann. Denn im ‚man‘ kommt nicht nur die Routiniertheit des Alltags zum Ausdruck, mehr noch ist das ‚man‘ die Quelle der Normativität des Alltags. Wer gegen das, was man so macht und nicht anders, handeln will, braucht gute Gründe.

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Wenn wir Kinder im Spiel beobachten, die sich gegenseitig mit dem Hinweis ‚Nein, so macht man das nicht‘ auf die Regeln des Spiels verweisen, so wird klar, dass dieses ‚man‘ die erste intersubjektiv geteilte Autorität ist, auf die man sich im rhetorischen Prozess beziehen kann. Nun muss einer Autorität, damit diese überhaupt als solche anerkannt werden kann, ein Ethos zukommen. Unter dem Begriff Ethos wird in der klassischen Rhetorik ein ganzes Bündel von Überzeugungsmitteln versammelt, die allesamt eine Sache gemeinsam haben: Sie ergeben sich aus den Urteilen und Vorurteilen des Publikums gegenüber der Orator-Instanz. Einsicht, Wohlwollen und Tugendhaftigkeit sind die drei Kategorien die Aristoteles hierzu anführt (Aristoteles Rhetorik II.1,1378a). Wir könnten vieles weitere ergänzen, wie etwa Alter, Geschlecht und soziale Stellung. Eben weil es die Rhetorik ‚bloß‘ mit Meinungen und nicht mit Wahrheiten zu tun hat, ist es eben entscheidend für die Glaubwürdigkeit, wer diese vertritt. Fragt man jedoch nach dem Ethos des ‚man‘, so müssen wir zunächst mit Heidegger feststellen: „Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist Niemand“ (S. 128).8 Dieses ‚man‘ entbehrt jeder Rechenschaft, ist nie verantwortlich zu machen, steht nicht ein, für das, was ‚man‘ sagt, macht, fühlt oder denkt. Mit Heidegger formuliert: „Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man ‚war‘ es immer und doch kann gesagt werden, ‚keiner‘ ist es gewesen. In der Alltäglichkeit des Daseins wird das meiste durch das, von dem wir sagen müssen, keiner war es“ (S. 127).9 Das Ethos des ‚man‘ in der alltäglichen Rede ist also prekär. Die Crux bei Heidegger ist, dass das ‚man‘ nicht bloß eine rhetorische Figur ist, nicht bloß ein Pappkamerad, der, wenn er funktioniert, als primäre Autorität fungiert und wenn einer nachfragt, sich in Luft auflöst. Denn für Heidegger ist auch das Selbst zunächst und zumeist im alltäglichen Dasein kein eigentliches Selbst, sondern nur das ‚Man-selbst‘. Er schreibt: „Zunächst ‚bin‘ nicht ‚ich‘ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir ‚selbst‘ zunächst ‚gegeben‘. Zunächst ist das Dasein

8Mit

Agnes Heller gesprochen ist das Subjekt des alltäglichen Daseins zunächst der Einzelne (resp. die Einzelne) auf der Ebene der Partikularität. Dieser partikulare Einzelne, der um seine Anpassung an die gesellschaftlichen Objektivationen besorgt ist, ist dem ‚man‘ bei Heidegger verwandt. Die zentrale Motivationslage bei beiden ist die Sorge. Diese Verwandtschaft der Konzepte wird besonders deutlich in der Figur des ‚Man-Selbst‘ bei Heidegger, der sich eben durch die gesellschaftlichen Objektivationen selbst bestimmt. Vgl. Heller (2015). 9Die Kursivierungen sind vom Autor vorgenommen.

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Man und zumeist bleibt es so“ (S. 129). Man-Selbst, das ist das Selbst, dass sich offen vom Anderen her denkt und bestimmt. Die alltägliche Rede vom ‚manselbst‘ proklamiert den Anschluss des Selbst über das ‚man‘ im Anderen. Und weil im ‚man-selbst‘ neben dem ‚ich‘ ebenso das ‚Auch-du‘ mitschwingt, ist es zugleich eine rhetorische Formel der Identifikation. Rhetorisch gesehen – also nicht fundamental-ontologisch wie bei Heidegger – ist diese Formel vor allem da von Nutzen, wo das ‚Ich‘ zu solipsistisch und das ‚Auch-du‘ zu provokativ wirken könnte. Auch hier also sichert das ‚man‘ ab. Man behält sich offen, wo man auf Zweifel stößt, das ‚man-selbst‘ so oder so gemeint zu haben. Grundsätzlich gilt aber, dass man sich, wenn man tatsächlich auf Zweifel stößt, bereits in einem agonalen Kontext befindet, der als solcher die Alltäglichkeit ereignishaft durchbricht.

3.2 Das Pathos des Alltags ist der Gleichmut Im Bereich des Pathos wird besonders deutlich, dass der Gegenbegriff zum Alltag das Ereignis ist, also das aus der Alltäglichkeit Herausragende, dem ein wahrnehmbarer und mitteilbarer emotionaler Wert zugesprochen wird. Der ereignislose Alltag hingegen ist es, der uns verleitet, die Frage, was bei uns so passiert sei, mit der Bemerkung zu quittieren: ‚Nichts.‘ Gleichwohl ist der Alltag immer auch gestimmt, er verläuft nicht stimmungslos. Heidegger (S. 134) schreibt: „Der ungestörte Gleichmut ebenso wie der gehemmte Missmut des alltäglichen Besorgens, das Übergleiten von jenem in diesen und umgekehrt, das Ausgleiten in Verstimmungen sind ontologisch nicht nichts, mögen diese Phänomene [auch] als das vermeintlich Gleichgültigste und Flüchtigste im Dasein unbeachtet bleiben. Dass Stimmungen verdorben werden und umschlagen können, sagt nur, dass das Dasein je schon immer gestimmt ist.“ Diese Gestimmtheit des Alltags, die „graue, unauffällige Färbung“10 ist schon deshalb notwendig und erfährt auch in Heideggers Rhetorikverständnis eine Aufwertung, weil, wie er sich ausdrückt, selbst „ein reines Anschauen, und dränge es in die innersten Adern des Seins eines Vorhandenen, […] nie so etwas zu entdecken [vermöchte] wie Bedrohliches“ (Heidegger 2006, S. 138). Die primäre Entdeckung der Welt erschließt sich für uns zunächst und zumeist auf der Grundlage ‚bloßer Stimmung‘. In Bezug zur Rhetorik, die unter dem Begriff Pathos gemeinhin die

10Heidegger

zit. nach Thanassas (2009. S. 261).

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­ berzeugungsmittel versammelt, die auf die Gefühlslage des Publikums, auf ihre Ü Affekte und Stimmungen wirken sollen, führt Roman Dilcher aus: „Die für die Rhetorik relevanten Affekte sind mithin nichts, was beiläufig ‚auch noch‘ irgendwie im Hörer vorhanden ist und gegebenenfalls berücksichtigt werden muss. Sie sind vielmehr aufzufassen als die psychische Seite der Handlungssituation, die zur Beratung steht“ (Dilcher 2009, S. 107). Die bloße Gestimmtheit des Alltags, so fundamental sie auch sein mag, ist aus rhetorischer Sicht aber allenfalls als ein prekäres Pathos zu bezeichnen. Deutlich wird dies gerade ex negativo, wenn wir uns etwa Werbung für Alltagsprodukte ansehen, deren Produkteigenschaften kaum noch eine ergiebige Quelle zur Bewerbung derselben abgeben und die als Gegenstände unter das genus humile11 fallen. Es werden Lebensgefühle mit Alltagsprodukten in Verbindung gebracht, der Alltag wird, und darauf kommt es mir an, damit ereignishaft inszeniert. Man denke etwa an den ‚Zott Sahne Joghurt‘, der hinein ins Weekend-Feeling zu führen verspricht, oder den Edeka-Supergeil-Werbespot, der es schaffte, nicht nur den Einkauf in einer Supermarktkette als Erlebnis zu glorifizieren, sondern als Werbespot selbst zum Erlebnis wurde, der auf Youtube über 17 Mio. Mal freiwillig verfolgt wurde. Im Bereich der Alltäglichkeit des Arbeitens ist die Unterscheidung von Alltag und Ereignis für die vorliegende Untersuchung tragend. Ein Verständnis der vermeintlich alltäglichen Gestimmtheit, das diese Unterscheidung notwendig macht, ist in jüngster Zeit vom Soziologen Hartmut Rosa vorgebracht worden. Dieser entwickelt in seinem 2016 erschienenen Buch Resonanz eine Theorie der Resonanzbeziehung als eines basalen Modus des In-der-Welt-Seins (vgl. Rosa 2016). Dabei versteht er unter Resonanz „eine durch Affizierung und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren“ (S. 298). Arbeit ist nach Rosa ein Ort solcher Resonanzerfahrungen. Diese gründet sich zum einen auf die Erfahrung des Affiziert-werdens durch Dinge und zugleich eine „Aktivierung der gegenläufigen Bewegungsrichtung: Das Berühren, Bewegen, Verändern,

11Das

genus humile ist eines der Vertretbarkeitsgrade der klassischen Rhetorik. Als Vertretbarkeitsgrade bezeichnet Wolfgang Gast im Historischen Wörterbuch der Rhetorik „Abstufungen in der Einschätzung, die einer Rechtssache aus sachlichen oder persönlichen Gründen bei den Richtern bzw. den Zuhörern im Prozess zuteil wird“ (Gast 2009. Sp. 1116.). Ein Redegegenstand kann in diesem Sinne bspw. den Moralvorstellungen des Publikums und ihrem Interesse weitgehend entsprechen (genus honestum), diesen zuwider laufen (genus turpe), der Gegenstand kann dem Publikum fremd und schwer zugänglich sein (genus obscurum), der Gegenstand kann ambivalent sein (genus dubium) oder aber auch schlichtweg vom Publikum als weitgehend trivial empfunden werden (genus humile).

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Gestalten der Dinge und damit die Erfahrung handelnder Selbstwirksamkeit. Im Umgang mit Materialitäten wird dieser umgekehrte Vorgang gemeinhin als Arbeit kategorisiert“ (S. 393). Die Ding-Resonanz, der wir in der arbeitenden Tätigkeit, laut Rosa, begegnen, tritt in den Momenten auf, „wenn die Materie dem Arbeitenden entgegenzukommen oder zu antworten scheint, wenn sich zwischen Material, Werkzeug und Hand eine Beziehung einstellt“ (S. 396). Rosa sieht in der Resonanzerfahrung, die letztlich eine Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist, den entscheidenden Unterschied zwischen ‚guter‘ und entfremdender Arbeit. ‚Gute Arbeit‘ geht nach dem Index des DGB unter anderem mit betrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten, persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und Betriebskultur einher, berücksichtigt aber auch das Sicherheitsempfinden am Arbeitsplatz, des Arbeitsplatzes und auch der Zeit nach dem Arbeitsleben.12 Die Resonanz, als eine soziale Größe ist sicherlich eine, die die ‚gute‘ Arbeit mit zu definieren vermag; die Dingresonanz, von der Rosa spricht, wenn „das Material gleichsam zum Sprechen“ (S. 398) gebracht wird und dem Arbeitenden zu antworten scheint, ist hingegen von einer anderen Art. Sie impliziert, wie Rosa selbst ausführt, die Möglichkeit des Widerstands. „Ganz so, wie es das Resonanzkonzept verlangt, impliziert dabei die Idee des antwortenden Materials immer auch die Möglichkeit und das Auftreten von Widerstand, von Unvorhergesehenem und von Überraschungen. Der Teig, das Motorrad, aber auch der Text, den ich zu schreiben versuche, sie alle sprechen mit eigener Stimme; sie erweisen sich mitunter als widerspenstiges Material, lassen sich niemals vollkommen beherrschen, berechnen und vorhersehen. Tun sie es doch, hört die Beziehung auf, eine Resonanzbeziehung zu sein: Sie wird dann reine Routine“ (S. 396).

Die Resonanzerfahrung bricht, so könnten wir sagen, moment- und ereignishaft aus dem Alltäglichen hervor, ist aber selbst nicht alltäglich. Was nicht heißt, dass es nicht jeden Tag passieren kann und vielleicht auch – im Sinne der ‚guten Arbeit‘ – sollte. In die alltagsästhetischen Darstellungsweisen von Arbeit ist der Appell an diese Resonanzerfahrung auch schon eingeflossen. Der Hornbach-Werbespot ‚Festival‘ von 2012 überspitzt und ironisiert, was Rosa im Kern meint. (Abb. 2) „Keiner spürt es so wie Du“ -– so heißt es bei Hornbach – meint eine resonante Intimitätserfahrung zwischen dem Arbeitenden und seinem Material in Bezug auf ein Resultat, den geglückten Hammerschlag. Dieser Schlag entlässt den

12http://mein.index-gute-arbeit.de

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Abb. 2   Resonanzerfahrung beim Heimwerken. Hornbach: Festival. https://www.youtube. com/watch?v=ozVtCwTiInI

Heimwerkenden mit einer beglückenden Selbstwirksamkeitserfahrung zurück in seinen Alltag; die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, irgendwo bellt ein Hund, zweimal. Heimwerken scheint nicht nur ironisiert als der letzte Hort ungezügelter und dennoch positiv bewerteter Männlichkeit (wie ein kurzer Besuch eines Baumarkts deutlich machen kann), sondern vor allem als der Ort arbeitender Selbstwirksamkeit und Resonanz. Nur fehlt der Arbeit am eigenen Heim eine ganz wesentliche Dimension klassischer Arbeit: die politische. Auf ganz basaler Ebene wird Arbeit politisch, wenn sie in der Form des Zusammenarbeitens auftritt, weil erst dann die Öffentlichkeit entsteht, der die politische Dimension bedarf. Diese triviale Wahrheit allerdings scheint nicht, oder wenigstens nicht mehr, selbstverständlich zu sein. Sie wird von Gewerkschaften und politischen Parteien proklamiert, insofern es ihre Aufgabe ist, dem Menschen seine soziale Lage als Lage seiner Klasse bewusst zu machen. Auf diese Weise war sie nicht nur Teil des Selbstverständnisses der Arbeiter, sondern auch ihres Selbstbewusstseins. Dieses Selbstbewusstsein scheint heute losgelöst von Fragen des Klassenbewusstseins und wird allenfalls als visuelles Zitat noch in Zusammenhängen von Gemeinschaft und Kollegialität verwendet. (Abb. 3) Hier etwa in der pathetischen Art der Darstellung des Arbeiters, der beim ‚Personalhaus Bielefeld‘ wie der Profi behandelt wird, der er ist. Ein anderes Beispiel stammt aus einem der Werbefilme der Deutschen Bahn aus der Serie ‚Du passt zu uns‘ von 2017. Hieran ließe sich vieles diskutieren: etwa die enge Verbindung von Privatleben und Beruf, wobei nicht nur in diesem Spot der Serie, die fähigkeitsausbildende und damit arbeitsförderliche Stellung des privaten Hobbys betont wird; oder die Tempo und Takt vorgebende Musik, die zugleich

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Abb. 3   Arbeiterstolz I. Foto vom Autor. 07.01.2017 in Bielefeld

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Abb. 4   Arbeiterstolz II. Deutsche Bahn: Du passt zu uns. https://www.youtube.com/ watch?v=_Ppyf4fvIYU

vitalisierend und handlungstragend wirkt; oder etwa auch die Betonung, dass nicht jede Tätigkeit Spaß machen muss. Ich möchte allerdings lediglich auf die Inszenierung des Teamgeistes und auch den durchaus sichtbaren Stolz der Arbeiter aufmerksam machen (Abb. 4). Eine andere Form der Inszenierung des innergesellschaftlichen Zusammenhangs von Arbeit, die ganz im Sinne der Alltagsästhetik nicht thematisiert oder problematisiert, sondern lediglich stilisiert wird, findet sich auch auf Plakaten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von 2017 (Abb. 5). Die ungleichen Paare, die sich hier um die Losung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales versammeln, werden durch diese in einen Zusammenhang gebracht, der allerdings vollkommen offen lässt, ob es sich bei diesem Zusammenhang um bloße Kooperation oder um tatsächliche Solidarität handeln soll. Hier trifft unter anderem die SPD-Ministerin auf einen Rollstuhlfahrer (Abb. 6), ein gestikulierender Arbeiter auf eine Geschäftsfrau (Abb. 7) und eine junge Frau mit Migrationshintergrund, vielleicht eine Studentin, auf eine Net-Workerin (Abb. 8). Ein Vater mit seinem Kind streift die Szenerie (Abb. 9), auf anderen Plakaten dieser Serie umarmen Großeltern ihr Enkelkind. Sollen hier alltägliche Interaktionen und Szenerien über das lose Band eines politischen Werbespruchs für die Stärke sorgen, die nur zusammen entstehen kann? Der über die sozialen Netzwerke hierzu verbreitete Spot lässt ebenfalls daran zweifeln, ob es hierbei um Solidarität geht. Es scheint so als ginge es nicht einmal um das ‚gemeinsame Anpacken‘ (arbeiten tun hier andere) oder um Kooperation, sondern allenfalls um eine lose räumliche Verbindung und unverbindliche Kontakte (Abb. 10).

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Abb. 5   Das lose Band gemeinsamer Arbeit I. Foto vom Autor. 28.12.2016 in Düsseldorf

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Abb. 6   Das lose Band gemeinsamer Arbeit I. Foto vom Autor. 28.12.2016 in Düsseldorf

Abb. 7   Das lose Band gemeinsamer Arbeit I. Foto vom Autor. 28.12.2016 in Düsseldorf

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Abb. 8   Das lose Band gemeinsamer Arbeit I. Foto vom Autor. 28.12.2016 in Düsseldorf

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Abb. 9   Das lose Band gemeinsamer Arbeit I. Foto vom Autor. 28.12.2016 in Düsseldorf

Abb. 10   Das lose Band gemeinsamer Arbeit II. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Wir machen Deutschland zusammen stark. 2017. https://www.youtube.com/ watch?v=JfITF7IfdkU

Was in diesem Spot eben auch gezeigt wird, ist, dass sich Arbeit im 21. Jahrhundert nicht mehr eindeutig ersehen lässt und dass die Differenzen zwischen dem Privaten und dem politischen Bereich als dem Öffentlichen, das Arbeit immer auch ist, eingeebnet sind. In diese Richtung deutet wohl auch dieses ikonografisch

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reichhaltige Bild (Abb. 11) zu den Landtagswahlen 2017 in NRW. Ein Arbeitsplatz, der sich nicht klar zuordnen lässt, eine Arbeitstätigkeit, die sich nicht klar zuordnen lässt und eine arbeitende Frau, die sich – insbesondere durch den Hund auf ihrem Schoß – auch nicht klar zuordnen lässt. Irgendwo zwischen Home-Office und Büroarbeit, mit einem Herren-Rad im Hintergrund und einem Ausblick auf die Zeche, jenem Ort der Arbeiterklasse, die so nicht mehr existiert, ist die Arbeit verortet, von der die SPD sagen will, dass sie sie schaffe. Auch die Redeweise ‚Wir schaffen Arbeit‘ macht deutlich, dass der Arbeitsbegriff entgrenzt ist. Arbeit bezeichnet eben nicht nur eine Tätigkeit und nicht nur einen Ort, etwa wenn wir sagen, ‚wir fahren auf oder zur Arbeit‘, sondern eben auch jenes Gut, von dem Gorz spricht, den Arbeitsplatz. Während Arbeit als Tätigkeit sich nur verursachen lässt und der Arbeitsort, die Fabrik, das Büro, sich nur bauen lassen, ist es allein das ‚Gut‘ Arbeit, dass sich ‚schaffen‘ lässt; und dieses Schaffen, das Produzieren der – wie Gorz sagt – ‚seltenen Ware Arbeit‘ ist ja selbst wieder Arbeit. Kommen wir zurück zur Resonanzerfahrung, wie sie Rosa versteht und wie wir sie ironisierend im Hornbach-Werbespot gesehen haben. Die Resonanzerfahrung ragt aus der Alltäglichkeit des arbeitenden Daseins hinaus, durchbricht diese ereignishaft, und ihr kommt letztlich auch und vor allem ein emotionaler Wert zu. Dieser emotionale Wert, der mit dem geglückten Hammerschlag einhergeht, mag situativ die tausend mehr oder weniger geglückten Hammerschläge vergessen machen, die aber nichtsdestotrotz elementarer Bestandteil unseres alltäglichen Daseins sind. Darstellungen dieser Art bleiben, obgleich sie auf etwas Bezug nehmen, das außerhalb der Alltagserfahrung liegt, Gegenstände der Alltagsästhetik. Denn die Gegenstände der Alltagsästhetik bringen die Ordnungsstrukturen des alltäglichen Daseins nicht durcheinander, sie sind nicht auf Provokation aus, sondern fügen sich und bejahen das alltägliche Dasein in seinem Status quo. Die Betonung des Erlebniswerts, wie er hier (Abb. 12) vom Technischen Hilfswerk inszeniert wird, ist letztlich dem Werbecharakter der Darstellung geschuldet, die einen Werbewert notwendig macht. Dennoch bedient ‚Raus aus dem Alltag – Rein ins THW!‘ (Abb. 13) dabei die Vorstellung vom alltäglichen Einerlei, das beim THW arbeitend durchbrochen werden soll wie die Mauer von der Frau mit dem Presslufthammer. In vergleichbarer Weise wirbt die Bundeswehr mit der Möglichkeit von Resonanzerfahrung und Selbstwirksamkeit. Dabei bauen die Plakate zum Teil auf der Erfahrung auf, dass eben diese Resonanz in den zivilen Berufszweigen, deren militarisierte Version hier beworben werden soll, häufig fehlt. (Abb. 14) „In der Pflege brauchst du Zeit. Keine Stoppuhr.“ In den Worten Rosas: „In jedem Blick eines Kranken oder eines Kindes liegt eine Resonanzaufforderung; und mehr noch: ohne Resonanzbeziehung lässt sich weder adäquat pflegen noch

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Abb. 11   Irgendwas mit Arbeit. Schaffrina, Achim: Von prägnant bis lasch: die Wahlplakate zur NRWLandtagswahl 2017. https://www.designtagebuch.de/von-praegnant-bislaschdie-wahlplakate-zur-nrw-landtagswahl-2017

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Abb. 12   Erlebniswert der Arbeit. Foto vom Autor. 02.03.2017 in Bielefeld

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Abb. 13   Erlebniswert der Arbeit. Foto vom Autor. 02.03.2017 in Bielefeld

Abb. 14   Zivile Berufszweige bei der Bundeswehr. Foto vom Autor. 07.01.2017 in Wuppertal

angemessen erziehen. Nicht nur Kinder, auch Kranke (und Alte und Obdachlose) wollen gesehen, gehört, berührt werden; und sie erwarten Antworten, nicht bloß Behandlungen“ (S. 400). Diese Erwartungshaltung, diese Resonanzerwartung ist beispielsweise auch die Grundlage des Werbespots, in dem ein – zweifelsohne überdrehtes, fast schon arrogant wirkendes – Kind deutlich machen soll, dass dessen Eltern ihre Aufmerksamkeit nicht dem häuslichen Alltagseinerlei, sondern eben diesem Kind zukommen lassen sollen (Abb. 15).

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Abb. 15   Prioritätsdilemma I. Betreut.de. Werbespot von 2017. https://www.youtube.com/ watch?v=vAcMO3oytwc

Interessant, wenn auch nicht zum Thema gehörig, ist an diesem Spot, wie hier die ‚Anreize des Kindes‘ als Argumente dienen sollen, dass es Resonanzwürdig sei: „Bin ich nicht süß? Also ich denke schon. Schaut euch nur diese Grübchen an; zum Anbeißen. Aber schaut euch mal Mama und Papa an. Sie machen samstags lieber sauber, als mit mir zu spielen.“ Die Frage, warum es Aufgabe von Eltern sein soll, mit ihren Kindern zu spielen, und nicht etwa die Aufgabe anderer Kinder, lassen wir hier ebenfalls mal außen vor, obgleich diese freilich längst auf einen Topos der alltäglichen Seinsweise des ‚Man‘ zurückgreifen kann, denn als Elternteil spielt man mit seinem Kind. Wenn wir uns an den Anne-Will-Einspieler erinnern (Abb. 1), in dem zwei Frauen gezeigt wurden, die ob ihrer Arbeit an sechs Wochentagen kaum Zeit für ihre drei Kinder haben, die sie wohl weitgehend allein erziehen müssen, so wird klar: Diese Frauen – und mehr noch die Adressierten – befinden sich in einem fast unerträglichen Werte- und Prioritätsdilemma, eine Zwickmühle der Erwartungen an sie als Mütter und Arbeitende, dem man sich ohne einen Bezug zu Fragen der sozialen Stellung der adressierten Kreise nicht entwinden kann. Betreut.de ist eine Plattform der Selbstvermarktung für Selbstständige, Minijober, Arbeitslose, Seniorinnen und Studentinnen. Sarah K. bietet ihre Dienste mit 15 EUR je Stunde fast 5 EUR über dem Durchschnitt an und formuliert das vielsagende Motto ihrer Arbeit: „Zu Zweit kommen wir mit Zügigkeit bei der Arbeit, zu schneller Sauberkeit.“ Die Werbekampagne von Betreut.de setzt (Abb. 16) genau bei der Resonanzerwartung an, die Teil der alltäglichen Gestimmtheit ist und die im Kontext der ‚Diktatur des Man‘ bisweilen auch von jenen als Resonanzverpflichtung empfunden wird, die sich einen solchen Dienst nicht leisten können. Kurz: Betreut.de wirbt mit der Angst, dass man eine schlechte Mutter ist.

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Abb. 16   Prioritätsdilemma II. Foto vom Autor. 31.12.2016 in Chemnitz

Es ließen sich hier noch unzählige weitere Beispiele anführen, die die Arbeit als Ort und Möglichkeit von Resonanz- und Selbstwirksamkeitserfahrungen zeigen. Diese Erfahrungen durchbrechen die Gestimmtheit des Alltäglichen und treten ereignishaft ins Bewusstsein. Auf der Pathos-Ebene, so könnte man Rosa weiterdenken, ist zwar nicht die Resonanzerfahrung alltäglich, wohl aber die Resonanzerwartung, die unsere Befindlichkeit im Alltag in weiten Teilen mitbestimmt. Die grundlegende Gestimmtheit des alltäglichen Daseins, die, wie Heidegger betont, schon allein deshalb notwendig ist, um so etwas wie Bedrohliches zu entdecken, ist es, die uns überhaupt erst eine Resonanzerfahrung und damit einen Weltzugang ermöglicht. Für eine alltagsästhetische Untersuchung aber wird diese oftmals nur ex negativo durch das zugänglich und erfahrbar, was aus ihr herausragt.

3.3 Der Logos der Notwendigkeit Wenden wir uns abschließend dem dritten klassischen Überzeugungsmittel der Rhetorik zu: dem Logos. Für Aristoteles besteht die Rede selbst vor allem aus

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den logischen oder enthymematischen Schlüssen, Scheinbeweisen und beweiskräftigen Beispielen, die helfen, die eigene Position im zur Verhandlung stehenden Fall glaubwürdig zu machen. Sie bilden das Kernstück der persuasiven Rede im Gerichtssaal, ebenso auf der politischen Bühne. Der Rhetor ist dabei bemüht, seine Prämissen, wo er diese nicht eigens durch Beispiele oder Argumente erst glaubhaft machen muss, aus dem unterstellten Erfahrungsbereich seines Publikums so zu wählen, dass diese bereits glaubhaft erscheinen und versucht dann zu zeigen, wie diese Prämissen quasi notwendig die gewünschte Konklusion ergeben. Der Rhetorik wohnt demnach immer auch der Appell an die Notwendigkeit inne. Zwar ist nur das Gegenstand der Rhetorik, was auch anders gesehen, bewertet oder gehandhabt werden kann, worüber es also mehr als eine sinnvoll zu vertretene Position gibt, gleichwohl ist es ein Grundzug des Rhetors, seinen Gegenstand gleichsam zu entrhetorisieren. Eine ‚Rhetorik der Alternativlosigkeit‘ ist oftmals die Standardposition der über die Alternativen streitenden Parteien. Wer zugesteht, dass alle zentralen Schlüsse der eigenen Rede auch anders gesehen werden können und dass diese anderen Sichtweisen ebenfalls auf überzeugende Argumente bauen können, der hat sein Publikum und auch den Redestreit verloren. Dieses Entrhetorisieren scheint über das für den Erfolg ohnehin nötige Verbergen der rhetorischen Kunst hinauszugehen, denn es werden ja nicht bloß die rhetorischen Mittel verschleiert, sondern der Gegenstand in seiner rhetorischen Verfasstheit wird dem Blick entzogen. Bei Lichte betrachtet ist dieses Darüberhinausgehen aber kein Darüber, sondern eher ein Darunter: Die Entrhetorisierung des Gegenstandes ist überhaupt die Grundlage der dissimulatio artis13. In Bezug auf unsere Frage nach der Möglichkeit einer Alltagsästhetik, das heißt nach der Möglichkeit des sinnvollen Gebrauchs des Wortes ‚alltagsästhetisch‘, können wir also zuspitzen: Eine rhetorische Untersuchung muss sich gewahr sein, dass die rhetorische Praxis dazu neigt, ihre Gegenstände zu entrhetorisieren. Die Strategien dieser Entrhetorisierung sind ein tragender Teil der rhetorischen Kunst und des praktischen Erfolgs. Demgegenüber ist Gegenstand der Alltagsästhetik

13Unter

der dissimulatio artis wird jenes Grundprinzip der Rhetorik verstanden, wonach die rhetorische Kunst (Kunst verstanden als Technik) gerade ihre Künstlichkeit (im Sinne eines methodisch-strategischen Vorgehens) verbergen muss, um den rhetorischen Erfolg nicht zu gefährden. Zwar kann die rhetorische Manipulationsabsicht erkennbar sein (und ist es in vielen Fällen auch), aber die Mittel dürfen nicht als solche erscheinen. Durchschaut das Publikum, dass die witzige Eingangsbemerkung, die spannungserzeugende Pause oder die Anmerkung ‚I was a farmboy myself‘ des Präsidentschaftskandidaten vor einem Publikum von Farmern, als rhetorische Mittel gebraucht werden, so kann der Persuasionserfolg Schaden nehmen.

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das, was (wenigstens scheinbar) nicht anders gesehen, bewertet oder gehandhabt werden kann, worüber es keinen Streit gibt und jede Parteinahme ins Leere greift. Ihr Gegenstand ist also das, was der Rhetorik als Identifikationsbasis dienen kann, das immer schon Geglaubte. Eine alltagsästhetische Untersuchung muss sich daher gewahr sein, dass sie kaum über eine klar benennbare und abgegrenzte Gegenposition verfügt, die als Vergleich herhalten und eventuelle Strategien der Glaubhaftmachung offenlegen könnte. Wenn die alltagsästhetische Untersuchung ihre Gegenstände rhetorisiert, um diese überhaupt einer diskursiven Auseinandersetzung zuzuführen, kann sie zunächst und zumeist nicht mehr tun, als auf diese zu zeigen und sie somit figurhaft vom Identifikationsgrund abzuheben. Beide – Rhetorik und Alltagsästhetik – haben es mit einem ganz spezifischen Verständnis von Notwendigkeit zu tun. Im Falle der Alltagsästhetik rührt dieses Verständnis von Notwendigkeit aus dem Bezug zum alltäglichen Dasein selbst. Wir haben bereits durch den Verweis auf das Ethos des ‚Man‘ gesehen, dass der Alltag fest mit Normativität, mit den Vorstellungen von dem, was die Norm ist oder sein soll, einhergeht. Diese Normativität des Alltags rührt in weiten Teilen von der Notwendigkeit des Alltäglichen her, denn zunächst konfrontiert uns das Leben selbst mit den Notwendigkeiten des Lebenserhalts. Der Kreislauf des Lebens, das Beschaffen von Nahrung, die Einverleibung und die neuerliche Beschaffung, aber ebenso die Konsumtion von Kleidung, Wohnraum und vielem mehr, hat einen zwingenden Charakter. Hannah Arendt ordnet diesen Tatbestand in den Lebenszusammenhang der Natur, wenn sie schreibt: „Das Leben ist ein Vorgang, der überall das Beständige aufbraucht, es abträgt und verschwinden lässt, bis schließlich tote Materie, das Abfallprodukt vereinzelter, kleiner, kreisender Lebensprozesse, zurückfindet in den alles umfassenden ungeheuren Kreislauf der Natur selbst, die Anfang und Ende nicht kennt und in der alle natürlichen Dinge schwingen in unwandelbarer, totloser Wiederkehr“ (S. 115). ‚Leben‘ ist in dieser Weise nicht als das In-der Welt-Sein des Subjektes verstanden, sondern als die allgemeine Kategorie natürlicher Prozesse und kennt als solche weder Tod noch Geburt, weder Sinn noch Freiheit. Menschliche Tätigkeiten, so Arendt, entspringen der Notwendigkeit, diesen natürlichen Prozessen zu widerstehen, und sind doch selbst in den Kreislauf der Natur gebunden (S. 117). Das alltägliche Dasein, das auch für Heidegger durch die Sorge gekennzeichnet ist, durch das Besorgen wie durch die Fürsorge, erscheint bei Arendt durch die natürlichsten Tätigkeiten des Menschen am deutlichsten: dem Arbeiten und Konsumieren. Was diese so ‚natürlich‘ macht, sind gerade ihr zwingender Charakter und die endlose Wiederholung, in der sie das arbeitend Hervorgebrachte nahezu umgehend konsumierend verbrauchen müssen. Ich möchte eine längere Passage aus der Vita Activa zitieren, weil Arendt hierin auch zu einer Pointe findet, die treffend das Grundproblem vor Augen stellt:

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„Nicht nur die Erhaltung des Körpers, sondern auch die Erhaltung der Welt erfordert die mühevolle, eintönige Verrichtung täglich sich wiederholender Arbeiten. Obwohl dieser Arbeitskampf […] vielleicht noch ‚unproduktiver‘ ist als der einfache Stoffwechsel des Menschen mit der Natur [den Marx als Arbeit bezeichnet], steht er doch in einem erheblich engeren Bezug zu der Welt, deren Bestand er gegen die Natur verteidigt. Von ihm hören wir oft in Sagen und Mythen als wunderbaren heldenhaften Taten, wie etwa in den Geschichten von Herkules, zu dessen zwölf ‚Arbeiten‘ bekanntlich auch die Reinigung des Augiasstalls gehörte. […] Von solchen Heldentaten ist allerdings faktisch in dem täglichen Kleinkampf, den der menschliche Körper um die Erhaltung und Reinhaltung der Welt zu führen hat, wenig zu spüren; die Ausdauer, deren es bedarf, um jeden Tag von neuem aufzuräumen, was der gestrige Tag in Unordnung gebracht hat, ist nicht Mut, und es ist nicht Gefahr, was diese Anstrengung so mühevoll macht, sondern ihre endlose Wiederholung. Die ‚Arbeiten‘ des Herkules haben mit allen Heldentaten gemein, dass sie einmalig sind; leider hat nur der Augiasstall die wunderbare Eigenschaft, sauber zu bleiben, wenn er einmal gesäubert ist“ (S. 118 f.).

In diesem Sinne wirkt auch die Heroisierung der Arbeit auf dem Plakat der Neuen Westfälischen, die hiermit Zeitungszusteller sucht, wie eine bissige Satire (Abb. 17). Die heroische Tat der Arbeit und auch die sportliche ‚Härte‘ (Abb. 18) kann doch allenfalls darin bestehen, täglich das Mühsal der Arbeit auf sich zu nehmen; und das nicht für Ruhm und Ehre, nicht aus sportlichem Ehrgeiz oder aufgrund eines Wettkampfes der Freien, sondern schlichtweg aus der Notdurft des Lebens heraus und einer gesellschaftlichen Übersetzung dieser Notwendigkeit in der modernen Auffassung von Arbeit als Pflicht. Die Verachtung der Arbeit, die – wie Hannah Arendt überzeugend darlegt – das antike Verhältnis zu ihr bestimmte, rührt gerade daher, dass sie mit Freiheit nicht vereinbar ist. Frei sein kann man nur, wenn man nicht unentwegt den Notwendigkeiten des Lebens unterworfen ist; kurz: wenn für das Leben bereits gesorgt ist. Die einzige Möglichkeit aber in diesem Sinne frei zu sein, besteht darin, andere für sich arbeiten zu lassen – oder entsprechend viel zu erben, was aber im Grunde nur heißt, dass die Vorfahren andere haben für sich arbeiten lassen. Der – wenigstens für mich – zentrale Punkt in der Arendtschen Analyse des tätigen Daseins ist die Stellung der Arbeit in der modernen Arbeitsgesellschaft, die sich wohl nirgends so deutlich zeigt wie an der Totalisierung der Arbeit in den Wertvorstellungen unserer kapitalistischen Ordnung und der Allumfässlichkeit des modernen Arbeitsbegriffs. Zweierlei wird hierbei besonders deutlich: Alle Tätigkeiten, von denen man sich gesellschaftliche Anerkennung erhofft, müssen als Arbeit ‚nobilitiert‘ werden. Man denke etwa an die Familienarbeit, die Erziehungsarbeit, die Hausarbeit, ja selbst an neuere Wortschöpfungen wie Sexarbeit14 (Abb. 19). 14Den

Begriff popularisierte Carol Leigh 1978. 2013 gründete sich die Interessenvertretung der Sexarbeitenden Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen.

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Abb. 17   Helden des Niedriglohns. Foto vom Autor. 12.01.2017 in Bielefeld

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Abb. 18   Helden des Niedriglohns. Foto vom Autor. 12.01.2017 in Bielefeld

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Abb. 19   Anerkennung von Tätigkeiten durch Anerkennung als Arbeit. Website: BerufsverbandSexarbeit.de. Screenshot vom 20.05.2017

Dazu gehört aber eben auch die sogenannte ‚Kopfarbeit‘: „Unter modernen Verhältnissen hatte jeder Beruf seinen Nutzen für die Gesellschaft überhaupt unter Beweis zu stellen, und da die Verherrlichung der Arbeit die Brauchbarkeit gerade rein geistiger Betätigungen in einem mehr als zweifelhaften Lichte erscheinen ließ, ist es nur natürlich, dass die sog. Intellektuellen sehr bald keinen sehnlicheren Wunsch hegten, als unter die Masse der arbeitenden Bevölkerung gerechnet zu werden“ (Arendt 2015, S. 109). Zugleich, und das ist nur die zweite Seite derselben Medaille, „werden alle nicht-arbeitenden Tätigkeiten zum Hobby“ (S. 152) herabgewürdigt. Sie werden damit in den Bereich des Privaten verdammt, in welchem für den Privatmenschen gilt: „Was er tut oder lässt, bleibt ohne Bedeutung, hat keine Folgen, und was ihn angeht, geht niemanden sonst an“ (S. 73). Für das Hobby kann also eine gewisse Form der Freiheit reklamiert werden, die allerdings, wie alles Private, durch gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit erkauft wird. Hingegen muss jede gesellschaftliche Tätigkeit die Form der Arbeit annehmen und in dieser Form sich als gesellschaftsnützlich erweisen. Die alltäglichen Notwendigkeiten des Arbeitens und Konsumierens, die gesellschaftlich die Form der Pflicht annehmen, erscheinen ethisch als der ‚Beitrag an die Gesellschaft‘; ein Beitrag, der auch immer ökonomisch zu verstehen ist, als der Betrag den man zu zahlen hat, wenn man gesellschaftlich nicht aussortiert werden will. Wie Wilhelm Heitmeyer in seinen Langzeitstudien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit herausstellt, ist die Diskriminierung

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Abb. 20   Schuld I – Vom Tellerwäscher zum Millionär. Menschen bei Maischberger: Das neue Hartz IV – Härter aber Fairer? Das Erste: 13.05.2014

derjenigen, die diesen Beitrag nicht zahlen können, also etwa der Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen, im Zuge der Ökonomisierung des Sozialen erheblich gestiegen (vgl. Heitmeyer und Endrikat 2008). Rund ein Drittel der Befragten in einer Studie von 2007 stimmten tendenziell der Aussage zu, man könne sich wenig nützliche Menschen und menschliche Fehler nicht mehr leisten. „Etwa 40 Prozent sind der Ansicht, in unserer Gesellschaft werde zu viel Rücksicht auf Versager genommen, übertriebene Nachsicht mit solchen Personen sei […] unangebracht (43.9 Prozent).“ (S. 62) Die Studie zeigt eben auch, dass über ein Viertel (26,3 %) der Befragten Langzeitarbeitslosen selbst die Schuld für ihre Arbeitslosigkeit geben und fast die Hälfte meinen, Langzeitarbeitslose seien nicht wirklich daran interessiert, einen Job zu finden (S. 65). Es ist schon interessant, dass die ‚Schuldfrage‘ zum Standardrepertoire der Auseinandersetzung mit Arbeitslosigkeit gehört, selten aber eine Frage ist, die im Kontext von beruflichem Erfolg auftritt. Der nachfolgende Einspieler aus der Talkshow Menschen bei Maischberger zum Thema ‚Das neue Hartz IV – Härter, aber Fairer?‘, der 2014 ausgestrahlt wurde, macht dies exemplarisch deutlich (Abb. 20).15 Getragen von der Ideologie eines Aufstiegs ‚vom Tellerwäscher zum Millionär‘ (so wird der Einspieler und deren Protagonistin anmoderiert) durch nichts weiter als Fleiß, Risikobereitschaft und einen ungebrochenen Arbeitswillen, hat diese ‚taffe Geschäftsfrau‘ ihren Erfolg ‚nur sich selbst‘ zu verdanken. Nicht nur, dass diesen Personen in den entsprechenden Talkshows stets ‚Arbeitslose‘ gegenübergestellt werden, die offen bekennen, nicht arbeiten zu wollen und sich auf Kosten der Steuerzahler ein 15Menschen

13.05.2014.

bei Maischberger: Das neue Hartz IV – Härter aber Fairer? Das Erste:

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Abb. 21   Schuld II – Betteln um die Hartz IV-Erhöhung. Anne Will: Das Hartz-Theater – was bekommt die Politik noch gebacken? Das Erste: 13.02.2011

gemütliches Leben zu machen, wird dieses Bild vielmehr auch immer wieder von den Einspielern der Sendung selbst erzeugt.16 Zwei Beispiele sollen das deutlich machen: Das erste Beispiel ist ein Einspieler aus dem Jahr 2011. Hintergrund ist die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes um 5 bzw. 11 EUR und zeigt eine Hartz-IV-empfangende Familie mit einem Vater, der als Leiharbeiter aufstocken muss17 (Abb. 21). Nehmen wir mal an, dieser Junge sei nicht ein Laiendarsteller, und der Fall mit der 8-köpfigen Familie, die sich natürlich nicht vom Gehalt eines Leiharbeiters versorgen lässt, sei real, so ist die Art der Darstellung dennoch eine Designentscheidung. Warum muss es ein dicker Junge sein, der in der ersten Einstellung in der Nase bohrt? Warum muss dieser sich über die Bande aufs Fußballfeld quälen und kann nicht einfach den Eingang nehmen? Warum muss dieser überhaupt Fußball spielend gezeigt werden? Warum muss sein Zimmer in einem unaufgeräumten Zustand gezeigt werden? Welchen anderen Zweck kann dies alles haben, als den Versuch der Darstellung eines Kindes, dem der Zuschauende höhnisch wenigstens die Mitschuld an der eigenen Lebenssituation zu geben vermag? Und wer dieser Zuschauende ist, wird mit der Studie Heitmeyers auch klar: Es sind vorrangig und in besonderem Maße die sozial unteren bis mittleren Schichten, die gegen Arbeitslose und anderweitige Hartz-IV-Empfänger 16Gerade

diesen Aspekt hat Christoph Butterwegge sehr deutlich herausgearbeitet. Er zeigt, wie die Darstellung der Hartz-IV-Betroffenen als ‚Drückeberger‘, ‚Faulenzer‘ und ‚Sozialschmarotzer‘ in der medialen Bearbeitung des Themas eine Diskurshegemonie miterzeigt hat. Siehe dazu: Butterwegge (2015). 17Anne Will: Das Hartz-Theater – was bekommt die Politik noch gebacken? Das Erste: 13.02.2011.

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­aufgebracht werden.18 Heitmeyer schreibt: „Man muss davon ausgehen, dass mit niedriger Soziallage das Bedürfnis wächst, sich von Personen am untersten Rand der Sozialhierarchie abzugrenzen, indem man diesen eine negativere Arbeitshaltung zuschreibt als sich selbst. […] Die hohe Verbreitung von Vorurteilen gegenüber Langzeitarbeitslosen in der Bevölkerung zeigt, dass diesen in öffentlichen Debatten ein Image zugeschrieben wird, nach dem ihre mangelnde Arbeitsmoral der entscheidende Grund für ihre Arbeitslosigkeit ist“ (S. 66). Das perfide an diesen Einspielern – und das, was sie gerade als Teil der Alltagsästhetik auszeichnet – ist, dass die Bilder, in ihrem einmaligen Vorbeirauschen und durch ihre Begleitung von informativen Sprecheranteilen und musikalischer Untermalung zunächst und zumeist unreflektiert bleiben. Keiner der anwesenden Studiogäste bezieht sich auf die Art der Darstellung, allein der anwesende Jakob Augstein kritisiert zumindest, dass dieser Junge mit seinem Vorschlag, sich auf 8 EUR zu einigen, nicht süß wirkt (wie Manuela Schwesig meint), sondern entwürdigt wird; zumal derselbe Junge kurze Zeit später noch einmal zu sehen ist, wo er sich auch mit 5 EUR zufrieden gibt, wenn er diese nur gleich haben könnte. Das zweite Beispiel macht den Gedanken Heitmeyers deutlich, dass es vor allem die fehlende Arbeitsmoral ist, die Arbeitslosen immer wieder öffentlich attestiert wird (Abb. 22). Abb. 23 zeigt Videostils aus dem Einspieler, der derselben Talkrunde wie der eingangs besprochene Einspieler über die beiden Schrott sammelnden Frauen entstammt. Hier wird in einem ersten Teil, eingeleitet mit den Worten „In der Bundesagentur für Arbeit war man vergangene Woche mächtig stolz auf eine Zahl, die es bisher nie gegeben hat“, auf das harte Durchgreifen der Sanktionsstrategie des Amtes verwiesen: eine Million Sanktionen in einem Jahr, Streichung der Bezüge bei ‚Pflichtverletzungen‘ um bis zu 100 %. In der Mitte des Einspielers wird Bezug genommen auf Umfragen, die klar machen sollen, dass diese Umgangsweise mit Arbeitslosen richtig ist (‚Zurecht sagt die Mehrheit‘). Arbeitslose, so die Meinung der Mehrheit, ‚suchen nicht selbst aktiv nach Arbeit‘ und sogar noch mehr Menschen sind der Meinung, Arbeitslose seien ‚zu wählerisch‘. Der zweite Teil nutzt die Kraft des Beispiels19 nicht etwa zur 18Auch

wenn das letztgenannte Beispiel einer Talkshow entstammt, die womöglich die ‚unteren‘ Schichten gar nicht sehen, so findet diese Imagebildung zum einen durchaus nicht nur in Talkshows statt und zum anderen finden immer wieder besonders ‚starke‘ Äußerungen auch Verbreitung über andere Kanäle.

19Das

Beispiel erzählt vom ‚empörten Frisör-Meister Detlef Gehlhaar‘, der eine Bewerbung ‚voller Rechtschreibfehler‘ erhielt, wobei der Bewerber sich laut Bewerbungsschreiben nur des Amtes wegen bewarb, selbst aber ‚keine Lust auf diese Art von Arbeit‘ hätte und das Frisör-Handwerk ‚auch gar nicht lernen möchte‘.

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Abb. 22   Schuld III – Sanktionen. Anne Will. Immer mehr Hartz IV-Sanktionen -fiese Schikane oder notwendige Kontrolle? Das Erste: 28.11.2012

Abb. 23   Menschenverachtender Publikumserfolg. Videostils aus: Dagtekin, Bora: Fuck ju Göthe. 2013

Relativierung von gängigen Vorurteilen, sondern bekräftigt diese noch.20 Während man sich also einerseits auf Studien wie die Heitmeyers bezieht, missachtet man andererseits eindeutig dessen medienkritisches Resümee: „In der öffentlichen Diskussion sind insbesondere Langzeitarbeitslose dem Verdacht ausgesetzt, ‚nutzlos‘ und inkompetent zu sein und Leistung zu verweigern. Diese Debatte wird von medialen und politischen Eliten angefacht. Entsprechend spiegeln sich solche Positionen auch in den Einstellungen der Bevölkerung“ (S. 65).

20Anne

Will. Immer mehr Hartz IV-Sanktionen -fiese Schikane oder notwendige Kontrolle? Das Erste: 28.11.2012

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Fazit Ich möchte am Ende auf eine Funktion der hier beispielhaft gezeigten Visualisierungen von Arbeit verweisen, die ihre rhetorische Bedeutung innerhalb der Alltagsästhetik betrifft. Das Geben eines Beispiels kann rhetorisch schlichtweg nicht überschätzt werden. Beispiele verdeutlichen nicht nur; sie führen einen Einzelfall vor, dessen Überzeugungskraft schon darin liegt, dass sie sich einer Diskussion weitgehend entziehen. Es ist oftmals müßig über Beispiele zu streiten, meistens kennen wir hierzu den dargestellten Fall auch gar nicht gut genug und es ist auch wenig damit gewonnen, wenn das Beispiel seiner Überzeugungskraft oder Angemessenheit beraubt würde. Der Einzelfall stellt aber überdies – und das macht ihn alltagsästhetisch relevant – einen Weltbezug und damit eine Verankerung allgemeiner Thesen dar. Wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman zeigt, halten wir Aussagen umso schneller für wahr, je schneller uns ein passendes Beispiel hierzu einfällt, ganz gleich wie konstruiert das Beispiel ist oder wie wenig repräsentativ (Kahnemann 2011). Die Aussage ‚Nicht alle Arbeitslosen sind faul, aber doch viele oder die meisten‘ wird in dieser Weise getragen von Bemerkungen wie: Also ich kenne da jemanden, der will nicht arbeiten; ‚ich hab da neulich erst Einen in der Talkshow sitzen sehen, der will nicht arbeiten‘; ‚Ein Kollege erzählte mir erst vorige Woche von jemanden, der nicht arbeiten will‘, etc. Die alltagsästhetische und rhetorische Funktion des Beispiels ist die Etablierung und Stärkung der ‚Diktatur des Man‘. Wer ein Beispiel gibt, überzeugt mit der unterstellten Angemessenheit des Beispiels, ohne die Verantwortung für dessen Repräsentativität zu übernehmen; im Zweifel kann man sich zurückziehen, dann war es nur ein Fall, der unwidersprochen bleibt. So wie hier: Der Film Fack ju Göthe, (Abb. 23) der mit über 5 Mio. Kinogästen der meist besuchte Film des Jahres 2013 war, und dessen Erzählfluss sich in einem Satz zusammenfassen lässt: Ein Kleinkrimineller zeigt den überforderten Lehrern des Landes, das pädagogische Eignung nicht durch examinierte Bildung zustande kommt, sondern durch vermeintliche Realitätskonfrontation der Schüler, bedient en passant alle Vorurteile gegenüber Arbeitslosen. Er übernimmt dafür keine Verantwortung, relativiert nicht, thematisiert nicht einmal, sondern bedient diese allein zum Zweck der Unterhaltung. Man dies als überspitzte Satire ansehen, aber ein großer Teil der Bevölkerung sieht aktuell seine Urteile darin bestätigt und viele Millionen Menschen sind von diesen Urteilen direkt betroffen. Hier wird Menschenverachtung zum alltagsästhetischen Unterhaltungswert. Wir schließen daher mit der programmatischen Losung Henri Lefebvres (1975): „Die Alltäglichkeit erkennen heißt, sie verändern wollen“ (S. 110).

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Transparenz als Inszenierungsmittel von Kreativität und Innovation Julia Deppe

Wenn es einen Wunsch gibt der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Andreas Reckwitz Die Erfindung der Kreativität

Die Omnipräsenz von Kreativität und Innovation ist unverkennbar. Diese Begriffe gehen mit einem derart positiven Wert einher, welcher es fast unmöglich macht, sie in einem anderen Licht zu sehen: Sei es als Anforderung von Unternehmensseite, als der vermeintliche ‚Schlüssel zur Entspannung‘ im therapeutischen Bereich oder als Einstellungskriterium in Stellenausschreibungen, an vielen Stellen wird deutlich, wie positiv Kreativität und Innovation aufgeladen sind. Dieser Beitrag zeigt nicht nur, dass durch den gezielten Einsatz dieser beiden Begriffe die Wirkung von Selbstinszenierungen entscheidend beeinflusst werden kann, sondern, dass dies auch unabhängig von der tatsächlichen kreativen Eigenschaft funktioniert. So betont der Aufsatz, dass die Kreativitätszuschreibung ein Faktor des gesellschaftlichen Ansehens ist und unterstreicht dies mit einer Analyse von symbolischen Anwendungen der Begriffe Kreativität und Innovation bei branchenspezifischen Selbstinszenierungen auf Werbeplattformen. Hierbei wird sichtbar, dass Transparenz als wiederkehrendes Element der Inszenierung von Kreativität und Innovation genutzt wird. Die Hintergründe dieser Nutzung sollen in diesem Beitrag näher betrachtet werden. Dafür wird untersucht, warum gerade dieses Gestaltungsmedium gewählt wurde und warum es funktioniert, bzw. warum der Einsatz von Transparenz Überzeugungskraft für den R ­ ezipienten J. Deppe (*)  Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_6

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hat. Hier zeigen sich Anschlüsse an das Kreativitätsdispositiv, die Nutzung und Bedeutung von Glas und transparenten Flächen im Arbeitsalltag und in der Konsumsphäre als auch an die Inszenierung von Innovation in Film, Fernsehen und Internet. Die Leitfragen meiner Untersuchung sind: Wie und mit welcher Wirkung wird Transparenz als Inszenierungsmittel von Kreativität und Innovation eingesetzt? Gibt es Systematiken, Gemeinsamkeiten sowie wiederkehrende, branchenspezifische Details, welche ein Muster erkennen lassen? Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung ist die Entwicklung und Manifestation des sogenannten Kreativitätsdispositivs, wie es in zeitdiagnostischer und gesellschaftstheoretischer Absicht von Andreas Reckwitz beschrieben wird. Seit den 1990er Jahren hat sich mit den creative industries ein Wirtschaftssektor entwickelt, in welchem, so Reckwitz „Arbeitspraktiken […] von einer spezifischen Motivationskultur getragen [werden]: Ihr liegt ein postromantisches Arbeits- und Berufsmodell zugrunde, dem zufolge befriedigende Arbeit ‚kreative Arbeit‘ sein muss“ (Reckwitz 2013, S. 142). Durch die Orientierung am Kreativen, welche in verschiedene alltägliche Bereiche hineinreicht, werden ähnliche Überzeugungen geteilt. So gilt Selbstverwirklichung, Individualität oder eine Arbeitsstruktur der ‚flachen Hierarchien‘ nicht nur als Verkaufsargument für die Kunden, sondern fungiert als Versprechen an potenzielle ArbeitnehmerInnen. Die kreativen Tätigkeiten bilden dabei den wirtschaftlichen Kern für die creative industries. Um die Tragweite des Kreativitätsdispositivs zu verdeutlichen, wird im Folgenden der Fokus der Analyse auf Unternehmen und Branchen liegen, welche nicht Teil der creative industries sind, also mit geringerer Kreativitätszuschreibung in ihrer Tätigkeit behaftet sind. Auffällig ist hier eine bestimmte Bildsprache in den eingangs genannten Selbstinszenierungen (etwa im Rahmen von Werbestrategien), ein Symbolkomplex, welcher mit Transparenz arbeitet und die Motive Kompetenz, Kundenorientiertheit, Kreativität und Innovation außerhalb der im engeren Sinne ‚ästhetischen Ökonomie‘ visuell zu kommunizieren sucht. Dieser visuelle Komplex ist nicht auf eine spezielle Branche beschränkt, sondern kann auf jedes Unternehmen angepasst werden, welches entsprechende Aussagen vertreten möchte. Das macht die Transparenz ebenso omnipräsent wie die Begriffe Kreativität und Innovation und fungiert als ‚visuelles Synonym‘, welches medienübergreifend genutzt wird und den Betrachter Transparenz mit Kreativität und Innovation assoziieren lässt. Die Analyse beinhaltet zunächst eine Bildrecherche auf Werbeplattformen wie Websites, Plakaten und Werbefilmen. Die Bilder werden anschließend untersucht und ausgewertet. Als analytisches Werkzeug wird der Begriff des Topos eingesetzt, wie er von Lothar Bornscheuer (1976) aufgefasst und strukturiert wurde. Wenn einmal gezeigt ist, dass die Transparenzsymbolik einen topischen Wert hat, sich also als

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Teil des Kreativitätsdispositivs in selbiges einfügt, welches ebenfalls einen Topos darstellt, ist auch die Bedeutung dieser Symbolik innerhalb der Unternehmensrhetorik klar. Der vorliegende Aufsatz liefert mit seiner topischen Analyse einen Baustein zu einer solchen Rhetorik.

1 Der Topos In der Designpraxis sollen u. a. ‚visuelle Argumente‘ die potenziellen Kundinnen und Kunden davon überzeugen, ein bestimmtes Produkt zu kaufen oder sich für ein bestimmtes Unternehmen zu entscheiden, welches seine Wünsche kompetent umsetzen kann. Die klassische Rhetorik hat mit dem Topos ein Instrumentarium, um Ausdrucksformen für Argumente zu entwickeln. Dafür bietet Bornscheuers Systematisierung des Topos-Begriffs in die vier Strukturmomente Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität eine Grundlage, welche multimodale Anwendungen ermöglicht. Auch aufgrund der Parallelen zu Reckwitz’ Kreativitätsdispositiv erscheint der Topos als eine geeignete Methode für die Bildanalyse. Das Wort Topos kommt aus dem griechischen und bezeichnet einen Ort, eine Stelle oder einen Platz. Vermutlich geht der Begriff auf eine Verfahrensweise der Mnemotechnik zurück, bei welcher das Gedächtnis trainiert und gestärkt werden sollte, indem man Aspekte einer Gedankenreihe mit (tatsächlich existierenden) Orten in Verbindung brachte und diese als angeordnete Reihe oder Kette visualisierte. Allerdings stellt sich zunächst das Problem, dass der Begriff nie eine klare Definition erfahren hat, was wiederum die Konsequenz der Vieldeutigkeit hat, wie Lothar Bornscheuer betont. „Nachdem schon Aristoteles aus gutem Grund auf eine maßgebliche Definition verzichtet hatte, scheint der Topos-Begriff bei Cicero in zwei ganz verschiedenartige Konzeptionen auseinander zutreten und sich dann im Laufe der Jahrhunderte in eine Vielzahl fachspezifischer Toposauffassungen aufgelöst zu haben“ (Bornscheuer 1976, S. 91).

Für Bornscheuers Versuch einer Systematisierung des Topos-Begriffs bietet Aristoteles den fruchtbarsten Ansatzpunkt für ein „Instrumentarium eines gedanklich und sprachlich schöpferischen, doch zugleich auf den allgemeinen gesellschaftlichen Meinungs-, Sprach- und Verhaltensnormen beruhenden Argumentationshabitus“ (Bornscheuer 1976, S. 94). Bornscheuer arbeitet vier Strukturelemente als charakteristische Merkmale eines Topos heraus: Habitualität, Potentialität,­

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Intentionalität und Symbolizität. Habitualität ist eine kollektive Vorprägung innerhalb einer Gesellschaft, eine polyvalente Interpretierbarkeit beschreibt die Potentialität, Intentionalität meint die problemabhängige, situativ wirksame Argumentationskraft und Symbolizität die gruppenspezifisch konkretisierende Merkform (vgl. Bornscheuer 1976, S. 105). Auf die einzelnen Elemente wird im Rahmen der Analyse spezifisch eingegangen. Daneben soll demonstriert werden, dass das Prinzip des Topos auch auf die Bildsprache anwendbar ist. Für Aristoteles sind Topoi Suchformeln für Argumente. So werden Topoi in der Rhetorik als Muster oder Strukturen eingesetzt, welche je nach Situation mit entsprechendem Inhalt gefüllt werden können. Aristoteles gibt ein Beispiel des ‚eher oder weniger‘: „Wenn sogar die Götter nicht alles wissen, um wieviel weniger dann die Menschen“ (Rapp 2009, Sp. 1397b). Hier wird die Glaubwürdigkeit der Aussage, dass Menschen nicht allwissend sind, damit begründet, dass, erstens, von der Eigenschaft der Allwissenheit gilt, dass sie eher auf die Götter als auf die Menschen zutrifft, was selbstverständlich ist. Und, zweitens, weil die griechischen Götter nach allgemeinem Befinden (Doxa) eben nicht allwissend sind, sind es auch die Menschen nicht. Diese argumentative Struktur bezieht seine Glaubwürdigkeit nicht nur aus den glaubwürdigen Prämissen, sondern auch aus dem Topos, der variabel auf verschiedene Situationen anwendbar ist und eine Vielzahl intendierter Aussagen vertretbar machen kann. So findet dieser Topos etwa auch hier Anwendung: ‚Wenn er schon seinen Freund anlügt, wird er erst recht einen Fremden anlügen‘. Ein Freund hat einen höheren zwischenmenschlichen Stellenwert, als ein Fremder. Dieser als Tatsache anerkannte Faktor gibt der Aussage ihre Glaubwürdigkeit, welche unabhängig von der Person ist. Aber der Topos funktioniert auch vice versa: ‚Wenn sie schon zu einem Bewerbungsgespräch zu spät kommt, wird sie die Arbeitszeiten auch nicht ernst nehmen‘. Hier wird von einer Situation auf das wahrscheinliche Verhalten in einer ähnlichen Situation in größerem Kontext geschlussfolgert. Für die Anwendung des Topos braucht es also eine Voraussetzung oder eine Art Wissenspool, welcher die strukturelle Basis für den Topos bildet. Bei Aristoteles sind es die Doxa, die ‚anerkannten Meinungen‘. „Anerkannte Meinungen […] sind diejenigen, die entweder von allen oder den meisten oder den Weisen und von diesen entweder von allen oder den meisten oder den bekanntesten und anerkanntesten für richtig gehalten werden“ (Aristoteles, zitiert in Rapp 2009, S. 257).

Doxa beschreiben also nicht eine einzige Meinung, die von allen anerkannt ist, sondern verschiedene Klassen anerkannter Sätze, Meinungen oder Ansichten.

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Wenn ein Rhetor im Rahmen seines Vortrages an ‚das Wahre‘ appelliert, meint er damit meist eine bestehende Auffassung seiner Zuhörer, etwas, das von diesen als ‚wahr‘ oder ‚richtig‘ empfunden wird. Die Überzeugungskraft liegt hier in einer Überzeugung, die bereits vorhanden ist. Mit den ‚Weisen‘ meint Aristoteles das Phänomen exponierter Personen, die innerhalb einer Gruppe einen Ruf, einen Bekanntheitsgrad haben und somit einen gewissen (überzeugenden) Einfluss auf die Gruppe ausüben. Die Gruppe erkennt Ansichten und Meinungen dieser Personen an und kann diese durchaus für ‚wahr‘, ‚richtig‘ oder ‚gut‘ empfinden, solange sie nicht grundlegenderen Ansichten der Gruppe widersprechen. Auch dies kann eine oratorische Funktion sein, wenn beispielsweise eine prominente Person im Rahmen eines Testimonials für ein Produkt wirbt oder ein bestimmtes Argument vertritt. Im Rahmen seines Entwicklungsversuches einer designrhetorischen Topik gibt Pierre Smolarski ein Beispiel, welches den visuellen Topos verdeutlicht und veranschaulicht: Das Deutsche Rote Kreuz warb mit seiner Kampagne ‚Helfen steht jedem gut‘ mit einer Plakatserie, wobei „bewusst Bilder von vermeintlich typischen Personengruppen ausgewählt [wurden], die nicht sogleich mit dem Attribut ‚hilft gern und oft‘ verbunden werden. Warum wählte man diese Darstellung? Weil die Betrachter so, sich selbst höher einschätzend, den Topos vervollständigen können: ‚Wenn selbst ein Punk (Rocker, Rapper, It-Girl) hilft, dann doch erst recht auch jemand wie ich‘“ (Smolarski 2016, S. 43). Die Arbeit von Designerinnen und Designern hat zwei Ziele: Sie repräsentiert das Unternehmen bzw. das zu bewerbende Produkt und überzeugt (im Idealfall) dessen Kunden mit dem Empfinden von Innovation und ästhetischer Angemessenheit. Um dem späteren Endprodukt Gebrauchscharakter (Affordanz) zu verleihen, wird gezielt an den Überzeugungsargumenten für den Rezipienten gearbeitet. Im Idealfall wird ihm das Gefühl vermittelt, das Produkt zu brauchen und zwar genau dieses von dieser Marke, da es ‚besser‘, ‚qualitativ hochwertiger‘ o. ä. ist, als ähnliche, möglicherweise preiswertere Versionen und ‚genau das, was er braucht‘, denn es ist ‚wie auf ihn zugeschnitten‘, da er sich damit ‚identifizieren‘ kann. Eine universelle Bauanleitung gibt es für die Arbeit der Designerinnen und Designer nicht, denn erst aus der Auseinandersetzung mit der Zielgruppe ergibt sich die Erkenntnis (und bestimmt so den Bereich der Möglichkeiten), was authentisch wirkt und welche Argumentation bei diesem einen speziellen Publikum funktionieren könnte, welche ‚Sprache‘ gesprochen werden muss. Die Fähigkeit, überzeugen zu können und die Anforderung, überzeugen zu müssen, lässt durchaus Parallelen zwischen der Rhetorik und der Designpraxis ziehen. Ein Zitat von Kenneth Burke aus A Rhetoric of Motives kann ebenso für die Designpraxis gültig sein: „You persuade a man only insofar as you can talk his language

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by speech, gesture, tonality, order, image, attitude, idea, identifying your ways with his“ (Burke 1954, S. 55). In der Rhetorik dient der Orator dem Rhetor als Medium, um das Argument in einer idealerweise überzeugenden Form zu übermitteln. Der Orator kann sich in verschiedenen Formen manifestieren, wie z. B. eine hervorgehobene Charaktereigenschaft, die der Sprecher vor dem Publikum zeigt, um die Überzeugungskraft seiner Botschaft zu unterstützen, indem er dem Publikum etwas oder jemanden gibt, mit dem es sich identifizieren kann. Im Fall des Designers wird die oratorische Funktion von dem gestalteten Endprodukt eingenommen oder einer präsentierenden Person, wie Testimonials in der Werbung oder Models im Modebereich. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Rolle des Orators von Repräsentanten der Firmen eingenommen, also die abgebildeten Personen auf den Bildmaterialien. Die Transparenz scheint hier als das tragende Element einer Struktur oder eines Musters eingesetzt zu werden. Dasselbe Muster wird zwar von unterschiedlichen Branchen genutzt, doch trotz der symbolischen Gemeinsamkeit der Transparenz bestehen Freiräume für individuellen Ausdruck. Es kann insoweit flexibel kommuniziert werden, dass der Betrachter (im Idealfall) mehrere Aspekte erkennen kann: die Branche, die spezifische Firma, die Eigenschaften wie Kreativität und Cleverness oder die Aspekte, für die eine Firma stehen möchte, wie z. B. Digitalität. Dass Transparenz ausnahmslos in allen Arbeiten Anwendung findet, weist auf eine bewusste Entscheidung der Designer hin, welche die Bildsprache für die jeweilige Firma auf das Verständnis der Rezipienten ausrichten, also ein Verständnis, welches bereits vorhanden ist. Bornscheuers Strukturmomente des Topos – Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität, werden hier als analytisches Werkzeug Anwendung finden. Anhand dieser Strukturierung werden die topischen Eigenschaften der Transparenz in Verbindung mit dem Bildmaterial demonstriert. Die Habitualität resultiert aus dem Kreativitätsdispositiv, auf welche im Folgenden im Zusammenhang der Analyse eingegangen werden soll. Ferner werden die Gemeinsamkeiten im Rahmen der Potentialität und die Unterschiede, die Intentionalität(en) herausgearbeitet, wobei sich die Symbolizität in diesem Fall aus den Bildern der Selbstpräsentationen ergibt.

2 Habitualität: das Kreativitätsdispositiv Die Habitualität könnte als ‚Sitz der Glaubwürdigkeit‘ bezeichnet werden. Bornscheuer beschreibt dieses Element des Topos als einen „internalisierte[n] Bewusstseins-, Sprach- und/oder Verhaltenshabitus, ein Strukturelement des sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges, eine Determinante des in einer

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Gesellschaft jeweils herrschenden Selbstverständnisses und des seine Traditionen, Konventionen regenerierenden Bildungssystems“ (Bornscheuer 1976, S. 96). Durch „ein Zusammenspiel bereits im Voraus assimilierter Grundmuster“ (Bornscheuer 1976, S. 97) verfügt ein Topos also schon über eine gewisse Glaubwürdigkeit. Andreas Reckwitz beschreibt mit dem Kreativitätsdispositiv ein Konzept der Spätmoderne, welches sich am kollektiven Verständnis des Ästhetischen orientiert. Ein Dispositiv bildet eine soziale Struktur, in welcher unterschiedliche Bereiche, Felder und Institutionen in einer bestimmten Ethik oder Philosophie übereinstimmen. Reckwitz erklärt die allgemeinen Grundzüge eines Dispositivs als „ein ganzes soziales Netzwerk von gesellschaftlich verstreuten Praktiken, Diskursen, Artefaktsystemen und Subjektivierungsweisen, die nicht völlig homogen, aber doch identifizierbar durch bestimmte Wissensordnungen koordiniert werden. […] Die Besonderheit des Kreativitätsdispositivs besteht darin, dass es eine Ästhetisierung forciert, die auf die Produktion und Rezeption von neuen ästhetischen Ereignissen ausgerichtet ist“ (Reckwitz 2013, S. 20). Kreativität und Innovation haben eine so hohe gesellschaftliche Wertigkeit erreicht, dass Situationen, welche mit diesen Begriffen in Verbindung gebracht werden, kollektiv als positiv beurteilt werden. Ein weiterer Aspekt eines Dispositivs besteht aus „Subjektivierungsmustern, das heißt Formierungsweisen der Subjekte, die in ihren Kompetenzen und Identitäten, ihren Sensibilitäten und Wünschen ins Dispositiv ‚passen‘ und es mittragen“ (Reckwitz 2013, S. 49). So wurde aus der Randgruppe der Künstler eine idealisierte Figur. Gleichzeitig bietet der Begriff Kreativität durch das Verzahnen verschiedener sozialer Bereiche innerhalb des Dispositivs ein so weites Spektrum an Definitionsmöglichkeiten, dass sich damit in Verbindung stehende Aspekte für verschiedene Intentionen anpassen lassen. Ich erinnere an den Anfang dieses Beitrages, welcher den vielfältigen und ‚flexiblen‘ Einsatz des Begriffs ‚Kreativität‘ zu demonstrieren versuchte. Kreativität kann ein vermeintlicher ‚Schlüssel zur Entspannung‘ sein oder eine Anforderung in einer Stellenausschreibung. Durch die kollektive Prägung des Dispositivs hat der Begriff Kreativität eine Glaubwürdigkeit mit habituellem Charakter erreicht. So wird seine positive und erstrebenswerte Eigenschaft nicht in Frage gestellt, unabhängig von dem Kontext, in welchem er genutzt wird. Bezüglich des Analysematerials fallen immer wieder Begriffe oder Floskeln, welche auf das Kreativitätsdispositiv als Grundlage hindeuten: ‚Individualität‘, ‚anders denken‘, ‚Lösungswege für spezielle Kundenwünsche finden‘, ‚zukunftsweisend‘, ‚einsatzfreudige Teams‘ oder ähnliche Variationen. Es sind positiv behaftete Eigenschaften oder Beschreibungen, welchen kreativen Personen zugeschrieben werden und sich hier auf einer ‚unternehmerischen Ebene‘

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­ iederfinden: der dynamische Geschäftsmann, welcher wie auf Knopfdruck in w seinem einsatzfreudigen Team anders, im Sinne von abweichend, denken kann und zukunftsweisende Lösungswege findet. Nicht nur bestimmte Subjekte ‚passen‘ in das Dispositiv. Branchen, welche sich durch ‚kreative‘ oder ‚schaffende‘ Tätigkeit von ‚innovativen‘ Produkten oder Dienstleistungen auszeichnen, gehören zu den sogenannten creative industries. Hierzu zählen: Werbung, Film und Video, Architektur, Musik, Kunst und Antiquitäten, darstellende Kunst, Computer und Videospiele, Verlagswesen, (Kunst-)Handwerk, Design, Fashion/Mode, Fernsehen und Radio. Die explizite Abgrenzung dieser Branchen zeigt schon, dass die creative industries zwar lediglich einen Teil der Ökonomie ausmachen, dafür aber eine hohe Attraktivität aufweisen. Die Kreativität ist so prominent, dass sie fast schon ‚zum guten Ton‘ gehört. In den Selbstbeschreibungen von creative industry-Firmen werden Schlagwörter wie ‚Individualität am Arbeitsplatz‘, ‚Selbstverwirklichung durch kreative Arbeit‘, ‚flache Hierarchien für kreative Entfaltung‘ oder ‚Innovation‘ zu finden sein. Das sind die Anforderungen, welche die Unternehmen an sich selbst stellen und ebenso Grundbegriffe für die Präsentationen nach ‚Außen‘ in Form von Produkten und Dienstleistungen. Zusammenfassend können folgende Prinzipien für eine überzeugende Selbstinszenierung formuliert werden: Kompetenz, Kundenorientiertheit, Innovation (Weiterentwicklung/Erneuerung/Permanenz, das ‚Neue‘) und Kreativität (das ‚Abweichende‘, flache Hierarchien/Entfaltung, Individualität, keine Routine). Drei Branchen, welche innerhalb der creative industries als einflussreich gelten, Design, Mode und Werbung, verdeutlichen, wie variantenreich die Anwendung der Prinzipien vonstattengehen kann. Design ist die „Ästhetisierungsinstanz par excellence“ (Reckwitz 2013, S. 177). Sei es das Gestalten von Produkten, Verpackungen, Lebensmitteln, Mode oder Werbung – Design ist in nahezu allen wirtschaftlichen Bereichen gefragt und deshalb allumfassend. Um nun das Ergebnis als kreative Arbeit erscheinen zu lassen, setzt die Inszenierung von Kreativität auch und besonders auf einen wohlkalkulierten Überraschungseffekt. „Kreativität wird also eher zugeschrieben, wenn das Publikum in einen Prozess eingebunden wird, bei dem es sich zuerst situativ überrascht zeigt, also weder versteht noch akzeptiert, und dann das Präsentierte doch noch verstehend als angemessen empfindet. Schafft es das Publikum nicht, in angemessener Zeit vom ‚Hä?‘ zum ‚Aha!‘ zu gelangen, so wird nicht ‚Kreativität‘, sondern womöglich ‚Unsinn‘ zugeschrieben“ (Smolarski 2017a, S. 141 f.).

Unabhängigkeit und Interpretationsbedürftigkeit gegenüber dem Publikum zeigen, dass es sich bei der Kreativität selbst um einen Topos handelt. So interagieren mit dem Transparenz-Komplex zwei Topoi miteinander, bzw. bauen aufeinander auf.

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Das Element der Habitualität, welches ihm zu eigen ist, garantiert bereits einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit, und die Flexibilität seiner ‚Leerform‘ bietet ein anpassungsfähiges Anwendungsspektrum. In den Medien finden sich Beispiele von solchen frappierenden Ähnlichkeiten unter Einsatz der Transparenz wieder, dass von einer ‚kollektiven Prägung‘ gesprochen werden kann oder von einem habituellen Pool, aus welchem wiedererkennbare Symboliken geschöpft werden können. Zunächst drei Beispiele aus Film und Fernsehen, welche zwar unterschiedlichen Genres sind, aber dieselben Merkmale aufweisen: Der Film A Beautiful Mind (Abb. 1) basiert auf der Lebensgeschichte des Mathematikers John Forbes Nash. So wird der junge John Nash während seiner Studienzeit in Princeton gezeigt, wie er seine Theorie des Nash-Equilibriums (Nash-Gleichgewicht) entwickelt, während er Gleichungen und Formeln an die Fenster seines Raumes und der Bibliothek kritzelt. Während der Szenen an der Universität wird öfter der Terminus ‚original idea‘ (‚einzigartige Idee‘) fallen, stets verbunden mit scheinbar harten Arbeitsphasen und Erfolg. In der Krankenhausserie Dr. House (Abb. 2) hat sich der Diagnostiker Gregory House auf außergewöhnliche medizinische Fälle spezialisiert. Dafür benötigt er ein (gläsernes) Whiteboard, auf dem er schreibt, um dem Ursprung der pathologischen Rätsel auf den Grund zu kommen. Der Science-Fiction-Film Minority Report (Abb. 3 und 4) spielt in Washington D. C., wo im Jahre 2054 Morde durch ‚Präkognition‘ (das präventive Erkennen und Eingreifen) verhindert werden. Dies passiert durch die hellseherischen Fähigkeiten der ‚Precogs‘, deren Gedankenbilder in der Kriminalabteilung ‚Precrime‘ auf eine transparente Fläche, analog zu einem Bildschirm, geladen werden, wo sie von dem Polizisten John Anderton ausgewertet und in einen für die Ermittlung brauchbaren Zusammenhang gebracht werden. In diesen Szenen trägt John spezielle Handschuhe, welche ihm die Interaktion mit den digitalen Bildern und Daten auf dem transparenten Bildschirm ermöglichen. In der Werbung ist die Hervorhebung von Qualitäten nicht nur ein Bestandteil der Produktpräsentation: Der Konsument soll dem Produkt nicht nur seine Aufmerksamkeit schenken, sondern auch bestimmte Emotionen und Assoziationen empfinden. Nützlichkeit, Lebensstil und Ästhetik werden in Texten, Slogans und Jingles verpackt. Es wird stets eine Für-den-Kunden-Situation suggeriert, wofür die Sprache stark an die Zielgruppe angepasst ist. Der Elektronikkonzern Apple, zum Beispiel, publizierte 2014 einen Imagefilm mit dem Titel ‚Perspective‘ (Abb. 5 bis 8). Der englischsprachige Clip arbeitet mit eingeblendeter Typografie und Objekten, welche sich mit der Kameraführung als optische Täuschungen herausstellen und gleichzeitig in einem bestimmten Winkel die Schlagworte der zu übermittelnden Botschaft ergeben. In dem Clip wird Transparenz auffällig häufig im Zusammenspiel mit der oben beschriebenen Botschaft eingesetzt.

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Die Botschaft richtet sich an Menschen, die ‚Dinge anders sehen‘ und ‚einer Vision‘ folgen, Menschen, die sich nicht nur von dem ‚Neuen‘ ablenken lassen, sondern ihren Fokus auf die Signifikanz einer ‚neuen Einstellung‘ richten. Ein Blick in die Geschichte der Architektur lässt vermuten, dass die Anwendung von Transparenz nicht funktioniert, weil es eine neue, innovative Idee ist, sondern weil sie schon längst mit einer Bedeutung behaftet ist. Als einen „architektonischen Wendepunkt“ (Roesler 2007, S. 2) sieht Sascha Roesler den Crystal Palace bzw. Kristallpalast, welcher 1851 im Londoner Hyde Park eröffnet wurde und damit eine „allmähliche Umdeutung des klassischen Gewächshauses in ein kulturell beziehungsweise wirtschaftlich genutztes Glashaus zu Fest-, Konzert-, Ball- und Messezwecken“ stattfand (Roesler 2007, S. 3). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Glas zum bedeutenden Baumaterial und prägt schon früh u. a. die Bürohausarchitektur. Roesler verweist auf Walter Benjamins Passagen-Werk, in welchem Benjamin „[d]en Verweiszusammenhang zwischen Technologie und Gesellschaft […] exemplarisch in der Glasarchitektur des 19. Jahrhunderts verwirklicht [sieht]: „Es ist das Eigentümliche der technischen Gestaltungsformen (im Gegensatz zu den Kunstformen), dass ihr Fortschritt und ihr Gelingen der Durchsichtigkeit ihres gesellschaftlichen Inhalts proportional sind“ (Roesler 2007, S. 4). Bezogen auf flexible Arbeitsplätze spricht Yiannis Gabriel von Glaskäfigen als spätmoderner Ausformung der Diagnose des ‚stahlharten Gehäuses‘ Max Webers. Körperlich harte und greifbare Arbeit machte Tätigkeiten Platz, die auf der Manipulation von Bildern und Zeichen beruhen. In den Glaspalästen des Konsums findet wiederum eine ‚Wieder-Verzauberung‘ der Welt statt. Die zentrale Funktion des Managements ist hier eine kundenorientierte ‚Wieder-Verzauberung‘ der Welt, wie in Themenparks, Kreuzfahrtschiffen und überall, wo Tourismus stattfindet (vgl. Gabriel 2005, S. 20). Gemeinsam ist den Glaskäfigen und Glaspalästen der Aspekt der Vorführung und Zurschaustellung, eine starke, kraftvolle Illusion von Möglichkeiten „and an ironic questionmark over, whether freedom lies this side or that side of the glass“ (Gabriel 2005, S. 24). Im McDonalds-Konzept findet Gabriel beides, die Prinzipien von Glaskäfig und Glaspalast vereint. Der Boom von Coffeeshops ist ein weiterer Indikator für diesen Trend. Beispielhaft finden sich bei Starbucks an nahezu jedem Tisch des Cafés Steckdosen, was zur Arbeit mit dem Laptop bei Kaffee und Snacks einlädt und so ein breites Spektrum an Zielgruppen zu erreichen sucht, deren Tätigkeit Flexibilität, ständige Erreichbarkeit und Vernetzung erfordert. Große Fenster ermöglichen von außen einen Blick auf die Arbeit der professionell freundlichen Mitarbeiter und die, meist arbeitenden, Besucher. Ein Bild, welches bei vielen Büroräumen schon selbstverständlich geworden ist. Es scheint, als wenn (geistige) Arbeit zur

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‚Schaufensterware‘ geworden ist, Angestellte zu Schaufensterpuppen, die die Ware in bestem Licht darstellen und anpreisen oder demonstrieren. Die Werbestrategen der in diesem Beitrag aufgezeigten Branchen haben mit der Transparenz also keine Neuheit eingeführt, sondern ein Element aufgegriffen, welches bereits stark in unserem Alltag integriert ist und mit dem Aspekt der Arbeit in engem Zusammenhang steht.

3 Potentialität: Transparenz (Basismuster) Zu dem Aspekt der Potentialität schreibt Bornscheuer: „Die Interpretationsbedürftigkeit eines Topos ist gleichbedeutend mit seiner überzeugungskräftigen Interpretationsfähigkeit“ (Bornscheuer 1976, S. 98), was bedeutet, dass das Wesen eines Topos unbestimmt-allgemein ist, doch in einem bestimmten Kontext auf verschiedene Interessen angewandt werden kann, und die Möglichkeit beinhaltet, innerhalb dieser Argumentationsbasis verschiedene Perspektiven einnehmen zu können. Kreativität ist ein vogelfreier Begriff, den jeder nutzen kann, der im weiteren Sinn etwas mit Formen, Farben und komplexen Gedankengängen zu tun hat. Wie Stefanie Luppold festhält, hat der Erfolg dieser Darstellung kreativer Arbeit deshalb seinen langanhaltenden Bestand, „weil das Argument vom gottgegebenen Talent und vom Musenkuss bei der gesellschaftlichen Zuschreibung von Kreativität weitaus größere persuasive Kraft entfalten kann als das Argument von guter Planung, sauberem Handwerk und sehr viel harter Arbeit“ (Luppold 2013, S. 140 f.). Kreativität ist de facto ein erstrebenswerter Zustand, den es als Vorzug zu behandeln gilt, vollkommen unabhängig vom tatsächlichen Talent des Kreateurs, denn die Bewertung seiner Kreativität als Charaktereigenschaft oder als Fähigkeit findet nach ästhetischen Maßstäben durch den Rezipienten statt, vorausgesetzt, er gelangt „in angemessener Zeit vom ‚Hä?‘ zum ‚Aha!‘“ (Smolarski 2017a, S. 141 f.). Kreativität wird in Form von ‚ästhetisch Neuem‘ (affektorientierte Kreationen) an permanente Innovation in der Technik, aber auch an Organisationsstrukturen gekoppelt. Eine ‚kreative Idee‘ ist noch keine Innovation. Diese resultiert erst aus der Umsetzung von Ideen in ‚neue‘ Produkte, Dienstleistungen oder Verfahren (Inventionen), die mit tatsächlicher und erfolgreicher Anwendung den Markt durchdringen (Diffusion). Innovation entsteht dann, wenn sie sich in Wertschöpfung niederschlägt. Forschung und (Weiter-) Entwicklung gelten als Voraussetzung und geben vor, was als ‚neu‘ angesehen werden soll. Reckwitz verdeutlicht, dass dies hauptsächlich von einer gemeinsamen Betrachtungsweise abhängt, denn

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„[o]b auf der zeitlichen, der phänomenalen oder der sozialen Ebene – nie ist das Neue einfach objektiv vorhanden, immer hängt es von häufig umstrittenen Beobachtungs- und Wahrnehmungsschemata ab, anhand derer etwas nicht alt erscheint, nicht als gleichartig oder als Abweichung des Gängigen“ (Reckwitz 2013, S. 44).

Der Tätigkeitsbereich des Designs als eine herausragende Branche innerhalb der ‚ästhetischen Ökonomie‘ nutzt, wie im Weiteren gezeigt werden soll, diesen Identifikationswunsch, um persuasiv auf den Rezipienten einzuwirken. Die Bilder einer Webseite sind das digitale Aushängeschild und oft das erste, was bei einem Internetbesuch ‚ins Auge fällt‘. So soll zunächst auf die visuelle Rhetorik, bzw. die Gestaltung der Bildsprache eingegangen werden, um Wiederholungen und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Erst in einer Kombination mit weiteren symbolischen Elementen, wird der Transparenz eine entsprechende Bedeutung zugesprochen. ‚Eine transparente Kommunikation‘, ‚etwas klar stellen oder machen‘, ‚den Durchblick haben‘, diese und ähnliche Redewendungen sind Symboliken, welche auf topische Eigenschaften der Transparenz hinweisen, wie die habituelle Selbstverständlichkeit, mit welcher sie im Verhältnis zu dem Begriff der Kommunikation steht. Bei der Betrachtung eines Transparenzkomplexes wird nicht (oder zumindest nicht primär) die Frage aufkommen, warum die Fläche transparent ist. Die Bedeutung kann (im Idealfall) im Zusammenspiel mit anderen Elementen des Komplexes schnell interpretiert werden. Und je nachdem, welche Kombinationsmöglichkeit vorliegt, sind die Interpretationsmöglichkeiten sehr variabel. Das macht die Transparenz zu einem „Instrumentarium eines gedanklich und sprachlich schöpferischen, doch zugleich auf den allgemeinen gesellschaftlichen Meinungs-, Sprach- und Verhaltensnormen beruhenden Argumentationshabitus“ (Bornscheuer 1976, S. 94). Klarheit oder Transparenz in der Kommunikation ist so positiv behaftet, dass sie als Symbol zusammen mit weiteren kommunikativen Symboliken funktioniert. Die visuellen Aussagen sind branchenspezifisch oder zeigen, was mit der Branche und dem Unternehmen allgemein in Verbindung gebracht wird oder gebracht werden soll. Die Präsentierenden sind stets mit dunklem Anzug und hellem Hemd bekleidet und stehen dem Betrachter entweder ganz oder seitlich zugewandt mit einem Arm in einer schreibenden oder zeigenden Geste erhoben, in manchen Fällen ‚erscheint‘ das Symbol in den geöffneten Handflächen (siehe Abb. 18). Der Kopf wird dabei nicht immer abgebildet, aber immer die Hand. Der ‚Sitz der Kreativität‘, der Kopf als die ‚denkende Instanz‘ tritt in den Hintergrund, während die ausgeführte, sichtbare Lösung komplexer Gedankengänge im Fokus steht, sprich die Produktion. Doch neben Zeichnen, Schreiben, Verschieben und Wischen tut die Hand bzw. der Finger noch etwas: Zeigen. Der Orator auf der

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anderen Seite der Scheibe will den Betrachter nicht auf die gelungene Typografie oder das schöne Leuchten der Grafik aufmerksam machen. Indem er auf das Zeichen zeigt, soll zwar die Aufmerksamkeit des Betrachters erregt werden, um dann aber beim Anblick des Zeichens etwas Bestimmtes zu denken. Das ist ein Akt, welcher in der alltäglichen Kommunikation ständig passiert. „Wir zeigen nicht auf Autos (Objekte), sondern auf ‚Mitfahrgelegenheiten‘, ‚Gefahrenquellen‘, ‚Luxussymbole‘ etc. Das heißt aber nichts anderes, als dass, wenn wir auf etwas zeigen, wir nicht bloß dieses etwas jemanden sehen lassen wollen, sondern es immer auch als etwas sehen lassen wollen“ (Smolarski 2017b, S. 188).

Das ‚etwas als etwas sehen lassen‘ funktioniert auf einer Grundlage von geteilten Meinungen, Ansichten und Überzeugungen (vgl. Smolarski 2017b; Tomasello 2009). Im Fall des Suchenden im Internet bringt dieser vielleicht schon Erfahrungen mit einem ähnlichen Unternehmen mit, hegt entsprechende Erwartungen, ist von allgemeinen Meinungen, Assoziationen und Ansichten geprägt und hat auf seiner Suche schon Bewertungen über das entsprechende Unternehmen studiert. Die transparente ‚Wand‘ oder ‚Fläche‘ zwischen Präsentantin und Präsentant und Betrachter ist als solche zu interpretieren, da der Präsentant oder die Präsentantin auf ihr schreibt (entweder mit einem Stift wie in Abb. 3, 6 und 7 oder den Fingern, mit welchen die Symbole und Bilder scheinbar verschoben oder angeordnet werden, siehe Abb. 9, 10, 12, 13, 16). Aber auch die Anwendung von Unschärfe über den Körpern der Präsentierenden, lässt eine Fläche assoziieren (Abb. 9, 10, 13, 15 und 17). So erscheint der Körper, welcher dem Betrachter zugewandt ist, weiter entfernt als die erhobene Hand. Der Inhalt bzw. die Aussagen oder Informationen auf der transparenten Fläche sind es schließlich, die die Bilder differenzierbar machen. Meist handelt es sich dabei um Schlagworte oder Symbole, manchmal auch beides in Kombination und in einer Mind-Map-artigen Anordnung.1 Die Mind Map symbolisiert die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu überblicken und in eine Ordnung bringen zu können. Somit ist sie nicht nur ein ‚Werkzeug‘ für den kreativen Prozess selbst, sondern funktioniert innerhalb der Kreativitätsinszenierung als ein symbolisches Element. 1Der

Erfinder der Mind Maps, Tony Buzan, ist der Meinung, dass das Konzept der Mind Maps nicht nur der Gedankenentwicklung hilft, sondern auch dabei, Entwicklungen und Denkprozesse zu kontrollieren und zu ordnen, was zeigt, dass die eigene Fähigkeit zu kreativen Denken theoretisch unbegrenzt sein kann und sich so die intellektuellen Fähigkeiten sowie die Intelligenz steigern lassen. (Vgl. Buzan und Buzan 2001, S. 16.)

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Fassen wir zusammen: Die Habitualität für den Transparenz-Komplex basiert auf dem Kreativitätsdispositiv. In diesem Rahmen wird der Rezipient darin geprägt, dass das Schreiben auf Glasscheiben oder transparenten Oberflächen dazu beiträgt, geniale Lösungen für komplexe Gedankengänge oder Probleme zu finden, wie es in den Filmen A Beautiful Mind oder Minority Report dargestellt wird. Ein Film erfordert eine längere Aufmerksamkeitsspanne als der Blick auf ein Plakat oder dem Bild einer Website, so können die letzten beiden jedoch von dem induzierten Wiedererkennungswert des ersteren profitieren. Die Potentialität ergibt sich aus der Kombination der Elemente Transparenz, Unschärfe, Licht/ Lichtspur oder Leuchten, eine seriös wirkende Person, hier symbolisiert durch den Anzug, welche mit dem Finger oder einem Stift auf der Oberfläche frontal zu dem Betrachter agiert. Auf dieser Plattform oder (um bei dem eingangs eingeführten Terminus zu bleiben:) innerhalb dieser Formel können nun individuelle Intentionen eingebracht werden, welche (im Idealfall) zusammen mit den Assoziationen Kreativität im Sinne von Cleverness, ‚Individualität‘, ‚anders denken‘, ‚Lösungswege für spezielle Kundenwünsche finden‘, ‚zukunftsweisend‘, ‚einsatzfreudige Teams‘ o. ä. in Verbindung mit Seriosität und Kompetenz wahrgenommen werden.

4 Intentionalität: Präsentationsformen des Transparenz-Komplexes Während Potentialität das breite topische Anwendungsspektrum beschreibt, meint Intentionalität nach Bornscheuer, dass „[j]eder Topos […] in diesem Sinn eine ‚Einheit in sich‘ [ist] (und daher gegenüber jedem anderen eigenständigen Topos heterogen) und geeignet zu einer gewissen formelhaften Fixierung“ (Bornscheuer 1976, S. 103). Diese topische Fähigkeit ermöglicht es dem Individuum, eigene Aussagen, Anliegen oder Meinungen in eine habituell verständliche (und deswegen kommunikative) Form zu bringen. Mit meinen drei obigen Beispielen habe ich einen solchen topischen Einsatz bereits demonstriert. Vor diesem Hintergrund ist der Variantenreichtum der Formelanwendung bereits anhand des vorliegenden Bildmaterials ersichtlich, an welchem im Folgenden der oben erarbeitete Topos der Transparenz angewendet werden soll. Wir schauen auf drei Ebenen: Die Hintergrundebene, deren Gestaltung hier Berücksichtigung findet, da sie eine unterstützende oder ergänzende Funktion zur visuellen Aussage einnimmt, die Präsentantenebene mit der Person, welche die Firma repräsentiert und schließlich die Transparenzebene unmittelbar vor dem Betrachter. Zwischen den beiden letzten Ebenen befindet sich die Hand des

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­ räsentanten/der Präsentantin, welche meist im optischen Fokus liegt und als eine P vierte (oder gesonderte) Ebene angesehen werden könnte, da sie unmittelbar mit der intendierten Botschaft in Verbindung steht. In dem Sinne kann die Gestaltung der individuellen Intention mit Transparenz und Unschärfe bzw. das Setzen eines Fokus auf einen bestimmten Bereich des Bildes ähnlich wie ein Schaufenster betrachtet werden, in welchem gezeigt wird, was und auf welche Weise der potenzielle Kunde sehen soll. In diesem Fall wird nur transparent gemacht, was die Firma gewillt ist, den Kunden sehen und wissen zu lassen. Abb. 9 und 10 repräsentieren Manager und finden sich auf derselben Website derselben Firma. Allgemein kann gesagt werden, dass die Firma das Transparenzschema bei allen visuellen Aussagen beibehält, auch wenn diese, wie im Folgenden zu sehen sein wird, unterschiedliche Aspekte zeigen sollen. Neben Transparenz und spezifischen Symboliken wird hier mit Unschärfe gearbeitet, um das Auge des Betrachters auf den intendierten Fokus zu lenken. So ist die Hintergrundebene auf beiden Bildern so unscharf gehalten, dass sich nur erahnen lässt, was sich dort befindet. Die Präsentanten haben einen Schärfegrad, bei welchem es zwar erkennbar ist, dass es sich um Anzug tragende Männer handelt, doch der Fokus liegt eindeutig auf deren Fingern, welche die Symboliken auf der Transparenzebene berühren und mit ihnen interagieren. In Abb. 9 steht der Präsentant seitlich, also dem/der BetrachterIn nicht vollkommen zugewandt. Die Zahnräder, welche sich entweder zu der Hand des Präsentanten hin- oder von dieser wegbewegen (wahrscheinlicher ist die erste Interpretationsmöglichkeit) sind im Bereich des Hintergrundes transparent; und je näher sie dem Präsentanten sind, desto deutlicher erscheinen sie. Das Zahnrad, welches seinen Finger berührt, scheint durch diese Geste an Sättigung oder Konsistenz zu gewinnen, denn dessen Darstellung wechselt von transparent über weiß zu blau. Außerdem leuchtet der Berührungspunkt des Fingers. Da Zahnräder ein Symbol für Gedankengänge sind, wäre eine Interpretationsmöglichkeit, dass der Präsentant Gedankengänge auf den Punkt bringt und ‚handfeste‘ Lösungen findet. Während in Abb. 9 nur der Kopf fehlt, wird in Abb. 10 der gesamte Schulterbereich ausgespart. Der Präsentant ist dem Betrachter direkt zugewandt und es ist erkennbar, dass er keine Anzugjacke, aber Hemd und Krawatte trägt, eine Art geschäftliche Entspanntheit ausstrahlend. Auf der transparenten Fläche befindet sich ein mit einfachen Strichen dargestelltes Lastfahrzeug mit ‚Geschwindigkeitsstreifen‘, wie sie aus Comics oder Zeichentrickfilmen bekannt sind. Die zwei Finger der linken Hand des Präsentanten an den vorderen Rädern des Fahrzeugs suggerieren, dass diese Geste die Zeichnung in eine schnelle Bewegung bringt. Hier wird der logistische Aspekt des Unternehmens und die Routine darin gezeigt: ‚Wir haben so viel Erfahrung in der Logistik, wir machen den Job mit links.‘

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Abb. 11 und 12 präsentieren Ingenieure und hier wird auf beiden Bildern sehr wenig von dem Präsentanten gezeigt, nämlich nur deren Arme, also das ‚Nötigste‘, wenn man so will. Abb. 11 nutzt den Hintergrund zur Darstellung von Gerüstkonstruktionen zur Andeutung des Arbeitsbereiches der Branche. Der transparente Bereich wird nur in der Mitte des Bildes angewandt, als Fläche, auf der geschrieben oder gezeichnet wird: zwei Arme, der Bekleidung nach zu urteilen maskulin und feminin, welche jeweils von rechts und links in das Bild reichen und mit Stiften die transparente Fläche berühren, welche an entsprechenden Punkten aufleuchtet. Hintergrund- und Präsentantenebene sind klar und deutlich erkennbar, also das zu erwartende Ergebnis und die ausführende Instanz, während die transparente Fläche mit angedeuteten technischen Zeichnungen der Bereich ist, auf dem noch gearbeitet wird und auf welchem etwas entsteht. Der Satz ‚Technische Gebäudeausrüstung – Lösungen für ihr Projekt‘ unterstreicht die visuelle Botschaft. Es entsteht etwas bzw. wird entworfen und ist in dem Moment vielleicht noch im Unklaren, aber der Ausblick auf das Ergebnis ist schon da. Die Ingenieure strahlen Sicherheit in ihrem Handwerk aus. Sie können ‚anders denken‘, sich anpassen, verdeutlicht durch den schriftlichen Zusatz ‚Ihr Projekt‘. In Abb. 12 ist der Hintergrund so unscharf, dass stellenweise nur ein farblicher Unterschied zu erkennen ist. Der Präsentant ist in demselben Farbschema gehalten und nicht unbedingt sofort erkennbar, zumal er sich in der rechten Hälfte des Bildes befindet, am Ende der Leserichtung. Auch hier zeigt die Firma nur das ausführende Organ: Kopf und Schultern sind nicht sichtbar, und auch der Finger, der die Fläche berühren müsste, ist nicht im Bild, bzw. von einem Leuchten überblendet. Im Vordergrund sind formelartige Symbole, welche sich über die gesamte Fläche ziehen. Eine Lichtspur macht erahnbar, dass sie von dem Präsentanten gezeichnet wurden. Licht und Lichtspuren werden stets mit technischer Aktualität und einer damit verbundenen Geschwindigkeit in Verbindung gebracht, die für Datenströme stehen mag (vgl. Smolarski 2017b). Erst bei näherem Hinsehen hält der Orator einen Stift, in welchem die Lichtspur der Symbole mündet. Weitere Assoziationen sind ‚(mathematische) Cleverness‘, ‚Digitalität‘, ‚Fortschritt‘ und ‚Innovation‘. Die Präsentantin der Anwaltskanzlei in Abb. 13 bekommt als Hintergrund lediglich einen Lichtschein, der sie hervorhebt, obwohl sie komplett unscharf dargestellt wird, so auch ihre Hand und der ausführende Finger. Sie steht mittig, aber seitlich dem Betrachter zugewandt und lächelt diesen mit tiefroten Lippen an, welche selbst durch die Unschärfe deutlich sichtbar sind. Direkt über dem Lächeln wird ihr Kopf schließlich abgeschnitten. Auf der transparenten Fläche ‚schwebt‘ eine Art stilisierte Landkarte mit Flächen, welche miteinander verbunden sind. Auf den Flächen sind Menschenfiguren abgebildet, anonymisiert

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durch jeweils dieselben Figuren für Mann und Frau mit leeren Sprechblasen. Die Anwältin berührt die Sprechblase einer Frau; der Berührungspunkt leuchtet gelb. Dies könnte so interpretiert werden, dass die Anwältin, bzw. die Kanzlei dem Klienten eine Stimme gibt oder Lösungen für jeden Fall finden, denn das orange Leuchten kann ebenso mit dem Leuchten von Glühlampen in Verbindung gebracht werden, das Symbol schlechthin für gute Ideen und Cleverness. Die Bildsprache kann so verstanden werden: Entweder werden Klienten auf der ganzen Welt und gleich welcher Herkunft als gleichwertig angesehen, oder jeder Klient hat das Recht auf Anonymisierung, d. h. seine Geheimnisse sind in der Kanzlei sicher, er kann sich anvertrauen und Verständnis erwarten. Die Nicht-Transparenz der Klienten und das Sich- Zurücknehmen der Anwälte könnte auf deren hohe Relevanz für die Kanzlei hindeuten. Abb. 14 beinhaltet eine Aussage mit weniger Interpretationsbedarf (‚Awesome!‘). Hier reicht nur ein Arm mit einer schreibenden Hand von rechts ins Bild. Transparenz lässt sich hier höchstens darin ‚erahnen‘, dass sich der Arm hinter der geschriebenen Botschaft befindet. Das Bild hat wahrscheinlich lediglich den Zweck, die Aussage über die Selbstbeschreibung der Telefongesellschaft zu unterstützen, was auf dreifachem Weg geschieht: durch die Steigerung poor, average, good, excellent und (an oberster Stelle, quasi als die Creme de la Creme) awesome, durch die Farbe (ein signalrotes ‚awesome‘, welches außerdem mit zwei Ausrufungszeichen und anderer Schrift versehen ist) und durch das glückliche oder Glück ausdrückende Smiley, repräsentativ für Kundenfreundlichkeit und glückliche Kunden. Nachdem nun die Betrachtungsweise der drei Ebenen, der Symboliken, deren Intentionen und das analytische Vorgehen ausführlich demonstriert wurde, werde ich mich bei folgenden Bildern auf die Interpretationsmöglichkeiten konzentrieren: In Abb. 15 widmet sich der Berater nur seinem Klienten, dieser steht im Fokus, mehr lässt das Unternehmen aber auch nicht erkennen. Es scheint weitere Ergebnisse und Vorgehen für sich behalten zu wollen. Kundenorientierung hat hier eine hohe Priorität, dennoch werden nicht alle internen Angelegenheiten nach außen getragen. Abb. 16 zeigt den seltenen Fall der Darstellung des ganzen Präsentanten, nämlich den gesamten Oberkörper. Doch gilt der Blick des Präsentanten nicht dem Betrachter, sondern der Statistik vor sich. Da es sich um eine Online-MarketingFirma handelt: Erfolg auf der ganzen Welt im World Wide Web. Der Unternehmercoach in Abb. 17 will unmissverständlich deutlich machen, dass er die Stärken seiner Kunden fördern wird (nicht die Schwächen), und der Paketservice in Abb. 18 symbolisiert die Garantie oder das Versprechen der Sicherheit.

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Die Botschaft an den Kunden, seine Ideen und Wünsche umzusetzen, ist nicht neu, aber an das Kreativitätsdispositiv angepasst. Anders und abweichend, in einem positiven Sinne etwas verrückt zu sein, ist im Kreativitätsdispositiv eine positive und angesehene Eigenschaft. Die MitarbeiterInnen haben die Aufgabe, für diese devianten Ideen und Einfälle des Kunden Lösungen und Wege zu finden, sie in gegebenen Rahmen umzusetzen und dies auf einem ebenfalls kreativen Weg, doch aus der Firmenperspektive ist die Selbstbeschreibung ‚Kreativität‘ zum Großteil Marketingstrategie. Es ist eine Anbiederung an den Kunden. Zu sagen ‚Du bist der Kreativste und ich werde alles, was in meiner kreativen Macht steht, tun, um deine Ideen zu verwirklichen!‘ ist eine moderne Art zu sagen ‚Der Kunde ist König‘, worin sich Burkes Worte „[y]ou persuade a man only insofar as you can talk his language by speech, gesture, tonality, order, image, attitude, idea, identifying your ways with his“ (Burke 1954, S. 55) widerspiegeln. „Persuasion by flattery is but a special case of persuasion in general“ (Burke 1954, S. 55), denn innerhalb des Kreativitätsdispositivs ist es ein erstrebenswerter Zustand, ein kreatives Subjekt zu sein.

5 Fazit Ausgangspunkt dieser Arbeit war der polyvalente Einsatz von Transparenz innerhalb eines visuellen Komplexes. Dabei wurde von der gesellschaftlichen Ebene und dem von Reckwitz beschriebenen Kreativitätsdispositiv ausgegangen, in welchem Kreativität ein erstrebenswerter Zustand ist. Die Frage war nun, wie sich Branchen präsentieren, dessen Tätigkeiten nicht in den kreativen Bereich fallen. Auffällig war bei der Selbstdarstellung dieser Branchen der Einsatz von Transparenz. Damit stand die Vermutung im Raum, dass Transparenz die Inszenierung von Kreativität unterstützen soll. Für die Analyse der Bilder wurde das Prinzip des Topos nach Bornscheuer angewandt, ein Bestandteil der Rhetorik, aber hier methodisch auf die Bildsprache übertragbar. Die vier Strukturelemente eines Topos wurden auf das Transparenzmuster und seine Nutzung angewandt. Die Habitualität wird dabei durch das Kreativitätsdispositiv erklärt, welches selbst die Eigenschaften eines Topos aufweist. Somit kann von einer Symbiose zweier Topoi gesprochen werden, dem Topos der Transparenz mit dem des Kreativitätsdispositiv. Des Weiteren wurden die Potentialität (die Anwendung desselben Transparenz-Komplexes auf unterschiedliche Branchen), Intentionalität (die individuellen Botschaften der Firmen) und Symbolizität (die visuelle Darstellung) betrachtet. Diese Elemente bilden eine ‚Leerform‘, die erst dann ihr individuelles persuasives Potenzial entfalten kann, wenn sie im Sinne der Intentionalität ‚gefüllt‘ wird.

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Transparenz als Topos funktioniert als Träger zur Übermittlung von Kreativität, da sich ihre Interpretationsmöglichkeiten mit dem modernen Kreativitätsverständnis vereinen lassen. Da sich Subjekte innerhalb des Kreativitätsdispositivs als kreative Individuen definieren, wird davon ausgegangen, dass Botschaften verstanden werden, welche Kreativität vermitteln wollen. Die Arbeit eines Designers zielt auf dieses Erkennen des Betrachters ab, weswegen auf bekannte und anerkannte Meinungen aufgebaut wird. Da die Transparenz im Rahmen des Kreativitätsdispositivs bereits durch Medien wie Filme wiederholt mit Cleverness oder Kreativität in Verbindung gebracht wurde, ist so ein Wiedererkennungswert entstanden. Das erlaubt eine Anwendung der Transparenz auf anderen Gebieten, wie bei der visuellen Selbstdarstellung. Der beinahe einheitliche Einsatz des Transparenz-Komplexes bringt allerdings auch Risiken mit sich. Alleinstehend, etwa bei einer Google-Suche neben Dutzenden weiteren Unternehmen, welche denselben Symbol-Komplex verwenden (womöglich auch noch vom selben Stockfotoanbieter), besteht die Gefahr, dass die visuelle Aussage vom Suchenden nicht verstanden oder anders interpretiert wird als beabsichtigt, wenn er nur das Bild sieht und für die Beschreibung die Seite tatsächlich besuchen müsste. Zum anderen geht die Individualität, welche ja betont werden soll, in einem Meer von Gleichheit unter. Doch gerade durch den habituellen Charakter der Transparenz, welcher z. B. durch Filme, Internet, Architektur, moderne Arbeitsplatzgestaltung und die Inszenierung des Konsums bei Betrachterinnen und Betrachtern bestärkt wird, funktioniert die Botschaft. Die Assoziation von Glas, bzw. transparenten Oberflächen mit technischem Fortschritt und das Lebensgefühl der ‚Öffnung‘ lassen sich fast zu den Anfängen der architektonischen Glasnutzung zurückverfolgen und in der Gegenwart weiterführen (vgl. Roesler 2007). Wenn Gabriels Glaskäfige und -paläste das spät- oder postmoderne Äquivalent zu Webers ‚stahlhartem Gehäuse‘ sind, dann müssten sie mit diesem gemein haben, mit einem bestimmten Lebensgefühl oder einer Ethik aufgeladen zu sein, was sich nicht nur auf das Gebäude überträgt, sondern ebenso auf die Menschen, die in und mit dieser Einrichtung interagieren und sie somit für Außenstehende in ein bestimmtes Schema oder Klischee presst. Und so wie Stahl und Beton für Rationalität und das Maschinelle standen, würde Glas auf den Wunsch nach Offenheit, Durchsichtigkeit in verschiedenen, mehrdeutigen Hinsichten eingehen. Dies steht in Verbindung mit sogenannten offenen Organisationsstrukturen und flachen Hierarchien, angeblich förderlich für kreative und innovative Arbeit. „Als das Neuartige, als welches Glas im Zusammenspiel mit Eisen zu Recht gesehen wird, erscheint die bloße Verwendung immer mehr als ein Statement, das auch von Neuem in Kultur und Gesellschaft kündet“ (Roesler 2007, S. 32). Die Innovation als eine ständige Erwartung und Anforderung, nicht nur bezogen auf Herstellungsprozesse von Objekten, sondern ebenso auf Organisationen und ­ deren Beschäftigte bezeichnet Reckwitz als ‚ästhetischen Kapitalismus‘ und als

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‚Regime des Neuen‘ innerhalb des Kreativitätsdispositivs. Für Reckwitz hat dieses ‚Regime des Neuen‘ seinen Preis: „Auch wenn Schlüsse von gesellschaftlichen Problemlagen auf psychophysische Krankheitsbilder nur mit Vorsicht gezogen werden sollten, so spricht einiges dafür, dass der seit den 1980er Jahren zu beobachtende Bedeutungsgewinn von sogenannten ‚Unzulänglichkeitserkrankungen‘, also Depression, Erschöpfung, Suchtkrankheiten und dergleichen, vor dem Hintergrund der Leistungs- und Steigerungsansprüche des Kreativitätsdispositivs zu verstehen ist“ (Reckwitz 2013, S. 348).

Reckwitz spricht die Schattenseite des Kreativiätsdispositivs an und zusammen mit der Bedeutung und Nutzung des transparenten Materials in der Arbeitswelt wird nun der Leistungsdruck vorstellbar, welchen gläserne Arbeitsplätze schaffen, das Ausgesetzt sein, nicht nur gegenüber dem Management, sondern auch gegenüber den potenziellen Kunden, welche ebenfalls im Kreativitätsdispositiv ‚leben‘ und davon überzeugt sind, als kreative Individuen kreative Arbeit von ‚Außen‘, von der anderen Seite der Glasfassade, beurteilen zu können. Diese Situation macht sich die Werbestrategie der hier analysierten Branchen zunutze, denn die Kundinnen und Kunden werden genau da abgeholt, wo sie sich sowieso schon befinden: vor der Glasfassade. Dort werden sie aus ihrer voyeuristischen Rolle geworfen, indem direkt mit ihnen durch die Transparenz kommuniziert wird. Abbildungen

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Bildquellen Filme und Fernsehserien: A Beautiful Mind. (Amerika 2001). Regie: Ron Howard. DVD Universal Studios and Dreamworks Studios LLC 2012. Dr. House, Staffel 1, Episode 8. (Amerika 2005). Regie: David Shore. Universal Studios. Minority Report. (Amerika 2002). Regie: Steven Spielberg. DVD Twentieth Century Fox Film Corporation und Dream Works LLC. Apple – ‚Perspective‘ (2014). https://youtu.be/TJ1SDXbij8Y, letzter Besuch 28.02.2019 Unternehmen: Manager: www.adrs.co.za Ingenieur: www.ingenieure-isw.com Anwalt: www.lorenzolawfirm.com Telefongesellschaft: www.matrixcomsec.com Wirtschaftsberatung: www.cwb-wirtschaft.de

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Online Marketing: www.omkt.de Unternehmercoach: www.field-coach.de Paketservice: www.parcelbroker.de Letzter Besuch der Seiten: 28.02.2019

Literatur Bornscheuer, Lothar. 1976. Topik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Burke, Kenneth. 1954. A rhetoric of motives. Berkeley: University of California Press. Buzan, Tony, und Barry Buzan. 2001. Das Mind-Map Buch, die beste Methode zur Steigerung Ihres geistigen Potenzials. München: MVG. Gabriel, Y. 2005. Glass Cages and Glass Palaces: Images of Organization in Image-Conscious Time. Organization 12 (1): 9–27. Luppold, Steffanie. 2013. Kreative Kalküle. Kreativität und Persuasion aus texttheoretischer Sicht. In Kreativität, Hrsg. J. Knape und A. Litschko, 25. Berlin: Weidler Buchverlag. Rapp, Christoff. 2009. Aristoteles – Rhetorik. Erster Halbband. Berlin: Akademie. Reckwitz, Andreas. 2013. Die Erfindung der Kreativität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Roesler, S. 2007. Vom Glashaus zum gläsernen Menschen:“ Transparenz“ als Ideologie der Moderne. Kunst + Architektur in der Schweiz 58 (1): 30–38. Smolarski, Pierre. 2016. Werbeparasiten und Designrhetorik. In Adbusting – ein designrhetorisches Strategiehandbuch, Hrsg. Andreas Beaugrand und Pierre Smolarski, 32–45. Bielefeld: Transcript. Smolarski, Pierre. 2017a. Rhetorik des Designs – Gestaltung zwischen Subversion und Affirmation. Bielefeld: Transcript. Smolarski, Pierre. 2017b. Rhetorik der Stadt – Praktiken des Zeigens, Orientierung und Place-Making im urbanen Raum. Bielefeld: Transcript. Tomasello, Michael. 2009. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Zur Ästhetisierung der Finanzmärkte – Eine explorative Analyse des Films The Wolf of Wall Street Ronald Hartz und Simon Kötschau

Films and firms go a long way back (Panayiotou 2011, S. 10)

1 Einleitung Film als Medium der Populärkultur ist eine bedeutsame Instanz der Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse im Allgemeinen und von Arbeits- und Organisationsverhältnissen im Besonderen (Hassard und Holliday 1998; Bell 2008; Rhodes und Parker 2008). Längst ikonisch geworden ist etwa die filmische Reflexion moderner Arbeitsverhältnisse in Charlie Chaplins Modern Times (Rhodes und Lilley 2012, S. 1). Der Landstreicher Charlie arbeitet in einer Fabrik, der vom Management diktierte Takt des Fließbands bestimmt den Arbeitsrhythmus, man sieht die Monotonie, die sich im Slapstick entladenden Versuche, das Arbeitstempo zu halten und die Unterwerfung unter die „große Maschinerie“ (Marx). Selbst die Entspannungszigarette im Waschraum wird dem Protagonisten missgönnt – der Boss, am Anfang des Films beschäftigt mit einem Puzzlespiel, erscheint auf dem Wandbildschirm und ruft zurück zur Arbeit. Der filmisch inszenierte Konflikt zwischen Individuum und modernen Arbeitsprozess, die Unterwerfung unter die maschinelle Produktion als auch der Widerstand dagegen, R. Hartz (*)  University of Leicester, Leicester, Großbritannien E-Mail: [email protected] S. Kötschau  Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_7

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Monotonie, Sinnlosigkeit (Was wird dort eigentlich am Fließband produziert?), Überwachung und Entfremdung verdichten sich in diesen Anfangsminuten des Films und stehen exemplarisch für eine der Formen filmischer Kritik an modernen Arbeits- und Organisationsverhältnissen. Eine Auseinandersetzung der kritischen Management- und Organisationsforschung mit der Populärkultur ist lohnend, da etwa ein Film nicht nur organisationale Verhältnisse repräsentiert, sondern zugleich sich kritisch dazu verhalten kann (und dies oftmals auch tut), mit filmischen Mitteln aufklären möchte und durchaus auf die Transformation der realen Verhältnisse abzielen kann. So ist für Lohof (1979, S. 519) Modern Times „compelling and ubiquitous“, insofern die „subordination of the skilled artisan to the sophisticated mechanism, and the replacement of the unique icon by the uniform product – became major leitmotifs in the history of industrial revolution“. Diese Leitmotive sind sicher keine Erfindung Chaplins, gleichwohl verweist uns Modern Times auf den Einfluss der Populärkultur auf das gesellschaftliche Verständnis von Arbeit, Management oder Organisation. Viele Artikulationen und Ausdrucksformen der Populärkultur, ob in der Musik, im Film, Tanz, Theater oder der Literatur, sind dabei immanent kritisch (Rhodes und Parker 2008; Rhodes und Westwood 2008, S. 2) und weisen eine Nähe zu vielen Themen kritischer Management- und Organisationsforschung auf. Zugleich begegnet Wissenschaft der Populärkultur als auch populärkultureller Kritik vielfach mit Ignoranz, Skepsis oder einer abwertenden Geste.1 Das seriöse Geschäft der Wissenschaft, so sehen es offenbar viele, steht über dem Populären. Nicht nur bezogen auf die Management- und Organisationsforschung ist diese Haltung auch als ideologische Geste zu verstehen. Die Abwertung des Populären und der darin artikulierten Kritik dient der Selbstversicherung, auf der Seite der ernsten Wissenschaften zu stehen (Rehn 2008, S. 768). Die Frage nach dem kritischen Potenzial von Populärkultur, hier bezogen auf filmische Reflexion von Arbeit und Organisation, steht auch am Horizont dieses Beitrages, welcher sich exemplarisch mit der Ästhetisierung der Finanzmärkte anhand des Films The Wolf of Wall Street auseinandersetzt. Mit Reckwitz folgen wir dabei einem breiten Ästhetikverständnis, welche Ästhetik als „eine Analytik spezifischer sinnlicher Wahrnehmungen“ (Reckwitz 2015, S. 22) versteht und ästhetische Praktiken, zu welcher wir hier sowohl die Produktion als auch die

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legt natürlich auch schon die Bezeichnung „Populärkultur“ (‚low culture‘) nahe, welche ihre Bedeutung in Differenz zur „Hochkultur“ (‚high culture‘) erhält und welche, nicht zuletzt im Kontext der kritischen Theorie, oftmals pejorativ konnotiert ist (Rehn 2008; Rhodes und Westwood 2008, S. 2).

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Rezeption eines Filmes zählen können, als „Hervorbringung ästhetischer Wahrnehmungen“ (Reckwitz 2015, S. 22) bestimmt. In idealtypischer Weise sind ästhetische Wahrnehmungen, in Unterscheidung zum Wahrnehmen allgemein, durch Selbstreferenzialität (etwa als reiner, nicht instrumenteller Genuss des Films), kreative Gestaltung (Poiesis und Performance), Affiziertheit, Interpretation, verstanden als interpretative Haltung gegenüber den Zeichen, sowie durch einen spielerischen Umgang geprägt (Reckwitz 2015, S. 25–29). Interpretation und spielerischer Umgang verweisen dabei auch auf den politischen Charakter ästhetischer Praxis – diese ermöglichen eine „kritisch-selbstreflexive Öffnung für andere Weisen der Weltwahrnehmung“ (Reckwitz 2015, S. 29). Dies führt zu der Frage, ob und in welcher Weise ein Film wie The Wolf of Wall Street in seiner spezifischen Hervorbringung einer „Ästhetik der Finanzmärkte“ einen politischen Charakter aufweist. Dieser Ästhetisierung soll mit Hilfe von Anleihen aus der multimodalen Diskursanalyse als auch aus der Filmsemiotik nachgegangen werden. Hierfür wird im nächsten Abschnitt zunächst näher auf das Medium Film eingegangen. Dabei werden sowohl dessen grundlegend multimodaler Charakter als auch Aspekte der Filmanalyse dargelegt, auf welche in der explorativen Analyse des Films The Wolf of Wall Street zurückgegriffen wird. Hieran schließt sich eine Analyse der Darstellung von Arbeitsplätzen, von Finanzinstrumenten und -produkten sowie der Erzeugung der „Faszination Wall Street“ anhand des untersuchten Films an.

2 Film als multimodales Medium Jeder Text, der seine Bedeutung durch mehr als einen semiotischen Code erlangt, ist multimodal (Kress und van Leeuwen 2006, S. 177). Film ist insofern ein multimodales Medium par excellence. Verschiedene Modi der Kommunikation – hier verstanden als semiotischer, interaktiver Prozess, welche der Artikulation und Interpretation bedürfen (Kress und van Leeuwen 2001, S. 20) – treten dabei nicht einzeln, sondern im ständigen Zusammenspiel auf. Das Konzept Multimodalität verschränkt die Modi der Bedeutungserzeugung und bündelt diese in einer analytischen Perspektive (Kress 2010, S. 5). Die Analyse geht auf die Eigenheiten und Gemeinsamkeiten verschiedener Modi ein und reflektiert deren kulturelle, soziale und historische Konstruktion (Kress und van Leeuwen 2001, S. 4). Die Bedeutung eines Textes erschließt sich somit nicht nur auf sprachlicher Ebene, weil diese in verschiedenen Modi transportiert wird. Als Modus wird die organisierte Zusammenstellung von semiotischen Ressourcen zur Bedeutungserzeugung bezeichnet, die Kommunikation realisiert (Jewitt 2011, S. 21). Beispielsweise

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erzeugen bei einem geschriebenen Satz, neben der Sprache an sich, unter anderem auch Schriftart und Medium Bedeutung. Beim Kommunikationsvorgang sind immer mehrere Modi beteiligt, die alle zusammen Bedeutungen der gesamten Nachricht erzeugen (Kress und Jewitt 2003, S. 3). Die intermodalen Verknüpfungen, die gemacht werden müssen, um die Nachricht zu verstehen, laufen weitgehend unbewusst ab, sodass sich die verschiedenen Modi bei Aufnahme der Nachricht zu einer Gestalt kombinieren (Stöckl 2004, S. 16). Damit ein Modus und seine Bedeutung wahrgenommen werden kann, muss ein gemeinsames kulturelles Verständnis innerhalb einer Gemeinschaft vorliegen: „Modes (of representation) carry the meanings of material affordance shaped by generations of the work of people in their social lives“ (Kress und Jewitt 2003, S. 13). Kress und van Leeuwen schreiben allen semiotischen Modi die drei übergeordneten Funktionen zu, die Halliday im Zusammenhang der systemisch-funktionalen Grammatik für die Sprache entwickelte: die inhaltliche („ideational“), die zwischenmenschliche („inter-personal“) und die textuelle oder textbildende („textual“) Metafunktion (Kress und van Leeuwen 2006, S. 42 f.). Um diese Metafunktionen universell auf alle Modi übertragbar zu machen, werden sie als repräsentierend („representational“), interaktiv („interactive“) und kompositionell („compositional“) bezeichnet. Ein Bild beispielsweise repräsentiert einen Teil der Welt, stellt durch Bildaufbau eine Verbindung zwischen ProduzentIn, Repräsentiertem und BetrachterIn her und konstituiert durch seine Komposition einen Text im weiten Sinne, z. B. in Form eines Wahlplakates, welches selbst ohne buchstäbliche Aufforderung zum Wählen bewegen soll. Um der Analyse von Film als Teil von Kommunikation eine handhabbare Form zu geben, wird hier ein weiter Textbegriff zugrunde gelegt, der Film als Ergebnis von visuellen und akustischen Zeichen sieht, ihn so nicht in seiner Medialität beschränkt und nicht in die Beschreibungsdimensionen von sprachlichen Texten zwängt (Gräf et al. 2011, S. 27). Hierin lässt sich John Fiske folgen, der alle Ausprägungen der Populärkultur als Texte begreift (Mikos 2009, S. 157; Fiske 2003). Bei der Untersuchung des Films als Kommunikationsform muss das spezifisch Filmische der semiotischen Dimension berücksichtigt werden, das aus seiner kennzeichnenden Medialität als audiovisuelles, mediales Produkt resultiert, sprich daraus, „dass er [der Film, Anm. der Autoren] ‚Wirklichkeit‘ in einer bestimmten Weise abbilden kann und dadurch erst (seine) ‚Wirklichkeit‘ konstituiert“ (Gräf et al. 2011, S. 25). Dass Film neben seinen Funktionen der Geschichtenerzählung und Unterhaltung explizit als semiotisches Medium adressiert wird, geht auf die sowjetische Filmkunst der 1920er Jahre zurück. So zielen

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etwa Eisensteins Filme und Schriften auf ein der Dialektik verpflichtetes ‚intellectual cinema‘ zur Visualisierung gesellschaftlicher Konflikte, in dessen Rahmen der Technik der Montage ein zentraler semiotischer Stellenwert zugesprochen wird (Eisenstein 2004 [1929]; van Leeuwen 1999, S. 10). Traditionell sind Bild und Schrift sowie Geräusch/Ton, Musik und Sprache die fünf Informationskanäle, die spezifisch filmische Bedeutungseinheiten bilden (Kanzog 1997, S. 32). Multimodalität erweitert diese Annahme um die bedeutungsstiftende Rolle des ‚Lesers‘ sowie die einzelnen Modi, von denen innerhalb der genannten Einheiten Gebrauch gemacht wird. Für den Film gilt dasselbe wie für Sprachen. Nicht mehr nur die Sprache an sich erzeugt die Bedeutung, sondern auch Gestik und Intonation oder Schriftart und Medium. Der semiotischen Tradition folgend, ist „Film … keine Sprache, aber er ist wie eine Sprache“ (Monaco 2006, S. 158), weshalb Methoden zur Analyse von Sprache auch für die Filmanalyse genutzt werden können. Diese dürfen dabei aber nicht durchweg linguistisch verstanden werden, da sonst die Eigenheit des Filmischen verloren gehen würde. In der über die semiotische Dimension hinausgehenden Auffassung von Film als multimodalem Medium sind mehrere Modi an der Kommunikation beteiligt. Filme können somit – wenn auch nicht unbedingt vollständig – verstanden werden, selbst ohne die gesprochene Sprache zu beherrschen. Dabei ist jedoch nicht ausschließlich „Visual Literacy“ als „die erlernte Fertigkeit, Kommunikation mit visuellen Symbolen (Bildern) zu interpretieren“ (Pettersson 1994, S. 222), sondern die Multimodalität dieser Kommunikation der ausschlaggebende Auslöser für das Verständnis des Films. Das Verstehen eines Films erscheint deshalb so leicht, weil Signifikant und Signifikat im Film näher beieinander liegen als in der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Das liegt daran, dass ein Bild im Gegensatz zum Wort (mit Ausnahme von piktografischen Schriften in der geschriebenen und Onomatopoesie in der gesprochenen Sprache) eine direkte Beziehung (abstrakt oder konkret) zu dem hat, was es bezeichnet (Monaco 2006, S. 158 f.). Das Bezeichnete im Film, beispielsweise ein Auto, ist dabei vorausgewählt und jeder, der den Film sieht, sieht das gleiche Auto in derselben Einstellung. Aus den unzähligen vorstellbaren Signifikanten ist der eine Signifikant (bzw. dessen Vorstellung) des Signifikats „Auto“ bereits vorweggenommen. Der Leser eines Films erfindet im Gegensatz zum Leser eines Buches kein eigenes Bild. Dennoch müssen die wahrgenommenen Zeichen in beiden Fällen interpretiert werden, „um den Prozeß des intellektuellen Verstehens zu vervollständigen“ (Monaco 2006, S. 160). Schöpfer und Leser arbeiten diesem Verständnis nach beide am Prozess der Bedeutungserzeugung mit. Bedeutung ergibt sich in der klassischen Filmanalyse aus Dargestelltem und Darstellungsweise in (teilweise gleichzeitiger) Interaktion und (sukzessivem)

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Nacheinander (Kanzog 1997, S. 33). Umfassender wird die Bedeutungserzeugung des Films durch seine denotativen und konnotativen Fähigkeiten begründet. Der Film hat eine starke Denotation, da er eine große Annäherung an die Realität vermitteln kann (Monaco 2006, S. 162) bzw. einen bestimmten Realitätseffekt erzeugen kann. Dies gilt auch, obwohl filmische Bilder die Vorstellungskraft der Alltagswahrnehmung übersteigen und den Zuschauer überwältigen können, wenn ihre Gewalt und Geschwindigkeit die kognitiven Fähigkeiten überschreiten und aufgrund der plastischen Sensation keine Distanz aufgebaut werden kann (Morsch 2011, S. 90). Film erzeugt immer ein Modell der Wirklichkeit, das zwar nachahmend sein und den Anspruch auf Realitätsabbildung beanspruchen kann, aber immer eine eigene Konstruktion der Wirklichkeit liefert (Gräf et al. 2010, S. 26). Zusätzlich zu den starken denotativen Fähigkeiten weist der Film einen nicht zu unterschätzenden Gebrauch von Konnotationen auf. Das erklärt sich durch die Medialität des Films als reproduzierendes Medium mit der Möglichkeit, alle Konnotationen der Sprache, der Musik, des Tanzes etc. aufzuzeichnen (Monaco 2006, S. 162 f.). Dabei wird zwischen paradigmatischer und syntagmatischer Konnotation unterschieden. Das Paradigma, bzw. die paradigmatische Konnotation, entsteht aus einer vertikalen Auswahl von Möglichkeiten. Eine Einstellung wird – bewusst oder unbewusst – mit potenziellen, aber nicht realisierten Einstellungen verglichen (Monaco 2006, S. 163). Dem konträr zeigt das Syntagma eines Films, bzw. die syntagmatische Konnotation, die lineare Narration des Films. Eine dargestellte Sache bekommt ihre Bedeutung durch das, was im Film vorausging oder folgt, also im Vergleich mit anderen filminhärenten Aufnahmen und Szenen (Monaco 2006, S. 163). Die verschiedenen Arten von Denotation und Konnotation im Film können entsprechend zeichentheoretisch untersucht werden. Beispielsweise zeugt Schweiß auf der Stirn einer dargestellten Person als indexikalisches Zeichen von Angst oder Hitze, je nach Syntagma. Zudem lassen sich diverse rhetorische Mittel filmisch umsetzen, um bestimmte Konnotationen hervorzubringen (Monaco 2006, S. 165–175). Aus den herausgearbeiteten Punkten resultiert, dass der Film ein sekundäres, modellbildendes System ist (Gräf et al. 2011, S. 26). Sekundär, weil er sich über andere Zeichensysteme etabliert und für den eigenen Aufbau der Bedeutung nutzbar macht, und modellbildend, weil er eine eigene Wirklichkeit bildet. Film ist dazu in der Lage, bestimmte Bedeutungen zu transportieren, die wohl kein anderes Medium so pointiert transportieren kann. Beispielsweise handelt es sich der Gattung des Actionfilms (was The Wolf of Wall Street in bestimmtem Maße ist) um eine „genuin filmische Ausdrucksform“ (Morsch 2011, S. 190), die in anderen Medien mangels Spektakularität und Körperartistik kaum vorkommen kann.

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Abschließend lässt sich auch die politische Perspektive eines Films analytisch fassen. Die „Politik des Films“ (Monaco 2006, S. 261), die Art seines Verhältnisses zur Welt, bestimmt das Gefüge seines Sinns und verweist wiederum auf die politische Funktion ästhetischer Praktiken. Die „Politik des Films“ kann affirmativ sein. Den Bildern des Films wird aber auch durch ihre „Fiktionalisierung des Wahrnehmbaren ein Potenzial zugetraut, Gesellschaft zu transformieren“ (Traue 2013, S. 5). Somit macht es einen Unterschied, ob es sich um eine unterhaltsame Hollywood-Produktion, einen dialektischen Essay-Film oder um einen sowjetischen Revolutionsfilm der 1920er Jahre handelt. Filme unterscheiden sich in der Form ihrer Bedeutungsgenerierung erheblich, und zwar wegen ihrer politischen Natur auf ontologischer (die Art, wie Film in Werte der Gesellschaft eingreift), mimetischer (die Art, wie Wirklichkeiten nachgeahmt werden) und/oder inhärenter Ebene (die Art, wie Film mit dem Zuschauer kommuniziert) (Monaco 2006, S. 263).

3 Zur Ästhetisierung der Finanzmärkte – The Wolf of Wall Street 3.1  The Wolf of Wall Street als Teil des „Sexy/Greedy“ Genres Mit Bezug auf die Bedeutung der ästhetischen Vermittlung der Börse spricht Grzebeta (2014, S. 81) davon, dass „diese Vermittlung kein transparentes Vehikel [ist], das Zustand, Funktion und Sinn von Börse ohne Weiteres zugänglich macht, sondern sie lässt eine eigene »Ästhetik der Börse« entstehen, die wiederum den Diskurs über das Phänomen sowie dessen moralische Beurteilung beeinflusst“. Film als Medium hat an dieser Vermittlung einen wichtigen Anteil. So wurden von Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er eine Reihe von Filmen produziert, welche sich mit der Wall Street oder der Londoner City, kurzum: der modernen Hochfinanz auseinandersetzen. Für McDowell (1998) repräsentieren diese ein eigenes „sexy/greedy“ Genre, ob in Form des wiederum ikonisch gewordenen Films Wall Street (1987) von Oliver Stone, in Aufstiegsfilmen und life-swap Komödien wie Trading Places (dt. Die Glücksritter) (1983), Working Girl (dt. Die Waffen der Frauen) (1988) oder The Secret of My Succe$s (dt. Das Geheimnis meines Erfolges) (1987) (vgl. McDowell 1998; Williamson 1991). Insbesondere für die Hollywood-Produktionen gilt, dass die finale Auflösung des Films für den (meist) männlichen Helden in Form einer Liebesbeziehung und/oder der Rückkehr zu grundlegenden familiären Werten stattfindet, oft verbunden mit

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moralischer Läuterung und der Abkehr vom schnellen Geld. Exemplarisch haben wir in Wall Street teil an der Läuterung von Bud Fox, welcher hinter die illegalen Geschäftspraktiken seines Vorgesetzten Gordon Gekko kommt („greed is good“ ist dessen bekanntester Leitspruch und der Name Gekko gemahnt lautmalerisch kaum zufällig an eine Echse), mit den Behörden kooperiert und sich mit seinen kranken Vater versöhnt, welcher als Gewerkschaftsvertreter in einem von den Spekulationen Gekkos bedrohten Unternehmen arbeitet.2 Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 führte zu einer Reihe von neuen Filmen, welche sich vor dem Krisenhintergrund mit der Finanzbranche auseinandersetzten. So in einer an klassische Bühnendramen gemahnenden Form in Margin Call (dt. Margin Call – Der große Crash) (2011), in The Big Short (2015), The Company Men (2010) oder in Wall Street: Money Never Sleeps (dt. Wall Street: Geld schläft nicht) (2010), der Fortsetzung des Blockbusters von 1987. Die Fortsetzung von Wall Street mündet wieder ins familiäre Idyll, The Company Men bietet bei aller Dramatik zumindest zum Teil ein Happy End im Familienkosmos und bei ‚ehrlicher Arbeit‘ an, während Margin Call und The Big Short sich einer solchen Auflösung enthalten. In den Zusammenhang dieser neuen filmischen Auseinandersetzungen mit dem Finanzsektor fällt nun auch The Wolf of Wall Street (2013) von Martin Scorsese. Wenngleich der Film in den 1980er Jahren spielt und zumindest lose auf den 2007 erschienenen Memoiren des Börsenmaklers Jordan Belfort basiert, ist der Film aufgrund seiner Entstehungszeit auch als Reflexion zur Finanz- und Wirtschaftskrise zu lesen.

3.2 Inhaltliche Synopse Trotz der Länge des Films von drei Stunden ist dessen Handlung schnell erzählt. Der junge Jordan Belfort (Leonardo di Caprio) möchte schnell viel Geld verdienen und geht dafür an die Wall Street. Sein erster Arbeitstag als lizensierter Broker ist gerade der 19. Oktober 1987, Black Monday, daher verliert Belfort aufgrund des Börsencrashs kurzerhand seinen Job. Nach kurzer Jobsuche wird Jordan Belfort fündig bei einem kleinen, heruntergekommenen Unternehmen, das mit Pennystocks handelt, mit Aktien, deren Wert im Penny- bzw. im Centbereich

2Folgt

man Prince in seiner Untersuchung des amerikanischen Kinos der 1980er Jahre, reihen sich die genannten Filme in ein Kino ein, welches im Vergleich zu den späten 1960er und frühen 1970er Jahren „less politiced“ war und stilistisch „lusher, glossier, and much less ironic and ambigious“ (Prince 2007, S. 8, vgl. zum Film Wall Street ebd., S. 176–179).

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liegen, Hier vertreibt er dank seiner rhetorischen Fähigkeiten erfolgreich Aktien und verdient dank hoher Provisionen viel Geld. Sein Nachbar Donnie Azoff (Jonah Hill) wird darauf aufmerksam und heuert bei Belfort an. Sie mobilisieren alte Bekannte, die aus verschiedenen kleinkriminellen Tätigkeiten eine Art von Verkaufserfahrung mitbringen, und verkaufen Pennystocks an einfache Arbeiter und Angestellte. Um auch reiche Kunden zu gewinnen, wird die Firma Stratton Oakmont gegründet, die über Telefonhandel Blue Chips, umsatzstarke Aktien großer Unternehmen, und Pennystocks zusammen verkauft. Schnell expandiert die Firma, zieht in größere Räumlichkeiten und kann sich nach einem Forbes-Artikel über den „Wolf of Wall Street“ Jordan Belfort vor Bewerbern kaum retten. Die Mitarbeiter des Unternehmens, allen voran Belfort, werden sehr schnell reich, führen ein ausschweifendes Leben und frönen dem Exzess mit Drogen und gekauftem Sex. Wegen der unlauteren Geschäftsmethoden, mit denen sich Belfort und seine Mitstreiter bereichern, gerät Stratton Oakmont ins Visier der Börsenaufsicht SEC und des FBI. Um ihr Vermögen vor den Behörden zu schützen, schaffen Belfort und seine Kollegen ihr Geld über Kontakte in die Schweiz. Als der Schweizer Bankier wegen Geldwäsche in einem anderen Fall verhaftet wird, werden auch die Machenschaften von Stratton Oakmont aufgedeckt, und Belfort muss nach einem missglückten Kronzeugen-Deal für 36 Monate ins Gefängnis. Der Film endet mit einer Abendveranstaltung in Auckland, Neuseeland, auf der Belfort nun als Verkaufstrainer mit seinem Talent wieder Geschäfte macht. In der Szene hat der reale Jordan Belfort einen Cameo-Auftritt als Moderator. Der effektive Inhalt des Films ist der Exzess – vulgär, obszön und sexistisch. Gleich zu Beginn wird gezeigt, wie Belfort am Steuer seines Sportwagens einen „Blowjob“ bekommt und in der nächsten Szene Drogen vom nackten Hintern einer Prostituierten konsumiert. Die geradlinige Äußerung gegenüber dem Zuschauer, dass es seine Frau Naomi war „with my cock in her mouth in the Ferrari. So put your dick back in your pants“ (00:02:35)3, ist tonangebend. Allein das Wort „fuck“ und seine Ableitungen kommen über 500-mal im Film (d. h. im Schnitt 2,8 mal pro Minute) vor, womit der Film den Rekord hält, der Spielfilm mit der häufigsten Benutzung des Ausdrucks zu sein (Variety 2014).

3Die

Zeitangaben bei wörtlichen Zitaten markieren den Beginn der jeweiligen Äußerung im Format „hh:mm:ss“ und beziehen sich auf die Filmspur der von Universal Pictures Germany veröffentlichten DVD.

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3.3 Analyse Die an dieser Stelle vorgenommene Analyse folgt einem explorativen, eng am filmischen Material orientierten Vorgehen, wobei sich die im Folgenden ausgewählten und diskutierten Phänomenbereiche nach der wiederholten Betrachtung des Films im Sinne der Zielstellung der Analyse als Fokussierungen anboten. Für deren Exploration wurde auf die im vorherigen Abschnitt skizzierten filmund diskursanalytischen Überlegungen und Perspektiven zurückgegriffen. Zur Rekonstruktion der Erzeugung von Bedeutung ist dabei das Dargestellte in Verschränkung mit der Darstellungsweise, Formen der Denotation und Konnotation (syntagmatisch/paradigmatisch) sowie die multimodale Verschränkung von Bild, Geräusch/Ton, Musik und Sprache von Interesse. Die folgende Darstellung geht in möglichst dichter Form und Rekonstruktion und anhand ausgewählter Szenen der Frage nach einer spezifischen „Ästhetik der Finanzmärkte“ in The Wolf of Wall Street nach. Dabei wird die Darstellung des Arbeitsplatzes und die Veranschaulichung von Finanzinstrumenten näher betrachtet sowie der Inszenierung der „Faszination Wall Street“ nachgegangen. Im Hintergrund steht auch hier die Frage, ob das Gezeigte den Exzess, die Gier und das Geld so darstellt, dass eine Form der Anklage oder Kritik sichtbar wird, so zumindest die intendierte Perspektive von Regisseur Scorsese und Hauptdarsteller Di Caprio, oder ob der Film, auch entgegen der Intention des Regisseurs, aufgrund seiner spezifischen Ästhetisierung der Finanzmärkte eher in eine Affirmation der Wall Street und der Finanzbranche mündet (Rothman 2014). Der Film steigt nach einem kurzen, fiktiven Werbespot für Stratton Oakmont direkt in die Darstellung des Unternehmensgeschehens ein. Die Belegschaft wird beim „Zwergenwerfen“ gezeigt (hierbei wird eine kleinwüchsige Person auf eine Zielscheibe geworfen) gezeigt und in einem Voice-over stellt sich Belfort vor, während die Kamera auf seinem aggressiv-pathetischen Gesicht stehenbleibt. Er führt als autodiegetischer Erzähler durch die Story und spricht den Rezipienten (Heiß 2011, S. 30) mehrmals direkt an. Die interaktive Metafunktion dieses Mittels widerspricht der traditionellen Hollywood-Ästhetik (Heiß 2011, S. 204 f.), hat dafür aber einen umso größeren Effekt. Die filmische Kohärenz wird auch dadurch gebrochen, dass der Erzähler vereinzelt über dem Ersteller des Bildes steht: Er berichtigt beispielsweise die Darstellung, dass sein Ferrari nicht, wie erst gezeigt, rot, sondern weiß sei, woraufhin dieser binnen eines Kameraschwenks seine Farbe ändert.

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3.3.1 Die Darstellung des Arbeitsplatzes Im Film werden verschiedene Arbeitsräume gezeigt, in denen Wertpapierhandel betrieben wird. Mit Ausnahme des kleinen Unternehmens in Long Island, das Pennystocks verkauft, sind sich die Arbeitsstätten alle auffallend ähnlich und entsprechen klassischen Bildern von Boiler Rooms, d. h. auf aggressive Verkaufstaktiken setzende Callcenter, welche hier stellvertretend für die gesamte florierende Investmentbranche stehen: Es ist laut, hektisch und viele junge, vor allem männliche, Händler sitzen oder stehen eng beieinander und bedienen Telefone sowie Computer und Finanzdatengeräte. Die Hektik wird erzeugt durch viel Bewegung der Menschen im Bild und Überlagerung der sprechenden Stimmen. Zudem ist auffällig, dass die Räume nie lange in einer Einstellung gezeigt werden. Der erzeugte Effekt des Zeitmangels entspricht dem dargestellten Arbeitsfeld. Die Hektik zeigt sich auch in der elliptischen Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung des Unternehmens. Der schnelle Aufstieg von Stratton Oakmont wird in einer einzigen Szene dargestellt. Das Unternehmen verkauft zunächst noch aus der angemieteten Garage. Die Firma expandiert, was während einer Einstellung in dem Raum aus derselben Perspektive, mit dem Hinzufügen von Schreibtischen symbolisiert wird. Schließlich wird ein großer Büroraum gezeigt, in dem plötzlich mehr als fünfmal so viele Menschen wie zu Beginn der Einstellung arbeiten. Die Szene dauert keine fünf Sekunden und doch versteht der Zuseher, dass Stratton Oakmont nun ein stattliches Investmentunternehmen geworden ist (vgl. Abb. 1). Das In-Beziehung-Setzen der Einzelbilder im Rezeptionsprozess ermöglicht dieses Verständnis (Heiß 2011, S. 200). Nur anfänglich, als Belfort neu an der Wall Street ist, wird der hektische Arbeitsplatz als etwas Neues dargestellt, sowohl für den Protagonisten (an seinem ersten Tag als lizensierter Broker ist Belfort der einzige im Raum, der noch sein Jackett trägt) als auch für den Zuschauer (der Raum fällt in den Einstellungen nach rechts ab). Anschließend sind bei Szenen am Arbeitsplatz die Räume immer nach links abfallend. Die Büros werden als etwas schon Bekanntes visualisiert (Kress und van Leeuwen 2006, S. 180–184). Anfangs wird der Schwerpunkt noch auf die Boiler Rooms gelegt, in den späteren Einstellungen wird keine neue Information geliefert. So entsteht der Effekt, dass die arbeitenden Personen förmlich ineinander übergehen und als Individuen nicht weiter relevant sind. Nur selten werden am Arbeitsplatz andere Räume als die Boiler Rooms oder direkt angrenzende Büros gezeigt. Ausnahmen bilden eine kurze Szene, in der die Angestellten von Stratton Oakmont den öffentlich sichtbaren Oralverkehr im Fahrstuhl von der Eingangshalle aus bejubeln, und die Szene beim Lunch zu Beginn

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Abb. 1   Screenshots „The Wolf of Wall Street“. (Universal Pictures)

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des Films. Belfort trifft sich an seinem ersten Arbeitstag an der Wall Street mit seinem Vorgesetzen, dem Senior Broker Mark Hanna (Matthew McConaughey) zum Lunch in einem noblen Restaurant hoch über der Stadt. Das Restaurant liegt in dem Gebäude, in dem sich L. F. Rothschild befand. Der kuriose Hanna erklärt dem jungen Belfort in dieser vornehmen Umgebung, dass Drogen, Masturbation und Prostituierte der Weg zum Erfolg in dem Geschäft seien, währenddessen er selbst Kokain schnupft und mehrere Martinis trinkt. Das Gespräch erzeugt eine ironische Komik, ausgehend vom erfahrenen Mark Hanna, der ungeniert und ausgiebig über sein eigenes Masturbationsverhalten spricht und zugibt, dass die Finanzwelt und das Investmentbanking Illusionen seien. Gefasst gestikulierend erklärt er, es ginge ausschließlich darum, selbst so viel Geld wie möglich einzustreichen. Die vermittelte Ruhe der Szene ist eingebettet in ein melodiöses Summ-Ritual, das Hanna zur Entspannung nutzt und im Gegensatz zu der Hochspannung in den Boiler Rooms steht. Die Gebäude, in denen gearbeitet wird, werden zudem nicht von außen gezeigt. Eine Ausnahme bildet die Einstellung am Morgen des Black Monday, in der Belfort erwartungsvoll zur Arbeit geht. Die Monumentalität des Hochhauses wird unterstrichen durch einen vertikalen Kameraschwenk, welcher die architektonische Repräsentation von Macht unterstreicht. Die folgenden Szenen heben jedoch dieses Gefühl von wirtschaftlicher Vormacht durch den Börsencrash und die Entlassung Belforts wieder auf. Wichtig für die Generierung der Bedeutung von Arbeit ist folglich nicht die repräsentative Fassade, sondern das Innere. Um die Autorität der Architektur eben nicht zu markieren, wird im weiteren Filmverlauf auf den einleitenden Anblick eines imposanten Wolkenkratzers von außen verzichtet. So werden die Prozesse im Inneren betont, wo eine undefinierbare Lautstärke dominiert. Es wird jedoch kaum die tatsächliche Arbeit von Brokern gezeigt. Dargestellt werden keine Kursbewegungen oder das Erstellen von Analysen in Form von Charts, sondern ausschließlich Telefonate. Exemplarisch werden von Belfort gescriptete Verkaufsgespräche gezeigt, die die Broker auswendig gelernt haben, um ihr telefonisches Gegenüber zu überzeugen, in die angepriesenen Wertpapiere zu investieren. Die Darstellung der Leichtigkeit des Gelingens dieser Taktik wird unterstützt durch die Kameraschnitte, indem die Telefonverkäufer die Sätze ihrer vorher gezeigten Kollegen vervollständigen. In zeitlich und räumlich versetzten Situationen mit unterschiedlichen Klienten wird durch die Montage ein konsekutiver Gesprächsverlauf aufgebaut, dessen Inhalt verständlich ist. Wenngleich mehrfach von den Figuren sprachlich darauf verwiesen wird, ist für den Zuschauer nie ein unterschriebenes Dokument zu sehen, welches die telefonisch abgewickelten Geschäfte nachweist. Die Erledigung der Formalitäten ist nicht zur Anschauung gebracht, auf die Arbeit der Sekretärin wird nur hingewiesen.

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Der Umgang zwischen den Brokern und das Verhältnis zu den Klienten sind geprägt durch zahlreiche Formen der Demütigung Einzelner und ein grundsätzlich zynisches Verhalten, welches zugleich der kollektiven Belustigung dient und den Eindruck einer allgemeinen Partystimmung erweckt. Wenn jemand beleidigt oder niedergemacht wird, dann dient dies als Belehrung und gleichzeitig Belustigung der restlichen Anwesenden. An dem Tag des Börsengangs von Steve Madden säubert ein junger Broker im Büro sein Goldfischglas. Die Mise en Scène, der Aufbau des Bildes hebt die Andersheit des Mannes hervor. Er ist in der Mitte des Bildes zu sehen, trägt im Gegensatz zu allen anderen Mitarbeitern eine Fliege und keine Krawatte, und die angeschaltete Schreibtischlampe auf seinem Tisch ist die einzige künstliche Lichtquelle im Büro. In der nächsten Einstellung fragt Azoff angespannt, aber ruhig nach der Lage und dreht dann ab. Belfort und seine Assistentin Janet, welche die Szene verfolgt haben, werden eingeblendet. Durch diesen Schnitt und das Kichern von Belfort und Janet, wird dem Zuseher verdeutlicht, dass die Szene noch nicht vorbei ist. Unterstützt wird diese Vorahnung durch den Sound. Die Umgebungsgeräusche in dem Großraumbüro verstummen, bis Azoff den jungen Händler anschreit und seine Zigarette gegen sein Hemd schnipst. Es wird angedeutet, dass Azoff den Goldfisch des jungen Mannes lebendig runterschluckt. Anschließend wird der junge Broker gefeuert. Die Beschäftigten in dem Büro werfen Papierkügelchen auf den Mann, der seine Sachen vom Schreibtisch einsammelt, während Belfort im Voice-over einsetzt: „a real wolf pit, which is exactly how I liked it“ (01:24:14). Die verbliebenen Mitarbeiter amüsieren sich und stärken ihren Zusammenhalt durch das kollektive Niedermachen. Die Arbeit selbst, insbesondere das Telefonieren, wird als Fun präsentiert, dessen Unterhaltungswert sich aus der Manipulation und Missachtung der Kunden ergibt. Belfort demonstriert seinen ersten Mitarbeitern und dem narrativen Rezipienten, wie sein überzeugendes Manuskript funktioniert. Er ruft einen Kunden an, dem er eine Wertpapierkombination aus Blue Chips und Pennystocks verkaufen möchte. Über die Freisprecheinrichtung hören sowohl seine Mitarbeiter als auch der Rezipient das telefonische Gegenüber. Während zum Kunden verbal Vertrauen aufgebaut wird, gestikuliert Belfort abwertend, klatscht mit seinen Mitarbeitern triumphierend ein und formt lautlos mit den Lippen ein für den Zuseher gut erkennbares „Fuck you“ (00:37:11), während er dem Telefon zwei Mittelfinger zeigt (vgl. Abb. 2). Die Angestellten von Stratton Oakmont amüsieren sich dabei köstlich. Die Kunden bzw. „Opfer“ werden nicht gezeigt. Geschützt durch die optische Anonymität des Telefons kann keine Empathie aufgebaut werden, weder von den Brokern noch vom Rezipienten, dem ein einseitiges Bild durch die Präsentation der „Täter“ gegeben wird. Eine potenzielle Identifikation des Zuschauers

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Abb. 2   Screenshot „The Wolf of Wall Street“. (Universal Pictures)

mit Belfort ist nur zu Beginn an dessen erstem Arbeitstag beabsichtigt. Belfort kommt, mit einem Kaffee in der Hand, mit dem Bus zu seinem Arbeitsplatz an der Wall Street. Später verachtet er die Arbeiter und Angestellten, die den öffentlichen Nahverkehr nutzen müssen, indem er, bezugnehmend auf den FBI-Agenten Patrick Denham (Kyle Chandler), sagt: „money talks and bullshit takes the bus“ (01:48:18). Von Bedeutung am Arbeitsplatz ist die gesprochene Sprache. Als Voice-overSprecher erinnert sich Belfort, wie erstaunt er am Anfang über die Kraftausdrücke war, die die Händler untereinander benutzen. Schon nach kurzer Zeit hat er sich aber dieser Ausdrucksweise angepasst, die von dem nach außen vermittelten Bild abweicht. Die gewollte Fremdwahrnehmung wird von dem einleitend eingespielten Werbespot von Stratton Oakmont vermittelt, in dem Werte wie Stabilität und Integrität beschrieben werden. Ebenso stellen sich die Mitarbeiter der Firma selbst als „broker on Wall Street that you can trust“ (00:37:02) vor, während das Gespräch für alle Anwesenden hörbar ist und Belfort pantomimisch nachstellt, was Hanna ihm mit auf den Weg gegeben hat: „Fuck the clients“ (00:09:54). Die vulgäre Ausdrucksweise versprachlicht die grundsätzlichen Sicht- und Handlungsweisen der Broker. Aufschlussreich beim Untersuchen der Darstellungen der Arbeit von Stratton Oakmont ist schließlich das an den großen Telefonraum angrenzende Einzelbüro von Belfort. Abgetrennt durch eine Glaswand hält sich in diesem Zimmer nur die Führungsebene auf. Die abgehaltenen Meetings sind allerdings nicht geschäftlicher Art, sondern dienen dem Vergnügen. Beispielsweise befasst sich eine scheinbar ernste Konferenz während der Arbeitszeit mit der Planung des

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Zwergenwerfens, und am Tag des Börsengangs entkorkt Azoff dort eine Flasche Champagner. Belfort sitzt in dieser Szene in seinem Lederstuhl mit den Füßen auf dem Schreibtisch und beginnt dem Zuschauer zu erklären, wie Stratton Oakmont mit dem IPO Profit erzielt, bricht aber ab, um mit Azoff anzustoßen. Außerhalb der Geschäftszeit, an einem Samstag, wird das Büro zum Geschlechtsverkehr genutzt. Der allgemeine Zynismus wird zudem in Formen der Marktbewertung präsentiert. Der Voice-over-Sprecher erklärt, dass es bei Stratton Oakmont drei Formen von Prostituierten gibt, die Wertpapieren entsprechend nach ihrer Wertigkeit abgestuft werden. Die günstigsten Prostituierten werden Pennystocks genannt, im geschäftlichen Feld das Spezialgebiet des Unternehmens. In der kurzen Sequenz der Vorstellung stehen viele Männer um die Prostituierte, die, im Gegensatz zu den anderen beiden vorgestellten, mit nackter Brust beim Geschlechtsverkehr auf dem Tisch zu sehen ist. Der frauenverachtende Vergleich wird visuell unterstützt mit der Aussage, dass sich die minderwertigen Pennystocks bei Stratton Oakmont der größten Beliebtheit erfreuen.

3.3.2 Die Veranschaulichung von Finanzinstrumenten Wie der Titel des Films offenbart, handelt The Wolf of Wall Street von Aktivitäten, die dem amerikanischen Finanzbereich zuzuordnen sind. Der Ausdruck „Wall Street“ steht in diesem Zusammenhang nicht wortwörtlich für die Straße in New York, an der sich die NYSE befindet, sondern metonymisch für den gesamten Wertpapierhandel und somit für die Finanzindustrie. Nur der erste Arbeitgeber von Jordan Belfort, L. F. Rothschild, befindet sich dem Film zufolge im Finanzdistrikt New Yorks,4 Stratton Oakmont hingegen auf Long Island. In dem Film sind die Finanzprodukte, gewissermaßen der Gegenstand der Arbeit von Stratton Oakmont, bewusst lückenhaft veranschaulicht. Belfort setzt den narrativen Rezipienten über den größten Coup seines Unternehmens in Kenntnis, den Börsengang von Steve Madden. Während zwei Anwälte des SEC die Akten des Unternehmens durchsehen, übernimmt Belfort als diegetische Figur den Satz des Voice-overs und beginnt zu erklären, was ein IPO ist und wie Stratton Oakmont diesen durchführt, um selbst am meisten zu profitieren. Belfort hastet dabei durch die Reihen des Großraumbüros und spricht in die Kamera, adressiert also den Zuschauer. Im zweiten Satz der Erklärung bricht er ab und

4Das

Gebäude, das in der der schon beschriebenen, einleitenden Einstellung am Black Monday gezeigt wird, ist das Equitable Building an 120 Broadway (Chevalwala 2014).

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bleibt stehen. Die Kamera fährt in der Szene durch den Raum, zeigt erst die beiden Anwälte, heftet sich dann mit dem Einsetzen des Sprechens an Belfort und stoppt gleichzeitig mit seiner Unterbrechung. Belfort lacht kurz schelmisch und stellt abwinkend fest, dass der Rezipient ohnehin nicht mehr dem folge, was er sagt. Er bemerkt, dass dies aber auch egal sei, da er die einzig wichtige Frage, ob all das legal sei, sich selbst mit „absolutely fucking not“ (01:11:22) verneint. Der Zuseher fühlt sich von Belfort persönlich angesprochen, er hat Teil an einer Konspiration. Der Effekt wird dadurch verstärkt, dass Belfort anfängt zu flüstern, sich vorher noch flüchtig umsieht, als wolle er sicherstellen, dass ihn niemand anderes hört und schließlich näher zur Kamera beugt. Unterstützend beginnt das Bild leicht zu wackeln, womit die Kamera einen authentischen Blick zu imitieren versucht (Heiß 2011, S. 56). Das unterstellte Unverständnis der Ausführung Belforts wird provoziert durch die vergleichsweise lange Kamerafahrt, die Überlagerung der Stimmen im Großraumbüro und einem leise eingespielten Lied, das noch aus der vorigen Sequenz läuft, sowie durch einen aufgegriffenen Gesprächsfetzen, der Belfort unterbricht. Die vermittelte Hektik steht im Kontrast zu dem ruhig wirkenden Protagonisten. Erzielt wird der Effekt, dass der Broker erstens mehr weiß als der Zuschauer, dem unterstellt wird, sich nicht auskennen zu können. Zweitens wird der Zuschauer Teil einer Verschwörung und eingeweiht in die illegalen Praktiken (vgl. Abb. 3). Nach dem gleichen Schema wird die rentable Durchführung des IPOs dargestellt. Belfort erwähnt im Voice-over die außergewöhnliche Preissteigerung der Steve-Madden-Aktie um 400 % in den ersten drei Minuten nach Markteintritt.

Abb. 3   Screenshot „The Wolf of Wall Street“. (Universal Pictures)

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Erwirkt wird diese durch die aggressive Verkaufstaktik seiner Mitarbeiter, nachdem er ihnen in einer anheizenden Ansprache die Anweisung gibt „telephone fucking terrorists“ (01:30:04) zu sein. Parallel zum Voice-over läuft etwas leiser das Lied „Hey Leroy, Your Mama’s Callin’ You“, ein poppig schwungvoller Song, der in diesem Zusammenhang die Gleichzeitigkeit des Telefonierens im Boiler Room thematisiert. Indes wird Agent Denham in seinem Büro gezeigt, der auf einem großen Flipchart etwas in ein Diagramm zeichnet. Die Sequenz bestätigt Belforts Aussage zur Illegalität des Geschäfts. Für den Zuseher wirkt sie als Vorahnung, dass das Unrecht auffliegen wird. Der Schnitt führt allerdings in das große Chefbüro, wo Azoff eine Flasche Champagner direkt vor der Kamera entkorkt. Sitzend hinter seinem Schreibtisch, mit den Füßen auf dem Tisch, adressiert Belfort wieder den Zuschauer, indem er in die Kamera spricht. Seine Position erzeugt eine gesteigerte natürliche Autorität (Kress und van Leeuwen 2006, S. 262 ff.). Während langsam auf sein Gesicht gezoomt wird, beginnt Belfort den Rezipienten zu informieren, wie genau er sein Geld über Scheinkonten wäscht. Beim nächsten Satz unterbricht er sich selbst auf dieselbe Weise wie zuvor; er lacht und fragt rhetorisch, wen das interessiere. Die Bewegung der Kamera wird gegenüber dem vorigen Mal nicht unterbrochen. Die Kamera bzw. der Rezipient ist dieses Mal nicht mehr erstaunt über die Unterbrechung. Erst als Belfort mit beiden Fäusten auf den Tisch haut, kommt es zu einem Schnitt. Der Schlag auf den Tisch dient im übertragenen Sinne als Paukenschlag, um anzukündigen, wie viel Geld verdient wurde, denn das sei, was eigentlich interessiere. Azoff wird eingeblendet, er brüllt die Antwort: „22 million dollars in three fucking hours“ (01:31:15), woraufhin Belfort ihn umarmt und mit ihm anstößt. Die textuelle Metafunktion der beschriebenen Modi ist die Feststellung, dass der potenziell unwissende Rezipient als solcher dargestellt wird. Nur Belfort und sein Team von Stratton Oakmont sind im Stande, die „financial wilderness“ (00:01:00) zu beherrschen. Weder der Rezipient noch die innerfilmischen Kunden sollen die Finanzprodukte verstehen. Gleichwohl erklärt zu Beginn des Films der erfahrene Hanna dem zu dem Zeitpunkt noch begeistert aufgeregten Belfort die Regel Nummer eins der Wall Street: „nobody knows if a stock is gonna go up, down or sideways or in fucking circles. Least of all stockbrokers“ (00:10:25). Dem Senior Broker ist klar, dass die Finanzwelt ein Schwindel ist, den er nur mit Drogen und Sex ertragen kann. Die Szene beim Lunch veranschaulicht in ihrer Sonderbarkeit vorwegnehmend einen Kerngedanken des Films. Die Broker kreieren nichts, betreiben ein großes Spektakel mit gelassener Seriosität nach außen und gelebtem Exzess innerhalb ihres Milieus, aber bewegen letztlich nur Geld von anderen Leuten in

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ihre eigene Tasche. Zu Beginn des Films lässt sich die syntagmatische Konnotation der Szene nicht erschließen, obgleich die Verrücktheit des Arbeitsplatzes bereits angedeutet wurde. Die Szene erzielt ihre volle Wirkung erst sukzessiv mit fortschreitender Spieldauer. Dem narrativen Rezipienten wird zwar nicht zugetraut, die Finanzinstrumente zu verstehen, aber trotzdem wird ihm nicht verheimlicht, dass sie illegal und minderwertig sind. Er hat einen Wissensvorsprung gegenüber den Opfern von Stratton Oakmont, weiß aber weniger als die Broker. Belfort macht klar, dass er die Opfer nicht als anständige Bürger, sondern als Abschaum sieht, die es verdient hätten, um ihr Geld betrogen zu werden, da Belfort es besser auszugeben wisse. Er verkaufe „garbage to garbage men“ (00:23:10), womit er nicht nur die Kunden, sondern auch den Gegenstand seiner Arbeit abwertet. Trotz des Wissens um die Gesetzeswidrigkeit gesteht Belfort seine eigene Schuld nicht ein. In der Szene auf seiner Yacht verharmlost er gegenüber Denham seine Vergehen, indem er die Geschäfte der großen Banken als das tatsächliche Übel bezeichnet. Stratton Oakmont sei dagegen nur ein kleiner, passiver Teil des größeren Systems, zwar unorthodox, aber im Grunde auf eine Ebene zu stellen mit Arbeitern, die nur versuchten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In klassischen Over-the-shoulder-shots wird der Dialog gefilmt, um dem Rezipienten das Gefühl zu vermitteln, selbst Teil der Unterhaltung zu sein. Belfort sitzt leger in einem Baststuhl, seine Sonnenbrille ans weiße Marken-Poloshirt gehängt und die Beine überschlagen. Bildlich umgeben ihn in Unschärfe die Masten der hinter ihm im Hafen stehenden Sportboote sowie die horizontalen Gestänge der Reling. Die dominierende Farbe in der Einstellung ist Unschuld vermittelndes Weiß (Wulff 1999, S. 152 f.). Die Bildkomposition erzeugt eine Unruhe, die im Widerspruch zu Belforts ruhigem Auftreten steht, unterstützt durch den Wellengang, der das Bild auf und ab neigen lässt. Die visuell repräsentierte Unschuld wird dadurch gebrochen, dass Belfort sein Gegenüber direkt anlügt. Der Zuschauer hat bereits erfahren, dass seine Geschäfte illegal sind. Denham sitzt angestrengt, mit den Armen auf seine Knie gestützt, vor einer USA-Flagge, die am Heck der Yacht weht. Er trägt keine lockere Freizeitkleidung mit hohem Prestigewert, sondern einen konventionellen Anzug mit Krawatte. Die Fahne symbolisiert die Nation und den amerikanischen Rechtsstaat mit Denham als seinem Vertreter. Leicht lächelnd lügt Belfort den FBI-Agenten an und betrügt nicht nur eine Person oder Institution, sondern gleichzeitig die gesamte amerikanische Bevölkerung. Das Lächeln dient als ironischer Hinweis für den Leser, dass sich alle beteiligten Parteien der Situation bewusst sind.

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In der gleichen Szene heuchelt Belfort Empathie mit den FBI-Agenten, Feuerwehrmännern und Lehrern, „people that built this country“ (01:37:17), die zu wenig verdienten, während die Wall Street Broker reich werden. Fast lässt Belfort durchklingen, dass das System unfair ist, um dann klarzustellen, dass er Menschen helfen will. Der Markt sei etwas von Amerikanern Geschaffenes und nun liege es an den Profiteuren, etwas zurückzugeben. Auch in einer anderen Szene rekurriert Belfort auf amerikanische Gründungsmythen. Zwei Mal wird die Mayflower erwähnt, mit der Absicht, den kapitalistischen Finanzmarkt als etwas Uramerikanisches zu markieren. In der Rede vor seinem geplanten Rücktritt unterstreicht Belfort diese Verbindung. Er bezeichnet den Kapitalismus als Unternehmensphilosophie für jedermann, der jedem, gleich welcher Herkunft, Gelegenheit bietet, reich zu werden und dadurch ein besseres Leben führen zu können. Im Unterschied zu vorangegangenen Ansprachen filmt die Kamera nicht von hinten und inszeniert die Mitarbeiter als Publikum, sondern zeigt Belfort aus deren Sicht. Belfort richtet sich zwar an seine Belegschaft, durch die Kameraführung wird aber auch das extradiegetische Kinopublikum direkt angesprochen. Durch die Fokussierung Belforts sind im Vordergrund unscharf Hinterköpfe zu sehen, welches die Aussage „Stratton Oakmont is America“ (02:12:23) visualisieren hilft. Die Erwähnung von Collateralized Debt Obligations (CDOs) in der Szene auf Belforts Boot ist eine explizit eingesetzte, ästhetische Andeutung des Regisseurs auf den damals aktuellen Diskurs zur Wirtschafts- und Finanzkrise. Im Zusammenhang mit der Subprime-Krise sind CDOs in die Diskussion geraten und stehen seither wegen ihrer Undurchschaubarkeit in der Kritik. Scorsese kann davon ausgehen, dass der interessierte Leser das gewisse Diskurskontext-Wissen mitbringt, um diese Anspielung zu verstehen. Eingegangen auf die Struktur der Finanzprodukte wird jedoch auch hier wieder nicht. Klar ist, dass der Film ein populärer Hollywood-Text ist, der auch Zuschauer erreichen will, die kaum Wissen über die Finanzwelt haben. Wie jedoch bereits gezeigt wurde, zeigt die Erzählung jedoch auch nicht die Absicht, solches Wissen zu schaffen. Mit der Nennung von CDOs wird außerdem darauf hingewiesen, dass die strukturierten Finanzprodukte keine Neuigkeit sind, die plötzlich, erst nach dem neuerlichen Börsencrash 2008, als verantwortungslos abzustempeln seien. Die Handlung des Films spielt in den neunziger Jahren; Belforts Äußerungen deuten an, dass CDOs bereits in dieser Zeitphase ein Problem darstellen. Der Staat, in der Szene personifiziert durch Denham, sieht allerdings keinen Grund zu intervenieren, da die hier untersuchten Gesetzeswidrigkeiten von Stratton Oakmont ausgehen. In derselben Sequenz listet Belfort die drei Investmentbanken Goldman Sachs, Lehman Brothers und Merrill Lynch auf. Diese seien seiner Aussage nach die eigentlichen Kriminellen. Die Anführung dieser Investmentunternehmen ist erneut als intertextueller Verweis auf die aktuelle Wirtschaftskrise zu sehen.

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­ corsese wählt auf paradigmatischer Ebene eben jene Banken aus, die im Fokus S der Subprime- und Finanzkrise 2008/2009 standen, bzw. im Fall von Lehman Brothers explizit diejenige, die Insolvenz hat anmelden müssen.

3.3.3 Die Erzeugung der Faszination Wall Street Eine der Hauptaussagen Belforts in The Wolf of Wall Street ist, dass Geld und Reichtum bessere Menschen aus uns macht. Die Anstellung bei Stratton Oakmont biete jeder Person die Gelegenheit sozial aufzusteigen. In einer Ansprache an seine Mitarbeiter vergleicht er sein Unternehmen mit Ellis Island, dem metonymischen Ankunftsort der Migranten in die USA. Die nach Belforts Worten schlechteren Menschen müssten bei McDonald’s arbeiten, wo sie weniger verdienen und dadurch unglücklich werden. Der Ausspruch „I want you to deal with your problems by becoming rich“ (01:29:24), den er seinen Angestellten zuruft, verdeutlicht den Stellenwert des Geldes in der von Belfort beschriebenen Gesellschaft. Dass es für eine Einstellung in einem großen Investmentunternehmen einer entsprechenden Qualifikation bedarf, oftmals verknüpft mit einem Abschluss an einer renommierten Hochschule, wird weder von Belfort erwähnt noch anderweitig filmisch veranschaulicht. Eine spezifische Faszination für den dargestellten Lifestyle ruft die Szene der Party in Belforts Strandhaus hervor. Die Darstellung erinnert an einen College-Film, in dem Chaos und Zügellosigkeit herrschen und die Protagonisten ihre Freiheiten auskosten. Ohne den filmischen Kontext würde die Sequenz wahrscheinlich keinem Film über die Finanzwelt direkt zugeschrieben werden. Einleitend wird die Villa am Strand in einer Luftaufnahme aus einem sich bewegenden Flugzeug gezeigt, um den kompletten Ort der Handlung vorzuführen. Rund um den Pool stehen viele Menschen, die tanzen und Alkohol trinken (vgl. Abb. 4).

Abb. 4   Screenshot „The Wolf of Wall Street“. (Universal Pictures)

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Die Vorstandsebene von Stratton Oakmont spielt im Obergeschoss des Gebäudes das Trinkspiel „Beer Pong“, was den Eindruck einer typischen College-Party unterstützt. Während der einleitenden Einstellung setzt Belforts Stimme ein. Er hält vom Balkon aus eine Ansprache an die Anwesenden, in der er ausruft, dass die Vorstandsebene zusammenkommt, um das Unternehmen „in die Stratosphäre“ zu führen. Die Luftaufnahme visualisiert diese metaphorische Beschreibung des Unternehmensplans, wirtschaftlich aufzusteigen. Musikalisch unterlegt ist die Szene mit Teilen des Liedes „Insane in the Brain“ von Cypress Hill. Die Musik ist nicht diegetisch, sondern für den Rezipienten eingespielt. Die tanzenden Gäste stehen jedoch indexikalisch für laute Musik auf der Party. Der Titel mit seinem Refrain „insane in the membrane – insane in the brain“ kann als extradiegetischer Kommentar der Situation interpretiert werden. Der Soundtrack übernimmt beschreibende Funktion (van Leeuwen 1999, S. 164). Eine versteckt bedeutende Funktion hat zudem das eindringliche Sample des Liedes. Es gibt ein wieherndes Pferd wieder, aus einem Lied von Mel & Tim mit dem sprechenden Titel „Good Guys Only Win in the Movies“. Scorsese spielt damit ironisch auf den Ausgang des Films an, wo Belfort als „Held“ der Geschichte wieder frei ist und in neuer Funktion Geld verdient. In der Tat treffen auf Belfort erstaunlich viele Rollenbilder zu, die eigentlich dem Helden eines Films zugeschrieben werden: „A character’s chances of being alive or free at the end of a popular […] film increase with the embodiment of the following values: masculinity, youth, attractiveness, anglo-Saxon characteristics, classlessness or middle-classness, a metropolitain background, and efficiency“ (Fiske 1994, S. 135). Belfort gehört zwar der Oberschicht an, ist aber als Sohn zweier Buchhalter ursprünglich ein Kind aus der Mittelschicht. Die gewählte Darstellung Belforts als Verkörperung dieser Eigenschaften ist möglicherweise so gewählt, um eine im Grundsatz populäre Figur zu schaffen, welche durch Überschreitung und Übertreibung zugleich polarisiert. Es ist nicht problemlos möglich, die Person bedingungslos zu denunzieren oder zu glorifizieren. Der Film scheint dem Lebensstil nicht wertend gegenüberzutreten. Die Handlungen werden nicht durch positive oder negative Markierungen ethisch beurteilt, sondern möglichst unkommentiert gelassen. Es ist am Zuschauer festzulegen, ob die Darstellungsweise des Drogenmissbrauchs verherrlicht wird. Auf der einen Seite wird der Konsum als amüsant und ohne bedeutende Konsequenzen dargestellt. Belfort verletzt sich selbst nie schwer, sondern verursacht nur materielle Schäden. Beispielsweise demoliert er im Vollrausch auf der Heimfahrt vom Country Club seinen Lamborghini oder zerstört mit seinem Helikopter den teuren

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Rasen. Die Belästigungen von Stewardessen und anderen Passagieren während eines Fluges erscheinen ebenso als Marginalien. Auf der anderen Seite schlägt er im Drogenrausch seine Frau Naomi, gefährdet seine Tochter und wird von seiner Frau letztlich verlassen. Durch die Darstellung der Partys und der gelebten Praktiken wird insgesamt eine Faszination aufgebaut, die sich zugleich durch ihren ausschweifenden Exzess selbst beschränkt. In jedem Fall scheint Exzess als effektiver Inhalt des Films die Notwendigkeit der Darstellung von Drogenkonsum zu bedingen. Wie Hanna in der Lunch-Szene erklärt, seien Drogen notwendig für das Geschäft an der Wall Street. Die beschriebene Party im Strandhaus dient nicht nur dem Vergnügen, sondern auch dem Geschäftlichen. Der Vorstand von Stratton Oakmont plant, für welches Unternehmen er ein IPO durchführen kann. Um kreativ arbeiten zu können, nehmen die Anwesenden so viele Drogen wie möglich. Die Idee, die sich als Geldsegen für Stratton Oakmont rausstellen wird, das Schuhdesigner-Unternehmen von Steve Madden an die Börse zu bringen, kommt Azoff in völliger Berauschtheit. Der geniale Einfall wird durch Quaaludes, ein als Droge genutztes, illegales Hypnotikum, hervorgerufen und bestätigt die unkonventionelle Methode des produktiven Drogenmissbrauchs. Eine grundsätzliche Faszination für das Gezeigte wird durch Anleihen aus der Popkultur bewirkt. Belfort weist beispielsweise darauf hin, dass sein Ferrari weiß war wie der von Don Johnson aus der Serie Miami Vice. Er nennt nicht den Figurennamen des Charakters, der dieses Auto in der Serie fuhr, sondern den des Schauspielers, um den Kultstatus der realen Person hervorzuheben. Andere Verweise sind der Vergleich des Börsengangs mit Charlies Besuch in der Schokoladenfabrik, der „Oompa Loompa-Tanz“ und das bereits genannte „Beer Pong“, das als Trinkspiel Gegenstand zahlreicher Komödien ist. Popkultur wird filmisch reflektiert, wodurch der Film selbst zum Popkulturereignis wird (Stiglegger 2012, S. 95). Es entsteht eine Faszination für Komponenten des Filminhalts durch deren Darstellung, die sodann durch das scheinbare Oberthema des Films mit der Finanzwelt, assoziiert werden. Im Film wird wenig gezeigt, wie die Arbeit an der Wall Street bzw. im Investmentsektor abläuft. Vielmehr wird filmisch herausgestellt, was mit dem Geld angestellt wird. Die Gestaltung der Möglichkeiten reicht dabei von gekauftem Sex bis zu kostspieligen Heiraten. Sprachlich vulgäre Ausdrucksweise wie „we had, literally, a fuckload of money“ (01:50:52) wird in diesem Zusammenhang visuell veranschaulicht und erzeugt so einen imposanten Eindruck des Übermaßes.

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Die Darstellung des Exzesses bricht während des Films nicht ab. Es gibt keine finale Wendung, die alles umstößt. Selbst der Untergang ereignet sich im Rausch. Als sich abzeichnet, dass die Schifffahrt nach Monaco missglückt und die Yacht sinken wird, nehmen Belfort und Azoff wieder Drogen, um nicht bei klarem Verstand sterben zu müssen. Die Yacht wird von einer großen Welle erfasst und kippt auf die Seite. Synchron zum Einnehmen der Drogen bricht das Unglück jedoch ab. Die italienische Küstenwache rettet die Besatzung und alle Beteiligten amüsieren sich mit Essen und Wein im Rettungshubschrauber. Mit dem Aufschlag der Welle auf die Fenster werden auf der auditiven Ebene der Notruf und die aufgeregten Schreie der Schiffsinsassen abgeblendet und durch ein beschwingtes Lied ersetzt. Es ergibt sich eine ironische Wahrnehmung mit der schiffsbrüchigen Yacht und dem Chaos der Schiffsrettung bei gleichzeitiger euphorischer Musik. Das Lied geht über in die nächste Sequenz, in der die Geretteten zusammen mit den Rettungskräften tanzend im Helikopter zu sehen sind. Die Soundspur dient als textuelle Metafunktion und indiziert die kohärente Gestaltung der Story, dass dem Protagonisten nichts zustößt. Als Belfort sich schließlich doch vor Gericht verantworten muss, fällt die Richterin ein mildes Urteil. Er muss eine Fußfessel tragen und hat die Chance auf Freiheit durch einen Kronzeugenprozess. Die zehn Millionen Dollar Kaution bedeuten für ihn kein finanzielles Problem, was er in leicht überraschter Gestik vor der Richterin ausdrückt. Seine Reaktion kommt der des Rezipienten zuvor. Erst als Belfort den Kronzeugendeal vermasselt, später aber dennoch alle seine Kollegen verrät, muss er ins Gefängnis. Das Strafmaß von 36 Monaten im Bundesgefängnis kommentiert er mit: „That’s ok“ (02:46:39). In der nächsten Sequenz wird der Wirtschaftsteil einer Zeitung gezeigt. Die Kamera imitiert den Blick Denhams, der die Zeitung in der U-Bahn liest. Der Aufmacher auf der Seite ist die Verurteilung Belforts. Zusätzlich sind die Überschriften zwei weiterer Artikel stückweise zu lesen: „Stocks Rally“ und „Small Business Loans Up“. Sie zeigen, dass trotz der Verhaftung Belforts und Schließung Stratton Oakmonts die Geschäfte auf den Finanzmärkten weiterlaufen und sich positiv entwickeln. Die Tageszeitung steht exemplarisch für die aktuellen, wichtigen Nachrichten und der Ort der U-Bahn für die Routine des Arbeitsweges. Die Sequenz und der Zeitungsausschnitt verdeutlichen diesen Übergang zum Tagesgeschäft; es hat sich nicht viel verändert, nur einzelne Personen spielen nicht mehr mit. Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Erzeugung der Faszination für die Wall Street liegt in der ontologischen Natur des Films. Der fiktionale Charakter Belfort wird dargestellt von dem beliebten Schauspieler Leonardo DiCaprio. Belforts diegetisches Handeln wird assoziiert mit der realen Person DiCaprio, die ein gefeierter Star ist. Wenn in dem Film Finanzprodukte thematisiert werden, dann

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ist dies Ausdruck der Auseinandersetzung des Stars mit eben diesem Thema. So gut er die Figur Jordan Belfort spielt, bleibt er unweigerlich die Figur Leonardo DiCaprio (Monaco 2006, S. 263 f.). In dem Film wird selbst auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht, indem Belfort Don Johnson und nicht Sonny Crockett als den Besitzer des weißen Ferraris nennt und so seine eigene intertextuelle Bewunderung reflektiert.

4 Schlussbetrachtung „Wohlig erschauert der neoliberale Mensch gelegentlich vor seinem Spiegelbild: Was bin ich doch für eine Sau. Was für eine coole Sau.“ (Metz und Seeßlen 2018, S. 9)

Die hier vorgenommene Analyse zeigt zunächst in verdichteter Form, wie die Verbindung von Filmanalyse und verschiedener Elemente von Semiotik und Diskursanalyse Möglichkeiten zur Interpretation und der Rekonstruktion der Bedeutungserzeugung von Filmen eröffnet. Filme sind Teil einer bestimmten Epoche in einer kulturellen Umgebung und behandeln auch deren relevante Angelegenheiten. The Wolf of Wall Street spielt inhaltlich und zeitlich zwanzig Jahre vor seiner Produktion, und in beiden Zeiten sind Fragen sowohl nach dem Prozessieren als auch der Regulation der Finanzmärkte virulent. Die filmische Darstellung der Akteure und ihrer Praktiken erlaubt einen Einblick in die Auseinandersetzung unserer Gesellschaft mit dem Thema Finanzwelt und deren ästhetischer Vermittlung. Film besitzt nach wie vor erhebliche Bedeutung als Ausdruck und Medium der Selbstverständigung der Gesellschaft: „Weil er ein derart öffentliches Medium ist, handelt er – ob beabsichtigt oder nicht – von unserem Zusammenleben“ (Monaco 2006, S. 285) und bietet spezifische Möglichkeiten für den Ausdruck ästhetischer Ideen und Empfindungen (Monaco 2006, S. 285). Filme sind somit „bedeutsam für die kollektive Wissensproduktion, insbesondere wenn der reale Bezug zu einem eher abstrakten nicht sichtbaren oder alltäglichen Gegenstand hergestellt wird“ (Weber 2013, S. 268). Der Finanzmarkt als ästhetisches Phänomen und gesellschaftliches Konstrukt ist ein solch abstrakter Gegenstand. Dabei hat notwendig auch das Nicht-Gesagte, das nur Angedeutete und das Nicht-Zeigen von Aktivitäten, wie beispielsweise die Auswertung von Unternehmensdaten vor Durchführung eines IPOs, Anteil an dieser Art kollektiver Wissensproduktion. Im Film The Wolf of Wall Street wird dies etwa deutlich, insofern oftmals nur die sozialen Reaktionen auf die ökonomischen Prozesse gezeigt werden. Die Vorgehensweise verdankt sich zwar auch durch das Genre des Films als

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unterhaltender Hollywood-Blockbuster. Das Verbergen von wirtschaftstypischen Geschäften meint jedoch nicht nur, dass Finanzangelegenheiten dem Rezipienten nicht nur nicht zugemutet werden. Die Geheimhaltung hat darüber hinaus genuinen Anteil an der Faszinationserzeugung. Das Gesamtbild des Exzesses verlagert zugleich die Bedeutungsgenerierung in Richtung eines Bildes der Ökonomie als Ort der Transgression und der Ausschweifung jenseits des (vermuteten) mehr oder weniger einförmigen (Arbeits-)alltags der Rezipienten. Folgt man dieser Lesart, liefert der Film The Wolf of Wall Street, wenngleich auch entgegen den Absichten des Regisseurs oder der Darsteller, nur bedingt eine Folie zur kritischen Reflexion der Finanzmärkte und ihrer Praktiken und wohl auch kaum eine „kritisch-selbstreflexive Öffnung für andere Weisen der Weltwahrnehmung“ (Reckwitz 2015, S. 29). Vielmehr scheint dieser letztlich in eine Affirmation der Finanzmärkte einzumünden. Denkbar ist dabei erstens, dass der Film den Zuschauer oder die Zuschauerin vielleicht kopfschüttelnd, aber am Ende in einem zwischen Erheiterung, Faszination und Resignation schwankenden Staunen ob des Gebarens der dargestellten Akteure zurücklässt. Im Sinne des Kopfschüttelns bindet eine solche Ästhetik die Kinobesucher damit auch wieder zurück an den eigenen Alltag und dessen Normalität, welche nun etwas ungemein Beruhigendes ausstrahlt, höchstens getrübt von einer Ahnung kommender Krisen, vermeintlich verursacht von insgeheim bewunderten Akteuren wie jene schillernde Gestalt Jordan Belfort. Denkbar ist jedoch zweitens, dass der oder die Betrachterin schon über dieses Kopfschütteln hinweg ist und der Film Ausdruck dessen ist, was Metz und Seeßlen (2018) als „kapitalistischen Surrealismus“ bezeichnen. Im „kapitalistischen Surrealismus“ ist der Glaube an die Rationalität des Systems (bei all seinen ‚Fehlern‘) oder dessen moralische Legitimität verschwunden. In popkultureller Hinsicht sind die Schurken nicht mehr jene vom Typ des Superkapitalisten Goldfinger in James Bond, sondern jene vom Typ eines Gordon Gekko oder Jordan Belfort (Metz und Seeßlen 2018, S. 82). Nicht Imperien sollen errichtet werden. Vielmehr dominiert die Lust am Spiel, an Chaos und Destruktion. Insofern The Wolf of Wall Street unterstellt, dass es hier eh nichts mehr zu begreifen gibt (gleichwohl aber etwas zu holen ist) und mehr als nur einmal den Zuschauer zum Komplizen und Teil der Party macht, suggeriert der Film, im Unterschied etwa zur Melodramatik von Wall Street, dass wir alle in dieser Hinsicht längst ob der Irrationalität des Systems Bescheid wissen. Mehr noch, wir feiern diese eher, als dass wir sie kritisieren, gerade weil wir dessen Verlogenheit schon längst durchschaut haben. Charlie Chaplin in Modern Times ist dann jener hoffnungslose Romantiker, der die Lage nicht begriffen hat, sich wieder auf die Landstraße begibt und glaubt, irgendwo da draußen einen besseren Ort zu finden. Damit, so scheint es, ist es nun vorbei, und somit tritt auch die popkulturelle Kritik, zumindest in der hier analysierten Form, in ein neues Endspiel ein.

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Ästhetische Arbeit: Erkundungen am Beispiel eines Kinobetriebs Irma Rybnikova und Markus Kleiszmantatis

1 Einleitung Das Konzept der ästhetischen Arbeit (Witz et al. 2003; Warhurst et al. 2000; Tyler und Taylor 1998) gehört zu den neueren Ansätzen, die in Zusammenhang mit der ästhetischen Perspektive auf Organisationen entwickelt wurden. In Anlehnung an die Arbeiten von Gagliardi (1996) und Strati (1996) wird vorgeschlagen, Arbeitsverhältnisse nicht nur aus einer funktionalen Sicht zu betrachten, sondern auch aus dem Blickwinkel der Ästhetik (Witz et al. 2003, S. 44). Die in diesem Feld forschenden Autorinnen und Autoren teilen die Annahme, dass ästhetische Aspekte eine weitere, genuine Dimension der Arbeit neben den technischen und sozialen Facetten darstellen und einer speziellen Berücksichtigung bedürfen. Insbesondere der Dienstleistungssektor wird als jener angesehen, in dem ästhetische Arbeit besonders stark zum Tragen kommt, weil hier den ästhetischen Merkmalen, wie z. B. dem Auftreten, dem Aussehen oder dem Umgang der Beschäftigten mit den Kundinnen und Kunden ein weitaus größerer Stellenwert zugesprochen wird als den technischen Fähigkeiten (Warhurst et al. 2000, S. 2). Ästhetische Arbeit wird in der Forschungsliteratur als ein im Wesentlichen von den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern gesteuerter Prozess der Ästhetisierung von Arbeits- und Dienstleistungsvollzügen verstanden. Arbeitsbezogene Ästhetisierung hat zum Ziel, den kommerziellen Erfolg dadurch zu steigern, I. Rybnikova (*)  Hochschule Hamm-Lippstadt, Hamm, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Kleiszmantatis  TU Chemnitz, Chemnitz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_8

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dass Beschäftigten jene ästhetischen Fähigkeiten und Verhaltensweisen abverlangt werden, die einen sinnesorientierten Dienstleistungsstil hervorzubringen erlauben. So sollen ästhetisch Arbeitende nicht nur einen gefälligen Service bieten, sondern auch die visuellen und die akustischen Sinne der Kundinnen und Kunden ansprechen (Witz et al. 2003, S. 34–35; Warhurst et al. 2000, S. 4), um die Charakteristika der Dienstleistung oder der Marke zu unterstreichen. Auf welche Art sich jedoch dieser Kommodifizierungsprozess des Ästhetischen in Arbeitskontexten vollzieht, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Auf der einen Seite lässt sich eine Position ausmachen, am stärksten vertreten durch die Arbeiten von Tyler und Taylor (1998) sowie von Hancock und Tyler (2000), welche ästhetische Arbeit jenseits des Arbeitsvertrags verortet und ihr den Status einer vom Management überwiegend implizit gesteuerten Arbeitskomponente zuspricht. Ästhetische Arbeit wird vom Management mehr oder weniger stillschweigend erwartet und gut geheißen, aber nicht als Arbeit angesehen, weil sie als quasi natürlich vorliegende körperlich-biologische Ressource aufgefasst wird, auf die die Beschäftigten zwecks Leistungserbringung zurückgreifen können und sollen (Hancock und Tyler 2000, S. 120; Tyler und Taylor 1998, S. 166). Im Unterschied dazu wird in den Studien von Warhurst et al. (2000; Warhurst und Nickson 2001; Witz et al. 2003) die Position vertreten, dass das Management explizite Vorschriften über den anzustrebenden ästhetischen Stil der Leistungserbringung und den instrumentellen Einsatz ästhetischer Dispositionen für Dienstleistungen macht. Die Vorschriften schlagen sich in den Praktiken des Personalmanagements nieder, vor allem bei der Gewinnung, Auswahl und Einarbeitung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (Warhurst et al. 2000; Witz et al. 2003; Warhurst et al. 2009). Indem der Fokus der bisherigen Forschung auf Managementstrategien lag, kam die Betrachtung der spezifischen Organisationskontexte zu kurz. Im vorliegenden Beitrag möchten wir die Diskussion um ästhetische Arbeit vor dem Hintergrund eines Organisationskontextes fortsetzen, der durch Events geprägt ist. Wir verknüpfen die Debatte um ästhetische Arbeit mit derjenigen zur Eventisierung in Organisationen und ziehen eine autoethnografische Fallstudie über einen Kinobetrieb heran, um die folgenden Fragen zu untersuchen: 1) Wie konstituieren Events ästhetische Arbeit für Beschäftigte? 2) Welche Elemente der direkten und der indirekten Managementsteuerung lassen sich im Fall von eventbezogenem ästhetischen Arbeiten feststellen? 3) Mit welchen Anforderungen und Folgen geht dies für Beschäftigte einher? Unseren Beitrag beginnen wir mit einer Übersicht über die relevanten Theoriekonzepte zu ästhetischer Arbeit und Eventisierung in Organisationen. Anschließend erläutern wir unsere Vorgehensweise bei der Gewinnung der empirischen

Ästhetische Arbeit: Erkundungen am Beispiel eines Kinobetriebs

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Daten und stellen die Ergebnisse der Studie dar, um sie dann in die konzeptionelle Diskussion einzubetten.

2 Ästhetische Arbeit: Grundzüge bisheriger Konzeptionen 2.1 Emotionale Arbeit als Vorläuferkonzept Ästhetische Arbeit schließt nach der Konzeption von Witz et al. (2003) an Emotionsarbeit an. Hochschild (2006) prägte das Konzept der Emotionsarbeit maßgeblich mit ihrer Studie über Angestellte einer Fluggesellschaft. In der Emotionsarbeit manipulieren die Beschäftigten vor allem im Dienstleistungssektor am Arbeitsplatz ihre Gefühle, indem sie eine bestimmte Emotion unterdrücken oder hervorrufen. Dabei gilt es für die Beschäftigten, den Kundinnen und Kunden gegenüber stets ein zustimmendes und freundliches Verhalten zu zeigen, um ihre Zufriedenheit zu steigern. Dieses Verhalten wird vom Management implizit oder explizit erwartet, in einigen Organisationen auch trainiert (Hochschild 2006, S. 100 ff.). Unterschieden wird bei der Emotionsarbeit zwischen einem Oberflächenhandeln, bei dem ein Gefühl nur vorgetäuscht wird, und einem Tiefenhandeln, bei dem man sich ein Gefühl vorstellt, bis man es zu empfinden meint (Hochschild 2006, S. 53–59). Das Konzept der Emotionsarbeit erweitert die physische und geistige Dimension von Arbeit und legt sein Augenmerk auf das Management von Emotionen in den Interaktionen zwischen den Beschäftigten und Kundinnen und Kunden. Witz et al. (2003, S. 49–50) merken kritisch die Unzulänglichkeit des Konzeptes der Emotionsarbeit an: Es stelle ausschließlich Emotionen in den Vordergrund der Betrachtung, anderweitige Facetten der Körperlichkeit, die in Verbindung mit den Kundeninteraktionen zutage treten, wie das Visuelle, das Auditive, das Taktile oder das Olfaktorische, blieben dagegen weitgehend unberücksichtigt. Im Unterschied dazu ermögliche das Konzept der ästhetischen Arbeit die Betrachtung dieser Aspekte (Witz et al. 2003, S. 36).

2.2 Ästhetische Arbeit Die Ansätze der ästhetischen Arbeit sind als Teil der konzeptionellen Bemühungen in der Organisationsforschung anzusehen, Konzepte der Ästhetik und der Organisation enger zu verzahnen. Diese gehen insb. auf die Arbeiten

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von Gagliardi (1996) und Strati (1992, 1996, 1999) zurück, deren Ästhetik-Perspektive auf ein besseres Verständnis von Organisationen, fernab rationaler und strukturbezogener Ansätze der traditionellen Organisationstheorie, zielt. Die Anwendung der Ästhetik-Perspektive auf den Arbeitskontext soll die Möglichkeit bieten, Arbeit aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und damit auch das Verständnis von Arbeit zu erweitern (Witz et al. 2003, S. 43 ff.). In der bisherigen Forschung finden sich unterschiedliche Auffassungen von ästhetischer Arbeit. Auf der einen Seite bietet Böhme (2016) in seinen Ausführungen zum ästhetischen Kapitalismus eine auf das Ergebnis ausgerichtete Perspektive auf die ästhetische Arbeit. Böhme fasst unter ästhetischer Arbeit all jene Tätigkeiten, „die darauf abzielen, Dingen und Menschen, Städten und Landschaften ein Aussehen zu geben, ihnen eine Ausstrahlung zu verleihen, sie mit einer Atmosphäre zu versehen oder in Ensembles eine Atmosphäre zu erzeugen“ (Böhme 2016, S. 26). Dabei handele es sich im Wesentlichen darum, „den Dingen, Menschen und Ensembles jenes ‚Mehr‘ [zu] verleihen, das über ihre Vorhandenheit und Zuhandenheit, das über ihre Dinglichkeit und Zweckdienlichkeit hinausgeht“ (Böhme 2016, S. 27). Obwohl er einige Berufe exemplarisch erwähnt, in denen ästhetische Arbeit vollbracht wird, wie ‚Künstler‘, ‚Designer‘, ‚Bühnenbildner‘ oder ‚Musikproduzenten‘ (S. 27), geht Böhme auf den Arbeitskontext nicht näher ein. Auf der anderen Seite wurde in den oben bereits erwähnten Arbeiten von Warhurst, Nickson und Witz ein weiteres, insbesondere im angelsächsischen Raum prominent gewordenes Konzept der ästhetischen Arbeit entwickelt, in das Vorüberlegungen aus einigen früheren Arbeiten, wie z. B. Tylor und Taylor (1998), eingeflossen sind. Im Unterschied zu Böhme verorten diese Autorinnen und Autoren ästhetische Arbeit dezidiert im Beschäftigungskontext und fassen sie als eine bislang vernachlässigte Dimension der Arbeitsbeziehung auf. Ausgangspunkt des Ansatzes von Warhurst et al. (2000) ist die Annahme, dass in bestimmten Dienstleistungsberufen nicht nur technische und soziale Fähigkeiten der Mitarbeiter eine Rolle spielen, sondern auch ästhetische Merkmale und Fähigkeiten. Besonders bei design- und imageorientierten Dienstleistungsorganisationen sei erkennbar, wie sie ihre Angestellten „schminken“, um einen besonderen Stil einer Dienstleistung zu erzeugen (Witz et al. 2003, S. 34). Die ästhetischen Facetten der Arbeit, wie Aussehen, Klang der Stimme, Gestik von Beschäftigten, treten allen voran bei der Interaktion mit den Kundinnen und Kunden zutage; sie sind für die Kundengewinnung wie deren Bindung gleichermaßen wichtig. Bewerberinnen und Bewerber werden nach den erwünschten ästhetischen Kriterien ausgesucht, eingestellt, entwickelt und gewinnorientiert eingesetzt. Auf diese Weise werden individuelle körperliche Dispositionen von Beschäftigten, die sie

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im Zuge ihrer Primärsozialisation erworben haben, zu arbeitsrelevanten Fähigkeiten und Fertigkeiten umgeformt und kommerziell für eine höhere Kundenzufriedenheit, Etablierung distinkter Dienstleistungsmerkmale oder –stile und schlussendlich zur Steigerung der Profitabilität genutzt (Warhurst und Nickson 2007, S. 107; Warhurst et al. 2000, S. 3; Witz et al. 2003, S. 40–41). Ästhetische Arbeit wird häufig mit der populären, wenn auch stark verkürzenden, Formel „looking good and sounding right“ (Nickson et al. 2003, S. 104) beschrieben. Während die ersten Forschungsarbeiten die prominente Bedeutung der ästhetischen Dimension in den Luxussegmenten der Dienstleistungsbranche, seien es Luxusboutiquen oder Flugbegleiterinnen und –begleiter der ersten Klasse, thematisierten, wird mittlerweile davon ausgegangen, dass ästhetische Arbeit in nahezu allen Organisationen der Dienstleistungsbranche erbracht wird (Warhurst et al. 2000, S. 9; Williams und Connell 2010, S. 353). Bei den Anforderungen an die ästhetische Erscheinung der Beschäftigten wird auch von „Lookism“ (Warhurst und Nickson 2007, S. 104) gesprochen – eine Perspektive, die die Möglichkeit der Diskriminierung aufgrund des Erscheinungsbildes, der Stimmlage, des Akzents oder anderer ästhetischer Aspekte unter den Beschäftigten oder Arbeitswilligen in Betracht zieht (Warhurst et al. 2009). Das Management im Sinne einer arbeitgeberinitiierten Steuerung der ästhetischen Arbeitsaspekte spielt in allen bisherigen Konzeptionen eine wichtige Rolle. Die Auffassungen darüber, wie sich die manageriale Steuerung der ästhetischen Arbeit im Arbeitsalltag vollzieht und wie die ästhetischen Aspekte in den Arbeitsvollzug inkorporiert werden, unterscheiden sich in den vorliegenden Arbeiten. Warhurst, Nickson und Witz nehmen eine fordernde und explizite Steuerung durch das Management im Zuge der ästhetischen Arbeit an. In den anderen Arbeiten wird die Position vertreten, dass das Management zur ästhetischen Arbeit eher indirekt auffordert, indem es das gewünschte Erscheinungsbild den Beschäftigten gegenüber eher allgemein, mit Verweis auf tradierte, implizite Normen kommuniziert. Diese managerialen Steuerungsmodi der ästhetischen Arbeit sind keinesfalls überschneidungsfrei. Dennoch werden wir sie im Nachfolgenden getrennt diskutieren, um die jeweilige Position gezielter herauszustellen zu können. Explizite Steuerung der ästhetischen Arbeit Die Vorstellung einer expliziten Steuerung durch das Management ist bereits in der Definition der ästhetischen Arbeit von Warhurst und anderen eingelassen: „We define ‚aesthetic labour‘ as a supply of ‚embodied capacities and attributes‘ possessed by the workers at the point of entry into employment. Employers then mobilise, develop and commodify these capacities through processes of recruitment,

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selection and training, transforming them into,competencies’ or,skills’ which are then aesthetically geared towards producing a,style’ of service encounter.“ (Warhurst et al. 2000, S. 4)

Der Fokus der auf dieser Definition beruhenden empirischen Untersuchungen liegt vor allem darauf, wie die ästhetischen Kriterien sich in der Personalarbeit und in den Instrumenten des Personalmanagements von Unternehmen widerspiegeln. Ästhetische Anforderungen werden aus Sicht der Forscherinnen und Forscher vor allem bei der Stellenausschreibung und Personalauswahl sichtbar. So wird in den Arbeiten thematisiert, wie zum Beispiel die Stellenanzeigen aus der Dienstleistungsbranche regelmäßig einige Schlüsselbegriffe enthalten, wie „jung“, „smart“, „geschickt“ oder „redegewandt“ (Warhurst et al. 2000, S. 11). Die Autorinnen und Autoren schlussfolgern, dass die ästhetischen Kriterien in der Personalgewinnung und -auswahl eine prominente Rolle einnehmen, sodass die Bewerberinnen und Bewerber nach bestimmten expliziten ästhetischen, eine erwünschte visuelle oder auditive Wirkung vermittelnden Einstellungskriterien gesucht werden - Beispiele dafür sind das Auftreten und die Erscheinung der Kandidatinnen oder Kandidaten, Alter, Kleidungsstil, Größe und Form des Körpers sowie Sprache oder Stimme. (Warhurst et al. 2000, S. 7). In Trainings für Beschäftigte werden solche ästhetischen Charakteristika gezielt weiterentwickelt, indem die Kleiderordnung bekannt gemacht sowie die gewünschten und vorgeschriebenen Umgangsformen in der Kundeninteraktion unterrichtet werden (Witz et al. 2003; Warhurst und Nickson 2007, S. 105). So sei in Trainings zum Telefonbanking zu erlernen, dass die Kundin oder der Kunde am anderen Ende der Leitung das Lächeln im Klang der Stimme des Mitarbeiters hören und sich damit das freundliche Gesicht der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters vorstellen können müsse (Warhurst et al. 2000, S. 12). Manche Hotels, die großen Wert auf einen besonderen Stil legen, beauftragen externe Firmen mit Trainings, in denen das Erscheinungsbild der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zielgerecht hergestellt wird: Den Trainingsteilnehmerinnen und -teilnehmern werden die Haare nach den Vorgaben des Unternehmens frisiert und sie werden auf „angemessene Weise“ (Warhurst et al. 2000, S. 12) geschminkt. Der Grad der Explizitheit und die Stärke der Anforderungen an die Ästhetik variieren in Organisationen. Witz, Warhurst und Nickson konzentrieren sich in ihren Studien auf Fälle mit exzessiver Steuerung ästhetischer Arbeit. Sie berichten beispielsweise von einer Organisation, in der Arbeitsabläufe bis ins kleinste Detail inszeniert werden: „[S]hop assistants are told where to stand, at what angle to the door, how to approach customers and what to say“ (2003, S. 38). Das Management kontrolliert nicht nur regelmäßig, ob die vermittelten

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Vorschriften zum Aussehen und zur Umgangsweise mit den Kundinnen und Kunden von den Beschäftigten auch eingehalten werden. Jede Änderung des Aussehens, z. B. eine neue Frisur, muss darüber hinaus mit der oder dem Vorgesetzten im Vorfeld abgestimmt werden (Witz et al. 2003, S. 38). Nach der abgeschlossenen Einarbeitung sind die Beschäftigten ein lebendiger Teil des Bühnenbildes einer Organisation (Warhurst et al. 2000, S. 14). Dienstleistung und Kundeninteraktion gleichen dann einer Inszenierung durch das Management; es könnte von einer schauspielerischen Aufführung durch die Beschäftigten gesprochen werden. Die Beschäftigten werden mithilfe beachtlicher Managementbemühungen in permanente Aushängeschilder verwandelt, sie bilden damit das physische Kapital einer Organisation, um der Dienstleistung eine eigene Distinktion und Identität zu verleihen. Implizite Steuerung der ästhetischen Arbeit Im zweiten Strang der Forschungsliteratur (Tyler und Taylor 1998; Hancock und Tyler 2000) wird ästhetische Arbeit als weniger explizit gesteuert angesehen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Erwartungen an ästhetische Arbeit durch das Management allenfalls andeutungsweise kommuniziert werden. Das schließt zwar explizite ästhetisch orientierte Anweisungen an Beschäftigte nicht aus, es wird allerdings Bezug auf implizites Wissen von Beschäftigten genommen: Die ästhetischen Arbeitskomponenten und Fähigkeiten werden weitestgehend als eine Selbstverständlichkeit angesehen und stillschweigend von den Beschäftigten vorausgesetzt. Die meisten Beispiele für eine implizite Steuerung ästhetischer Arbeit finden sich in den Studien über Dienstleistungsbereiche, in denen die Kundenarbeit von Frauen erbracht wird. Die ästhetische Arbeit beinhaltet in diesem Fall oft eine offensichtliche Gender-Komponente. So wird bei Tyler und Taylor (1998), die das Beispiel der Flugbegleiterinnen anführen, hervorgehoben, dass die ästhetische Arbeit in diesem Fall eine Reihe von Körpertechniken erfordert, um eine feminine Wirkung auf die Kundinnen und Kunden zu erzeugen. Den angehenden Flugbegleiterinnen wurde erläutert, dass sie ihre „Hüften, Hände, Arme und Stimme“ (Tyler und Taylor 1998, S. 168) nutzen sollten. Trainings oder Anweisungen darüber, wie die Körpersprache auf feminine Weise einzusetzen ist, wurden allerdings keine unterbreitet (Tyler und Taylor 1998, S. 167). Stattdessen geht das Management stillschweigend davon aus, dass die für die erwünschte ästhetische Arbeit erforderlichen Fähigkeiten, wie jene, den Körper auf feminine und ästhetisch ansprechende Art zu präsentieren (Tyler und Taylor 1998, S. 168), selbstverständlich vorhanden sind, weil sie der sogenannten Natur einer Frau entsprächen bzw. weil es der sogenannte gesunde Menschenverstand gebiete.

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Auch wenn Tyler und Taylor (1998) ihren Fokus ausschließlich auf die sogenannte Frauenarbeit richten, ist der Kern der impliziten Steuerung der ästhetischen Arbeit das durch das Management angenommene Vorhandensein von Dispositionen und Fähigkeiten der Beschäftigten, die nun kommerziell genutzt werden können. Auf diese Weise erübrigt sich eine explizite Steuerung in Form von ausführlichen Anweisungen, Trainings u. a. Das Management erwartet vielmehr, dass die Beschäftigten von sich aus ihre Dispositionen und ihre habituellen Fähigkeiten in der ästhetischen Arbeit zum Ausdruck bringen (Williams und Connell 2010, S. 352). Damit werden einige Bezüge zwischen der informellen Steuerung der ästhetischen Arbeit und der „indirekten Steuerung“ (Sauer 2013, S. 11) deutlich, die in der Debatte um die Arbeitssubjektivierung eine wichtige Rolle spielt. Mit indirekter Steuerung ist gemeint, dass das Management sich aus der Leistungsregulierung zunehmend zurückzieht und den Einsatz der Arbeitskraft den Beschäftigten in Form der Selbststeuerung überlässt (Sauer 2005, S. 7). Die indirekte Steuerung gilt hier als Folge eines veränderten Rationalitätsmodus, der sich im Zuge der Marktorientierung, Digitalisierung, Globalisierung und Flexibilisierung von Organisationen herausbildet und den Organisationsmitgliedern, allen voran den Beschäftigten, einen unternehmerischen Einsatz ihrer subjektiven Ressourcen abverlangt (Nies und Sauer 2012, S. 44). Die subjektiven Kompetenzen von Beschäftigten werden dabei als Leistungs- und Flexibilitätsressource von Unternehmen mit dem Ergebnis erschlossen, dass die Individuen zur Mobilisierung und „Inbetriebnahme“ (Sauer 2013, S. 16) ihrer Individualität für Verwertungszwecke angehalten werden (Nies und Sauer 2012, S. 44). Dabei kann bei der indirekten Steuerung am Arbeitsplatz „nicht nur auf explizite, sondern auch auf implizite Anweisungen sowie auf die Androhung von Sanktionen verzichte[t werden]“ (Sauer 2013, S. 24).

3 Eventisierung von Organisationen und ästhetische Arbeit Der „Trend zum Event“ gehört inzwischen zu den populärsten Diagnosen der Gegenwartsgesellschaft (Kemper 2001; Betz et al. 2011; Hitzler 2011, 2015). Die Eventisierungsdiagnose fokussiert auf eine zunehmende Bedeutung der Aufmerksamkeit als begehrtes Gut und wichtige Ressource, die durch lustvolle, erlebnisreiche Angebote evoziert wird. Verwiesen wird dabei häufig auch auf Arbeiten über die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck 1998; Baumann

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1995) und „Erlebnisrationalität“ (Schulze 1993). Events stellen einen Rahmen dar, in dem außergewöhnliche, einzigartige Erlebnisangebote unterbreitet w ­ erden können. Eventisierung ist nach Hitzler als eine gesellschaftliche Entwicklung zu verstehen, die sich in einer zunehmenden Verselbstständigung der Erlebniskomponenten in verschiedenen Bereichen des Sozialen äußert (2011, S. 20). Die Events als erlebnisgeeignetes und –evozierendes Format verbreiten sich als eine Ergänzung zu den herkömmlichen Unterhaltungsmöglichkeiten. Zugleich avancieren Events zu einer speziellen Organisationsform, die über die herkömmlichen Organisationsmodelle hinausgeht und einer professionellen Konzeption und Umsetzung bedarf. Für Organisationen stellt die Eventisierung zunehmend ein wichtiges Strategieelement dar, weil Events als ein mehr oder weniger neues Betätigungsfeld erschlossen werden, welches wirtschaftsstrategisch als Ergänzung der bestehenden Geschäftsbereiche oder gar als deren Ersatz genutzt werden kann. In der Literatur werden Events durch eine Reihe von Hauptmerkmalen beschrieben. Zunächst wird das Besondere und das Ereignishafte in Verbindung mit einem stark affizierenden Charakter unterstrichen. So definiert Hitzler Events als „aus dem Alltag herausgehobene, raum-zeitlich verdichtete, performativ-interaktive Ereignisse mit hoher Anziehungskraft für relativ viele Menschen“ (2011, S. 13). Mit dem Verweis darauf, dass Events keine spontanen, sondern intentional organisierte und hergestellte Erlebnisformate darstellen, wird des Weiteren die teilhabende Hervorbringung von Events hervorgehoben. Im Unterschied zu herkömmlichen Produktionsmodellen beruhen Events auf einer Ko-Produktion zwischen den Organisatorinnen und Organisatoren auf der einen und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern von Events auf der anderen Seite. Durch ihre Interaktionen und mitunter kathartischen Erlebnisse im Kollektiv partizipieren die Teilnehmenden an der Durchführung der Events maßgeblich. Mehr noch: Ohne eine affektive Teilhabe der Eventbesucherinnen und -besucher würden diese Veranstaltungen ihren genuinen Kern verlieren. Diese Interdependenzstruktur zwischen dem Produzieren und dem Konsumieren betitelt Hitzler als eine „Dialektik des Miteinander-Machens aller Beteiligten“ (2011, S. 16). Die bisherige Forschungsliteratur nähert sich der Eventisierung aus der Perspektive der beiden Gruppen der Beteiligten, der Konsumentinnen und Konsumenten sowie der Organisatorinnen und Organisatoren (im Sinne des Managements) von Events. Die erste Gruppe wird vor allem in Hinblick auf die sich konstituierenden Gemeinschaften analysiert. In Erwartung und im Vollzug einer kollektiven Erregung, Spaß, Ekstase, gar eines Rausches, konstituiert

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sich eine neue, posttraditionale Form der Gemeinschaft unter den eventgebunden Gleichgesinnten (Hitzler 2011, S. 13). Teil des affizierten Kollektivs zu sein, gilt als Garantie eines besonderen Erlebnisses. Solche Event-Gemeinschaften bleiben situativ und hochgradig labil, gehen sie für die Einzelne und den Einzelnen doch nur mit minimalen Verpflichtungen einher, bieten aber zugleich zahlreiche Selbstverwirklichungschancen (Hitzler 2015, S. 252). In Zusammenhang mit der Gemeinschaftskonstitution unter den Konsumentinnen und Konsumenten rückt auch die ästhetische Dimension von Events in den Vordergrund. Der körperlichen Inszenierung, dem Kleidungsstil und der Körperhaltung der Beteiligten wird Signalcharakter zugesprochen, die Interessenähnlichkeit auszudrücken und das Gemeinschaftliche zu konstituieren (Hitzler et al. 2013, S. 145). In Bezug auf die Produzierenden von Events, also die Veranstaltungsorganisatorinnen und –organisatoren, wird erstens darauf hingewiesen, dass die Spaß- und Erlebnisevozierung Organisations- und Koordinationsarbeit bedeutet und mit Kosten sowie Risiken für die Veranstalterinnen und Veranstalter einhergeht (Pfadenhauer 2008). Zweitens werden aus der Eventlogik resultierende Dilemmata für die Eventorganisationen thematisiert (Hitzler 2011, S. 18). Ein Dilemma bestehe beispielsweise zwischen dem Besonderen und dem Profanen. Der außergewöhnliche, einmalige Charakter des Events müsse beibehalten werden, auch wenn zugleich die Veranstaltung für möglichst viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer zugänglich gemacht und damit profan werden würde (Hitzler 2011, S. 18). Die Konzeption von Hitzler bezieht sich auf spezielle Fälle, wie Techno-­ Events, in denen einer affizierten und kathartischen Vergemeinschaftung eine spezielle Bedeutung zukommt. Inwiefern dies auf alle organisierten Events zu generalisieren ist, bleibt noch ungewiss. Hinzu kommt, dass die Perspektive der Beschäftigten im Kontext der Eventisierung in der vorliegenden Literatur weitestgehend ausgeklammert wird. Eine dezidierte Auseinandersetzung damit, wie die organisationale Eventisierung und damit einhergehende Folgen sich im Arbeitsalltag von Beschäftigten niederschlagen, ist bislang wenig untersucht worden. Hierzu wollen wir einen Beitrag leisten, indem wir uns einem speziellen Kontext der Eventisierung in Organisationen, einem Kinounternehmen, in dem Events strategisch zur Ergänzung des regulären Unterhaltungsangebots genutzt werden, zuwenden. Dabei wollen wir die Verbindung zwischen der Eventisierung und der ästhetischen Arbeit beleuchten. Im Fokus steht die Betrachtung, wie Events ästhetische Arbeit für Beschäftigte konstituieren und mit welchen Folgen die eventbezogene Ästhetisierung der Arbeit für Beschäftigte einher geht.

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4 Empirische Studie 4.1 Der Feldbetrieb und seine Historie Der betrachtete Betrieb, in einer mittelgroßen Stadt angesiedelt, ist Teil eines großen neugebauten Einkaufszentrums, welches im April 2000 eröffnet wurde. Das Kino besitzt 11 Säle mit Sitzplätzen für ungefähr 2600 Gäste sowie neun Theken, eine Bar, zwei Ein- und Auslässe und ein Kinofoyer. Das Kino wurde nach 2010 von mechanischer auf digitale Filmprojektion umgestellt und kann in allen Sälen 3D-Filme zeigen. Nachdem der erste Betreiber das Kino nach nur einem halben Jahr wieder verließ, wurde es von einer großen, deutschlandweit agierenden Kinogruppe übernommen, die auch heute noch ihr Eigner ist. Das Kinounternehmen ist das einzige Multiplex-Kino der Stadt. Das Kino befindet sich in der 3. und 4. Etage des Einkaufszentrums und überragt es gewissermaßen. In der 3. Etage sind die Kassen des Kinos neben den Räumen des Center-Managements des gesamten Einkaufszentrums. Nachdem die Kundinnen und Kunden an der Kasse ihre Tickets kaufen, kommen sie mit einer Treppe in die 4. Etage, auf der alle Kinosäle und alle Theken, Büro- und Mitarbeiterräume sowie Lager liegen. Im Foyer der 4. Etage befinden sich verteilt jeweils vier zusammenhängende Theken. Vom Gang des Foyers aus kann das Einkaufszentrum überblickt werden. Während das Alltagsgeschäft des Kinos sich auf den beiden Etagen konzen­ triert, werden bei den größeren Kinoevents zusätzliche Ausstellungsräume in der 3. Etage des Einkaufszentrums gebucht. Das Kino-Foyer wird dann, abgestimmt auf den jeweiligen Film, dekoriert und mit Verkaufsmaterial bestückt. Der unteren Etage hingegen kommt ein exklusiver Status zu, da hier das sogenannte Vorprogramm stattfindet. Auf der Bühnenfläche treten geladene Künstlerinnen und Künstler auf, in der Bar und dem VIP-Bereich bedienen die Kinobeschäftigten. Das Unternehmen beschäftigt saisonabhängig zwischen 50 und 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die meisten Beschäftigten sind als Teilzeitkräfte tätige Studierende, die sich das Studium finanzieren, oder nebenberuflich Arbeitende. Sie sind allesamt als Servicekräfte eingestellt. Die wenigen festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind im mittleren oder oberen Management tätig. Das Servicepersonal wird im Alltagsgeschäft hauptsächlich in drei Bereichen eingesetzt: Einlass (Kontrolle der Karten und der mitgebrachten Speisen, Eisverkauf, Kontrolle der Kinosäle und deren Reinigung), Theke (Verkauf von Snacks

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und Getränken, Bestellungen und Reinigung) und Kasse (Verkauf von Kinokarten, Gutscheinen und weiteren angebotenen Waren, Beratung von Kundinnen und Kunden). Im Einlassbereich werden alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingesetzt; für die Arbeit an der Theke und an der Kasse ist eine besondere Schulung erforderlich, sodass die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entweder an der Kasse oder an der Theke eingesetzt sind. Nur einige Beschäftigte sind in allen drei Bereichen einsetzbar. Die Arbeit wird in Schichten organisiert. Es gibt verschiedene, flexible, sich überlappende Schichten. Eine Schicht kann von 3 h bis zu 10 h dauern. Die Betriebszeit umfasst die Zeit zwischen 9 Uhr vormittags (Samstag, Sonntag, Feiertag und Ferien) bis 3 Uhr nachts. Das Hauptgeschäft ist am Abend zwischen 19 und 21 Uhr. Die durchschnittliche Arbeitszeit der meisten Beschäftigten beträgt 5 h pro Tag. Die Dienstpläne werden etwa eine Woche vorher bekannt gegeben, jedoch können die Beschäftigten ihre Verfügungszeiten zu den einzelnen Tagen angeben.

4.2 Das Material und seine Auswertung Einer der AutorInnen, der seit nunmehr drei Jahren im Kinounternehmen teilzeitbeschäftigt ist, hat im Kinobetrieb eine teilnehmende Beobachtung in Form einer autoethnografischen Untersuchung durchgeführt. Im Rahmen seiner Arbeitseinsätze hat der beobachtende Autor zwischen Mai 2017 und Januar 2018 Tagebuchprotokolle verfasst, die sich entweder auf die Kinoevents oder das alltägliche Geschäft des Kinobetriebs beziehen. In dieser Zeit wurde er bei drei Kinoevents eingesetzt: Zwei davon wurden anlässlich des Films „50 Shades of Grey“ organisiert, ein Event widmete sich den zwei „Star Wars“-Trilogien. Auch in diesem Kinounternehmen stellen Events ein konzentriertes Format der Erlebnisproduktion dar und werden als Höhepunkte des Geschäfts sowohl durch das Management als auch durch die Beschäftigten angesehen, nicht zuletzt, weil sie oft eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Besucherinnen und Besuchern anziehen. Entsprechend stark dominieren die Kinoevents im Vergleich zum Alltagsgeschäft die Aufzeichnungen in den Tagebuchprotokollen. Das Augenmerk der Tagebuchprotokolle liegt vor allem auf den Arbeitsabläufen, persönlichen Interaktionen mit den Kundinnen und Kunden und dem Zusammenspiel zwischen den Managementanweisungen und den individuellen Spielräumen der Beschäftigten. Durch die Beobachtung sowohl während der Events als auch im Alltagsgeschäft war es möglich, eine Gegenüberstellung von Sonderveranstaltungen

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und ­Alltagstätigkeiten vorzunehmen und die Besonderheiten der eventbezogenen Arbeitsprozesse herauszuarbeiten. Die Gedächtnisprotokolle wurden meist in den Pausen oder nach der Arbeitsschicht vom beobachtenden Autor gefertigt. Die schriftlichen Notizen wurden zeitnah digital erfasst. Dieses Material wurde zwischen der Autorin und dem Autor des vorliegenden Beitrages jeweils mehrfach ausgetauscht und durch gegenseitige Fragen, Anmerkungen und erwidernde Ergänzungen erweitert. Die gegenseitige Abstimmung und iterative Verdichtung des Materials ermöglichte es, eine allgemeinere Perspektive auf das Arbeitsgeschehen zu entwickeln und sorgte für einen Verfremdungseffekt (Tavory und Timmermans 2014, S. 55) im Hinblick auf den vertrauten und selbstverständlich gewordenen Arbeitskontext. Das selbstverständlich Gewordene zählt mitunter zu den wesentlichen Herausforderungen autoethnografischer Vorhaben (Ciuk et al. 2018, S. 278), so auch für den beobachtenden Autor. Die mit dem Verfremdungseffekt einhergehende Distanzierung ermöglichte einen geschmeidigeren Rollenwechsel zwischen dem Betroffenen und dem Beobachtenden und damit einen differenzierteren Blick auf die Arbeitsprozesse im Kinobetrieb. Zugleich wurden die ästhetischen Aspekte der Arbeit im Kinobetrieb zunehmend expliziert, wie z. B. die räumliche Organisation der Events, der vorgeschriebene Kleidungsstil oder der Umgangston mit den Kundinnen und Kunden. Zusätzlich zu den Gedächtnisprotokollen wurde das öffentlich zugängliche Material zu den Kinoevents in Form von Fotos oder Presseberichten sowie die Stellenausschreibungen des Unternehmens in die Analyse miteinbezogen. Sowohl bei der Verdichtung der Gedächtnisprotokolle als auch bei der anschließenden Auswertung haben wir ein Verständnis von ästhetischer Arbeit zugrunde gelegt, welches stark an die oben thematisierte Auffassung nach ­Warhurst et al. (2000) anlehnt: Als ästhetisch fassen wir jene Dimension der Arbeit auf, die die sinnhaften und körperlichen Facetten des Arbeitsvollzugs im Sinne einer erwünschten Einwirkung auf die Kundinnen und Kunden umfasst und die im kommerziellen Auftrag des Unternehmens von den Beschäftigten eingesetzt werden. Hierzu zählen wir vor allem das Wirken der Beschäftigten auf die Kundschaft durch Stimme, Kleidung oder das Auftreten. Der Inhalt der final ergänzten Gedächtnisprotokolle wurde in Bezug auf folgende Punkte analysiert: der Zusammenhang zwischen den Events und der ästhetischen Arbeit, die Form der Steuerung der ästhetischen Arbeit durch das Management (sowohl explizit als auch implizit) sowie die Folgen der eventbezogenen ästhetischen Arbeit für Beschäftigte.

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5 Ergebnisse Die gewonnenen Ergebnisse werden im Nachfolgenden in Bezug auf die ästhetische Arbeit im Kontext der Organisationsevents dargestellt. Im Fokus stehen zunächst die verschiedenen Steuerungsformate der ästhetischen Arbeit durch das Management, die explizite und anschließend die implizite Steuerung ästhetischer Arbeit im Kino. Die daraus resultierenden Folgen für die Beschäftigten und der vereinzelt auftretende Widerstand seitens der Beschäftigten bilden den zweiten Teil der Ergebnisse.

5.1 Explizite Steuerung der ästhetischen Arbeit In Übereinstimmung mit den bisherigen Forschungsstudien schlägt sich die explizite Steuerung der ästhetischen Arbeit im Kinobetrieb bereits in den Prozessen der Personalsuche nieder. Die Stellenanzeigen für „Servicekräfte“ des Betriebs, die mitunter in der Stellenbörse der lokalen Universität geschaltet werden, verdeutlichen, dass ästhetische Anforderungen an die Bewerberinnen und Bewerber durchaus eine Rolle spielen, auch wenn sie eher vage gehalten werden. Einstellungskriterien wie „Spaß a[m] Umgang mit Gästen“, „eine freundliche […] und kommunikative Persönlichkeit“, „ein gepflegtes Erscheinungsbild“ und „gute Umgangsformen“ zeigen, dass ästhetische Merkmale als Voraussetzung für eine gelingende Dienstleistung gelten. Das Bestreben, die Kundschaft zufrieden zu stellen und eine langanhaltende positive emotionale Wirkung zu hinterlassen, wird daher als besonders wichtig erachtet. Dies gilt selbst bei eher simplen Arbeitsaufgaben wie z. B. dem Popcornverkauf: „Die Helden Hollywoods konnten Sie schon als Kind stundenlang auf der großen Leinwand bestaunen und Sie verkaufen Popcorn ebenso freundlich, wie Sie an der Kasse einen guten Film empfehlen können? Dienstleistung ist für Sie kein Fremdwort, sondern eine Selbstverständlichkeit? Sehr schön! Dann sind Sie bei uns genau richtig. […] Kommen Sie in unser dynamisches Team und bereiten Sie unseren Gästen ein unvergessliches und emotionsvolles Kinoerlebnis.“ (Auszug aus der Stellenanzeige des Unternehmens)

Nach der Personaleinstellung werden im Unternehmen keine dezidierten Trainings durchgeführt. Für die Neubeschäftigten existieren jedoch einige formale Regeln in Bezug auf die Kleiderordnung im Arbeitsalltag. Neben schwarzen

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Poloshirts des Unternehmens, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgehändigt werden und verbindlich getragen werden müssen, sollen die Angestellten zum Shirt passend dunkle, lange und gepflegte Hosen oder Ähnliches tragen. Auch die Schuhe sollten gepflegt und passend zur Kleidung von dunkler Farbe sein. In Bezug auf die Kundeninteraktion wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet, dass sie freundlich zu den Gästen sind und die Kundinnen und Kunden betreuen sowie beraten. Nebenbei wird von den Beschäftigten verlangt, die Standards und AGBs des Kinounternehmens einzuhalten. Eine typische Begegnung am Kinoeinlass beinhaltet die Begrüßung der Gäste, danach die Aufforderung, eine gültige Kinokarte vorzuzeigen, den Gästen den Weg zu ihrem Kinosaal zu zeigen und ihnen anschließend viel Spaß bei der Vorstellung zu wünschen. Zwar wird von den Beschäftigten erwartet, zu den Gästen freundlich zu sein, die Einhaltung der Regelungen des Kinounternehmens gegenüber den Besucherinnen und Besuchern steht dennoch im Vordergrund, auch wenn diese gelegentlich für Unverständnis oder Auseinandersetzungen sorgen, wie z. B. das Verbot mitgebrachter Speisen oder kein Einlass für Minderjährige ohne Erziehungsberechtigte zu Filmen, die nach 22 Uhr enden. Die eher vagen Bestimmungen des Managements im Arbeitsalltag des Kinobetriebs werden expliziter bei der Durchführung von Events. Ein Filmevent stellt im betrachteten Betrieb ein Sonderereignis im buchstäblichen Sinne dar, das auch Veränderungen der Räumlichkeiten, der Organisationsprozesse und auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewirken. Die Räumlichkeiten werden meist speziell geschmückt, teilweise findet ein Programm mit externen Künstlerinnen und Künstlern statt. Das Filmevent zu „50 Shades of Grey“ bildet ein anschauliches Beispiel. Mit der Organisation und Vorbereitung des Events werden zwei Mitarbeiterinnen aus dem Management beauftragt. Diese sollten das Event in Abstimmung mit den Vorgesetzten organisieren, bewerben, Aufgaben verteilen und während der Veranstaltung als Ansprechpartnerinnen für alle Beteiligten agieren. Zwei Wochen vor dem Termin werden alle anderen Beschäftigten über eine Nachricht auf einen höheren Bedarf an Servicepersonal an jenem Tag hingewiesen. Die Organisatorinnen führen für das Kinoevent eine gesonderte interne Personalauswahl durch, indem sie einige der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezielt ansprechen und für das Event werben. Die Angesprochenen sind offensichtlich jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Erfahrung mit den Sonderevents haben und Vertrauen des Managements genießen, vor allem aber sich als zuverlässig und freundlich im Umgang mit den Kundinnen und Kunden erwiesen

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haben und die sogenannte positive Ausstrahlung besitzen. In diesem Fall werden jüngere männliche Beschäftigte offensichtlich stärker für die Mitarbeit beim Filmevent umworben, was bei den anderen Filmevents keine Rolle gespielt hat. Schlussendlich wird eine Gruppe von etwa 40 männlichen wie weiblichen Angestellten des Kinos zusammengestellt, die bei der Durchführung des Filmevents aushelfen. Auch die Steuerung der Kleiderordnung für die teilnehmenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist im Zusammenhang mit dem Filmevent deutlich expliziter. Da das Event zu „50 Shades of Grey“ unter dem Motto “White Party” stattfindet (in Anspielung auf die Hochzeit des Protagonistenpaares), weist das Organisationsteam die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, die an diesem Tag arbeiten, sich optisch von den Gästen, die in Weiß erscheinen sollten, abzuheben. Männer sollen mit schwarzer Hose, weißem Hemd und, wenn möglich, mit Fliege erscheinen. Frauen sollen ein schwarzes, knielanges Kleid und hochhackige Schuhe tragen. Damit erinnert die angewiesene Kleidung an den Kleidungsstil des Protagonistenpaares aus dem Film. Eine genauere Begründung für den Dresscode erfolgt nicht. Diese eventbezogene Kleiderordnung ist jedoch nur für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gedacht, die während der Veranstaltung im Kundenkontakt stehen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Kinos säubern, kommen in gewohnter Kleidung, d. h. Poloshirt und Hose. Zusätzlich stehen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Tag der Veranstaltung Faschingsmasken im Stile des Films zur Verfügung, diese können freiwillig aufgesetzt werden, was auch von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern befolgt wird. Zusätzlich zur Kleiderordnung wird während der Vorbereitung des Events eine deutlich explizitere Aufgabenteilung unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorgenommen. Dabei richtet sich das Organisationsteam ebenfalls nach dem Charakter des zu zelebrierenden Films. Mit Sonderaufgaben im Rahmen des Vorprogramms zum Event des Films „50 Shades of Grey“ wurden hauptsächlich männliche Mitarbeiter betraut. Insbesondere in den Bereichen, in denen das Vorprogramm, bestehend aus einem DJ-Auftritt und der Darbietung einer Poledancerin, stattfindet und viel Kontakt mit den fast ausschließlich weiblichen Kundinnen zu erwarten ist, werden hauptsächlich männliche Mitarbeiter eingesetzt. Hier sind sie überwiegend für den Sekt- und Saftausschank zuständig. Den Bereichen, in denen vor allem die Routineaufgaben zu erledigen sind, werden überwiegend junge weibliche Mitarbeiterinnen zugeordnet. Eine eindeutige Kommunikation, warum die männlichen Mitarbeiter für diesen Bereich eingeteilt wurden, findet jedoch nicht statt.

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5.2 Indirekte Steuerung ästhetischer Arbeit Sowohl im Arbeitsalltag als auch während der Kinoevents liegt eine Doppelstruktur vor: Bei funktionalen Aufgaben existieren explizite Anweisungen des Managements, bei der ästhetischen Leistungsdimension im Umgang mit der Kundschaft wird auf den „gesunden Menschenverstand“ und allgemeine Höflichkeitsgebote zurückgegriffen. Die Aufgaben für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden arbeitsteilig strukturiert. Die Anweisungen seitens der Gruppenkoordinatorinnen und -koordinatoren richten sich meist danach, wofür die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der jeweiligen Schicht zuständig sind, unabhängig davon, ob es während eines Kinoevents oder im Alltagsgeschäft stattfindet. Beispielsweise werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die am Einlass arbeiten, angewiesen, nachdem die Kundinnen und Kunden ihre Kinokarten gekauft haben, die Karten zu kontrollieren, auf den Kinosaal hinzuweisen, diesen zu zeigen und viel Spaß zu wünschen. Die ästhetischen Komponenten der Arbeit spielen dabei kaum eine Rolle. Das heißt, auf welche Art und Weise die Begrüßung am Einlass geschehen soll, ob bei jeder Kundin und jedem Kunden gleich, und vor allem wie mit der Monotonie der hundertfachen oder tausendfachen Wiederholung umzugehen ist, wird den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern alleine überlassen. Es herrscht vielmehr eine Einigkeit darüber, dass Kundinnen und Kunden stets freundlich zu bedienen sind. Diese generalisierte Erwartung wird von den Beschäftigten als selbstverständlicher Teil ihrer Arbeitsleistung angesehen, ohne dass sie jemals explizit darüber instruiert, geschweige denn trainiert worden sind, was genau unter Freundlichkeit in diesem Betrieb zu verstehen ist und welche Verhaltensweisen toleriert werden. Den Beschäftigten wird also viel Deutungsraum gewährt. Diese behelfen sich mit ihren persönlichen Vorstellungen über Kundenfreundlichkeit, ihrem beruflichen Ehrgeiz oder der beruflichen Identität am Arbeitsplatz. So reicht die Freundlichkeit von professionell distanzierter Sachlichkeit, bei der die Beschäftigten sich auf die Beantwortung der Kundenfragen beschränken, bis hin zur Familiarität in Form eines lockeren Gesprächs mit den Kinobesucherinnen und -besuchern über das Kinoprogramm oder bestimmte Filme. Auch Kolleginnen und Kollegen im Betrieb dienen als ein wichtiger Referenzpunkt für die eigene ästhetische Arbeit. Trotz der unterschiedlichen Einsatzplätze – Einlass, Kasse, Theke – hat man wechselseitig den Umgang der anderen Beschäftigten mit den Kundinnen und Kunden im Blick. Als Vorbilder gelten jene Kolleginnen und Kollegen, die stets gute Laune haben (oder diese gekonnt

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v­orspielen), den Kundinnen und Kunden zulächeln und mit ihnen locker-entspannte Konversationen führen, sodass sich die gute Laune auch auf die Kinogäste überträgt. Als der beobachtende Autor einen solchen Kollegen fragt, warum er gegenüber den Kundinnen und Kunden derart freundlich sei, antwortet dieser, dass es sein persönlicher Anspruch sei, „den Kundinnen und Kunden ein gutes Gefühl zu geben“. Zugleich ginge es aber auch darum, „Stress mit den Kundinnen und Kunden zu vermeiden“. Auch im Hinblick auf die Durchführung der Filmevents erhalten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keine gezielte Einweisung. So bleibt unklar, wie der Umgang mit den Kundinnen und Kunden auszusehen hat. Von der Belegschaft wird nicht nur die Bewältigung der Routineaufgaben gefordert, sondern auch die Vermittlung einer bestimmten Atmosphäre an die Kinobesucherinnen und –besucher, die der Eventfilm zu übertragen versucht. Gewissermaßen haben die Beschäftigten während der Kinoevents den besagten Film zu simulieren und als Quasi-Schauspielerinnen und -Schauspieler aufzutreten, um das Filmerlebnis zu steigern. Das Management beschränkt sich allerdings auf eine allgemein gehaltene, motivierende Rede und ein gemeinsames Anstoßen unmittelbar vor dem Beginn der Veranstaltung sowie eine positive Rückmeldung in den informellen Gesprächen danach. Die wenigen vagen Informationen zum Arbeitsauftrag während des Kinoevents werden informell, nahezu kumpelhaft mitgeteilt. So sagte die Gruppenkoordinatorin des ersten Kinoevents zu „50 Shades of Grey“ dem beobachtenden Autor, der im VIP-Bereich eingesetzt wurde, augenzwinkernd, er solle „den Damen jeden Wunsch erfüllen“. Anstatt einer direkten Anweisung wurde dem Mitarbeiter auf eine floskelhafte und mehrdeutige Weise zu verstehen gegeben, dass er besonders kundenfreundlich zu handeln habe. Auf diese Weise zieht sich das Management aus der Steuerung der ästhetischen Arbeit während des Events stark zurück und überlässt es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, diese eigenverantwortlich und ohne konkrete Vorgaben zu erbringen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wiederum, ohne im Vorfeld dazu unterrichtet oder geschult worden zu sein, müssen sich in einem Ambiente zwischen den erotisch aufgeladenen Darbietungen des Vorprogramms (hier: Poledance), den entsprechend geschmückten Räumlichkeiten und den zahlreichen im Kleidungsstil des Abends erschienenen Gästen zurechtfinden. Konkrete Anweisungen zur Wahrung der Grenze seitens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dieser geänderten Arbeitsumgebung, die nicht frei von Anzüglichkeiten („knisternde Überraschungen“, so der Werbetext für das Kinoevent) ist, gibt es nicht. So oblag es den Mitarbeitern alleine, mit den durch das erotische Programm angeregten und während des Sektempfangs leicht alkoholisierten Kundinnen im Sinne des Unternehmens zu interagieren und die Grenze

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zwischen Höflichkeit und Anzüglichkeit zu bestimmen. Der beobachtende Autor, der im VIP-Bereich für den Sekt- bzw. Proseccoempfang zuständig war, wurde von einer Kundin scherzend gefragt, ob er auch für sie strippen würde. Die Zweideutigkeit seiner Aufgabe löste er mit einer Neudefinition seiner Rolle und einer Grenzbestimmung. So sah er sich vor allem als kostümierten Kellner an, der zwar das Anschauen und Ansprechen durch die Kundinnen zuließ und es durchaus genoss, aber jeglichen Körperkontakt ausschloss. Die ästhetische Arbeit im Kinobetrieb wurde dabei zu einem „Spiel mit Anspielungen“, mit gegenseitigen künstlerischen Darbietungen und mit Grenzen des Erwart- und Zumutbaren.

5.3 Folgen ästhetischer eventbezogener Arbeit für Beschäftigte und Betrieb Ästhetische Arbeit in Verbindung mit organisationalen Events, die in einem Kinounternehmen zu einer der genuinen Aufgabendimensionen gehören, geht mit beträchtlichen Folgen für Beschäftigte einher. Erstens: Die stillschweigende Übereinkunft, dass ästhetische Arbeit zur Arbeitsleistung gehört, führt dazu, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewillt und fähig sein sollen, spontan neue Aufgaben im Rahmen der Events zu übernehmen, ohne dabei inkompetent zu wirken. So werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Kinoevents je nach den Überlegungen des Managements in unterschiedlichen, für sie teilweise ganz neuen Bereichen eingesetzt. Diese neuen Tätigkeiten verlangen in unterschiedlichem Maße nach ästhetischer Arbeit. Beispielsweise werden Mitarbeiterinnen aus der Marketingabteilung als Moderatorinnen der Kinoevents eingesetzt, zwar freiwillig, aber ohne jemals ein Training oder eine anderweitige Vorbereitung zu erhalten, wie die Besucherinnen und Besucher unterhalten und aktiviert werden können, ohne langweilig zu wirken oder ihnen zu nahe zu treten. Auch der beobachtende Autor war beim Kinoevent zu „50 Shades of Grey“ zusammen mit zwei weiteren männlichen Kollegen an der Bar neben der Bühne des Vorprogramms tätig, um verschiedene Saft- und Sektsorten zu verkaufen. Die Männer müssen als eine Art Kellner oder Sommeliers auftreten, ohne Kenntnisse in angebotenen Sektsorten, geschweige denn den Subtilitäten der jeweiligen Sorte oder Feinheiten der Sektdarbietung zu besitzen. Ihre weiblichen Kolleginnen, die sich mit dem Sekt- und Weinausschank besser auskennen, weil sie im Unterschied zu den Männern üblicherweise an der Theke arbeiten, werden während dieses Kinoevents für andere, weniger disponierte Aufgaben zuständig. Im Vorfeld des Kinoevents werden die Mitarbeiter durch ihre Kolleginnen an mehreren Abenden informell eingearbeitet. Dies erweist sich als

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überaus sinnvoll, weil die Kundinnen und Kunden während des Events gehäuft „besonders trockene“ Sorten nachfragen. Die innerbetriebliche Kooperation wird somit vom Management indirekt als Ressource für eine erfolgreiche Durchführung von Events genutzt, mit deren Hilfe entsprechende Trainings für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erübrigt werden können. Zweitens verlangt ästhetische Arbeit den Beschäftigten ein ständiges Balancieren zwischen den Regelungen des Managements und dem gewährten Spielraum ab, ohne genau zu wissen, wo die Grenzen (und die Grenzen der angebotenen Dienstleistung) gesteckt werden. Die Festlegung dieser Grenzen stellt eine Eigenleistung der Beschäftigten dar, die sie angesichts nur angedeuteter Managementerwartungen nahezu permanent erbringen müssen. Drittens: Die durch die Eventisierung des Kinogeschäfts zunehmende ästhetische Arbeit führt zu einer stärkeren Vermischung der privaten und der beruflichen Sphäre der Beschäftigten. Vor allem der Abschluss der Kinoevents unter den Kolleginnen und Kollegen mit gemeinsamem Anstoßen auf eine gelungene Veranstaltung oder After-Show-Partys steigert die ohnehin ausgeprägte Familiarität zusätzlich und lässt eine Atmosphäre ähnlich einer privaten Feier aufkommen. Das Management toleriert und fördert, wenn Beschäftigte während ihrer Arbeitszeit bei After-Show-Partys zur Anregung und Motivation der Gäste tanzen oder ein Glas Alkohol trinken. Diese Verschmelzung zwischen Arbeit und Privatem stellt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor die Aufgabe, Lockerheit auszustrahlen, aber Professionalität und gewünschtes Auftreten im Sinne des Managements zu bewahren. Eine solche Vermischung der beruflichen und der privaten Rolle führt bei den Beschäftigten zu einer Verunsicherung, wie man sich angemessen zu verhalten habe. Die Beschäftigten müssen eigenständig eine Grenze zwischen dem Erwünschten und dem Verpönten ziehen, ohne die Folgen für sich einschätzen zu können, wenn das Verhalten dem Management missfällt. Viertens: Was sich nach zusätzlichen Belastungen anhört, wird von den Beschäftigten nicht als solche empfunden. Obwohl die Events mit zusätzlichen und nicht trivialen Aufgaben einhergehen und die dabei zu erbringende ästhetische Arbeit nicht spannungsfrei für die Beschäftigten ist, heißen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Events und die daraus resultierende ästhetische Arbeit grundsätzlich willkommen. Es gilt als eine angenehme Abwechslung zu den üblichen, stark routinierten Aufgaben im Kinobetrieb. Das liegt zum einen daran, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des untersuchten Betriebes es gewohnt sind, Spiel- und Freiräume zu haben und diese zu nutzen. Zum anderen bieten die Kinoevents für sie eine Möglichkeit, weitere Kompetenzen, Potenziale und Stärken ausfindig zu machen und diese auszuprobieren, wie z. B. die Moderationstätigkeit. Das Gleiche gilt auch für die Mitarbeiterinnen und

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­ itarbeiter, die die Events vorbereiten, organisieren, bewerben und für einen M reibungslosen Ablauf sorgen. Anstatt einer Belastung sehen die Beschäftigten darin vorwiegend eine willkommene Möglichkeit, sinn- und verantwortungsvolle sowie ganzheitliche Aufgaben der Eventorganisation zu übernehmen. Obwohl dies im Auftrag des Managements erfolgt, übt die Möglichkeit, während der Events weitgehend unabhängig zu agieren und die eigenen Kompetenzen weiterzuentwickeln, großen Reiz aus. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der Vorbereitung auf einen „Hauptjob“ zu sehen: die Beschäftigten heißen es durchaus willkommen, wenn sie sich bei den durch Events gebotenen neuen Aufgaben ausprobieren können und dafür vergleichsweise große Spielräume nutzen, die das Management durch die implizite Steuerung gewährt. Fünftens: Widerstand ist wenig ausgeprägt, aber vorhanden. Angesichts der in die ästhetische Arbeit eingelassenen Mehrdeutigkeit, stellt sich berechtigterweise die Frage, inwiefern jene doch zu Konflikten oder Widerständen führen kann. Auf der einen Seite ließ sich während des Zeitraums der Studie kein ausgeprägter Widerstand seitens der Beschäftigten beobachten. Angesichts der Personalpolitik des Unternehmens ist dies nicht allzu verwunderlich. Die Mehrzahl der Beschäftigten ist geringfügig beschäftigt, die wenigen Vollzeitmitarbeiterinnen und -mitarbeiter gehören allesamt zum Management. Somit sehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Arbeitsverhältnis mit dem Kinobetrieb als einen zeitlich begrenzten Nebenjob und eine Zwischenstation an, welcher meist nur zur Finanzierung des Studiums gedacht ist. Es gilt als ein „Job“, der keine hohen Qualifikationen voraussetzt und mit den anderen Jobs in der Dienstleistungsbranche vergleichbar, damit auch ersetzbar ist. Entsprechend empfinden die Beschäftigten nur eine mäßig ausgeprägte Bindung zum Unternehmen. Vielmehr überwiegt hier die hedonistische Logik: Die Angestellten legen großen Wert auf Spaß und Lockerheit bei der Arbeit, auf eine angenehme Arbeitsatmosphäre sowie auf „ein gutes Verhältnis zu den Kollegen“. Ist dies nicht der Fall, wird eher die Kündigung gewählt als ein mühsamer Einsatz für Veränderungen oder Widerstand. Nichtsdestotrotz findet man gelegentlichen Widerstand, der direkt an der ästhetischen Arbeit ansetzt. Vor einiger Zeit hatte der Betriebsrat und das Management eine Auseinandersetzung über die existierende Kleiderordnung. Aufgrund der im Sommer stark aufgeheizten Kinoräume versuchte der Betriebsrat auf Anfrage eines männlichen Mitarbeiters hin, die Kleiderordnung aufzuweichen und das Tragen kurzer Hosen für die männlichen Beschäftigten zu ermöglichen. Es kam allerdings zu keiner Einigung mit dem Management. Die Auseinandersetzung eskalierte und wurde außergerichtlich fortgesetzt, ohne eine Einigung zu erreichen. Zwischenzeitlich wurde eine Protestaktion vom

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­ etriebsrat organisiert: Da es den weiblichen Angestellten laut Kleiderordnung B erlaubt ist, mindestens knielange, dunkle Röcke zu tragen, forderte der Betriebsrat in Anbetracht des Diskriminierungsverbotes aufgrund des Geschlechts männliche Beschäftigte dazu auf, zu einer Betriebsversammlung mit knielangen Röcken oder Kilts zu erscheinen. Einige Mitarbeiter erschienen nicht nur zur Betriebsversammlung, sondern auch später an warmen Tagen im Kilt zur Arbeit. Obwohl diese Kleidungspraxis den Vorstellungen des Managements ganz und gar nicht entsprach, musste diese Form der Auflehnung toleriert werden, bis die Kleiderordnung im Zuge des erneut heißen Sommers 2018 abgeändert und das Tragen kurzer Hosen für männliche Mitarbeiter, jedoch nur für den Hochsommer, erlaubt wurde.

6 Diskussion Kinobetriebe gehören nicht zu den Organisationen, die bisher in Verbindung mit der ästhetischen Arbeit gebracht werden. In unserer Studie stellen wir heraus, dass auch in einem Kinobetrieb den ästhetischen Elementen der Beschäftigung einige Bedeutung zukommt. Am Ende der Wertschöpfungskette der Filmindustrie geht es auch in den Kinos darum, das Erregende, das Evozierende der Filme im Arbeitsvollzug gewissermaßen zu reaktivieren oder es zumindest zu simulieren. Um den Kinobesucherinnen und -besuchern ein „unvergessliches, emotionsvolles Kinoerlebnis“ zu ermöglichen, wird auf ästhetische Attribute und Fähigkeiten zurückgegriffen, unter anderem durch das Erscheinungsbild, die Kleidung und die Rolleninszenierung im Sinne der vorgeführten Filme seitens der Beschäftigten. In unserer Studie zeichnet es sich ab, dass insbesondere die Kinoevents, die darauf fokussieren, besondere Erlebnisse und Emotionen zu evozieren, auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kinounternehmens eine deutlich größere Fülle an ästhetischer Arbeit abverlangen als das Alltagsgeschäft. Die Eventisierung im Kinogeschäft scheint somit zu einer Verdichtung ästhetischer Arbeit zu führen. Während der Kinoevents fällt die Kundeninteraktion deutlich umfangreicher und länger aus. Die Beschäftigten werden gleichzeitig gebeten, neue Aufgaben und Arbeitsrollen zu übernehmen, die weit darüber hinaus gehen, was sie üblicherweise im Alltagsgeschäft erbringen müssen, sei es Moderieren oder Kellnern. Die Arbeitskleidung muss dem „Stil“ der jeweiligen Filme entsprechend angepasst sein. Das Management steuert die ästhetische Arbeit im Kinobetrieb sowohl explizit als auch implizit. So existieren im untersuchten Betrieb formale Vorschriften und Anweisungen durch das Management an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

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wie sie sich anzuziehen und den Kundinnen und Kunden gegenüber zu wirken haben. Bereits bei der Suche nach neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spielen im betrachteten Kinounternehmen die ästhetischen Kriterien, wie ein angenehmes Erscheinungsbild, eine wichtige Rolle. Es existiert eine Kleiderordnung, deren Einhaltung überwacht und eingefordert wird. Eine anderweitige Verankerung ästhetischer Anforderungen im Personalmanagement, z. B. in Form von den durch das Management angebotenen Trainings, ließ sich im betrachteten Unternehmen nicht vorfinden. Die formale Steuerung der ästhetischen Facetten wird im Fall von Kinoevents verstärkt. So werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für die Unterstützung der Events angesprochen werden, nach eventbezogenen Kriterien selektiert, wie z. B. Geschlecht und Alter, um den Erwartungen der Zielgruppe des Events am besten zu entsprechen. Auch werden bei den Kinoevents die Anforderungen an die Bekleidung expliziter, sodass die Beschäftigten kaum Variationsmöglichkeit haben, in welcher Kleidung sie am Arbeitsplatz während der Kinoevents erscheinen, zumindest jene nicht, die im Kundenkontakt arbeiten. Auch die Aufgabenteilung und damit die Art des Kundenkontakts wird für die Events zielgruppenspezifisch vorgenommen, sodass in einem Event zu „50 Shades of Grey“ überwiegend junge Männer die hauptsächlich weiblichen Kinobesucherinnen empfangen und bedienen. Ästhetische Arbeit wird aber auch indirekt durch Andeutungen und zweideutige Aufforderungen gesteuert. In Bezug auf die konkrete Interaktion mit Kundinnen und Kunden fällt die manageriale Arbeitsanweisung allgemein und vieldeutig aus und zwar sowohl bei den Events als auch im Alltagsgeschäft. Es überwiegt die indirekte Steuerung im Sinne einer Gewährung großer Spielräume für die Beschäftigten, die sie entsprechend den Anforderungen des Unternehmens auszufüllen haben. Dafür müssen sie jegliche subjektive Ressourcen, wie individuelles, gesellschaftlich oder kollegial vermitteltes Wissen und Vorstellungen, eigene Kreativität, Spiellust, Grenzziehung u. ä., mobilisieren, um den diffusen, mitunter vieldeutigen Erwartungen an ihre Leistung gerecht zu werden und umsatzsteigernd zu agieren. Das Management überlässt es den Beschäftigten, die Vieldeutigkeit der – je nach dem konkreten Film – mehr oder weniger brisanten Interaktionssituation einzugrenzen und zugleich umsatzsteigernde wie persönlich angemessene Verhaltens- und Interaktionsmodi zu finden. Oftmals verschränken sich die expliziten und die impliziten Steuerungsbemühungen des Managements. Insbesondere im Fall des Kinoevents zu „50 Shades of Grey“ hat das Management explizit auf das Geschlecht von Beschäftigten in kundenintensiven Bereichen geachtet. Zugleich hat es weitgehend offen gelassen, wie sich die männlichen Mitarbeiter in direkten Interaktionen mit den Kundinnen zu benehmen haben.

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Die ästhetische Arbeit während der Kinoevents geht mit zahlreichen Folgen für Beschäftigte einher. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind teilweise dazu angehalten, Rollen zu übernehmen, die ihrem Berufsbild typischerweise nicht entsprechen. Ganz nebenbei sorgt das Management hierdurch für funktionale Flexibilität, und zwar ohne zusätzliche Einführungen oder Trainings, also überaus günstig, weil die Beschäftigten die ihnen noch fehlenden Kenntnisse informell, also privat und in ihrer Freizeit, nachholen. Hierfür wird auch die betriebliche Kooperation als eine wichtige Ressource zu Zwecken des Unternehmens mobilisiert. Die von Kinoevent zu Kinoevent wechselnden Themen und die daraus resultierenden spezifischen Anforderungen sowie die damit zu erfüllenden Rollen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rücken die Arbeit in einem Kinounternehmen in die Nähe einer von Schauspielenden zu erbringenden Leistung. Die Kinovorführungen verlangen den Beschäftigten Darstellungsqualitäten ab, ohne dass diese als besondere Begabungen angesehen oder honoriert werden. Indem der Betrieb keine speziellen Ressourcen dafür bereitstellt, wird das Erlernen dieser „Qualitäten“ weitestgehend zum Privatanliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erklärt. Eine weitere Folge der ästhetischen Arbeit während Kinoevents ist ihre gelegentliche Sexualisierung. Dadurch kann die These von Warhurst und Nickson (2009) bestärkt werden, dass ästhetische Arbeit sexualisierte Elemente enthält, weil „gutes Aussehen“ bei einer Dienstleistung oft erotisch gefärbte Komponenten im Sinne eines Sexappeals enthält und ästhetische Arbeit in die Nähe der sexuellen Arbeit rückt. Insbesondere bei den Kinoevents, die mit Filmen veranstaltet werden, welche einen erotischen Charakter haben, wie dies bei „50 Shades of Grey“ der Fall ist, ist die Sexualisierung durch ästhetische Arbeit offensichtlich. Durch eine bewusst geschlechtsorientierte Auswahl des Beschäftigtenteams für den Event, durch die Anordnung der Eventkleidung, durch das Angebot der Gesichtsmasken und das explizit erotisch aufgeladene Vorprogramm wird ein Klima sexueller Andeutungen und Anspielungen zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Kinobesucherinnen und -besuchern erzeugt. Dieses Klima ist geradezu der produktive Kern des emotionalen Kinoerlebnisses. Darauf müssen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einlassen, um „das besondere Erlebnis“ für die Besucherinnen und Besucher nicht zu gefährden. Die Herausforderungen solcher sexualisierten und mehrdeutigen Interaktionen und die prekäre, da in ihrem Ausgang ungewisse Grenzziehung müssen sie allerdings alleine bewältigen, indem sie auf ihre interpersonellen Fähigkeiten zurückgreifen und diese sogleich als Ressource ihrem Arbeitgeber zur Verfügung stellen.

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Eine weitere Folge der ästhetischen eventorientierten Arbeit für Beschäftigte besteht darin, dass die Grenze zwischen dem Privaten und dem Beruflichen verschwimmt. Das resultiert daraus, dass Events temporäre affizierte und von den Kundinnen und Kunden zusammen mit den Beschäftigten koproduzierende Gemeinschaften konstituieren. Auch aus den Kinoevents können solche Gemeinschaften hervorgehen, indem z. B. die Besucherinnen und Besucher gemeinsam mit den Mitarbeitern und Mitarbeiter das Event in einer After-Show-Party zelebrieren. Im Zuge einer derartig affizierten Vergemeinschaftung wird der Arbeit der Schein einer Nicht-Arbeit verliehen, als ob sie alleine aus Spaß, Freude und Leidenschaft in Bezug auf Filme erbracht werden würde. Die Ambivalenz und die Verunsicherung für Beschäftigte bleiben jedoch permanent bestehen, erfolgt eine solche Vergemeinschaftung doch stets zu Zwecken des Unternehmens und unter Beobachtung des Managements. Ob und unter welchen Umständen solche Auftritte in der temporären Eventgemeinschaft Konsequenzen für das Berufliche nach sich ziehen können, bleibt ebenfalls grundsätzlich offen. Der Spaß und die Freude an der ästhetischen Arbeit aufseiten der Beschäftigten sind dennoch nicht gänzlich abzustreiten. Dies ist mitunter auch ein Grund dafür, dass die eventorientierte ästhetische Arbeit vergleichsweise konflikt- und spannungsfrei zu verlaufen scheint. Neugierig und begierig auf neue Erfahrungen, heißen die Angestellten des Kinobetriebs, in aller Regel Studierende, die Abwechslung durch die Events willkommen. Widerstand regt sich, wenn überhaupt, nicht gegen die Forderungen der ästhetischen Arbeit, sondern gegen formale Regelungen dazu, und zwar dann, wenn sie den Spaß zu schmälern drohen, wie z. B. die Forderung der Geschäftsführung, dass männliche Beschäftigte auch bei hohen Innentemperaturen lange Hosen tragen müssen. Der hieraus entstandene Konflikt wird nicht individuell von betroffenen Beschäftigten ausgetragen, sondern auf der institutionellen Ebene des Betriebsrats. Dies ist insofern bemerkenswert, dass sich der institutionelle Widerstand an einer scheinbaren Bagatelle entzündet, wie die Hosenlänge an heißen Tagen, wohingegen die grundlegend komplexeren Anforderungen in Zusammenhang mit der ästhetischen Arbeit während der Kinoevents von den Beschäftigten offenbar widerstandslos hingenommen, gar willkommen geheißen werden. Gleichzeitig drückt sich im Tragen von Schottenröcken als kollektiver, später individueller Widerstand gegen die inflexible Regelung die kreative, spielerische Neigung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus, auf die das Management bei der Organisation von Events und bei der kommerziell unentbehrlichen ästhetischen Arbeit angewiesen ist.

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Die (Wieder-)Erfindung der Welt: die Rolle ästhetischer Praktiken in pädagogischen Experimenten mit alternativen Räumen des Organisierens Anke Strauß Der Diskurs um alternative Arten der Organisation ist zerklüftet. Die vielfach widersprüchlichen Definitionen von Alternativen spiegeln ihren jeweiligen Kritikund Bezugspunkt wider (Cruz et al. 2017). Obwohl dieser mit der Bezeichnung Kapitalismus singulär und homogen scheint, haben diverse AutorInnen darauf verwiesen, dass diese Homogenisierung nur durch Abstrahierung erreicht wird, Kapitalismus jedoch mannigfaltig in seiner lokalen und zeitlichen Ausprägung ist. So ist er nicht nur immer partiell und fragmentiert, sondern besteht auch immer neben nicht-kapitalistischen Praktiken von denen er teilweise abhängt (GibsonGraham 2006; Parker et al. 2014). Dementsprechend unterschiedlich sind auch die als Alternativen deklarierten Praktiken, Strukturen und Projekte sowie ihr jeweiliges Verhältnis zu dominanten Prozessen, von denen sie sich abgrenzen wollen. Die Literatur zu alternativen Formen des Organisierens wächst genauso stetig wie die Forderung Alternativen ins Zentrum aktueller Management- und Organisationslehre zu stellen (Reedy und Learmonth 2009; Cheney et al. 2014; Montesano Montessori 2016; Cruz et al. 2017; Hartz 2017). Im Zentrum dieser Forderung steht Gibson-Grahams (1996) Feststellung, dass kritisch Forschende und Lehrende auch dazu beitragen, dass Kapitalismus als homogen und alternativlos wahrgenommen wird, wenn sie entweder nur auf Schwachstellen von Alternativen fokussieren oder diese als zu unbedeutend oder zu lokal für gesamtökonomische Zusammenhänge (bspw. Sharzer 2014). Sie argumentieren, dass erst die Sichtbarmachung von Alternativen – und seien sie noch so lokal oder A. Strauß (*)  LS für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis, Zeppelin Universität, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hartz et al. (Hrsg.), Ästhetik und Organisation, Organisation und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21978-9_9

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klein – diese zu Objekten politischer Entscheidungen, Gesetze, etc. werden lassen (siehe bspw. Cameron und Gibson-Graham 2003; Esper et al. 2017; Zanoni et al. 2017). Während ein Großteil der AutorInnen zu Recht bereits existierenden Alternativen Raum und somit mehr Sichtbarkeit geben (bspw. Cheney 1999; Hardy 2000; Atzeni 2012; Parker et al. 2007), verweisen Parker et al. (2014) auf den expansiven Charakter von kapitalistischen Prozessen, die permanent alternative Praxen, Strukturen und Subjekte einhegen (siehe auch Boltanski und Chiapello 2005), sodass auch Alternativen stets Änderungen unterliegen (müssen). Neben Kritik nimmt daher innerhalb der aktuellen Literatur zu alternativen Arten der Organisation Imagination eine zentrale Rolle ein (Zanoni et al. 2017; Dinerstein 2015; Parker et al. 2014; Reedy und Learmonth 2009; Parker 2002), um neue soziale Beziehungen zu finden, deren Leitgedanken Autonomie, Solidarität und Verantwortung sind. Trotz der Betonung der Relevanz von Imagination in einer konstituierenden Praxis alternativer Formen des Organisierens existiert wenig Forschung, wie eine Pädagogik alternativer Formen des Organisierens aussehen könnte (Cruz et al. 2017). Dies zu lehren, stellt sich insofern als Herausforderung dar, als dass generalisierende Modelle, die die Management- und Organisationslehre dominieren, zugunsten von lokal-, politisch- und zeitspezifischen Gegebenheiten abgelehnt werden (Healy 2009). Stattdessen wird entweder mit einer theoretisch-abstrakten Reflexionsebene versucht, grundlegende Prinzipien zu adressieren (siehe bspw. Daskalaki 2017) oder aber es wird durch das Sammeln und Verbreiten von Fallstudien alternativer Organisation in Archiven des „organisational Vorstellbaren“ ontologische Diversifizierung bewusst vorangetrieben (Zanoni et al. 2017). Während beides wichtige Strategien sind, um alternative Formen des Organisierens in der Management- und Organisationsforschung einen Platz einzuräumen, eigene theoretische Ansätze zu entwickeln und deren Diskurs zu verstetigen, fällt es Studierenden oft schwer eine Verbindung zur eigenen Lebenswirklichkeit herzustellen. Es stellt sich also die Frage, nach einer spezifischen Pädagogik alternativer Formen des Organisierens, die Studierende befähigt, Imagination für Veränderungsprozesse fruchtbar zu machen. Im Folgenden werden anhand der Reflexion einer Lehrveranstaltung, die zum Ziel hatte, das Potenzial, aber auch die Grenzen alternativer Organisationen auszuloten, unterschiedliche Aspekte einer solchen Lehre adressiert. Dabei werden räumlich-ästhetische Praktiken (Reckwitz 2015) als zentral für die Auseinandersetzung mit alternativen Formen des Organisierens im pädagogischen Kontext vorgeschlagen. Als Ausgangspunkt wählt dieser Beitrag daher eine Einführung in die aktuelle Forschung zu alternativen Formen des Organisierens, die zeigt, dass Raum

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in diesem Diskurs eine zentrale Rolle spielt. Die im Anschluss eingeführten Konzepte von Raum dienen dazu, ein Verständnis von Raum herauszuarbeiten, das als atmosphärisch gestimmter Raum im Zusammenspiel von Körpern und (physischem) Raum produziert, re-produziert und verändert wird. Atmosphäre wird als ‚handlungsauffordernde Umweltgegebenheit‘ (Griffero 2016) und somit organisationales Element bestimmt, das sowohl dominante Ordnung herstellen als auch Alternativen Raum geben kann. Ästhetische Praktiken werden dabei als das Setzen von Bedingungen für das Erscheinen von Atmosphären konzeptionalisiert. Die an diese theoretische Einführung anschließende Beschreibung der Lehrveranstaltung, die den Aufenthalt auf dem Gelände eines aufgegebenen Betonwerks in Brandenburg beinhaltete, für die die Studierenden Konzepte zur zukünftigen Nutzung erstellen sollten, bewegt sich entlang zweier miteinander in Beziehung stehender ästhetischer Praktiken – Ver-Ortung und Re-Komposition. Diese werden dahingehend diskutiert, in wieweit sie Raum machen für ein Imaginieren alternativer Formen des Organisierens, das bisherige Formen des Organisierens infrage stellt und neue Formen vorstellbar macht. In einer abschließenden Diskussion wird gezeigt, wie diese spezifischen ästhetischen Praktiken nicht nur einen Raum öffnen, um mit unterschiedlichen Formen von (Organisations-)Beziehungen zu experimentieren, sondern unter anderem auch der „pedagogy of placelessness“ (Kitchens 2009, S. 240) entgegnen, welche in der Management- und Organisationslehre überwiegt, indem sie dieser eine grundlegende Situiertheit entgegensetzen.

1 Raum und Körper als organisiertes und organisierendes Element Raum und räumlich-konzeptuelle Fassung spielen im Diskurs über alternative Formen des Organisierens eine durchaus zentrale Rolle. Raum erscheint sowohl als physischer und psychischer Rückzugsort (Chatterton 2010), als räumlichstrategische Praxis (Munro und Jordan 2013; Daskalaki und Kokkinidis 2017; Haug 2013), als diskursiver Raum (Rodgers et al. 2016) oder als theoretischer Zugang (Parker et al. 2007; Bittencourt-Meira 2014; Kokkinidis 2015; Hartz 2017). Diese unterschiedliche Nutzung von Raum spiegelt eine Entwicklung der Idee von Raum wider, die Raum nicht als leeren Container für Gegenstände, Praxen und Subjekte wahrnimmt, sondern Raum als zunehmend multipel, dynamisch und performativ fasst. Mit Verweis auf Lefèbvre wird Raum sowohl als Produkt einer gesellschaftlichen Ordnung als auch als Medium begriffen in dem

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gesellschaftliche Ordnung hergestellt wird (Hartz 2017). Somit geht Raum über das Physische hinaus, indem Raum (auch) als sozial hergestellt wahrgenommen wird. Dies hat zur Konsequenz, dass Raum in Abhängigkeit von seinen Produktionsprozessen gedacht und hochkomplex wird, da im Prozess der Herstellung gemeinsam mit gesellschaftlicher Ordnung auch immer ein gewisses Maß an Un-Ordnung produziert wird, welches das Potenzial von Alternativen, von Veränderung und Neuem birgt. Dafür unterscheidet Lefèbvre unterschiedliche Ebenen von Raumherstellung: der erfahrene Raum der alltäglichen räumlichen Praxis und der erdachte Repräsentationsraum, welcher durch abstrakte Darstellung und Konzeption entsteht, dienen beide der (Re-)Produktion von Ordnung. Der gelebte Raum des Ausdrucks hingegen, „ein Raum der ‚Bewohner‘ und ‚Benutzer‘ [… der] sich über den physischen Raum [legt] und […] seine Objekte symbolisch [nutzt]“ (Lefèbvre 2006, in Hartz 2017, S. 336), ist Raum „möglichen Widerstands, Aneignung und Motivation zu utopischen Veränderungen“ (Lefèbvre 2002, S. 17). Während Lefèbvres Dreiteilung durchaus dazu verleiten kann, den unterschiedlichen Räumen bestimmte Qualitäten zuzuordnen, die separat zu analysieren sind, betonen andere den prozessualen Charakter, den die immerwährende Ko-produktion von Raum und gesellschaftlicher Un-Ordnung annimmt, um ihn zu erweitern. Indem sie diesen relational verstehen, kommen sie nicht nur zu einem dezidiert performativen Verständnis von Raum. AutorInnen, die sich, wie der vorliegende Beitrag, hier verorten, erweitern Raum als (relationale) Komposition einer Mannigfaltigkeit, welche neben gebautem und gedachten Raum auch seine Geschichten, Gerüche, Farben, Licht, Texte, die Vielheit an menschlichen und nichtmenschlichen Körpern etc. als konstitutive Elemente mit einbezieht (Stewart 2007). Dies erweitert auch mögliche Praktiken der Herstellung in denen Körperlichkeit und eine körperliche Fähigkeit zur Resonanz zentral werden (Massumi 2002; Beyes und Steyaert 2012). Sie bilden bei diesem performativ-relationalen Raumverständnis eine Art Gegengewicht zu der Dominanz von Raum. Während schon Lefèbvre menschliche Körper als zentral für die Wahrnehmung von Raum erkannte, wurde diese Erkenntnis in den letzten Jahren erweitert. So konzeptualisiert beispielsweise Griffero (2014) gelebten Raum als atmosphärisch gestimmt, der im Zusammenspiel von Körpern und materieller Umwelt entsteht und affektiv wahrgenommen, beziehungsweise hergestellt wird. Affekt unterscheidet sich hierbei von Gefühl oder Emotion. Als relational hergestellte, prä-individuelle Befähigung begriffen, beschreibt Affekt eine Intensität, die in der Resonanz zwischen Körpern und ihrer materiellen Umwelt entsteht. Es ist diese affektive Wahrnehmung von körperlicher Resonanz auf Atmosphäre die erlaubt, Atmosphäre als

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organisationales Element einzuführen – Griffero (2016) nennt Atmosphäre auch handlungsauffordernde Umweltgegebenheit (siehe auch Beyes und Steyaert 2012; Biehl-Missal und Saren 2012; Gherardi 2017; Michels 2015). Dies zieht unweigerlich die Frage nach der Entstehung oder Herstellung atmosphärisch gestimmter Räume nach sich. Böhme (2013) führt dazu den Begriff der ästhetischen Arbeit ein. „Ästhetische Arbeit […] wird verstanden als die Herstellung von Atmosphären“ (S. 25) durch ein Modulieren von Materialität. Sie ist Teil eines grundlegenden Prozesses der Ästhetisierung unserer Welt (Welsch 1993; Reckwitz 2015). Bei diesem Modulieren kommt es dabei weniger auf die Herstellung eines Dings an – beispielsweise die Ausstattung eines Raums – als auf eine bestimmte Art von Resonanz, die diese Modulierung möglich macht. Ästhetische Arbeit ist somit ein Machen, „das nicht eigentlich im Herstellen eines Dinges besteht, sondern nur durch Setzen von Bedingungen das Erscheinen eines Phänomens ermöglicht. […] Das Machen von Atmosphären beschränkt sich also auf das Setzen von Bedingungen, unter denen die Atmosphäre erscheint“ (Böhme 2013, S. 105). Während diese AutorInnen Ästhetisierungsprozesse vornehmlich als Teil der Herstellungspraxis von dominant-kapitalistischer Ordnung untersuchen, die weit über eine reine Oberflächenästhetik hinaus geht (auch Welsch 1993; Reckwitz 2015), birgt die ästhetische Herstellung atmosphärisch gestimmter Räume jedoch auch kritisches Potenzial, das im Folgenden in Hinblick auf alternative Formen des Organisierens diskutiert wird.

2 Ästhetische Praktiken in einer Pädagogik von alternativen Räumen In der Management- und Organisationsforschung ist die Beschäftigung mit der ästhetisch-performativen Herstellung von Räumen, welche Alternativen zur dominanten Ordnung ermöglichen, nicht neu. Beyes (2009), zum Beispiel, nutzt Rancières (2004) Argument der Sinnlichkeit von Ordnung, um, auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Ästhetik und Politik verweisend, künstlerische Strategien der Störung der sinnlichen Ordnung des urbanen Raums auszuloten (auch Michels und Steyaert 2017). Biehl-Missal (2012) nutzt Böhmes Ästhetik, um ästhetische Strategien der Umdeutung, der Aneignung und Umwertung im Hinblick auf Marketing- und Kommunikationsstrategien zwischen Organisationen und Stakeholdern zu untersuchen (auch Biehl-Missal und Saren 2012). Berthoin Antal und Strauß (2016, 2018) adressieren ästhetische Strategien als Teil künstlerischer Interventionen innerhalb von Organisationen, die auf die Herstel-

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lung von „in-between spaces“ abzielen, die Teil von Veränderungs- und Lernprozessen sind (siehe auch Strauß 2014, 2017). Konsequenterweise muss sich auch eine Pädagogik von alternativen Formen des Organisierens, die wie hier auf einer performativen Ontologie fußt, mit der Frage nach den Bedingungen für die subversive Nutzung oder Herstellung von atmosphärisch gestimmten, gelebten Raum beschäftigen. Michels und Beyes (2016, S. 326) verweisen auf die Notwendigkeit einer ‚Politik der Atmosphäre‘ (Sloterdijk 2004), um dem erdachten und den in der nichtreflexiven alltäglichen Praxis erfahrenen Raum zu entgegnen und diese zu öffnen. Ihr Experimentieren mit möglichen Interventionen in vorhandene Lernatmosphären an einer bestimmten Business School, zielt darauf ab, Alternativen zur herkömmlichen Lehre zu schaffen. Das im Folgenden beschriebene Seminar hingegen diskutiert die Produktion von atmosphärisch gestimmten Räumen im Hinblick auf das Imaginieren von alternativen Formen des Organisierens. Das Seminar wird entlang der räumlich-ästhetischen Praktiken der VerOrtung und Re-Komposition beschrieben. Ästhetische Praktiken sind laut Reckwitz (2015, S. 25) „Praktiken, die um das Wahrnehmen in seiner Eigendynamik zentriert sind. […] [Sie] […] sind darauf aus, die Sinne zu mobilisieren und Wahrnehmungen um ihrer selbst willen hervorzulocken.“ Dies schließt professionelle Praktiken ästhetischer Arbeit nicht aus, reduziert ästhetische Praktiken aber nicht auf die Arbeit von Experten. Gleichzeitig sind die unten beschriebenen ästhetischen Praktiken keine neutralen Tätigkeiten, wie ‚Reckwitz‘ Definition nahelegen könnte. Stattdessen ist die Mobilisierung der Sinne, um Wahrnehmungen hervorzulocken, gerichtet – das heißt, sie folgt einem wenn auch sehr offenen Zweck, nämlich das Imaginieren alternativer Formen des Organisierens zu begünstigen.

3 Raum-machen für alternative Formen des Organisierens Das Masterseminar Vom Zementwerk zum Kulturpark: alternatives Organisieren zwischen Stadt und Landschaft richtete sich an Studierende der Wirtschafts- und Kulturwissenschaften, sowie an Studierende des Transformationsdesigns von zwei unterschiedlichen Universitäten in Braunschweig und Frankfurt(Oder).1

1Das

Seminar wurde von der Autorin und Professor Saskia Hebert konzipiert und in Kollaboration mit den Choreographinnen Christina Ciupke und Ayşe Orhan durchgeführt.

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Aufgabe der Studierenden war es, alternative Konzepte für die Zukunft eines alten Betonwerks in Brandenburg zu entwickeln. Physisch fand das Seminar seinen Auftakt in den Räumen der jeweiligen Universität, gefolgt von zwei Wochenenden auf dem Gelände des alten Betonwerks, welches ein Jahr zuvor von Kulturschaffenden mit dem Ziel gekauft wurde, es nachhaltig zu entwickeln. Während das erste Wochenende für Recherche und Austausch vor Ort vorgesehen war, war das zweite Wochenende für die Fertigstellung und Präsentation der Konzepte für die Entwicklung des Geländes geplant. Zwischen den beiden Terminen lagen mehrere Wochen, in denen die Studierenden ihre Zusammenarbeit aufgrund der großen räumlichen Distanz zwischen den Universitäten (350 km) virtuell gestalten mussten, um Ideen zu konkretisieren und in eine Präsentationsform zu gießen. Konzeptuell spannte sich das Seminar zwischen alternativen Formen des Organisierens und Zukunftsdesign auf. Die Ansprüche an die Studierenden oszillierten zwischen dem praxisbezogenen Bedarf der Kulturschaffenden, die das Gelände entwickeln wollten, und den theoretisch-reflexiven, aber auch prüfungsrelevanten Anforderungen der universitären Lehre. Da diese Vielzahl an Räumen, Resonanzkörpern und ihre gegenseitige Beeinflussung notwendigerweise einen Überfluss generiert, der zu reich ist, um abschließend beschrieben werden zu können (Thrift 2004; Beyes und Steyaert 2012), werde ich im Folgenden einige wenige Aspekte herausgreifen und im Hinblick auf die Lehre von alternativen Organisationen reflektieren, ohne dass dadurch der Anspruch an Vollständigkeit gestellt werden soll. Dafür greife ich auf eine umfassende Dokumentation des Seminars zurück, die Studierende, Lehrende sowie verschiedene interne und externe Hilfskräfte während des Seminars produzierten. Dazu gehör Bildmaterial von aktiven Lernund geselligen Teilen der Lehrveranstaltung, die unter anderem die Studierenden und Co-Lehrenden der Autorin zur Verfügung stellten, Audioaufnahmen der Reflexionsrunden, die nach jedem Teil des Seminars stattfanden, und Videoaufnahmen der performativen Teile des Seminars. Des Weiteren führte eine der Workshop-Leiterinnen – eine Performance-Künstlerin – unmittelbar nach dem Seminar mit allen teilnehmenden Studierenden Kurzinterviews, in dem sie ihre Erlebnisse reflektieren konnten. Ver-Orten: der materiell-diskursive Raum Der erste Teil des Seminars fokussierte auf Wissensgewinnung – sowohl theoretisch als auch praktisch. Nachdem die Studierenden in den Räumen ihrer jeweiligen Universität eine Einführung in das Seminar, die Erwartungen, Herausforderungen und Vorstellung der anderen Teilnehmern erhalten hatten, trafen sich

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15 Studierende an einem Freitagmorgen auf dem Gelände des Betonwerks, um ein Wochenende lang den Ort zu erforschen, für den sie eine neue Zukunft denken sollten. Für den ersten Tag brachten die Studierenden management- und organisationstheoretische Beiträge zu alternativen Formen des Organisierens mit. Sie stellten unterschiedliche, relevante Konzepte vor, wie beispielsweise Ethos als intrinsischer Handlungsmaßstab von Gruppen als Alternative zu externer Kontrolle, demokratische Organisationsstrukturen, wie Heterarchie oder aber Fragen zu (Anti-)Leadership in sozialen Bewegungen. Die Studierenden des Transformationsdesigns hingegen präsentierten Beispiele für Alternativen, die von praktischen Experimenten bis ins Fantastische reichten, wie etwa Buckminster Fullers World Game.2 Diese wurden mit dem Rest der Teilnehmenden und auch Gästen in Form von Kurzreferaten geteilt und als Poster an den Wänden über das gesamte Seminar zugänglich gemacht. Sie dienten nicht nur als thematische Setzung für das Seminar, sondern auch als wichtige Wissensressource zu grundlegenden Fragen alternativen Formen des Organisierens. Narratives Ver-Orten Die Studierenden begannen zunächst mit einer narrativen Exploration des Ortes. Dafür trafen sie auf unterschiedliche Anwohner, Ortsvorsteher, Besitzer des Geländes, aber auch Vertreter von zuständigen Behörden und Vereinen, wie des Tourismusverbandes oder des Naturparks, in dem sich das Gelände befand, um auf gemeinsamen Spaziergängen auf dem Gelände und seiner unmittelbaren Umgebung mehr über die Geschichte des Ortes aber auch über Pläne und Wünsche zu erfahren (Abb. 1). Als zusätzliche Aufgabe sammelten die Studierenden während der Spaziergänge kleine Gegenstände und Materialien, die sie interessant fanden oder die symbolisch für einen interessanten Ort, eine interessante Geschichte, eine interessante Erfahrung,

2Das

World Game, das manchmal auch World Peace Game genannt wird, wurde 1961 von dem U.S. amerikanischen Architekten, Konstrukteur, Visionär und Philosophen Buckminster Fuller als (pädagogische) Simulation entwickelt, um Lösungen gegen die ungleiche Verteilung von Ressourcen zu finden. Die verschiedenen Szenarien, mit denen sich die Spieler auseinandersetzen müssen, verlangen eine holistische, globale Perspektive, „[to] make the world work for 100 % of humanity in the shortest possible time through spontaneous cooperation without ecological damage or disadvantage to anyone“ (Buckminster Fuller Institute, n. d.).

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Abb. 1   Explorativer Spaziergang mit Anwohnern auf dem Gelände der Zementfabrik. (Bild: Christina Ciupke)

etc. standen (Abb. 2). Diese Erzähl-Spaziergänge verorteten zum einen die Betonfabrik zeitlich – sie entstand zu Zeiten der DDR und war in Betrieb bis kurz vor dem Kauf durch die Kulturschaffenden. Zum anderen stellten sie wichtige räumliche Bezüge zu anderen Orten in der Umgebung her, wie beispielsweise zum Naturpark, in dem das Betonwerk lag. Des Weiteren versahen sie diese Bezüge mit Bedeutung, wie beispielsweise die Beziehung zu dem unmittelbar angrenzenden Kinderheim, für das das Betonwerk während der Zeit der DDR und kurz nach der Wende eine wichtige Ausbildungs- und Arbeitsstätte war. Diese narrative Exploration war Teil eines vielschichtigen Prozesses der Ver-Ortung, der die Historizität und die bereits existierenden, komplexen Bedeutungszusammenhänge des Betonwerks anerkannte, statt das Gelände als leere, beliebig beschreibbare Fläche wahrzunehmen. Dieses Vorgehen öffnete den Teilnehmern des Seminars das Gelände als Raum (oder besser als vielschichtige Räum-ung), der sozial produziert und schon eine Geschichte (als zeitliche Schichtung) gelebten Raums aufwies, der in den zahlreichen, aktuell gelebten

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Abb. 2   Die bei den Spaziergängen generierte Materialsammlung. (Bild: Saskia Hebert)

Um-Räumen in komplexen Verhältnissen aktualisiert wurde. Obwohl das Betonwerk brach lag, war es doch ein wichtiger Bezugspunkt für Erwartungen, Ängste, Hoffnungen und Wünsche, die den Studierenden in unterschiedlichen Erzählungen begegneten. Dies spiegelte sich beispielsweise im Wunsch vieler Anwohner und kommunalen Interessensvertreter nach einer (ansonsten nicht weiter spezifizierten) Gastronomie. Während „die Gastro“ während des Seminars langsam zu einem running gag avancierte, entpuppte sich diese Wunscherwartung als Knotenpunkt, der seine Intensität dadurch erhielt, dass er in Narrativen von unterschiedlichen Um-Räumen vorkam (beispielsweise als Ort im Nationalpark, der Radtouristen versorgt, als Ort im umliegenden Dorf, der diesem wieder Lebendigkeit zurückgibt, als Ort im ländlichen Raum, welcher den aus der Stadt Zugezogenen kulinarische Erlebnisse und Geselligkeit bietet). Dieser narrative Zugang zu dem Ort begann die Studierenden für die Komplexität von Raum zu sensibilisieren, dessen Fülle teilweise ein gewisses Maß an Überforderung barg. Sinnliches Ver-Orten Der zweite Tag diente einer explizit sinnlichen Erschließung des Orts. In einem Workshop mit zwei Performance Künstlerinnen waren die Studierenden eingeladen,

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in unterschiedlichen somatischen Übungen sowohl den physischen Raum als auch den zwischenmenschlichen Raum zu erkunden. Im Zentrum dieser Übungen stand das körperliche Bewegen im Raum, das mit individuellem Bewegen begann, über durch Blickkontakt und körperlich hergestelltes gemeinsames Bewegen im Raum ging und in einer Exploration des Raums mit geschlossenen Augen mündete. Hierfür bewegten sich die Studierenden in Paaren im Raum. Während eine Person dies mit geschlossenen Augen tat, wurde sie jeweils von einer sehenden Person geführt. Dies lenkte die Aufmerksamkeit nicht nur auf das Bewegen im Raum sondern vor allem auf das Zusammenspiel zweier Körper, die sich miteinander im Raum bewegen und aufeinander reagieren. Später bewegte sich die ‚blinde‘ Person eigenständig und nur noch begleitet im Raum. Die begleitende Person trat nur im Ernstfall in Körperkontakt mit der ‚blinden‘ Person, um vor etwaigen Verletzungen zu schützen. Das freie Bewegen im Raum mit geschlossenen Augen führte nicht nur zu einer gesteigerten Intensität sinnlicher Erfahrung im Raum. Eine Teilnehmerin beschrieb beispielsweise ihre Erfahrungen mit Licht: „Da gab es diesen Moment eines Schattenwurf und ich bin sofort stehengeblieben [macht eine zurückschreckende Bewegung].“3 Für eine andere trat Hörbares in den Vordergrund: „Ich fand es interessant, wie sehr ich von Hörbarem, von lauten Geräuschen angezogen wurde und wie schwer es war, im Gehen Stille zu finden. Geräusch war immer vorhanden, es gab keinen Ort, an dem kein Geräusch war.“ Sie führte auch zu Raumerfahrungen, die im engen Zusammenhang mit einer performativen Konzeptionalisierung von Raum steht, die Beyes und Steyaert (2012) ‚spacing‘ nennen. „Du [die Workshopleitung] sagtest, dass wir uns nur merken sollten, wo wir hingehen wollen, aber ich dachte [während des Gehens], ich kenn diesen Raum überhaupt nicht, ich weiß also gar nicht, wo ich hingehen soll [andere nicken zustimmend]. Es war ein wenig als ob der Raum selbst sich erst beim Gehen entwickelt.“ Eine andere fügte hinzu: „Ja, es war kein Hin-gehen, sondern ein Er-gehen“ Der daran anschließende, paarweise Spaziergang über das Gelände mit der choreografischen Anweisung „observe what needs to be observed“ öffnete den gestärkten Wahrnehmungsmodus, in dem sich die Studierenden befanden, zum gesamten Gelände des alten Betonwerks hin (Abb. 3). Diese Übungen w ­ eisen durchaus Ähnlichkeiten mit Techniken der Situationisten wie dem dérive auf, welche die aktive Involviertheit zwischen Selbst und Raum in den Fokus nimmt und

3Da

entgegen dem Rest der Lehrveranstaltung dieser Workshop auf Englisch abgehalten wurde, handelt es sich bei den Zitaten um Übersetzungen der Autorin.

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die in der kritischen Management- und Organisationsforschung als s­ubversive Technik adressiert wird, um der fortschreitenden Kommerzialisierung urbaner Räume zu entgegnen und eine alternative Vorstellung von der Organisation von Stadt zu entwickeln (Beyes und Steyaert 2015). Jedoch besteht der U ­ nterschied in dieser Übung an diesem Punkt darin, dass im Gegensatz zum urbanen Raum, welcher sich mit seinen Ereignissen, andauernden Interaktionen, Verhandlungen, Gerüchen, Geräuschen, Bewegungen quasi aufdrängt, der vergleichsweise verlassene Raum in ländlicher Umgebung eine schärfere sinnlich-körperliche Wahrnehmungsgabe benötigte. Die Stärkung der sinnlichen Wahrnehmung, die nicht nur auf die Vielschichtigkeit des gebauten Raums, sondern vor allem auf die Raumresonanz mit der eigenen körperlichen Verfasstheit und Interaktion mit Materialität fokussiert, hätte im städtischen Umfeld, wie eine der Lehrenden bemerkte, schnell zu Überforderung geführt. So begannen viele der Studierenden nach einiger Zeit, sich sehr intensiv mit den Details des Betonwerks auseinanderzusetzen, wie eine Teilnehmende bemerkte: „Was ich interessant fand, war, wie Viele eigentlich auf Dinge verwiesen oder

Abb. 3   Körperlich-sinnliche Erschließung des Raums

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betasteten, die sehr klein waren (Abb. 4). Es war, als ob sie sich den Raum hier sinnlich erschließen, in dem sie seine Details heranzoomen und nicht versuchten, alles überblickhaft einzufangen, sondern sich auf die kleinen und kleinsten Dinge zu fokussieren, um den Raum zu verstehen.“ Die sinnlichen Erkundungen des Geländes wurden anschließend mit dem Rest der Gruppe ohne Zuhilfenahme von Worten geteilt. Dies stellte für die Studierenden die größte Herausforderung des Tages dar, da ihnen die (scheinbare) Effizienz und Eindeutigkeit von verbaler Kommunikation verwehrt blieb. Die Entselbstverständlichung von verbaler Kommunikation lenkte die Aufmerksamkeit auf Formen der Kommunikation, die sonst eher unbewusst wahrgenommen werden, wie beispielsweise die durch Böhme (2013) und andere beschriebenen Atmosphären. Diese Übung ermöglichte somit die vermehrt kognitiven und theoretischen Arten von Wissen, die verbal geteilt werden und den ersten Tag dominierten, um ästhetisch-räumliche Sinnlichkeit zu erweitern. Die Unterbindung von verbaler Kommunikation warf die Studierenden auf ihre körperliche Präsenz zurück, wie eine der Studierenden reflektierte: „Nicht alles ist mit Worten erfassbar, haben wir realisiert,

Abb. 4   Sinnliches Erkunden des Geländes – Detailbetrachtungen

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sondern dass wie wir uns im Raum bewegen, interagieren und Körpersprache nutzen, manchmal mehr bedeutet als Wörter und auch wie man Raum durch ein darin Bewegen ganz anders wahrnimmt als durch verbale Beschreibung.“ Es führte beispielsweise auch dazu, dass die Studierenden weitere sinnliche Dimensionen des Geländes entdeckten, wie etwa das Geräusch, welches der überall vorhandene Sand und Betonstaub machte, der über befestigten Böden in den Hallen und den Außenanlagen rieb, wenn man darüber ging. Diese ästhetischen Praktiken der Ver-Ortung führten schließlich dazu, dass nicht nur die Vielschichtigkeit von Raum erfahren wurde, sondern vor allem die konstant-performative Herstellung von gelebtem Raum in Interaktion zwischen gebautem Raum, der Materialität seiner Umgebung und körperlicher Resonanz. Raum wurde als etwas begriffen, was im ständigen Entstehen ist – als etwas, was nicht unabhängig von der eigenen (körperlichen) Verfasstheit entsteht, sondern in Resonanz mit dem eigenen Körper und denen der anderen. So reflektierte einer der Studierenden: „Ich fand es wirklich interessant, wie viel man an einem Ort, der leer zu sein scheint, machen kann. […] Wenn man an dem Punkt ist, an dem man realisiert, dass [entgegen des ersten Eindrucks] ziemlich viel um einem herum passiert – durch die Vögel, die Natur, durch Sound, durch Bewegen, dann kann man zu dem Schluss kommen – und vielleicht übertreibe ich hier auch ein wenig –, dass man vielleicht nicht so viel im Leben braucht, dass weniger mehr ist. Aber zu dieser Erkenntnis kann man nur kommen, wenn man da war und das wirklich fühlen konnte, wie es war, in einem scheinbar leeren Raum zu kommen und dann anzufangen, seine Füße zu bewegen und mit seinen Händen die Wand zu berühren. Und ich glaube, [diese Erfahrung] kann eine Linse sein, durch die man mehr mit sich selbst in Berührung kommt und das könnte auch interessant für unser weiteres Vorgehen sein.“

Eine Andere pflichtete ihm bei: „Ich stimme dir völlig zu und würde ergänzen, dass ich auch realisiert habe, dass das Soziale – die Menschen – sehr viel wichtiger sind als jegliches Zusatzmaterial. Stell dir doch nur einmal vor, wie es wäre, wenn du alleine gewesen wärst. Dann wäre das nicht passiert. Aber wir waren so viele und wir sind miteinander in Kontakt getreten.“ Ver-Ortung als grundlegende Beziehungshaftigkeit Die unterschiedlichen ästhetischen und narrativen Praktiken der Ver-Ortung ließ die Studierenden Raum als etwas wahrnehmen, was nicht nur produziert und ständig im Wandel befindlich ist, sondern auch als etwas, was geografisch, zeitlich und sozial verortet ist. Diese grundsätzliche Bezogenheit machte die Beziehungshaftigkeit des Ortes als konstituierendes Element wahrnehmbar und

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übersetzte sich auch in die unterschiedlichen Konzepte, die die Studierenden für die zukünftige Nutzung des Geländes entwickelten. Insgesamt fünf Konzepte erarbeiteten die Studierenden über einen Zeitraum von sechs Wochen. Alle Konzepte entstanden aus der gemachten körperlichen Erfahrung mit Raum und dessen Materialität und griffen auch auf die bereits gehörten Narrative der Vergangenheit und Wünsche unterschiedlicher Interessensgruppen zurück, wie eine Studierende reflektiert: „…unser Projekt hat einen unheimlich starken Bezug zur Räumlichkeit in jeder Form. Zum einen wenn man sich die Ideale [unseres Konzepts] anguckt, was Naturverträglichkeit, Nachhaltigkeit [angeht] die klar [der Verortung im] Naturpark [geschuldet] sind – deshalb sind wir darauf gekommen. Wieso eigentlich Handwerk? Naja, hier rundherum gibt es nicht viel Industrie. Was gibt es hier eigentlich? Handwerk und kleine, mittelständische Unternehmen. Und auch die Geschichte des Betonwerks an sich, wozu wurde das gebaut? Was hat hier eigentlich stattgefunden?“

Solch grundlegende Beziehungshaftigkeit bezog jedoch nicht nur die zeitlichen, räumlichen und sozialen Gegebenheiten des Betonwerks mit ein. Ein Großteil der Konzepte beschäftigte sich dezidiert mit Fragen von Gemeinschaft und sozialem Miteinander. So wurde beispielsweise das Konzept Um-Denkfabrik ganz bewusst als Zentrum für Diversität und Anti-diskriminierung in Brandenburg entworfen, um „besonders wiederkehrende Wirkungsweisen und Rahmenbedingungen infrage zu stellen, [dabei nicht zu] versuchen, Einzelpersonen zu optimieren, sondern einander zu verstehen und zu lernen.“ Neben klassischen Workshop- und Lehrformaten zu Themen wie Diversität und Anti-Diskriminierung, sah das Konzept auch ein Restaurant vor, das das große Potenzial von Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Menschen mit z. B. Zuwanderungshintergrund stärker ins öffentliche „Bewusstsein rücken [will]“. Dies, so das Konzept, solle über innovative Gerichte geschehen, die durch die Kombination unterschiedlicher Küchen „in unserem Workshop ‚Köche aus aller Welt – Fremdessen in [Brandenburg]‘“ entstehen, um den Gästen den Genuss von Diversität näher zu bringen. Das Konzept Sonnenoase hingegen beschäftigte vor allem die Größe des Geländes der alten Betonfabrik, die eine Vielzahl kleinerer Initiativen und Gewerbe wahrscheinlich erscheinen ließ. Hier sahen die Studierenden den Bedarf, diese unterschiedlichen Initiativen, Projekte und Gewerbe miteinander zu verknüpfen. Das Konzept sah vor, einen Ort „für das soziale Miteinander“ zu schaffen, an dem über die einzelnen Initiativen hinaus Gemeinschaft entstehen könne, der aber auch einen Kontaktpunkt mit der (Dorf-)Gemeinschaft drum herum böte. Dabei war eine Vertrauenskasse für Getränke genauso vorgesehen,

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wie eine Entscheidungsstruktur, die neben den Mitgliedern des alten Betonwerks auch engagierte Externe mit einbezieht. Andere hatten mit ihren Konzepten begonnen, soziale Beziehungen durch eine grundlegende Beziehung zur unmittelbaren Umgebung – also der Natur und ihren nicht-menschlichen Lebewesen – zu erweitern. So war Teil des Konzepts Das Werk ein multifunktionales Gebäude, welches auch zur Vermietung vorgesehen war, das eine Architektur besaß, die „eine perfekte Interaktion von Innen und Außen ermöglicht. Das Dach bietet […] einen mit vielen regionalen Pflanzen angelegten Garten, in dem man entspannen und den Ausblick auf den Naturpark bis hin nach Polen genießen kann.“ Hintergrund war die Überlegung einer Studierenden, dass es „nicht nur zwischen Menschen und Menschen [eine Gemeinschaft gibt], sondern auch zwischen Menschen und ihrer Umgebung und der Natur. Und wenn man die Landschaft genießt und die Umgebung gut versteht, dann kann man dazugewinnen, gute Laune [bekommen] und ich denke, das ist auch eine Voraussetzung für die Weiterentwicklung zwischen Menschen und Menschen.“ Das Experimentieren mit ästhetisch-räumlichen Praktiken der Ver-Ortung hat die Studierenden nicht nur für die Komplexität eines Ortes sensibilisiert, der zunächst leer und willkürlich beschreibbar erschien. Diese ästhetischen Praktiken der Verortung produzierten, wie Thrift (2006, S. 140) es nennt, „a-whereness“ – eine Sensibilität für den Kontext, in dem man sich befindet. Eine solche a-whereness ist fundamental wichtig für eine Form der Imagination, die – anders als beispielsweise die dominant-neoliberale Vorstellung, die Welt einer homogenisierenden Marktlogik unterwerfen zu können – nicht a-historisch und ortlos, sondern eingebettet ist. Die daraufhin erstellten Konzepte für die zukünftige Nutzung des Areals entwickelten ihre jeweiligen Vorstellungen aus dem heraus, was ist. In anderen Worten, statt gelebten Raum unter den erdachten zu subsumieren, war der gelebte Raum Quelle für erdachte Konzepte. Gleichzeitig dienten die verschiedenen ästhetisch-räumlichen Praktiken auch dazu, ein performatives Verständnis von Raum zu entwickeln, das in der Resonanz zwischen Körpern (dem eigenen und den der anderen), der Materialität der Umgebung aber auch Geräuschen, Gerüchen, Geschichten, Wünschen, Plänen, etc. entsteht und sich verändert. Dieses Verständnis betonte – wie gezeigt – die grundsätzliche Beziehungshaftigkeit unserer Existenz. Ohne direkte Kausalität behaupten zu wollen, fiel doch auf, dass in den darauf entwickelten Konzepten Gemeinschaft, nicht Marktbeziehungen, im Vordergrund standen. Unternehmerische Elemente der Konzepte (wie bspw. Vermietung und Verpachtung oder das Betreiben einer Bar) waren dezidiert für Aufbau, Entwicklung und Erhalt von Gemeinschaften vorgesehen.

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Re-Komposition: imaginär-gelebte Vorstellungs-Räume Neben ästhetischen Praktiken der Ver-Ortung spielte auch die Praktik der Re-Komposition eine zentrale Rolle, in dem hier die jeweiligen Elemente der narrativen und sinnlichen Exploration des Geländes (Beyes und Michels 2011) experimentell zusammengebracht und für das Imaginieren möglicher Zukünfte hin geöffnet wurden. Nachdem die Studierenden sich narrativ und sinnlich auf dem Gelände des Betonwerks ver-ortet hatten, wurden sie gebeten, sich in Paaren drei interessante Gegenstände oder Materialien auszusuchen, die sie über die Zeit auf und um das Gelände gesammelt hatten. Aus diesen Gegenständen sollten sie nun ein Narrativ über eine Zukunft des Geländes konstruieren. Während die narrative Rahmung frei erfunden werden konnte, waren die materiellen Elemente, aus der die Komposition bestand, nicht beliebig, sondern konstitutiv mit dem Ort verbunden, an dem sich die Studierenden befanden. Dies ging über eine rein physische Zugehörigkeit der Materialien zu dem Betonwerk hinaus, da die gesammelten Materialien, anhand derer sie ihre Narrative formten, schon während der Phase des sich Ver-Ortens mit Bedeutung aufgeladen wurden, in dem sie immer auch exemplarisch für eine Geschichte, einen Fakt, einen Einfall, etwas Interessantes, etc. standen. Diese Zukunftsnarrative wurden somit nicht ex nihilo produziert, sondern entstanden aus schon Vorhandenem. Nachdem die Studierenden neue Narrative für das Gelände entwickelt hatten, sollten sie einen Ort für ihr jeweiliges Narrativ auf dem Gelände finden. Bei einem darauf folgenden Spaziergang mit allen Studierenden und auch der interessierten Öffentlichkeit besuchten die Teilnehmenden die Orte der jeweiligen Narrative, deren Charakter von pragmatisch (wie etwa die Weiterentwicklung eines Betonmischanlagenturms in eine Kletterwand) bis fantastisch (die Geschichte aus Sicht eines Gegenstandes, wie etwa dem eines Nagels, erzählt) reichten. Das jeweilige Narrativ zu hören, während man sich am Ort des (zukünftigen) Geschehens befand, trug zum ersten Re-framing des Geländes bei, und somit zu einer Öffnung des bis dato eher in der Vergangenheit existierenden Raumes. Am Ende des ersten Wochenendes extrahierten die Studierenden aus den Narrativen Themen und entschieden, was sie in welchen Gruppen zu Zukunftskonzepten weiter entwickeln wollten. Nach sechs Wochen sollten die Studierenden ihre jeweiligen Konzepte vorstellen. Anstatt jedoch die Konzepte in einer klassischen Präsentation zu zeigen, waren sie angehalten, ihre Zukunft zu inszenieren und im Rahmen eines letzten Spaziergangs über das Gelände für eine interessierte Öffentlichkeit und den neuen Besitzern des Geländes erfahrbar zu machen. Dafür arbeiteten alle Studierenden an einem Arrangement von Raum, seiner materiellen Ausgestaltung und darin stattfindenden performativen Handlungen,

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dessen notwendige Detailarbeit von den Studierenden in der anschließenden Reflexion adressiert wurde: „Der Aufbau oder die Vorbereitungen waren ziemlich surreal, […] es war für mich eine außergewöhnliche Erfahrung, dass ich in einem staubigen Betonwerk ausgerechnet einen Staubsauger raushole, um den Boden zu saugen.“ Gleichzeitig wurde ihnen auch bewusst, dass Komposition zwar unterschiedliche Formen annehmen, aber nicht beliebig sein kann, und dass innerhalb von ästhetischen Praktiken der Komposition der eigene Körper als Resonanzraum genutzt wird, um die Stimmigkeit des so atmosphärisch gestimmten Raums zu überprüfen: „Vorher wirkte es so ‚ok jetzt steht hier dieser Tisch mit der Installation drauf‘ und als wir dann diese kleine Erhöhung […] in eine Bühne umfunktionierten, fand ich, wirkte der Raum irgendwie zusammengehöriger […], wie eins.“ Und eine zweite Teilnehmerin ergänzte: „zum ersten Mal hatte [der Raum] einen Sinn und einen greifbaren Charakter … also schon allein, was diese Bühne ausgemacht hat, die wir da in diese [leeren Halle] gestellt haben, das fand ich wahnsinnig, das hat auch diese ganze Skulptur verändert. Davor waren es halt ein paar Pappkisten mit Gegenständen dran, das wars. Und dann wird es irgendwie lebendig“.

An diesem Punkt wurden die unterschiedlichen ästhetischen Praktiken des Ver-Ortens in ästhetische Praktiken der Re-Komposition überführt, die darauf ausgerichtet waren, einen atmosphärischen Raum zu gestalten, der die Teilnehmenden an dem Spaziergang zu einem gemeinsamen Imaginieren und damit am gemeinsamen Weitergestalten des Vorstellbaren einlädt, statt ein Zukunftsszenario fest zu legen (Abb. 5). Dabei umfasste die Re-Komposition nicht nur die ästhetische Bearbeitung von physisch-materiellem Raum. Zukunftsnarrative enthielten auch Eingang in die jeweilige Inszenierung durch Versprachlichung, wobei ähnlich wie bei dem Workshop mit den zwei Performance-Künstlerinnen Sprache nicht genutzt wurde, um über eine mögliche Zukunft zu reden. Sprache wurde performativ genutzt, um sie Teil einer Situation in der Zukunft werden zu lassen. Beispielsweise begrüßte einer der Studierenden die Teilnehmenden des Spaziergangs mit dem Worten: „Herzlich willkommen, es ist der 23.08.2019 und wir haben zwei Jahre hart gearbeitet, damit wir [die Sonnenoase] wie die anderen Projekte hier auf dem Gelände des Kulturparks, heute […] eröffnen können“. Andere Studierende hatten Flyer für ein fiktives Workshop-Programm designt, die sie verteilten. Eine der Lehrenden kommentierte am Ende einen der gestalteten Räume folgendermaßen: „bei dieser Installation fand ich das besonders eindrücklich, wie einfach das eigentlich ist, die Leute zum Imaginieren einzuladen. Das macht

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Abb. 5   Co-Imaginieren einer möglichen Zukunft – die Sonnenoase

nämlich jeder.“ Diese Einladung zur Co-Imagination stieß auf eine solche Resonanz bei den interessierten Externen, dass die Grenzen zwischen imaginierter und existierender Zukunft verschwamm, wie eine Externe am Ende des Seminars bemerkte: „Wir haben gestern sehr viel darüber geredet, wie eigentlich Leute darauf reagiert haben, also dass sich beispielsweise Leute bei euch für den Workshop eintragen wollten und total überrascht waren, dass es den nicht gibt.“ Die gemeinsame Performanz einer möglichen Zukunft trug auch dazu bei, dass bei einer darauffolgenden Versammlung, in dem alle Teilnehmenden – Studierende und Interessierte – über die vorgestellten Zukünfte diskutierten, eine Atmosphäre der Öffnung herrschte. Diese legte ein gemeinsames Weiterdenken der Konzepte oder die Auseinandersetzung mit bestimmten Aspekten oder der eigenen Einstellung nahe. Beispielsweise bemerkte eine Teilnehmende: „mich hat es gefreut, dass so viele junge Leute hier tolle Ideen haben. Ich [hatte nämlich] tatsächlich geglaubt, dass Gewinnerzielung die Idee dahinter ist, weil ich das Gefühl habe, dass diejenigen die jünger sind, viel mehr in dieser Welt aufgewachsen sind, in der es nur um Geld machen geht und die verlernt haben zu kapieren, dass Profit nicht unbedingt Geld ist, sondern dass man durch eine Stimmung

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oder durch eine Vernetzung zu seinem Umfeld ganz viel selber profitieren kann. Und ich find es toll, dass so viele junge Leute das so anders dargestellt haben.“

In dieser Atmosphäre hinterlegten zahlreiche Besucher ihre Kontaktdaten, um sich an der eventuellen Umsetzung dieser Ideen zu beteiligen. Dieser Abschnitt legt nahe, dass handlungsauffordernde Gegebenheiten, wie Griffero (2016) Atmosphären nennt, nicht nur Verhaltensweisen begünstigen, die im Sinne des dominant-kapitalistischen Systems sind, wie beispielsweise Böhme (2016) für Konsumverhalten zeigt, sondern auch, das gemeinsame Imaginieren von (alternativen) Zukünften unterstützen können. Jedoch kann weder ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen Atmosphäre und Handlung hergestellt, noch Atmosphäre als stabil und unveränderbar angesehen werden. Am Ende der Diskussion, beispielsweise, reagierte eine Teilnehmerin, anders als die meisten, auf die von den Studierenden gestalteten handlungsauffordernden Umweltgegebenheiten mit Abwehr und stellte laut die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens infrage. Dies führte zu einer Veränderung in der Atmosphäre, die eine der Studierenden folgendermaßen beschrieb: „plötzlich standen [wir alle] wie Prüflinge vor einer Kommission“. Atmosphären sind nicht einfach herzustellen, manipulierbar und stabil, sondern sind temporäre Resultate eines konstanten Resonanz-Prozesses zwischen Körpern und ihrer jeweiligen Umgebung. Es war dieser plötzliche Umschwung, der den Studierenden somit die grundlegende Abhängigkeit atmosphärisch gestimmter Räume von anderen, die sich darauf einlassen, vermittelte. Reflexion alternativer Formen des Organisierens Das Seminar endete mit einer Abschlussreflexion, in der die Studierenden ihre Erfahrungen hinsichtlich unterschiedlicher, in der Literatur zu alternativen Formen des Organisierens vorkommender, abstrakter Konzepte reflektierten, wie hier exemplarisch für Autonomie und Gemeinschaft gezeigt wird. Hier wurde deutlich, dass einerseits die Vielschichtigkeit und Komplexität des Seminars geschätzt wurde: „…was ich ganz interessant finde, ist eigentlich die Autonomie des Denkens, dass wir ein bisschen rauskommen aus den typischen Mustern. Jedes [typische] Business Projekt wäre gewesen: schreib mal einen Businessplan… und dann willst du eine GmbH gründen und dann gehst du zur Bank und kriegst einen Kredit und dann machst du ganz viel Gewinn mit deinem Projekt. Und hier ist es halt mal komplett in eine andere Richtung gedacht – ein bisschen raus aus dem System, das überall vorherrscht.“

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Es wurde aber auch die Widersprüchlichkeit deutlich, die ein Abweichen von der scheinbaren Klarheit und Normiertheit von dominanten Management- und Organisationskonzepten mit sich bringt. Beispielsweise wurden die von Parker et al. (2014) postulierten Prinzipien von alternativen Formen des Organisierens – (persönliche) Autonomie, (Sinn für) Gemeinschaft und Verantwortung – problematisiert. Autonomie, beispielsweise wurde mit Bezug auf verschiedene Formen der Unabhängigkeit diskutiert, wie eine Studierende ihr Projekt im Gespräch mit anderen reflektierte: „Wir hatten überlegt im Bezug auf unser Projekt, dass Autonomie eher als Aufruf zur Eigenständigkeit gesehen werden soll. Uns geht es ja darum, den Leuten Raum zu geben, um sich auszuprobieren und einfach zu machen.“ „Also vielleicht ein bisschen emanzipatorisch gemeint?“ „Ich finde, emanzipatorisch klingt ein bisschen nach ‚wir distanzieren uns von etwas‘ und darum geht es bei unserem Projekt nicht.“ „Empowerment vielleicht.“ „Es ist genau nicht diese [vom neoliberalen Diskurs als Autonomie postulierte] Individualisierung, sondern in diesem Projekten [geht es darum] Verknüpfungen herzustellen, […] Raum für andere zu geben […] und dann heißt Autonomie nämlich nicht ‚ich distanziere mich von etwas‘, sondern ‚ich stelle andere Verknüpfungen her‘.“ […] „Community als Voraussetzung für Autonomie.“

Eine solch nuancierte Diskussion des Begriffs Autonomie zeigt, dass sich die Studierenden darüber bewusst sind, dass der Begriff der Autonomie, der beispielsweise von Parker et al. (2014) als zentral für alternative Formen des Organisierens angesehen wird, auch innerhalb von dominant-kapitalistischen Systemen operationalisiert werden kann. Diese Begriffe können somit nicht als grundlegend alternativ angenommen werden, sondern müssen jeweils situiert betrachtet und verhandelt werden, ähnlich wie Kostera (2014) das für die Wiederaneignung von etablierten Managementkonzepten für Selbst-Organisation und Selbst-Management vorschlägt. Gemeinschaft [Community] hingegen wurde im Hinblick auf das Spannungsfeld thematisiert, das sich zwischen Abgrenzung und Inklusion auftut, innerhalb

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dessen verhandelt werden muss, wer wie wann warum zugehörig ist oder nicht und in welchen Abstufungen. Diese zeigte sich deutlich bei der Frage nach Entscheidungsstrukturen, die die Studierenden für ihre jeweiligen Projekte wählen sollten. „Ich fand ganz interessant, dass diese Frage ‚wer ist denn jetzt die Community?‘ bei euch aufkam. In eurer Entscheidungsstruktur ist das ja auch abgebildet. Es gibt eine Community, die sich mit beteiligt und die haben ein anderes Stimmrecht [als alle anderen].“ „Ich denke Community ist super wichtig als Motivationsfaktor, weil bei fast allen unseren Projekten das klassische Gewinnmaximierungsprinzip wegfällt und was motiviert dann die Leute überhaupt hier mit zu machen? Eine Gemeinschaft zu haben und mit den Menschen in Kontakt zu treten, ist, glaube ich, ein großer Motivator, dass die Leute auch längerfristig hier bleiben und sich weiterhin beteiligen.“ „Jede Gemeinschaft schließt ja bestimmte Menschen ein, Mitglieder, und hat immer auch ein Außen. Also ich kann eine Gemeinschaft immer von innen und von außen sehen.“ Bei dieser Community Geschichte ist es ja vor allem diese geteilte Gemeinschaft, die von denen, die das machen angestrebt wird. Und wie macht man so etwas, dass man das offen und integrativ macht und nicht so wirkt wie ‚also wir haben jetzt hier unsere Community und ey du passt da jetzt echt nicht rein‘. Das finde ich eine ganz spannende Frage, weil das Gelände so groß ist, dass man sich eigentlich gar keine Community vorstellt, die nicht, wenn sie das alles belegt, furchterregend wird.

Die Notwendigkeit, Entscheidungen – beispielsweise über Strukturen – zu treffen, für die kein vorgegebenes Modell existiert, brachte die Studierenden in die Verantwortung für diese Strukturen. Es zeigte, dass entgegen den Bestrebungen von dominanter Management- und Organisationslehre, Organisationsformen und Managementtechniken als neutrale Praxen erscheinen zu lassen, die Entscheidungen über diese Strukturen immer politisch sind, indem sie beispielsweise über Ein- und Ausschluss entscheiden. Ohne vorgefertigte Antworten zu liefern, konnten so mögliche Konsequenzen von Entscheidungen bezüglich Strukturen diskutiert und existierende Herangehensweisen hinterfragt werden.

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4 Diskussion: Alternative Formen des Organisierens zwischen Befreiung und Einhegung Wie eingangs gezeigt, wird der Ruf nach einer Lehre zu alternativen Formen des Organisierens stärker, während die Frage, wie diese Lehre ausgestaltet werden soll, noch offen ist. Das Sammeln von Fallbeispielen alternativer Organisationsformen auf der einen und eine philosophisch-theoretische Auseinandersetzung mit solchen Phänomenen sind wichtig, um Alternativen sichtbar zu machen (GibsonGraham 2006). Jedoch weisen beide Ansätze Limitierungen im Hinblick auf eine Pädagogik alternativer Formen des Organisierens auf: Studierende können rein philosophisch-theoretische Auseinandersetzungen wenig auf ihre Lebenswirklichkeit beziehen, sodass solche Diskussionen für sie oft abstrakt bleiben. Fallstudien hingegen, bleiben verhaftet in dominanten Formen der Wissensvermittlung der Management- und Organisationslehre, welche Wissen mit korrekter Repräsentation assoziiert, die Übung im Wiedererkennen erfordert (Beyes und Steyaert 2015). Dies vermittelt zum einen die Vorstellung, dass Alternativen modellhaft gedacht werden können. Zum anderen legt es nahe, dass der widerständige Charakter von Alternativen gegen die Einhegbarkeit in dominant-kapitalistischen Prozesse immunisiert, was von unterschiedlichen Autoren widerlegt wurde (bspw. Storey et al. 2014 im Hinblick auf Kooperativen). Es ist gerade die Beweglichkeit kapitalistischer Prozesse und ihre Fähigkeit zur Einhegung von nicht-kapitalistischen Praktiken, die eine immerwährende Neuerfindung von Alternativen nötig machen (Parker et al. 2014). Der vorliegende Artikel leistet einen Beitrag zu dieser Auseinandersetzung mit Formen der Lehre alternativer Formen des Organisierens, welche die Bedeutung des Imaginierens von Alternativen in den Mittelpunkt stellt. Dafür wurde gezeigt, wie ästhetische Praktiken (Reckwitz 2015) dazu beitragen können, atmosphärisch gestimmte Räume zu schaffen, die ein Imaginieren von Alternativen und das Hinterfragen von dominanter gesellschaftlicher Ordnung nahelegen. Während grundsätzlich Atmosphäre als fruchtbar für eine Pädagogik angesehen wird, die auf die Erforschung von „other spaces of organization and managment“ ausgerichtet ist als die, die in der Management- und Organisationslehre dominieren (Michels und Beyes 2016, S. 313), werden in der Auseinandersetzung mit der Frage, wie diese Atmosphären hergestellt werden, vornehmlich Praktiken der Komposition in den Vordergrund gerückt. Michels und Beyes (2016, S. 317) schlagen beispielsweise „bringing in other, perhaps unconventional ‚teaching material‘ [oder] playing with the composition and order of existing elements“ vor

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(siehe auch 2017). Dabei werden Körper zwar als Resonanzräume adressiert, die atmosphärische Unterschiede in der jeweiligen Komposition wahrnehmen können, diese Wahrnehmungen aber werden durch Experimentieren mit Komposition erzeugt – also auf der Ebene des aktiven Modus der Weltbearbeitung, wie Reckwitz (2015) dies nennt. Die hier eingeführten unterschiedlichen ästhetischen Praktiken des Ver-Ortens komplementieren und vertiefen diesen Modus, indem sie Ver-Ortung als Teil eines bestimmten Weltverarbeitungsmodus begreifen. Statt neue Elemente mit einzubringen oder existierende sofort neu zu kombinieren, zielen die ästhetischen Praktiken der Ver-Ortung auf Wahrnehmung von Vorhandenem. Damit steht eine solche Konzentration auf Ver-Ortung der Ortlosigkeit der dominanten Managementlehre, die Kitchens (2009, S. 240) „pedagogy of placelessness“ nennt, diametral gegenüber. Gleichzeitig reflektierte sich das Erkennen einer grundlegenden Beziehungshaftigkeit und Situiertheit von jeglicher Form von Organisieren auch in der Erkenntnis, dass die Herstellung von atmosphärisch gestimmten Raum nicht singulär vollzogen werden kann, sondern dass solch ein „spacing“ (Beyes und Steyaert 2012) davon abhängt, ob und wie eine körperlich-affektive Resonanz erzeugt werden kann. Der Weltbearbeitungsmodus der Komposition, der in der Beschreibung ästhetischer Praktiken zur Herstellung von Atmosphären eine zentrale Rolle spielt (Böhme 2013; Reckwitz 2015; Michels 2015), findet in Kombination mit dem veränderten Weltverarbeitungsmodus der Ver-Ortung eine Entsprechung in Praktiken der Re-Komposition. Statt auf die Unabhängigkeit von erdachtem Raum zu insistieren und gelebten Raum diesem rigoros unterzuordnen – wie in Managementforschung und -lehre üblich – setzen die hier diskutierten ästhetischen Praktiken zur Öffnung von Imaginationsräumen auf Re-Komposition des bereits Existierenden. Konzepte erwachsen so aus gelebtem Raum heraus, was auch zu einem anderen Imaginieren führen kann als die Vorstellung eines kontext-unabhängigen Operierens. Der hier argumentierte Ansatz sieht sich wie alle Versuche, Alternativen zu formulieren, unterschiedlicher Kritik gegenüber, die auf die konstante Verhandlung des Verhältnisses von Alternativen zu dominant-kapitalistischen Formen des Organisierens und ihrer jeweiligen Bezugspunkte zurückzuführen ist. Zum einen stellt sich die Frage, wie radikal das Imaginäre in den Entwürfen und in den Diskussionen mit den interessierten Teilnehmenden eigentlich ist (Cruz et al. 2017). Imagination wird im Diskurs über alternative Formen des Organisierens oft im Sinne von Castoriadis als ‚radikal Imaginäres‘ (1987) adressiert (Zanoni et al. 2017; DeCock 2017; Shukaitis 2009), das das schöpferische Moment des Menschen bezeichnet. Gleichzeitig ist Castoriadis’ Konzept des radikal Imaginären konstitutiv mit dem kollektiven Vorstellungsvermögen – dem gesellschaftlich

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Imaginären – verknüpft, welches das individuell existierende radikal Imaginäre im Hinblick auf dessen geteilte Sinnhaftigkeit beschränkt. Während Shukaitis (2009) betont, dass alternative Formen des Organisierens vor allem auf die Veränderung und Erweiterung des gesellschaftlich Imaginären abzielen, also notwendigerweise radikal sein müssen, verweisen DeCock et al. (2013) darauf, dass Castoriadis die etlichen Versuche von neoliberalen Gesellschaften kritisierte, die Kontingenz von sozialen Institutionen zu verschleiern und diese als quasi-natürlichen Zustand zu etablieren, zu dem es keine Alternativen gibt. Während die hier imaginierten Formen des Organisierens nicht radikal erscheinen, so öffnet doch ihre relative Anschlussfähigkeit an das gesellschaftlich Imaginäre den Blick auf einen Möglichkeitenraum, der diese Alternativen nicht utopistisch sondern realisierbar erscheinen lässt. Das Gefühl des Realisierbaren macht nicht nur die Kontingenz dominanter Formen des Organisierens wieder sichtbar. Sie affiziert auch indem sie die Schwelle zum Handeln niedriger erscheinen lässt, wie die zahlreichen Angebote der interessierten Öffentlichkeit an die Studierenden zur Realisierung ihrer Konzepte nahelegen. Die Frage nach der Radikalität des Imaginären ist letztendlich auf die nicht minder fundamentale Frage zurückzuführen, ob nicht alles auch kapitalistisch gewendet werden kann, einschließlich ästhetischer Praktiken, deren uneingeschränkt emanzipatorischer Charakter bezweifelt werden kann. Gerade die Literatur, die Ästhetik als spezifische Art von Arbeit und zentraler Bestandteil von kapitalistischen Prozessen untersucht, legt nahe, dass Ästhetik an Herstellung, Erhaltung und Durchsetzung von dominanten Machtverhältnissen beteiligt ist, statt diese zu unterwandern (Böhme 2016). Gleichzeitig ist jedoch, wie Contu (2008, S. 365) mit Bezug auf Foucault bemerkt „the possibility of/for resistance […] inscribed in the notion of power.“ Eine Pädagogik, die diese ephemeren, schwer greifbaren aber sehr effektiven Elemente des Organisierens in den Blick nimmt, ist insofern emanzipatorisch als dass sie Studierende dafür sensibilisiert und damit die Möglichkeit gibt, mit dieser Dimension sozialer Organisation umzugehen, statt ihr unbewusst ausgeliefert zu sein. Statt jedoch einer essenzialistischen Idee beim Verhandeln über die Alternativität von Alternativen zu folgen, macht sich der vorliegende Beitrag für eine relationale Ontologie stark, die nicht nur ein konstantes Aushandeln der eigenen Position vonnöten macht, sondern auch den Blick schärft für die Situiertheit von Praktiken, Formen und Konzepten von Management und Organisation. Solch eine Haltung macht eine grundsätzliche Befragung selbst von Konzepten aus der Mainstream-Managementlehre möglich, die unter Umständen, wie Kostera (2014) zeigt, somit auch für Selbstorganisation und –management operationalisierbar gemacht werden können. Wendungen können also nicht nur in eine Richtung durchgeführt werden.

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5 Fazit Die Auseinandersetzung mit alternativen Formen des Organisierens funktioniert schwerlich im Modus der Reproduktion von Modellen des Sozialen. Neben Prozessen der Einhegung, die jede Form alternativen Organisierens in kapitalistische Form zu überführen drohen, operiert ein solches Vorgehen per se schon im dominanten Modus der Subsumption gelebter Organisation unter den Repräsentationsraum erdachter Organisationsmodelle. Alternativen jedoch, so wird argumentiert, entstehen und wachsen im gelebten Raum, der auch ihre konstante Neuerfindung begründet. Begriffe wie etwa Autonomie aber auch Solidarität und Verantwortung, die alternativen Formen des Organisierens zugeordnet werden, machen es aufgrund ihrer Abstraktheit nötig, diese ständig neu zu denken, neu zu verhandeln. Ästhetische Praktiken können, trotz ihrer zentralen Stellung in derzeitigen kapitalistischen Verwertungsprozessen, auch die Auseinandersetzung mit Alternativen nähren und werden daher in diesem Beitrag als ein wichtiges Element für die Entwicklung einer Pädagogik alternativer Formen des Organisierens vorgeschlagen. Im hier reflektierten Seminar wurden ästhetische Praktiken des sich Ver-Ortens und der Re-Komposition eingeführt und gezeigt, wie diese eine Rolle spielen für das Entstehen von Atmosphärenräumen, die zu einem gemeinsamen Imaginieren einladen, das nicht ort- und zeitlos ist, sondern konstitutiv mit einer spezifischen Lebenswirklichkeit verbunden ist, die das Imaginierte situiert. Solch ein Imaginieren ist nicht unbedingt mit radikal neuen Ideen verknüpft, sondern mit der Fähigkeit, gegenwärtig dominante Formen des Organisierens infrage zu stellen und „to re-imagine what others have imagined“ (DeCock 2017, S. 241–2).

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