Ästhetik digitaler Medien: Aktuelle Perspektiven 9783839453612

In einer immer umfassenderen Weise bestimmen digitale Technologien und soziale Medien Auswahl, Form und Inhalt der Wahrn

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Ästhetik digitaler Medien: Aktuelle Perspektiven
 9783839453612

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Ästhetik digitaler Medien und die Kunstgeschichte
Aisthesis im Zeitalter der Digitalisierung
Anderes und anders sichtbar machen
Die leere Referenz
(Un)creative Artificial Intelligence
Ästhetik und Ästhetisierung
Zur Aisthesis des Maschinenlernens
Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien aus einer technikgenetischen Perspektive
Cute GIF
Ästhetische Bildung nach dem Internet

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Martina Ide (Hg.) Ästhetik digitaler Medien

Digitale Gesellschaft Band 31

Martina Ide ist Akademische Oberrätin für Kunstdidaktik am Kunsthistorischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind digitale Medien und künstlerische Prozesse, Theorie der Kunstdidaktik.

Martina Ide (Hg.)

Ästhetik digitaler Medien Aktuelle Perspektiven

Für die Einwerbung der Bildrechte zeichnen die Autorinnen und Autoren der jeweiligen Beiträge verantwortlich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Martina Ide Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839453612 Print-ISBN 978-3-8376-5361-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5361-2 Buchreihen-ISSN: 2702-8852 Buchreihen-eISSN: 2702-8860 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort Martina Ide ......................................................................... 7

Ästhetik digitaler Medien und die Kunstgeschichte Zum Geleit Klaus Gereon Beuckers .............................................................. 11

Aisthesis im Zeitalter der Digitalisierung Fabian Goppelsröder ................................................................ 15

Anderes und anders sichtbar machen Jenseits des Verstehens bildlicher Artikulationen  in sozialen Medien Nick Böhnke ........................................................................ 31

Die leere Referenz Ästhetik und Objektivität der Fotografie im Lichte  der digitalen Wende Iris Laner .......................................................................... 57

(Un)creative Artificial Intelligence Zur Kritik ›künstlicher Kunst‹ Dieter Mersch ...................................................................... 77

Ästhetik und Ästhetisierung Judith Siegmund ................................................................... 117

Zur Aisthesis des Maschinenlernens Ein Kommentar zur zeitgenössischen Künstlichen Intelligenz Sybille Krämer ..................................................................... 131

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien  aus einer technikgenetischen Perspektive Christoph Richter/Heidrun Allert ................................................... 153

Cute GIF Ambivalenzen eines ästhetisch-affektiven Ensembles  digitaler Bildkulturen Katja Gunkel ....................................................................... 181

Ästhetische Bildung nach dem Internet Grübeleien über eine »Ästhetik digitaler Medien« und deren Bildungspotentiale Torsten Meyer ..................................................................... 207

Vorwort Martina Ide

Die Wahrnehmung von Welt ist stets medial gebunden und erfolgt in der Regel in Wechselwirkung mit der technologischen Entwicklung neuer Medien. Nach Derrick de Kerckhove ist »der technologische Einfluss auf unsere Sensibilität […] zunächst ein Untersuchungsgegenstand der Aisthesis, des Reichs der Sinne, und wird anschließend zu einem der Ästhetik, des Reichs der Wahrnehmungen.«1 Schon Alexander Gottfried Baumgarten hat in seiner ›Aesthetica‹ von 1750 und 1758 die Bedeutung der Erkenntnisfähigkeit des Sinnesvermögens von Menschen thematisiert und damit der an die Verstandesleistung gebundenen Erkenntnis durch Begriffe mit der Ästhetik ein erweitertes Konzept sinnlicher Erkenntnis zur Seite gestellt. Seit der Moderne hat die Kunst schließlich »dem Rezipienten die Erfahrung einer sich als ›Schönheit‹ manifestierenden formalen Einheit des Werkes«2 dann gänzlich entzogen, wie es Stefan Majetschak formuliert hat. Die ästhetische Form unterliegt dadurch anderen Parametern als eine Naturnachahmung. Eine besondere Qualität hat diese Erweiterung ästhetischer Determinanten durch die digitalen Medien erlangt, welche die sinnliche Wahrnehmung heute in erheblichem Maße prägen, oft Grundlage einer visuellen Sozialisierung geworden sind. Letztlich ist für ein Verständnis der gegenwärtigen Ästhetik deshalb das Verständnis einer Ästhetik, die von digitalen Medien mitbestimmt und ebenso in neuen Medien zum Ausdruck gebracht wird, essentiell. Die neuen Medien verändern Vorstellungen, Konzepte, Begriffsbestimmungen und Theorien des ästhetischen Denkens. Kunstwerke, die digitale Technologien nutzen, bilden nicht nur ab, sie erweitern die Wahrnehmung um die darin enthaltenen Möglichkeiten einer 1

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Derrick de kerckhove: Touch versus Touch: Ästhetik neuer Technologien (aus dem Amerikanischen von Martina Leeker), in: Die Aktualität des Ästhetischen, hg. v. Wolfgang Welsch, München 1993, S. 138. Stefan Majetschak: Ästhetik zur Einführung, Hamburg 5 2019, S. 95.

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Martina Ide

Neumodellierung von Wirklichkeit. Als Erweiterung des Körpers konstituieren Medien zudem in ihrer Eigenwertigkeit die Bedingungen von Wahrnehmung in spezifischer Form; das Medium selbst bringt etwas zur Anschauung, wird mit Marshall McLuhan zur ›Message‹. Im Fall von Kunst wird das digitale System dabei zum Ko-Interpreten, die diese um spezifische semantische Konnotationen ergänzt, die ohne das digitale Medium nicht vorhanden wären. Gerade bei digitalen Medien ist der Charakter des Systems zudem oft interaktiv, auf eine wechselseitige Reaktion mit dem Gegenüber ausgerichtet, die zum konstitutiven Moment des Kunstobjektes wird. Letztlich wird die ästhetische Erfahrung nach Nelson Goodman ein »aktiver Prozess der Aneignung dessen, was ein Kunstwerk zur Darstellung bringt.«3 Dabei stellt sich die Frage, was eine Ästhetik auszeichnet und spezifisch macht, die sich der neuen Medien der Gegenwart bedient oder an ihnen orientiert. Wie verändern sich ästhetische Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster und ihre Prozesse durch digitale Technologie? Worin unterscheidet sich die Ästhetik statischer medialer (wie Fotografien) von interaktiven Werken? Welche Konzepte des Ästhetischen können mit den Diskursen der Digitalität heute verbunden werden und inwiefern beeinflusst ein an der Aisthesis orientierter Ansatz, was unter ›Künstlicher Intelligenz‹ zu verstehen ist? Am 11. und 12. Oktober 2019 veranstaltete das Kunsthistorische Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) als Kooperationspartner der Abteilung für Medienpädagogik/Bildungsinformatik der CAU die interdisziplinär ausgerichtete Tagung ›Ästhetik digitaler Medien‹, um sich aus kulturwissenschaftlicher, philosophischer und medienpädagogischer Perspektive mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Dabei sollte – anstelle einer auf das Medium oder den Inhalt fokussierten Fragestellung – die Perspektive einer ästhetischen Analyse in den Mittelpunkt rücken, um zu fragen, ob und inwiefern sich im Zeitalter der Digitalisierung Begriff und Definition des Ästhetischen wandeln. Was meinen Termini wie ›Ästhetische Erfahrung‹ und inwiefern ist diese ein determinierender Aspekt der Wahrnehmung? Wie sind die Referenzen von Ästhetik und Authentizität beispielsweise in der digitalen Fotografie zu bestimmen? Welche Überlegungen über die Natur und Ästhetik des fotografischen Bildes sind nach der digitalen Wende noch zielführend? Welche Bedeutung kommt Bildhandeln über Smartphones und

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Majetschak 5 2019 (wie Anm. 2), S. 157.

Vorwort

entsprechenden Apps – also verschiedenen bildbezogenen Medienhandlungsweisen in ihren jeweiligen strukturellen Kontexten – eigentlich zu und welche ästhetischen Werturteile werden durch Like oder Dislike codiert? Wird, was im Umgang mit Digitalen Medien wahrnehm- und erfahrbar ist, bestimmt durch die technischen Artefakte oder ist es der Umgang mit diesen Technologien, der festlegt, was sicht-, hör- oder in anderer Weise erfahrbar sein kann? Sind Produzenten mit all ihren unablässigen Anstrengungen Bilder von etwas zu produzieren nicht immer auch dazu aufgefordert, sich der Kontingenz des sich Zeigenden zu ergeben und so die Präsenz eines unbestimmten Anderen ankommen zu lassen? Wie spiegelt sich das ambivalente Verhältnis zur technologisch durchwirkten Gegenwart zum Beispiel in der Ästhetik des cute GIF digitaler Bildkulturen wider? Ausgehend von der sich ständig verändernden Gesellschaft, Lebensrealität und Kunst führt eine digital determinierte Wahrnehmung zu einer veränderten Rolle und einem anderen Status von Bildern, von Kunst allgemein und damit nicht zuletzt von Bildung im Kontext der Kunst. Die kunstpädagogischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts haben sich intensiv mit der Erweiterung des Kunstbegriffs und einer Enthierarchisierung von Kunstgattungen beschäftigt. Sie stehen jedoch erst am Anfang einer Analyse des Ästhetischen im Kontext digitaler Medien sowie deren Spiegelung und Konturierung in pädagogischen Modellen und didaktischen Vermittlungsprozessen. Damit haben sich Beiträge und Diskussionen der Tagung auseinandergesetzt. Die vorliegende Publikation knüpft an diesen Gedanken an und führt diese weiter. Allen Vor- und Beitragenden sei für ihre unterschiedlichen Perspektiven herzlich gedankt, die einem noch weitgehend im Fluss befindlichen Diskussionsfeld durch ihre Überlegungen Struktur gegeben und so zum Gelingen der Tagung und der Publikation beigetragen haben. Besonders möchte ich Frau Professorin Dr. Heidrun Allert und den Kolleginnen und Kollegen des Forschungsprojektes ›Onlinelabor für Digitale Kulturelle Bildung‹ (DiKuBion) für die anregende und kollegiale Zusammenarbeit danken. Das Projekt wurde vom ›Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)‹ von 2017 bis 2021 über einen Zeitraum von vier Jahren im Rahmen des interdisziplinären Förderschwerpunkts ›Forschung zur Digitalisierung in der kulturellen Bildung‹ am Institut für Pädagogik (Abteilung für Medienpädagogik/Bildungsinformatik) und als Teilprojekt am Kunsthistorischen Institut der Christian-Albrechts-Universität großzügig gefördert. In diesem Rahmen konnte diese Tagung am Kunsthistorischen Institut stattfinden.

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Martina Ide

Mein Dank gilt Professor Dr. Klaus Gereon Beuckers, dem dortigen Lehrstuhlinhaber, der die Kooperation mit dem Institut für Pädagogik gefördert und mich für dieses gemeinschaftliche Projekt begeistert, sowie bei der Konzeption der Tagung mit vielen wertvollen Anregungen unterstützt und als Gesprächspartner begleitet hat.

Ästhetik digitaler Medien und die Kunstgeschichte Zum Geleit Klaus Gereon Beuckers

Die Ästhetik digitaler Medien ist ein kunsthistorisches Thema, denn die Kunstgeschichte beschäftigt sich als Wissenschaft mit formaler Gestaltung in ihrer Geschichte – also mit Ästhetik als visueller oder materieller Erscheinungsform und der Inhaltlichkeit geschaffener Werke in ihrem soziokulturellen, historischen Kontext. Die untrennbare Dualität von Wesen und Erscheinung, wie sie Aristoteles paradigmatisch für die westliche Geistesgeschichte entworfen hat, bindet das Sinnlich-Wahrnehmbare, also Ästhetische, nicht nur immer an die materielle Erscheinung und Form, sondern ebenso an die geistige Idee, den Inhalt, der in der formalen Fassung enthalten ist. Hegel ging sogar soweit, dass er Schönheit als vollendete ästhetische Form durch die Übereinstimmung von Inhalt und Form verstand. Zudem ist Ästhetik alleine schon begriffsgeschichtlich als Lehre von der Wahrnehmung kommunikativ nie isoliert, braucht immer einen Rezipienten mit seinem spezifischen, historisch gewachsenen und kulturell sozialisierten Zugang; Ästhetik ist eine Kommunikation durch das Werk mit dem Betrachter und dessen Determinierung. Damit steht man mitten im Kern der Fachdisziplin Kunstgeschichte, die sich als Wissenschaft mit der Analyse der Werke, ihrer historischen Kontextuierung und Rezeptionsprozesse beschäftigt. Für eine Analyse des ästhetischen Erscheinungsbildes bildet dabei die Gemachtheit des Formalen ein wesentlicher Ausgangspunkt: das Kunstwerk ist erstellt, unterliegt einem intentionalen Schöpfungsakt, der formgebend und damit kommunikationsbestimmend ist. Kunst definiert sich in diesem Feld durch die Divergenz, die Spannung zwischen ästhetischer Form und dem darin widergegebenen Inhalt. Das künstlerische Werk geht damit immer über den beispielsweise abgebildeten Inhalt hinaus, das Ästhetische ist mehr als das Nominelle. Gerade

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Klaus Gereon Beuckers

in dem Versuch, diese Determinanten für ein Kunstwerk zu klären, liegt das wissenschaftliche Interesse der Kunstgeschichte. Ein Paradigmenwechsel war der Punkt, an dem das Gemachte des Kunstwerks, das Jahrtausende bestimmend war, im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts durch den Auswahlprozess und die Setzung des formal Unveränderten ersetzt werden konnte – sei es durch den Auswahlprozess beispielsweise einer nicht-inszenierten Fotografie oder die formal unverändernde Adaption vorgefundener Gegenstände und Materialien im objet trouvé bzw. readymade. Ob man hier mit Hans Belting von dem Ende einer Kunstgeschichte sprechen möchte, sei dahingestellt, jedenfalls sind erhebliche Methoden der kunsthistorischen Analyse, die sich mit der Analyse der ästhetischen Formfindung durch den Künstler und damit dem Verhältnis von Form und Inhalt beschäftigen, hier nur noch eingeschränkt anwendbar. Die Herausforderung war es insbesondere seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, hierfür neue methodische Zugänge zu entwickeln, was beispielsweise für die bis heute methodisch eher banal analysierte Fotografie deutlich schlechter als für die Objektkunst gelungen ist. Die Ästhetik primär vorgefundener oder ausgewählter Objekte entzieht sich jedoch der kunsthistorischen Analyse keineswegs. Weiterhin sind fast alle Fragen einer Bild- und Formtradition jenseits des Herstellungsaktes gültig: jedes Bildwerk besitzt letztlich eine ikonographische Tradition, die den Seh- und Rezeptionsgewohnheiten der Betrachter konstitutiv innewohnt, solange ein Betrachter irgendwie kulturell sozialisiert ist. Auch hat jedes Werk eine Materialität, die als Medium funktioniert, Träger des Werkes ist. Dies gilt sogar für die vermeintlich nicht-materiellen Werke wie beispielsweise bei der performance art, da auch diese immer an den Träger/Körper und den Raum gebunden sind, in dem sie stattfinden. Die Kunstgeschichte hat sich diesen Kunstäußerungen in den letzten Jahren intensiv gewidmet und hierfür Kategorisierungen und Methoden der Analyse entwickelt. Das digitale Kunstwerk erfordert seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erneut eine Reflektion und Weiterentwicklung kunsthistorischer Zugangsweisen. Dabei ist es medial deutlich stärker gebunden als Werke der concept oder performance art. Claus Pias hat in einem provokativen Akt deshalb sogar die Existenz des digitalen Bildes bezweifelt und den Bildträger, also den Bildschirm oder das Display, als untrennbaren Teil des digitalen Bildes hervorgehoben. Dies ist methodisch für die Kunstgeschichte kein größeres Problem, denn sie beschäftigt sich immer schon mit den Fragen des Mediums und des Trägerkontextes. Für eine Analyse des Ästhetischen ist es jedoch höchst rele-

Ästhetik digitaler Medien und die Kunstgeschichte

vant, wenn das digitale Kunstwerk ohne das elektronisch aktivierte Trägermedium nicht besteht, außerhalb dieser statischen und für die unterschiedlichen digitalen Werke tendenziell gleichbleibenden Hülle keine Existenz aufweisen kann, da damit die Frage der Form und damit auch der Form/Inhalt-Relation eine zusätzliche Dimension erhält. Zum kunsthistorischen Umgang mit in digitalen, insbesondere sozialen Medien generierten Bildern kommt noch ein anderer, vielleicht sogar wichtigerer Punkt hinzu: Das Bild ist dort zu erheblichen Teilen im engeren Sinne kein Kunstwerk, da ihm oft die Divergenz zwischen ästhetischer Form und Inhalt, die das Mehr gegenüber der bloßen Darstellung ist, fehlt. Damit entbehrt es jedoch nicht unbedingt einer intentionalen Determinierung durch den Autor und natürlich erst recht nicht eines soziokulturellen und historischen Umfeldes. Schon vor der Digitalisierung ist die große Flut an Bildern »im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit«, wie es Walter Benjamin formuliert und damit den Diskurs der Bildwissenschaft mitbegründet hat, nicht mehr per se künstlerisch gewesen. Die Bildwissenschaft hat in den letzten dreißig Jahren das Kunstwerk und seinen Kunstcharakter relativ weit außen vorgelassen, weshalb ihre methodischen Ansätze für die Analyse von Kunstwerken nur eingeschränkt Tauglichkeit besitzen, zumindest zu überprüfen sind. Will man jedoch die Ästhetik von Bildern auch in ihrer Alltäglichkeit und einer Kunstferne wirklich analysieren, so bedarf es der Vergewisserung kunstwissenschaftlicher Methoden und der Frage nach den Divergenzen von Bild und Inhalt, also genuin kunsthistorischer Ansätze. Die Ästhetik von Bildern in digitalen Medien zu erfassen ist somit eine Herausforderung an die Kunstgeschichte, hierfür auf der Basis der bisherigen Methodik spezifische Methoden zu entwickeln. Denn alleine schon die Entscheidung, sich mit diesen digitalen Werken zu beschäftigen, hebt sie über ihren primären Charakter als Alltagszeugnisse heraus und belädt sie mit einer Inhaltlichkeit, die sie a priori nicht unbedingt haben müssen. So entsteht aus ganz anderer Perspektive die Divergenz, die aus einem Werk ein Kunstwerk macht. Diese Gedanken mögen erklären, warum sich ein Kunsthistorisches Institut mit der Thematik von Ästhetik in digitalen Medien beschäftigt und 2016 zusammen mit dem Institut für Pädagogik einen Förderantrag beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) innerhalb der Förderlinie »Digitalisierung in der kulturellen Bildung« für das Projekt »Onlinelabor für Digitale Kulturelle Bildung« gestellt hat, in dem eine Tagung zur Ästhetik digitaler Medien ein grundlegender Bestandteil war. Die unter der Betreuung von Martina Ide, die am Kunsthistorischen Institut in Kiel die Kunstdidaktik

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Klaus Gereon Beuckers

vertritt, organisierte Tagung fand am 11. und 12. Oktober 2019 in Kiel statt und vereinigte philosophische, pädagogische und kulturwissenschaftliche Beiträge. Sie werden in dem vorliegenden Band veröffentlicht. Das Kunsthistorische Institut dankt dem Institut für Pädagogik, dort insbesondere der Kollegin Heidrun Allert, für die fruchtbare Zusammenarbeit in dem gemeinsamen Projekt, sowie allen Mitarbeitenden im Team. Besonders dankt es Martina Ide für die Betreuung des Teilprojekts am Kunsthistorischen Institut und Nick Böhnke für die Mitarbeit darin seit 2020. Dem BMBF sind wir für die Förderung und die auch in diesem Projekt wieder stets angenehme Koordination dankend verbunden. Wir freuen uns, dass durch solche Tagungen und Diskussionen die kunsthistorische Lehre und Forschung in Kiel und darüber hinaus bereichert wird und sich immer wieder neue Zugänge zur Kunst und ihrer Ästhetik eröffnen.

Aisthesis im Zeitalter der Digitalisierung Fabian Goppelsröder

Was auch immer der Ausdruck ›Zeitalter der Digitalisierung‹ genau bezeichnet, wir befinden uns mittendrin. Computer, Smartphone, Wearables, Email, Micromessaging und Social Media – wir bewegen uns schon längst ganz selbstverständlich in einer großenteils durch Digitaltechnologie geprägten Wirklichkeit. Als im Juni 2010 der FDP-Politiker Jimmy Schulz als erster Bundestagsabgeordneter bei einer Rede vor dem Parlament vom Tablet ablas, war das vom Spiegel bis zur Tagesschau noch Thema. Heutzutage wäre es lächerlich, solch ein ›Ereignis‹ in den nationalen Nachrichten zu bringen. Wo früher Zeitungen und Bücher waren, sind heute ›mobile devices‹. In jeder U-Bahn ist der Wandel offensichtlich. Man hat sich dran gewöhnt. Gerade das Gewohnte aber, die Selbstverständlichkeiten unseres Alltags zeugen von dem unsere Wahrnehmung lenkenden Weltbild. Was selbstverständlich ist, sitzt tief, muss nicht mehr weiter problematisiert, muss nicht erklärt und nicht gerechtfertigt werden. Es ist so, wie es ist, bleibt unbefragt, alternativlos. Noch das, was uns als neu, als überraschend, unerwartet auffällt, hat es zur Basis. Modezyklen kalkulieren Neuheit als konsumfördernde Abweichung; die Grundachsen der dominierenden Ästhetik bleiben von ihnen unberührt. Zugespitzt müsste man wohl sagen, dass nicht zuletzt die Flut der ständig neu auf den Markt geworfenen Produkte weniger Pluralisierung als Uniformität der Wahrnehmung zur Folge hat. Obwohl es für jeden Geschmack, jedes Bedürfnis individuell Befriedigung zu geben scheint, wird die Möglichkeit zu grundlegender Neu- und Andersartigkeit immer geringer. Fortschreitende Ästhetisierung führt zur Abstumpfung unserer Wahrnehmung in der Routine. Fortschreitende Ästhetisierung führt zur Anästhesie gegenüber der Kontingenz des uns Selbstverständlichen. Gerade weil sich digital so viele Möglichkeiten zur Individualisierung und Verbesserung, zur Ökonomisierung und Ökologisierung unseres Lebenswandels auftun, wächst

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Fabian Goppelsröder

auch die Gefahr, gegenüber den vereinheitlichenden, in mancher Hinsicht problematisch gleichschaltenden Tendenzen dieses Wandels abzustumpfen. Nach der Aisthesis im Zeitalter der Digitalisierung statt direkt nach der Ästhetik digitaler Medien zu fragen hat daher insbesondere zwei Gründe: Zum einen steht der Begriff ›Aisthesis‹ seit einiger Zeit für eine Entgrenzung des ästhetischen Diskurses. Es geht nicht primär um Kunst, sondern um sinnliche Wahrnehmung überhaupt.1 Zum anderen soll mit dem Begriff die Ausrichtung auf das ›Schöne‹ im landläufigen Sinne gelockert werden. Nicht das Wiedererkennen uns als ›schön‹ vertrauter poetischer Bilder, Farb- oder Tonkombinationen steht im Zentrum des Interesses, sondern die Erfahrung des Erkennens, des Wahrnehmens selbst. Solche ›aisthetische‹ Erfahrung wird gegenwärtig nicht nur seltener, sie verliert überhaupt an Bedeutung. In einer Zeit fortschreitender Digitalisierung und umfassender technologischer Optimierung geht uns der Sinn für das noch Ungeformte, Nichtkategorisierbare mehr und mehr verloren. Wo Reibungslosigkeit zum wichtigsten Kriterium unseres Tuns geworden ist, hat Aisthesis, so scheint es, keinen Raum mehr. Im Folgenden werde ich versuchen, diese Überlegung in drei Schritten näher zu konturieren. Entlang des Begriffs des Cyborgs soll eine Entwicklung skizziert werden, in der die technische und technologische Optimierung des Menschen in eine unser Weltverhältnis durchziehende Ästhetik des clean hit, der Reibungslosigkeit führt. Dieser Entwicklung werden Maurice Blanchots Überlegungen zu den zwei Fassungen des Imaginären entgegengestellt, mit denen er den Ort aisthetischer Erfahrung, der Faszination, als unterdrückbares, letztlich aber nicht eliminierbares Moment von Wahrnehmung beschreibt. Und schließlich wird entlang einer von der Hamburger Künstlergruppe LIGNA gemachten App kursorisch der Versuch reflektiert, Aisthesis durch Verschiebung und Verlangsamung unserer Wahrnehmung gezielt zu provozieren.        

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Insbesondere Gernot Böhme hat aus der begrifflichen Differenz von Ästhetik und Aisthetik ein Programm gemacht. Vgl. Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001.

Aisthesis im Zeitalter der Digitalisierung

Cyborg und Cyborgisierung 1985 veröffentlichte Donna Haraway ihr schnell viel rezipiertes Cyborg Manifesto. Statt sich dem popkulturellen Bild des technologisch optimierten Übermannes anzuschließen, nahm Haraway die »Cyborg« als Leitbild einer feministischen Gegenwartsanalyse. Sie sollte als »Fiktion […] die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität« ablesbar machen, das späte 20. Jahrhundert als eine Zeit deutlich machen, »in der wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt« haben. Der ›Cybernetic Organism‹, so Haraway vor über 30 Jahren, ist uns allgegenwärtige Normalität geworden. Ja, »die Cyborg ist unsere Ontologie.«2 Während der Fortschrittsoptimismus der 1960er einen bionisch verbesserten Zukunftsmenschen imaginierte, sieht Haraway die Cyborg als Figur des Dritten. Entlang ihrer könnten die alten Binarismen Geist und Körper, Tier und Mensch, Organismus und Maschine, öffentlich und privat, Natur und Kultur, Männer und Frauen3 produktiv in Frage gestellt und überschritten werden. Die Cyborg ist so kein Sechs-Millionen-Dollar-Mann und keine Sieben-Millionen-Dollar-Frau.4 Ihr Bild ist nicht durch die Ästhetik der Machbarkeit und Perfektion bestimmt. Vielmehr scheint sich in ihr der Ausweg aus einer in überkommenen Hierarchien und fixen Oppositionen gefangenen Welt aufzutun. Mensch und Technik müssen nicht gegeneinandergesetzt, sondern miteinander ins Spiel gebracht werden. Statt den technologischen Fortschritt entweder als Ende des Humanen zu verdammen oder ihn als letzten Schritt zum Übermenschen zu bejubeln, bietet er im Hier und Jetzt die Chance auf ein anderes Selbstverständnis, ein Umdenken, eine Neukonzeptionierung des Daseins. Weder die außergewöhnlich starken künstlichen Gliedmaßen von Colonel Steve Austin in Martin Caidins Roman von 1972 noch die Kohlefaser-Prothesen des südafrikanischen Sprinters Oscar Pistorius machen einen von ihnen in diesem Sinn zum Cybernetic Organism. Obwohl Caidins Vorlage für die Fernsehserie The Six Million Dollar Man das Bild 2

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Donna J. Haraway: A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century, in: Manifestly Haraway. The Cyborg Manifesto, The Companion Species Manifesto, Companions in Conversation (with Cary Wolfe), hg. v. Donna J. Haraway, Minneapolis 2016, S. 3-90, hier S. 7. Haraway 2016 (wie Anm. 2), S. 9. Martin Caidins Roman Cyborg wurde vor allem durch die zwischen 1974 und 1978 vom US-Fernsehsender ABC ausgestrahlte TV-Serie The Six Million Dollar Man populär und prägt das Bild des Cybernetic Organism als bionischen Superhelden bis heute.

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Fabian Goppelsröder

des Cyborg als einer übermenschlichen, letztlich posthumanen Existenzweise mit prägte, als welches er auch in der Diskussion um Definition und Zulässigkeit sogenannten ›technischen Dopings‹ immer wieder als Argument ins Feld geführt wurde, krankt die Debatte aus der Perspektive Haraways an der zu simplen Art und Weise, in der hier das Zusammenspiel von Mensch und Technik gedacht wird. Ob der fiktive Austin nun schwerere Gewichte heben oder auch schneller rennen kann, ob sich Pistorius durch seine Blades statt nur ein Handicap auszugleichen tatsächlich einen Vorteil im Wettbewerb verschafft – die Grundausrichtung unseres Weltverhältnis wird nicht angetastet. Selbst die Herausforderung, dass ein ohne Wadenbeine und Teile der Füße geborener Sprinter an den regulären Wettkämpfen von Olympia teilzunehmen sucht, stellt die etablierten Hierarchien nicht grundsätzlich in Frage. Die grundsätzliche Unterscheidung von Organismus und Maschine blieb bei Pistorius letztlich unberührt. Haraways Idee der Cyborg aber zielt auf ein grundlegendes Neudenken des Menschen. Statt an die Science-Fiction der 1970er erinnert dieses Denken somit überraschend an eine andere ästhetisch-technizistische Zukunftsvision vom Beginn des 20. Jahrhunderts: In seinem Manifest des Futurismus hatte Tommaso Marinetti die Verschmelzung von Mensch und Technik in der als dynamische Einheit verstandenen Verbindung von Rennfahrer und Rennwagen ikonisiert.5 Der Mann am Steuer markiert dabei eine Vision des zukünftigen Menschen, der sich im Bild des Arme, Beine, Kopf und Torso integrierenden Körpers nicht mehr fassen lässt. Die futuristische Universaldynamik sprengt alle Grenzen des Organischen. Die Stärke des neuen Menschen ist nicht die Summe der Stärke seiner Glieder und lässt sich durch bionische Substitutionen nur bedingt verbessern. Die Stärke des neuen Menschen liegt viel eher in der Fähigkeit, sich in eine umfassende Bewegung, in die den Einzelnen übersteigende Dynamik des Fortschritts einzufinden und ihr Teil zu werden. In mancher Hinsicht scheint die futuristische Vision heute erst richtig Wirklichkeit zu werden. Die Vermischung von humaner und technoider Welt jedenfalls hat in den letzten Jahren eine neue Qualität erreicht. 2003 sprach der Bostoner Architekt, Stadtplaner und Medientheoretiker William John Mitchell von einer sich entwickelnden neuen Form des Selbst. Fortschreitende Miniaturisierung und Vernetzung der technischen Endgeräte, ihre 5

Filippo Tomasso Marinetti: Manifest des Futurismus, in: Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution, hg. v. Umbro Apollonio, Köln 1972, S. 30-37.

Aisthesis im Zeitalter der Digitalisierung

Omnipräsenz im Alltag führten zu einer spürbaren Verschiebung unseres Weltverhältnisses. Räumliche und zeitliche Grenzen verwischten durch ›augmented reality‹-Technologie und ständige Vernetzung immer mehr.6 Siebzehn Jahre später sind Mitchells Visionen heute großenteils Normalität. Die 2011 wirkungsvoll platzierte These der Anthropologin und User Experience Designerin Amber Case We are all Cyborgs! wirkt mittlerweile kaum noch provokant und lässt sich zur Beschreibung unserer Lebenswelt gut mit Haraways Überlegungen verbinden.7 Die Verschmelzung von Mensch und Technik, unsere Cyborgisierung, hängt nicht primär an massiven medizinischen Interventionen. Sie ist Folge sich verändernder Routinen, der alltagspraktischen Selbstverständlichkeit, mit der wir unser Denken, Tun und Handeln an eine digitale Infrastruktur binden. Weil wir uns ohne Smartphone aufgeschmissen fühlen, weil uns der fehlende Internetzugang wie eine Amputation vorkommt, deshalb ist Haraways Behauptung von 1985 spätestens heute Realität geworden: die Cyborg ist ganz selbstverständlich unsere Ontologie. Bewegungen wie das 2007 von den beiden Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly, Mitarbeiter des amerikanischen Tech-Magazins Wired, ins Leben gerufene Quantified-Self-Movement stehen dabei für eine grundsätzlich affirmative Reaktion auf diese neue technologische Bedingung im Zeitalter der Digitalisierung.8 Das Motto der Bewegung: »self knowledge through numbers« markiert die Überzeugung ihrer Gründer, dass zur Verbesserung des Menschen als Ganzem vor allem mehr Information über ihn nötig sei; mehr Information in Form einer umfassenden Statistik zu Körperdaten, Verhaltensweisen, Vorlieben und den Routinen jedes Einzelnen. War eine solche Evaluation bis vor kurzem praktisch nicht zu leisten, rückt sie dank der technologischen Entwicklung nun immer mehr in den Bereich des Möglichen. Die Miniaturisierung, Verbreitung und Vernetzung der technologischen Geräte macht sie zu überall präsenten, potenziellen Datensammlern. Die permanente und detaillierte Selbstbeobachtung scheint nun möglich. Selftracker und Selflogger tragen heute »Schrittzähler, Sensor-Arm- oder Stirnbänder

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Vgl. William J. Mitchell: Me++. The Cyborg Self and the Networked City, Boston u.a. 2003, S. 77. Vgl. Amber Case: We are all Cyborgs!, TED Talk 11.1.2011, URL: https://www.youtube.c om/watch?v=z1KJAXM3xYA [11. Juni 2021]. Erich Hörl: Vgl. Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin 2011.

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Fabian Goppelsröder

und überwachen permanent ihren Blutdruck, Blutzucker- und Cholesterinspiegel, ihren Herzschlag, Zigaretten- oder Kaffeekonsum, ihre Hirnströme, Schlafkurven, Schweißabsonderungen, ihr Gewicht, die Körperfettwerte, den Kalorienverbrauch und ihre Bewegungsmuster«9 , um eine möglichst lückenlose Statistik der eigenen Aktivitäten zu erstellen. Die so generierten Daten lassen sich beispielsweise zur Verbesserung des, wie es im Jargon heißt, ›Krankheitsmanagements‹ nutzen. Doch ist das Ziel der Selbstverbesserung nicht auf die Pathologie beschränkt. Auch der gesunde Mensch lässt sich noch weiter optimieren. In digitaler Selbstbeobachtung ausgemachte Schwachstellen im Essverhalten werden durch einen individuellen meal plan und entsprechende Alarme auf dem Smartphone korrigiert. Fehlende Bewegung wird durch die Smartwatch angemahnt, ungenutzte Zeit mit speziellen Apps systematisch minimiert. Welche umfassende Dynamik diese in unsere Tätigkeiten eingebauten Feedbackloops entwickeln können, machen Romane wie The Circle von Dave Eggers als eine Art dystopische Vision auf ihre Weise deutlich. Automatisierte Protokolle schlagen dem sich selbst und seiner Umwelt transparent gewordenen Menschen laufend die Verbesserungen vor, deren Umsetzung der soziale Druck einer vollkommen auf Optimierung ausgerichteten Gesellschaft sicherstellt. Die Abrichtung durch transparente Selbstquantifizierung trägt dabei durchaus spielerische Züge. Glück und Befriedigung ergeben sich jedoch allein aus von konkreten Inhalten gelösten reinen Zahlen, den Leistungswerten einer Gesundheitsapp, den hohen Punktzahlen im alles Tun begleitenden, standardmäßig abgefragten Feedback. Der eigentliche Circle ist dieser Selbstbestätigungskreislauf im Herzen der 24/7-Kultur. Ein »eigenartiger Kreislauf aus Datenerzeugung und -auswertung, der nichts anderes zu wollen scheint, als ewig weiterzufließen.«10 Statt Ambivalenz und Paradoxie wird Reibungslosigkeit das Ziel und eine Ästhetik des sauberen Schnitts, des clean hits, einziger Maßstab unseres Tuns und Handelns.

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Natascha Adamowsky: Me and my Cloud. Selbsterkenntnis im Datenmeer, in: Möglichkeit Mensch. Körper, Sphären, Apparaturen. Künstlerische und wissenschaftliche Perspektiven, hg. v. Claudia Emmert und Ina Neddermeyer, Berlin 2017, S. 165-170, hier S. 166. Adamowsky 2017 (wie in Anm. 9), S. 169.

Aisthesis im Zeitalter der Digitalisierung

Maurice Blanchots Bildtheorie der Faszination Nach der Aisthesis im Zeitalter der Digitalisierung zu fragen heißt somit auch, nach Möglichkeiten einer nicht durch die Ästhetik des clean hit vorbestimmten Wahrnehmung zu suchen. Es geht weniger um die Spezifik einer mit digitalen Medien und Technologie arbeitenden Kunst, als um eine den Imperativ der Reibungslosigkeit und Optimierung subvertierende Erfahrung. Mit Maurice Blanchot ließe sich diese Erfahrung als die des FasziniertWerdens bezeichnen. Gerade vor dem Hintergrund der neuen digitalen Zeit und ihrer dezisionistischen Ästhetik der Kontrolle und Beherrschung scheint sein Denken ein besonders gutes Beispiel dafür, wie gegen das Ideal des friktionslosen Ineinandergreifens der Argumente und der logischen Eindeutigkeit die Dimension des unentschiedenen, uneindeutigen Zwischen als Erfahrungsraum wiedergewonnen werden kann. Seine im Zusammenhang der bildwissenschaftlichen Debatten neu entdeckte Bildtheorie ist hier paradigmatisch: An die Stelle des fest umrissenen Eidos setzt Blanchot die Berührung, die Faszination, statt es als Gestalt zu konzeptionalisieren, sieht er das Bild als »Geflimmer der Differenz«.11 In seinem Aufsatz Les deux versions de l’imaginaire von 1951 leitet schon der Titel die doppelte Absetzbewegung ein,12 welche der Essay in der Folge konsequent vollzieht: Anstelle des Tafelbilds, der Fotografie rückt das Imaginäre ins Zentrum der Überlegung. Und statt seinen Gegenstand als Einheit zu analysieren, fasst ihn Blanchot von vornherein als gespalten, ambig, zweigeteilt auf. Erst die Verspannung der beiden Fassungen des Imaginären macht das ›Bild‹ zu einer ihm wichtigen Figur. Blanchot forciert die Dichotomie, um sie zugleich zu untergraben. Der noch recht konventionellen ersten Fassung

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Knut Ebeling: Maurice Blanchot, in: Bildtheorien aus Frankreich. Ein Handbuch, hg. v. Kathrin Busch/Iris Därmann, München 2011, S. 73-83, hier S. 81. Die Übersetzung des französischen l’imaginaire ins Deutsche bereitet einige Schwierigkeiten. Um die wichtige Referenz Jean-Paul Sartre kenntlich mitzuführen, wäre die Übersetzung als das Imaginäre naheliegend. Allerdings bietet der deutsche Begriff des Bildlichen eine gerade für Blanchots Denken attraktive Deutungsweite. So finden sich aktuell sowohl Die zwei Fassungen des Imaginären als auch Die zwei Fassungen des Bildlichen unter den Blanchotübersetzungen. Für mich war der Begriff des Imaginären wichtig und ausschlaggebend dafür, mich durchweg auf die Übersetzung von Emmanuel Alloa zu beziehen, ohne damit die Übersetzung von Marco Gutjahr und Jonas Hock (Maurice Blanchot: Die zwei Fassungen des Bildlichen, in: Der literarische Raum, hg. v. Maurice Blanchot, Zürich 2012) als Ganzes zurückstellen zu wollen.

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des Imaginären als die Dinge verfüg- und handhabbar machenden Einbildungskraft setzt er eine zweite entgegen, die er ›Faszination‹ nennt.13 Die erste Fassung markiert die Dimension der Freiheit, der Beherrschung und der Aktivität. Die zweite aber diejenige der Widerfahrnis, des Ausgeliefertseins, der Passivität.14 Ist das Bild (l’image) zunächst Rahmung, die »Grenze am Unbestimmten«, durch die wir »jenes formlose Nichts, das der untilgbare Überrest des Seins uns aufdrängt, zu besänftigen, zu zivilisieren« suchen,15 so manifestiert sich im Bild immer auch ein Überschuss, der sich unserem Zugriff entzieht, die Rahmung sprengt. Der Geste der Beherrschung und der Verfügbarmachung ist eine Bewegung des Sich-Auslieferns immer schon eingeschrieben. Blanchot beschreibt diese grundsätzliche Ambivalenz entlang des für seine Überlegungen paradigmatischen Totenbildes. Der altrömische Name jener wächserner Masken, die als Bild der Toten im Atrium des Hauses aufgestellt wurden, bildet den etymologischen Grund des französischen ›image‹. Doch sind die ›Imagines‹ als Bilder der Toten auch durch eine »leichenhafte Unheimlichkeit« bestimmt.16 Anstatt Abbild eines Vorbilds zu sein, sind sie wie die Leiche selbst durch einen irritierenden Selbstbezug bestimmt. »Etwas steht da vor uns, das weder der Lebende selbst ist noch irgendeine andere Realität, weder der Gleiche wie der, der lebte, noch irgendein anderer, noch irgendein anderes.«17 Ein Selbstbezug, den der tote Körper durch den Bruch mit den das Leben auszeichnenden Bezügen, Verbindungen, Beziehungen gewinnt. Zurückgeworfen auf sich selbst, herausgelöst aus den Zusammenhängen des Lebens, kann der Leichnam nicht mehr Abbild von etwas anderem sein. Der Leichnam wird sein eigenes Bild.18 Wo »das Gefühl einer zwischenmenschlichen Beziehung zerbricht […] beginnt der beklagte Verstorbene ›sich selbst zu ähneln‹.«19 Der tote Körper ist Bild seiner selbst, weil er nichts mehr hat, das er abbilden könnte, weil er herausgefallen ist aus

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Vgl. Emmanuel Alloa: Anblick und Gegenblick. Totenmasken nach Heidegger und Blanchot, in: Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit. Maurice Blanchot und die Leidenschaft des Bildes, hg. v. Marco Gutjahr und Maria Jarmer, Wien 2016, S. 269-293, hier S. 269. Maurice Blanchot: Die zwei Fassungen des Imaginären (1951), in: Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie, hg. v. Emmanuel Alloa, München 2011, S. 89-101, hier S. 90. Blanchot 2011 (wie Anm. 14), S. 90. Blanchot 2011 (wie Anm. 14), S. 91. Blanchot 2011 (wie Anm. 14), S. 91. Blanchot 2011 (wie Anm. 14), S. 92. Blanchot 2011 (wie Anm. 14), S. 93.

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dem Verweisungszusammenhang, der die Welt der Lebenden ausmacht.20 Zugleich zeigt sich so an ihm gerade jene Dimension des Bildes auf besonders eindrückliche Weise, die nicht im Abbild aufgeht, keine Anwesenheit des Abwesenden im Register der Repräsentation ist. Der Leichnam entzieht sich unserem Zugriff. Die Selbstähnlichkeit des Totenbilds macht die jedem Bild inhärente Unverfügbarkeit zur dominanten Erfahrung. »Der Tod suspendiert die Beziehung zum Ort«21 und lässt eine andere, von der stabilen Ordnung der Repräsentation leicht überdeckte chaotische Raum-Zeit des Bildes in den Vordergrund treten; jenen »Raum, der Taumel des Zwischenraums ist«; im Taumel des Zwischenraums aber »herrscht die Faszination.«22 Die zwei Fassungen des Imaginären sind für Blanchot somit aber auch weniger Opposition als das sich nie vollständig lösende Paradox des Bildes: So sehr das Bildermachen, das Einrahmen und Verfügbarhalten dem Ergriffensein und Berührtwerden durch Bilder entgegenzustehen scheint – der Gegensatz bleibt für ihn eine nur analytische Konstruktion, um die Ambiguität des Bildes anzunähern; auflösen lässt sich diese damit nicht: »Was hier im Namen des Bildes spricht, kündet ›mal‹ noch von der Welt, ›mal‹ führt es uns schon in den unbestimmten Zwischenraum der Faszination ein, ›mal‹ gibt es uns die Macht, über die Dinge in ihrer Abwesenheit und über die Fiktion zu verfügen, wodurch es uns in einem sinnträchtigen Horizont zurückhält, ›mal‹ lässt es uns dorthin gleiten, wo die Dinge vielleicht gegenwärtig sind, doch im Bild, dorthin, wo das Bild das Moment von Passivität darstellt, wo es weder einen sinnhaften noch einen affektiven Wert mehr besitzt und Leidenschaft der Indifferenz ist. Das, was wir mit einem ›mal…mal‹ unterschieden, sagt die Ambiguität jedoch auf gewisse Weise immer beides, sie sagt das sinnhafte Bild im Herzen der Faszination und fasziniert uns doch schon Kraft der reinsten, der ausgeprägtesten Klarheit des Bildes. Hier entweicht der Sinn nicht auf einen anderen, er entweicht auf das Andere des

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Nicht zufällig verweist Blanchot hier implizit auf die Zuhandenheitsanalyse Martin Heideggers und die Auffälligkeit gerade jener Dinge, die durch Beschädigung unbrauchbar geworden sind. Erst ihre Nutzlosigkeit lässt sie nicht mehr im Hinblick auf anderes funktionieren, sondern in Richtung ihrer selbst in Erscheinung treten. Die Erscheinung ist damit negativ abhängig von der Zuhandenheit, der sich das auffällige Ding eben entzieht. Blanchot 2011 (wie Anm. 14), S. 92. Maurice Blanchot: Der literarische Raum, Zürich 2012, S. 24.

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Sinns hin und aufgrund der Ambiguität hat nichts mehr Sinn: alles scheint unendlich Sinn zu haben.«23 Das Bild (l’image) ist immer nur als das Gemisch der zwei Fassungen des Imaginären aufzufassen. Es ist nie einfach nur Abbild, nie einfach nur Sinn, sondern immer schon die unbeherrschbare Bewegung einer Proliferation von Sinn. Gerade hier aber liegt die Besonderheit der Blanchot’schen Bildtheorie und letztlich auch ihre Bedeutung für die Frage nach der Aisthesis im Zeitalter der Digitalität: Blanchot verankert seine Widerständigkeit im Zentrum menschlicher Freiheit, der Einbildungskraft. Mit der unbeherrschbaren Bewegung einer Proliferation von Sinn bleibt ein dem souveränen Zugriff des Individuums Entzogenes in aller imaginären Formung. Es sind die Routinen unseres Alltags, deren Verlässlichkeit, die uns die Illusion eines unendlichen Könnens einflößen. Während in dieser Illusion das Unerwartete, NichtKalkulierte und Unbeherrschte aber nur negativ als Störung, als Fehler oder als Scheitern auftreten kann,24 macht Blanchot mit der Verschränkung der zwei Fassungen des Imaginären die Bewegung des Übergangs, den Taumel des Zwischens zum Raum der Faszination und diese zum Kern aisthetischer Erfahrung. Wie sehr der allgemeine Optimierungsdruck auch unseren Blick auf Linie gebracht, gezähmt hat,25 er trägt die Dimension des Anderen als mögliche Erfahrung immer schon in sich. »Der Blick findet so in dem, was ihn ermöglicht, die Macht, die ihn neutralisiert, die ihn weder in der Schwebe hält noch hemmt, sondern ihn im Gegenteil daran hindert, jemals zu Ende zu kommen, ihn von jedem Anfang trennt, aus ihm einen verirrten neutralen Lichtschimmer macht, der nicht erlischt, der nicht erhellt, den in sich geschlossenen Kreis des Blickes.«26 Was aber für seine Bild-, seine Blicktheorie gilt, gilt für Blanchots gesamtes Denken: Nicht das Ereignis, der Gegenstand, die These stehen in seinem Zentrum. Es umkreist das Weder-Noch, das Müde, Unentschiedene, Neutrale, ist weniger abstrakte Theorie als die konkrete Suche nach immer neuen Wegen in die Faszination. Weil sie sich nicht kolonisieren lässt, kein Teil der täglichen Routine werden kann, braucht es weniger das Argument als die Irritation, Verschiebung, Störung, um sie anzunähern. Nicht im Sinne eines 23 24 25 26

Blanchot 2011 (wie Anm. 14), S. 99. Vgl. Giorgio Agamben: Nacktheiten, Frankfurt a.M. 2010, S. 77. Vgl. Blanchot 2012 (wie Anm. 22), S. 43. Vgl. Blanchot 2012 (wie Anm. 22), S. 25.

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großen Clashs, sondern als hartnäckig-vorsichtige Dynamisierung eingefahrener Wahrnehmungsmuster.

Warten Die 2015 zur Münchner RischArt von der Künstlergruppe LIGNA entworfene App Warten. Ein Audioguide ins Nichtstun ist so ein Versuch, irritierend zu wirken, die Möglichkeiten digitaler Alltagstechnologie gegen den Imperativ ständiger, umfassender Optimierung zu wenden. Statistisch warten wir einen beträchtlichen Teil unseres Lebens. Über die sieben Jahrzehnte durchschnittlicher Lebenszeit summieren sich die ungenutzten Stunden und Minuten, die wir auf Bahnsteigen und Haltestellen, an Supermarktkassen oder Praxisvorzimmern verbringen, auf ganze fünf Jahre oder 60 Monate. Für Selbstquantifizierer eine schockierende, zugleich aber auch Chancen bergende Erkenntnis. Diese ›verlorene‹ Zeit kann neu gewonnen werden. Und tatsächlich bietet mittlerweile selbst ein klassischer Buchverlag wie Kiepenheuer und Witsch in seiner ›Schöner Warten App‹ auf die je spezifische Wartezeit abgestimmte Lektüren literarische Texte ›großer Autoren‹ an. Ganz anders das Projekt von LIGNA. Hier geht es nicht darum, Lücken im Zeitplan produktiv zu machen. Die Leere der Wartezeit soll gerade nicht vertrieben, nicht mit selbstverbessernder Aktivität gefüllt werden. LIGNA sucht mit seiner App stattdessen Wege, das Nichtstun in der Hektik unseres Alltags anzunehmen und zu affirmieren: »WARTEN ist eine App, die es den Wartenden erlaubt, zu vergessen, worauf sie warten. Die Hörstücke des Audioguides laden dazu ein, stehenzubleiben, den Zug zu verpassen, sich in Gesten des Wartens zu üben und die eigene Haltung des Wartens zu überprüfen (vertreiben wir die Zeit oder laden wir sie zu uns ein?).«27 Die kurzen Stücke adressieren ihre Hörer in deren Alltag, verschieben und verändern die Wahrnehmung der diesen dominierenden Routinen. Beim Warten auf den Zug fordert die Stimme im Ohr nachdrücklich sanft: »Gehen Sie auf und ab. Immer drei Schritte in die eine Richtung, drei Schritte in die andere

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LIGNA: Warten, URL: https://www.ligna.org/2015/06/warten-waiting-ein-audioguide-i ns-nichts-tun-2/ letzter Zugriff [19. Februar 2022].

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Richtung. Nicht zu schnell, nicht zu gemächlich.«28 Das eigene Gehen zeigt sich in der Übung von einem ansonsten unbemerkten Schwanken durchzogen. Das sichere, stabile Schreiten ist tatsächlich ein permanentes Fallen, von einem Fuß auf den anderen. Eine vom Sturz bedrohte und gezeichnete prekäre Choreographie.29 Ein Taumeln des Zwischenraums wie das Warten selbst. Der rechte Fuß einen Schritt weit vor dem linken, die Hände auf dem Rücken verschränkt wird dieses Schwanken in die stillgestellte und doch durch eine permanente Dynamik mikromuskulärer Strukturen bestimmte Haltung überführt. Die starke Trennung von aktivem Tun und passivem Erleiden wird schwach und schwächer – wie die programmatische Trennung zwischen weiblicher und männlicher Sprecherstimme immer dünner wird. »Die Mikrophysik des Wartens. Balancierend zwischen der absoluten und entsprechend wahnhaften Sicherheit, dass das Erwartete bestimmt eintritt, und dem Fallen in die hoffnungslose, depressive Gewissheit, dass das Erwartete niemals mehr eintreten wird.«30 Eine Zwischenwelt, die schließlich ganz bewusst aufgelöst wird: »Beenden Sie den Balanceakt. Geben Sie nach. Verlieren sie die Haltung. Fallen Sie. Und legen Sie sich hin.«31 LIGNAs Audioguide zieht seine Hörer aus der Zielstrebigkeit des Alltags in den Zwischenzustand des Wartens. Statt aber auf Konzentration und Sammlung angelegte Meditation geht es in diesen Einspielungen um Zerstreuung, um die Erfahrbarkeit des Eigenwerts eines nicht schon auf ein gestecktes Ziel hin vorentschiedenen Moments. »Die Augen warten nicht, sie haben immer etwas zu tun.«32 Insbesondere am Bahnhof, an jenem Ort, an welchem Wartezeiten eingeplant sind und zugleich durch Konsumzonen unterschiedlichster Art ›unschädlich‹ gemacht werden

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Der Balanceakt, Min. 00:11-00:21, in: LIGNA: Warten, URL: https://www.ligna.org/2015 /06/warten-waiting-ein-audioguide-ins-nichts-tun-2/. [19. Februar 2022]. Vgl. Winfried Gerling / Fabian Goppelsröder: Was der Fall ist… Prekäre Choreographien, Berlin 2017. Der Balanceakt, Min. 02:21-02:37, in: LIGNA: Warten, URL: https://www.ligna.org/2015 /06/warten-waiting-ein-audioguide-ins-nichts-tun-2/. [19. Februar 2022]. Der Balanceakt, Min. 02:38-02:50, in: LIGNA: Warten, URL: https://www.ligna.org/201 5/06/warten-waiting-ein-audioguide-ins-nichts-tun-2/. [19. Februar 2022]. Die zerstreuten Augen, Min. 00:16-00:18, in: LIGNA: Warten, URL: https://www.ligna. org/2015/06/warten-waiting-ein-audioguide-ins-nichts-tun-2/. [19. Februar 2022].

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sollen. Die Hörerin soll ihre Augen schließen, sie aus der Bindung an die Außenwelt mit ihren Reizen lösen. Dann, schließlich, öffnet sie die Augen wieder. »Fokussieren Sie den Blick auf einen Ort, an dem nichts passiert.«33 Das Spiel von Lösung und Fixierung, Anfüllen und Leeren des Blicks, intentionalem Beobachten und Wirkung des Nachbilds befreit die Wahrnehmung aus dem Zwang äußerer Anforderungen und lässt den Blick schweifen bis man etwas entdeckt, was man noch nie gesehen hat. »Ein geheimes Band der Ähnlichkeit verbindet die Dinge miteinander, das nur von denen entdeckt wird, die warten.«34 Zugleich zielt diese Übung wie die App insgesamt nicht auf ein besseres Entziffern der Welt. Sie zielt vielmehr gerade auf die Störung, Irritation, Verhinderung unserer Gewohnheit, alles auslesen zu wollen. »Hören Sie auf, die Welt zu lesen. Ihrem glasigen Blick werden alle Dinge ähnlich und darin zu Chiffren, die zu enträtseln, alle Wartezeit der Welt braucht. Werden Sie selbst unlesbar in einer Welt, in der alles ausgelesen wird. Legen Sie sich hin, wo es Ihnen bequem ist. Schließen Sie die Augen. Audioguide Nummer 7 begleitet sie in den Schlaf, in dem Sie ganz andere Dinge werden sehen können.«35 LIGNAs App ist kein philosophischer Traktat. Sie ist eine Kunstaktion über das Warten. Als solche aber schafft sie es tatsächlich, einen in den Taumel des Zwischenraums, des Nichtstuns zu führen. Die Zeit wird lang und länger und zeigt sich doch gerade nicht als leer. Zeiten unbestimmten Wartens können so zu Öffnungen in der Getriebenheit des Alltags werden. Die Einbildung einer perfekten, kristallinen Welt weicht auf. Das Ideal der Reibungslosigkeit verblasst.        

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Die zerstreuten Augen, Min. 01:26-01:28, in: LIGNA: Warten, URL: https://www.ligna.o rg/2015/06/warten-waiting-ein-audioguide-ins-nichts-tun-2/. [19. Februar 2022]. Die zerstreuten Augen, Min. 04:25-04:33, in: LIGNA: Warten, URL: https://www.ligna.o rg/2015/06/warten-waiting-ein-audioguide-ins-nichts-tun-2/. [19. Februar 2022]. Die zerstreuten Augen, Min. 04:56-05:33, in: LIGNA: Warten, URL: https://www.ligna. org/2015/06/warten-waiting-ein-audioguide-ins-nichts-tun-2/. [19. Februar 2022].

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Coda In einer kleinen literarischen Vignette von 1926 beschreibt der Nationalökonom und Sozialphilosoph Alfred Sohn-Rethel die besondere Beziehung der Einwohner von Neapel zur Technik: »Technische Vorrichtungen«, schreibt er, »sind in Neapel grundsätzlich kaputt: nur ausnahmsweise und dank eines befremdlichen Zufalls kommt auch Intaktes vor. Mit der Zeit gewinnt man den Eindruck, dass alles schon in kaputtem Zustand hergestellt wird.«36 Was im ersten Moment aber wie nur ein weiterer Aufruf des alten Topos einer durch dolce vita bestimmten südländischen Lebensform erscheint, wird bei Sohn-Rethel Skizze eines anderen, uns ungewohnten Weltverhältnisses. Denn dass der Apparat kaputt, dysfunktional ist, heißt nicht, dass er nicht funktionieren würde. Doch fängt das Funktionieren »gerade erst da an, wo etwas kaputt ist.«37 Reichtum und Faszination des Lebens in Neapel ist nicht zuletzt Effekt der Abkehr vom Ideal der optimierten Welt. Stattdessen wird ein Leben in permanenter Improvisation gesucht. Autos werden mit kleinen Holzstückchen repariert, der Motor eines kaputten Mopeds kann zum Antrieb einer Kuchenmaschine werden und der die Stadt nur unzureichend erhellende wackelige Strom entfaltet nur da seine ganze Kraft, wo er sich in der Strahlenkrone einer Madonna mit der »Glorie der religiösen Mächte«38 verbinden darf. Statt sich der Maschinenlogik in der Quantifizierung noch des eigenen Körpers zu verschreiben, legt ›der‹ Neapolitaner »sein Veto gegen den feindlichen und verschlossenen Automatismus der Maschinenwesen«39 ein und springt selber in die Welt der Technik. »Denn er eignet sich die Führung der Maschinen nicht so sehr dadurch an, dass er ihre vorschriftsmäßige Handhabung erlernt, als indem er den eigenen Leib darin entdeckt.«40 Der Zwang zur Perfektion und Optimierung ist ausgesetzt, der scheinbare Defekt wird hier Teil einer Lebensform. SohnRethels Neapolitaner begnügen sich nicht einfach damit, was schon ist. Sie sind aktiv gestaltend, nehmen das Kaputte als Ausgangspunkt und Motor

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Alfred Sohn-Rethel: Das Ideal des Kaputten – über neapolitanische Technik (1926), in: Bremen und Italien. Zur Geschichte einer Beziehung, Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens (Heft 16), Bremen 1994, S. 146-149, hier S. 146. Sohn-Rethel 1994 (wie Anm. 36), S. 146. Sohn-Rethel 1994 (wie Anm. 36), S. 147. Sohn-Rethel 1994 (wie Anm. 36), S. 148. Sohn-Rethel 1994 (wie Anm. 36), S. 148.

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eines spielerischen Umgangs mit der Wirklichkeit, in dem Eindeutigkeit weniger zählt als die Möglichkeiten des Amorphen. Sohn-Rethel sieht an seinen Neapolitanern den Sinn für das Unentschiedene, den Taumel des Zwischenraums, die Faszination als Basis eines ziellosspielerischen Weltverhältnisses. Erst das Durchbrechen der Routinen und Gewohnheiten des Alltags gibt den Raum für Unerwartetes und nicht-Geplantes, den Raum aisthetischer Erfahrung, der unter dem Optimierungsdruck unserer digitalen Zeit nur noch so schwer zu begehen ist.

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Anderes und anders sichtbar machen Jenseits des Verstehens bildlicher Artikulationen  in sozialen Medien Nick Böhnke »Früher leuchteten unsere Gesichter rot in der Hitze der lodernden Flammen. Heute werden wir blau angeleuchtet: blau das Kinn, blau der Hals, blau die Pupillen. Das Blau unserer Bildschirme. Es muss andere Wege geben, das Neue zu sehen.«1

Ganz gleich, ob im Bus, der Bahn, an der Ampel, der Schlange an der Kasse, in Restaurants, Cafés und Bars – überall sieht man sie, die ›Digital Natives‹ mit ihren gesenkten Häuptern, vertieft in die Bildschirme ihrer Smartphones, wie sie teilen, folgen, liken und ihre Zeit darauf investieren, den virtuellen Statusmeldungen abwesender Anderer Aufmerksamkeit zu schenken, nur um dieselbe auch für sich einzufordern. Ist dies nicht ein Austausch des immer Gleichen? Scheint es nicht ganz so, als inszenierten sie alle sich beim Betreiben der immer gleichen Sportarten und trügt der Eindruck, es entstünden fortan Bilder, die suggerieren, sie alle würden sich besonders gesund und von den immer gleichen Nahrungsmitteln ernähren? Scheinen sie sich nicht alle in der immer gleichen uniformen Kleidung und den immer gleichen Posen zu präsentieren, ihre uniform gestalteten Wohnräume zu öffnen oder an die immer gleichen exotischen Orte zu reisen, um die immer gleichen Bilder aus den immer gleichen Perspektiven aufzunehmen, ganz so, als gäbe es in

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Mark Greif: Nachwort. Im Tal, in: Mark Greif. Bluescreen. Essays, hg. v. Kevin Vennemann, Berlin 2011, hier S. 230.

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dieser unendlichen Wiederholung dennoch etwas genuin Eigenes und Neues zu entdecken? Die Nutzung der bildbasierten sozialen Medien fußt auf einer prozessualen Form des Austauschs von Sehendem und Sichtbarem, der zwischen dem Selbst und der Welt vermittelt und in der bildlichen Artikulation immer nur eine einzige Möglichkeit der Beziehung von Form und Farbe hervorbringt, die es den sich ästhetisch rational verhaltenden Produzenten und Rezipienten ermöglicht, die Darstellung einer bestimmten und permanent wiederholten Sicht auf die Welt zu intendieren, während die Möglichkeit der Artikulation durch immer neue fotografische Bilder zugleich das Risiko der Auflösung dieser scheinbar festgeschriebenen Formen birgt, wodurch das Erscheinen nicht-intentionaler und damit im Unverständlichen verbleibender formaler Relationen zugelassen wird. Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob die Produzenten mit all ihren unablässigen Anstrengungen, Bilder von etwas zu produzieren nicht immer auch dazu genötigt sind, sich der Kontingenz des sich Zeigenden zu ergeben und so die Präsenz eines unbestimmten Anderen zuzulassen.

Von Grenzen und Schwellen Wann immer das Leuchten der Bildschirme die Gesichter erhellt, wird all das, was jenseits des Screens, all das, was jenseits des Bildausschnitts liegt, kaum mehr wahrgenommen. Bildet das Gesichtsfeld an seinen Rändern Schwellen der Unschärfe, die im Wandern des Blicks überwunden werden und eine neue Fokussierung ermöglichen, die ihrerseits wieder von Schwellen gerahmt ist und das Sehen zu einem uferlos ausgedehnten Vollzug und damit ein absolutes Erfassen des potentiell Sichtbaren unmöglich macht, umgrenzt der leuchtende Screen ein klar definiteres Bildfeld. Die Welt erscheint primär vermittels derjenigen überschaubaren Bilder, die von den Anderen bereitgestellt werden. Und trotz der Schwemme immer neuer Bilder mag man sich von Zeit zu Zeit des Eindrucks nicht erwehren können, dass in den bildbasierten sozialen Medien – allen voran Instagram – ein bestimmtes Bildrepertoire etabliert worden ist. Wiederkehrende Motive werden stets in einer jeweils kompositorisch ähnlichen Bildanlage im Foto festgehalten; anders gewendet: zur Etablierung dieses motivisch-kompositorischen Social-Media-Kanons müssen immer wieder sehr ähnliche Ausschnitte aus dem je Sichtbaren herausgegriffen werden. So wird über die Schwellen des Gesichtsfeldes immer nur

Anderes und anders sichtbar machen

so weit hinausgegangen, als es notwendig ist, um im Sichtbaren endlich auf die Grenzen des wohl Bekannten zu stoßen, das in seiner Ähnlichkeit erfasst und als Bild nur noch reproduziert wird. Doch ist das Sichtbare ein Entgegenkommendes, das, so Bernhard Waldenfels, nicht wäre, gäbe es nicht jemanden, der etwas oder jemanden auf sich zukommen lässt. Das leibliche Hier fungiert als Nullpunkt und aktuelles Zentrum, das nicht nur den Spielraum leiblicher Bewegungen, sondern mit ihm auch das überhaupt Sichtbare absteckt, das empfangen wird. Das primäre Aufmerken ist zuallererst eine Erfahrung in actu an der Schwelle des Auffallens, ein Auf- und Entgegennehmen des Anderen, das Ankommen-Lassen eines Anderen, das bei aller möglichen Wiederholung doch niemals dasselbe ist. Gegenüber diesem Aufmerken ist das Auffallen eine sekundäre Aufmerksamkeit, die bereits über ein Repertoire an Auffälligkeiten und entsprechende Aufmerksamkeitseinstellungen verfügt, die im eigenen abgesteckten Nahbereich liegen.2 Das Ich ist sich selbst immer schon gegeben. So hebt Hans Ulrich Reck in seiner Kritik an der narzisstischen Zurschaustellung in den sozialen Medien besonders hervor, dass es dem Einzelnen zu genügen scheine einfach da zu sein und sich selbst zu genügen. »Das Ich in der Selbstspiegelung, das Ich beim Aufstehen, beim Verzehr von Banalitäten, artikulierend Absonderungen von Banalitäten, getauscht mit und bekräftigt durch die Banalitäten der anderen.«3 Doch sind es nicht gerade die Anderen, denen das Ich in den sozialen Medien zu begegnen sucht? Steht nicht das Selbst in Frage und wird vom Anderen zu einer Selbstbefragung aufgefordert, die Emmanuel Lévinas als grundlegende Voraussetzung des Empfangens des absolut Anderen und damit der Sozialität bestimmt? Lévinas deutet das Ich-Sein als eine Verantwortung gegenüber dem Anderen, der man sich nicht entziehen könne, weil die Einzigkeit des Ich gleichermaßen bedeute, dass niemand an seiner Stelle antworten könne. Indem man die Ankunft des Anderen zulässt, wird die Ich-Bezogenheit des ego cogito und mit ihm die Intentionalität umgestürzt.4 Damit richtet sich

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Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M. 2004, S. 84-86. Hans Ulrich Reck: Erfolg, wider Erfolg, in: Kunstforum International 254 (2018), S. 41. Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen (1963), in: Emmanuel Lévinas. Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hg. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg i.Br. 1992, S. 223f.

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Lévinas gegen Edmund Husserl, dem die Welt und die in ihr interagierenden Menschen als Erfahrungsgegebenheiten und Seinsphänomene vermöge der sinnlichen Wahrnehmung des sich selbst bewussten Ich gelten. Dem Urteil »Ich bin« entspreche das Urteil der inneren (= adäquaten) Wahrnehmung ungezählter Urteile der Form »ich nehme dies oder jenes wahr«, es ist mir gegeben und gleichermaßen schon vom Ich selbst erfasst als das, was es ist,5 um sodann vom denkenden Ich durch cogitationes, durch die Vollzüge des Bewusstseins für sich selbst erdacht, beurteilt, bewertet und begehrt zu werden, sodass Sozialität und Kultur überhaupt erst ausgebildet werden.6 »Ihren ganzen, ihren universalen und spezialen Sinn und ihre Seinsgeltung hat sie [die Welt] ausschließlich aus solchen cogitationes.«7 Wenn aber die absolute Alterität des in sinnlicher Wahrnehmung Gegebenen ankommen gelassen, in seiner absoluten Alterität dem Ich nicht einverleibt und nicht schon als etwas erfasst und beurteilt wird, dann wäre die Rede vom Austausch von Banalitäten nicht zu rechtfertigen, ist doch die Deklaration der Banalität eines Vollzugs und die damit verbundene Ablehnung der Bildwürdigkeit des banalen Vollzugs vom Ich aus dem Inneren seiner eigenen abgesteckten Grenzen her intendiert. Sollte die Intentionalität des cogito zugunsten der Epiphanie des vom absolut Abwesenden herkommenden Anderen in Frage stehen, bliebe das Bedeuten in den Worten Lévinas eine unaufhebbare Verwirrung. Es bliebe das Bedeuten der Spur. Im Antlitz des Anderen würde das Bedeuten des Transzendenten die Transzendenz nicht vernichten, um sie einer immanenten Ordnung einzufügen. »In der Spur ist die Beziehung zwischen dem Bedeuteten und der Bedeutung nicht eine Korrelation, sondern die eigentliche Unrichtigkeit.«8 Deshalb vermag Roland Barthes nicht in den letzten vor ihrem Tod aufgenommenen, wohl aber in jenen Fotografien, die die Mutter als kleines Mädchen zeigen, ihr Wesen wiedergegeben zu finden. Wenngleich die Zeit, da seine Mutter vor ihm lebte, ihm nicht zugänglich ist, erscheint ihm das Bild aus ihren Kindertagen im Wintergarten des Geburtshauses in Chennevières-sur-Marne als das einzig richtige Bild ihrer selbst,9

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Edmund Husserl: Logische Untersuchungen (1900), Hamburg 2009, S. 367f. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie (1931), hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 3 1995, S. 20-25. Husserl 1931 (wie Anm. 6), S. 22. Lévinas 1963 (wie Anm. 4), S. 228. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989, S. 74-78.

Anderes und anders sichtbar machen

weil sie am Ende ihres Lebens, als er sie pflegte, in seinen Augen »wieder zum Wesen des Kindes zurückgefunden« habe.10 Die Fotografie zeigt ein Kind, und doch erkennt Barthes in ihm das Kind, das erst noch seine Mutter und für ihn dann wieder dieses Kind werden würde. Was sich im Bild noch als Spur zeigt, konfrontiere, so Sybille Krämer, mit einer uneinholbaren Ferne, einer unüberwindbaren Absenz, Unzugänglichkeit und einem unwiederbringlichen Vergangensein.11 Diese Fotografie eines Kindes, das einmal Barthes’ Mutter werden würde, würde jeder andere Betrachter lediglich als irgendein beliebiges Kind anschauen, weshalb Barthes sich dagegen entschied diese Fotografie in seiner Bemerkung zur Fotografie zu veröffentlichen. Denn das Wesen seiner Mutter vermag nur er im Bild zu erkennen.12 So ist die Spur ein Entzug und die Chiffre einer Unmöglichkeit des sicheren Wissens und der definierten Erkenntnis.13 Geschieht dann, da mit den sozialen Medien ein Ort gegeben ist, an dem jedes Bild mit anderen Nutzern geteilt werden kann, sodass es nicht als ausgemacht gelten kann, dass die Intention eines Bildinhalts durch die formale Artikulation zwischen Produzenten und Rezipienten bruchlos vermittelt wird, nicht eher ein Gleiten über Schwellen denn die Überwindung einer klar definierten Grenze zwischen Intentionalität und Spur? Im Prozess der Formung muss der Augenblick des sich (Sich) Zeigens sich ereignen gelassen werden,

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Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 82. Sybille Krämer: Immanenz und Transzendenz der Spur. Über das epistemologische Doppelleben der Spur, in: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hg. v. Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube, Frankfurt a.M. 2 2016, S. 156f. »(Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich. Für Sie wäre es nichts als ein belangloses Photo, eine der tausend Manifestationen des absolut beliebigen ›Gegenstands überhaupt‹; es kann auf keine Weise das sichtbare Objekt einer Wissenschaft darstellen; es kann keine Objektivität im positiven Sinne des Begriffs begründen; bestenfalls würde es für ihr ›studium‹ von Interesse sein: Epoche, Kleidung, Photogenität; doch verletzen würde es sie nicht im mindesten.)« (Hervorhebungen wie im Original); Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 83. Barthes hebt hier noch einmal auf seine zuvor getroffene Unterscheidung zwischen studium und punctum, zwischen der Empfindung eines durchschnittlichen Affektes, einem allgemeinen Gefallen am Abgebildeten ohne besondere Heftigkeit auf der einen und dem pathischen Getroffensein durch ein zufälliges Detail, das jeden persönlich in seinen bisher gemachten Erfahrungen wie ein »Stich, [ein] kleines Loch, [ein] kleiner Fleck, [oder ein] kleiner Schnitt« zu verletzen scheint. Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 35f. Krämer 2016 (wie Anm. 11), S. 157.

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sodass das Ereignis das Erscheinen eines Geformten austrägt, das zur Präsenz kommen gelassen wird und der Wahrnehmung gegeben ist, noch bevor es als Darstellung von etwas erkannt wird. Sollte diese Präsenz im Bild zugelassen werden, wie stünde es dann um die Verständlichkeit der bildlichen Artikulation in den bildbasierten sozialen Medien?

Versuche das Selbst zu repräsentieren Der Newsfeed der Social-Media-Anwendung ist jederzeit und mit nur einer Wischgeste des Fingers zu aktualisieren und hält, sollte man genug anderen Accounts folgen, immer wieder neue piktorale Impulse bereit. Den möglichen Zweifeln der reflektierten Bildproduktion und Bildauswahl steht ein dem Tempo der Produktionsleistung der zahlreichen Anderen notwendigerweise angepasstes Minimum der Reflexion der eigenen Bildproduktion entgegen. Denn der potentiell zu produzierenden Masse an Fotografien ist mit den sozialen Medien ein Ort gegeben, an dem sie sämtlich und augenblicklich publiziert werden können. Ohne die App je verlassen und ohne den Blick je über den Screen hinaus gleiten lassen zu müssen, ermöglicht die intuitive Wischgeste den Wechsel zur eigenen Kamera und damit das Reagieren auf die Anderen und den unmittelbaren Wechsel von einem gerade noch Rezipierenden hin zu einem sich selbst im Bild Produzierenden. Hard- und Software, Apparat und App provozieren auf Seiten ihrer Nutzer eine den Ansprüchen der Apparate entsprechende Antwort,14 die den Einzelnen allerdings vor Probleme der Repräsentation des Selbst stellt. Mit dem Smartphone mag man ein Bild von sich machen, mit dem darauffolgenden Upload macht man sich auch selbst zum Bild.15 Mit Martin Heidegger ist jeder Einzelne je seine Möglichkeiten selbst, so dass er sich in und aus ihnen versteht und sich auf sie ent14

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Um die Handelnden in ihrem jeweiligen Handeln als der Welt leiblich Zugehörige zu erfassen, verfolgt Bernhard Waldenfels nicht länger den Ansatz eine Handlung lediglich daraufhin zu beurteilen, ob sie gelungen ist, ihr Ziel erreicht und die zugehörige Absicht erfüllt hat, sondern er fragt danach, ob die ausgeführten Handlungen den Anforderungen einer Person oder Sache gerecht werden, ob es sie etwas aus dem Gegebenen machen und wieweit sie die Möglichkeiten ausschöpfen und mit ihnen fertig werden, oder auch nicht. Vgl. Bernhard Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a.M. 1985, S. 132f. Wolfgang Ullrich: Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens (Digitale Bildkulturen), Berlin 2 2019, S. 8.

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wirft. In die Welt geworfen und nun mit der Aufgabe des Entwurfs des Selbst konfrontiert, geht es ihm im Mitsein mit den Anderen, die insofern von ihm nicht unterschieden sind, als dass auch sie da und innerhalb der Welt mit vorhanden sind,16 immer nur um sein eigenstes Seinkönnen selbst.17 Und so üben die technischen Ansprüche der Apparate, indem sie das Erleben sozialer Beziehungen stark beeinflussen, Zwänge auf den Einzelnen und den Entwurf des Bildes seines Selbst aus. Unablässig muss er es durch immer neue Bilder zu repräsentieren versuchen, um soziale Anerkennung nach Maßgabe von Likes und steigenden Followerzahlen zu finden und sich schließlich in deren Widerhall seines Selbst rück zu versichern.18 In der Nutzung der iPhones, iPads und iMacs, denen das Ich schon ihren Namen gibt, glaubt Reck jeden Einzelnen in den Bildschirm seines Smart-Devices als dominantem Zugang zur Wahrnehmung der Welt versunken und in der Absolutheit des cogito nur noch bestärkt. Jeder erscheint als Vereinzelter, der in den sozialen Medien anderen Vereinzelten begegnet, die ihm als Objekte seiner Wahrnehmung gegenübertreten, damit er sich selbst in ihnen gespiegelt wiederfinden und in seinem eigensten Selbst-sein bestimmen kann.19 Und schließlich ist er doch auf die Anderen angewiesen, nicht nur, weil sie ihm Feedback, sondern weil sie Möglichkeit zur Imitation und der sozialen Anpassung geben. Mitunter kann der Wettlauf um Likes und Follower dazu führen, dass das eigene Besorgen vollkommen vom Anderen abgenommen wird und es zur Abhängigkeit und Herrschaft des Anderen kommt, einer Abhängigkeit, die Heidegger als extreme Fürsorge bezeichnet. Sie stößt das Selbst von seinem Platz, damit es nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares vom Anderen übernehmen und sich von der Sorge um das Selbst vollkommen entlastet, dennoch am eigenen als dem vom Anderen okkupierten Platz glaubt.20 Deshalb ist es

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Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927), Tübingen 16 1986, S. 118. Heidegger 1927 (wie Anm. 16), S. 181. Angesichts des sozialen Drucks, sich selbst ein Bild von sich machen zu müssen, findet Ullrich 2019 (wie Anm. 15), S. 9f. in eigens inszenierten Selfie-Grimassen eine Möglichkeit des Selbstschutzes verwirklicht, um der eigenen Furcht vor kritischen Kommentaren und Shitstorms mit vorbeugender Ironie zu begegnen, oder aber um einfach nur von äußeren Makeln abzulenken, die im Foto zwar mit erscheinen, neben der Grimasse aber weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sodass sie innerhalb des Bildgefüges als weniger oder gar nicht bedeutend rezipiert werden. Reck 2018 (wie Anm. 3), S. 40f. Heidegger 1927 (wie Anm 16), S. 122.

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ungeachtet der Schwemme an Posts möglich, die populärsten Social-MediaThemen aufzulisten, die mit aller größter Wahrscheinlichkeit wenigstens in Teilen auch mit den eigenen Neigungen und dem eigenen Postingverhalten konvergieren. Der permanenten Ansprache durch Apps und Apparate, dem von ihnen ausgehenden Zwang sich selbst immer wieder und regelmäßig im Feed der Anderen auf bestimmte Art und Weise zu zeigen, steht wohl meist ein eher diffuses Selbstbild gegenüber, das kaum in konsistenter Weise durch immer neue und originäre Bildfindungen zu repräsentieren ist, sodass durchaus der Eindruck entstehen kann, das Ich sei auf ein begrenztes Repertoire immer wiederkehrender Ansichten zu reduzieren, die es beim Aufstehen, beim Verzehr von Banalitäten oder Absonderungen artikulierend zeigt.

Herausforderungen der Formierung des Wahrgenommenen im Bild Das Smartphone ist stets in greifbarer Nähe. Vorbei sind die Zeiten als man mit seinem Handy telefonierte und zum Fotografieren zu einem analogen Apparat griff, dessen Aufnahmekapazität auf zwölf, vierundzwanzig oder sechsunddreißig Bilder pro eingelegtem Film begrenzt war. Mit dem Smartphone steht nun ein höchst komplexer technischer Apparat zur Verfügung, der seine schier undurchschaubare Komplexität hinter einem im wörtlichen Sinne ansprechenden Design und Nutzungserlebnis verbirgt, um die Möglichkeit zu eröffnen, quasi alles und jeden in jedem Moment und nicht nur einer, sondern einer ganzen Reihe von Fotografien festzuhalten. Die Auswahl wird zu einem nachgeordneten Prozess. Einer möglichst vollständigen und erschöpfenden Erfassung des Wesens des Augenblicks, der es bedarf, um latent Vorhandenes durch die Beherrschung der technischen und situativen Rahmenbedingungen sinnbildend im Bildausschnitt zu organisieren,21 steht ein, wie Barry King es nennt, neurotisches Verhältnis zur Zeit, eine »Wette auf das Überleben durch Aufzeichnungen« gegenüber.22 Denn was auch immer der Eine in der Zeit der digitalen Abwesenheit des Anderen fotografiert haben mag, für beide gilt gleichermaßen, dass alle wahrnehmbaren Phänomene immanente Zeitobjekte konstitu-

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Barry King: Über die Arbeit des Erinnerns. Die Suche nach dem perfekten Moment, in: Diskurse der Fotografie, hg. v. Herta Wolf (Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2), Frankfurt a.M. 5 2017, S. 182. King 2017 (wie Anm. 21), S. 174.

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ieren, die den Modi zeitlicher Orientierung unterliegen, weshalb Husserl von ihnen als Ablaufphänomenen spricht. Er beschreibt diese Ablaufphänomene als Kontinuität steter Wandlungen. Es mag möglich sein, sich auf bestimmte Zeitabschnitte zu beziehen, doch berührt diese Referenz nicht die Tatsache der Kontinuität selbst, die ihrer Form nach unwandelbar und weder in eigenständige Strecken noch eigenständige Phasen oder eigenständige Punkte aufzuteilen ist.23 An das Jetzt der initialen Bildsetzung und das Erscheinen des in der Wahrnehmung Gegebenen ist nicht mehr heranzukommen, weil das vom Produzenten Wahrgenommene durch den Akt des Fotografierens als Erscheinung im Foto festgesetzt worden ist, um erst am Punkt eines darauffolgenden Jetzt von einem Rezipienten als Bildbetrachtung in actu vollzogen zu werden, während also die Setzung des Bildes selbst einen Punkt in der Vergangenheit markiert, der vom Rezipienten nicht mehr einzuholen ist.24 Wie oben ausgeführt, ist das Sehen in actu ein räumlich und zeitlich ausgedehnter performativer Vollzug, in dem das Gesichtsfeld an seinen Rändern kaum merklich an Schärfe verliert,25 sodass man den Blick bei kontinuierlicher Nachjustierung des fokussierenden Hinblickens über sein Umfeld schweifen lassen kann. Hingegen scheint es nicht so, als ließe man den Blick durch den Sucher des analogen Fotoapparates schweifen, umfasst das klar umrissene rechteckige Format an seinen Rändern doch keine Schwellen der Unschärfe. Mit dem Smartphone in den Händen sehen die Augen nicht länger durch den Sucher, der Blick wird nicht vom gleichmäßigen Schwarz des Kameragehäuses auf einen konkret sichtbaren Bildausschnitt verengt, sondern der Bildausschnitt bildet eine Wahrnehmungsschwelle. Diese ist zu überschreiten, sodass Jenseitiges lockt, auf das neu hingeblickt werden kann. Angesichts der Verlockungen verschiedenster Eindrücke ist die gerichtete Aufmerksamkeit auf das Erkennen im Ausschnitt vorfindlicher ikonischer Beziehungen die eigentliche Herausforderung der digitalen Fotografie, so sie denn etwas Bestimmtes repräsentieren soll. Und so sind die unablässigen Versuche jegliche um sich herum vorgefundene Versatzstücke der Wahrnehmung in mehr oder minder lose an den Formen des

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Vgl. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893/1917), Hamburg 2013, S. 30f. Vgl. Emmanuel Alloa: Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie, Zürich 2011, S. 312f. Vgl. Eva Schürmann: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M. 2 2018, S. 17.

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etablierten Social-Media-Kanons orientierten Bildausschnitten zueinander in Beziehung zu setzen, Symptome einer, wie Felix Stalder sie nennt, digitalen Volkskultur des Remix und Mashup, die es, in gewisser Weise wegen ihrer Losigkeit und damit entgegen der Auffassung des eingangs zitierten amerikanischen Essayisten Mark Greif, durchaus ermöglichen kann, Neues hervorzubringen. Obwohl von sehr unterschiedlichen Personen mit sehr unterschiedlichen Intensitäten und unterschiedlichen Ansprüchen betrieben, liege, so Stalder, die Gemeinsamkeit mit der traditionellen Volkskultur darin, dass Produktion und Rezeption, aber auch Reproduktion und Kreation weitgehend zusammenfallen und die aktive Teilnahme zwar eine gewisse Fertigkeit, ein gewisses Interesse und Engagement, meist aber – und dieser Punkt erscheint im hier zu beleuchtenden Zusammenhang entscheidend – kein außergewöhnliches Talent erfordere.26 Wenn aber mangelndes Talent den Einzelnen nicht davon abhält, Referenzen zu setzen und sie durch neue Bilder zu repräsentieren zu versuchen, um sich in den sozialen Medien durch Bilder zu artikulieren, können Probleme des gegenseitigen Verstehens nicht ausgeschlossen werden. Vielmehr sind sie als integrales Merkmal der Kommunikation mitzudenken. Noch bevor von der Nutzung digitaler sozialer Medien gesprochen werden kann, ist es die Sprache, die die Welt und die angesprochenen Dinge in Relation und Distinktion zu- und voneinander setzt. Sie lässt nicht nur erkennen, sie macht Erkenntnis überhaupt erst möglich, indem sie den Anderen kommuniziert werden kann.27 Durch die Sprache wird ein Unterschied eingeführt, der im wörtlichen Sinne (Heidegger leitet den Unter-Schied vom lateinischen inter ab) zwischen dem phänomenalen Erscheinen und der Intentionalität einer bestimmten Erscheinung – etwa der narzisstischen Zurschaustellung eines banalen Vollzugs – vermittelt.28 »Der Unter-Schied hält von sich her die Mitte auseinander, auf die zu und durch die hindurch Welt und Dinge zueinander einig sind.«29 Ob das Erscheinende aber sprachlich gefasst wird oder nicht, ob man einen alltäglichen Vollzug als banal und der Zurschaustellung

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Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 4 2019, S. 122f. Martin Seel: Bestimmen und Bestimmenlassen. Anfänge einer medialen Erkenntnistheorie (1998), in: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, hg. v. Martin Seel, Frankfurt a.M. 2002, S. 151. Martin Heidegger: Die Sprache (1950), in: Martin Heidegger. Unterwegs zur Sprache (Gesamtausgabe, Bd. 12), Frankfurt a.M. 1985, S. 21-23. Heidegger 1950 (wie Anm. 28), S. 22.

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kaum oder gar nicht notwendig erachtet, die Tatsache also, dass dem Vollzug mittels der Sprache das Attribut der Banalität zugeschrieben wird, sodass von einer Bilderscheinung des Banalen überhaupt zu sprechen ist, berührt das phänomenale Erscheinen des Vollzugs in keinster Weise. Um die Dualität von Verzehr und Absonderung aufzugreifen: Beide sind als Vollzüge zuerst einmal basal, werden allerdings durch die Praxis des Bildermachens und -veröffentlichens in sozialen Medien besonders gerahmt. Es fällt auf, dass sich das Erscheinen der Vollzüge des Basalen durch die Intentionalität des cogito also selbst nicht verändert, sodass der Blick auf die Vermittlung durch Medien zu richten ist, durch die sich erst das Gegebensein von Gegebenem ereignet. Das Medium ist die Gelegenheit des Gegebenseins von etwas, das als von Anderem unterschieden entworfen wird.30 In der Phänomenologie des Geistes findet Georg Wilhelm Friedrich Hegel das wahrgenommene Phänomen durch das Erkennen von etwas nicht derart belassen, wie es ist, weil das Ansichsein des wahrnehmbaren Phänomens vom Sein für ein Bewusstsein, auf das es bezogen ist, unterschieden ist.31 Hegel gilt das Erkennen als passives Medium, durch das hindurch der Erkennende, um den Preis der Formierung und Veränderung des Wahrgenommenen, zu einer Wahrheit gelangt, die ihm im Durchgang durch dieses Medium je spezifisch geformt erscheint.32 Vollkommen unabhängig davon, welches Etwas in Erscheinung treten mag, birgt die Wahrnehmung durch das Blau der Bildschirme immer etwas Neues, weil schon die medial vermittelte Wahrnehmung einen Unterschied macht,33 der sich im Durchgang durch das Medium ereignet. Erst im 30 31 32 33

Martin Seel: Medien der Realität – Realität der Medien (1998), in: Martin Seel. Sich bestimmen lassen, hg. v. Martin Seel, Frankfurt a.M. 2002, S. 127. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807) (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke Bd. 3), Frankfurt a.M. 14 2017, S. 76f. Hegel 1807 (wie Anm. 31), S. 68f. Anhand der Übersetzungsleistung, die notwendig ist, um ein substantiell gegebenes Territorium topografisch in einer Landkarte abzubilden, wirft Gregory Bateson die Frage auf, welche gegebenen Teile die Abbildung herausfiltern muss, um zur Topografie zu gelangen. Um es Anderen zu ermöglichen wiederum etwas über die abgebildete Togografie auszusagen, muss die Menge der abgebildeten Informationen reduziert werden, sodass die mediale Übersetzung die Unterschiede zwangsläufig einführt; Unterschiede, die schon in der unterschiedlichen Betrachtung der Individuen, die die zu topografierende Landschaft wahrgenommen haben, begründet liegen. Immer wird das substantiell gegebene Territorium ein Ding an sich bleiben, das in der Karte nicht abgebildet ist und auch von den Rezipienten der Karte nicht wiederhergestellt wird, sodass es zu einem infiniten Regress der Unterschiede im individuellen Bezug auf die

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Durchgang durch das Medium kommt etwas als Bestimmtes und damit vom Anderen Unterschiedenes – mithin als ein Neues – zur Auffassung und Ausführung.34 In seinen Bildschirm und den vor seinen Augen vorüberziehenden Feed versunken, ist der Einzelne mit einer Vielzahl ambivalenter Dinge konfrontiert, die er in konkrete, jeweils das eine gegenüber dem anderen diskriminierende Bedeutungszusammenhänge bringen muss. Denn erst die spezifische Fixierung von Unterschieden eröffnet Möglichkeiten des Wahrnehmens, Erkennens und Handelns,35 um sich und sein Verhältnis zur Welt und seine subjektive Position in ihr bestimmen zu lassen. Und so täuscht der erste Eindruck durchaus nicht: In den sozialen Medien werden sicherlich die immer gleichen Banalitäten in den Status der Bildwürdigkeit erhoben; aber doch nur, weil man lediglich dazu im Stande ist, auf etwas zu zeigen, dessen Voraussetzung es ist, ein Zeichen zu sein, das, um erkannt zu werden, immer schon auf etwas gezeigt haben muss, dem es daraufhin schon zugewiesen worden ist. Die Fähigkeit, die Dinge zu ordnen und sie zueinander in Beziehung zu setzten, wird auch im Gebrauch der sozialen Medien erst erlernt und permanent weiterentwickelt. Dann aber scheint es nur in dem Fall berechtigt, die Bildwürdigkeit der zur Schau gestellten Banalitäten in Abrede zu stellen, wenn die Fähigkeit zur Produktion und Rezeption der ästhetisch gelungenen Fotografie schon grundlegend vorausgesetzt wird. Diese Fähigkeit steht allerdings in Frage.

Erscheinungen unter der Bedingung der fotografischen Bildlichkeit Kein Foto zeigt das, was man gesehen hätte, hätte man sich im Augenblick der Belichtung der lichtempfindlichen Rezeptoren an der Stelle der Kamera befunden.36 Das fotografische Bild vermittelt die einzig in diesem Moment und von diesem Standpunkt aus mögliche Ansicht. Den Produzenten wie auch den Rezipienten muss bewusst sein, dass die Fotografie diesen überschaubaren

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Abbildung kommt. Gregory Bateson: Form, Substanz und Differenz (1970), in: Gregory Bateson. Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a.M. 12 2017, insb. S. 580f. u. 584. Vgl. Seel 1998 (wie Anm. 30), S. 124. Vgl. Seel 1998 (wie Anm. 30), S. 126. Vgl. Eva Schürmann: Erscheinen als Ereignis. Zeittheoretische Überlegungen zur Fotografie, in: Erscheinung und Ereignis. Zur Zeitlichkeit des Bildes, hg. v. Emmanuel Alloa, München 2013, S. 37.

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Ausschnitt aus dem Sichtbaren herausschneidet. Mit dieser Tatsache müssen beide umgehen.37 Seitdem Henry Fox Talbot die Fotokamera 1844 noch in den Anfängen der Fotografie als »Pencil of Nature« bezeichnete, scheint der Glaube an die unmittelbare Anwesenheit durch fotografische Aufzeichnung allerdings meist unreflektiert fortzuwirken. Noch immer wird das Objektiv als ein Auge aufgefasst, hinter dem, in fortgeführter Analogie, der Retina vergleichbare lichtempfindliche Rezeptoren liegen, die alles aufzeichnen, was dieses Auge sieht.38 Während sich die Malerei seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zusehends von der Wiedergabe der Gegenstände – die von Erwin Panofsky erläuterten Probleme der Repräsentation eingeschlossen39  – entfernte und die Referenzialität auf die Auseinandersetzung mit den spezifisch medialen Eigenschaften verlagerte, ist es der Fotografie nur in wenigen Fällen gelungen, ihre eigenen medialen Bedingungen zu reflektieren.40 Barthes geht gar so 37 38 39

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Schürmann 2013 (wie Anm. 36), S. 24f. Vgl. Henry Fox Talbot: Der Stift der Natur (1844), in: Theorie der Fotografie Bd. 1: 18391912, hg. v. Hubertus von Amelunxen und Wolfgang Kemp, München 2006, S. 61. Eine kunsthistorisch bestimmte Epoche zeichne sich, so Panofsky, durch eine malerische Systembildung aus, die einen der ganzen Epoche gewissermaßen immanenten Gestaltungs-Willen zeige. Vgl. Erwin Panofsky: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst (1915), in: Erwin Panofsky. Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin 1964, S. 29. Das Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst bestehe darin, nicht zwischen der von Panofsky als Phänomensinn bezeichneten malerischen Systembildung und der darstellenden Funktion jenes Systems zu unterscheiden. Eine wirklich rein formale Bildbeschreibung habe sich grundsätzlich darauf zu beschränken, die Farben, die sich in mannigfachen Nuancierung gegeneinander absetzen, sich miteinander verbinden und zu quasi ornamentalen oder tektonischen Formkomplexen zusammenziehen lassen, ganz grundsätzlich als vollkommen sinnleere und sogar räumlich mehrdeutige Kompositionselemente zu beschreiben. Von einer dunklen Fläche am oberen Bildrand als »Nachthimmel« zu sprechen, vor dem sich als merkwürdig differenzierte Helligkeit in der Mitte ein »menschlicher Körper« befinde, würde bereits bedeuten etwas Darstellendes auf etwas Dargestelltes, eine räumlich mehrdeutige Formgegebenheit auf einen präzise dreidimensionalen Vorstellungsinhalt zu beziehen. Vgl. Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (1932), in: Oberer/Verheyen 1964 (wie oben), S. 86f. Anzuführen sind etwa die Fotogramme Laszlo Moholy-Nagys, als Versuchsanordnungen einer eigenständigen und nicht zwingend der Darstellung von etwas verpflichteten Reflexion des Mediums der Fotografie. Vgl. Laszlo Moholy-Nagy: Die beispiellose Fotografie (1927), in: Theorie der Fotografie Bd. II: 1912-1945, hg. v. Wolfgang Kemp, München 1999, S. 72f. oder die etwa seit der Jahrtausendwende entstandenen Luminound Chemigramme Wolfgang Tillmans, deren einzige Referenz der Akt der Einschrei-

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weit, das Foto selbst zu einem Unsichtbaren zu erklären,41 weil die Emanation des Referenten als eine von einem Objekt auf der fotosensitiven Oberfläche durch die Einwirkung von Licht hinterlassene Spur des fotografierten Gegenstands wie durch eine Nabelschnur mit dem Blick des Betrachters verbunden erscheine.42 Peter Geimer hebt hier eine gewisse Ungenauigkeit hervor, die unentschieden lasse, ob die fotografische Spur einen Gegenstand repräsentiert oder aber dessen verlängerte Präsenz ist.43 Doch scheint Barthes sich recht deutlich für die Präsenz auszusprechen, wenn er die je individuelle Erfahrung mit der Fotografie, was auch immer sie im Einzelfall abbilden mag,44 wesentlich von der Erfahrung der Gleichzeitigkeit eines im Moment der Aufnahme noch in der Zukunft liegenden, wie im Moment der Betrachtung der Fotografie bereits abgeschlossenen Vollzugs her bestimmt. An einer Fotografie zu bestechen vermag ihn weniger die Form, das Meinen des Gemeinten, als die festgeschriebene Anwesenheit des Referenten selbst, die die Gleichzeitigkeit von Kommendem und Vollzogenem und damit die Dichte der Zeit, »die erschütternde Emphase des Noemas (›Es-ist-so-gewesen‹)« erfahren lässt.45

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bung eines Sichtbaren im Akt der Herstellung der Fotografie in der Dunkelkammer ist. Einen umfassenden Überblick dieser kameralosen Fotografie liefert Wolfgang Tillmans: Abstract Pictures, Ostfildern 2011. Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 14. Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 90f. Peter Geimer: Das Bild als Spur. Mutmaßungen über ein untotes Paradigma, in: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hg. v. Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube, Frankfurt a.M. 2016, S. 109. Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 41-43 bezeichnet die Praxis des Fotografierens als eine Enthüllung, die neben dem, worauf der Fotograf seine Aufmerksamkeit gerichtet hat, auch all das sichtbar werden lässt, dessen Lichtstrahlen ebenfalls in den Ausschnitt hinein gereicht und Spuren hinterlassen haben. Die Fotografie zeige doch nur das Kontingente, weshalb ihre Bedeutung im Sichzeigen durch die Emanation, nicht der Repräsentation liege. Wollte sie Bedeutung annehmen, müsse sich die Fotografie maskieren. Barthes verwendet den Begriff der Maske nicht im Sinne einer Darstellungsfunktion, die den Darsteller als einen anderen erscheinen lässt, sondern in dem Sinne, dass die Portraitfotografie Gesichter zeigt, denen ihr Sein als gesellschaftliches Wesen eingeschrieben und somit ihr originäres Wesen durch eine Maske bereits überschrieben ist, die die Kamera lediglich noch einfängt. Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 105f. – Nach dem Tod seiner Mutter verfasst, nähert sich Barthes der Fotografie in der Hellen Kammer als einer »Ebene des gewöhnlichen Todes« (S. 103), glaubt ihr Wesen in einer Fotografie der Mutter als jungem Mädchen im Wintergarten ihres Elternhauses wiederzufinden und beschließt die »Natur« der Fotografie aus diesem »einzigen Photo ›hervorzuholen‹«. Kapitel 25-30, S. 73-83.

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Emmanuel Alloa seinerseits hebt in Das durchscheinende Bild das notwendige Bewusstsein für die Erscheinung durch das Bild hervor. Bilder würden Gewesenes nicht durch die Wiederherstellung des Vergangenen, sondern die Beglaubigung ihres irreversiblen Gewesenseins vergegenwärtigen. Daher sei die Bilderfahrung stets auch die Erfahrung einer chronologischen Inkongruenz: Was sich in der Bildrelation gegenübersteht, gehört verschiedenen Zeitregionen an. An die Stelle einer simultanen Kopräsenz tritt das, was in der Sprachsoziologie als zerdehnte Kommunikationssituation bezeichnet wird, weil das, was auf diese Weise in Verbindung tritt, zeitlich – und damit auch räumlich – auseinandertritt. Ist die Erscheinung durch ein Bildmedium hindurch bewusst, geschieht also die Vergegenwärtigung einer unüberbrückbaren time-lag. Vom Standpunkt des Rezipienten aus, dem das Bild jetzt gegenwärtig ist, ist es unmöglich das Erscheinen des dem Sehen in actu Gegebenen im vergangenen Moment seiner Aufzeichnung zu rekonstruieren. Erst ein Mittelglied stifte eine bestenfalls sekundäre, weil mediale Kopräsenz.46 Im Rezeptionsprozess ist die mediale Transposition, der Standpunkt des Fotografen und die zeitlich begrenzte Verschlusszeit der Kameralinse, die das von den vor ihr liegenden Objekten zurückgeworfene Licht einfängt und auf die empfindliche Oberfläche weiterleitet, bestenfalls immer mit bewusst. Nur unter der Bedingung der Bildlichkeit erscheinen ikonische Elemente und nur unter der Bedingung der Bildlichkeit scheint die schiere Faktizität von Form und Farbe potenzielle Beziehungen zueinander zu zeigen, die einen Spielraum mit unüberschaubaren Möglichkeiten eröffnen.47 Das Selbst wird mit der Welt vermittelt, eine prozessuale Form des Austauschs von Sichtbarem und Sehendem, ein performativer Akt des Austauschs zwischen Akteuren im medialen Kontext der bildbasierten sozialen Medien. Durch die Nutzung des

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Bereits im 1977 in der Zeitschrift Photo (Nr 112, Januar 1977) erschienenen Aufsatz So (Tels. Sur les photographies de R. Avedon) sieht Barthes in einer Fotografie von Richard Avedon, die Andy Warhol, an den äußersten rechten Bildrand gerückt, gemeinsam mit den Mitarbeitern seiner Factory zeigt, neben der Wahrheit der aufgenommenen Personen, auch deren Charakter, ihren Typus, das affektive Band der zwischenmenschlichen Beziehungen und vor allem den unausweichlichen und den abgebildeten Personen vorherbestimmten Tod festgehalten. Roland Barthes: So (1977), in: Roland Barthes. Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie, hg. v. Peter Geimer und Bernd Stiegler, Frankfurt a.M. 2 2020, S. 185. Alloa 2011 (wie Anm. 24), S. 312. Gottfried Boehm: Bildsinn und Sinnesorgane, in: Neue Hefte für Philosophie 18/19 (1980), S. 119.

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Mediums wird eine bestimmte Sichtbarkeit der Welt und eine bestimmte Sicht auf die Welt erst eigens hervorgebracht:48 Das Bild des Anderen beim Sport, das Bild des Anderen beim Verzehr von gesunden Nahrungsmitteln, das Bild des Anderen posierend in neuer und begehrenswerter Kleidung, das Bild des Anderen in seinen immer wieder neu und perfekt eingerichteten Wohnräumen oder das Bild des Anderen an den immer gleichen exotischen Orten tritt dann doch nur als Engführung, nur als eine einzige Möglichkeit der Beziehungen von Form und Farbe in Erscheinung, die Erscheinung einer je intentional reproduzierten und rezipierbaren Sicht auf die Welt. Diese Erscheinung von etwas im Bild ist ein Erscheinendes, das sich selbst nicht zeigt. Jede Erscheinung ist auf Phänomene angewiesen, die, wenngleich die Phänomene selbst keine Erscheinungen sind, so doch das Sichzeigen der Erscheinung medial austragen. Sie vermelden das Sichzeigen durch sich.49 Dieser Vorrang des Phänomens vor der Erscheinung impliziert ein zeitliches vor und nach der Eröffnung der Sinnebene, sodass eine Gegenwart eingeschlossen wird, die das Ereignis des Sichzeigens austrägt, weshalb Heidegger das Ereignis vom ›Er-äugnis‹ ableitet, von ›er-äugen‹, also dem Erblicken, im Blick zu sich rufen, sich an-eignen.50 Diese Aneignung findet sich bereits bei Husserl, der der cogitatio, dem Bewusstseinserlebnis innerhalb der Intenionalität eine dominante Rolle gegenüber dem cogitatum, dem Wahrgenommenen, einräumt. »Zum cogito selbst gehört ein immanenter ›Blick-auf‹ das Objekt, der andererseits aus dem Ich hervorquillt, das also nie fehlen kann.«51 Die Anwesenheit des Bildgrundes wird im Bilderscheinen in actu simultan mitvollzogen. Diese Simultanität ermöglicht erst eine äußere Sachlage in eine bildliche Erscheinung zu überführen, die als auf den Bildgrund aufgebrachtes Bild von

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Schürmann 2018 (wie Anm. 25), S. 100f. Heidegger 1927 (wie Anm. 16), S. 28-30. Martin Heidegger: Der Satz der Identität (1957), in: Martin Heidegger. Identität und Differenz, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Martin Heidegger. Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt a.M. 2006, S. 45. – Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 404 begreift das Ereignis als ein sich Ereignen, das geschieht, indem es sich gibt. Es gewähre den Augenblick eines (Sich) Zeigens. Im Rekurs auf Heidegger ordnet er das Sichzeigende, das dem Hermeneutischen unterstehe, in den Verlauf der Zeit ein und gelangt derart zum Auffassen von Sinn als einem »Ereignis der Zeit« (S. 415). Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), hg. v. Elisabeth Ströker (Edmund Husserl. Gesammelte Schriften, Bd. 5), Hamburg 1992, S. 75.

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Etwas erscheint. Dieses oder jenes kommt im Bild nicht nur vor, sondern es tritt mit dem System seiner Repräsentation simultan hervor und verleiht dem Bild jenen Zuwachs an Potentialität, der es aus der Dienstfunktion einer Abbildlichkeit befreit und zu einem Element der Erkenntnis macht. Auf eine anschauungsbezogene Weise zeigt sich, was überhaupt ›ist‹ als ein Sichtbares.52 Waldenfels unterscheidet zwischen zwei Sehordnungen, die entweder die Möglichkeit, Neues zu sehen, oder die Möglichkeit, auf neuartige Weise zu sehen betreffen. Während im ersten Fall das Neue ein Was ist, das sich als Fall eines Allgemeinen zu erkennen gibt, weil jede neue Tatsache bereits auf eine Bekanntheits- oder Regelstruktur verweist, die ein Wiedererkennen ermöglicht, handelt es sich im zweiten Fall um ein neuartiges Wie, eine neue Struktur, Gestalt oder Regel, die es erlaubt das Bekannte in anderem Licht zu betrachten. Was sichtbar ist und sich sehen lässt, stellt sich immer schon in einem Wie dar, erscheint in bestimmter Gestalt, vor einem bestimmten Hintergrund, im raum-zeitlichen Kontext einer bestimmten Szene oder Sequenz und in einer bestimmten Betonung und mit einem bestimmten Gewicht. Der Referenz entspricht eine wenigstens minimale Präferenz des intentionalen cogito. Demgegenüber lassen Bilder gleichzeitig sich selbst und anderes sehen, insofern sie auf bestimmte Bildordnungen verweisen,53 wie Max Imdahl am Beispiel der Arenafresken Giottos herausgearbeitet hat.54 Von Gottfried Boehm 52

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Gottfried Boehm: Zu einer Hermeneutik des Bildes, in: Seminar. Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hg. v. Hans-Georg Gadamer und Gottfried Boehm, Frankfurt a.M. 1978, S. 465f. Waldenfels spricht von der Sichtbarkeit der Bilder, die sich selbst und anderes sehen lassen, womit das Sehen im Bild auf ein ›Wie‹ zweiter Ordnung und auf bestimmte Bildordnungen verweise. Ein Ding erscheint als Bild des anderen im Falle einer Wiederholung, wenn dasselbe an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit und in einem anderen Medium oder Zusammenhang auftaucht. Ohne derartige Vor- und Nachgestalten gäbe es kein Sehenlernen, sondern lediglich ein Mosaik einmaliger Eindrücke. Von dieser Bildhaftigkeit der Dinge unterscheidet Waldenfels die künstlerischen Bildwerke, die nicht nur sichtbar sind und etwas sichtbar machen, sondern die Sichtbarkeit als solche mit sichtbar machen. Bernhard Waldenfels: Ordnungen des Sichtbaren, in: Was ist ein Bild?, hg. v. Gottfried Boehm, München 1994, S. 238. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen (Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3), Frankfurt a.M. 1999, S. 106f. Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen, Bd. 60), München 1988, S. 55 arbeitet heraus, dass Giotto den »gegenstandreferentiellen Bildwerten ein

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ist der Terminus der ›ikonischen Differenz‹ eingeführt: Eine zunächst nur visuelle Beziehung der ikonischen Elemente innerhalb des Bildes erlangt dann Bedeutung, wenn die Rezipienten in der Lage sind, das Spiel der gegenseitigen Verweise der für sich genommen bedeutungslosen Elemente bewusst zu realisieren55 und sie unter Anwendung der Regeln der Komposition, der Formbildung und gegenseitigen formalen Abhängigkeiten auf außerbildliche Bedeutungen zu übertragen, um das Bild auf seinen spezifischen Aussagegehalt hin zu lesen.56 Notwendigerweise müssen sich Produzenten und Rezipienten ästhetisch rational verhalten, sich im Wahrnehmen intentional auf das Ästhetische richten, ganz gleich, ob im tastenden Umgang mit den herzustellenden und sich herstellenden Objekten, oder in der perzeptiven Begegnung mit Gegenständen, die als ästhetische hergestellt wurden oder einfach als solche aufgefasst werden.57 Einschränkend ist jedoch zu sagen, dass das ästhetisch rational wahrnehmende Verhalten als intentionale Bezugnahme von den noematischen Gehalten, jenen mannigfaltig in wirklich reiner Intuition aufweisbaren Wahrnehmungsdaten, auf die korrelierenden noetischen Momente, die ihrem Wesen nach so etwas wie einen Sinn in sich bergen und auf Grund dessen Prozesse der ästhetischen Sinngebung vollzogen werden,58 ei-

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hohes und bis dahin in der mittelalterlichen Malerei nicht gekanntes Maß an empirischer Augenscheinlichkeit« verliehen habe, die allerdings noch von der Statuarik und Gewandbildung der Figuren überboten werde, da sie bei aller Abhängigkeit von einem die je individuellen Gebaren der einzelnen Figuren umfangenden und perspektivisch korrekt wiedergegebenen System von Bögen in bedeutende szenische Konstellationen zueinander gesetzt würden. So überbiete diese die Szene strukturierende und einen szenischen Zusammenhang stiftende referenzielle Leistung der Bögen deren gegenstandsreferenziellen Sinn. Der Begriff der ikonischen Differenz, ab 1978 von Boehm (Zu einer Hermeneutik des Bildes) entwickelt, dient dazu die den Bildern eigene Explikationskraft zu analysieren. Ihre vorrangige Aufgabe bestehe darin, nicht nur in unbestimmter Allgemeinheit vom Bild zu sprechen, sondern die riesige, historische und sachliche Vielfalt der Bilder einer Reflexion zu erschließen. Anschauungsnähe gehe dabei einher mit begrifflicher Anschlussfähigkeit, die sich aus dem Denken der Differenz ergebe. Gottfried Boehm: Glossar. Grundbegriffe des Bildes. Ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 1 (2011), S. 170-176. Gottfried Boehm: Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes (2006), in: Gottfried Boehm. Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 209. Boehm 2006 (wie Anm. 55), S. 201f. Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a.M. 1985, S. 33. Vgl. Husserl 1913 (wie Anm. 51), S. 202f.

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ne Möglichkeit allein derjenigen ist, die in der Lage sind, die ikonischen Bezüge zu realisieren, um im fotografischen Bild die Vermittlung von Sinn zu erkennen und es auch nur deshalb als gelungen wertzuschätzen. Wenn es weniger von Bedeutung ist, was dargestellt, sondern wie es dargestellt wird, kann auch die Zurschaustellung des Banalen in dem Sinne bedeutend sein, dass es anderes und anders sichtbar macht. Richtet man aber den intentionalen Blick nicht auf das Wie und verengt ihn auf das Was, wird man jeglichen Bildsinn vermissen.59 Davon unbenommen bleibt die Möglichkeit der Zurschaustellung des Banalen, die lediglich herzeigt, was im bloßen Hinstellen schon unzählige Male hergezeigt worden ist und nicht über sich hinausweist.

Zufällige Bilder eines zugelassenen Anderen Errichtet ist eine Dichtomie zwischen Gelingen und Misslingen, zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen der bildlichen Artikulation, die auf der Intentionalität des ego cogito cogitatum gründet und wiederum die Kritik Lévinas hervorruft, da der Anschein entsteht, als berge das cogito alle Andersheit bereits in sich: »Alles Außen reduziert sich bei ihm [Husserl] auf die Innenbetrachtung der sich selbst im Außen äußernden Subjektivität.«60 Unter dieser Prämisse nimmt der gelungene Prozess der Sinngebung, also die Annahme des Ich, dass der Andere den vermittelten Sinn verstehen werde, seinen Ausgang immer schon bei einem Ich, das den Anderen nicht nur außen vor lässt, sondern das Zuvorkommen des Anderen sogar leugnet. Soll aber Neues erdacht werden, muss das cogito schließlich doch über sich selbst hinausgehen und die Anderen und das Andere anerkennen, indem es im Prozess der Formung den Augenblick des sich (Sich) Zeigens sich ereignen lässt.61 Das Ereignis selbst ist durch nichts, auch nicht die Sprache zu repräsentieren. Es bekundet sich, indem es sich setzt, ohne durch etwas gesetzt zu sein,62 weshalb es nicht selbst wieder mediatisierbar ist. Es geht als »Ursprung« aller Mediatisierung schon

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Seel 1985 (wie Anm. 57), S. 32f. Emmanuel Lévinas: Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit (1983/1989), in: Emmanuel Lévinas. Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München 1995, hier S. 172. Mersch 2002 (wie Anm. 50), S. 404. Dieter Mersch: Das Ereignis der Setzung, in: Performativität und Ereignis, hg. v. Erika Fischer-Lichte u.a., Tübingen 2003, S. 47.

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voraus.63 Nur weil er durch die Ansprache des Fragens eine bereits erteilte Zusage des Gefragten impliziert, gelangt Jacques Derrida überhaupt zur gewissen unmöglichen Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen. Er setzt das Ankommen des Ereignisses mit der notwendigen Antwort und Zusage eines bestimmten bereits angesprochenen und gefragten Anderen gleich. Diese noch vor jede Frage verlagerte Zusage des so Angesprochenen gilt Derrida als ein Ja zum Ereignis, als ein Ja zu dem, was man auf sich zukommen lässt.64 Doch nur weil das Ereignis durch das Medium der Frage, also durch semiotische Zeichen, mit deren Hilfe eine Sinndimension zu beschreiben und analysieren ist, vorgeprägt ist, kann überhaupt erst ein Spannungsverhältnis zwischen Sinn und Präsenz des sich Ereignenden auffällig werden, wie es Hans Ulrich Gumbrecht in der ästhetischen Erfahrung beobachtet.65 Jeder hat sein Wahrgenommenes zuerst einmal nur für sich, und dennoch verliert die cogitatio mit ihrem immanenten Blick auf ihr cogitatum die uneingeschränkte Koinzidenz mit sich selbst. Ein Anderer, der dort ist, wo man selbst nicht ist, wird notwendig, um mit der Selbstüberforderung des Erkennens umzugehen. Der Behauptung, Gegenstände in ihrer Gänze wahrzunehmen und sie folglich auch als bestimmte (wieder-)erkennen und benennen zu

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Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 4 2011, S. 403. Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen (2001), Berlin 2003, S. 11f. Als Angehöriger einer Kultur, die vorherrschend Sinnkultur ist, käme man, so Hans Ulrich Gumbrecht, kaum umhin die Präsenz des Erscheinenden durch die es umgebenden »Wolken und Polster des Sinns« hindurch als »Effekt von« etwas aufzufassen. Weil Gumbrecht das Ereignis der Präsenz an dieses bereits bestimmte etwas bindet, das durch die Verwendung von Zeichen, die im Sinne Derridas als notwendige Antwort auf eine Frage aufgefasst werden muss, gelangt er zwangsläufig zu der Einschätzung, dass es überaus schwierig, wenn nicht gar unmöglich sei, das Deuten unterlassen. In Konsequenz bedürfe es der Aussetzung in eine Situation der Insularität und der Einstellung der fokussierten Intensität, um die Epiphanie der Präsenzeffekte zu erleben. Mit dem bei Jean-Luc Nancy entliehenen Begriff der Epiphanie der Präsenz trägt Gumbrecht dem Gefühl des Unvermögens an diesen Präsenzeffekten festzuhalten Rechnung, wodurch er sich die Möglichkeit offenhält, das Spannungsverhältnis von Präsenz- und Sinneffekten als Ereignis, als »aus dem Nichts« kommend und sich räumlich artikulierend zu beschreiben, ganz so, als wären sie nicht schon durch das Etwas, durch das hindurch sie erscheinen, determiniert und in gewisser Weise erwartbar. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, S. 125-134.

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können, wohnt eine Diskrepanz von Anspruch und Leistung inne, die das Ich über sich selbst hinaustreibt und ihm eine unablässige Bewegung in Zeit und Raum und jene Anerkenntnis des Anderen abverlangt. Mit Manfred Sommer verrät die bestimmende Rede von der Erscheinung des Wahrgenommenen nicht nur die mögliche Beschränktheit des einen Betrachters, sondern sie offenbart vor allem die notwendige Beziehung zwischen mehreren möglichen Betrachtern mit ihren je eigenen Beschränktheiten.66 Alle gemeinsam müssen sie sich auf Prädikate einigen, die sie ihrem je individuell wahrgenommenen Erscheinen als einer bestimmten Erscheinung zueignen.67 Und hier macht Sommer einen entscheidenden Vorgang der Selbstenteignung aus. Die Anderen erzwingen vom jeweils idealen Einen, der ihnen gegenüber wiederum selbst ein Anderer ist, die Auffassung seiner subjektiven Empfindungen als Darstellungen von objektiven Qualitäten zu begreifen. Erst der äußere Zwang zur Selbstenteignung stellt die Gemeinsamkeit zwischen dem Einen und den Anderen her, eine Gemeinsamkeit, die eine Sozialität markiert, die von einem verbindenden Besitz überindividuell einheitlich erkannter und bezeichneter Objekte getragen ist. Sommer rettet die Einzigartigkeit des individuellen Wahrnehmens vor der vollkommenen Enteignung durch allgemeine Gegenstände68 letztlich in der Einschränkung, dass die Selbstenteignung nie ganz gelinge, »daß die Erlebnisse immer noch bunter, vielgestaltiger, wandelbarer sind als das, was objektiv feststellbar ist«. Die Möglichkeit des individuellen Erlebens bewahrt das Bewusstsein davor mit dem eines jeden Anderen vollkommen deckungsgleich zu werden.69

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Vgl. Manfred Sommer: Lebenswelt und Zeitbewusstsein (1990), Berlin 2 2016, S. 135f. Vgl. Sommer 1990 (wie Anm. 66), S. 147f. Die Bedeutung als allgemeiner Gegenstand stellt für Husserl eine identische intentionale Einheit gegenüber der verstreuten Mannigfaltigkeit wirklicher oder möglicher Erlebnisse von Sprechenden und Denkenden dar. Der individuellen Bedeutung entspreche im aktuellen Bedeutungserlebnis ein individueller Zug einer Spezies, sodass die individuellen Vorstellungen als Bedeutungseinheiten Generalia, die Gegenstände als Individualia zu bezeichnen seien. Dann entspricht der individuellen Bedeutung im aktuellen Bedeutungserlebnis ein individueller Zug als Einzelfall jener Spezies. Die mannigfaltigen Einzelheiten der ideal-einen Bedeutung gehen in entsprechenden Bedeutungsintentionen, Aktmomenten des Bedeutens auf, die vollzogen werden, indem man den angesprochenen Gegenstand meint, nicht aber seine Bedeutung. Vgl. Husserl 1900 (wie Anm. 5), S. 102ff. Sommer 1990 (wie Anm. 66), S. 148.

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Der Andere wird in seinem genuinen Anderssein ankommen gelassen. Denn vom Anderen sagt Lévinas, er widerstehe dem Bewusstsein so sehr, dass sich nicht einmal sein Widerstand in einen Bewusstseinsinhalt verwandele, sodass die Ich-Bezogenheit und mit ihr die Intentionalität umgestürzt würde.70 Noch bevor etwas durch die Medien des Bildes oder der Sprache repräsentiert ist, wird das Erscheinende, das dieses Bestimmte austragen soll, zur Präsenz kommen gelassen. Im Sinne des ex-sistere steht es aus sich heraus und ist der Wahrnehmung gegeben.71 Der Gehalt von Wahrnehmungen geht in der fotografischen Aufzeichnung des Wahrgenommenen und den Aussagen über das so Aufgezeichnete nicht auf, weil jede Art der Bestimmung, so elaboriert der Versuch einer möglichst klaren Trennschärfe auch sein mag, zwangsläufig an den unbestimmt vielen Dimensionen und Aspekten, in denen die Welt offensteht und zugänglich ist, scheitern muss. Dass etwas als etwas aufgefasst wird, hat seine Voraussetzung in dem Umstand, dass es überhaupt wahrgenommen worden ist. Dem Wahrnehmen fundamental ist nicht das quid, sondern das quod. Deshalb findet Dieter Mersch die Wahrnehmung mit dem Schock des Ungemachten und Unverfügbaren konfrontiert. Im Sinnlichen impliziere die Feststellung eines Erscheinens nicht schon Erkenntnis, sondern allenfalls die Konstatierung einer ›Gabe‹, die in Sicht gelangt, die aufgenommen oder gespürt wird. Die Wahrnehmung empfange eine unablässige Beunruhigung oder Verstörung von einem Anderen her, das die Gewissheiten des Denkens immer wieder von Neuem zu bestürzen vermag.72 Doch muss das Andere, um gegenwärtig zu werden, in ein kulturelles Ganzes eingepasst werden. Es bedarf der sozialen Medien als einem Ort, an dem Bilder sämtlich und augenblicklich publiziert werden können, ebenso wie dem Anspruch der Apparate nicht zu entkommen ist. Das Sich-Geben des Anderen ereignet sich im Rahmen dieser Totalität. Ihr ist der Andere und das Bedeuten des Anderen schon immanent, sodass im Zulassen der Epiphanie des Anderen ein Bedeuten als von den aus dieser Welt empfangenen Bedeutungen unabhängiges ausgetragen wird. Dass ein soziales Medium wie Instagram die Möglichkeit der Artikulation durch Bilder ermöglicht, bedeutet also nicht zwangsläufig, dass die Artikulation in den immer gleichen plastischen und stummen Formen gefangen bleiben muss, um das Verstehen des bereits

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Vgl. Lévinas 1963 (wie Anm. 4), S. 222-224. Vgl. Mersch 2011 (wie Anm. 63), S. 403; Vgl. Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, Zürich 2015, S. 90. Vgl. Mersch 2011 (wie Anm. 63), S. 33.

Anderes und anders sichtbar machen

Artikulierten zu gewährleisten. Es birgt vielmehr die produktive Möglichkeit, die Epiphanie des lebendigen Antlitzes des Anderen sich ereignen zu lassen. Was jetzt gerade noch als die Erscheinung des Banalen, als Erscheinung der immer gleichen Inszenierung von Sportlichkeit und gesunder Ernährung, als immer gleiche Erscheinung eines gerade relevanten Bekleidungs-, oder Einrichtungsstils, oder als immer gleiche Erscheinung nur noch scheinbar exotischer Orte behandelt wird, birgt durchaus das Potential seine Form aufzulösen. Die Erscheinung des Banalen kann sich auch als die von Lévinas beschriebene Zeichnung eines sich auf einem Fenster manifestierenden Seins des Anderen erweisen, das sich mit dem Öffnen des Fensters seiner Form entledigt, damit sein Erscheinen über die unvermeidliche Erstarrung der Erscheinung hinausgreift.73 Hier bahnt sich »die unbeschränkte, blinde und gleichsam unbedarfte KONTINGENZ, […] die TYCHE, der ZUFALL, das ZUSAMMENTREFFEN, das WIRKLICHE in seinem unerschöpflichen Ausdruck« seinen Weg, das Barthes an den Anfang seiner Bemerkung über die Photographie stellte.74 Der Übergang vom Wirklichen zu dessen Ablichtung ist nicht notwendigerweise codiert. Und wenngleich die Konnotation nicht vollkommen ausfallen mag, so steht sie doch im fotografischen Bild im Nullzustand der Bedeutung noch aus. Peter Geimer und Bernd Stiegler finden in Barthes Zugang zur Fotografie in vielerlei Hinsicht die Erfüllung oder wenigstens das Versprechen des Traums des Realen. Sie finden den Traum eines unschuldigen Reichs der Zeichen, den Traum eines präsemiotischen Raums, der noch von keiner Kultur und keiner entstellenden Ideologie berührt worden ist.75 Die Logik der Bezüge zwischen den für sich genommen bedeutungslosen ikonischen Elementen und der Realisation des bedeutungsstiftenden Spiels gegenseitiger Verweise innerhalb des fotografischen Bildes ist keine Wahl, die zu treffen wäre, bedeutete doch schon die Wahl, sich für den intentionalen Bezug und die bewusste Setzung des Bildes entschieden zu haben.76 Diese bewusste Setzung wird vom Anspruch 73 74 75

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Vgl. Lévinas 1963 (wie Anm. 4), S. 220f. Barthes 1989 (wie Anm. 9), S. 12. Peter Geimer/Bernd Stiegler: Reale Irrealität. Photographie als Medium der Verwandlung, in: Roland Barthes. Auge in Auge, hg. v. Peter Geimer und Bernd Stiegler, Berlin 2020, S. 236. Vgl. Dieter Mersch: Nichtverstehen. Zu einem zentralen ›posthermeneutischen‹ Motiv, in: Erzeugen und Nachvollziehen von Sinn. Rationale, performative und mimetische Verstehensbegriffe in den Kulturwissenschaften, hg. v. Markus Jüngling und Martin Zenck, München 2011, S. 66.

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der Apparate mit der Aufforderung zur augenblicklichen Publikation an einem immerfort für alle erreichbaren Ort wirksam verhindert. Es geht doch gerade darum, alles und jeden in jeder nur denkbaren Situation jetzt sofort und ganz ohne den zeitraubenden Umweg über die Reflexion der Bildwerdung und Bildwürdigkeit abzulichten, um derart mit den Anderen überhaupt in Kontakt zu treten. Während Barthes das Foto seiner Mutter nicht öffentlich herzeigen wollte, da er befürchtete, die Anderen könnten in ihm unmöglich denselben Menschen erkennen, der ihm doch so wichtig war, scheinen die Nutzer der Social-Media-Plattformen das Missverstehen und Verkennen des je individuell bildlich Vermeinten nicht zu fürchten. Mit der potentiell unbegrenzten Möglichkeit des Teilens von Bildern auf den Social-Media-Kanälen kann durchaus der Eindruck entstehen, man sei vor der vollkommenen Enteignung durch allgemeine Gegenstände einigermaßen geschützt. Jeder kann alles auf jede Weise von sich zeigen und darauf hoffen, dass er auf irgendeinen Anderen treffen wird, der ihn möglicherweise versteht.

Schluss: Präsenz, die sich aufdrängt und entzieht Die Deklaration der Bildwürdigkeit in den sozialen Medien nimmt ihren Ausgang nicht bei einer notwendigen Sicherheit des gegenseitigen Verstehens. Jeder kann in jedem Augenblick das posten, was ihm auffällt und individuell bildwürdig erscheint. Daraus folgt aber, dass die Bildwürdigkeit nicht durch die ästhetische Artikulation des Bildgegenstands motiviert und nicht auf rational ästhetisch nachvollziehbaren visuellen Beziehungen der ikonischen Elemente gegründet sein muss. Die Bildwürdigkeit des Banalen steht und stand in den sozialen Medien gar nicht in Frage. Die Erscheinung des Banalitäten verzehrenden und Absonderungen von Banalitäten artikulierenden Social-Media-Ichs verdankt sich aller Wahrscheinlichkeit nach eher selten der ästhetischen Artikulation als bewusster Setzung. Zwischen dem, was zu artikulieren versucht werden mag und dem, was sich zeigt, klafft dann eine nicht zu überbrückende Kluft: Zwei windschiefe Geraden, die sich im Bild des Chiasmus niemals kreuzen und dennoch nicht parallel zueinander verlaufen. So bleibt es nicht selten unentscheidbar, ob die Aufmerksamkeit auf das bloße Erscheinen oder die Erscheinung eines möglicherweise ästhetisch irrational artikulierten und zu Unrecht als banal aufgefassten Bildinhalts gelenkt werden soll. Vollkommen zu Recht wirft Geimer die Frage auf, ob es nicht an der Zeit wäre, dass die Kunst- und Kulturwissenschaften, die ihre

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Methoden bisher vor allem an intendierten, komponierten und »sinnvollen« Bildern geschult haben, der Kontingenz, dem Vorfall und der »unkomponierbaren« Spur ihren notwendigen Raum geben.77 Jenseits des Gelingens oder Misslingens der bildlichen Artikulation steht die Möglichkeit der Verständlichkeit des Verstehens auf dem Spiel.78 Mersch plädiert dafür – und ihm soll hier gefolgt werden – das Widerfahrnis des Erscheinens ankommen zu lassen. Denn weil es der Möglichkeit zur Entscheidung bereits vorausgeht,79 insofern die Entscheidung als Wahl nur dort getroffen werden kann, wo der Andere schon da ist, ›ist‹ der Riss der Alterität bereits, ehe das Ich ›ist‹, das im Stande wäre irgendeinen Bildinhalt intentional zu setzen. Dann wird der Andere nicht verstanden, indem seine primäre Anerkenntnis den Ort des Verstehens in Anerkenntnishandlungen fundiert, sondern er wird in seiner absoluten Negation belassen. Den Anderen wirklich zu verstehen, heißt dann sich angehen und ansprechen zu lassen und sich seinem Anspruch zu fügen, was ebenso bedeutet, das Verstehen von einem Unbestimmten wie Unbestimmbaren her auf sich zukommen zu lassen. Denn solch Unbestimmtes und Unbestimmbares kommt von einer Präsenz im Bild her, die sich aufdrängt und sich der Artikulation eines präexistenten außerbildlichen Sinns entzieht. Mit Mersch ist von den Betrachtern der Bilder die »Wendung des Bezugs« gefordert. Der Bezug muss seinen Ausgangspunkt im Anderen finden, um sich zuallererst in ein Verhältnis setzen zu lassen, das ihn primär zu einem sich Wendenlassen macht.80 Welche Bilder auch immer in sozialen Medien gepostet und mit den Anderen geteilt werden, auf Seiten der Produzenten bedarf es eines Bewusstseins für das Beziehungsgeflecht, in das sie gemeinsam mit den im Horizont ihres Erkennens je beschränkten Betrachtern verwoben sind. Der Umstand, dass es zu Aushandlungsprozessen um die Prädikate kommt, die dem individuell wahrgenommenen Erscheinen als einer bestimmten Erscheinung zugeeignet werden, ist die wesentliche Bedingung, der man sich in dem Augenblick aussetzt, da man ein produziertes Bild der breiten Sichtbarkeit aussetzt. Es sollte deutlich sein, dass man in dem Augenblick, da man ein Bild in den sozialen Medien postet, den entscheidenden Zug einer Selbstenteignung vollzieht. Weil Barthes nicht daran glaubte, dass irgendein anderer seine Mutter

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Geimer 2016 (wie Anm. 43), S. 118. Vgl. Mersch 2011 (wie Anm. 63), S. 71. Vgl. Derrida 2001 (wie Anm. 64), S. 43f. Mersch 2011 (wie Anm. 63), S. 67.

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so sehen könne, wie er selbst sie sah, behielt er jenes Bild, das er von ihr hatte, für sich. Für ihn gab es nur dieses eine Bild. In dem Augenblick aber, da im Ergreifen der potentiell unbegrenzten Möglichkeit des Teilens von Bildern die vollkommene Enteignung zugelassen wird, gibt es schlichtweg nicht mehr nur dieses eine intendierte Bild. Damit wohnt der in den sozialen Medien immer wieder begegnenden Unbestimmtheit aber letztlich eine nicht zu vernachlässigende und möglicherweise oft übersehene Produktivität inne, die die Epiphanie des Anderen und ein eigenes Bedeuten austrägt, das unabhängig von aus dieser Welt empfangenen Bedeutungen ist. So banal manche Äußerungen auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, sie eröffnen einen Blick auf die Welt, der jenseits der Schwelle des Sinnenhaften lockt. Sie eröffnen einen Blick, der nicht zum Spiel mit den eigenen Möglichkeiten gehört und somit eine Herausforderung der eigenen Freiheit durch Fremdartiges darstellt, die dasjenige, das in der jeweils bestehenden Ordnung (noch) keinen Platz findet, produktiv zu wenden vermag.81 Wird diese Wendung zugelassen, kann sich im Blau der Bildschirme und im Blick der Anderen tatsächlich noch Unbekanntes, Überraschendes und Neues ereignen.

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Bernhard Waldenfels: Auf der Schwelle zwischen Drinnen und Draußen. Phänomenologische Grenzbetrachtungen (1989), in: Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M. 1990, S. 31f.

Die leere Referenz Ästhetik und Objektivität der Fotografie im Lichte  der digitalen Wende Iris Laner

Paris, 1839: Vor der interessierten Öffentlichkeit präsentiert Louis Jacques Mandé Daguerre den Durchbruch in der Entwicklung eines neuen, apparativen Bildproduktionsverfahrens.1 Es ist die Geburtsstunde der Fotografie. Nicht nur technologisch ist mit diesem Ereignis ein Meilenstein gesetzt. Auch in epistemischer und ästhetischer Hinsicht werden neue Standards geschaffen. Die Erfindung der Fotografie verspricht erste Ergebnisse auf der Suche nach einem Bild, das – anders als die klassischen bildenden Künste – Ereignisse neutral und realitätsgetreu wiederzugeben im Stande ist. Bilder müssen von diesem Zeitpunkt an nicht mehr als subjektiver Ausdruck und individuelle Stellungnahme eines Bildermachers oder einer Bildermacherin verstanden werden, sondern als Produkt eines Apparats, der keine Stellung bezieht.2 Von Anfang an wird in die Fotografie damit die Hoffnung auf eine objektive Wiedergabe der Wirklichkeit gelegt. Während sich subjektive Weisen der Bildherstellung wie in Malerei oder Grafik durch den Blick, die Kunstfertigkeit und die Befindlichkeit von Malerin oder Grafiker determiniert sehen, ist für ein Verfahren, das letztendlich durch die Operation einer Apparatur und einen technischen Mechanismus bewerkstelligt ist, die abgebildete Wirklichkeit der zentrale Referenzpunkt. Eine realistische, naturgetreue malerische

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Vgl. Theorie der Fotografie. Band I-IV, hg. v. Hubertus von Amelunxen und Wolfgang Kemp, München 2006. – Wolfgang Baier: Geschichte der Fotografie. Quellendarstellung zur Geschichte der Fotografie, München 1980. – Neues Licht. Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839, hg. v. Steffen Siegel, München 2014. Zeugnisse früher Reaktionen auf die Fotografie als neues Bildproduktionsverfahren finden sich in: First Exposures. Writings from the Beginning of Photography, hg. v. Steffen Siegel, Los Angeles 2017.

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oder grafische Darstellung hängt nämlich nicht nur von Können, handwerklichem Geschick und technischer Finesse des Künstlers oder der Künstlerin ab. Sie hängt auch zum guten Teil davon ab, wie sie oder er die Welt sieht, empfindet und interpretiert. Malerische oder grafische Bilder verdanken sich also dem subjektiven Vermögen wie auch dem individuellen Empfinden, der persönlichen Wahrnehmung und der Interpretation derer oder dessen, die oder der sie geschaffen hat. Im Gegensatz dazu hängt die Möglichkeit der Entstehung einer Fotografie zunächst an der Kamera. Freilich sind die Wahl des Ausschnitts und die Bildsprache, die die Fotografin findet, nicht zu vernachlässigen. Die technischen Bedingungen des Fotografierens schränken die subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten allerdings in stärkerem Maße ein als das in anderen Bildproduktionsverfahren der Fall ist.3 Das Verständnis der Ästhetik des fotografischen Bildes – die Art und Weise ihres Erscheinens – zeigt sich von jenem technischen Mechanismus, der für alle Fotografien kennzeichnend ist und der ein bestimmtes Verhältnis der Darstellung zum Dargestellten impliziert, nicht unbeeinflusst. Die kausale, weil opto-mechanische Determiniertheit des fotografischen Bildes durch den fotografierten Referenten schlägt sich, so die Überzeugung vieler Fotografietheoretiker und -theoretikerinnen,4 ästhetisch in Form einer Ähnlichkeit nieder: Das, was in einer Fotografie bildlich sichtbar wird, erscheint ähnlich jenem

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Will man die Praxis der Bildgestaltung und das Verfahren der Bildproduktion in ihrer Spezifität erfassen, so lässt sich sagen, dass sich das Fotografieren durch ein Auswählen auszeichnet. Bei nicht-dokumentarischen Formen kann es sich auch um das Arrangement einer Szenerie handeln. In beiden Fällen wird aber mit dem Gegebenen gearbeitet. In anderen klassischen Sparten der bildenden Kunst, wie der Malerei, wird hingegen geschaffen. Diese analytische Unterscheidung der Fotografie als (Um-)Gestaltung des Gegebenen und der Malerei als Neugestaltung ist in dieser Trennschärfe freilich problematisch. Es gibt in vielen fotografischen Praktiken Aspekte der Neugestaltung sowie es in anderen Sparten der bildenden Künste gestaltende und umgestaltende Verfahren gibt. Um die prinzipielle Unterschiedenheit der technischen Operativität der Kamera, derer sich die Fotografien bedient, und der intentionalen Operativität der Malerin oder des Grafikers thematisieren zu können, ist es allerdings notwendig, diese Differenz klar zu benennen. Vgl. Kendall Walton: Transparent Pictures. On the Nature of Photographic Realism, in: Critical Inquiry 11 (1984), S. 246-277. Es wird in diesem Sinne auch betont, dass Fotografien nicht repräsentieren, sondern präsentieren. Vgl. Roger Scruton: Photography and Representation, in: Critical Inquiry 7 (1981), S. 577-603. Zur Debatte generell auch Photography and Philosophy. Essays on the Pencil of Nature, hg. v. Scott Walden, Oxford 2010.

Die leere Referenz

Ereignis, das fotografiert wurde.5 Zu dieser erscheinenden Ähnlichkeit – die in vielen Fällen freilich nicht extra überprüft werden kann, weil der Referent nicht mehr sichtbar gegeben oder zugänglich ist – gesellt sich das kollektive kulturelle Erbe.6 Nicht zuletzt, da wir um die technische Natur der Fotografie und damit ihre ›Objektivität‹ in der Darstellung wissen, sind wir gewillt, die im fotografischen Bild wahrgenommene Ähnlichkeit als Garant für die Wirklichkeit zu nehmen, selbst dann, wenn wir sie nicht (mehr) feststellen können. Die mittlerweile fast zweihundertjährige Geschichte der Fotografie hat dafür gesorgt, dass sich die Überzeugung vom Zeugnischarakter der Fotografie tief in das kollektive Bewusstsein eingeschrieben hat und somit auch vom ästhetischen Empfinden nicht abgetrennt werden kann.7 Die enge, über einen langen Zeitraum versichert gewachsene Verschränkung zwischen technischer, epistemischer und ästhetischer Natur der Fotografie stellt nun gerade im Lichte der digitalen Wende eine große Herausfor-

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Ob das Erkennen dieser Ähnlichkeit erlernt ist und damit wohl eher unter dem Begriff Zuschreibung firmieren müsste als Element der Sozialisierung in einer mit Fotografien gesättigten Kultur, ist dabei zumindest als Frage mitzubedenken. Jene Denker und Denkerinnen, die betonen, dass die kausale Bedingtheit der Fotografie durch die Apparatur zwar epistemisch, aber nicht ästhetisch einschlägige Bilder erzeugt, betonen, dass der Zeichencharakter des fotografischen Bildes basierend auf seiner kausalen Determiniertheit ein indexikalischer ist. Sie beziehen sich also auch ganz wesentlich auf die technischen Bedingungen und die technologische Dimension der Medienspezifität, ziehen aus diesen aber andere Schlüsse in Bezug auf die Ästhetik der Fotografie. Vgl. etwa Rosalind Krauss: The Originality of the Avant-Garde and other Modernist Myths, Cambridge 1997 oder Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam 1998. Ein Index ist dabei ein Zeichen, das seinen Referenten in Form einer Spur bezeugt, welche nicht notwendig dem Referenten ähnlich sein muss. Selbst wenn vor dem Hintergrund eines differenzierteren Verständnisses des Zeichengeschehens argumentiert wird, dass das Hinterlassen einer Spur nicht mit einer Ähnlichkeit einhergeht, zeigt ein Blick auf die Bildkultur und die Praxis des Bildgebrauchs, dass die Ähnlichkeit zwischen Fotografie und fotografiertem Referenten eine sehr große Rolle in der Bildbetrachtung spielt. Vgl. Susan Sontag: On Photography, New York 2005. Wenn Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989 betont, dass die Fotografie ein Fingerzeig, ein Hinweis auf den Referenten ist, dann unterstreicht er damit gleichsam den für eine bestimmte Bildkultur prägenden Umgang mit dem fotografischen Bild, der davon zeugt, dass die Ontologie der Fotografie sich in dem ihr zugeschriebenen Erkenntnisgehalt wie auch in ihrer ästhetischen Wirkung niederschlägt.

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derung dar. Denn anders als die analoge Fotografie beruht die digitale Fotografie nicht auf einem umfassend determinierenden Akt des Auslösens. Vielmehr bleibt der im digitalen Bild festgehaltene Referent offen für nachträgliche Bildgestaltungen, jedenfalls in viel größerem Ausmaß als in einer Nachbearbeitung analoger Bilder.8 Es stellt sich damit die Frage, ob das Verhältnis zwischen Bild und Referent im Falle der digitalen Fotografie noch sinnvoll so, wie eben angedeutet, beschrieben werden kann: als – epistemisch – objektiv und – ästhetisch – ähnlich. Bildmanipulationen, Veränderungen und Verschiebungen der kausalen Beziehung zwischen bildlicher Darstellung und dem fotografierten außerbildlichen Referenten, wie sie in der digitalen Fotografie eher die Regel als die Ausnahme sind, werfen die Frage auf, welche Erklärungsmodelle dienlich sind, um eine umfassende Theorie der Fotografie zu schreiben, die auch im digitalen Zeitalter noch haltbar ist. Im Folgenden will ich versuchen, mit einer Theorie des fotografischen Bildes diesem Problem beizukommen. Wenn das Verständnis der Fotografie nämlich nicht mehr ausschließlich von der Produktionsseite und der fotografischen Technik ausgeht, sondern gleichermaßen das Verhältnis, das sich ausgehend vom fotografischen Akt zwischen Referent und wahrnehmendem Subjekt aufspannt – kurz gesagt: die Bildbetrachtung und die Weise, in der sich eine Fotografie als Bild zeigt, ernst nimmt –, dann wird sich der Übergang von analogen zu digitalen Fotografien als weniger einschneidend und umwälzend herausstellen. Es wird sich dann nämlich so darstellen, dass jenes Problem der plötzlich unsicher gewordenen Beziehung zwischen erscheinender Abbildung und Abgebildetem und einer damit einhergehenden Lücke zwischen Bild und Referent nicht eine Hürde für, sondern vielmehr eine notwendige Bedingung von Bildlichkeit ausmacht. Bildbetrachtung werde ich verstehen als das bewusste oder unbewusste Herstellen einer Beziehung des im Bild Erscheinenden zum Referenten, der sich – transparent oder nicht – für die Betrachtenden im Bild zeigt. Damit lässt sich die Herausforderung

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Zu den Folgen des technischen Unterschieds zwischen analoger und digitaler Fotografie für eine Ontologie der Fotografie vgl. Jiri Benovsky: The Limits of Photography, in: International Journal of Philosophical Studies 22/5 (2014), S. 716-733. Natürlich gibt es auch im Fall der analogen Fotografie viele Gestaltungsprozesse, die der Determinierung des Bildes durch das Auslösen zuwiderlaufen. Es gibt hier ebenso Möglichkeiten der Verschiebung, der Manipulation. Nichtsdestotrotz ist der technisch-analoge Mechanismus determinierend, da die lichtempfindliche Schicht des Films im Moment des Auslösens unwiderruflich geprägt wird.

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eines nachträglich umgestalteten fotografischen Bildes, das fälschlicherweise als transparentes Zeugnis eines Ereignisses gesehen wird, anders auffassen als reduziert auf den schieren Akt der Produktion der Fotografie im Moment des umfassend oder weniger umfassend determinierenden Auslösens. Um zu dieser anderen Auffassung zu gelangen und zu zeigen, inwiefern sie durchaus anschlussfähig an Theorien der Fotografie ist, die von der analogen Fotografie ausgehen, aber keinen exklusiven Fokus auf ihre technische Bedingtheit legen, werde ich zwei Stationen durchlaufen, um zu meinem Abschlussplädoyer gelangen zu können. Ich werde zunächst in einem ersten Teil die bereits eingangs angedeutete Vorstellung von der Objektivität des fotografischen Bildes skizzieren, die sich in Form der Ähnlichkeit der Abbildung zum Abgebildeten ästhetisch äußert. Zum Abschluss dieses ersten Teils werde ich ausführen, welche Probleme sich für diese Theorien auftun, sobald die Objektivität des fotografischen Bildes im Rahmen der digitalen Wende herausgefordert wird. Da in digitalen Bildern auf ästhetischer Ebene dennoch durchaus eine Ähnlichkeit zum Referenten gegeben ist, welche sich unter Umständen von jener Ähnlichkeit, die analoge Fotografien auszeichnen nur schwer unterscheiden lässt, wird schließlich der suggerierte Zusammenhang zwischen Objektivität der Fotografie und erscheinender Ähnlichkeit problematisch. Hieran anschließend werde ich in einem zweiten Teil die Referenz einerseits als strukturelles und andererseits als phänomenologisches Verhältnis erörtern. Dabei werde ich auf (post-)strukturalistische Referenztheorien zurückgreifen und sie dahingehend befragen, inwiefern sie sich für eine nähere Erörterung nicht nur der Fotografie, sondern des fotografischen Bildes eignen. Ich werde daneben auf phänomenologische Überlegungen zur Bildlichkeit zurückgreifen und schließlich eine Position entwickeln, mit der ich im abschließenden Teil auf das eben formulierte Problem des Übergangs vom Analogen zum Digitalen antworten werde.

Ontologie, Objektivität und das Problem der digitalen Wende In der Theorie der Fotografie sind unterschiedliche Formulierungen gefunden worden, um die spezifische, die objektivere Natur der Fotografie im Unterschied zur subjektiveren Natur von Malerei oder Grafik als bildhervorbringende Verfahren zu beschreiben. War ursprünglich einmal vom »Pencil of Na-

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ture«9 , dem Stift der Natur die Rede, spricht man in den letzten Jahrzehnten von transparency, mind independency, resemblance oder copy. Dies sind die zentralen Begriffe, die in den vor allem im angelsächsischen Raum geführten Debatten immer wieder auftauchen. Sie alle kreisen um den geteilten Grundgedanken, dass Fotografien das fotografierte Ereignis unverstellt wiedergeben, dass sie – ontologisch gesehen – auf einem kausalen Verhältnis zum fotografierten Referenten basieren und in Folge – epistemologisch gesehen – Zeugnis von einem außerbildlichen Ereignis geben, auf das sie verweisen.10 Ihre Objektivität verdankt die Fotografie dem technischen Mechanismus, der das Medium prägt: der Auslöser, der das Licht der fotografierten Szenerie auf eine lichtempfindliche Schicht einwirken lässt, wodurch diese den Film prägt. Fotografiert wird auf Grund ihres epistemisch einschlägigen Charakters dann und dort, wo das, was ist, für die Zukunft festgehalten werden soll: zu Zwecken der Erinnerung, der Dokumentation, des wiederholten Zurückkommenkönnens auf vorübergehende, einmalige Ereignisse. Fotografien erfüllen damit im sozialen wie auch im persönlichen Zusammenhang eine klare Funktion: Sie konservieren, sie halten fest und sie machen es möglich, dass man Situationen sehend nachvollziehen kann, bei denen man selbst nicht anwesend war. Kendall Walton versteht die Fotografie in diesem Sinne als ein transparentes Medium.11 Basierend auf den von ihm gesetzten theoretischen Rahmenbedingungen sind Fotografien als objektiv zu bezeichnen, insofern in ihnen die Beziehung zwischen Abbildung und Abgebildetem nicht subjektiv, also von einem Bildermacher oder einer Bildermacherin und deren persönlicher Sicht auf die Welt, bewerkstelligt ist. Anders als im Fall der Malerei, deren Bilder durch individuelle Gestaltungsprozesse erzeugt werden, verschuldet sich die Fotografie einem chemisch-physikalischen Vorgang. Fotografien besitzen für Walton damit einen ausgezeichneten epistemischen Status: Sie stellen einen direkten und unmittelbaren Zugang zum fotografierten Ereignis, dem

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Vgl. Henry Fox Talbot: Selected Texts and Bibliography, Oxford 1992. Der Begriff des Zeugnisses ist in der Epistemologie zentral. Er wird vor allem im Nachdenken über die sprachliche Vermittlung von Wissen angewandt. Vgl. Jennifer Lackey: Learning from Words. Testimony as a Source of Knowledge, Oxford 2008. Er hat als ein allgemeiner Begriff aber durchaus auch Bedeutung für bildliche Vermittlungsprozesse. Vgl. Image Testimonies. Witnessing in Times of Social Media, hg. v. Kerstin Schankweiler, Verena Straub und Tobias Wendl, New York 2018. Walton 1984 (wie Anm. 4), S. 246-277.

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Referenten, her. Die Fotografie schafft einen Zugang zum fotografierten Objekt, dieses wird im fotografischen Bild in einer transparenten Art und Weise sichtbar. Auch dort, wo Fotografie als »the production of a copy of an appearance« verstanden wird,12 geht es letztendlich um eine Beschreibung der Transparenz des fotografischen Bildes. Roger Scruton, ein zweiter wichtiger Vertreter der angelsächsischen Debatten über die Fotografie, betont mit dieser Formulierung, ähnlich wie Walton, den opto-mechanischen Prozess, auf dem die Fotografie beruht. Die technische Bedingtheit der Fotografie ist dabei folgenreich – epistemisch wie auch ästhetisch: »It follows, first, that the subject of the ideal photograph must exist; second, that it must appear roughly as it appears in the photograph; and third, that its appearance in the photograph is its appearance at a particular moment of its existence.«13 Eine Fotografie verweist im Idealfall zum einen darauf, dass der Referent existiert oder zumindest in der Vergangenheit existiert hat. Ansonsten könnte die kausal determinierte Fotografie kein Zeugnis von ihm geben. Er muss dem Kameraauge seinen Anblick dargeboten haben, ansonsten wäre da kein fotografisches Abbild von ihm. Zum anderen ist die Weise der Erscheinung zwischen dem fotografierten Referenten und der Fotografie durch eine Ähnlichkeit gekennzeichnet. Schließlich ist aber auch der Vergangenheitsbezug angesprochen: Eine Fotografie verweist immer auf einen bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte, nämlich denjenigen, in dem der Auslöser gedrückt wurde. Mit den beiden vorgestellten Ansätzen lassen sich bereits einige epistemische und ästhetische Konsequenzen einer Theorie der Fotografie formulieren, die den chemisch-physikalischen bzw. opto-mechanischen Prozess beim Fotografieren in den Mittelpunkt rückt und damit die Bildproduktion als determinierend für die Bildrezeption ansieht. Mit der »mind-independence thesis« werden einige dieser Konsequenzen noch zugespitzt.14 Scott Walden, einer ihrer bekanntesten Verteidiger, beruft sich in seiner Theoriebildung auf die technische ›Natur‹ der Fotografie. Diese stellt auch den Dreh- und Angelpunkt der bereits vorgestellten Überlegungen zur Transparenz und zum Kopiecharakter dar. Die Fotografie kann laut Walden nun den Anspruch auf

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Scruton 1981 (wie Anm. 4), S. 587. Scruton 1981 (wie Anm. 4), S. 588. Scott Walden: Objectivity in Photography, in: British Journal of Aesthetics 45 (2005), S. 258-272.

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Objektivität erheben, da sie in ihrer Herstellung nicht durch menschliche Gestaltungsprozesse determiniert ist: »[T]he dependence is realized by an opticalchemical mechanism that excludes direct involvement of the mental states of the imagemaker.«15 Es ist laut Walden der Apparat, der die Fotografie erzeugt und sich dafür verantwortlich zeichnet, was schließlich im Foto sichtbar wird. Die das Foto herstellende Person spiele dabei eine untergeordnete Rolle, weil sie den Moment der Bildprägung nur indirekt beeinflussen kann. Die These von der Unabhängigkeit der Fotografie vom Geist der Bildgestalter oder Bildgestalterinnen schließt eine Beteiligung des Subjekts auf zwei unterschiedlichen Ebenen aus der Diskussion aus: einerseits auf der Ebene des Herstellungsprozesses, andererseits auf der Ebene der Rezeption. Fotografin und Betrachter werden als dem fotografischen Bild äußerliche, supplementäre Elemente angesehen. Die eben skizzierten Ansätze verbindet das zentrale Argument, dass Fotografien einen objektiven Bezug zum Referenten zeigen, weil sie im Rahmen eines nicht-subjektiv bewerkstelligten apparativen Verfahrens hergestellt wurden. In der Objektivitätsdebatte gelten fotografische Bilder zudem als nicht-repräsentierend, insofern sie das fotografierte Ereignis im Sinne der Transparenz nur so wiedergeben, wie es ursprünglich vom Kameraauge gesehen wurde. In Fotografien ist der fotografierte Referent damit nach wie vor präsent, obwohl er faktisch nicht gegeben ist. Die Implikationen und Konsequenzen, die eine solche Theorie der Fotografie mit sich bringt, lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen ausbuchstabieren. In Bezug auf die Dimension des Technischen lässt sich feststellen, dass der technische Mechanismus des Fotografierens, also das Auslösen, den Referenten unwiderruflich in die lichtempfindliche Schicht einbrennt. Fotografien sind damit kausal bedingt. Die kausale Bedingung der Fotografie hat unmittelbare epistemologische Folgen. Fotografien zeigen (auf) die fotografierte Wirklichkeit. Sie geben den Blick auf ein vergangenes Ereignis in einer transparenten Weise frei. In diesem Sinne haben sie den epistemischen Charakter eines Zeugnisses. In ästhetischer und damit verbunden in phänomenologischer Hinsicht erweisen sich die dargestellten Objekte als nicht geschaffen. Sie werden vielmehr im Zuge des Fotografierens als fotografische Objekte geprägt. Dabei erscheinen sie dem fotografierten Referenten ähnlich. Im Bild wird in diesem Zuge Vergangenheit sichtbar, d.h. es zeigt sich etwas, das zuvor bereits nicht apparativ vermittelt sichtbar gewesen ist. Wenn ich 15

Walden 2005 (wie Anm. 14), S. 259.

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als Rezipientin oder Rezipient weiß, dass ich es mit einer Fotografie zu tun habe, dann schreibt sich das Bewusstsein über die abgebildete Vergangenheit meiner Betrachtung ein. Neben diesen Ebenen hat die oben skizzierte Theorie der Fotografie auch weitreichende ethische Implikationen. Auf Seite der betrachtenden Person impliziert sie nämlich, dass ich mich in der Bildbetrachtung nicht nur auf eine bildliche Realität beziehe, sondern auch auf die Vergangenheit, auf die die Fotografie zeigt. Ich muss mich daher auch zu dieser verhalten. Auf Seite der die Fotografie herstellenden Person unterstreicht sie, dass ich im Akt des Fotografierens eine Situation in einer bestimmten Weise festhalte und sie damit hierauf reduziere. Als Fotograf oder Fotografin instanziiere ich damit die Möglichkeit, dass sich die Betrachter oder die Betrachterinnen auf eine möglicherweise intime oder exklusive, auf jeden Fall vorübergehende Situation dauerhaft und vermittelt beziehen. Die referierten Theorien, die, wie bereits erwähnt, die Ebene der Bildproduktion durch den technischen Mechanismus des Auslösens zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Theoriebildung machen, sind in ihrer Geltung daher keineswegs auf die Bildproduktion beschränkt; sie betreffen vielmehr ebenso die Ebenen der Bildverarbeitung, der Distribution und der Rezeption. Mit der digitalen Wende ist die Fotografie nun aber mit einer veränderten Situation konfrontiert, denn es handelt »sich bei der digitalen Photographie in der Tat nicht einfach um ein weiteres photographisches Genre, sondern um ein neues Medium, das die Beschaffenheit des Lichtbildes perfekt zu transformieren und zu imitieren ermöglicht, die materielle Einschreibung, wenn sie denn erfolgt ist, zu verknüpfen vermag mit der ›schöpferischen‹ Manipulation der Bilddaten.«16 Das Auslösen brennt die fotografierte Situation nicht länger in eine lichtempfindliche Schicht des Films ein, sodass dieser unwiderruflich verändert ist. Durch das Fotografieren wird das Material des Films durch chemische Prozesse geprägt und dieser Vorgang kann nicht rückgängig gemacht werden. Im Fall der digitalen Fotografie ist die Situation eine denkbar andere: Das Material selbst, der Datenträger, wird durch das Auslösen zwar verändert, dies allerdings nicht unumkehrbar. Im Datenträger wird durch das Fotografieren nämlich lediglich der Zustand der Elektronen bestimmt, der danach wieder weiter verändert werden kann. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass während oder nach dem Fotografieren beliebig in den elektronischen Fluss eingegriffen werden kann. In

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Peter Riedel: Pragmatik der Photographie. Eine Einführung in die Theorie des photographischen Realitätsbezugs, Marburg 2002, S. 171.

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der analogen Fotografie entpuppt sich der Film so als ein starrer und beharrlicher Datenträger. In der digitalen Fotografie hingegen erweist er sich als veränderlich und fließend. Der technische und epistemologische Charakter der Fotografie ändert sich damit grundlegend. Da die Bedingungen der Bildproduktion andere geworden sind, sieht sich nicht zuletzt die Rede vom objektiven Bild mit einem großen Fragezeichen konfrontiert. Für jene Transparenz, die der Fotografie als charakteristisch zugesprochen wurde, lässt sich nur mehr schwerlich unter allen Umständen plädieren. Man muss im digitalen Zeitalter zumindest damit rechnen, dass Fotografien nicht mehr einwandfrei bezeugen, dass sie von der Wirklichkeit – nun durchaus im Rahmen von intentionalen Akten der Bildgestaltung – etwas abziehen oder hinzufügen, sie ver- oder entstellen. Damit herrscht – epistemologisch gesehen – nun zumindest Unsicherheit darüber, ob Objektivität gegeben ist, ob tatsächlich ein verlässliches Zeugnis vorliegt. Ästhetisch gesehen ist jene Ähnlichkeit, die die Darstellung im Falle der analogen Fotografie zum Referenten gezeigt hat, aber weiterhin in vielen Fällen gegeben. Die grundsätzliche Verknüpftheit von Objektivität und Ähnlichkeit ist damit fraglich geworden.

Die Referenz und das fotografische Bild Wird auf die technischen Aspekte fokussiert, so geht mit der digitalen Wende also eine Problematisierung der Eindeutigkeit dessen einher, worauf eine Fotografie zeigt. Der Referent erscheint zumindest weniger klar und transparent, wenn mittels Filter, Bildbearbeitung und pixelmanipulierenden Techniken das schließlich digitale Bild erst geschaffen wird und nicht bereits im Moment des Auslösens durch einen chemisch-physikalischen Vorgang determiniert wird. Die Theorien, die ich im vorhergehenden Teil referiert habe, sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Fotografie im digitalen Zeitalter hinsichtlich ihrer technischen Bedingtheit in gewissem Sinne flexibler und damit offener für subjektive Gestaltungsprozesse der Bildermacherinnen und -macher geworden ist. Damit besitzt die Ontologie, die von diesen Theorien vertreten wird, eine lediglich beschränkte Gültigkeit in Bezug auf die Fotografie nach der digitalen Wende. Selbst wenn Autoren wie Scott Walden betonen, dass die technologischen Veränderungen seit den 1990er Jahren keine rückwirkenden Effekte hinsichtlich der Epistemologie der Fotografie ha-

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ben,17 sichert die Geschichte nicht die epistemische Geltung der Gegenwart. Ebenso wenig sichert sie diese Geltung in anderen Hinsichten. Schreibt man eine Theorie ausgehend von ihren technischen Bedingungen, erweist sich der Abstand zwischen Vergangenheit der Fotografie als analogem Medium und ihrer Gegenwart als digitalem Medium dementsprechend zumindest als eine denkerische Herausforderung, wenn nicht als eine unüberbrückbare Kluft.18 Auf diese Herausforderung könnte man mit der Frage reagieren, ob es nunmehr einer anderen, einer neuen, auf das Digitale ausgerichteten Theorie bedarf, um Fotografie heutzutage nicht nur ontologisch, sondern auch epistemologisch, ästhetisch, phänomenologisch und ethisch adäquat beschreiben zu können. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass es weniger die Neuerfindung einer Theorie braucht, die wiederum von den veränderten technischen Bedingungen ausgehend die Natur der nunmehr digitalen Fotografie zu beschreiben sucht – so wie es die eben skizzierten Ansätze tun. Es braucht dagegen eine Auseinandersetzung mit Theorien, die die Seinsweise der Fotografie nicht allein abhängig von ihrer Technik erschließen, die nicht lediglich die Produktionsseite – und hier auch nahezu ausschließlich die fotografische Technik – zum Ausgangspunkt ihrer Thesenbildung nehmen. Vielmehr sind Theorien gefragt, die das Verhältnis zwischen dem fotografierten Ereignis – dem Referenten – und dem, was im Bild zur Erscheinung kommt, zum Thema machen.19 Denn der eben skizzierte Diskurs eignet sich zwar hervorragend 17

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»[I]f developments in photographic technology break the connection between photography and objectivity […] this would not undermine the importance of objectivity in histories of photography that look back on its first 150 years.« Walden 2005 (wie Anm. 14), S. 264. Grundsätzlich stellt sich diese Herausforderung auch für Theorien des Digitalen. Konzentrieren diese sich rein auf Technik und Technologie, müssen sie das Verhältnis zwischen analoger und digitaler Welt tendenziell eher als Bruch denn als Übergang beschreiben. Theorien wie die von Felix Stalder fassen Digitalität daher als umfassendes, nicht auf die technischen Rahmenbedingungen beschränkbares System auf. Vgl. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Frankfurt a.M. 2016. Nahezu alle Theorien der Fotografie gehen von ihrer Medienspezifität und damit auch von ihren technischen Bedingungen aus. Unterschiede zwischen den Theorien zeigen sich dabei allerdings dahingehend, wie diese Bedingungen mit anderen bedingenden Faktoren in Beziehung gesetzt werden. Entsprechend wird die Fotografie dort, wo die Technik nicht als alleinige Bedingung verstanden wird, auch nicht zwingend als objektiv verstanden. Susan Sontag 2005 (wie Anm. 6), S. 4 betont insofern, dass die Transparenz einer Fotografie lediglich im Sinne einer »narrowly selective transparency« verstanden werden kann. Sie argumentiert, dass sowohl die fotografische Operation, die Distribution wie auch die Auswahl von Fotografien durch klare Interessen gesteu-

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für eine Beschreibung der technischen Eigenarten, die hiermit in Verbindung stehende Medienspezifität der Fotografie und damit einer Ontologie, die die technologische Seinsweise zu ihrem Dreh- und Angelpunkt macht; er eignet sich aber wenig dafür zu verstehen, was eine Fotografie als Bild auszeichnet, das – in seinen Produktionsbedingungen objektiv oder nicht – unterschiedlichen Personen zu unterschiedlichen Zeiten durchaus verschiedentlich erscheinen kann. Wenn nicht die analoge Technik, sondern die Referenz, die in einem fotografischen Bild zur Erscheinung kommt und in diesem Moment je spezifisch lesbar wird, zum Ausgangspunkt der Theoriebildung genommen wird, dann – so mein Argument – ist der Übergang vom Analogen zum Digitalen für ein Verständnis der Fotografie zwar interessant zu diskutieren, er erschüttert sie aber nicht in ihren Grundfesten: weder auf epistemologischer und ethischer, noch auf ästhetischer und phänomenologischer Ebene. Denn das, was im fotografischen Bild zur Erscheinung kommt und lesbar wird, steht zwar mit den technischen Bedingungen der Bildproduktion in Zusammenhang und zeigt sich nicht schlichtweg von diesen unberührt. Es ist aber ebenso an die nicht-technischen Bedingungen der Herstellung, die Distribution, den Ort und die Zeit der Präsentation, den Kontext, in dem es erscheint, Vorwissen, Überzeugungen, Erinnerungen der Bildermacher und Bildermacherinnen wie auch der Bildbetrachter und Bildbetrachterinnen, individuelle und kollektive Bildpraktiken gebunden, die sich ihrerseits mitverantwortlich dafür zeichnen, was dieses Bild jeweils zeigt. Um eine solche Theorie anzudenken, möchte ich mich im Folgenden auf poststrukturalistische Überlegungen zur Referenz wie auch auf phänomenologische Überlegungen zur Bildwahrnehmung konzentrieren und diese miteinander in Beziehung setzen. Dieses Zusammenlesen ermöglicht es, sowohl die strukturellen Entstehungs-, Rezeptions- und Distributionsbedingungen (bei denen die technischen Bedingungen freilich auch eine Rolle spielen) zu thematisieren wie auch den spezifischen Moment der Bildbetrachtung und

ert sind, die der Objektivität des Kameraauges entgegenwirken. Auch Dubois 1998 (wie Anm. 5) oder Judith Butler: Frames of War. When is Life Grievable?, New York 2009 betonen, dass Fotografie als ein umfassendes dynamisches Geschehen beschrieben werden muss, in dem Produktion, Distribution und Rezeption zusammengedacht werden müssen. Postmoderne Autoren oder Autorinnen wie Jean Baudrillard: Der unmögliche Tausch, Berlin 2000 gehen sogar so weit herauszustreichen, dass fotografische Bilder nicht Fakten, sondern Fiktionen zeigen.

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die subjektive Positionierung der betrachtenden Person zu bedenken. Struktur und Moment, Kontext und Ereignis werden so in Beziehung gesetzt und erlauben es, das fotografische Bild als Objekt und Phänomen gleichermaßen zu erörtern. Einer der im europäischen Diskurs herausragenden Fotografietheoretiker, der sich sowohl für die strukturelle wie auch die phänomenale Dimension der Fotografie interessiert, ist Roland Barthes. Die Referenz ist für ihn in diesem Zusammenhang eines der brennenden Themen: Sie ist es, die der Fotografie ihren besonderen Stellenwert verleiht, in epistemischer, ethischer, ästhetischer wie auch phänomenologischer Hinsicht. Ebenso wie die meisten Theoretiker und Theoretikerinnen, die sich der Fotografie als Thema widmen, erachtet Barthes die technischen Bedingungen als zentralen Faktor. Entsprechend besitzt die Fotografie einen besonderen Bezug zur abgebildeten Vergangenheit in Form des fotografierten Referenten. Die ontologische Bestimmung, die Barthes vornimmt, geht hiervon aus und konzentriert sich entsprechend auf das Einbrennen des Referenten in die lichtempfindliche Schicht: »Der Name des Noemas der Photographie sei also: ›Es-ist-so-gewesen‹ oder auch: das Unveränderliche.«20 In seiner Theoriebildung positioniert sich Barthes also, wie die oben genannten Denker, zu den technischen Eigenarten der Fotografie, die sich dafür verantwortlich zeichnen, dass der Referent im Moment des Auslösens unveränderlich dem Bild eingraviert wird. Im Gegensatz zu den oben zitierten Positionen macht Barthes bei dieser Feststellung aber nicht halt. Um die Fotografie in ihrer Besonderheit zu durchdringen, genügt es nicht, eine Theorie auf den technischen Bedingungen eines Mediums zu gründen. Das, was in der Fotografie erscheint, ist zwar kausal vom Referenten abhängig und dieser entsprechend ein wesentlicher Faktor im fotografischen Bildgeschehen. Um aber zu verstehen, wie der Referent schließlich im Bild ästhetisch wie auch phänomenal in Erscheinung tritt, gilt es sich der Referenz als Verhältnis zu widmen. Dieses Verhältnis umfasst mindestens zwei Seiten und damit einen Raum, der sich »zwischen der Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt (operator oder spectator)«21 aufspannt. Die Unendlichkeit ist jene (Un-)Zeit, aus der sich der Referent den Betrachtenden zuspricht. Es handelt sich um keinen klar feststellbaren Zeitpunkt, denn auch wenn der Kameramechanismus in einem feststell- und benennbaren Moment ausgelöst wurde, gibt die20 21

Barthes 1989 (wie Anm. 7), S. 87. Barthes 1989 (wie Anm. 7), S. 87.

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ses Ereignis den Referenten für die Ewigkeit frei. Er wird sozusagen aus der Zeit gerissen und in diesem Zuge geöffnet für jenen Erfahrungs- und Bedeutungsraum, der sich zwischen ihm und der Person auftut, die sich ihm im Betrachten der Fotografie zuwendet. Barthes bemerkt entsprechend in Bezug auf den Referenten: »[E]s ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden.«22 Die vergangene Gegenwart, die der Fotografie eingebrannt ist, ist also paradox und besitzt insofern keine Eindeutigkeit. Sie ist dem dynamischen Wechselspiel zwischen dem im Bild Festgehaltenen und dem im Bild zur Erscheinung Gelangenden ausgesetzt. Das ›Noema‹ der Fotografie, das ›Es-ist-so-gewesen‹ beschreibt den Fingerzeig, den die Fotografie preisgibt in Bezug auf den fotografierten Referenten. Die Fotografie zeigt also auf das Ereignis, das im Bild in einer bestimmten Art und Weise festgehalten ist: ›So‹ ist es gewesen. Dass sie darauf zeigt, impliziert einen Akt der Vermittlung, der dem entgegensteht, was eine Theorie der Transparenz behauptet. Die Referenz, die die Fotografie prägt, gibt nämlich nicht einfach den Blick frei, sie umreißt vielmehr einen Raum der Vermittlung, einen Möglichkeitsraum, in welchem die Beziehung zwischen wahrnehmendem Subjekt (auf zwei Ebenen: in der Form des operators, der Fotografen oder der Fotografin, UND des spectators, des Betrachters oder der Betrachterin) und dem Referenten sich bildet. Damit ist die Fotografie auch nicht zu verstehen als ein eindimensionales Abbild von etwas ehemals Anwesendem, das als solches isoliert fassbar wäre, sondern eine jeweils neue und andere Artikulation dieser Beziehung. Barthes weist entschieden darauf hin, dass der Referent zwar singulär ist und der Moment des Betätigens des Auslösers einzigartig. Die technischen Bedingungen sind insofern wesentlich für das, was die Fotografie von anderen Bildproduktionsweisen unterscheidet. Durch das Auslösen aber wird eine Fotografie nur insofern unveränderlich geprägt, als es dieser eine Referent ist, der ihr eingebrannt ist. Dieser Referent hat aber nicht eine unveränderliche Geltung. Die im fotografischen Bild gebündelte Singularität und Einzigartigkeit öffnet sich vielmehr einem Netz von Verweisungszusammenhängen, wenn sie betrachtet wird und sich die Referenz als Verhältnis konkret artikuliert. Ohne eine Referenz, die sich tatsächlich in der Bildbetrachtung als Beziehung des Betrachters oder der Betrachterin zum Bild erst einstellt, wäre der Referent nichtig, denn er wäre nur eine abstrakte, bedeutungslose, einem

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Barthes 1989 (wie Anm. 7), S. 87.

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Bildträger eingeprägte Instanz. Die Referenz bliebe in diesem Verständnis leer. Jener Referent, der dem Bild ›anhaftet‹, besitzt damit unmöglich eine in sich abgeschlossene Präsenz – seine Vergangenheit ist weder eindeutig noch transparent.23 Das, was in einer Fotografie zur Erscheinung gelangt, ist nicht einfach da und in diesem Sinne objektiv gegeben.24 Es verschuldet sich vielmehr einer Bewegung des Anzeigens, eines Hindeutens auf. Es ist auf jenes ereignishaftes Wie angewiesen, welche die Entstehung des Bildes in der Bildbetrachtung ausmacht. Die Referenz ist als ein offenes, nicht determiniertes Verhältnis zu verstehen, wenn sie nicht nur vom Moment des Auslösens und des Einfrierens des Referenten zu einem bestimmten Zeitpunkt abhängt, sondern wenn dieser Moment eben nur einen Faktor des Bildgeschehens beschreibt. Der andere, ebenso konstituierende Faktor und das ebenso konstitutive Ereignis ist die Bildbetrachtung selbst. Um dies noch näher ausführen zu können, möchte ich auf die Phänomenologie und ihr Verständnis der Bildwahrnehmung zurückgreifen, das sich meines Erachtens in einen spannenden Zusammenhang mit den Überlegungen zur Referenz in Anschluss an Barthes bringen lässt. Mit Edmund Husserl kann Bildbetrachtung als ein Geschehen verstanden werden, in dem Akte der Wahrnehmung und der Imagination (und weiter auch der Erinnerung) zusammenwirken. Bildbewusstsein zeichnet sich durch eine Dopplung von Wahrnehmungs- und Imaginationsakten aus. »[B]ei der gemeinen Bildauffassung […] dient ein in der Weise der Wahrnehmung Erscheinendes, also ein phänomenal Gegenwärtiges […], als Repräsentant des anderen. Allerdings schauen wir, uns im Bewusstsein der immanenten Imagination betätigend, das Nichtgegenwärtige in das Erscheinende hinein, aber dieses ist in der Weise eines Gegenwärtigen Erscheinenden, es ist ein perzeptiv Erscheinendes.«25

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So viel betont auch Jacques Derrida in seiner Auseinandersetzung mit Roland Barthes ebenso wie in seiner eigenen Fotografietheorie. Vgl. Jacques Derrida: Die Tode Roland Barthes, in: Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt, hg. v. Jacques Derrida, Wien 2007, S. 59-102. – Jacques Derrida: Copy, Archive, Signature. A Conversation on Photography, Stanford 2010. – Jacques Derrida: Bleibe, Athen, Wien 2010. »Was immer auch ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht.« Barthes 1989 (wie Anm. 7), S. 14. Edmund Husserl: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen, Den Haag 1980, S. 79.

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Wird ein Bild wahrgenommen, so wird einerseits die konkrete Wahrnehmung eines materiell gegebenen Dings und andererseits die Imagination eines Sachverhalts vollzogen, der in das wahrgenommene Ding hineinphantasiert wird. Bildwahrnehmung ist nach Husserl charakterisiert durch eine Spaltung von Wahrnehmung eines Dings und »Fiktum der Wahrnehmung«26 . Zunächst wird ein gegenwärtig gegebenes, materielles Ding perzipiert. In der Materialität des physischen Bildes erscheint jedoch gleichzeitig eine Darstellung. Diese Darstellung wiederum hat einen impliziten oder expliziten Bezug zu einem dargestellten Sujet, welches imaginiert oder erinnert vergegenwärtigt werden kann. Husserl differenziert diese drei Ebenen der bildlichen Erscheinung, indem er am Bild »Bildding, Bildobjekt, Bildsujet« scheidet. »Das letztere [das Bildding] braucht nicht zu erscheinen, und wenn es erscheint, so haben wir eine Phantasie oder Erinnerung.«27 Und hier wären wir bei der Beziehung zum Referenten. In der Sprache Husserls wäre er das dargestellte Sujet, das Bildsujet, welches sich in der Darstellung zeigt, aber mittels Akten der Imagination oder Erinnerung vergegenwärtigt wird. Der Referent wird im Bild laut Husserl daher – anders als die angelsächsischen Theorien es behaupten – kraft der Ähnlichkeit, die er mit der Darstellung unterhält, nicht wahrgenommen. Phänomenologisch gesehen wird er vielmehr imaginiert oder erinnert. Imaginationen und Erinnerung formieren sich, wie in Anschluss an Barthes ausgeführt, – wie die Wahrnehmung selbst übrigens – in einem Netz an sinnlichen Verweisungszusammenhängen. Damit sind sie im intersubjektiven Vergleich mitunter sehr unterschiedlich: In denselben Bildern wird für unterschiedliche Personen durchaus Verschiedenes sichtbar.

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Husserl 1980 (wie Anm. 25), S. 64. – Der fiktive Status der Wahrnehmung ist dabei in zweifacher Weise begründet: »Ein Fiktum haben wir bei der physischen Bildlichkeit aus doppelten Gründen: […] 1. Widerstreit durch Hineinsetzung in die Umgebung der ›Wirklichkeit‹ […] 2. ›Empirischer Widerstreit‹ (Menschen in photographischen Farben gibt es nicht).« Husserl 1980 (wie Anm. 25), S. 148. Husserl 1980 (wie Anm. 25), S. 489. Für Husserl ist durchaus eine Bildbetrachtung denkbar, die nicht einen expliziten Repräsentationsbezug aufweist. Was aber wäre eine Darstellung, die nicht etwas Bestimmtes darstellt? Husserl reflektiert über dieses Thema, wenn er sich fragt, warum eine Landschaft als Bild wirken kann. Eine solche Bildwirkung erklärt er sich folgendermaßen: »Wir fassen sie [die kleinen Häuser] in der Bildbetrachtung als nichtgegenwärtig: als Bilder. […] Gegenwärtig unsere nächste Wahrnehmung, das, was wir ›sehen, so wie es ist‹. Wir nehmen die Erscheinung des Dorfes, der kleinen Menschen etc. als Bilder für die nichtgegenwärtige mögliche Gegenwart, für Erscheinungen, die wir haben würden, wenn etc.«. Husserl 1980 (wie Anm. 25), S. 144.

Die leere Referenz

Die entscheidende Frage, um das fotografische Bild ausgehend von der Referenz, als einem offenen Verhältnis zwischen Referent, Darstellung und wahrnehmendem Subjekt, zu verstehen, ist nun, wie sich Wahrnehmung und Imagination zueinander verhalten. In diesem Zusammenhang ist Husserls Suche nach dem phänomenologischen Kriterium aufschlussreich, das es ermöglicht, Bildbewusstsein von reinem Wahrnehmungs-, Phantasie- oder Erinnerungsbewusstsein zu unterscheiden. Die Erscheinung einer Darstellung im Bild ist durch einen sich in der Erfahrung artikulierenden »Widerstreit« charakterisiert, der die Wahrnehmung »als nichtgegenwärtige« und somit als repräsentierende zeichnet.28 Um von Bildlichkeit sprechen zu können, bedarf es also einer Differenzerfahrung.29 Was das Bild als Bild phänomenal konstituiert, ist eine in sich widerstreitende Erfahrung, die den präsentierenden Akt der Wahrnehmung eines physischen Dinges hin auf das in ihm sich Darstellende kippen lässt. Beide Erfahrungsdimensionen – Wahrnehmung des physischen Bildes und Auffassen desselben als Darstellung – stehen in einem nicht auflösbaren Konflikt, welcher in der Bildbetrachtung bewusst erlebt wird. Dieser bewusst erlebte Unterschied hat für Husserl eine – zunächst – ontologische Fundierung. Er beruht auf der Differenz zwischen Dasein des Dings und Nichtdasein des dargestellten Sachverhalts. »Der Charakter der Wahrnehmung – in Beziehung auf das Objekt der Daseinscharakter – streitet mit dem Charakter blosser Bildlichkeit, welcher das Nichtdasein des Abgebildeten (sc. im Akte), die Unterschiedenheit des daseienden Bildes und der Sache voraussetzt.«30 Erst im Lichte eines solchen ontologisch grundgelegten, sich in der konkrekten Erfahrung phänomenal artikulierenden Widerstreits kann von Bildlichkeit gesprochen werden. Entsprechend qualifiziert Husserl das »friedliche und klare Bildlichkeitsbewusstsein« als ein unmittelbares Bewussthaben der Differenz von »Wirklichkeit und Schein«. Wenn diese Differenz nicht gegeben ist – indem das Bild etwa phänomenal nicht als Bild, sondern als die Sache selbst erscheint –, dann kann kein Bildlichkeitsbewusstsein konstituiert werden.

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Husserl 1980 (wie Anm. 25), S. 56. Hier ist der Beobachtung von Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2010, S. 135 zuzustimmen, dass Husserls Bildphänomenologie sich stets innerhalb des Rahmens des Bildbewusstseins bewegt. Ob es allerdings möglich ist, auf phänomenologischem Wege von diesem »allzu eng geschnittenen Rahmen« abzusehen, wie Waldenfels dies suggeriert, muss an dieser Stelle offen bleiben. Husserl 1980 (wie Anm. 25), S. 132.

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Iris Laner

Schluss Das eben erörterte im Ereignis der Bildbetrachtung auszuhandelnde Verhältnis zwischen Referenten und ›wahrnehmendem Subjekt‹, medial vermittelt in Form des fotografischen Bildes, bietet sich aus mehreren Gründen für eine Theorie der Fotografie an, die sich durch die digitale Wende nicht in ihren Grundfesten erschüttert zeigt. Wenn keine absolute, nämlich – im direkten Wortsinn – von der Bildbetrachtung losgelöste Form der Objektivität mehr für das fotografische Bild beansprucht wird, sondern ihr objektiver Gehalt sich in der Bildbetrachtung generiert oder nicht, sind simultane und nachträgliche Manipulationen der Darstellung, der Grad der Beteiligung der Bildermacher oder Bildermacherinnen im Bildproduktionsprozess und ihr Verhältnis zur technischen Apparatur nicht mehr ausschlaggebend für das, was Fotografie als Bild ausmacht. Der Bezug zum Referenten ist im Falle der analogen ebenso wie im Fall der digitalen Fotografie gegeben; er ist im letzteren Fall allein nicht mehr in derselben, als transparent behaupteten Weise gegeben. Analoge wie auch digitale Fotografie besitzen einen Bezug zur Wirklichkeit. Sie bilden diese ab. Dadurch lassen sie sich von anderen bildhervorbringenden Verfahren unterscheiden, die nicht notwendigerweise dieses Verhältnis zu einem abgebildeten Referenten unterhalten: Sie können ein solches Verhältnis ins Bild setzen, doch sie müssen es nicht. Fotografie aber, sei es analog oder digital, besitzt notwendigerweise einen Bezug zu einem abgebildeten, außerbildlichen Referenten.31 Auch wenn der im Bild angezeigte Referent simultan oder nachträglich manipuliert, verzerrt oder entstellt worden ist, haftet er dem Bild nach wie vor an. Dies eben in einer, ästhetisch gesehen, mehr oder weniger ›ähnlichen‹ Weise. Wie in der analogen Fotografie ist die Ähnlichkeit durch die Produktionsbedingungen nicht gewährleistet. Über die Ähnlichkeit und die Möglichkeit ihrer Feststellung lässt sich allenfalls streiten, wie mit dem offenen Verhältnis zwischen Referent und Bildbetrachter oder Bildbetrachterin sowie der kontextuellen Eingebundenheit und der multiplen individuellen wie auch sozialen Voraussetzungen der Bildbetrachtung klar geworden sein sollte. Wo

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Diese Beziehung ist es, die der Fotografie einen nicht notwendigerweise bedeutenden, sondern einen anzeigenden Charakter verleiht. In diesem Sinne beschreibt Roland Barthes die Fotografie auch als eine »Botschaft ohne Code«. Roland Barthes: Die Fotografie als Botschaft, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, hg. v. Roland Barthes, Frankfurt a.M. 1990, S. 11-27, hier S. 13.

Die leere Referenz

von so mancher eine Ähnlichkeit gesehen wird, zeigt sich diese für andere nicht in derselben Klarheit. Es bietet sich für eine ihre analogen wie auch digitalen Spielarten umfassenden Theorie der Fotografie meiner Meinung nach daher ein poststrukturalistisch informierter phänomenologischer Zugang an, der versucht, ausgehend von der Referenz als sich im Ereignis der Bildbetrachtung artikulierendem Verhältnis das fotografische Bild versteht. Bildbetrachtung verschuldet sich, mit Husserl gesprochen, der Erfahrung eines Widerstreits, einer Differenz. Bildbewusstsein ist Differenzbewusstsein. Wird dieser phänomenologische Umstand ernst genommen, dann scheint es keine Konflikte verursachen zu müssen, wenn ein fotografisches Bild nicht transparent ist, wenn es den Referenten nicht objektiv zur Schau stellt, wenn es dagegen mit diesem arbeitet, ihn bezeugt, dabei aber verschieben, verstellen, mit ihm spielen kann. Solange auch den Bildbetrachtern und Bildbetrachterinnen bewusst ist, dass sie in der Wahrnehmung einer Fotografie niemals direkt beim Referenten, sondern eben beim Bild sind, dann kann die Referenz wie auch die bildliche Differenz nicht als Hürde, sondern als Möglichkeit verstanden werden, eine Beziehung herzustellen. Dass es hierfür womöglich in ästhetischer Hinsicht Engagement und Übung, in bildethischer Hinsicht Verantwortung und Empathie, in epistemologischer Hinsicht Spürsinn und Neugier braucht, wäre – unter bildungstheoretischer und bilddidaktischer Perspektive – an anderer Stelle mehr als spannend zu erörtern.32

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Unterschiedliche Möglichkeiten, sich Bildern – gemalten, gedruckten wie auch fotografierten – geübt und verantwortungsvoll zu widmen, werden im Rahmen der Diskussion über ästhetische Bildung erörtert. Vgl. Iris Laner: Ästhetische Bildung zur Einführung, Hamburg 2018.

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(Un)creative Artificial Intelligence Zur Kritik ›künstlicher Kunst‹ Dieter Mersch

Die folgenden Erörterungen stehen im Zusammenhang eines größeren Projekts, das den Titel Kritik algorithmischer Rationalität trägt.1 Das Projekt, das bewusst an Immanuel Kant anschließt, versucht im Gegensatz zu technischen, sozialen oder kulturellen Kritiken digitaler Rationalitäten, wie sie zumeist in Sozial- und Medientheorien formuliert werden, eine Geltungskritik des Algorithmischen. Sie betrifft die Limitierung der Leistungen und Reichweiten algorithmischer Schemata und ist entsprechend fundiert in einer »Critique of Mathematical Reasoning«.2 Ausdrücklich verzichtet sie auf Machtanalysen im Kontext digitaler Überwachungsstrukturen und den sich an Michel Foucault und Gilles Deleuze orientierenden Kritiken von Disziplinar- und Kontrollgesellschaften oder den ökonomischen Analysen daten-kapitalistischer Wertschöpfungen, die natürlich ihre eigene Berechtigung besitzen. Statt Anwendungen und praktische Alternativen stehen – analog der Kantischen Kritik der reinen Vernunft – die prinzipiellen Grenzen algorithmischen Denkens zur Disposition, wobei von Rationalität statt von Vernunft gesprochen wird, um den formalen und instrumentellen Charakter dieser Operationsform zu unter-

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Vgl. Dieter Mersch: Ideen zu einer ›Kritik algorithmischer Rationalität‹, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (5) 67 (2019), S. 851-873 – Dieter Mersch: Kreativität und Künstliche Intelligenz. Einige Bemerkungen zu einer Kritik algorithmischer Rationalität, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2019), S. 65-74 – Dieter Mersch: Digital Lifes. Überlegungen zu den Grenzen algorithmischer Rationalisierung, in: Augmentierte und virtuelle Wirklichkeiten, hg. v. Andreas Beinsteiner, Lisa Blasch, Theo Hug, Petra Missomelius und Michaela Rizzoli, Innsbruck 2020, S. 53-76. Stephen Cole Kleene: Introduction to Metamathematics, Groningen 1971, Part 1, S. 3665.

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Dieter Mersch

streichen,3 die gerade dabei ist, nicht nur die Welt und das Reale im Ganzen zu erobern, sondern ebenfalls uns selbst, unseren Körper wie unser Denken, Fühlen und Wissen sowie gleichermaßen die ästhetischen Entwurfspraktiken, das Design und Kreativität sowie die Idee des Kunstmachens überhaupt. Mit Blick auf eine Geltungskritik der reinen Vernunft, also der Verteidigung ihrer Geltungsansprüche gegen die Programme überschießender Rationalisierung, hatte bekanntlich Kant nicht nur die Differenz zwischen Noumenon und Phainomenon und die Unerkennbarkeit des Dings-an-sich postuliert, sondern diese mit der apriorischen Verschränkung von Anschauung und Begriff sowie – jedenfalls in der transzendentalen Deduktion nach Ausgabe A – mit der konstitutiven Rolle der Einbildungskraft begründet.4 Alle Erkenntnis fußt auf ihrer synthetischen Produktivität, wie diese gleichzeitig durch die Ordnung der Verstandesbegriffe kontrolliert und gebändigt wird. Insbesondere bildet so die Einbildungskraft, klassisch in der Bedeutung der imaginatio bei Pico della Mirandola und Marsilio Ficino, den Ort der Kreativität, die für Kant den Vermittlungspunkt zwischen Wahrnehmung und Verstand darstellt: Verantwortlich für die Formgebung und die Verdichtung der mannigfachen Erscheinungen zu einem kohärenten Eindruck, gibt sie gleichsam die Gestalten oder Umrisse preis, die ›Schemata‹, wie Kant sagt, durch die wir die Dinge und Gegenstände allererst gewahren und klassifizieren und somit erkennen können – zu sprechen wäre gleichsam von ihrer Diagrammatisierung, wobei die Delineationen des Schemas nicht nur, aber bevorzugt ihre Geometrisierung und Mathematisierung betrifft.5 Dennoch bleibt in diesen etwas am Werk, was sich zur gleichen Zeit der Linearität, der Form als Medium einer durchgängigen Abstraktion entzieht, nämlich der Überschuss der Formgebung selbst, denn das, was die Form gibt, die Entwurfspraxis, die zwar auf generellen Konstruktionsprinzipien basieren mag, versperrt sich ihrerseits jeder Konstruierbarkeit. Jede Konstruktion der Konstruktion widersetzt sich den Prinzipien der Konstruktion; jede Totalisierung, die auch noch das

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4 5

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang im Besonderen an Max Horkheimer: Kritik instrumenteller Vernunft, Frankfurt a.M. 1985, S. 11-174. – Vgl. auch das Editorial des Internationalen Jahrbuchs für Medienphilosophie: Digital/Rational, Bd. 6, Berlin 2020, S. 9-13. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, S. 134-160. Vgl. Martin Beck: Konstruktion und Entäußerung. Zur Logik der Bildlichkeit bei Kant und Hegel, Diss., FU Berlin 2018.

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zu beherrschen sucht, was Herrschaft konstituiert, läuft vielmehr in die Falle ihrer eigenen Übertreibung. Immer wieder werden wir auf diesen grundlegenden Gedanken zurückkommen. Denn den Kern der Einbildungskraft bildet etwas anderes als das Schema, etwas, was die Schematisierung ermöglicht, aber nicht Teil dieser selbst ist. Man kann an dieser Stelle auch von einer erratischen ›Intuition‹, von der phantasia, die die Phänomene erst schafft, oder auch von einer ›Inspiration‹ sprechen, die mit inspiratio, dem wörtlichen Einatmen im Sinne einer Beseelung oder – in der Diktion Georg Friedrich Hegels – der ›Begeisterung‹ einen eminent passiven Sinn betont. Das lässt sich auch so ausdrücken: Die Einbildungskraft überflügelt jeden Formalismus, insbesondere auch deshalb, weil ihr Grund in einem Anderen liegt, einer Alterität, die ihrerseits weder einem Begriff noch einer Bestimmung genügt, sondern in einem Jenseits wurzelt, das auf uns zukommen muss, das uns ›um-wendet‹ und entsprechend ergriffen werden muss, um uns gleichzeitig zu anderen zu machen als wir sind. Tatsächlich sind wir so vom ersten Augenblick an mit dem Problem und Rätsel der Kreativität konfrontiert – und die folgende Argumentation wird darauf abzielen, erstens, in Analogie zu Kant, die Kreativität (oder Einbildungskraft) als ein unverzichtbares Moment jedes Denkens auszuweisen, auch des formalsten, zweitens, wie ebenso bei Kant, ihr das Zentrum der Synthesis und damit jeder Urteilsbildung und Erkenntnis wie auch des Sinns und des Verstehens zuzuweisen, drittens, erneut als Analogon, im Übergang von der Kritik der reinen Vernunft zu einer ›Kritik algorithmischer Rationalität‹ ihre Unverzichtbarkeit für jede Form mathematischer Beweisung wie Berechnung wie gleichfalls jeder Formalisierung und Kalkülisierung anzunehmen, um schließlich viertens zu zeigen, dass sie zwar das mathematische und damit algorithmische Denken ermöglicht, nicht aber selbst wieder mathematisierbar oder algorithmisierbar ist. Behauptet wird also eine wesentliche Grenze der Algorithmik, deren Lackmustest (und nicht wiederum ihr Statthalter) die Kreativität ist, wobei das entscheidende Argument darin liegen wird, klar zu stellen, dass es zwar eine algorithmische Erzeugung von Neuem, noch nie Dagewesenem oder Unvorhersehbarem gibt – was solange unspektakulär bleibt, solange wir die Begriffe des Neuen, des Nichtwiederholbaren oder Indeterminativen nicht spezifiziert haben –, dass aber darüber hinaus der Begriff der Kreativität so wenig in der bloßen Produktion von Neuheit, Überraschung oder Singularität aufgeht, wie umgekehrt eine solche Neuheit, wo sie hergestellt oder erfunden wird, als diese

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Neuheit oder als kreative Erfindung im eigentlichen Sinne nicht angemessen algorithmisch evaluiert oder bewertet werden kann. Das inkludiert zugleich die beiden Behauptungen, dass einerseits der Begriff der Kreativität, soll er für Denken, Bestimmung oder Urteil und Synthesis furchtbar gemacht werden, wesentlich zu erweitern ist (mathematisch ausgedrückt: wesentlich reichhaltiger als das ist, was sich in der konstruktiven Erzeugung von Neuheit oder Unvorhersehbarkeit und Ähnliches einlösen lässt), sowie dass andererseits jeder Akt der Kreativität gleichzeitig seine Evaluierbarkeit als Kreation einschließen muss, wollen wir ein Neues, das interessant genug ist, als solches betrachtet und wertgeschätzt zu werden, von dem unterscheiden können, was sich als ›triviale Neuheit‹ bezeichnen lässt, für die auch der Zufall oder irgend eine anormale Abweichung hinreicht. Letzteres impliziert insonderheit, dass jede creatio notwendig – wie übrigens auch jedes menschliche Denken – das Moment einer reflecto einschließt, ja dass Kreativität selbst nicht nur ein intuitives oder imaginatives Vermögen voraussetzt, sondern, wie sich noch herausstellen wird, auch ein reflexives. Der Gedanke führt dann zu der weiteren Annahme einer prinzipiellen Inkommensurabilität zwischen menschlicher Vernunft und algorithmischer Rationalität, sodass, wenn je Maschinen ein Denken zugeschrieben werden sollte, dies immer nur eine andere Art von Denken oder etwas anderes als Denken sein kann, etwas, das besser nicht in einem kognitiven Vokabular beschrieben, sondern das als das belassen werden sollte, was es offensichtlich ist: eine Art von Formalismus ohne Sinn für die Formalität der Formalisierung. Anders ausgedrückt: Ihr eignet zwar Rekursivität, nicht aber Reflexivität, die ihrerseits eine Bedingung der Möglichkeit dessen darstellt, was wir als Denken, als Erkennen, Wissen oder Wahrnehmen, aber auch als Erfindung und Kreativität signifizieren, denn Denken ist, wie Wahrnehmung, zuvorderst immer schon ›Denken des Denkens‹ und ›Wahrnehmung der Wahrnehmung‹. Man kann noch einen Schritt weitergehen: Nicht nur können Maschinen nicht kreativ sein, sie können überhaupt nicht denken, sowenig wie sie ein Bewusstsein oder eine Semantik und Pragmatik besitzen, denn alle diese Begriffe sind, wie die Kunst, in einem wesentlichen Maße sozial fundiert. Sie setzen Alterität voraus. * Will man über ›algorithmische Rationalität‹ nachdenken, wird man zuerst auf das Gebiet der Mathematik geführt, denn ein Algorithmus ist, heuris-

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tisch, nichts anderes als die Formulierung einer mathematischen Regel oder eines Schemas. Unsere Überlegungen nehmen dabei ihren Ausgang von einem jener Texte, der nicht nur Entscheidendes für die metamathematische Begründung der Algorithmik, d.h. der Definition von Berechenbarkeit, Entscheidbarkeit und Beweisbarkeit leistete, sondern auch einen der Anfänge der Computerära selbst markierte, nämlich Alan Turings Dissertation Systems of Logic Based on Ordinals von 1938.6 Turings Text reagierte auf die Konsequenzen der epochemachenden Unvollständigkeitsätze Kurt Gödels von 1931, die die Unmöglichkeit einer vollständigen Formalisierung genügend komplexer mathematischer Systeme, die mindestens die Arithmetik umfassen, demonstrierte und damit das sogenannte Hilbertsche Programm nachhaltig erschütterte. Nicht alle formulierbaren wahren Sätze lassen sich in ihnen formal ableiten, sodass wir mit einer fatalen Beschränkung der mathematischen Vernunft selbst konfrontiert sind. Turing suchte dieses Ergebnis dadurch abzumildern, dass er mittels einer aufsteigenden Reihe von formalen Sprachen mit wachsender Vollständigkeit ein Erweiterungssystem konstruierte, das ein vollständiges System L zu einem ebenfalls vollständigen System L1 ergänzt, dieses wiederum zu einem vollständigen System L2 fortsetzt usw. Es entsteht mithin eine Art Stufenhierarchie, doch kann man fragen, ob diese ihrerseits vollständig formalisiert werden kann, was allerdings, genauso wie die Gödeltheoreme, zu einer negativen Antwort führt, denn die Übergänge von L zu L1 zu L2 usw. lassen keinen strengen operativen Konstruktivismus zu, vielmehr sprach Turing, so wörtlich, von einem »oracle«, »that […] cannot be a machine; with the help of the oracle we could form a new kind of machine«.7 Anders formuliert: für den Übergang zwischen den formalen Sprachsystemen gibt es keine allgemeine Regel, sondern einzig eine Intuition oder kreative Erfindung. Der Ausdruck ›oracle‹ steht bei Turing fürs Raten oder für eine selbst unbegründete Intuition, die sprunghaft zur Lösung kommt. Dann wäre, in Turings Sinne, eine ›Oracle-Machine‹ ein Algorithmus, der seine Lösung ohne Umwege mit einem Schritt findet. Das bedeutet, dass für die mathematische Findung eine nicht-mathematische Er-Findung oder Kreativität erforderlich ist, die die unverzichtbare Bedingung dafür bildet, jenseits formalisierter Schemata überhaupt neue Wege zu beschreiten. Wir haben es also,

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Alan M. Turing: Systems of Logic Based on Ordinals, Proceedings of the London Mathematical Society, 2. Bd. 45 (1939), URL: https://www.dcc.fc.up.pt/∼acm/turing-phd.pdf [3. Januar 2022]. Turing 1939 (wie Anm. 6), Sp. 42f.

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wie man sagen könnte, mit einem System deterministischer Maschinen zu tun, zwischen denen ein nichtdeterministischer Sprung besteht, ein Übergang, der nicht selbst wieder logisch deduzierbar ist, sondern abrupt und ohne Übergang passiert. Er sei Sprung genannt, um seine maßgebliche, nicht zu überspringende Indetermination zu markieren. Er erweist sich zudem als paradox, weil ihm keine Linie die Richtung weist, sondern er als Sprung nur gelingen kann, wenn und solange er nicht weiß, wie und wohin er springt. Sprünge können deswegen nicht anders als ästhetisch rekonstruiert werden, wenn wir unter dem Ästhetischen eine selbst regellose Praxis verstehen, denn für den Übergang von einem Regelsystem zu einem anderen gibt es nicht wieder eine Regel, vielmehr muss eine solche erst erfunden werden. Ihre inventio ist »Ereignis«, sie duldet also keine inferentielle Ableitung, sondern sie entspringt, wie man aporetisch formulieren müsste, übergangslosen Übergängen. Zwischen ihnen existiert weder eine Kausalität noch eine Teleologie, sondern allenfalls ein Riss, eine Zäsur, über welche es hinauszuspringen gilt. Der Bruch ist damit eine Voraussetzung von Fortschritt. Entsprechend manifestiert sich die Mathematik als eine schöpferische Tätigkeit, die ihren Grund sowohl im Mechanischen als auch in gewissen nicht logischen Spontaneitäten besitzt, denn ihre Konstruktion beruht – wie es der Intuitionismus als einer der einflussreichsten Philosophien der Mathematik postulierte, der auch Gödel zuneigte – ebenso auf formalen und logischen Operationen wie auf einer Serie abduktiver oder auch ›ahnender‹ Zugänge, die abrupt und in Gestalt von Brüchen oder Differenzen einsetzen und als solche keinem mathematischen Kalkül gehorchen können. Vielmehr setzen sie im Sinne Kants eine freie und reflektierende Urteilskraft voraus, die er selbst als »ästhetische« bezeichnete.8 »Mathematical reasoning«, heisst es analog bei Turing, »may be regarded rather schematically as the exercise of a combination of two faculties, which we may call intuition and ingenuity. The activity of the intuition consists in making spontaneous judgments, which are not the result of conscious trains of reasoning. These judgments are often, but by no means invariably correct (leaving aside the question as to what is meant by ›correct‹).« Und weiter:

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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Weischedel 1977 (wie Anm. 4), Einleitung, Teil V, A 24.

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»I shall not attempt to explain this idea of ›intuition‹ any more explicitly. The exercise of ingenuity in mathematics consists in aiding the intuition through suitable arrangements of propositions, and perhaps geometrical figures or drawings. […] The parts played by these two faculties differ of course from occasion to occasion, and from mathematician to mathematician.«9 Anders gewendet: Die Evolution mathematischer Erfahrung, jenes von Philip J. Davis und Reuben Hersh so bezeichnete einzigartige Ensemble von Wissen, das in sich selbst zwar notwendig ist,10 aber sich erratisch entwickelt, bleibt dadurch ein Ensemble, als es sich weder übergeordnet systematisieren noch vereinheitlichen und d.h. sich zu einem universalen System schließen lässt. Das Mathematische duldet keine letztendlich gültige Formel – dies insinuierte die gescheiterte Utopie des Hilbertprogramms –, vielmehr wurzelt sie in einer ›Poetik von Findungen‹, die aus ihr zu gleichen Teilen eine Wissenschaft wie eine Kunst macht. Diese Poetik bleibt lückenhaft, wie ein fragmentarischer Flickenteppich, der kein übergreifendes Muster preisgibt, sondern bestenfalls eine offene Sammlung bildet, deren sämtliche Elemente jedoch stimmig und ohne Alternative sind. Von Zeit zu Zeit kann er fortgesponnen werden oder es lassen sich gewisse Zwischenräume auffüllen, doch nur, um in ihnen neue Zwischenräume sichtbar werden zu lassen, die ihrerseits durch keine systematische Methode erschlossen werden können. Zwar können Algorithmen angegeben oder präzise Maschinen gebaut werden, die auf bestimmte und wohldefinierte Weise Resultate produzieren, aber es gibt keinen Meta-Algorithmus, keine mathematische Maschine aller Maschinen, die alle möglichen wahren Aussagen generiert oder von einem System zu einem anderen deduktiv fortschreitet. Sie können alles Mögliche, was innerhalb eines Systems darstellbar ist, ableiten, doch sie können nicht entscheiden, ob es überhaupt darstellbar ist. Konsequent hatte deshalb John von Neumann mit Bezug auf die Struktur der mathematischen Logik erklärt, »[that] you can construct an automaton which can do anything any automaton can do, but you cannot construct an automaton which will predict the behavior of any arbitrary automation. In other words, you can build an organ which can do anything that can be done, but you cannot build an organ which tells you, whether it can be done«. Und er erläutert: »The feature is

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Turing 1939 (wie Anm. 6), S. 57. Philip J. Davis/Reuben Hersh: The Mathematical Experience, Boston Mass. 1981.

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just this that you can perform within the logical type that’s involved everything that’s feasible, but the question of whether something is feasible in a type belongs to a higher logical type.«11 Es ist demnach wie im Mythos, dass die Göttin uns vielleicht erfüllt, was wir uns wünschen, doch sagt sie uns nicht, was wir uns wünschen sollen. Der Ausdruck ›Poetik‹ soll dem Rechnung tragen, denn was wir wünschen sollen, setzt im gleichen Maße Kreativität wie Reflexivität und Urteilskraft voraus. Das Poetische ist folglich keine Sache von Logik oder Maschinen, sondern eine Frage der Kunst wie der Moral und unseres Verständnisses, was Leben heißt. Im ähnlichen Sinne fügt sich, was berechenbar ist und was nicht, keiner weiteren Algorithmisierung; es zeigt sich und weist damit unterhalb jeder Rechnung in das, was sich als unrechenbar ausweisen lässt. Unrechenbarkeit aber bedeutet mehr als nur eine Verneinung von Berechenbarkeit; sie nennt das, was sich auf keine Weise dem Schema einer Rechnung fügt – vergleichbar jenem »mühsamen Nirgends«, als dem »leeren Zuviel«, wie es Rainer Maria Rilkes Fünfte Duineser Elegie ausdrückte, worin »die vielstellige Rechnung zahlenlos aufgeht«.12 * Es hat gleichwohl nicht an Versuchen gefehlt, die sozusagen uneinholbare Stelle des Sprungs dennoch zu mathematisieren und eine algorithmische Theorie der Kreativität zu begründen. Sie sollte gleichzeitig die Chancen einer computergenerierten Kunst ausloten. Wenn eine algorithmische Simulation des Denkens gelingen soll, dann muss sie auch das Phänomen der Kreativität algorithmisch darstellen können: Auf dem Spiel steht daher nichts Geringeres als die Frage nach der Möglichkeit denkender Maschinen.13 Wir haben es also nicht nur mit einer Frage algorithmischer Ästhetik, sondern im Kern mit der Frage nach der Möglichkeit einer starken Künstlichen Intelligenz zu tun. 11 12

13

John Neumann: Theory of Self-Reproducing Automata, Illinois 1966, Sp. 51. Rainer Maria Rilke: Fünfte Duineser Elegie, in: Werke Bd. 2, Frankfurt a.M. 1980, S. 460. – Vgl. auch Dieter Mersch: Sprünge. Dichtung als Theorie-Praxis, in: Allmende. Zeitschrift für Literatur 1 (2018), S. 24-35. Die Frage wird seit den 1960er Jahren, ja sogar nach der Einführung des Turing-Tests, systematisch behandelt. Vgl. dazu auch Dieter Mersch: Turing-Test oder das ›Fleisch‹ der Maschine, in: Körper des Denkens, hg. v. Lorenz Engell, Frank Hartmann und Christiane Voss, München 2013, S. 9-28.

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Bemühungen um eine Beantwortung der Frage und entsprechend dem Entwurf einer »künstlichen Kunst«14 gehen bereits auf die 1960er Jahre zurück, die sich bis heute hält. Insbesondere widersprachen sie, mit George David Birkhoffs Quantifizierungsmethode des ästhetischen Gehalts, einem fälschlich dem Avantgardismus zugeschriebenem Subjektivismus in der Kunst,15 um ihm die Möglichkeit einer objektiven Ästhetik entgegenzuhalten. Ihre maßtheoretische Begründung leitete Birkhoff aus der einfachen Formel MÄ  = O/C ab, die die Ordnung O und die Komplexität C in ein umgekehrtes Verhältnis zueinander setzte. Das bedeutet: Je mehr Ordnung ein Kunstwerk besitzt und je weniger Komplexität, desto höher sein Wert, wie umgekehrt mit ansteigender Komplexität und geringerer Ordnung das Chaos wuchs. Dabei wurden die heuristischen Berechnungen der jeweiligen Grade dieses Inhaltes mit statistischen Mitteln entlang simplifizierender Beispiele wie Vasen, Polyeder und Ähnliches durchgeführt. Nicht einmal Kunstwerke galten für diese Ästhetik als paradigmatisch, was jedoch den auf Rationalismus bedachten Max Bense nicht daran hindern sollte, mit seiner synkretistischen Mischung aus Semiotik und Informationstheorie daraus eine exakte Kunsttheorie abzuleiten, die er als ›Mikroästhetik‹ auswies.16 Fundiert in Claude Shannons Mathematischer Theorie der Kommunikation und Norbert Wieners Kybernetik, beruhte sie im Wesentlichen auf einer direkten Transformation des Birkhoffschen Maßes mittels fiktiver Größen wie die informationelle Redundanz R oder den wirklichen Informationsbetrag Hi , woraus Bense auf der Grundlage des selben Formelwerks die Gleichung MÄ = R/Hi aufstellte, die ein vermeintlich genaueres Kreativitätsmaß abgeben sollte.17 Redundanz, also die Wiederholbarkeit und damit Kommunizierbarkeit einer erkennbaren Ordnung steht dabei im Zähler, dominiert also das Kreativitäts- bzw. Originalitätsmaß, während der wirkliche Informationsgehalt in den Nenner rückt, sodass ein Werk mit wachsender Redundanz umso verständlicher wie mit wachsendem Informationsbetrag umso opaker wird, denn, wie Bense in seiner kleinen abstrakten ästhetik von 1969 formulierte, 14 15 16 17

Vgl. Georg Nees: Künstliche Kunst und Künstliche Intelligenz/Artificial Art and Artificial Intelligence, in: Bilder Images Digital, hg. v. Alex Kempkens, München 1986, S. 58-67. Vgl. u.a. zur Theorie der Avantgarde Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002, bes. S. 188-232. Max Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, in: Max Bense. Ausgewählte Schriften Bd. 3, Stuttgart 1998, S. 255-336, hier S. 315-336. Bense 1998 (wie Anm. 16), S. 316f. – Vgl. auch Max Bense: kleine abstrakte ästhetik, in: Max Bense. Ausgewählte Schriften Bd. 3, Stuttgart 1998, S. S. 419-443, hier S. 432f.

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Redundanz bildet »eine art gegenbegriff zum begriff der information […], indem er nicht den innovationswert einer distribution von elementen bezeichnet, sondern den ballastwert dieser innovation, der demnach nicht neu, sondern bekannt ist, der keine information, sondern identifikation liefert«.18 Nicht nur liegt der hypothetische Charakter solcher Spekulationen auf der Hand, sondern auch die Absicht, vor zu viel Kreativität zu schützen und eine Computerkunst auf der Garantie ihrer Lesbarkeit aufzubauen. Jede Kunst müsse sich dieser normativen Balance beugen, um akzeptiert zu werden, was in der Tat die unausgesprochene Prämisse nahezu sämtlicher mathematischen Beschreibungen künstlerischer Prozesse seither darstellte und die ›Kunst aus dem Computer‹ zu einem nachhaltig fehlgeleiteten Geschäft machte.19 Denn die Annahme läuft auf den kuriosen Schluss zu, dass ein ästhetisches Objekt dann angemessen goutiert werden kann, wenn es weder zu einfach noch zu komplex ist, wobei die ideale Rate mit etwa 37 % bemessen wurde – ein Prozentsatz, der nicht nur die rigorosen Restriktionen solcherart Ästhetik enthüllte, sondern dazu auch noch hochgradig fiktiv blieb, weil jede Skalierung durch eindeutig definierte Maßeinheiten fehlte. Bestenfalls taugen solche Expositionen für statistische Programmierungen, wie sie etwa Georg Nees, A. Michael Noll oder der frühe Frieder Nake, die sogenannten 3 N Computerpioniere vorgenommen hatten, die noch an einen revolutionären Input des Algorithmischen glaubten, der tatsächlich aber überall konservativ blieb. Denn zuerst wurde wahrscheinlichkeitstheoretisch zugerichtet, was anschließend auf derselben Basis automatisch ausgeführt und fortgeschrieben wurde. Als Beispiel mögen Nees ›generative Graphiken‹ genügen, die mit dem Zuse Graphomat Z64 eine Anzahl auf einer Fläche verteilter Geradenschaaren präsentierten, die mathematisch dadurch hervorgebracht wurden, dass eine aus Zufallszahlen gewonnene Reihe von Punkten, Richtungen und Längen definiert wurde, die die Produktionsbedingungen von sich kreuzenden Vektoren bildeten.20 Das Bild zeigt dann ein Netz sich überschneidender Linien, wie ein anderes, das ähnlich generiert wurde, eine Anordnung aus kleinen Quadraten präsentiert, deren Lage sich zunehmend ›verwirrt‹. Ordnung geht in Unordnung und Unordnung

18 19

20

Bense 1998 (wie Anm. 17), S. 432. Vgl. Dieter Mersch: Benses existenzieller Rationalismus. Philosophie, Semiotik und exakte Ästhetik, in: Max Bense. Weltprogrammierung, hg. v. Elke Uhl und Claus Zittel, Stuttgart 2018, S. 61-81. Georg Nees: Generative Computergraphik, München 1969.

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in Ordnung über, wie gleichfalls 2-D Darstellungen 3-D Effekte erzeugen oder 3-D Strukturen als 2-D Oberflächen erscheinen (Abb. 1). Nach Nees soll die Maschine nichts Technisches leisten, sondern »›Nutzloses‹ – geometrische Muster«.21 Keineswegs akzeptierte er dabei jedes Ergebnis, sondern er brach zuweilen Prozesse ab, wo die Komplexitäten wucherten oder – beispielsweise aufgrund von Computerfehlern – Chaos ausbrach, sodass zuletzt doch die Kraft des ästhetischen Urteils den Ton angab.22 Es erscheint darum generell verfehlt, hier von ›kreativen Computern‹ zu sprechen, weil die Seite des Schöpferischen durchweg ungedeckt blieb und durch Zufallsgeneratoren ersetzt wurden. Varianz geht von Erfindung zu Stochastik über. Ein generierter Zufall bedeutet aber nicht, wie bei John Cage oder in der radikalen Aleatorik eines Jean Arp, Kurt Schwitters, Pierre Boulez oder Earle Brown, ein buchstäbliches »Zu-Fallen« des Nichts,23 ein Würfelspiel, das der Ereignung den Vorrang gibt, sondern ein durch Regeln oder mathematische Gesetze konstruierter Zufall, sei es durch Einsatz von Wahrscheinlichkeitsfunktionen, den Rückgriff auf die Reihenentwicklung transzendent irrationaler Zahlen oder der Monte Carlo Methode und ähnliches. Statt negativer Regeln, die lediglich einen Rahmen aufschließen, der das Unwahrscheinliche zulässt, regieren allein positive Regeln, deren Dispositiv ein zuvor leeres Feld durch lauter Setzungen verschließt.24 Immer wieder kommen in dieser Absicht Markow-Ketten zum Einsatz, die die Eigenschaft besitzen, auf der Basis von statistischen Prozessen und ihren Konnexionen aus wenigen Bedingungen künftige Entwicklungen zu schließen und damit die dynamische Evolution von Gestalten voranzutreiben. Neben einem systematisierten Zufall geraten dann in der Folge weitere Momente in den Fokus, zu denen ebenso System-Eigenschaften wie ›nicht-

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22 23 24

Georg Nees: Ausstellung ›Die große Versuchung‹, Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe 2006, URL: https://zkm.de/de/event/2006/08/georg-nees-die-grosse -versuchung [4. Januar 2022]. Vgl. z.B. Frieder Nake: Computer Art. Where’s the Art?, in: Bilder Images Digital. Computerkünstler in Deutschland 1986, hg. v. Alex Kempkens, München 1986, S. 69-73. Vgl. Mersch 2002 (wie Anm. 15), S. 278-289. Dieter Mersch: Positive und negative Regeln. Zur Ambivalenz regulierter Imaginationen, in: Archipele des Imaginären, hg. v. Jörg Huber, Gesa Ziemer und Simon Zumsteg, Zürich 2009, S. 109-123.

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Abb. 1: Links: Würfel-Unordnung, nach einem Algorithmus von Georg Nees, 1968. Rechts: Ohne Titel, Neuerstellung der Grafik Würfel-Unordnung durch einen Algorithmus von Krysta Harrison et al. 2016.

lineare Dynamiken‹,25 ›Emergenz‹,26 ›Mutationen‹ oder ›Fitness‹ in Analogie zu ›biologischen Evolutionsprozessen‹ gehören,27 ferner die Komprimierung von Daten zu Mustern, die aus großen Mengen anderer Daten extrahiert

25 26 27

Vgl. Entwürfe zu einer generativen Kunst, z.B. Casey Reas: Process Compendium 20042010. Computers and Creativity, hg. v. Jon McCormack und Mark d’Inverno, Berlin 2012, S. vii. McCormack/d’Inverno 2012 (wie Anm. 26), S. viiif.

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werden28 oder ›seltsame Attraktoren‹ und Fraktale.29 Mithin schrumpft der Akt der creatio zur mathematischen Simulation von ›Neuheit‹, die als Neuheit nichts anderes bedeuten kann als der Ableitung eines in den vorangegangenen Informationsmengen nicht enthaltenen Elements. Es weist nicht auf die Zukunft, sondern bildet ein Destillat der Vergangenheit, zu der lediglich eine formale Negation hinzukommt, nämlich das Merkmal des Nichtenthaltenseins. Alle künftigen Versuche einer Generierung artifizieller Inspiration werden grundsätzlich denselben Pfaden folgen, wenn auch mit verfeinerten und elaborierten Methoden und ohne den groben Schein eines automatischen Zaubers, der geheimnislose Sphinxen als veritable künstlerische Objekte auszustellen trachtet. * Neuheit bildet mit Bezug auf Kreativität allerdings ein kaum aussagekräftiges Merkmal. Es gibt leere Neuheiten, die auf der Bildung eines weiteren Werts auf einer Skala bereits vorhandener basiert, wie es ebenso schwache Neuheiten gibt, die sich lediglich aus Variationen oder der Kombination schon vorhandener Elemente ergeben. Nicht einmal Intervalle, also Abstände, bilden zureichende Kriterien, weil diese auch aus Wiederholungen oder einfachen Permutationen hervorgehen können. Neuheit als Neuheit besagt darum wenig, vielmehr bedarf es der radikalen Differenz einer Alterität, die jenen Sprung vollbringt, den wir sowohl mit Reflexivität als auch mit einer Poetik der Findung in Verbindung gebracht hatten. Der Begriff der Alterität kreuzt sich zudem mit Konzepten negativer Philosophie und Theologie, wie sie in Theorien der ›Unbegrifflichkeit‹, der ›Undarstellbarkeit‹ oder ›Unbestimmtheit‹ zum Ausdruck kommen sowie im weiteren Ausgriff mit der ›Katachrese‹ als einer rhetorischen ›Nicht-Figur‹ oder mit Paradoxien als der Grenze logischer Ausdrückbarkeit verknüpft sind.30 Sie dürfen nicht mit mathematischen Indeterminationen verwechselt werden. Emmanuel Lévinas hatte die Kategorie des Alteritären insonderheit mit einem Jenseits des Seins, der ›Überschreitung‹ und des ›Bruchs‹ im Hermeneutischen konnektiert, wofür 28 29

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Jürgen Schmidhuber: A Formal Theory of Creativity to Model the Creation of Art, in: McCormack/d’Inverno 2012 (wie Anm. 26), S. 323-337. Vgl. Friedrich Cramer, Wolfgang Kaempfer: Die Natur der Schönheit, Frankfurt a.M. Leipzig 1992, bes. S. 251-300 u. Tafel S. 293; ferner Heinz-Otto Peitgen, Peter H. Richter, The Beauty of Fractals, Heidelberg, New York, Tokyo 1993. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002.

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er exemplarisch die Erfahrung der ›Fremdheit‹, des ›Antlitzes‹ sowie des ›Eintritts des Anderen‹ anführte, die jede Möglichkeit eines Bezugs außer Kraft setzen, um sich allein in einer praktischen Ethizität zu situieren.31 Das ›Neue‹ wäre dann mit einer grundlegenden Andersheit assoziiert, dessen absoluter Unter-Schied – oder différance in der Terminologie Jacques Derridas32  – im Prinzip jede Rückführung auf Bekanntes und damit auch jede Bestimmung oder Aussage verweigert. Der Begriff der Kreativität ist damit assoziiert. Er setzt ebenso eine radikale Negativität wie eine radikale Differenz (im Sinne der différance) oder Alterität voraus. Es ist die Magie des ›Nicht‹, des ›Anders als‹, die sich jedes Zugriffs entzieht, welche ein ganzes System von Begriffen annulliert und dessen Perspektive verwandelt. Dagegen hat es in der Kognitionspsychologie und Informatik, die sich auf sie beruft, nicht an Vorschlägen gefehlt, das Moment der Kreativität dennoch beschreibbar zu machen – zum Preis allerdings entweder einer petitio principii oder eines ernsthaften Kategorienfehlers. So hatte Margaret Boden in ihrer 1990 erschienenen Studie The Creative Mind: Myths and Mechanisms nicht nur mannigfache Beispiele aus der damals bereits existierenden Computerkunst, darunter Werke aus der Musik, der bildenden Kunst, der Literatur und des Designs zusammengetragen, sondern auch deutlich gemacht, dass zum Begriff des ›Neuen‹ neben einer bloßen ›Neugier‹, auch Kriterien wie »unusual« oder »surprising« gehören, die aber keineswegs ausreichen, solange sie nicht »value-laden« seien: »A creative idea must be useful, illuminating or challenging in some way.«33 Entscheidend sei somit »the sort of surprise«,34 den sie auslösen, die Art von Disruption oder Transformation, die sie vollziehen. Entsprechend bedeute ›neu‹ sowohl eine Varianz eines bereits Gegebenen – eine Weiterentwicklung, eine Ergänzung zusätzlicher Aspekte oder eine Veränderung von Funktionsweisen, die unser Interesse wecken –, als auch ein historisches wie epochales Ereignis, das, gleich einem Paradigmenwechsel, eine Erschütterung auslöst und die Vokabularien selbst tangiert.35 Sie fügen in die vorhandenen Verfahren oder Diskurse eine 31 32 33 34 35

Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg 1998. Jacques Derrida: Die différance, in: Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1999, S. 29-52. Margaret Boden: The Creative Mind. Myths and Mechanisms, London 2004, S. 41. Boden 2004 (wie Anm. 33), S. 41. Boden 2004 (wie Anm. 33), S. 43-55. Boden unterscheidet an dieser Stelle zwischen P-Kreativität – die dem Individuum gehört – und H-Kreativität, die das Zeitalter und seine Deutungen betrifft.

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historische Zäsur ein, stülpen ›mit einem Mal‹ ihren Sinn um, lassen ›Welt‹ buchstäblich ›anders‹ erscheinen. Bezeichnenderweise stammten Bodens Beispiele aus der Welt der Naturwissenschaften wie das ›Heureka‹ des Archimedes oder August Kekulés Benzolring,36 sodass sich erneut der Kreis von Naturwissenschaft zur naturwissenschaftlichen Aufklärung einer nichtaufklärbaren Kondition naturwissenschaftlicher Innovationen schließt. Deutlich wird das ebenfalls anhand der manifesten Zirkularität der Formulierungen, derer sie sich bedient, soweit sich von Beginn an in die verwendeten Kennzeichnungen des ›Neuen‹ mit ›neu‹, ›anders‹, ›zum ersten Mal‹ etc. bereits dieselben Begriffe eingeschlichen haben, die es zu erklären gilt. Das definiens setzt hier das definiendum schon voraus. Wiederholt wird, was erst abgeleitet werden soll. Zwar hatte Boden den Zirkel durchaus markiert – »Creativity is seemingly a mystery, for there is something paradoxical about it, something which makes it difficult to see how it is even possible«37  –, doch beruht ihre Antwort im Wesentlichen darauf, den schöpferischen Akt an besondere Arten von Werturteilen zu knüpfen, die ›triviale‹ von ›nichttrivialen‹ Neuheiten scheiden – doch bildet das Charakteristikum für Werthaltigkeit, wie sie selbst zugibt, im besten Falle eine notwendige, nicht eine hinreichende Bedingung. Unklar bleibt außerdem, was ›von Wert‹ ist: Erweisen sich Merkmale wie ›unusual‹, ›surprising‹ oder ›interesting‹ als tautologisch, bleibt offen, wo die Differenz zwischen dem Ungewöhnlichen und jenem Stoß gezogen werden kann, von dem Martin Heidegger im Ursprung des Kunstwerks nahelegte, dass er zu jenem Schock der Kunst gehöre, der »das Ungeheure« aufstoße »und das bislang geheuer Scheinende« umstoße.38 Was Heidegger als rigorosen Bruch markiert, wird dort bestenfalls evolutionär gedeutet. Gleichzeitig wird aber so auch ein grundlegendes Problem adressiert, das über Boden hinaus den unabdingbaren Konnex zwischen Kreativität, Evaluation und Umsturz enthüllt. Denn es gibt keinen schöpferischen Akt ohne Urteil, wie ein vermeintlich Kreatives erst als Kreatives erkannt werden kann, wo es als solches anerkannt wird und sich historisch durchgesetzt hat. Das Urteil geschieht folglich stets post festum und erwirbt seine Plausibilität im Durchgang durch seine Apologie. Wir werden erst gewusst haben, was ›von

36 37 38

Boden 2004 (wie Anm. 33), S. 25f. Boden 2004 (wie Anm. 33), S. 11. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in: Gesamtausgabe Bd. 5, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 2004, S. 53f. u. passim.

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Wert war‹ und welche Novität sich ereignet hat, wenn sie sich bereits etabliert hat, was seine Novität wieder einbüßt. Jede Kunst bleibt sozial bedingt und historisch relativ; sie geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern ist in ein komplettes Gefüge gesellschaftlicher Bezüge und kultureller Auseinandersetzungen situiert, welches dem, was sie zeigt oder ausstellt, allererst seine Bedeutung verleiht. Wir haben es mit dynamischen Interaktionen zu tun, sodass es nicht ausreicht, lediglich Merkmale zu nennen und den Prozess der Kreativität an der Schaffung eines nie Dagewesenen, wie radikal auch immer, zu binden, denn nicht irgendeine Novität kann von Belang sein, sondern einzig diejenige, die teilhat an den fundamentalen ›Wahrheiten‹ einer Epoche. Kunst übt damit eine eminent epistemische Funktion aus;39 sie ist nur Kunst, wo sie sowohl etwas über die Welt als auch über uns und unsere Epoche besagt, wo sie in sie interveniert und deren Mängel dekuvriert. Deshalb hatte Theodor W. Adorno in seiner Einleitung in die Musiksoziologie erklärt: »Die ästhetische Qualität der Werke, ihr Wahrheitsgehalt, der mit irgendeiner empirisch abbildlichen Wahrheit, selbst dem Seelenleben, nur wenig zu tun hat, konvergiert mit dem gesellschaftlich Wahren […]. Als Totalittät bezieht jedes Werk Stellung zur Gesellschaft«.40 Aus diesem Grunde bedarf jede Rede von Kunst wie auch die Theorie und Praxis des Kreativen nicht nur im eigentlichen Sinne einer Beschreibung von poiēsis und technē – weshalb es nicht ausreicht, die Strategien oder Formen der Hervorbringung von ›Neuem‹ anzuzeigen wie auch jedes technische Verständnis des Schöpferischen verfehlt erscheint –, sondern es bedarf der Entdeckung jener spezifischen ›Sprünge‹ und Risse, die sie in die Vokabularien der Zeit schlägt, um sie aufzubrechen und aus ihren Engführungen zu befreien. Jede Kunst ist utopisch. Zur gleichen Zeit erfordert sie die Urteilskraft, die sie in den Raum der Geschichte zurückstellt und ihre Relevanz bezeugt. Urteilskraft aber supponiert Reflexivität. Die alles entscheidende Frage mit Bezug auf eine artifizielle creatio, eine an algorithmische Rationalität gebundene Imagination ist dann weniger, ob ein schöpferischer Impuls je mathematisch simuliert werden kann, als vielmehr, ob mit der Produktion einer kreativen Differenz im Sinne ihrer Berechenbarkeit auch die Revolvierung ihrer Daten sowie die mathematische Modellierung ihrer Beurteilung als diese einhergehen kann. Dagegen ist unsere These, dass die Berechnung dieser Berechenbarkeit selbst der Berechenbarkeit entgeht, weil sie diese erst konditioniert. Das reflexive Vermögen der Urteilskraft kann kein 39 40

Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, Zürich 2015. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a.M. 1975, S. 254.

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Teil einer mathematischen Modellierung sein – sie geht dieser vielmehr voraus.41 Die frühe Computerkunst von Bense bis Nees, Nake oder auch Abraham Moles hatte sich dieser Frage jedoch nie gestellt. Sie hat erprobt, konstruiert, gemacht und ihre Erzeugnisse aufgrund von subjektiven Wahlen ausgestellt. Urteilsbildung geht hier auf Entscheidung über: Im Repertoire der ihrer formalen Ästhetiken war die Generativität der Bewertung entweder nicht vorgesehen oder jenem Subjektivismus überlassen, den sie andererseits perhorreszierten. Zwar modellierten sie das schöpferische Moment als Produkt gewisser stochastischer Funktionen, d.h. einer Menge von Messungen, doch enthielten ihre Schemata nirgends eine angemessene Analyse oder Beurteilung des Zufalls als ›gelungen‹, ›anregend‹ oder vielleicht sogar ›epistemisch vielversprechend‹ oder ›wertvoll‹. Die frühe Computerkunst kann darum als gescheitert gelten. In einem Email-Dialog zwischen Künstlern und Informatikern aus dem Jahre 2012 hat dies dann auch Frieder Nake mit bemerkenswerter Offenheit eingestanden: »When in those days, as a young guy using computers for production of aesthetic objects, I told people […] about this great measuring business, someone in the audience always reacted by indicating: ›Young man, what a hapless attempt to put into numbers a complex phenomenon that requires a living and experienced human being to judge‹. My reaction then was, oh yes, I see the difficulties, but that’s excactly what we must do! […] I guess, looking back without anger, they shut up and sat down and thought to themselves, let him have his stupid idea. Soon enough he will realise how in vain the attempt is.« »He did realise, I am afraid to say!« setzte Nake entsprechend hinzu, um zu ergänzen: »I am sceptical about computer evaluations of aesthetics for many reasons. […] Human values are different from instrumental measures. When we judge, we are always in a fundamental situation of forces contradicting each other. We should not see this as negative. It is part of the human condition.«42 Hinzuzufügen wäre: Die Bedingung des Konflikts, der Kontradiktion oder Uneinigkeit ist der Bedingung radikaler Differenz oder Alterität als conditio

41 42

Es ist kein Zufall, dass diese These in gewisser Weise mit den Gödelschen Resultaten koinzidiert. Friedrich Nake in: Evaluation of Creative Aesthetics. A Conversation, in: McCormack/d’Inverno 2012 (wie Anm. 26), S. 102.

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des Sozialen geschuldet. Das reflektierende Urteil fußt in erster Linie auf einem ›Antworten‹. In der Antwort ist die Unbestimmtheit des Worauf, d.h. die Negativität des Alteritären je schon mitgegeben. Und sie ist ohne die Ethizität einer ›Konversion‹ nicht zu haben. Was sie antwortet, schleudert den Verhältnissen zugleich ihr ›Nein‹, ihre Ablehnung entgegen. * Indessen wähnt sich in Bezug auf neue Chancen der Kunst die gegenwärtige Artificial-Intelligence-Forschung längst darüber hinaus. Sie versteht sich als »cutting edge«, als »new avant-garde, which will transform society, our understanding of the world in which we live and our place in it.«43 Folgerecht glaubt sie die Aporien der Urteilsproblematik durch ihre eigene Form von ›Kreativitäts‹produktion gelöst zu haben. Fokussierte die frühe Computerkunst einzig auf Zufallsprozesse und deren Dynamik, huldigt die KI der Gegenwart der ›Macht‹ von ›Big Data‹, dem ›Konnektionismus‹ von ›Neural Networks‹ wie auch der konsequenten Anwendung sowohl statistischer als auch strukturaler Methoden im Kontext von ›supervised‹ oder ›unsupervised‹ Machine Learning. Ihr Credo heißt Lernen, das die eigene Evaluation als Erfolgsbemessung miteinschließen soll. Wurde die prinzipielle Möglichkeit einer Mechanisierung von Lernvorgängen bereits in den 1960er Jahren von Turing, Wiener und von Neumann postuliert,44 scheint die Task Force von Artificial-Creativity heute den qualitativen Sprung dadurch vollzogen zu haben, dass ihnen – wie sich den Äußerungen der Google-Magenta Mitarbeiter wie Mike Tyka, Ian Goodfellow oder Blaise Agüera y Arcas entnehmen lässt – die Zündung kreativer Algorithmik inklusive ihrer Urteilsbildung gelungen zu sein scheint: »I’m a computationalst and I believe the brain is a computer, so obviously computer can be creative« oder: »[M]achines are already creative« sowie: »When we do art with machines I don’t think there is a very strict boundary between what is human and what is machine.«45 Gleichwohl erscheint an den technischen Bedingungen und ihren mathematischen Methoden nichts wesentlich Neues, bestenfalls ist es die Art der Behandlung von großen Datenmengen sowie das Credo von Mustererkennung und nicht-linearen Dynamiken. Neuronale Netze sind grundsätzlich 43 44 45

Arthur I. Miller: The Artist in the Machine. The World of AI-Powered Creativity, Cambridge/Mass. 2019, S. 73 u. 78. George Dyson: Turings Kathedrale. Die Ursprünge des digitalen Zeitalters, Berlin 2014, S. 411-427. Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 66 sowie Introduction S. xxiif. u. passim.

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nicht höhermächtiger als Turing-Maschinen, wie ebenfalls die formale Operativität des Computing, trotz ihrer massiven Parallelschaltung, nicht grundsätzlich von Von-Neumann-Architekturen abweicht. Dennoch ist die BlackBox, der Abstand zwischen Input und Output, die Opazität des Algorithmischen und das Mysterium ihrer Leistungen größer geworden, was umgekehrt den Mythos einer inspirierten Maschine nährt. Nicht-lineare Dynamiken implizieren Unbestimmtheiten, die allerdings nicht das Produkt der Rechnungen selbst sind, sondern der Tatsache einer partiellen Unlösbarkeit der zugrunde liegenden Gleichungssysteme entstammen. Die funktionalen Strukturen, die verwendet werden, fokussieren, statt auf einfachen Mengen, auf numerischen Approximationen, Häufigkeitsverteilungen, Mutationsindizes oder Abweichungsraten und ähnliches.46 Werden sie auf die Kunstproduktionen appliziert, entstehen durchaus vielleicht interessante, überraschende oder auch nicht-antizipierbare Ergebnisse, doch erscheinen diese punktuell und ohne Sinn für globale Narrative, geschweige denn für die Irritationen und Tragödien menschlicher Erfahrung. Von ›Kunst‹ zu sprechen, scheint demnach hypertroph. Das demonstrieren im Besonderen die vordergründig alptraumhaften Gebilde von Alexander Mordvintsevs und Mike Tykas DeepDream-Produktionen und ihrem ›Inception-Style‹ oder von Ahmed Elgammals und Ian Goodfellows Creative oder Generative Adversarial Networks (GANs), die so spektakuläre Beispiele wie das fiktionale Portrait Edmond Belamys der französischen Informatikergruppe Obvious hervorbrachten. Alle Beispiele bestehen typischerweise aus Kompositen. So ging letzteres aus der Einspeisung von 15.000 Kunstportraits aus der Periode zwischen dem 14. und 20. Jahrhundert in ein Neuronales Netzwerk hervor, deren Grundlage das WikiArt Dataset bildete und dessen unerwartetes Resultat bei Christie’s in New York immerhin eine Summe von 432.500 $ erzielte.47 Das Verfahren, das für die Erstellung von Bildern, künstlichen Dichtungen oder musikalischen Improvisationen kompa46 47

Für einen Überblick vgl. Philipp Galanter: Computational Aesthetic Evaluation. Past and Future, in: McCormack/d’Inverno 2012 (wie Anm. 26), S. 255-293. Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 61-70 u. 119-122. – Ahmed Elgammal: What the Art World Is Failing to Grasp about Christie’s AI Portrait Coup [publiziert am 29. Oktober 2018, URL: https://www.artsy.net/article/artsy-editorial-art-failing-grasp-christiesai-portrait-coup [4. Januar 2022]. – Weitere Beispiele bei Human AI. Collaboration. Tools, Deep Dream Generator, URL: https://deepdreamgenerator.com/#gallery [4. Januar 2021]. – Zum Belamy vgl. Christie’s: Is artificial intelligence set to become art’s next medium? [publiziert am 1. Dezember 2018], URL: https://www.christies.com/features/

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rabel ist, beruht im Prinzip auf 100.000en von Samples, getaggten Bildausschnitten, Wortfolgen oder kompositorischen Fragmenten, die einen eindeutig klassifizierbaren Inhalt besitzen. Dem Ansatz liegt also das Vorurteil einer nominalistischen Semiotik zugrunde, als gehorchten Kunstwerke einer durchgängigen Abbildlichkeit und als seien auf ihnen bestimmte Gegenstände, Personen, Gesichter, Tiere oder Gesten sichtbar oder als würde es in Dichtungen um inhaltliche Aussagen gehen oder als bestünden Musikstücke aus leicht erkennbaren Melodiefragmenten und Rhythmusfolgen. Dasselbe gilt für Architektur-Skizzen, Design-Entwürfe, Drehbücher oder TV-Serien: Ihre Basis bilden analysierbare Elemente wie stilistische Idiosynkrasien, typische Farbgebungen, besondere Phraseologien oder typisierbare kompositorische Figuren aus Vivaldi, Bach, Mozart oder, wahlweise, moderner Pop-Musik, die stochastisch weitergeführt werden. Schon die Liste offenbart die Kraft der Nivellierung: Wir sind mit diskretisierbaren Eigenschaften konfrontiert, die auf nichts anderes als auf Clichés referieren. Hatte Adorno der Film-Musik des frühen 20. Jahrhunderts bescheinigt, aus lauter Stereotypen zu bestehen, die den ästhetischen Prozess sistierten,48 trifft dies umso mehr für die ›künstliche Kunst‹ der Artificial Intelligence zu: Zwar scheint ihr Fundament auf humanen Kunstwerken zu beruhen, doch bieten diese nicht mehr als einen Katalog gelabelter Zeichen, reduziert auf das, was prinzipiell verzifferbar und in mathematische Parameter übersetzbar ist. Um Kunst und ihre Kunsthaftigkeit ist es dabei nirgends zu tun, sondern einzig um Identifizierbarkeit, Verfügbarkeit und Transferierbarkeit von Daten sowie um deren Vernetzung und Verrechnung mit dem Ziel ihrer Transformation in andere Daten. Alexander Mordvintsevs und Mike Tykas Inceptionalism, der sich selbst als neuen Avantgarde-Stil geriert, kann dafür paradigmatisch gelten. Neuronale Netzwerke funktionieren, ob es sich um Dingerkennung, Gesichtserkennung, Emotionserkennung, Verkehrserkennung oder Kunsterkennung handelt, durchweg gleich:49 Eine große Anzahl verborgener Computer-Layer wird zusammengeschaltet und mit einer großen Zahl ebenso statistischer wie standardisierter Inputs versehen. Entsprechend des Outputs, dessen Evaluation ›supervised‹, also durch humane Bewertungen, oder ›unsupervised‹, al-

48 49

A-collaboration-between-two-artists-one-human-one-a-machine-9332-1.aspx [4. Januar 2022]. Vgl. Theodor W. Adorno: Hanns Eisler. Komposition für den Film, München 1969. Zur näheren Funktionsweise vgl. auch Meredith Broussard: Artificial Unintelligence, Cambridge/Mass. 2018, S. 87-119.

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so durch andere, ähnlich ausgestattete Maschinen erfolgt, werden bestimmte Pfade nach dem Vorbild neuronaler Hirnstrukturen verstärkt. Dabei beschränkt sich der maschinelle Vorgang ausschließlich auf solche Einheiten, wie sie sich mathematisch in geometrische Symmetrien, algebraische Homomorphismen oder Matrizen und Ähnliches überführen lassen, deren Muster rekursiv in andere verwandelt werden können. Das stellt an den Input spezifische Bedingungen, etwa in Gestalt etikettierbarer Datensätze, die primitive Semiotiken unterstellen, seien es die Repräsentation einfacher Dinge oder aufsteigende oder abfallende Tonreihen und dergleichen mehr, die für eine Übersetzung in diskrete Zahlenwerte taugen. Diese werden in einen Computer-Layer L1 eingespeist, der in den numerischen Daten Muster detektiert, die als Ausgangsmaterial des Layer L2 dienen, der seinerseits Muster detektiert usw., bis zum Endpunkt eines auslesbaren Outputs, der erneut, entsprechend der zugrunde gelegten Repräsentationslogik, die angezeigten Dinge im Sinne einer direkten funktionalen Zuordnung statistisch bestätigt oder nicht. Gibt beispielsweise eine Eingabe das Bild eines ›x-Dings‹ vor, ›erkennt‹ bemerkenswerterweise die Ausgabe dieses lediglich zu einem gewissen Prozentsatz oder gar nicht, wobei von ›Erkenntnis‹ nicht die Rede sein kann, sondern bestenfalls von der Wiedergabe eines Namens. Das Prinzip beschreibt also eine maschinelle Form von wahrscheinlichkeitsorientierter Diskriminierung, die nicht darin besteht, etwas zu ›sehen‹ – der Begriff des ›Sehens‹ unterstellt im Menschlichen stets das ›Sehen des Sehens‹50  –, sondern darin, diskrete Strukturen oder Diagramme ›abzutasten‹ und ihren einen approximativen Häufigkeitswert zuzuordnen, etwa: 96 % Person X, 51 % y-Emotion, 85 % Gemälde von Z, 68 % im Stil von K. Handelt es sich dabei also vorerst lediglich um eine ›künstliche Intelligenz der Identifizierung‹ – der ›Ding-‹, ›Gesichts-‹, ›Emotions-‹ oder ›Kunstkennung‹ im Sinne ihrer Detektierung –, kann das Verfahren, statt reproduktiv zu wirken, in ›kreative‹ Produktionen umgemünzt werden, wenn, wie Mordvintsev und Tyka gezeigt haben, der Prozess irgendwo in seiner ›Mitte‹ angehalten und umgekehrt wird, um, gleichsam konträr zu seiner ursprünglichen Absicht, wieder und wieder auf sich selbst angewendet zu werden. Dann entstehen, als Output, nicht Prozentsätze von identifizierbaren Objekten, die die

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Dies gilt philosophisch von Aristoteles über John Locke bis zu Kant, Fichte und Hegel. Die Rede von ›Computervision‹, von ›sehenden‹ oder ›lesenden‹ Maschinen verwirrt indessen durch unangebrachte Anthropomorphisierungen.

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›tags‹ des Ausgangsmaterials erfüllen oder nicht erfüllen, sondern fremdartige Gebilde, die durchaus die Bodenschen Minimalkriterien für Kreativität, nämlich ›Überraschendes‹, ›Unvorhersehbares‹ oder ›Ungewöhnliches‹ zu zeigen, einlösen. »Mordvintsev’s adventure […] was to transform completely our conception of what computer were capable of. His great idea was to let them off the leash, see what happened when they were given a little freedom«,51 heißt es bei Arthur I Miller, und weiter: »Mordvintsev’s great idea was to keep the strength of the conncetions between the neurons fixed and let the image change«,52 solange, bis albtraumhafte Figuren, unheimliche Halluzinationen aus Mischwesen, wie von schizophrenen Zeichnungen, zum Vorschein gelangten, deren stilistische Präsenz er zusammen mit Mike Tyka als »Inceptionalismus« taufte.53 Man kann diese ›Werke‹ als eine neue Generation KI-gestützter Computer-Kunst feiern, man kann sie aber auch als das bezeichnen, was sie sind: psychodelischer Kitsch.

Abb. 2: Der Druck des Fotos (1800 x 1000 mm) zeigt ein 2015 von Alexander Mordvintsev, Michael Tyka und Christopher Olah mittels Deep Dream verändertes Satellitenbild.

51 52 53

Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 59 u. weiter S. 60-70. Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 63. Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 66.

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Abb. 3: Portrait d’Edmond de Belamy, Collectif Obvious, 2018. Die drei Studierenden Hugo Caselles-Dupré, Pierre Fautrel et Gauthier Vernier, die sich als Collectif Obvious bezeichnen, wählen eines aus mehreren Bildern aus, die von einer Generative Adversarial Network (GAN)-Software erzeugt wurden, um es am 25. Oktober 2018 in einem vergoldeten Bilderrahmen unter dem Titel Portrait d’Edmond de Belamy erfolgreich bei Cristie’s, einem Kunst-Auktionshaus, für 432 500 US $ zu versteigern.

Dies lässt sich in gleicher Weise auch auf das bereits erwähnte Portrait of Edmond Belamy, from La Famille de Belamy (2018) applizieren, das mit dem zentralen Teil des Algorithmus seiner Erzeugung signiert wurde, um sich zugleich in eine fiktive historische Serie von Familienportraits einzuschreiben, die seine vermeintliche Authentizität beglaubigen soll. Sie ist der Malerei des 18. Jahrhunderts nachempfunden und soll in ihrer Ahnengalerie gewisserma-

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ßen den Zukunftsplatz besetzen. Als eine Version aus einer Menge von elf möglichen Portraits extrahiert, die sämtlich potenzielle Varianten des nicht existierenden Edmond Belamy vorführen, geht sein ironisch gewählter Titel auf eine Hommage an Ian Goodfellow, dem Pionier und Erfinder jenes Verfahrens mit dem Akronym GAN (Generative Adversarial Networks) zurück, auf dem die Bildgenerierung basiert.

Abb. 4: Neun Bilder, die den Belamy-Portraits ähneln. Erzeugt mit dem Code des GAN-Algorithmus von Robbie Barrat.

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Während Journalisten dem Gemälde attestierten, »aesthetically and conceptionally« reich genug zu sein, »to hold the attention of the artworld«,54 deklarierten die Mitglieder der Gruppe Hugo Caselles-Dupré, Pierre Fautrel und Gauthier Vernier, dass ihr Konzept eher darauf angelegt war, GANism als eine legitime Kunstrichtung zu etablieren und damit humane und non-humane Ästhetiken gleichzustellen und akzeptabel zu machen: »Creativity isn’t just for humans.«55 Das Produktionsprinzip beruht dabei auf zwei gegeneinander antretende Neuronale Netzwerke, ein Generator und ein Diskriminator, die beide mit denselben Grundmengen ausgestattet wurden, deren Aufgaben aber, gleich einem Wettstreit oder Kampf, gegensätzlich zueinander ausgerichtet waren. Denn während der Generator versuchte, ein Portrait gemäß den Vorgaben zu erstellen, trachtete der Diskriminator danach, es als typisch menschlich auszusortieren oder zu verwerfen. Kreation und Kritik wechseln hier einander ab, doch darf die anthropomorphisierende Redeweise nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es weiterhin lediglich mit der Operativität von Musterkennungen zu tun haben, auf die sich sowohl der Generator als auch der Diskriminator beziehen. Beide arbeiten weiterhin statistisch und urteilen keineswegs nach Kriterien, sondern einzig auf der Grundlage von supervised machine learning-Prozessen, die ihrerseits in menschlichen Wahlen gründen. * Der Diskriminator ist jedoch kein Evaluator – diese Rolle bleibt jenen vorbehalten, die zuletzt die Wahl treffen und aus einer Menge möglicher Fälle denjenigen extrahieren, der am Interessantesten erscheinen. Es ist daher nur scheinbar so, dass die Neuronalen Netzwerke des machine learnings das Urteilsproblem integrieren; dies kann nicht einmal für den Königsweg des ›unsupervised‹ machine learning behauptet werden, bei der nach dem Modell ma54 55

Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 119f. – Dazu kritisch Elgammal 2018 (wie Anm. 47). Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 120. – Hugo Caselles-Dupré ergänzt: »We did some work with nudes and landscapes, and we also tried feeding the algorithm sets of works by famous painters. But we found that portraits provided the best way to illustrate our point, which is that algorithms are able to emulate creativity.« Christie’s 2018 (wie Anm. 47). – Es ist vielleicht nicht unerheblich zu erwähnen, dass das Portrait Belamys des Plagiats bezichtigt wurde, insofern der verwendete Code nicht die Kreation der Gruppe war. »Edmond de Belamy portrait has received heavy criticism by the AI-art community for being derivative and not original. AI artist Robbie Barrat also said that the code and the dataset used to produce the work is written by him.« Elgammal 2018 (wie Anm. 47).

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thematischer Spieltheorien durch systematisierte Konkurrenz optimierte Lösungen ›erspielt‹ werden – denn Diskriminieren bedeutet kein Urteilen, sowenig wie Wettbewerb zu Lösungen führen müssen. Zudem wird in die Produktionsabläufe der Kunst-Maschinen das komplette Material künstlerischer Traditionen und damit Teile der Humangeschichte eingespeist, um ihr jene charakteristischen Merkmale zu entlocken, mit deren Hilfe neue Produkte erstellt werden können. Die Quelle der Maschinen ist die Kunst der Menschheit, deren Menge nach Maßgabe von Wahrscheinlichkeitsfunktionen willkürlich erweitert wird, aber so, dass die Maschinen lernend in die Zukunft fortsetzen, was in der Vergangenheit schon war. Verwendete also die frühe Computerkunst mit Nees, Moles und Bense als entscheidenden Motor für Kreativität Zufallsgeneratoren, fußen die elaborierteren KI-Modelle im Grunde auf plagiativen Verfahren, die jedoch der Sache nach das Gleiche tun: Sie simulieren mathematisch Kontingenz, um die Menge ästhetischer Werke auf arbiträre Weise zu vermehren. Das entscheidende konstruktive Prinzip ist die Nachahmung, mit dem Unterschied, dass der Kern des kreativen Sprungs, das dazu erforderliche Ereignis von Alterität und die passible Empfänglichkeit menschlicher Inspiration durch den simplen Mechanismus einer mathematischen Variabilität ersetzt wird – sei es durch Statistiken, durch den Einsatz von Markow-Ketten oder die Modellierung evolutionärer Mutationen bis hin zur Chaosforschung. Sie imitieren das, was als unrechenbar zu gelten hat. »Neural Networks are designed to mimic the brain,« schreibt Arthur I Miller;56 entsprechend bekundet sich KI-›Kreativität‹ als eine Form von Innovativität, die Kreativität mimt. Sie mit menschlicher Kreativität zu verwechseln, verfehlt die Kategorie. Was sie vielmehr generiert, ist allenfalls ein Abklatsch, ein »Glaubenmachen« (Kendall Waltons ›Make-Believe‹) – ganz so wie einst das Turingsche »Imitationsspiel«, das den Menschen in Konkurrenz mit einem Computer in die Falle lockte.57 Optimierungsstrategien der Artificial-IntelligenceForschung haben sich nahezu ausschließlich darauf konzentriert, Maschinen 56 57

Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 60. Vgl. Alan M.Turing: Computing Machinery and Intelligence, in: Mind 50 (1950), S. 433460 (dt. Erstübersetzung: Kann eine Maschine denken? in: Kursbuch 8 (1967), S. 106138). – Ferner: Donald Davidson: Turing’s Test, in: Problems of Rationality, hg. v. Donald Davidson, Oxford 2010, S. 77-86, der klarmacht, dass selbst dort, wo wir als Menschen vor dem Computer versagen, dies nichts darüber aussagt, ob eine Maschine denkt. – Zum vorläufigen Stand der Forschung The Turing Test. The Elusive Standard of Artificial Intelligence, hg. v. James Moor, Dordrecht 2003. – Vgl. kritisch auch Mersch 2013 (wie Anm. 13), S. 9-28.

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als Analogien von Menschen zu konzipieren, um uns mit anscheinend überzeugenden Doppelgängern zu konfrontieren, die nichts sind, als die Wiederholung von Oberflächen-Ähnlichkeiten. Ein weiteres Verfahren, solche Pseudo-Analogien zu erzeugen, setzt auf Komplexitätstheorien. Mit ihnen kommen nicht-lineare Systeme zum Tragen, die indeterminativ sind und unvorhersehbare Effekte zeitigen. Jedes Ergebnis bildet eine nicht-reproduzierbare Abweichung, wobei nicht Zufallswerte eine Rolle spielen, sondern emergente Prozesse. Sie sind von Performanzen zu unterscheiden, anderes auch als das von Gilles Deleuze und Derrida in Anschlag gebrachte Spiel von Wiederholung und Differenz, sofern diese auf Singularitäten verweisen, nicht auf Fluktuationen oder das Auftauchen nichtberechenbarer Wirkungen. Erneut bekommen wir es mit einem ›Aussehenwie‹ zu tun: Nichtvorhersehbarkeit oder Unberechenbarkeit sind nicht an sich schon kreativ, sondern sie scheinen nur so. Konzepte generativer Ästhetiken der zweiten Generation haben daraus Kapital geschlagen, indem sie evolutionäre Algorithmen so einsetzen, als ob sie sich selbst fortpflanzende Strukturen hervorbringen, die in Bildern oder Musikstücken zu wuchern beginnen.58 Wir sind dann mit Formen konfrontiert, die zu wachsen scheinen und so symmetrisch-asymmetrisch wirken wie natürliche Phänomene, auch wenn sie das Produkt regelhafter Prozesse sind. Ihre sich wiederholende Nichtwiederholbarkeit ahmt dabei Kristallbildungen oder autonome Metabolismen nach und privilegieren dadurch von Neuem einen ›Anschein ohne Sein‹, als erblickten wir fadenförmige Mikroorganismen oder sich vermehrende Bakterienkulturen in Petrischalen. Man verfolge beispielsweise Hoa Huas Demonstrationen auf Youtube oder betrachte Casey Reas Graphiken, deren Entwicklungen und Turbulenzen auf einem strikten Coding, nicht auf natürlichen Evolutionen basieren.59 Kunst gleicht hier einer artifiziellen Fauna, einem Ökosystem, 58

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Vgl. James R. Parker/Sara L. Diamond: Generative Art. Algorithms as Artistic Tool (Art & Artists, Bd. 6), Calgary 2019. – Ferner Hans Michael Voigt: Evolutionäre Algorithmen und Generative Kunst/Evolutionary Computation and Generative Art. Ein Essay am Schnittpunkt von Informatik, Biowissenschaften und Kunst/An Essay at an Intersection of Computer Science, Life Sciences and Art, Norderstedt 2016. – Ali Spittel: An Introduction to Generative Art. What it is, and how you make it [publiziert am 3. Oktober 2018], URL: https://www.freecodecamp.org/news/an-introduction-to-generative-ar t-what-it-is-and-how-you-make-it-b0b363b50a70/ [4. Januar 2022]. Institute of Architectural Algorithms and Applications: Generative Art [publiziert am 6. Oktober 2019], You Tube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=qtPi0JvmWbs [4. Januar 2022]. – Casey Reas: How to draw with Code [publiziert am 25. Juni 2012], You

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programmiert von Designerinnen und Designern, die nichts anderes suchen, als Ornamente und Muster aus kristallinen Ordnungen sich synthetisch entfalten zu lassen, als handle es sich um digitale Lebewesen, die nach inneren Rhythmen zu tanzen beginnen. Das gilt umso mehr für AIVA, eine KI-gestützte Kompositionsmaschine, die auf derselben Grundlage vornehmlich von Pop-Musiken gelernt hat, um sie unendlich fortzuschreiben.60 Auffallend gleichen sie sich die Programme im Visuellen wie im Akustischen, wobei die Produktionen ihre ästhetische Dürftigkeit durch einen anhaltenden Serialismus kompensieren. Artificial Art ist in erster Linie Industrie; sie fabriziert, gerade im Bereich der Pop-Kultur, eine Flut von Doubletten, von denen nicht wundert, dass sie von menschlichen Hörern nicht als solche erkannt werden, weil sie kaum anders klingen als ihre Vorbilder, aus denen sie montiert und zusammengemischt wurden. Ihren Produkten ist die Textur des Marktes bereits imprägniert. Deshalb die Masse, die beständige Proliferation, deren Abweichung der Exekution von Gleichungen entstammt, die ihrer Individualität das Siegel von lauter Stanzen einbrennt. Man muss hier allerdings zu unterscheiden wissen: Was sich als unvorhersehbares Ereignis, als Indetermination geriert, ist so formal wie der Code, der ihnen zugrunde liegt, und so gleich wie die Vorgaben jener Gleichungen, die ihre Nichtwiederholbarkeit regeln. Sie implizieren ihre Ungewissheit so wenig wie die Erfahrung einer Alterität. Radikale Unbestimmtheit bezeichnet dagegen einen negativen Begriff, außerhalb des Bestimmbaren und jeder Kategorie, während generative Indeterminationen eine statistische Eigenschaft von Komplexität bildet. Was daher an den Artefakten der ArtificialIntelligence-Forschung Kunst sein soll, bleibt nichts als ein Äußeres – als seien Nicht-Linearität, Unvorhersehbarkeit und Nichtwiederholbarkeit bereits

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Tube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=_8DMEHxOLQE [4. Januar 2022] – Ferner als Übersicht: Generative Art, Pinterest, URL: https://www.pinterest.de/paolon/gen erative-art/ [4. Januar 2022]. Vgl. beispielsweise Daddy’s Car. A Song Composed by Artificial Intelligence Created to Sound Like The Beatles [publiziert am 19. September 2016], You Tube, URL: https://ww w.youtube.com/watch?v=LSHZ_b05W7o [4. Januar 2022]. – I am AI. AI Composed Music by AIVA [publiziert am 24. September 2019], You Tube, URL: https://www.youtube .com/watch?v=Emidxpkyk6o [4. Januar 2022]. – On the Edge – AI Generated Rock Music Composed by AIVA [publiziert am 23. Oktober 2018], You Tube, URL: https://www.y outube.com/watch?v=gA03iyI3yEA&list=RDgA03iyI3yEA&start_radio=1&t=4 [4. Januar 2022].

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probate Kriterien, um Kunst von Nichtkunst wie ebenso die Schauplätze des Bruchs und des Sprungs von den synthetischen Objekten algorithmischer Evolution scheiden zu können. Nicht Revolution ist den Artefakten generativer Ästhetik zu eigen, sondern Transkription, Optimierung und Entwicklung durch Mutation, die nie etwas anderes sein kann als eine partielle Varianz. Aus diesem Grunde auch das Aufgebot an ungeheuren Datenmengen, die Komplexbildungen garantieren und die neuronalen Netzwerke mit Millionen von Samples ausstatten. Ebenso beruhen die Netzwerke selbst auf hyperkomplexen Schichten und Layern, die der massiven Neuronen-Struktur des Gehirns nachempfunden sein sollen, von dem allerdings nur behauptet wird, es funktioniere ebenso digital wie Computersysteme auch. Bekanntlich hatten bereits Warren McCulloch und Walter Pitts in Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity von 1943 diese Homologie postuliert,61 was von Neumann, trotz aller Skepsis, veranlasste, sogar von einem empirischen Faktum auszugehen.62 Trotzdem kann es sich dabei um nicht mehr als um einen anfechtbaren, von den wissenschaftlichen Regimen der Zeit diktierten Beobachtungssatz handeln, der von der hypothetischen Äquivalenz zweier vorgeblich binärer Ordnungen, nämlich einer Turing-Maschine und feuernder oder nicht feuernder Synapsen ausgeht – ein Ansatz, der insofern reduktionistisch bleibt, als er nicht nur die Hirnaktivität auf Signalübertragungen verkürzt und weder die Rolle von Gliazellen noch die stetig-dynamischen Übergange zwischen Erregungszuständen oder überhaupt die Plastizität des Gehirns berücksichtigt, sondern auch das Denken individualisiert und an ein einzelnes privilegiertes Organ koppelt.63 Dass Menschen soziale Wesen sind und Anderer bedürfen, um Bedeutungen zu schaffen, dass zudem Bezugsweisen, sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Menschen und Welten ausschlaggebend sind dafür, dass es überhaupt teilbare Gedanken sowie schöpferische

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Warren S. McCulloch/Walter Pitts: Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity (1943), URL: https://www.cse.chalmers.se/ coquand/AUTOMATA/mcp.pdf [4. Januar 2022]. – Alan Turing hat dem widersprochen: »The nervous system is certainly not a discrete-state machine. A small error in the information about the size of a nervous impulse impinging on a neuron, may make a large difference to the size of the outgoing impulse.« Turing 1950 (wie Anm. 57), S. 451. John Neumann: Die Rechenmaschine und das Gehirn (1956), München 1991, S. 44 u. 48. Vgl. demgegenüber Alva Noë: Du bist nicht dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München 3 2011.

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Erfindungen gibt, kommt darin nicht vor. Einzig regiert ein monistischer Materialismus, der sich entschlossen hat, lauter äußerliche Verwandtschaften zu entdecken und deren Simulakra auszureichen scheinen, um das eine – die humane Wirklichkeit und ihre Bedingungen – durch ein anderes – die Welt formalisierter Automaten – zu substituieren. Das Mathematische wird hier usurpatorisch; nicht nur macht es sich seit der Frühen Neuzeit die Beschreibung der Wirklichkeit gefügig, sondern seit jüngstem auch die Genese jedes einzelnen Gedankens. Hingegen hatte Hillary Putnam in Reason, Truth, and History anhand des aus der Sciencefiction-Literatur bekannten ›Gehirne-im-Tank‹-Modells die Aporien solcher Okkupation dekuvriert. Denn kein isoliertes Gehirn wäre je in der Lage, seine eigenen Bezugsweisen zu reflektieren und somit konsistente Kriterien für Wahrheit, Realität und Bedeutung aufzustellen,64 weil es weder mit einer Geschichte noch mit der Außenwelt verknüpft ist. Für Retortengehirne, Androide oder Roboter erweist es sich deshalb als unmöglich zu entscheiden, wo sie sich befinden (in einem Tank, einem Körper etc.) und ob ihre Ideen über sich selbst wahr oder falsch seien. Algorithmisch kann folglich nicht mehr dargestellt werden als ›humaniode Similaritäten‹, die uns weder zu übertrumpfen noch zu übertölpeln vermögen, sondern die schlichtweg anders sind: Die humane Imagination und das Ingenium des Geistes bleiben gegenüber computionalen Innovationsmaschinen inkommensurabel. Was deshalb ein Vergleich zwischen Mensch und Computer allein vermag, ist die Feststellung ihre Unvergleichbarkeit. Das lässt sich im Besonderen auch anhand der von Computern hervorgebrachten ›künstlichen Kunst‹ ablesen. So repetiert Mordvintsevs und Tykas Inceptionalism bestehende ästhetische Stile, indem er diese lediglich modifiziert und verformt, beispielweise dadurch, dass unterschiedliche Stile willkürlich ineinander verschränkt werden. Sie bewahren damit die Spuren ihrer Vorlagen, nicht nur, weil sie von gewöhnlichen Fotografien, Kunstbildern oder existierenden Musikstücken ausgehen, sondern auch, weil ihre morphologischen Experimente zuletzt für das menschliche Auge und Ohr und deren Vorlieben bestimmt sind. Wie Sklaven erfüllen die Programme dann den Wunsch ihrer Programmierer, das wiederzugeben, was zugänglich ist und zu gefallen scheint, was jedoch nichts anderes bedeutet als ihrem Geschmack zu gehorchen und zu reproduzieren. Darum auch die vielen Anleihen bei der Popkultur. Zitiert wird Altbekanntes, wie gleichzeitig die Ästhetik der Repräsenta64

Hillary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1990, S. 29-40.

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Abb. 5: Mario Klingemann, The Butcher’s Son, aus: Imposture Series, 2017, 76 x 50 cm, Giclée-Druck auf Baumwollpapier.

tion und in besonderer Weise die Darstellung von Monstern Urstände feiert. Die Bilder der Inceptionalisten sind trivial, mit einer manifesten Präferenz für bizarre Kreaturen, wie gleichfalls der Belamy die vergebliche Bemühung bezeugt, originell zu sein. Ähnliches trifft auch auf Leon Gatys Style Transfer, Jun-Yan Zhus CycleGANs oder die Transhancements Mario Klingemanns zu,

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dessen neurographische Geschöpfe aussehen, als seien sie aus verwaschenen Gemälden von Francis Bacon entsprungen.65 * Man wende dagegen nicht ein, dass auch die menschliche Kreativität nur wiederholt, dass sie nicht erfinde, sondern verwandele, oder wie es Nelson Goodman bündig erklärt hat: »Erschaffen heißt Umschaffen«.66 Denn auch die Imagination vermag nur das vorzustellen, wie schon Kant wusste, was zuvor in ihrer Wahrnehmung war. Und doch gilt dies eben nur halb, weil sich in jedem Einfall, in jedem Entwurf ein Unabgegoltenes, Fremdes oder Utopisches artikuliert. Erfindungen erschöpfen sich nicht in bloßen Metamorphosen, sondern inkludieren immer auch eine Negativität, ein Nichteinlösbares, wie es mindestens für die Nichtabbildbarkeit des Grundes der Konstruktivität der Konstruktion in der Konstruktion selbst gilt. Überschreitung ist jeder menschlichen Findung immanent, weil der Akt des Transformatorischen sich im Transformierten verbirgt. Demgegenüber setzt die künstliche Kreativität auf Regeln, auf statistische Häufungen, auf mathematische Kontingenz oder nicht-lineare Dynamiken, die sich im Prinzip aus einem Netz formaler Verknüpfungen und ihrer Pfade ergeben, wie opak sich ihr Grund oder ihr Gesetz auch ausmachen mag. Was in den Computationen den Anschein freier Assoziationen weckt, bleibt, trotz der Black Box der Systeme, algorithmisch terminiert, auch wenn kein Meta-Formalismus angebbar ist, der ihre Resultate generiert, während der Sprung, die différance oder der Unter-Schied (Heidegger) im Selben, das »alter« im »iter«, wie es Derrida ausgedrückt hat,67 von anderer Dimension und Qualität sind, weil es des Einbruchs einer Alterität, eines Ereignisses wie auch eines stets singulären und zeitlich terminierten Augen-Blicks bedarf, um überhaupt in Erscheinung zu treten. Was somit eine Artificial Creativity im besten Falle vermag, sind die Performanzen einer Simulation, eines Scheins oder Als-obs, deren vordergründige visuelle und akustische Spektakel ihre wesentliche Armut nur umso deut-

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Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 78-80, 83-86, 101-105, 107-112. – Vgl. auch Arthur Id Miller: Can Machines be More Creative than Humans?, in: The Guardian vom 4. März 2019, URL: https://www.theguardian.com/technology/2019/mar/04/can-machine s-be-more-creative-than-humans [4. Januar 2022]. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 1990, S. 19. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1999, S. 325-351, hier S. 333.

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licher kaschieren. Ihr Telos ist die Verdeckung, die Maskerade, die als solche von menschlichen Rezipienten nicht mehr erkannt werden sollen, sodass im deep fake, im ›post-truth‹ und den ›alternativen Fakten‹ sowie in den gemorphten Puppengesichtern, die von echten nicht zu trennen sind, die Künstliche Intelligenz, hegelsch gesprochen, erst zu sich selber kommt. Zu denken ist an die unzähligen manipulierten Bilder, dem computergenerierten Journalismus oder die vielen Fortsetzungen von Chorälen oder Präludia Johann Sebastian Bachs oder den mozartesken Capriccios durch David Copes Programm Emily Howell (EMI) bis hin zu der jüngst annoncierten Aufführung einer neuen Zehnten Sinfonie Beethovens, interpoliert aus den raren Skizzen seines Nachlasses durch eine KI. Nicht das Faktum des gefakten Beethoven ist der Skandal, sondern das Begehren danach, der Glaube an seine mögliche Wiederauferstehung, als gelte der Tod und das Ende wie auch der Abbruch der schöpferischen Energien nichts. Und doch bekundeten die vielen Online-Kommentare Rührung und uneingeschränkte Bewunderung. Alles, worauf sich die Maschinen verstehen, ist somit das Phantom, das Trugbild, wie wir, auf der anderen Seite, durch sie bereitwillig irregeleitet werden wollen. Wir erliegen hier demselben systematischen Fehler wie der Turing-Test, der, mag er gelingen oder nicht, über den Unterschied zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz keinerlei Auskunft zu erteilen vermag, außer vielleicht der Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen Arten von Vorspiegelungen. Denn Turings Irrtum bestand in erster Linie darin, dass er in das Setting seines Tests buchstäblich zu viele verstellende Prämissen einbaute, nämlich neben der oft kritisierten einseitigen Auszeichnung einer ausschließlich schriftlichen und demnach semiotisch prätendierten Kommunikation ein entscheidungslogisches Präjudiz, das dieselben mathematischen Modelle auf die Frage nach einer möglichen maschinellen Intelligenz anwendete, wie auf ihre Antwort und das Verfahren ihrer Überprüfung. Die Struktur des Urteilens vollzieht damit einen circulus vitiosus. Turings Argumentation läuft im Kreis, genauso wie im Übrigen die mannigfachen Versuche, ein Publikum auf falsche Fährten zu schicken, indem man es entscheiden lässt, welche Fotografien computergeneriert und welche aus der Hand eines Fotografen oder einer Fotografin stammen oder welche Novellen den Algorithmen eines Computers entspringen und welche der Feder menschlicher Autoren oder Autorinnen. Der Unsinn solcher Tests ist, dass sie darauf angelegt sind, systematisch hinters Licht zu führen, denn nicht äußerliche Indifferenzen entscheiden zwischen Kunst und Unkunst, sondern die Einzigartigkeit eines Erlebens und seine historische Bedeutung, für die

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allein das Mandat einer Autorschaft verbürgen kann – denn Autorschaft ist eine soziale Kategorie, keine der Originalität und Neuheit. Warum dann überhaupt noch ›Kunst aus dem Computer‹? Worin liegt der Reiz, das Verlangen nach seiner konstruktiven Kreativität, der Wille zum Triumph der Maschine? Das Argument, das zumeist angeführt wird, beläuft sich darauf festzustellen, dass wir uns mit der Bildung artifizieller Äquivalente besser zu verstehen lernen als durch die anachronistischen Theorien von Philosophie und Wissenschaften. Doch verficht das Argument nur, wenn diese ihre Gültigkeiten längst an die Natur- und Technikwissenschaften abgetreten haben. Dagegen wäre an der wesentlichen Inkommensurabilität festzuhalten, die die menschliche Produktion und ihre Kreativität von der maschinellen separiert. Der Vorteil der Maschine ist unbestreitbar die Geschwindigkeit, die Massenproduktion und das Metier des Rechnens. Das eigentliche Argument pro Künstlicher Intelligenz kann darum nicht ein Anthropologisches sein, das die Konstruktivität von Computationen und der Robotik nutzt, um nachzuvollziehen, was den Menschen ausmacht, sondern eigentlich nur das Ökonomische der Akzeleration. Kreativ an Künstlicher Intelligenz ist folglich nicht diese selbst, sondern das Vermögen, eine verschwenderische Fülle potenzieller Werke zu generieren, denn die Maschine hat es immer mit der Überproduktion, der Serie, des Mehr-als zu tun. In Sekundenschnelle erfindet sie mehr Bilder, Dichtungen oder Musiken als menschliche Künstler, Dichterinnen oder Komponisten je schufen. Das Milieu der Computerkunst ist aus diesem Grunde nicht die Konzentration, sondern der Exzess. Es verhält sich hier genau umgekehrt zu den historischen Künsten, an denen nicht die Formalisierung eines kreativen Stils, ihr Manierismus interessierte, sondern die ebenso soziale wie kulturelle Wirksamkeit, während die Artefakte der Maschinen nichts sind als ein uninspirierter Überschuss, ein Ausschuss an Waren, deren Wirkung allein in der faden Faszination besteht, dass sie angeblich ohne das Zutun des Menschen aus den unsichtbaren Tiefen eines Automaten emporquellen. Der Mythos des Acheiropoieta taucht hier wieder auf, doch ist er diesmal so wenig wahr wie damals, denn der vorgebliche Ort der Kreativität sind nicht die undurchdringlichen Neuronalen Netze, sondern die Gestalten der Algorithmen und ihre Implementierung im Innern ihrer Strukturen. *

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Keine Kunst kann demgegenüber je das Ergebnis einer massenhaften Fabrikation sein, schon gar nicht der Geschwindigkeit algorithmischer Maßlosigkeiten, vielmehr weist sie beständig auf neue und andere Weise in den Abgrund, der inmitten der Erscheinungen klafft, auf ihre Prekarität und Zerbrechlichkeit, um uns Mal um Mal an die Unerfüllbarkeit unserer Existenz und den Schrecken der Endlichkeit zu erinnern. Vonnöten ist dazu eine anhaltende Reflexivität. Kunst bleibt stets auf uns selbst rückbezogen; sie ist nicht aus Maschinen für Maschinen, sondern für den Menschen, und weder das Dekor, das Versprechen von Immersion oder die Multiplikation unerhörter Schönheiten noch ein ›bislang Ungesehenes‹ macht ihre Sehnsucht aus, sondern die Spuren eines Nichterscheinens im Erscheinen. Es konfrontiert mit einer Transzendenz. Der spirituelle Grund der Kunst liegt hier. Ästhetik erschöpft sich nicht im Phänomenalen – das liefe auf die Ideologie des Ästhetizismus hinaus –, vielmehr besteht ihre epistemische Kraft darin, uns in Beziehung zum Unverfügbaren, den Grenzen der Welt und zum Tod zu halten, um uns gleichzeitig herauszufordern sowie im Leben wie im Politischen und Sozialen Stellung zu beziehen. Im Gegensatz dazu entsprechen die künstlichen Kreaturen aus dem Computer nirgends der Höhe des Ästhetischen. Gewiss, man kennt Künstler und Künstlerinnen, die sich als Ingenieure verstanden – hier aber inszenieren sich Software-Ingenieure als Künstler und erzwingen, statt ästhetisch zu denken, technische Lösungen. Diese kranken gleichzeitig an einem naiven Kunst- wie Kreativitätsbegriff. Weder stützen sich deren Annahmen auf Theorien des Ästhetischen noch auf die Kunstwissenschaften, sondern allein auf Informatik, Neurowissenschaften und Kognitionspsychologie. Sie operieren sozusagen tautologisch im eigenen disziplinären Feld. ›Denken‹ erscheint danach lediglich als eine andere Art von Computation, Lernen als eine ebenso behavioristische wie kybernetische Feedback-Schleife, Kunstmachen als ein Spiel von Stichproben. Damit einher gehen simplifizierende Konzepte, die entweder kaum über die ästhetischen Kategorien des 18. und 19. Jahrhundert hinausgelangen oder einem radikal relativistischen Kunstbegriff frönen. Im ersten Falle referieren KI-Forscher vornehmlich auf die Einträge aus Lexika der englischen Utilitaristen, wenn es hoch kommt auf Kant, um als Kriterien vor allem ›joy‹, ›pleasure‹ und andere ästhetische Gefühle aufzuzählen. Jon McCormack und Mark d’Inverno führen zusätzlich »Schönheit« und Werke von

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»außerordentlicher emotionaler Kraft« an,68 die generative Ästhetik, wie diskutiert, »Unvorhersehbarkeit« und »Nichtwiederholbarkeit«. Der erstaunliche Anachronismus wiederholt Vorstellungen, die nicht nur bereits von den künstlerischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinweggewischt wurden, vielmehr ahnen sie nicht einmal etwas von der manifest epistemischen Kraft der Künste. Im zweiten Falle werden Vulgarisierungen der Rezeptionsästhetik der 1980er und 1990er wach, wonach Kunst erst im Auge des Betrachters oder im Ohr und Urteil des Lesers oder Hörers entstehe. »Everybody has their own definition of a work of art. If people find it charged and inspiring then it is,« zitiert etwa Arthur I Miller Richard Lloyd von Christie’s;69 und: »To me, art is judged by the reactions people have«.70 Die Unschuld der Äußerungen, deren expliziter Subjektivismus kaum zu überbieten ist, resigniert de facto vor dem Problem, überhaupt noch einen adäquaten Kunstbegriff angeben zu können, um dann zu dem zu drängen, was Adorno treffend die »Entkunstung der Kunst« genannt hat.71 Damit korreliert auch die Eingangspassage von dessen Ästhetischer Theorie, wonach »zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.«72 Die Geste der Enthaltung impliziert aber das Gegenteil von Adornos skeptischem Diktum: Sie verbeugt sich mit forcierter demokratischer Verve vor dem Massengeschmack, der alles zulässt, was erregt. Man imaginiere als Vergleichsfolie eine ähnliche Haltung für die Wissenschaften. Den Mehrheiten ausgesetzt verfielen sie dem Sog beliebiger Theorien ungeachtet ihres Wahrheitsanspruchs und näherten sich einer Trivialisierung an. Jedes normative Gebot, allgemeine Begründungen zu finden oder Belege beizubringen, würde als Elitismus denunziert. Demokratisierung ist aber in den Wissenschaften so wenig am Platz wie die Verdurchschnittlichung von Geltungsansprüchen, denn die Wissenschaft ist keine Sache politischer Majoritäten, vielmehr zählen allein die überzeugenderen Methoden, die stichhaltigeren Beweise, das bessere Argument. Auf analoge Weise führen Debatten um eine Demokratisierung der Künste dazu,

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Jon McCormark/Marc d’Inverno: Heroic and Collaborative AI for the Arts, URL: https ://www.ijcai.org/Proceedings/15/Papers/345.pdf [4. Januar 2022]. Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 121 Mike Tyka, zitiert nach Miller 2019 (wie Anm. 43), S. 90. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1971, S. 183. Adorno 1971 (wie Anm. 71), S. 9.

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das Ästhetische einem allgemeinen Gefallenwollen zu überantworten – und büßen so das eigentlich Kunsthafte der Kunst ein. Es ist im Übrigen keine Koinzidenz, dass ausgerechnet marktorientierte Kunstkritiker diese Position verfechten, wie es auch kein Zufall ist, dass Vertreter der großen Auktionshäuser oder Googles Software-Ingenieure sie getreulich nachbeten. Ihr Relativismus ist weder anti-normativ noch institutionskritisch, sondern nur zweckorientiert. Er verzichtet auf Urteilsbildung, um diese den Maschinen zu überlassen, die sie jedoch nicht vermögen: »As should be obvious […], computational aesthetic evaluation is a very difficult and fundamentally unsolved problem«, resümiert denn auch Philip Galanter in seinem überblicksartigen Essay Computational Aesthetic Evaluation: Past and Future, und es gibt bis heute keinen belastbaren Beleg, dass eine solche je möglich sein könnte.73 Ohne Urteilskraft aber bleibt jedes Kunstverständnis gleichermaßen geschichts- und politiklos wie ästhetiklos. Damit korrespondiert, dass das, was durch machine learning realisiert werden kann, weder an Sozialität noch an Zeitgeist gebunden ist, sondern sich so kontextlos, arelational und ab-solut gebärdet wie die Mathematik. Keine künstliche Kunst ringt mit der allein entgegenzunehmenden Gabe der Materialität, mit den Beschränkungen der Freiheit im Kompositorischen, mit der Dialektik von machbaren Formen und unmachbaren Stoffen, sowenig wie mit den Entfremdungen einer Epoche, den Verwerfungen des Sozialen und seiner environmentalen Ordnung. Ihre entfesselten Gestalten beziehen sich auf nichts als die Parameter ihrer eigenen technischen Konditionen; weder verfolgen sie ein gesellschaftliches Anliegen noch üben sie einen historischen Einfluss aus oder greifen in ihre Umwelt ein: Sie sind, was die Maschinen prägen. Kunst verfährt dagegen immer interventorisch; sie bildet eine eigene Art des Denkens, deren Grundlagen in Ambiguitäten, Widersprüchen und Katachresen wurzeln.74 Nicht nur ist Kunst, wie Arthur Danto nahelegte, »über etwas«,75 sondern zuvorderst ›über sich selbst‹, denn es gibt keine Kunst, die nicht zugleich von Kunst handelt, von ihrem eigenen Begriff und dessen Bestimmungen, ihrer Zeit und deren utopischen Möglichkeiten. Unablässig mit sich, ihrer eigenen Medialität und Praxis befasst, durchkreuzt und verwandelt sie diese, um sich selbst umzuwandeln, indem sie mit sich, gegen sich

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Galanter 2012 (wie Anm. 46), S. 277 u. 287. Dieter Mersch: Ästhetisches Denken. Kunst als theoria, in: Ästhetische Theorie, hg. v. Dieter Mersch, Sylvia Sasse und Sandro Zanetti, Zürich 2019, S. 241-260. Arthur Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt a.M. 1981, S. 130.

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und über sich hinaus agiert, um im selben Maße ihren Ort, ihr Dispositiv und ihre Konditionen zu verschieben. Kunst bedeutet daher in erster Linie eine Praxis der Reflexion; sie erfüllt sich in der Kritik ihrer selbst, wenn unter Kritik abermals jene Eingrenzung verstanden wird, die immer wieder von Neuem ihre Lokalität, ihr Potenzial und, im doppelten Sinne des Wortes, ihre Aufgabe befragt. Ihr fortwährendes Ende heraufbeschwörend, setzt sie sich permanent über sich hinweg und macht aus sich etwas Anderes. Kunst ist nie statisch, sondern immer erratisch, haltlos, transzendent. Deswegen fasste Kasimir Malewitsch, um der ästhetischen Trivialisierung ein kanonisches Beispiel entgegenzuhalten, das Bild des Bildes vorzugsweise als die Ikone seiner Zeit auf, die gleichzeitig den Höhepunkt und Abschluss jener Epoche der Ikonik darstellen sollte, die das Bildliche im Abbild erfüllt sah. Die leere Form oder Auslöschung, die er asketisch »Quadrat« nannte (Schwarzes Quadrat 1915), erweist sich ihr einzig als gemäß. Sie raubt dem Bild jegliche Figuralität und wahrt dennoch seine Bildlichkeit.76 Die Kunst des Quadrats ist in diesem Sinne eine Kunst über Kunst, die im selben Maße ein Zeitalter der Kunst zu Ende bringt, wie es ein neues eröffnet. Für die Maschine wäre eine solche Exzentrizität witzlos. Ihr Produktionsprinzip duldet keinen Negativismus. Hätte sich jedoch demgegenüber der Avantgardismus des frühen 20. Jahrhunderts im selben Maße auf die Nichtdefinierbarkeit von Kunst berufen und der Beliebigkeit das Wort geredet, hätte er nicht für den Aufruhr, für die wütenden Proteste und den Widerstreit der Diskurse sorgen können, der die Debatten um das, was Kunst ist und sein kann und was nicht, neu entfesselte. Im Gegensatz dazu verfährt Computerkunst ausschließlich ludisch; sie gleicht einer Experimentalanordnung, einem unverbindlichen Spiel, einem l’art pour l’art, deren Spielzeuge die generativen Prinzipien evolutionärer Algorithmen oder die Neural Networks der machine learning-Programme sind. Aber nichts steht in diesem Spiel wirklich »auf dem Spiel«. Deshalb erscheinen seine Konsequenzen degressiv. Die Schwemme computergenerierter Bilder, Novellen, Musiken oder Filme, die die Märkte zu überfluten beginnen, devaluiert Kunst, wie sie gleichzeitig die Verfahrensweisen der Populärkultur ubiquitär macht. Steigenden Zuwachsraten lassen die Komplexität der Resultate stetig sinken. 76

Vgl. dazu Gilles Néret: Malewitsch, Köln 2003, S. 49-67. – Ebenso Dieter Mersch: Sprung in eine neue Reflexionsebene, in: Ressource Kreativität, hg. v. P. Bianci (Kunstforum International, Bd. 250), Deisenhofen 2017, S. 136-149.

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Dasselbe gilt für den ebenfalls in Anschlag gebrachten naiven Kreativitätsbegriff, sei er künstlerisch verstanden oder nicht. Denn Kreativität mit Novität oder Unvorhersehbarkeit zu verwechseln, restringiert den Code. Vielmehr terminiert sich das Schöpferische, wie die künstlerische Praxis auch, in Reflexivität, weil der Akt des Ingeniums, der Witz des kreativen Impulses, wesentlich auf der Entdeckung noch unentdeckter Befangenheiten oder Hindernisse im Denken beruht, die es auszuräumen gilt, um es für andere Gedanken aufzuschließen. Nicht das Neue ist darin entscheidend, auch nicht die Tatsache mangelnder Ableitung, sondern das Moment von Öffnung. Es setzt noch ein ›Denken des Denkens‹ voraus, das nicht in Rekursivität mündet, sondern stets dreifach terminiert ist: Als Denken des ›Gegenstandes‹ (was), als Denken des Aktes (Dass) und als Denken des Modus, mithin als die ›Weise des Denkens‹ (wie), sein met‹ hodos. Die Verschränkungen der Drei, ihre Triangulation und der stete Wechsel der Ebenen ist im Modus des Algorithmischen nicht zu rekonstruieren. Wo aber das Denken mit seinen eigenen Engführungen bricht, wo es seine Opazität, seinen Einschluss in ein inhärentes Dogma verlässt, vermögen Logik und Mathematik nichts mehr auszurichten, da bedarf es des Sprungs heraus, der die Kühnheit eines ›alternativen Denkens‹ verlangt, das mit den tradierten Gegenständen, dem selben Modus und der Performanz derselben Akte bricht. Deshalb nimmt das Paradox im kreativen Moment so eine außerordentliche Stellung ein. Es setzt ein, wo wir in Sackgassen stecken, wo wir mit Unlösbarkeiten (den Insolubiles der mittelalterlichen Logik) konfrontiert sind, wo wir in die Verzweiflung des ›Je ne sais quoi‹ stürzten oder mit den Unzulänglichkeiten der Anwendung eingeübter Methoden und der gleichzeitigen Unmöglichkeit ihres ›Weiter so‹ ringen. Dann bleibt einzig ein Denken der Schwebe, der Mitte, des tertium datur. »Sesam öffne dich, ich will heraus«, lautet der erste Aphorismus aus Stanisław Jercy Lecs Unfrisierten Gedanken.77 Der kreative Sprung zielt auf diese Befreiung, nicht auf Einlass. Er sucht den Ausgang, keine Eingänge. Weder ist er durch Wahrscheinlichkeitsfunktionen herzustellen noch per Zufall zu finden, sondern allein durch die Augen-Blicke einer Unwahrscheinlichkeit, einer rigorosen Unentscheidbarkeit, wie ebenso der radikalen Differenz, die sämtliche Logiken der Entscheidung, der Berechenbarkeit und Simulation konsequent außer Kraft setzt.

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Stanisław Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken, München 2007, S. 10.

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Abbildungen Abb.1: Links: Würfel-Unordnung, nach einem Algorithmus von Georg Nees, 1968. Rechts: Ohne Titel, Neuerstellung der Grafik Würfel-Unordnung durch einen Algorithmus von Krysta Harrison et al. 2016, https://medium.com/@d elightful_Kdub/processing-georg-nees-40a9790edb5e [30. August 2022]. Abb. 2: Der Druck des Fotos (1800 x 1000mm) zeigt ein 2015 von Alexander Mordvintsev, Michael Tyka, Christopher Olah mittels Deep Dream, einer von Google im Web kostenfrei bereitgestellte Software, verändertes Satellitenbild von Google Maps. https://dreamscopeapp.com/deep-dream-generator, https ://www.memo.tv/works/all-watched-over-by-machines-of-loving-grace-dee pdream-edition/, https://www.wired.com/2016/02/googles-artificial-intellig ence-gets-first-art-show/ (via: Neural-Network-Art-Wallpaper-For-Desktop) [30. August 2022]. Abb. 3 : Portrait d’Edmond de Belamy, Collectif Obvious, 2018. Die drei Studierenden Hugo Caselles-Dupré, Pierre Fautrel et Gauthier Vernier, die sich als Collectif Obvious bezeichnen, wählen eines aus mehreren Bildern aus, die von einer Generative Adversarial Network (GAN)-Software erzeugt wurden, um es am 25. Oktober 2018 in einem vergoldeten Bilderrahmen unter dem Titel Portrait d’Edmond de Belamy erfolgreich bei Cristie’s, einem KunstAuktionshaus, für 432 500 US $ zu versteigern, https://fr.wikipedia.org/wiki /Portrait_d%27Edmond_de_Belamy [30. August 2022]. Abb. 4: 9 Bilder, die der Belamy-Porträts ähneln. Diese wurden mit dem Code des GAN-Algorithmus von Robbie Barrat erzeugt, der seinen 2016 entwickelten Code 2018 als Open-Source im Internet bereitgestellt hat. Barrat, der sich als AI-Artist versteht, geht davon aus, dass Caselles-Dupré, Fautrel und Vernier seine Open-Source-Software verwendet haben. https://aiartists.org/ro bbie-barrat, https://typicalstudent.org/uploads/images/2018/11/ai-artwork-b arrat-open-source-code-01.jpg [30. August 2022]. Abb. 5: Das mittels AI von Mario Klingemann erzeugte Foto wird unter dem Titel Imposture Series – The Butcher’s Son, 2017 in der Größe von 76x50 cm als Giclée-Druck auf Baumwollpapier, für 5000 € zum Kauf angeboten, http s://www.artsy.net/artwork/mario-klingemann-imposture-series-the-butche rs-son [30. August 2022].

Ästhetik und Ästhetisierung Judith Siegmund

Mit der Formulierung ›Ästhetik der Medien‹ ist einerseits bereits eine Festlegung getroffen, andererseits bleibt die Verwendung des Begriffs des Ästhetischen unklar. ›Ästhetik digitaler Medien‹ ließe sich so interpretieren, dass bestimmten digitalen Medien ästhetische Charakteristiken als ihre Eigenschaften zukämen. Man könnte also formulieren, dass es eine Ästhetik digitaler Fotografie gibt, eine Ästhetik des Internets oder auch eine Ästhetik einer Bildschirmoberfläche, die meistens von professionellen Gestalterinnen und Gestaltern entworfen wurde, und dass sich alle diese Ästhetiken – je nach Medium – unterscheiden. Bei dieser Art von Erläuterung bleibt mir allerdings unklar, wofür der Begriff des Ästhetischen im Konkreten und im Allgemeinen überhaupt steht. Ich möchte daher in einem ersten Teil zunächst auf einen allgemeinen Begriff des Ästhetischen eingehen. Denn in der Philosophie ist das Ästhetische traditionell als eine Theorie ästhetischer Einstellungen gefasst worden, die von bestimmten Gegenständen (Objekten und Situationen) evoziert werden. Ästhetische Einstellungen in der Tradition philosophischer Ästhetik sind nicht allein durch die Kennzeichnung einer starken Involviertheit der ästhetisch Aufnehmenden charakterisiert, sondern zugleich durch eine Distanzierungsfigur bestimmt, für die auch der Begriff der Reflexivität steht. Eine Reflexivität macht in dieser Theorietradition letztendlich die Möglichkeit aus, eine Kritikfähigkeit des Ästhetischen und Künstlerischen zu denken. Sie ist in der Theoriegeschichte oft als eine Gegenfigur beispielsweise zum Ökonomischen entworfen worden. Vielleicht aber ist diese Denkfigur im 21. Jahrhundert in eine Krise gekommen, und wie diese Krise gegebenenfalls aussieht, darauf möchte ich in einem zweiten Teil eingehen. Wird das Ästhetische allerdings durch seine digitalen Medien bestimmt, wie es die Formulierung ›Ästhetik digitaler Medien‹ suggeriert, so geht es nicht allein um eine Erläuterung von Einstellungen, sondern um die Erläu-

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Judith Siegmund

terung von digitalen und analogen Produkten, welche im Rahmen ökonomischer und behavioristischer Weltanschauungen geplant, programmiert und gestaltet werden. Die Entgegensetzung – die Alterität also – zum Ökonomischen ist damit nicht mehr so wie zuvor in einem philosophischen Ästhetikverständnis denkbar. Deshalb möchte ich in einem dritten Teil fragen, welche Konzepte des Ästhetischen mit den Diskursen der Digitalität heute verbunden werden. Ihnen liegt, so meine Vermutung, ein Verständnis des Ästhetischen als Affekt- und Erlebnisproduktion zu Grunde. Viertens und letztens möchte ich einen Vorschlag für ein Verständnis künstlerischen Handelns unterbreiten, in dem am Beispiel digitaler Commons eine Struktur und Mikroordnung menschlichen Handelns ins Spiel gebracht werden soll, der das Digitale als ein Feld des Unverfügbaren gegenüber- und entgegensteht. Selbstermächtigung knüpft in einem solchen ästhetischen Konzept an den Freiheitsgedanken an, welcher der traditionellen ästhetischen Einstellung eingeschrieben ist, jedoch werden Alterität und Freiheit des Ästhetischen nicht mehr in ihrer ursprünglichen Reinheit und Totalität gedacht.

Was war/was ist Ästhetik? Ich möchte meine Bemerkungen zum Begriff der Ästhetik zunächst etwas lokalisieren und historisch präzisieren. Es geht um die Entwicklung der deutschsprachigen ästhetischen Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg. Und auch die ist natürlich ein heterogenes Feld. Ich greife wiederum aus ihr einen zentralen gedanklichen Fokus heraus, welcher allerdings meines Erachtens einen wichtigen Gedanken für die ästhetische Disziplin darstellt. Das Ästhetische wurde seit Kant als eine spezifische Urteilsform verstanden, die sich von Erkenntnisurteilen und moralischen Urteilen unterscheidet.1 Im 20. Jahrhundert ist diese Urteilsform, die bei Kant als Urteil des einzelnen Subjektes bestimmt wird, umgedeutet worden in die Denkfigur einer ästhetischen Erfahrung des Subjekts. Die Ästhetik war und ist also die Theorie, in der über spezifische Urteils- und Erfahrungsfiguren von Subjekten

1

Einige Gedanken der folgenden Absätze ähneln meinen Ausführungen in Judith Siegmund: Which Aesthetics of the Commons?, in: Aesthetics of the Commons, hg. v. Cornelia Sollfrank, Felix Stalder und Shusha Niederberger, The University of Chicago Press for Diaphanes Berlin (Open Access), 2021, S. 81-97.

Ästhetik und Ästhetisierung

nachgedacht wird im Sinne ganz besonderer Einstellungen, welche Subjekte sich und der Welt gegenüber einnehmen können. Mit der ästhetischen Einstellung hängt die Idee der ästhetischen Freiheit zusammen – so Kant. Woher stammt nun die Idee jener ästhetischen Freiheit, die sich beispielsweise dem ökonomischen und auch dem politischen Diktum entziehen kann? Hier sei lediglich eine kurze Skizze zur Erläuterung gegeben: Das freie Spiel der menschlichen Vermögen Einbildungskraft und Verstand im ästhetischen Urteilen wird von Kant so beschrieben, dass es eine Lust im ästhetisch genießenden Subjekt freisetzt und zweitens zur Grundlage hat, dass der genossene Gegenstand (also auch die genossene Situation) seitens des Subjekts nicht im Rahmen irgendwelcher Interessen wahrgenommen wird. Hat man also ein ökonomisches Interesse, beispielsweise an einem Kunstwerk, ist man nicht mehr in der Lage, es im gleichen Atemzug ästhetisch zu rezipieren. Die ökonomische Perspektive als Interesse verstellt sozusagen die Möglichkeit, eine ästhetische Einstellung einzunehmen, so Kant in der Kritik der Urteilskraft.2 Insofern es einen Markt, Evaluierungen nach Erfolg und Geld, auch in der Kunst gibt, muss nun also unterschieden werden zwischen dem spekulativen ökonomischen Interesse an der Sache und der (wie Kant sagt) interesselosen Einstellung gegenüber einem ästhetischen Gegenstand, in der dieser in eine größere Distanz rückt, beispielsweise in dem Sinne, dass man ein Kunstwerk im ästhetischen Urteil nicht so besitzen kann, wie man es sich ökonomisch aneignet. Diese definitorische Denkfigur einer Interesselosigkeit der ästhetischen Einstellung ist schon viel kritisiert worden, so prominent von dem Soziologen Pierre Bourdieu, der sagt, dass das Kantische Ästhetische historisch den Interessen des Bürgertums zuzurechnen sei, ihm aber nicht der Status einer für alle Menschen und alle Zeiten geltenden Definition des Ästhetischen zukomme, wie Kant behauptet.3 Ein weiteres Argument gegen die philosophische Setzung der interesselosen Einstellung ist, dass es sich hierbei um eine Welt aneignende Position handelt, die sich unter dem Titel der Interesselosigkeit gegenüber moralisch bedenklichen Waren – oder auch kulturell fremden Gegenständen und deren Geheimnis – ›freimacht‹ von Verantwortung. Dies hat unter dem Aspekt der Globalisierung allemal etwas mit Ökonomie zu tun. Und so ist die Lust und Freiheit der eigenen ästhetischen Beurteilung – 2 3

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974, §2, S. 116f. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst, Frankfurt a.M. 1999.

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dargestellt als das freie Spiel der menschlichen Vermögen im sogenannten interesselosen Wohlgefallen – das, was für das ästhetisch urteilende Subjekt im Vordergrund steht. Es handelt sich um keine Freiheit des Wir, sondern eine des Ichs. Als emanzipativ wurde und wird diese Denkfigur dennoch angesehen – das Ästhetische ist nämlich (zumindest auf den ersten Blick) kein Klassenprivileg, sondern ausnahmslos alle Menschen besitzen die Vermögen Einbildungskraft und Verstand und sind daher auch ausnahmslos alle in der Lage, ästhetisch zu urteilen. Diese von Kant aufgerufene Tatsache wird als eine Art von Gleichheit gedeutet, über die (›hintenherum‹, könnte man sagen) ein imaginäres Wir wieder hineinkommt ins Ästhetische, und zwar im Modus des Als-ob (so prominent gedacht von dem französischen Philosophen Jacques Rancière4 ). Allerdings zeichnen sich ästhetische Einstellung der Einzelnen und das mit ihr verbundene imaginierte Wir aus durch eine Distanz zur ästhetisch wahrgenommenen Welt, sie zeichnen sich aus durch Abstandnahme sowie durch die Möglichkeit der Individuen, auf sich selbst zu reflektieren. Diese Distanzfigur ermöglicht sozusagen im ästhetischen Denken die Kritizität als Chance des Einnehmens einer ästhetischen Einstellung. Ästhetische Theorie versteht diese Reflexivität und Kritizität des ästhetisch wahrnehmenden Subjekts nun als eine Alternative zu einem aus der Soziologie stammenden Entzauberungsnarrativ, dass die Gesellschaft der Moderne im Ganzen prägt, das beispielsweise von Max Weber entwickelt worden ist und dem die marxistische Theorie der Entfremdung der Subjekte einverleibt wurde – wohlgemerkt hier immer gesprochen aus der Sicht der ästhetischen Theorie im 20. Jahrhundert. Die ästhetische Einstellung wird damit zu einer Alternative des Subjekts in der Moderne.

In welche Schwierigkeiten kommt eine solche Ästhetik heute? Es ist diese Distanz und mit ihr die Reflexivität ästhetischer Erfahrungen und Urteile, die heute in eine Krise gekommen zu sein scheint. Die Krise betrifft die Figur des autonomen westlichen Subjekts als im Ästhetischen freien Individuums. Denn Freiheit ist heute nicht mehr das Privileg bürgerlicher Subjekte in der Weltbetrachtung, die sich eine reflexive Distanz ›leisten‹; sondern mit Freiheit sind zunehmend unsere affektiven Entscheidungen im Konsu-

4

Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt a.M. 2002.

Ästhetik und Ästhetisierung

mieren gemeint. Hier hat sich etwas verschoben. Auch eine Ökonomisierung der Künste steht damit im Zusammenhang. Soziologische Theorien heute gehen aus von einem grundsätzlichen Wandel der spätmodernen Gesellschaften. Die Theorie der Singularisierung, Ästhetisierung und Kulturalisierung unserer Gesellschaft, die Andreas Reckwitz als ein Vertreter dieser Debatte vorgelegt hat, verstehe ich als eine Theorie über die Bedeutungszunahme ästhetischer Formbildungen ganz allgemein in unserem Leben.5 Dies heißt nicht, dass es keine rationalen Entscheidungen mehr gäbe, jedoch würde ich so weit gehen, zu sagen, dass das erwähnte Entzauberungsnarrativ der Moderne, das als Folie für die ästhetische Theoriebildung im 20. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung hatte, also: Entzauberung durch Rationalisierung, als Narrativ so nicht mehr seine totale Gültigkeit besitzt. Ich möchte damit sagen, dass ästhetische Elemente, Formbildungen und Strategien eingewandert sind in ehemals rationale verwaltende Abläufe. Kreativität, Freiheit und Selbstentfaltung sind im Gegensatz zu älteren Narrativen des Funktionierens, Erfüllens und Gehorchens heute prominente Strategien in gesellschaftlichen, ökonomischen und auch politischen Feldern geworden. Die Bedeutung des Ästhetischen – zumindest aus seiner Metaperspektive einer Gesellschaftstheorie steht damit wieder neu zur Verhandlung. In meinen Überlegungen zur Ästhetischen Theorie der Moderne hatte ich betont, dass aufgrund der Freiheitsfigur im Gedanken der ästhetischen Einstellung eine Emanzipation des modernen Subjekts denkbar geworden war, als Emanzipation bzw. Befreiung von der Last moderner Rationalität, die als Herrschaft und Entfremdung gedeutet worden ist. Dafür ist dem Ästhetischen auch ein spezifischer Platz im Gesellschaftlichen zugeteilt worden, der Platz der Andersheit, der Alterität im Verhältnis zum Normalen. Den Künsten bzw. der Kunst wurde ihre Kritizität im Ganzen zugesprochen, auch dies bedarf im Zeitalter der Massenproduktion von Kunst einer Überprüfung. Hinzu kommen die Fragen, die aus einer postkolonialen Theoriebildung an die Ästhetische Theorie gerichtet worden sind, denn das Kunst rezipierende Subjekt, das seinen Freiheitsspielraum im Rahmen ästhetischer Vollzüge erweitert, ist ein westliches Subjekt, das die Gegenstände anderer kultureller Provenienz unter dem Standpunkt seiner eigenen lustvoll erfahrenen Freiheit subsumiert. Erkenntnis oder Wissen als Bestandteil dieser Freiheit wurden nicht als interkulturelles bzw. anderes Wissen gedacht, das sich aus anderen 5

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.

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Quellen und Kontexten heraus konstituiert. In diese Skizze einer Krise des emanzipativen Anspruchs der Ästhetischen Theorie, einer Krise, die viele Fragen, aber auch neue Antworten hervorbringt, möchte ich nun die Befragung einer Ästhetik digitaler Medien einfügen.

Wie ist eine Ästhetik digitaler Medien denkbar? Zunächst ist augenscheinlich, dass hier den Medien ästhetische Attribute zugesprochen werden, und die Frage, die sich daraus ergibt, ist natürlich die Frage, wie ästhetische Eigenschaften von Medien Subjekte beeinflussen, die mit diesen Medien umgehen. Diese Fragestellung gibt es traditionell als ein Nachdenken über die Rolle, die ein künstlerisches Objekt einnimmt im Verhältnis zu dem, was es auslöst. Man kann sagen, dass etwas (als ein ästhetisch gestaltetes Produkt) evoziert, wie mit ihm umgegangen wird. Ich denke aber, dass im Fall digitaler Medien die ästhetisch gestalteten digitalen Medien eben gerade nicht als Objekte beschrieben werden können, die bestimmte Wirkungen oder Reaktionen aus sich selbst heraus hervorrufen. Dies hat etwas zu tun mit den Kontexten ihrer Entstehung. Ein Gedanke gewinnt hier an Wichtigkeit: Ästhetische Medien sind nicht Resultate der Bemühungen von Künstlerinnen und Künstlern und Produkte künstlerischer Handlungen. Sie sind Produkte in ökonomisch umkämpften und evtl. auch quantitativ sozialwissenschaftlich erforschten Handlungszusammenhängen. Die Situation selbst hat sich grundlegend gewandelt, wie beispielsweise Lev Manovich konstatiert. Manovich schreibt zum Thema einer artificial intelligence: »AI has become a key instrument of modern economies, deployed to make them more efficient, secure, and predictable by automatically analyzing medical images, making decisions on consumer loans, filtering job applications, detecting fraud, and so on.«6 Warum und wie genau hängen alle diese Funktionen von Algorithmen mit unserer ästhetischen Wahrnehmung zusammen? Manovich schreibt dazu: »AI also plays a crucial role in culture, increasingly influencing our choices, behaviors, and imaginations. […] While algorithms have been employed in artistic creation by artists since the 1960s, today industrial scale ›cultural AI‹ is built into devices and services used by billions of people. Instead of being

6

Lev Manovich: AI Aesthetics, Moskau 2018, S. 11.

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an instrument of a single artistic imagination, AI has become a mechanism for influencing the imaginations of billions.«7 Zwei Aspekte finde ich an dieser Beschreibung interessant: Erstens zeigt sich an ihr, dass auch die Herstellung ästhetischer Objekte und Situationen sowie die Kontexte derer, die sie herstellen, fundamental wichtig sind für die Bildung ästhetischer Theorien. Und dieser Tatsache werden viele Theoriebildungen zu den Künsten und zur ästhetischen Wahrnehmung seit der Antike auch gerecht. Anders formuliert folgt daraus, dass die Begegnung mit den ästhetisch auf uns einwirkenden Objekten und Momenten als Denkmodell nicht genügt, wenn es um eine Bestimmung des Ästhetischen geht. Das Ästhetische ist dann nicht allein eine Einstellung, die ich in Freiheit gegenüber irgendwie gestalteten Gegenständen einnehme. Zweitens ist die ästhetische Einstellung insofern responsiv, also antwortend, als sie mit der Weise, in der wir adressiert werden, zusammenhängt. Ich erkenne in der zeitdiagnostischen Beschreibung von Manovich die eben schon angedeutete soziologische Bestimmung unserer affektiven Involviertheit in ästhetische Medien, in der wir heute stehen, wieder. Wir werden (man kann sagen: in allen Lebensbereichen) durch digitale Medien angesprochen, auf die wir affektiv reagieren, ja reagieren müssen. Mehr noch: An der Oberfläche digitaler Systeme werden unablässig Handlungsaufforderungen an uns als Subjekte gerichtet, die auf das MenschlichKreative, das Imaginäre abzielen. Das vermeintlich marginalisierte Künstlerische wird auf diese Weise normalisiert und zum Standard des subjektiven Weltverhältnisses erhoben, so ähnlich hat es zumindest Andreas Reckwitz erläutert.8 Hinzufügen lässt sich: Die trainierte Sinnlichkeit des Umgangs erzwingt so Kreativität als Kernkompetenz im neoliberalen Wettbewerb. Zum Thema eines kreativen Imperativs, der sich fast ausnahmslos an alle Mitglieder der Gesellschaft richtet, existieren seit einigen Jahren eine Anzahl von sozialwissenschaftlichen Debatten. Auch politische Institutionen und Bildungseinrichtungen stellen sich auf diese Tatsache ein und geben so den künstlerischen und kreativen Bereichen einen instrumentellen Auftrag der Vermittlung gesellschaftlicher Sachverhalte. Was lässt sich an solcherart soziologischen Erläuterungen philosophisch verstehen?

7 8

Manovich 2018 (wie Anm. 6), S. 8f. Vgl. Reckwitz 2017 (wie Anm. 5).

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Hannah Arendt spricht in ihrem Aufsatz Kunst und Politik davon, dass mindestens alle Artefakte, also alle von Menschen hergestellten Dinge das Merkmal aufweisen, irgendwie gestaltet zu sein.9 Ob ambitioniert oder eher zufällig, ob spekulativ oder auf Funktionalität abzielend, wir haben immer auch einen ästhetischen Zugang zur Welt, und ob Gegenstände schön für uns sind oder hässlich oder irgendetwas dazwischen, um dies nicht mehr ästhetisch zu erfahren, dazu müssten wir uns erst einmal die Augen ausreißen, wie Arendt an einer Stelle metaphorisch formuliert. Mit einer so verstandenen Manifestation des Kulturellen, die einen sehr breiten Zugang gibt zu unserem ästhetischen In-die-Welt-verwickelt-Sein, lässt es sich evtl. plausibel machen, dass unsere Imaginationen im Sinne unserer Phantasie, Einbildungskraft und Kreativität nun von Industrien gezielt in den Dienst genommen werden. Das Ziel sind dabei affektbildende Umgebungen und Beziehungen, Ziel der Produktion ästhetischer Medien ist nicht unsere Befähigung zu einer kritischen Distanznahme, Reflexion und Selbstreflexivität. Dem Ästhetischen kommt in solch einer Beschreibung eine involvierende Funktion zu, denn Affekte und Gefühle setzen eher unter Zwang, als dass sie einen Freiraum bieten – so zumindest ein Narrativ, das der Moderne und Aufklärung verpflichtet bleibt. Und so haben wir grob gesehen nun zwei verschiedene Auffassungen des Ästhetischen: erstens das der Freiheit und reflexiven Distanz und zweitens das einer affektiven Involviertheit. Angewandt auf eine Ästhetik der Medien wäre Ästhetisches dann gedacht als die Summe unserer Affekte, die durch ästhetische Medien ausgelöst werden. Diese Affekte sind selbstbezogen, sie verweisen lediglich im Modus des Vergleichens auf andere, sie lassen keine Erfahrung eines Wir zu, denn zumindest laut Reckwitz ist es ein Ziel von Individuen und auch von Kollektiven in der Spätmoderne, Einzigartigkeit für sich selbst in Anspruch zu nehmen.10 Kommunikationen werden Performances, in denen dieser Anspruch herbeigeführt werden soll. Dieser Vereinzelungserzählung liegt nun eine Bestimmung der digitalen Technik zu Grunde, die ihrerseits auf dem Ausschluss alles Affektiven und Psychologischen beruht. Denn mathematisch-rationale Rechnungen sind die technische Grundlage der Erstellung digitaler Algorithmen, denen Quantifizierung und statistische Beobachtung als Methode zu Grunde liegen, so argumentiert Reckwitz. In 9 10

Hannah Arendt: Kultur und Politik, in: Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 2012, S. 277-304. Reckwitz 2017 (wie Anm. 5).

Ästhetik und Ästhetisierung

diesem Bias zwischen affektbildenden Oberflächen und mathematisch-technizistischen Rechenmaschinen kehrt in veränderter Form das bereits erwähnte Narrativ einer als technizistisch, beherrschend und unterwerfend gedachten Bestimmung moderner Ökonomien und Gesellschaften wieder, der eine menschlich gedachte Kunst als Ermöglicherin ästhetischer freier Einstellungen gegenübergestellt worden war. Nur dass sich heute die Bewertung beider Seiten als komplizierter darstellt: Ist die Freiheit, uns in affektiven Reaktionen auszuleben, eine positive Freiheit? Welchen Preis hat sie – zum Beispiel im Sozialen oder Ökologischen? Die Lenkung unserer Aufmerksamkeit auf uns selbst und unsere Bedürfnisse – ermöglicht sie uns noch eine kritische Reflexion und Distanz? Ließe sich das ständige Sich-Vergleichen und Performen, wie Reckwitz darstellendes Handeln in der Spätmoderne beschreibt, tatsächlich als ein Bezug auf ein Wir bestimmen? Und sind die rational funktionierenden Rechenmaschinen, deren Algorithmen auf Ein- und Ausschlüssen beruhen, eine Art von Herrschaftsapparat – oder lassen sie sich ebenso als ermöglichend begreifen? Warum müssen wir überhaupt in solcherart Gegenüberstellungen denken?

Ein vermittelnder Vorschlag: künstlerisches Handeln als ästhetisches Handeln Wenn solche hier zitierten Denkfiguren der Moderne als eine Entgegensetzung von Herrschaft und Unfreiheit versus Emanzipation und Freiheit auf das Nachdenken über digitale Medien angewendet werden, so lässt sich u.a. am bereits historisch gewordenen Beispiel des Internets zeigen, wie sich Bewertungen ändern: War das Internet in den 1990er Jahren ein euphorisch begrüßter virtueller Ort, auf den sämtliche emanzipative Hoffnungen auf Befreiung von verschiedenen Spielarten der Macht und Herrschaft projiziert worden sind, wird es aus heutiger Perspektive vielfach als Ort der Unfreiheit wahrgenommen, in die uns seine Kommerzialisierung, die uns auf unser Consumerdasein reduziert, gebracht hat. Ich möchte daher in einer Art gedanklichem Ausblick bzw. Gedankenexperiment vorschlagen, die Abgrenzungskonventionen (um einen Begriff von Latour zu verwenden) einmal beiseitezulassen, und den Versuch starten, das Ästhetische in Bezug auf digitale Medien anders zu denken. Das Ästhetische steht in diesem Versuch weder für die absolute Freiheit des einzelnen Subjekts (1.) noch für eine Affektinvolvierung, deren Unzulänglichkeiten ich bereits versucht habe darzulegen (2.). Das Ästhetische

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fasse ich vielmehr auf (3.) als eine Handlungs- und Wahrnehmungsweise, in der wir mit kulturell entstandenen Bedeutungen umgehen. Als Folie für diese Überlegung dient mir die Denkfigur des künstlerischen Handelns als eine genuine Praxis (zunächst unabhängig verstanden von dem Einsatz und Gebrauch digitaler Medien), in der sich ästhetische imaginative Anteile mit Sinnorientierung verschränken. Nun möchte ich nicht behaupten, dass allein künstlerisches Handeln ästhetisch ist. Auch in vielen anderen Handlungsformen erkennen wir ästhetische Anteile. Eine Pointe der Einführung meines Handlungsbegriffs soll sein, dass sich mit ihm einige Abgrenzungskonventionen vermeiden lassen und so rationale als auch ästhetische Anteile im Künstlerischen selbst verortbar werden. Aber wie gesagt, natürlich ist nicht das Künstlerische allein der Ort ästhetischer Handlungen und Einstellungen, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wird ästhetisch gedacht und gehandelt – dies ist eine Berücksichtigung soziologischer Darstellungen einer Ästhetisierung in der Spätmoderne. Ich möchte das Konzept einer so gedachten Verschränkung hier an einem Beispiel erläutern, dem von aktivistisch erstellten digitalen Commons. Und zwar handelt es sich bei meinen Beispielen um sogenannte ›Archives and Libraries‹, die entstanden sind durch eine spezifische Verwendung von (teilweise vorhandener, teilweise veränderter, teilweise neu programmierter) Software. Ich beziehe mich beispielhaft auf die digitale Bibliothek Ubu.Web. Monoskop und auf die Filmdatenbank 0xdb.11 Es geht in diesen Projekten der Commonisierung um das gemeinsame Anlegen, unkomplizierte Verwalten und die gemeinsame Nutzung digitaler Text-, Bild- und Filmarchive, unabhängig von kommerziellen Interessen und Urheberrechten. Erst durch die Praxis des Programmierens, Sammelns und Ordnens entstehen diese Commons, allerdings sind die gesammelten (digitalisierten) Werke (Texte, Bilder, Filme etc.) den Archiven und Bibliotheken vorgängig. »Insofern entstehen digitale Commons einerseits neu, greifen allerdings andererseits zurück auf Ressourcen, die es einzeln schon gab.«12 Ich finde, dass hier sehr deutlich wird, dass im Zeitalter des Digitalen vorgängig Kulturelles verarbeitet wird und nichts dagegen aus dem Nichts (creatio ex nihilo) geschaffen wird. Das Commons-Sein ist keine intrinsische Eigenschaft der Güter,

11

12

Ich beziehe mich hier auf Interviews, die im Forschungsprojekt Creating Commons an der ZHdK Zürich geführt wurden. Creating Commons, URL: http://creatingcommons.z hdk.ch/ [18. Januar 2022]. Siegmund 2021 (wie Anm. 1), S. 8.

Ästhetik und Ästhetisierung

sondern eine digital gestaltete Beziehung zwischen Menschen und Gütern, in der auf vorhandenes Material zurückgegriffen wurde. Indem diese Materialien oder Produkte nicht privatwirtschaftlich interpretiert und behandelt werden, entsteht durch ihre Sammlung etwas Neues. Marktferne wird von allen im Projekt interviewten Netzakteuren bewusst als wesentliches Merkmal ins Spiel gebracht. Sie ist von ihnen als eine Art von selbst gesetztem Ziel angestrebt und markiert somit eine Gemeinsamkeit der Archive. Interviews mit den Betreibern der Archives and Libraries, auf die ich mich beziehe, stellen sich kurz zusammengefasst so dar:13 1. Die Betreiber der hier untersuchten Commons-Plattformen sind ausnahmslos Männer und sie sind nahezu alle von ihrer Herkunft her Künstler oder zumindest kuratorisch im künstlerischen Bereich tätig gewesen. 2. Alle legen den Interviews zufolge keinen gesonderten Wert auf diese Herkunft, und 3. Alle nutzen die Infrastrukturen künstlerischer Institutionen, um ihre Projekte zu realisieren. Strategien der Akquirierung finanzieller Mittel und ideeller Anerkennung im Rahmen der Kunst könnten auf den ersten Blick als eine Instrumentalisierung der Kunstautonomie durch die Künstler theoretisiert werden. Ich möchte von einer solchen Darstellung Abstand nehmen. Denn die Praxis des Commoning ist meines Erachtens gerade dadurch gekennzeichnet, dass durch sie in den Feldern des Gesellschaftlichen – Politischen und Ökonomischen – bestimmte Effekte erzielt werden sollen und (so zeigen es die Beispielprojekte) auch erzielt werden. Es werden Einhegungen traditioneller Commons (außerhalb der Kunst) verhindert und es sind neue Commons auf der Basis jeweils aktueller digitaler Techniken entstanden. Diesen Gedanken schärft auch Yochai Benkler, indem er von einer »politischen Ökonomie von Commons« spricht.14 Es geht nicht allein um die Präsentation modellhafter Plattformen, durch die sich der Commons-Gedanke im Modus des Als-ob vermittelte, sondern es geht um die professionelle reale Akquirierung, Verwaltung und Kommunikation von großen Datenmassen, die Nutzerinnen und Nutzer zur Verfügung stehen und an deren archivarischer Gestaltung sich Nutzerinnen und Nutzer selbst beteiligen. Gehen wir davon aus, dass es bei inneren Zwecksetzungen von künstlerisch handelnden Subjekten nicht darum gehen kann, ihre Handlungen als radikale Ermächtigung oder als absolute Beherrschung von Praktiken und 13 14

Siegmund 2021 (wie Anm. 1), S. 8. Yochai Benkler: The Political Economy of Commons, in: UPGRADE 4 (2003), S. 6-9.

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deren Kontexten zu verstehen, dann bleiben Bestimmungen wie Motivationalität, Intentionalität im Sinne von Wichtigkeit oder Aufmerksamkeit, die man einer Sache bzw. Tätigkeit zukommen lässt, weiterführende Begriffe. Um etwas zu beginnen – oder bereits in einer nichtbeliebigen Weise zu betrachten – ist vielmehr Selbstermächtigung in dem Sinn notwendig, dass durch sie zunächst etwas in ein Maß gebracht wird, das ein eigenes oder eigens gefühltes Maß ist. Das heißt auch, dass es systematisch gedacht ein Unterschied sein muss, umstandslos an etwas teilzunehmen, das einen übersteigt und dadurch legitimiert (wie man beispielsweise Digitalisierungsprozesse schlechthin oder die Algorithmen, die diese Prozesse uns gegenüber repräsentieren, auffassen könnte) oder ob man sich selbst dazu verhält. Dies kann freilich nicht bedeuten, dass nur die jeweils selbst vertretene Perspektive in Handlungen wie dem Entwickeln und Pflegen digitaler Commons alleiniger Maßstab sei, vielmehr ist sie ein Ausgangspunkt, um mit anderen in eine Praxis einzutreten, die eine ›offene‹ Praxis ist in dem Sinn, dass ihr Resultat sich für diejenigen, die etwas tun bzw. herstellen, prinzipiell als unverfügbar darstellt.15 Ein Verständnis von Commons als ›Allmendefertigung durch Gleichberechtigung‹ betont Prozesse des Fertigens, des Herstellen, betont also Prozesse poietischen Handelns, in denen sich sozial geteilte Ideen von Verschränkung verkörpern. Ich spreche von Verkörperung, obwohl es sich um digitale Archive handelt; letztlich fasse ich die digitalen Commons als Produkte auf, die durch poietische Handlungen entstanden sind und immer wieder entstehen. In die Produkte sind sozial geteilte ›Bedeutungen‹ oder Bedeutungszuschreibungen seitens der Initiatoren und Userinnen und User der Plattformen eingeschrieben bzw. entäußert. Zu ihnen gehören auch die jeweils konkreten im Projekt institutionalisierten Regelbildungen, die im Rahmen der Organisation, Verwaltung und Nutzung der Archive und öffentlichen Bibliotheken zur Anwendung kommen. Die gesellschaftliche Bedeutung von Commons ist somit eng an die spezifischen Umstände ihrer Herstellung und Organisation sowie an Überzeugungen und Praktiken derer, die sie organisieren und verwalten, gebunden. Ihrem Handeln kommt eine Bedeutung zu, erstens im Sinne ihrer Überzeugungen und ihres Agierens, zweitens im Sinne

15

Ich gebe zu, dass hier Hannah Arendt mit anklingt, jedoch würde Arendt nicht das Tun und das Herstellen so eng zueinander setzen. Vgl. dazu auch Judith Siegmund: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2019, S. 110-127.

Ästhetik und Ästhetisierung

unseres Verständnisses der Funktionsweise der Commons, indem wir sie aus einer rezipientischen, teilnehmenden bzw. benutzenden Perspektive verstehen. Und es ist auf jeden Fall produktiv und weiterführend, Commons als ökonomisch organisierte Projekte, ja als eigene Ökonomien auszulegen, die in der Lage sind, heute geltende Lehrsätze und Überzeugungsmuster über (privatwirtschaftliche) Ökonomie zu kommentieren, wenn nicht gar zu korrigieren. Gerade aus der Idee der Verschränkung von Verständnissen und begleitenden Handlungen entsteht eine gesellschaftliche Chance der kritischen Rekapitulation unserer Überzeugungen und Praxen. »Ökonomie wird hier nicht als ein enger Bereich verstanden, der nach anderen Gesetzmäßigkeiten [als denen der Kunst und Kultur] und mit Externalitäten funktioniert, sondern als eine Facette eines komplexen, umfassenden Phänomens mit ineinandergreifenden wirtschaftlichen, sozialen, ethischen, ökologischen und kulturellen Dimensionen.«16 Spricht man aber von Regelbildung, Verwaltung und Nutzung, wie ich das soeben getan habe, lässt sich ein Gedanke der absolut gegebenen Freiheit, die einer Distanz durch eine ästhetische Einstellung geschuldet bleibt, nicht mehr in dieser Reinheit denken. Die Freiheit des künstlerischen Handelns bestünde dann eher in einer Anerkennung eines von außen gesetzten Rahmens, zu dem ich mich trotz dessen formender Wirkung, die mir insgesamt unverfügbar bleibt, responsiv verhalte.

16

Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 2016, S. 248.

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Zur Aisthesis des Maschinenlernens Ein Kommentar zur zeitgenössischen Künstlichen Intelligenz Sybille Krämer

Es gibt gute Gründe zwei unterschiedliche Modalitäten in menschlicher Geistestätigkeit zu diagnostizieren:1 Einerseits ist da das langsame, mühevolle, kognitiv aufwendige Denken, das in allen Formen des Schlussfolgerns, Argumentierens, Rechnens und des Lösens von Problemen verkörpert ist. Und andererseits gibt es das schnelle, nahezu automatische und geradezu instinktiv vollzogene Denken, dessen Schlüsselphänomen das menschliche Wahrnehmen ist, etwa beim Erkennen von Gesichtern, Objekten oder Stimmen. ›Logisches Schlussfolgern‹ im Sinne komplexer, zeitaufwendiger Denkoperationen und ›aisthetisches Erfassen‹ im Sinne instantaner, sekundenschneller Mustererkennung bilden zwei verschiedenartige Domänen menschlicher Kognition. Es ist bemerkenswert, dass die gegenwärtig erfolgreichsten Methoden Künstlicher Intelligenz sich der zweiten Modalität zuwenden, also versuchen den Wirkungsbereich der Aisthesis maschinell zu modellieren. ›Aisthesis‹ hier ganz klassisch verstanden als das, was sich den menschlichen Sinnen zeigt. Bekannt sind diese Verfahren unter dem Stichwort ›maschinelle Lernverfahren‹ mit Hilfe Künstlicher Neuronaler Netze; insbesondere das ›Deep Learning‹ ist in aller Munde.2 Unsere Frage nun ist: Verändert dieser an der Ais-

1 2

Vgl. Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2011, S. 3137. Vgl. Machine Learning. Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz, hg. v. Christoph Engemann und Andreas Sudmann, Bielefeld 2018 – Yann LeCun/Yoshua Begio/Geoffrey E. Hinton: Deep Learning, in: Nature 521 (2015), S. 436444. – Jürgen Schmidhuber: Deep Learning in Neural Networks. An Overview, in: Neural Networks 61 (2015), S. 85-117. 

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thesis orientierte Ansatz was unter ›Künstlicher Intelligenz‹ zu verstehen ist?3 Und welchen Ort nimmt die Technologie des ›Deep Learning‹ innerhalb einer geisteswissenschaftlichen Kartographie des Problemfeldes ›Künstlicher Intelligenz‹ ein? Die folgenden Überlegungen sind erste Schritte zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen.

Visionäre und prosaische Künstliche Intelligenz In den Debatten über Künstliche Intelligenz tritt eine Bipolarität zutage zwischen einer starken, visionären, utopischen und einer schwachen, prosaischen beziehungsweise real existierenden Künstlichen Intelligenz. Die visionäre Künstliche Intelligenz – sei diese euphorisch begrüßt4 oder apokalyptisch gefürchtet5  – zielt auf eine transhumane Verschmelzung von Mensch und Maschine inklusive der Entstehung einer menschenübertreffenden Superintelligenz. Die prosaische Künstliche Intelligenz geht hervor aus der Verbindung von Sensortechnologie, Big Data und maschinellen Lernverfahren und ist beispielsweise in Form von Spamfiltern, Sprach- und Gesichtserkennung, Übersetzungsalgorithmen im Alltag angekommen und vielfach eingesetzt. Das Gravitationszentrum der gesellschaftlich wirksamen Künstlichen Intelligenz sind weniger die spektakulären Programme, welche Weltklassespieler im Go oder im Pokern besiegen oder zu Höchstpreisen versteigerte Gemälde verfertigen; es sind auch weniger die vieldebattierten Pflegeroboter oder die eine diskursive Höchstattraktivität auf sich ziehenden ›autonom fahrenden‹ Autos. Vielmehr sind das zumeist unsichtbare Big Data Technologien und spezifische Netzwerkarchitekturen, die den Hintergrund bilden damit digitale Apparaturen in den Funktionsbereichen unserer Gesellschaft den Umgang mit Daten aller Art bewerkstelligen. Die Geistes- und Kulturwissenschaften lassen sich zumeist faszinieren von den Debatten über die visionäre Künstliche Intelligenz, also von den Mythen und Ideologien, deren Aufgabe – real besehen – es allererst gewesen ist Künstlicher Intelligenz Förderungspfade in Gesellschaft und Forschung

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Wir behandeln ›Künstliche Intelligenz‹ im Essay als Eigenname für ein Bündel ingenieurstechnischer Praktiken und deren theoretische Kommentierungen. Ray Kurzweil: Menschheit 2.0. Die Singularität naht, Berlin 2013 (engl. Originaltitel: The Singularity Is Near). Nick Bostrom: Superintelligence. Paths, Dangers, Strategies. Oxford 2014.

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propagandistisch zu ebnen. Doch sie versäumen dabei die Potenziale, Grenzen wie Gefährdungen der gegenwärtig angewendeten, unauffälligen, jedoch überaus effektiven Big Data Technologien zu reflektieren – und zwar als Entwicklungsformen nicht nur von Künstlicher Intelligenz, sondern eines zeitgenössischen Mensch-Maschine-Verhältnisses. Was ›Künstliche Intelligenz‹ bedeutet ist also im Horizont grundsätzlicher Fragen nach der Interaktion von Mensch und Technik zu erörtern. Die hier diagnostizierte Bipolarität ›utopischer‹ und ›alltagstauglicher‹ Maschinenintelligenz wurde nicht erst vom Philosophen Searle in den 1980er Jahren unter dem Begriffsduo ›starke‹ und ›schwache KI‹ reflektiert.6 Vielmehr findet sich eine ähnliche Zweipoligkeit schon bei Gottfried Wilhelm Leibniz angelegt, einem Vordenker des Digitalen: Auf der Suche nach einer Maschine oder einem Kalkül, welche zeichenmanipulierende geistige Tätigkeiten ausführt, arbeitet er an zwei Fronten: einer konzeptuellen und einer kulturtechnischen.7 In der visionär-konzeptuellen Form geht es ihm um die Idee einer universellen Denkmaschine (›calculus ratiocinator‹, ›scientia generalis‹): Wäre es möglich ein Gedankenalphabet des menschlichen Wissens aufzustellen, zu codieren und auf einen Kalkül abzubilden, so könnten alle möglichen wahren Sätze automatisch generiert und von jedem vorgelegten Satz automatisch entschieden werden, ob dieser wahr oder falsch sei. Auf den Universalitätscharakter dieses Vorhaben kommt es dabei an: Doch diese Vision einer universellen Denkmaschine ist eine Illusion und ihre logische Unmöglichkeit hat Kurt Gödel im 20. Jahrhundert bewiesen.8 Leibniz hat allerdings zugleich sich darum bemüht zur Lösung wohlbestimmter formaler Probleme in Logik und Mathematik, partikulare Systeme, also Bereichskalküle zu schaffen, die keineswegs illusionär waren, sondern als ›symbolische Maschinen‹ des Deduzierens und Berechnens einsatzfähig funktionierten. Es wäre nicht schwierig Gödels Nachweis von der prinzipiellen Unvollständigkeit jedes formalen Systems mit dem die Leibniz’sche universale Denkmaschine begraben wurde, als ein Argument gegen die Ansprüche der

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John R. Searle: Minds, Brains, and Programs, in: The Behavioral and Brain Sciences 3 (1980), S. 337-356. Zu Leibnizens Kalkülisierungsbestrebungen sowohl in universeller wie in bereichsspezifischer Hinsicht vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin 1991, S. 267-279. Kurt Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I, Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S. 173-198.

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visionären Künstlichen Intelligenz ins Feld zu führen. Und dies ist seitens der Philosophie auch geschehen.9 Damit allerdings treten Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler ziemlich nah an jene Fallstricke heran, welche die vor allem auf Marketing und Fördermitteln abzielende Begleitrhetorik der Künstlichen Intelligenz ausgelegt hat, indem diese als eine Steigerung der Maschinenintelligenz zur menschenersetzenden und menschenübertreffenden universalen Superintelligenz propagiert wird. Wir wollen einen anderen Weg einschlagen: Statt die epistemischen Grundlagenfragen der Künstlichen Intelligenz anhand des spektakulären Vorhabens einer Automatisierung universaler Denkfähigkeiten zu erörtern, wollen wir Grundfragen maschineller Intelligenz mit Bezug auf die real eingesetzte – und nicht etwa utopisch-transhumanistische – Künstliche Intelligenz erörtern und das heißt anhand ihrer immer auch bereichsspezifischen, partikulären Maschinenverfahren reflektieren.

Hintergrundannahmen im Umfeld der KI-Debatte In den geisteswissenschaftlichen Debatten über Künstliche Intelligenz sind einige Annahmen bezüglich des Mensch-Technik-Verhältnisses leitend, die problematisch und korrekturbedürftig sind. Diese Korrekturen auszuführen, unsere dazu abweichenden Positionen zu begründen, kann hier nicht geschehen. Doch seien die Probleme zumindest benannt. Problemannahme 1: Technischer Fortschritt zielt auf die Erweiterung und Steigerung von Tätigkeiten, die von Menschen ausgeführt werden und deren Automatisierung intendiert die Ersetzung des Menschen. Das Telos der Maschine ist die Substitution des Menschen. Wie viele unserer Techniken imitieren in gesteigerter Weise was Menschen bereits tun? Eine Spülmaschine mag besser, manchmal auch schlechter spülen als ein Mensch: Jedenfalls realisiert sie ›Spülen‹ auf eine prinzipiell andere Weise. Überdies vollbringen viele Apparate, was Menschen (anders als etwa

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Dieter Mersch: Kreativität und Künstliche Intelligenz. Einige Bemerkungen zu einer Kritik algorithmischer Rationalität, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft (zfm) 21, H. 2 (2019), S. 65-74, hier S. 69f.

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das Spülen) in dieser Weise niemals können und in ihnen auch kein Vorbild findet – denken wir nur an die Energie- und Transporttechniken. Das Problem liegt in der Grundidee ›Technik ersetzt Mensch‹ als Leitlinie unseres Technikverständnisses. Dieses ist vielmehr ein hochgradig variables Aktionsverhältnis eingespannt in einen Kreislauf unterschiedlich verteilter, jedoch aufeinander angewiesener Interaktionen zwischen Mensch und Technik, in denen eine vollständige Ersetzung des Menschen die Ausnahme bildet. Mensch und Maschine sind in graduell unterschiedlich gewichteter Ko-aktion,10 oder »Co-performance« miteinander verbunden.11 Wir interagieren mit Technik, doch diese interagiert auch mit uns. Nur andeuten können wir hier, dass es Sinn machen könnte dieses Verhältnis – statt in Termini von Imitation, Replikation oder Ersetzung zu konzipieren – als ein ›Assistenzverhältnis‹ zu begreifen. Problemannahme 2: Die Digitalisierung ist ein Prozess der Immaterialisierung und der Entkörperung. Der Mensch und sein Verhalten zählen (nur) als Datenstrukturen, als Teil des maschinenlesbaren Datenuniversums. Die Ubiquität vernetzter informationsverarbeitender Apparaturen, die ein Abbild der Welt in Gestalt eines Datenuniversums nahezu instantan erzeugen suggeriert, dass die Digitalisierung als ein Prozess ungebrochener Entstofflichung und Delokalisierung zu interpretieren sei. Doch verkennt dies die Bedeutung einer sich im humanen Dasein wie in der Existenz unseres Planeten durchhaltenden Schwerkraft materialer Stofflichkeit und leiblicher Einbettung. Wie ›durchdigitalisiert‹ auch immer, führen wir unser Leben analog im Spannungsbogen von Geburt, Wachstum, Krankheit und Tod. ›Zu leben‹ heißt angewiesen zu sein auf den beständigen Stoffaustausch mit der Umwelt. Und das gilt auch für die digitalen Geräte, denken wir nur an deren

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Bruno Gransche in: Maximilian Schönherr: Technikphilosophie. Zusammenspiel von Mensch und Maschine [publiziert am 8. April 2015], URL: https://www.deutschlan dfunk.de/technikphilosophie-zusammenspiel-von-mensch-und-maschine.676.de.html ?dram:article_id=316452 [11. Januar 2022]. Vgl. Lenneke Kuijer/Elisa Giaccardi: Co-performance. Conceptualizing the Role of Artificial Agency in the Design of Everyday Life Conference Paper, March 2018, URL: https://www.researchgate.net/publication/323869840_Co-performance_Co nceptualizing_the_Role_of_Artificial_Agency_in_the_Design_of_Everyday_Life [11. Januar 2022].

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Stromverbrauch, die verarbeiteten seltenen Erden, all die Abbauprodukte, die so viel mehr umfassen als nur den hinterlassenen Elektroschrott. Erst recht geht die Idee fehl, dass die menschliche Denktätigkeit selbst ein körperindifferenter funktionalistischer Vorgang sei: Was menschliche Intelligenz bedeutet, kann nicht unabhängig unserer basalen körperlichen Situiertheit verstanden werden. Problemannahme 3: Natürliche Intelligenz beim Menschen hat ihren Ort im mentalen Innenleben von Individuen; künstliche Intelligenz der Maschinen ist in der Exteriorität technischer Abläufe zu lokalisieren. Das Telos Künstlicher Intelligenz ist es das im Kopf von Individuen basierte Denken zu externalisieren. Anders als es die egologische Auffassung von Kognition nahelegt sind Geist, Wissen, Intelligenz und Denken sozial konstituiert. Höherstufiges menschliches Denken ist gebunden an den Gebrauch von Sprachen, Bildern und Kulturtechniken und vor allem: an Kooperation und Kollaboration mit anderen Menschen. Unsere natürliche Intelligenz ist undenkbar ohne überindividuelle kollektive Einbettung in distribuiertes Wissen, den Einsatz von Artefakten, den symbolischen und technischen Instrumenten der Wissensgenerierung. Es gibt keine ›naturbelassene Denkkraft‹. Die Natürlichkeit menschlicher Intelligenz, die Leistungen also, die wir aufgrund unserer biologischen Hirnausstattung erbringen können, ist kulturell präformiert und kulturtechnisch gebunden.

Über das Digitale vor dem Computer Neben den problematischen Hintergrundannahmen, die den geisteswissenschaftlichen Diskurs grundieren, ist hier ein weiterer Aspekt zu betonen: Gewöhnlich wird die Digitalisierung mit der Computerisierung ineinsgesetzt, zumindest aber eng liiert. Doch es gibt eine Digitalität vor dem Computer. Dies zeigt ein Blick auf die Kulturtechnik alphanumerischer Literalität, die seit der Verbreitung des Buchdrucks unsere Epoche in Form der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens, schriftlichen Rechnens kennzeichnet. Sowohl das Alphabet, wie auch das dezimale Positionssystem bilden Pionierformen digitaler Zeichensysteme. Wir verstehen unter ›Digitalisierung‹ in einem basalen Sinne die diskrete Zerlegung eines Kontinuums in voneinander unabhängi-

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ge Bausteine, die codiert, vor allem aber zu neuen Strukturen rekombiniert werden können. Lange vor dem Einsatz des Computers als eine physikalische Maschine entwickelten wir ›symbolische Maschinen‹ in Gestalt von Operationen formaler Symbolmanipulation.12 Formalisierung nutzt einen ›Trick‹: sie beruht auf der Doppelrolle eines Symbolsystems, welches zugleich als Sprache und als Technik fungiert: Während die römische Zahlenschrift für arithmetische Berechnungen den Gebrauch eines zusätzlichen Rechenwerkzeuges erfordert – wie Abakus oder Rechenbrett – entfällt dies mit dem dezimalen Positionssystem: Denn dieses ist zugleich Medium der Zahlendarstellung und Werkzeug des Zahlenrechnens. Eine solche Doppelrolle ist möglich, sofern ein Zeichensystem syntaktisch vollständig und damit ein System zur Bildung und Umbildung von Mustern ist, deren Regeln keinen Bezug nehmen auf die Interpretation der Muster oder Zeichenstrukturen. Wofür im dezimalen Stellenwertsystem die ›0‹ steht, wieso ›nichts‹ überhaupt quantifiziert werden kann: solche Fragen spielen keine Rolle dafür mit der Null korrekt zu rechnen. Das Wissen ›wie‹ ein arithmetisches Problem zu lösen ist, trennt sich vom Wissen, ›warum‹ das Verfahren überhaupt aufgeht und worin sein ›Sinn‹ besteht. Etwas machen zu können, ohne verstehen zu müssen, ist das Charakteristikum technischer Operativität. Eine Dialektik, wenn nicht gar eine Paradoxie des menschlichen Geistes zeichnet sich damit ab, auf die schon Whitehead aufmerksam machte:13 Der Fortschritt der Zivilisationen besteht (auch) darin, immer größere Bereiche geistigen Tuns auf eine ›geistlose‹ Weise, also unabhängig von Bewusstsein, Vorstellung und Interpretation ausführen zu können – egal ob durch Menschen oder Maschinen. Menschen rechnen umso besser, je mehr sie sich selbst dabei wie Maschinen verhalten. ›Computer‹ das waren übrigens ursprünglich die weiblichen Arbeitskräfte, die insbesondere in wissenschaftlichen Kontexten, stupende Berechnungen präzise zu bewerkstelligen hatten.14

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Vgl. Sybille Krämer: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in historischem Abriss, Darmstadt 1988. Alfred North Whitehead: Einführung in die Mathematik, Oxford 1911, S. 35. Zu den weiblichen Computern vgl. Janet Abate: Interpreten der Datenverarbeitung. Frauen im Zweiten Weltkrieg und die frühe Computerindustrie, in: Ada Lovelace. Die Pionierin der Computertechnik und ihre Nachfolgerinnen, hg. v. Sybille Krämer, Paderborn 2015, S. 99-114, hier S. 101.

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Die Kulturtechnik der Verflachung als schöpferisches Potenzial Bevor wir zum Thema der Aisthesis Künstlicher Intelligenz zurückkommen, gilt es auf eine elementare Dimension verkörperter Sinnlichkeit aufmerksam zu machen, die allen formalen Prozeduren menschlicher Akteure eigen ist. Gewöhnlich wird das Formale als komplett sinnenfern und entkörpert beurteilt. Doch erinnern wir uns: auch das von Menschen ausgeführte formale Manipulieren von Zeichen auf Papier, gilt als Beispiel für das langsame, das mühevolle und zeitaufwendige Denken; und der Grund dafür liegt in der sinnlichen Präzision, die beim formalen Operieren verlangt ist: An welcher Stelle eine Ziffer oder ein Komma im Zahlenausdruck stehen, oder dass die Ziffern beim Unterwärtsaddieren haargenau untereinander zu stehen kommen oder auch was links, was rechts des Gleichheitszeichens steht eindeutig zu unterscheiden: All dies ist für das schriftliche Rechnen entscheidend und beruht auf der Elementarkompetenz präzise wahrnehmen zu können. Und solches Wahrnehmen orientiert sich an den Achsen unserer eigenen Leiblichkeit: Was ›rechts‹ und ›links‹ oder was ›oben‹ und ›unten‹ in der Symbolmanipulation bedeuten, gilt relativ zur räumlichen Ausrichtung unseres eigenen Körpers. Zweifellos ist diese abverlangte Exaktheit in der Mustererkennung nur eine Schwundstufe von wahrnehmendem, also sinnlichem Erkennen. Aber auch der Minimalismus formal-operativer Aisthesis, bleibt eine Form von Aisthesis. Wir stoßen hierbei auf das Potenzial einer ›Kulturtechnik der Verflachung‹.15 Die Erfindung der beschrifteten und bebilderten Flächen schafft einen zweidimensionalen Sonderraum, der gegenüber unserer dreidimensionalen Lebenswelt mit ihren drei senkrecht aufeinander stehenden körperlichen Achsen rechts/links, oben/unten, vorne/hinten die letztere ›annulliert‹ hat; also jene Dimension, die von uns – ohne Rückspiegel gedacht – nicht überblickbar und auch nicht kontrollierbar ist. Es gibt empirisch keine Flächen, doch wir behandeln inskribierte Oberflächen so, als ob es kein Dahinter und Darunter gäbe. Mit dieser artifiziellen Flächigkeit entsteht eine Werkstätte des Denkens, ein Laborraum technischer Entwürfe und ein Experimentierfeld künstlerischer Kreation und Komposition. Der Ariadnefaden artifizieller Flächigkeit durchzieht die menschliche Kulturgeschichte mit ihren Tätowierungen, Bildern und Ornamenten, ihren Schriften, Graphen, Diagrammen und Karten bis hin zu den Interfaces digitaler Apparate. Nicht zu vergessen 15

Sybille Krämer: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016, S. 59 u. 95.

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ist, dass das Medium der Flächigkeit auch für die verwaltungstechnische Funktionalität unabdingbar ist: Unsere personale Identität verbürgen flächige ›Ausweise‹ und die Arbeit moderner Verwaltung ist unmöglich ohne Formulare, Register und Akten aller Art.

Künstliche Intelligenz: kein Universalschlüssel Künstliche Intelligenz ist zur integrierten Funktionalität digitalisierter Lebensbereiche geworden: virtuelle Assistenten in Form von Suchmaschinen, Gesichtserkennungsapparaturen, Übersetzungsprogrammen, Diagnosesystemen aller Art, curated shopping etc. sind allgegenwärtig und wenig spektakulär. Allesamt Artefakte, die kaum sichtbare, immer jedoch mit menschlichen Akteuren in Wechselwirkung stehende Datentechnologien bereitstellen, dabei stets eingesetzt für begrenzte, wohlbestimmte Zwecke. Ein Spracherkennungsprogramm erkennt keine Gesichter; ein Übersetzungsprogramm kann nicht Schach spielen. Auf diese Partikularität und Zweckgebundenheit kommt es an. Mit den real existierenden Formen Künstlicher Intelligenz liegt kein Universalschlüssel für intelligentes Verhalten vor, vielmehr ein ›Werkzeugkasten‹.16 Zwei Abteilungen sortieren diesen: Verfahren und Instrumente, die orientiert sind am Symbolverarbeitungsansatz und solche, die auf maschinelles Lernen zielen. Nahezu alle Anwendungen Künstlicher Intelligenz beruhen darauf, Techniken beider Abteilungen einzusetzen, oftmals auch zu verbinden. Der Symbolverarbeitungsansatz als technische Extrapolation der kognitiven Nutzung symbolischer Maschinen zielt auf jenen Bereich humaner Intellektualität, in welchem der Algorithmus sowieso schon ein Heimatrecht und sein Heimspiel hat: Das sind geistige Tätigkeiten, die kalkülisierbar sind, für die also Regeln explizit aufgestellt und dann auch abgearbeitet werden können. John Haugland hat diese KI-Technologie ›Good Old Fashioned Artificial Intelligence‹ (GOFAI) getauft.17 Vorherrschend waren die GOFAI Verfahren in den Jahren zwischen 1950 und 1980. Ernüchterungen, die eintreten mussten

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Vom Werkzeugkasten spricht Michaela Lenzen: Künstliche Intelligenz. Fakten, Chancen, Risiken, München 2020. John Haugland: Künstliche Intelligenz – Programmierte Vernunft?, Hamburg 1987, S. 96-100.

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angesichts überzogener Verheißungen dieser symboltechnischen Modellierungen ließen die Euphorie für Künstliche Intelligenz gefrieren und leiteten mindestens zweimal ›Winter‹ der Künstlichen Intelligenz ein.18 Den Talsohlen der KI, geprägt durch Abwanderung von Fördergeldern, Forschungsprojekten, Ingenieursprojekten und öffentlicher Aufmerksamkeit, folgte dann seit circa einem Jahrzehnt ein neuer Aufschwung, diesmal verbunden mit Verfahren des Maschinenlernens durch Künstliche Neuronale Netze, die meist unter dem Stichwort des ›Deep Learning‹ rubriziert werden. Ehe wir einen genaueren Blick darauf werfen, sei vorab zwei Missverständnissen entgegen getreten: Auch wenn wir Symbolverarbeitungsansatz und Maschinelles Lernen hier als unterschiedliche Ausformungen der Modellierung Künstlicher Intelligenz verstehen und sie holzschnittartig verschiedenen zeitlichen Etappen zuordnen, sind maschinelle Lernverfahren mit ihrem Prinzip der Rückkopplung, wie auch die Architektur sogenannter Neuronaler Netzwerke mindestens so alt wie der traditionelle Symbolverarbeitungsansatz und im kybernetischen Diskurs der 1950er Jahre entstanden. Dass erst jetzt damit überraschend effiziente Technologien zu gestalten sind, hat mit einem zusätzlichen Phänomen zu tun: Der ubiquitären Datifizierung in Form weltweiter Vernetzung und des Gebrauches von Plattformen und sozialen Medien, welche überhaupt erst jene umfangreichen Datenmengen (›Big Data‹) erzeugen, auf deren Grundlage Künstliche Neuronalen Netze zu trainieren sind. Es geht um eine Künstliche Intelligenz, die sich als eine ›selbstlernende Form einer Datentechnologie‹ versteht.19

Selbstadaption statt Programmierung? Es gibt eine oft geäußerte, allerdings nicht unproblematische Charakterisierung des Unterschieds zwischen GOFAI und ›Deep Learning‹.20 Während traditionell Computer programmiert werden im Sinne eindeutiger Instruktionen, wie die Maschine ihren Zweck zu realisieren hat, seien die maschinellen

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Zur Geschichte der KI-Winter: Sebastian Schuchmann: Analysing the Prospect of an Approaching AI Winter [online publiziert am 3. Mai 2019]. DOI: https://doi.org/10.1314 0/RG.2.2.10932.91524. Ethem Alpaydin: Machine Learning, Cambridge/MA 2016. So bei Luciana Parisi: Das Lernen lernen oder die algorithmische Entdeckung von Informationen, in: Engemann/Sudmann 2018 (wie Anm. 2), S. 93-116.

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Lernverfahren selbstadaptiv, indem sie anhand von Beispielen lernen Muster zu erkennen, für die sie nicht explizit programmiert wurden. Machen wir noch einmal klar, was ›programmieren‹ bedeutet. Alles in irgendeiner Weise methodisch geordnete Denken wie Rechnen, Argumentieren, Schlussfolgern, Beweisen folgt Regeln, die zumeist auch explizit als Skript vorliegen, gelehrt und gelernt werden und so eine Intersubjektivität dieser Denkweisen stiften: So kann Wissen, so können Problemlösungen sozial geteilt werden – und das schon seit Jahrhunderten. Algorithmen sind die radikalste Form des Explizitmachens einer Tätigkeit.21 Algorithmen gehören also nicht exklusiv dem maschinellen Bereich an, sondern sind die am weitestgehend ausbuchstabierte Form einer Problemlösung, unabhängig davon, ob das Problem durch Menschen, Maschinen oder eine Interaktion beider gelöst wird. Das Programmieren ist jenes Teilgebiet der Algorithmik, bei dem es darum geht Instruktionen für Tätigkeitsverläufe maschinenrealisierbar zu codieren. Doch es gibt eine Fülle elementarer Erkennungsleistungen von erstaunlicher Treffsicherheit, die gerade nicht dadurch gewährleistet sind, dass dabei Regeln gefolgt wird. Wenn mitten im Gedränge das Gesicht einer Nachbarin entdeckt wird, wenn anhand der Stimme ein Anrufer zu erkennen ist, wenn Objekte zu identifizieren, ihre Entfernungen voneinander abzuschätzen sind: bei all dem geht es um Wahrnehmungssituationen in denen es möglich ist – oft sekundenschnell – etwas zu erfassen, obwohl es zugleich unmöglich ist dafür Merkmale explizit anzugeben. Haben wir ein Vokabular, um die unendliche Vielfalt von Stimmen, die Differenzen zwischen Gesichtern zu beschreiben? Nahezu untrüglich können wir Katzen und Hunde unterscheiden, doch wissen wir auf Anhieb, was genau deren Verschiedenheit ausmacht? Ob ein Gesicht Freude oder Zorn signalisiert, erfassen wir schnell. Doch was an den Gesichtszügen macht sie jeweils zum Anzeichen bestimmter Emotionen? Es sind solche Fähigkeiten in der Gesichts-, Bild- und Spracherkennung, die den Ausgangspunkt bilden für maschinelle Lernverfahren. Während GOFAI ausgerichtet ist am Vorbild formaler Zeichenmanipulation gemäß expliziten Regeln, geht das Maschinenlernen aus von der Aisthesis impliziter Mustererkennung in Wahrnehmungsdaten, deren Bildungsregeln nicht explizit gegeben sind. Vielmehr wird das System durch Beispiele, wenn man

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Zur Rolle von ›Explikation‹ vgl. Christoph Ernst: Explikation und Schema. Diagrammatisches Denken als Szene medialen Handelns, in: Trial and Error. Szenarien medialen Handelns, hg. v. Markus Rautzenberg und Andreas Wolfsteiner, Paderborn 2014, S. 109-130.

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so will: durch empirische Erfahrung induktiv trainiert Muster aufgrund statistischer Verfahren zu erkennen, indem es aus den Beispielen die für Klassifizierungsleistungen entscheidenden Merkmale extrahiert und dann – wenn die Trainingsphase abgeschlossen ist – auf neue Inputdateien wiederum anzuwenden und die gewünschte Ausgabefunktion zu liefern vermag.22 Da dies mit Hilfe der Architektur Künstlicher neuronaler Netze geschieht, deren technischer Kunstgriff darin besteht, zwischen Input und Output ›verborgene‹ Zwischenschichten einzuziehen, die jeweils unterschiedliche Aspekte am ›Wahrgenommenen‹ sondieren, bleibt auch verborgen, aufgrund welcher Merkmalsauswahl ein System seine Entscheidung (Katze oder Hund?) jeweils fällt. Die interne maschinelle Selektion bleibt implizit. Allerdings sind wiederum Algorithmen konstruierbar, die das implizit Verborgene in den Gewichtungen der Zwischenschichtungen technisch zutage fördern können. Dabei bleibt grundlegend: Algorithmen und Maschinenlernsysteme haben keine Augen. Es sind also gerade nicht Formen von Sensortechnologie, welche die Dimension des Wahrnehmens eines Musters gewährleisten. Und doch müssen wir uns – im übertragenen Sinne – die maschinellen Lernverfahren in Analogie zu einer Art von Mikroskop oder Teleskop denken,23 als ›algorithmische Linsen‹, die verarbeiten, was Menschenaugen überhaupt nicht oder kaum zugänglich ist. Diese Daten-Linsen allerdings nehmen nichts wahr im humanen Sinne von ›Sehen‹, sondern werten statistisch Daten aus. Diese Form der Datenauswertung im maschinellen Lernen und alle damit verbundenen Prozesse sind – und das ist für uns entscheidend – als diagrammatische Operationen zu kennzeichnen. Mit ›diagrammatisch‹ ist eine aisthetische Komponente aufgerufen beziehungsweise zumindest angedeutet. Diagramme – sofern sie kognitiv in menschlichen Wissenspraktiken eingesetzt werden – nutzen Raumrelationen als Medium von Denkvollzügen.24 Intellektuelle Zusammenhänge werden mit Hilfe räumlicher Verhältnisse dargestellt 22 23

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Vgl. Shai Shalev-Shwartz/Shai Ben-David: Understanding Machine Learning. From Theory to Algorithms, New York 2014. https://doi.org/10.1017/CBO9781107298019. Auf diese optische Analogie verweist Matteo Pasquinelli: How a Machine Learns and Fails. A Grammar of Error for Artificial Intelligence, in: Spheres. Journal of Digital Cultures 20 (2019), URL: https://spheres-journal.org/contribution/how-a-machine-learns-a nd-fails-a-grammar-of-error-for-artificial-intelligence/ [11. Januar 2022]. Vgl.Sybille Krämer: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016, S. 65-67. – Jan Wöpking: Raum und Wissen. Elemente eines epistemischen Diagrammgebrauches, Berlin 2016.

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und vor allem auch: bearbeitet. Wenn wir nun im Anschluss an Adrian Mackenzie maschinelle Lernsysteme als ›diagrammatische Maschinen‹ bezeichnen:25 was bedeutet diese Diagrammatizität?

Mensch-Maschine-Interaktion in der Konstruktion von maschinellen Lernsystemen Kommen wir zurück auf die Redeweise von der ›Selbstadaption‹ beim Deep Learning, auf das Selbsterlernen statt Programmiertwerden. Die Idee, dass Programmierung und damit menschliche Instruktion wegfalle und stattdessen die Maschine selbst die Regeln ihrer Operationen generiere, ist ein Missverständnis, wenn nicht gar ein Mythos. Denn gerade im Maschinenlernen sind menschliche Aktivitäten für die formierende Ausbildung der Systeme unabdingbar; ohne den Einsatz menschlicher Instrukteure lernt die Maschine nichts – allerdings verläuft deren Arbeit anders als beim herkömmlichen Programmieren. Es wird generell zwischen überwachtem und unüberwachtem Lernen unterschieden.26 Anders als der Terminus ›unüberwacht‹ suggeriert, vollzieht sich in beiden Formen ein umfangreiches Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine. Das ›überwachte Lernen‹ ist die üblich eingesetzte Technik. Auf die Bilderkennung bezogen: Der Maschine werden Bilder, die jeweils mit einem Namen/Begriff annotiert sind, präsentiert. Dieser gekennzeichnete Datensatz ist überaus umfangreich: Ingenieure der Maschinenintelligenz sprechen geradezu vom ›Datenhunger‹ solcher Verfahren,27 welcher ein ernst zu nehmendes Ressourcenproblem bildet. Die Rolle des annotierten Datensatzes teilt sich auf in Daten für die Trainingsphase und solche für die Prüfphase. In der Trainingsphase selektiert die Maschine sukzessive die Parameter der Bild- beziehungsweise Objekterkennung und bildet mit diesen Parametern ein Modell. Es ist klar, dass alle den dargebotenen Trainingsdaten impliziten Vorurteile und Diskriminierungen – schließlich sind diese Daten ihrerseits Resultat menschlicher Praktiken – im

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Adrian Mackenzie: Machine Learners. Archeology of Data Practice, Cambridge/MA 2017. Vgl. LeCun/Begio/Hinton 2015 (wie Anm. 2). Vgl. Marcus Grary: Deep learning. A critical Appraisal [publiziert am 2. Januar 2018], Computer Science, URL: https://arxiv.org/abs/1801.00631 [11. Januar 2022].

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erlernten Modell der Maschine adaptiert, sozusagen: widergespiegelt werden. Das Problem der den Lernalgorithmen impliziten Ungleichbehandlungen und Herabwürdigungen – etwa bei der Beurteilung von Kreditwürdigkeit oder der Sichtung von Bewerbungsunterlagen – ist offensichtlich geworden und wird vielfach debattiert.28 In der Testphase wird dieses Modell anhand von der Maschine noch unbekannten Inputdaten überprüft und zwar so lange, bis menschliche Instrukteure entscheiden, dass der Lernprozess nun zu stoppen sei, weil ein Optimum in der Klassifizierungsleistung erreicht ist. Wie sehr die ›selberlernenden Systeme‹ zehren von einer Mensch-MaschineInteraktion, macht trivialer Weise die von Menschenhand erfolgende Kennzeichnung der Trainingsdaten klar. Angesichts des immensen Umfangs der Datensätze gelingt dies nur, weil Internetnutzerinnen und Internetnutzer als verteilte menschliche Intelligenz einbezogen werden, um mit ihren Daten die Maschinenintelligenz zu trainieren – sei es freiwillig wie bei den Heerscharen von Clickworkern, die über Crowdsourcingplattformen vermittelt werden29 oder unfreiwillig im Zuge des alltäglichen Nutzerverhalten auf Plattformen im Netz. Es ist die Praxis des ›ubiquitous computing‹, welche mit den durch sie anfallenden großer Datenmengen überhaupt erst die Voraussetzung dafür schafft, dass maschinelle Lernverfahren durch Training entwickelt werden können. Die Aktivität von Menschen wird dabei eingebunden in »distribuierte, hybride Mensch-Maschine-Rechennetzwerke, die im Ganzen die Intelligenzleistung vollbringen« wie Rainer Mühlhoff feststellt.30 Er hat diese Konstellation eines ›human-machine-computing‹ soziologisch untersucht und als »medientechnologisches Dispositiv der menschengestützten Künstlichen Intelligenz« ausgewiesen«.31 Ein eindrückliches Beispiel unfreiwilliger Annotierungsarbeit von Internetnutzern sind die ReCaptcha-Verfahren, bei denen wir zeigen müssen ›kein Roboter zu sein‹, indem wir auf Bildern Objekte zu identifizieren haben, so dass diese ›gelabelten‹ Bildobjekte fortan als Trainings- und Testdaten für das Maschinenlernen eingesetzt werden

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Vgl. Safiya Noble: Algorithms of Oppression. How Search Engines Reinforce Racism, New York 2018. – Virginia Eubanks: Automating Inequality. How High-Tech Tools Profile, Police, and Punish the Poor, New York 2018. Vgl. Rainer Mühlhoff: Menschengestützte Künstliche Intelligenz. Über die soziotechnischen Voraussetzungen von ›deep learning‹, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft (zfm) Bd. 21, H 2 (2019), S. 56-64, hier S. 62f. Mühlhoff 2019 (wie Anm. 29), S. 57. Mühlhoff 2019 (wie Anm. 29), S. 63.

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können. Die verteilte menschliche Intelligenz, inklusive der darin enthaltenen praktischen Diskriminierungen, die den Trainingsdaten implizit ist, wird beim überwachten Lernen durch die Maschine extrahiert und in Form der sukzessiven Anpassung ihres Lernalgorithmus gleichsam verkörpert. Beim unüberwachten Lernen werden zwar die von der Maschine aufzufindenden Strukturen und Objekte nicht vorgegeben, vielmehr soll die Maschine selbst nach auffälligen Korrelationen, Mustern und ›Clustern‹ im Datenmaterial suchen: So etwa wenn bei Kreditkartenbenutzern unbekannte Anomalien auftreten, so dass aufgrund dieser Abweichung vom normalen finanziellen Verhalten ein Kreditkartenbetrug vermutet werden kann; oder wenn aus Häufigkeitsverteilungen von Worten in tonangebenden Medien Zukunftstrends extrapoliert werden. Klar aber bleibt, dass auch hier aus den vielen möglichen Korrelationen, die Maschinen entdecken können, es menschliche Entscheidungen sind, die darüber befinden, welche der ermittelten Muster überhaupt von Interesse sein können. Dass und in welcher Weise menschliche Aktivität und Entscheidungen grundlegend sind für die Technik maschineller Lernverfahren kann anhand der Backpropagation, der auf Rückkopplung beruhenden Fehlerrückmeldung erläutert werden. Denn dieses Prinzip bildet geradezu das Herzstück maschineller Lernverfahren mit Künstlichen neuronalen Netzen.32

Die konstitutive Rolle des Fehlers in der ›Fehlerrückführung‹ Vorab ist festzuhalten: Künstliche Neuronale Netze versuchen nicht neurophysiologische Vorgänge zu imitieren. Sie sind vielmehr in ihrer spezifischen Schichtungsarchitektonik ohne biologisches Vorbild; auch das Grundprinzip der Fehlerrückmeldung etwa ist neurobiologisch unplausibel.33 Allerdings ist uns die konstruktive Rolle des Feedback in sozialen und technischen Praktiken wohlvertraut: Das Diktat in der Schule, das mit markierten Fehlern und Korrekturen den Schülerinnen und Schülern zurückgegeben wird oder die

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Vgl. Yann LeCun u.a.: Backpropagation Applied to Handwritten Zip Code Recognition, in: Neural Computation 1 (1989), S. 541-551. Y. Bengio u.a.: Towards Biologically Plausible Deep Learning [überarb. Version vom 9. August 2016], Computer Science, URL: https://arxiv.org/abs/1502.04156 [11. Januar 2022].

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Fahrstuhltür, die sich wieder öffnet, wenn Hand oder Bein dazwischen geraten, sind Beispiele für eine optimierende Rolle des Feedback. Doch nirgendwo kommt der Backpropagation – nicht einfach als Rückmeldung eines Ergebnisses, sondern als Rückmeldung der Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses – so große Bedeutung zu, wie im maschinellen Lernen. Die Aufgabe eines Künstlichen Neuronalen Netzes besteht darin auf einen bestimmten Input hin einen erwünschten Output zu liefern, also eine mathematische Funktion aufzubauen, die eine Eingabe auf die angezielte Ausgabe abbildet und dies in einem von Menschen unterstützten Verfahren von ›Versuch und Irrtum‹. Das Künstliche Neuronalen Netz besteht aus Verbindungen von in Schichten angeordneten Neuronen, die unterschiedlich gewichtet sind, entsprechend dem jeweils angezielten Output. Diese Gewichtungen verändern sich, wenn beim Lernen der Algorithmus optimiert wird. Von der Anzahl der verborgenen Zwischenschichten hängt die Komplexität und Qualität der erlernten Leistungen ab. Auf diese Anzahl alleine bezieht sich der Begriff der ›Tiefe‹ im Deep Learning. Ein Künstliches Neuronales Netz zu trainieren heißt, dass eine externe Lehrperson den Output, den das Netz anlässlich seines Inputs ausgibt – also errechnet hat – mit dem gewünschten Output vergleicht und die jeweilige Abweichung als Fehlerfunktion an das System zurückgemeldet. Woraufhin dieses die Gewichtung seiner einzelnen Neuronen verändert, also verstärkt oder abschwächt – und dies so lange bis die Gewichte der Neuronen und ihrer Verbindungen so justiert sind, dass eine optimale Klassifizierung erreicht wird und die Trainings- und Prüfphase damit beendet ist. Den Ausgangspunkt bildet zumeist eine Zufallsgewichtung der Neuronenverbindung, die erst im Zuge des Lernprozesses korrigiert und im Hinblick auf die erwünschte Zielfunktion adaptiert wird. Um ein extrem vereinfachtes Beispiel zu geben: Ein System soll auf Bildern Katzen von Hunden unterscheiden lernen; es verfügt über keine vorab gegebene Beschreibung von Katze und Hund. Wenn etwa eine Katze präsentiert wird, wird die Zufallsgewichtung dafür sorgen, dass das System in den ersten Verläufen willkürlich und in den meisten Fällen falsch entscheidet. Durch Fehlerrückmeldung verändert das System die gewichteten Verbindungen seiner Neuronen graduell in genau jene Richtung, die den Fehler mathematisch kleiner macht. Die Neuronen, welche mit Merkmalen wie zwei Augen, vier Beine, Schwanz und Fell in Zusammenhang stehen, werden mit der Zeit in ihrem Gewicht, wir können auch sagen: in ihrer Bedeutung geschwächt, weil diese Attribute die Tierarten nicht unterscheiden. Dagegen werden Parameter wie die Kopfform, die Schnauzenform, ob Krallen einziehbar sind et cete-

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ra verstärkt. Die Gewichtung drückt aus, welche Relevanz Parameter haben für das Erreichen des angezielten Ausgabewertes. Aufgrund welcher Parameter genau das System seine Entscheidung jeweils errechnet, bleibt allerdings verborgen, weil die Gewichtungen in den verborgenen Zwischenschichten lokalisiert sind. Tatsächlich – und hier kommt wieder die optische Analogie ins Spiel, dass Lernmaschinen wie auf Datensätze gerichtete Mikroskope und Teleskope fungieren – erkennt der Algorithmus Differenzen, die menschlichem Unterscheidungsvermögen prinzipiell nicht zugänglich sind. Die Abbildfunktion von Input auf Output passt sich mit jedem fehlerrückgekoppelten Lerndurchgang immer besser an und mit der Zeit wird bei einem dargebotenen Katzenbild das Ergebnis lauten: 97 % Katze, 3 % Hund und dies ist nahezu das Optimum, das mit den hier arbeitenden stochastischen Verfahren erreichbar ist. Es ist wichtig zu betonen, dass es hier um mathematische, genauer: statistische Verfahren geht. Was wir ›Fehler‹ bei der ›Fehlerrückmeldung‹ nennen ist lediglich die rechnerische Abweichung vom gewünschten Output, die durch das Lernen sukzessive zu minimieren ist. Auf die einfachste Formel gebracht: ›Lernen‹ heißt im Kontext maschineller Lernverfahren, eine numerische Differenz zu verkleinern. Im Ergebnis dieses Lernvorgangs ist dann ein statistisches Modell entstanden. Und das Lernsystem hat – nach Abschluss von Trainings- und Testphase – bei einem gegebenen Input voraus zu sagen, ob der Input in die Verteilung seines statistischen Modells fällt oder nicht.

Diagrammatische Maschinen Doch was bedeutet dieses mathematische Skelett des maschinellen Lernens, wenn es um dessen diagrammatischen Aspekte geht? Und zwar unabhängig der Selbstverständlichkeit, dass jede numerische Operation gründend in ihrer Eigenschaft formale Zeichenmanipulation zu sein, die Minimalstufe einer Aisthesis verkörpert, bei der die exakte räumliche Positionierung/Anordnung von Zeichen zählt, um überhaupt operieren zu können. Um darauf zu antworten, müssen wir auf die ›Natur‹ von Daten zurückkommen. Daten können als Punkte in einem Vektorraum gefasst werden – wobei ›Punkt‹, wie ›Linie‹ und ›Fläche‹ bereits diagrammatische Kategorien bilden. Vektoren sind algebraische Entitäten, deren Eigenart im elementaren Horizont des von Descartes eingeführten Koordinatensystems erläuterbar ist. Anders als in der griechischen Antike, in der die Multiplikation zwei-

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er Strecken eine Fläche und zweier Flächen einen dreidimensionalen Körper ergaben – mehr Dimensionen waren klassisch euklidisch nicht zugelassen – zeigte Descartes indem er das Medium des Koordinatensystems erfand, dass die Multiplikation von zwei Strecken wiederum in einer Strecke resultiert:34 Seine Analytische Geometrie muss das Feld der flächigen Darstellungen und Operationen nicht mehr verlassen. Damit ist die Domäne einer linearen Algebra eröffnet, bei welcher ›Dimensionen zu erhöhen‹ heißt, die Anzahl der Koordinaten zu erhöhen, so dass mit den algebraischen Vektorräumen eine neue Form des Spielens mit Dimensionen (also etwas genuin Räumlichem) eingeführt ist. Die Vieldimensionalität von Vektorräumen bleibt dabei ein formaler, algebraischer, also stets in zweidimensionaler Schreibpraxis darzustellender Sachverhalt. Zurück zum ›Datum‹: Die Affinität zwischen ›ein Datum sein‹ und ›ein Punkt sein‹ zeigt sich schon in der Urszene des Kalenders: Das Datum ist ein identifizierbarer Zeit-Punkt auf der diskretisierten kalendarischen Zeitlinie. Das ist verallgemeinerbar: Ein Datum ist eine Information, die codiert und in (irgend)einem Koordinatensystem skalierbar eingetragen wird. Das Erlernen der Abbildfunktion durch den Algorithmus im maschinellen Lernverfahren wird in dieser datenlogischen Perspektive zu der Suche nach einer Linie, welche die gegebene Punktwolke der Input-Daten so durchquert, dass auf der einen Seite nur die das Modell erfüllenden Objekte sich befinden und auf der anderen Seite diejenigen, die es verfehlen. Bezogen auf den Katzenfindungsalgorithmus: eine Kurve ist zu errechnen, deren Verlauf durch die Punktewolke sich so auskristallisiert, dass auf der einen Seite alle Katzenbilder und auf der anderen Seite dann der Rest der Tierbilder einsortiert ist. Das hier angedeutete ist grobkörnig und soll lediglich einen Aspekt andeuten – unter vielen anderen auch möglichen – welcher auf die implizite Dimension diagrammatischer Räumlichkeit im Maschinenlernen verweist. Adrian Mackenzie hat – wie bisher kein anderer Autor – eine ganze Studie dem Diagrammatischen am Maschinenlernen gewidmet.35 Maschinenlernen ist mehr als eine Methode Künstlicher Intelligenz, mehr als die Entwicklung von Lernalgorithmen: Es ist das Insgesamt bestimmter

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René Descartes: Geometrie, hg. v. Ludwig Schlesinger, Darmstadt 1981 (OA Leipzig 1923). – Zu Descartes’ analytischer Geometrie vgl. Sybille Krämer: Über das Verhältnis von Algebra und Geometrie in Descartes’ ›Géomètrie‹, in: Philosophia Naturalis 26 (1989), S. 19-40. Mackenzie 2017 (wie Anm. 25).

Zur Aisthesis des Maschinenlernens

wissenschaftlicher Praktiken, deren Gravitationszentrum die von Mackenzie als nahezu ›ethnographische Situation‹ beschriebenen Schreiboperationen bilden, die sich um Codes, Gleichungen, Diagramme, Statements sowie Artikel, Power Points und Bilder aller Art gruppieren. Der ›Witz‹ des Maschinenlernen verstanden als eine diagrammatologisch rekonstruierbare Schreibpraxis ist es, dass die Entwicklung von Code, seine Implementierung, wie auch das Schreiben über den Code sich für Mackenzie im selben Raum vollziehen: dem Computerbildschirm.36 Wer könnte – als Studierender, als Ingenieurin, als interessierter Laie – jemals lernen, was Künstliche Neuronale Netze sind, was Deep Learning ist, wenn es nicht die unzähligen schichtengestaffelten Grafiken gäbe, welche ein lernendes Netz visualisieren? Daher spricht Mackenzie konsequent nicht von ›machine learning‹ sondern ›machine learners‹, weil die zu beschreibenden Lernprozesse personale, maschinelle, symbolische Aspekte vereinigen und nur in dieser Interaktion sich ein Maschinenlernen überhaupt vollziehen kann. Allerdings trifft diese ethnographische Diagnose um Schreibpraktiken herum organisiert zu sein, auf ziemlich viele – wenn nicht alle – Wissenschaften zu. Doch Mackenzie wird präziser und spezifischer, denn er analysiert sechs im Maschinenlernen praktizierte und miteinander verbundene diagrammatische Operationen: Vektorisierung, Optimierung, Probabilisierung, Mustererkennung, Regularisierung Propagierung/Verbreitung. Und er betont, dass alle diese Verfahren sich »on the surface« vollziehen.37 Die Oberfläche des Bildschirms bleibt das organisierende Dispositiv und kennzeichnet Maschinenlernen – in unseren Worten – als eine zeitgenössische Entwicklungsstufe der Kulturtechnik der Verflachung. Diese wird mit dem Deep Learning nicht etwa überwunden, sondern gewinnt eine neue Verfahrens- und Verlaufsform. Wir können an dieser Stelle Reflexionen über die Diagrammatizität des Maschinenlernens nicht weiter vertiefen. Die Rekonstruktion Künstlicher Intelligenz – und zwar sowohl des klassischen Symbolverarbeitungsansatzes wie auch des Maschinenlernen – als je unterschiedliche Ausformungen und Entwicklungsstufen einer diagrammatischen Praxis bleibt eine Forschungsaufgabe.

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Mackenzie 2017 (wie Anm. 25), S. xii. Mackenzie 2017 (wie Anm. 25), S. 26.

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Weiß Googles Katzendetektor, dass Katzen nicht flach sind? Einer der Durchbrüche, die das Deep Learning als hoffnungsvolles Verfahren Künstlicher Intelligenz auswies, war etwa 2012 Googles ›Katzendetektor‹.38 Ein Künstliches Neuronales Netz mit einer Milliarde künstlicher Synapsen wurde konstruiert und diesem wiederum zehn Millionen Bilder aus YouTubeVideos vorgesetzt, ohne dass Merkmale angegeben wurden, nach denen zu suchen sei. Nachdem 16000 Prozessoren in 1000 Computern zehn Tage mit den Videos beschäftigt waren, extrahierte das System das Katzenmuster als das am häufigsten erscheinende Objekt in den Videos: ›Googles Katzendetektor‹ war geboren – mit allerdings bescheidenen Anfängen, denn nur in 16 % der Fälle ›entschied‹ das System richtig! Als Impulsgeber nicht nur für die Bilderkennung, sondern gerade auch für die Verbesserung der Spracherkennung war dieses Lernende Netz eine entscheidende Zäsur. Wir kommentieren hier nicht die fast unvorstellbar großen Volumina von Künstlichen Neuronen und Trainingsdaten, welche überhaupt erst den Nährboden abgeben, um dann doch ziemlich bescheidene Ergebnisse zu erreichen. Wir übersehen auch großzügig, dass der Katzendetektor als Beispiel des selbstständigen, also unüberwachten Maschinenlernens gilt, obwohl die zehn Millionen Videos, welche die Trainingsgrundlage bildeten, wahrlich kein unerheblicher menschlicher Beitrag zur Ausbildung seines Katzenidentifizierungspotenzials sind. Wir wollen hier vielmehr zurückkommen zu der diesen Essay motivierenden Frage nach der Aisthesis als Erkenntnispotenzial. Es war Immanuel Kant der entdeckte, dass Raum kein theoretischer Begriff, vielmehr eine Anschauungskategorie ist.39 Und ›Anschauung‹ heißt für ihn nicht einfach: Augen, vielmehr einen Körper zu haben. Denn erst die leibliche Situierung in der Welt stiftet jenes grundlegende Orientierungsraster, das links von rechts, vorne von hinten, oben von unten unterscheidet. Der Körper ist die conditio sine qua non der Anschauung für Kant: Wollen wir einer ›fremden Intelligenz‹ 38

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Eduard Kaeser: Mit Google-Brain auf Katzensuche, NZZ vom 3. April 2014], URL: ht tps://www.nzz.ch/wissenschaft/mit-google-brain-auf-katzensuche-1.18275032 [11. Januar 2022]. Diese Entdeckung erfolgte im letzten vorkritischen Text Immanuel Kant: Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768), in: Immanuel Kant. Vorkritische Schriften bis 1768, hg. v. Wilhelm Weischedel (Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. 2), Frankfurt a.M. 1977, S. 991-1000 (Akademieausgabe: AA 2, 375-383). Vgl. dazu: Krämer 2016 (wie Anm. 24), S. 235-280.

Zur Aisthesis des Maschinenlernens

erklären wo rechts und wo links ist, muss diese mit uns den Anschauungsraum teilen, denn räumliche Orientierung lässt sich – so jedenfalls Kant – nur zeigen, nicht aber begrifflich erklären. Worauf es uns jetzt ankommt ist, dass die Produktivität einer Kulturtechnik der Verflachung eingebettet ist in die dimensionale Komplexität des menschlichen Weltdaseins: Wo immer wir mit artifizieller Flächigkeit umgehen, wissen wir zugleich um deren Differenz zu allem, was nicht flach ist. Googles Katzendetektor weiß weder, dass die Katzenmuster, die er entdeckt flach, noch dass reale Katzen nicht flach sind. Denn Muster zu erkennen, heißt gerade nicht verstehen zu müssen, was die Muster außerhalb ihrer diagrammatischen Relation (etwa gemäß dem Verhältnis von Ähnlichkeit/ Unähnlichkeit) zu anderen Mustern bedeuten. Wenn wir anfangs von einer Schwundstufe der Sinnlichkeit sprachen, die noch jedem formalen Operieren inhäriert, so war dies genau das, was das ›technische Operieren‹ ausmacht: Etwas tun zu können, ohne verstehen zu müssen, was dabei tatsächlich gemacht wird und warum dies überhaupt sinnvoll ist – oder nicht. Dieses ›Tatsächliche‹ und ›Sinnvolle‹, das ist die Einbettung jeglicher Musterexegese in die menschliche Einkörperung in die Welt, die ihn letztlich mit dieser unzertrennlich als ein Stoffwechselwesen verknüpft.

›Quo vadis‹ Künstliche Intelligenz? Halten wir fest: Dass menschliches Denken im Spannungsfeld von Sprachlichkeit und sozialer Kooperation seine hirnphysiologischen Grundlagen überschreitet oder dass höherstufige Wissenspraktiken ohne artifiziellen Zeichengebrauch undenkbar sind, zeigt wie wenig menschliche Intelligenz ›naturbelassen‹ und wie viel diese symbolisch-technisch mediatisiert und sozial konstituiert ist. In diesem Sinne gibt es keine ›natürliche Intelligenz‹. Neben dieser symboltechnischen und sozialen Konstitution liegt eine Spezifik menschlicher Intelligenz in ihrer Plastizität und Variabilität; die Spezifik maschineller Intelligenz und der Grund ihrer Effizienz ist ihre Partikularität und Zweckgebundenheit. Diese Partikularität wird überwunden nur im menschlichen Kollektiv, als distribuierte Intelligenz verkörpert sich so etwas wie eine ›generelle Intelligenz‹. Und in dieses Kollektiv können auch technische Verfahren und Maschinen eingebunden werden. Doch nichts an den gegenwärtig eingesetzten Künstliche Intelligenz Methoden kommt heran an die individuelle Plastizität kognitiver Vermögen einzelner

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Menschen und nichts kommt heran an die sozial distribuierte kollektive menschliche Intelligenz. Wo diese distribuierte Intelligenz technisch ›angezapft‹ oder unterstützt wird, resultiert das wiederum in Lernverfahren und Lernalgorithmen, die sehr spezifische Zwecke verfolgen. Überdies ist klar, dass Termini aus dem Funktionskreis menschlichen Handelns und Fühlens für Menschen und für Maschinen jeweils anderes bedeuten. Menschliches Lernen ist nicht die Berechnung einer Klassifizierungsoder Vorhersagewahrscheinlichkeit, welche im Deep Learning den Algorithmen antrainiert wird. Kinder verstehen schon nach zwei bis drei Bildern den Unterschied von Katze und Hund. Und sie verstehen ziemlich schnell, dass ein Katzenbild nicht die Katze selbst ist, die weich ist, schnurrt und manchmal kratzt. Für die Maschine jedoch wird selbst die reale Katze zum Katzenmuster, weil die Welt der Daten – um es metaphorisch zu sagen – das ›Flachland‹ diagrammatischer Relationierungen ist. Das alles schmälert nicht die immensen Errungenschaften Künstlicher Intelligenz für Alltag und Wissenschaft und das digitale Leben überhaupt. Aber es befreit die Künstliche Intelligenz vom Damoklesschwert des Mythos eine den Menschen übertreffende universale Superintelligenz zu sein oder zu gebären. Die Probleme, Gefahren und Risiken, die von der alltäglichen, prosaischen Künstlichen Intelligenz ausgehen, liegen auf einem anderen Feld: Es sind die mit der Datifizierung, mit den Big Data Verfahren einhergehenden Probleme der Datenmonopolisierung, der Datenmissbräuche aller Art. Fragt man, was – unabhängig der vielen einzelnen Soft- und Hardware Fortschritte – der Grund für die Leistungen der ›prosaischen Künstlichen Intelligenz‹, also der konkreten Spammail-, Übersetzungs-, Spracherkennungsprogramme etc. ist, so liegt dieser weniger in bestimmten technischen Innovationen, sondern in dem Umstand, dass die Welt sich in einem Datenuniversum maschinenlesbar verdoppelt: Die Welt ist in großen Portionen ihrer Vergangenheit (kulturelles Erbe!), wie in ihren Jetztzuständen und Ereignissen ein maschinenlesbares Datenuniversum geworden. Was immer es an möglichen Korrelationen zwischen diesen Daten gibt – und das ist ziemlich viel und birgt manche unerwartete Überraschung – kann im Prinzip von Maschinen, kaum aber von menschlichen Augen und Hirnen aufgespürt werden. Künstliche Intelligenz stellt – metaphorisch ausgedrückt – Mikroskope und Teleskope für dieses Datenuniversum bereit.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien  aus einer technikgenetischen Perspektive Christoph Richter/Heidrun Allert »The aesthetic problem is not at all about beauty. It is about the experience of a common world and who is able to share this experience.«1

Digitale Technologien und Soziale Medien bestimmen in einer immer umfassenderen Weise was und wie wir wahrnehmen. Newsfeedalgorithmen legen fest, welche Beiträge wir auf Plattformen wie Instagram, Twitter und Facebook in unserem Newsfeed angezeigt bekommen. Algorithmen zur Bilderkennung katalogisieren die entsprechenden Bildbestände und regeln damit, was such- und auffindbar ist. Automatisch generierte Nutzermodelle dokumentieren unsere Verhaltensmuster, um hieraus auf unsere Präferenzen und Interessen zu schließen. Filter und Bildbearbeitungsprogramme machen es uns möglich die aufgenommenen Fotos nachzubearbeiten, während Bildstabilisatoren bereits bei der Erstellung der Aufnahme mögliche Verwacklungen reduziert haben. Kompressionsalgorithmen und standardisierte Datenformate schließlich ermöglichen den reibungslosen Datenaustausch. In dem Maße, in dem diese Technologien zu einem integralen Bestandteil unserer kulturellen Alltagspraktiken geworden sind, erschöpft sich der Umgang mit ihnen nicht mehr in einem zweckrationalen Gebrauch.2 Vielmehr sind wir 1

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Jacques Rancière/Mark Foster Gage: Politics Equals Aesthetics. A Conversation between Jacques Rancière and Mark Foster Gage, in: Aesthetics Equals Politics. New Discourses across Art, Architecture, and Philosophy, hg. v. Mark Foster Gage, Cambridge/ MA 2019, S. 9-25, hier S. 10. Zum Beispiel Tarleton Gillespie: The Relevance of Algorithms, in: Media Technologies. Essays on Communication, Materiality and Society, hg. v. Tarleton Gillespie, Pablo J. Boczkowski und Kirsten A. Foot, Cambridge/MA 2014, S. 167-194. – Lucas D. Introna:

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selbst zu einem Gegenstand dieser Technologien geworden, die sich ein ›Bild‹ von uns machen, uns modellieren und adressieren. Soziale Medien wie Instagram, Twitter oder Facebook agieren in diesem Sinne »as performative intermediaries that participate in shaping the worlds they only purport to represent.«3 Indem digitale Technologien und Soziale Medien Einfluss darauf nehmen was und unter welchen Bedingungen für uns sicht-, hör- oder in anderer Weise erfahrbar und damit letztlich auch denk-, sag- und artikulierbar wird, sind sie Teil jenes ästhetischen Problems, auf das Jacques Rancière in dem diesem Beitrag vorangestellten Zitat hingewiesen hat. Das ästhetische Problem, um das es hier geht, ist insofern zu allererst ein politisches. Es bezieht sich auf die Frage nach der ›Partitionierung des Erfahrbaren‹, dem Aufbau einer sinnlich erfahrbaren Ordnung als Grundlage für die Teilhabe an einer gemeinsamen Welt und den sich hierin vollziehenden Formen der In- und Exklusion.4 Während in der Diskussion um eine ›Ästhetik digitaler Medien‹ weitgehende Einigkeit darüber zu bestehen scheint, dass digitale Technologien und Soziale Medien »eine Wirkkraft [entfalten], welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägt«,5 ist weniger klar, wie diese ›Wirkkraft‹ zu verstehen und wo sie zu verorten ist. Ist das, was für uns im Umgang mit Digitalen Medien wahrnehm- und erfahrbar wird, vor allem bestimmt durch die technischen Artefakte oder ist es unser Umgang mit diesen Technologien, der festlegt, was für uns sicht-, hör- oder in anderer

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Algorithms, Governance, and Governmentality. On Governing Academic Writing, in: Science, Technology, & Human Values 41 (2016), S. 17-49. DOI: https://doi.org/10.1177/ 0162243915587360. – Jonathan Roberge/Robert Seyfert: Was sind Algorithmuskulturen?, in: Algorithmuskulturen – Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit, hg. v. Robert Seyfert und Jonathan Roberge, Bielefeld 2017, S. 7-40. Taina Bucher: If…Then – Algorithmic Power and Politics, New York 2018, hier S. 1. Jacques Rancière: The Politics of Aesthetics, London 2004. Sybille Krämer: Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun?, in: Medien Computer Realität – Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, hg. v. Sybille Krämer, Frankfurt a.M. 1998, S. 9-26, hier S. 14. – Vgl. auch Benjamin Jörissen: Digital/kulturelle Bildung – Plädoyer für eine Pädagogik der ästhetischen Reflexion digitaler Kultur, in: where the magic happens – Bildung nach der Entgrenzung der Künste, hg. v. Torsten Meyer, Julia Dick, Peter Moormann und Julia Ziegenbein, München 2016, S. 63-74. – Kristin Klein: Ästhetische Dimensionen digital vernetzter Kunst: Forschungsperspektiven im Anschluss an den Begriff der Postdigitalität, in: kubi-online (2019), URL: https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-dimensionen-digital -vernetzter-kunst-forschungsperspektiven-anschluss-den-0 [2. Januar 2021] DOI: https ://doi.org/10.25529/92552.527.

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Weise erfahrbar wird? Diese Frage stellt sich insbesondere bei all jenen digitalen Technologien, in denen, wie in Sozialen Medien, die Produktion und Verarbeitung von Daten ineinander verschränkt ist, in denen das Ergebnis der Berechnungen, das, was wahrnehm- und erfahrbar wird, immer auch abhängig ist von der sich ständig verändernden Datenbasis, die erst im Gebrauch eben dieser Technologien entsteht.6 So basiert etwa das, was in meinem Feed auf Instagram sichtbar wird, in unhintergehbarer Weise sowohl auf den encodierten algorithmischen Entscheidungen der Entwicklerinnen und Entwickler als auch auf meinem und dem Verhalten der anderen Anwenderinnen und Anwender sowie den hieraus resultierenden Daten. Hieran knüpft dann auch die Frage an, ob sich das Verhältnis von Mensch und Technik, so wie es sich in Sozialen Medien realisiert, in grundlegender Weise von anderen Technologien unterscheidet und sich somit auch die Frage nach einer spezifischen Ästhetik, im Sinne der In- beziehungsweise Exklusion spezifischer sinnlicher Erfahrungshorizonte und -modi, stellt. Um der ›konstitutiven Verwicklung‹ von Mensch und Technik Rechnung tragen zu können und technik- wie auch sozialdeterministische Positionen zu überwinden, hat sich die Diskussion um digitale Technologien und Soziale Medien sowohl in den Sozial- und Kulturwissenschaften wie auch in der Pädagogik zunehmend auf soziomaterielle Theorieangebote gestützt, die die ›Wirkkraft‹ (digitaler) Technologien weder in den Dingen noch in den menschlichen Akteuren, als vielmehr in einem performanten Beziehungsgeflecht verorten.7 Entsprechende Analysen haben einerseits deutlich gemacht, dass die Entwicklung digitaler Technologien kein neutraler Prozess ist, sondern, dass es sich bei der Entwicklung von Soft- und Hardware um eine komplexe kulturelle Praktik handelt, die Einfluss hat auf die eingesetzten Mittel

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Zum Beispiel Wanda J. Orlikowski: Sociomaterial Practices. Exploring Technology at Work, in: Organization Studies 28 (2007), S. 1435-1448. DOI: https://doi.org/10.1177/017 0840607081138. – Gillespie (wie Anm. 2), S. 167-194. Zum Beispiel Orlikowski (wie Anm. 6), S. 1435-1148 – Tara Fenwick/Richard Edwards/Peter Sawchuck: Emerging Approaches to Educational Research. Tracing the Sociomaterial, Milton Park 2011. – Dubravka Cecez-Kecmanovic/Robert D. Galliers/ Sue Newell/Richard Vidgen: The Sociomateriality of Information Systems. Current Status, Future Directions, in: MIS Quartely (#3) 38 (2014), S. 809-830. DOI: https://do i.org/10.25300/MISQ/2014/38:3.3. – Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl: Einleitung. Materialität in Kultur und Gesellschaft, in: Materialität – Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, hg. v. Herbert Kalthoff, Torsten Cress und Tobias Röhl, Paderborn 2016, S. 11-41.

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und Methoden wie auch auf die als legitim erachteten Ziele.8 Anderseits wurde es möglich zu zeigen, wie wesentliche Qualitäten digitaler Technologien, wie etwa die ›Originalität‹,9 ›Anonymität‹10 oder ›Authentizität‹11 von Beiträgen in sozialen Medien das Produkt spezifischer kontextgebundener Anwendungspraktiken darstellen. Weitgehend unbeachtet geblieben ist in dieser Auseinandersetzung aber die Frage nach dem Verhältnis von Entwicklung und Gebrauch.12 Entwicklung und Gebrauch digitaler Technologien stehen in den aktuellen Analysen oftmals unverbunden nebeneinander beziehungsweise bilden jeweils eine mehr oder minder statische Hintergrundfolie, vor der dann entweder die Dynamik eines konkreten Entwicklungsprozesses oder aber die sich kontextspezifisch wandelnden Gebrauchspraktiken diskutiert werden, ohne aber zu beleuchten wie Entwicklung und Gebrauch ineinander verschränkt sind. Zugleich hat gerade die Annahme einer konstitutiven Verwicklung von Mensch und Technik, die Frage nach den spezifischen Qualitäten des Digitalen an den Rand gedrängt. So wurde zum einen postuliert, dass das Besondere digitaler Technologien darin bestünde, dass es sich um ein im Entwicklungsprozess beliebig formbares »material without qualities« handeln würde.13 Zum anderen wurden Konzepte wie Datenbanken,14 Algorith-

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Zum Beispiel Jonas Löwgren/Erik Stolterman: Thoughtful Interaction Design. A Design Perspective on Information Technology, New York 2004. – Rob Kitchin: Thinking Critically About and Researching Algorithms, in: Information, Communication & Society 20 (2017), S. 14-29. Lucas D. Introna: The Enframing of Code. Agency, Original and the Plagiarist, in: Theory, Culture & Society (#6) 28 (2011), S. 113-141. Susan D. Scott/Wanda J. Orlikowski: Entanglements in Practice. Performing Anonymity Through Social Media, in: MIS Quartely 38 (2014), S. 873-893. DOI: https:/ /doi.org/10.25300/MISQ/2014/38.3.11. Zoe Hurley: Imagined Affordances of Instagram and the Fantastical Authenticity of Female Gulf-Arab Social Media Influencers, in: Social Media + Society 5 (2019), S. 1-16. DOI: https://doi.org/10.1177/2056305118819241. Vgl. Peter Nagy/Gina Neff: Imagined Affordance. Reconstructing a Keyword for Communication Theory, in: Social Media + Society 1 (2015), S. 1-9. DOI: https://doi.org/10.117 7/2056305115603385. – Gesa Lindemann: Reflexive Technikentwicklung, in: Kalthoff/ Cress/Röhl 2016 (wie Anm. 7), S. 103-121. Löwgren/Stolterman 2004 (wie Anm. 8), S. 3. Lev Manovich: Database as Symbolic Form, in: Convergence. The International Journal of Research into New Media Technologies 5 (1999), S. 80-99. DOI: https://doi.org/10.117 7/135485659900500206.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

men15 oder Codes16 als generische kulturelle Formen interpretiert, die sich nicht nur in digitalen Technologien realisieren, so dass deren Spezifika letztlich verschwimmen. Besonders deutlich wird dies in jenen Ansätzen, die im Anschluss an die Akteur-Netzwerk-Theorie Entitäten wie Personen, Artefakte oder Zeichen als das Produkt von Operationsketten verstehen17 und damit die Unterscheidung von Kulturtechniken und kulturellen Praktiken auflösen.18 Vor diesem Hintergrund entwickelt der vorliegende Beitrag einen Zugang, der sich der Frage, was in Digitalen Technologien wahrnehm- und erfahrbar wird, über die Verschränkung von Herstellung und Gebrauch digitaler Technologien nähert. Der Beitrag folgt dabei der Vermutung, dass das spezifische ästhetische Moment digitaler Technologien in ihrem prinzipiell ›unvollendeten‹ Charakter begründet ist.19 Ein entsprechender technikgenetischer Zugang verschiebt den Fokus von der digitalen Technologie als einem Produkt auf den Prozess und damit auf »das Vorübergehende in der vorgeschlagenen Lösung«.20 Im Anschluss an die von Christiane Floyd21 entwickelte Konzeption von digitalen Technologien als autooperationalen Formen argumentieren wir, dass sich die Wirkkraft digitaler Medien im eigentümlichen Spannungsverhältnis ihres notwendigerweise unvollendeten Charakters und der kollektiven Erwartung einer durch überdauernde Regeln bestimmten Welt entfaltet. Die Frage danach, was in digitalen Medien wahrnehm- und erfahrbar wird, ist

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Gillespie 2014 (wie Anm. 2), S. 167-194. Introna 2011 (wie Anm. 9), S. 113-141. Zum Beispiel Erhard Schüttpelz: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken, in: Archiv für Mediengeschichte 6 (2006), S. 87-110 – Harun Maye: Was ist eine Kulturtechnik?, in: Zeitschrift für Medien-und Kulturforschung 1 (2010), S. 121-135. DOI: https://doi.org/10.28937/1000106304. Vgl. Dieter Mersch: Kritik der Operativität – Bemerkungen zu einem technologischen Imperativ, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 2 (2016), S. 31-52. DOI: https://doi.org/10.1515/jbmp-2016-0104. Peter Lunenfeld: Unfinished Business, in: The Digital Dialectic. New Essays on New Media, hg. v. Peter Lunenfeld, Cambridge/MA 1999, S. 6-22. Heidi Schelhowe: Interaktion und Interaktivität. Aufforderungen zu einer technologiebewussten Medienpädagogik, in: Jahrbuch Medien-Pädagogik 6 (2007), S. 144-160, hier S. 47. Christiane Floyd: Autooperationale Form und situiertes Handeln, in: Cognitio Humana – XVII. Deutscher Kongreß für Philosophie, hg. v. Christoph Hubig, Leipzig 1997, S. 237-252. DOI: https://doi.org/10.1515/9783050073651. – Christiane Floyd: Developing and Embedding Auto-Operational Form, in: Social Thinking – Software Practice, hg. v. Yvonne Dittrich, Christiane Floyd und Rolf Klischewski, Cambridge 2002, S. 5-28.

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insofern, so die hier vertretene These, wesentlich bestimmt durch die sich im Wechselspiel von Herstellung und Gebrauch manifestierenden Erwartungen an die Funktionsweise der Technologie wie auch ihren angemessenen Gebrauch. Wir versuchen diesen Gedanken anhand verschiedener Verfahren zur Verschlagwortung von digitalen Bildern in Sozialen Medien zu konkretisieren und zu zeigen, dass das, was durch die jeweiligen Technologien wahrnehmund erfahrbar wird, immer schon verwiesen ist auf die kollektiven, aber auch kontingenten Erwartungen der beteiligten Akteure. Der Beitrag eröffnet damit Anknüpfungspunkte für eine Diskussion um die Möglichkeiten einer »anarchischen Praxis«22 wie auch einer hiermit verbundenen ›anarchistischen Ästhetik‹.23

Die kontinuierliche Veränderung von Instagram Bevor wir uns im weiteren Verlauf dieses Beitrags mit der Frage befassen, wie sich die Genese digitaler Technologien im Wechselspiel von Herstellung und Gebrauch konzeptuell fassen lässt, werden wir zunächst am Beispiel von Instagram den provisorischen und unabgeschlossenen Charakter entsprechender technischer Entwicklungen illustrieren. Mit dem Verfassen dieses Beitrags liegt die Veröffentlichung von Instagram fast genau zehn Jahre zurück. Am Tag der Veröffentlichung im App Store wurde Kevin Systrom, Mitgründer und damaliger CEO von Instagram auf dem Technologie-Blog techcrunch mit den Worten zitiert: »I think that communicating via images is one of these mediums that you’re going to see take off over the next few years because of a fundamental shift in the enabling technology.«24 Die zunächst als ausschließlich mobile Anwendung für das iPhone entwickelte und seit 2012 auch auf Android-Geräten verfügbare Social Media Plattform wurde nach Angaben des Unternehmens bereits Mitte 2016 von über 500 22

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Kurt Röttgers: Die Möglichkeit einer an-archischen Praxis, in: Praxis denken Konzepte und Kritik, hg. v. Thomas Alkemeyer, Volker Schürmann und Jörg Volbers, Wiesbaden 2015, S. 51-79. Roger Rothman: Absolutely Small. Sketch of an Anarchist Aesthetic, in: Aesthetics Equals Politics. New Discourses Across Art, Architecture, and Philosophy, hg. v. Mark Foster Gage, Cambridge/MA 2019, S. 169-193. M. G. Siegler.: Instagram Launches with the Hope of Igniting Communication Through Images, TechCrunch [online publiziert am 6. Oktober 2010], URL: https://techcrunch.c om/2010/10/06/instagram-launch/ [2. Januar 2021].

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

Millionen Menschen weltweit genutzt, die im Schnitt täglich mehr als 95 Millionen Fotos und Videos teilen.25 Laut den Ergebnissen der ARD/ZDF Onlinestudie 2019 nutzen mittlerweile insgesamt 19 % der deutschen Gesamtbevölkerung und 59 % der 14 bis 29-Jährigen Instagram mindestens wöchentlich.26 Was aber genau ist Instagram und worin unterscheidet es sich von anderen digitalen Technologien? Folgt man dem Medientheoretiker Lev Manovich,27 so besteht die Besonderheit von Instagram darin, dass zuvor voneinander getrennte Aspekte der fotografischen Kultur, wie die Erstellung, Entwicklung, Bearbeitung, Verbreitung und öffentliche Diskussion von Fotografien auf einer einzelnen, über mobile Endgeräte zugänglichen Plattform integriert wurden: »It allows you to capture, edit, and publish photos, view photos of your friends, discover other photos through search, interact with them (like, comment, repost, post to other networks), enter into conversations with photo authors and others who left comments, create photo collections, change their order etc. all from a single device.«28 Im Sinne einer digitalen Plattform lässt sich Instagram sowohl als ein komplexes technisches Artefakt, das aus miteinander interagierenden und in ein technisches Ökosystem eingebundenen Einzelelementen besteht, wie auch als ein soziotechnisches System verstehen, das neben den technischen Komponenten auch durch spezifische soziale Strukturen und Protokolle gekennzeichnet ist.29 Instagram ist insofern zugleich eine Software, im Sinne eines Konglomerats automatisch verarbeitbarer und aufeinander abgestimmter Algorithmen, ein Netzwerk, in dem sich soziale, kulturelle und ökonomische Beziehungen zwischen menschlichen Akteuren und digitalen Objekten, wie etwa Fotos, Kommentaren, Likes und Hashtags vollziehen, eine strukturierte 25

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Reuters: Instagram’s user base grows to more than 500 million, Reuters Technology News [online publiziert am 21. Juni 2016], URL: https://www.reuters.com/article/us-fac ebook-instagram-users/instagrams-user-base-grows-to-more-than-500-million-idUSK CN0Z71LN [2. Januar 2021]. Natalie Beisch/Wolfgang Koch/Carmen Schäfer: ARD/ZDF-Onlinestudie 2019. Mediale Internetnutzung und Video-on-Demand gewinnen weiter an Bedeutung, in: Media Perspektiven 9 (2019), S. 374-388. Lev Manovich: Instagram and Contemporary Image, net: New York, NY 2016, S. 11ff. Manovich 2016 (wie Anm. 27), S. 11. Vgl. Mark de Reuver/Carsten Sørensen/Rahul C. Basole: The Digital Platform. A Research Agenda, in: Journal of Information Technology 33 (2018), S. 124-135.

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und ständig wachsende Datenbank wie auch eine physische Entität, die sich in mobilen Endgeräten, Serverfarmen und Schnittstellen realisiert. Während sich Instagram, wie Manovich argumentiert hat,30 mit seiner Fokussierung auf mobile Endgeräte und der Integration von Funktionen zum Aufnehmen, Editieren, Verbreiten, Betrachten, Entdecken und Kommentieren zunächst von Fotos, später auch von Videos, deutlich von anderen bildbasierten Technologien unterscheidet, unterliegt Instagram seit seiner Veröffentlichung einer permanenten Veränderung. Diese Veränderungen betreffen nicht nur die wachsenden Nutzungszahlen, den ständigen Strom an Bildern, Videos, Likes und Kommentaren, die Eigentumsverhältnisse und Geschäftsmodelle, sowie die technischen Endgeräte, über die die Anwenderinnen und Anwender mit der Plattform interagieren, sondern auch die Gestaltung der graphischen Benutzungsschnittstelle, den Funktionsumfang und nicht zuletzt die algorithmischen Prozeduren, die darüber entscheiden wer, wann und was auf der Plattform zu sehen bekommt. Der starken Vereinheitlichung und Integration der für Instagram konstitutiven Funktionen steht insofern ein kontinuierlicher Veränderungsprozess gegenüber.31 Obwohl sich der provisorische und unabgeschlossene Charakter von Instagram nicht zuletzt in den regelmäßigen Produktupdates manifestiert,32 bleibt aber zunächst noch offen, wie tiefgreifend diese Veränderungen sind. So geht etwa Katja Gunkel in ihrer Auseinandersetzung mit Instagram davon aus, »dass das strukturgebende Kernprinzip bzw. die relevanten Kernelemente einer Software über die verschiedenen Prozessversionen hinweg stabil bleiben und nicht grundlegend variieren.«33 Demgegenüber versuchen wir im Folgenden anhand der von Instagram bereitgestellten Funktionen zur Suche und Exploration von Beiträgen zu zeigen, dass Produktupdates nicht nur den Funktionsumfang verändern, softwaretechnische Probleme behoben oder die Effizienz der Anwendung gesteigert haben, sondern dass sie auch immer wieder in die grundlegende Logik der Plattform eingegriffen haben. Die Funktionen zur Suche und Exploration von Inhalten auf Instagram sind insbesondere deshalb von Interesse, da sich in ihnen die

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Manovich 2016 (wie Anm. 27), S. 9-18. Vgl. Manovich 2016 (wie Anm. 27), S. 9-18. – K. Gunkel: Instagram-Effekt. Wie ikonische Kommunikation in den Social Media unsere visuelle Kultur prägt, Bielefeld 2018, S. 58-60. Anfang Mai 2020 liegt Instagram bereits in der Version 139.1 für iOS und in der Version 131 für Android vor. Gunkel 2018 (wie Anm. 31), S. 60.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

»Logik der algorithmischen Navigation« realisiert34 und sie hierdurch einen weitreichenden Einfluss auf die Sichtbarkeit von Beiträgen haben.35 Die Möglichkeit, neue Inhalte zu entdecken wurde noch vor der Veröffentlichung der ersten Version als eine wesentliche Entwicklungsaufgabe identifiziert und als ein potentielles Abgrenzungsmerkmal zu anderen Foto-Apps diskutiert.36 Wie der folgende kurze Abriss über die Entwicklung der Navigationsmechanismen auf Instagram zeigt, ist diese Aufgabe auch knapp zehn Jahre später nicht abgeschlossen. Während sich in der ersten Version die Möglichkeiten zur Erkundung von Instagram noch auf die Anzeige der am meisten gelikten Beiträgen beschränkt, wird es mit einem Update Anfang 2011 möglich, die Beiträge mittels ›Hashtags‹ zu verschlagworten und damit auch die Beiträge zur durchsuchen.37 Im Juni 2012 fasst Instagram die Suchfunktion und die Anzeige häufig gelikter Beiträge im ›Exploration‹Tab zusammen. Ab Frühjahr 2014 erfolgt dann die Auswahl der unter diesem Tab angezeigten Inhalte in personalisierter Form. Die Auswahl basiert hierbei nach Angaben von Mike Krieger neben den allgemeinen Trends zusätzlich auf den Beiträgen, die Personen, denen jemand folgt, gelikt haben.38 Im Sommer 2015 erweitert Instagram die Möglichkeiten zur Erkundung von Inhalten um die sogenannten Trends, in deren Kalkulation neben der Popularität eines

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Tarleton Gillespie: #trendingistrending – Wenn Algorithmen zu Kultur werden, in: Seyfert/Roberge 2017 (wie Anm. 2), S. 75-106, hier S. 78. Eine umfassende Darstellung der Veränderungsgeschichte von Instagram würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Eine chronologische Übersicht wesentlicher Updates in der Zeit von 2010 bis 2013 findet sich in der Zusammenstellung von Geoff Desreumaux: The Complete History of Instagram (nur noch archivierte Version verfügbar) [publiziert am 3. Januar 2014], WeRSM, URL: https://web.archive.org/web/2018042000 0738/https://wersm.com/the-complete-history-of-instagram/ [2. Januar 2021]. Eine Dokumentation von Updates neueren Datums findet sich zudem auf dem firmeneigenen Blog von Instagram unter URL: https://about.instagram.com/blog/ [2. Januar 2021]. M. G. Siegler: Distilled From Burbn, Instagram Makes Quick Beautiful Photos Social (Preview), TechCrunch [publiziert am 21. September 2010], URL: https://techcrunch.co m/2010/09/20/instagram/ [2. Januar 2021]. Jennifer van Grove: Instagram Introduces Hashtags for Users & Brands, Mashable [publiziert am 27. Januar 2011], URL: https://mashable.com/2011/01/27/instagram-has htags [2. Januar 2021]. Hashtags werden zugleich aber auch als ein mögliches strategisches Kommunikationsinstrument verstanden, ebd. Josh Constine: Instagram Diverges From Vine By Personalizing Explore Tab, TechCrunch [publiziert am 23. April 2014], URL: https://techcrunch.com/2014/04/23/a mateur-beauty-vs-professional-entertainment/ [2. Januar 2021].

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Hashtags, Ortes oder Benutzeraccounts auch die zeitliche Dynamik mit einfließt.39 Ende 2017 wird es möglich, auch Hashtags zu folgen. Parallel hierzu entwickelt Instagram die personalisierten Empfehlungen unter Einsatz von Verfahren des Maschinellen Lernens kontinuierlich weiter. Die entscheidende Zielgröße ist hierbei nicht mehr, ob ein bestimmter Beitrag einer Person gefällt, sondern wie wahrscheinlich es ist, dass diese Person mit Beiträgen von einem anderen Account interagieren wird.40 Obwohl sich die Funktionen hinter dem Explorations-Tab von Instagram alle als »mögliche Wege durchs Archiv« verstehen lassen,41 wird bei näherer Betrachtung jedoch deutlich, dass die hier zusammengefassten Such-, Empfehlungs- und Trendfunktionen unterschiedlichen algorithmischen Logiken folgen und unterschiedliche Ordnungen implizieren.42 Während Suchfunktionen auf expliziten Anfragen der Anwenderinnen und Anwender basieren und eine entsprechende Auszeichnung der Beiträge, etwa mit Hashtags erfordern, setzen personalisierte Empfehlungsfunktionen eine Modellierung der jeweiligen Person voraus, aus denen auf mögliche Interessen geschlossen werden kann. Trends wiederum erfordern die Erfassung und Modellierung von Verläufen in der Zeit und die Definition einer wie auch immer gearteten Gruppe von Personen, auf die sich ein Trend beziehen lässt.43 Wie die Versionsgeschichte zeigt, sind die Such-, Empfehlungs- und Trendfunktionen erst im Laufe der Zeit entstanden. Mit ihrer Einführung und Weiterentwicklung war insofern immer auch eine Verschiebung der algorithmischen Logiken und hiermit verbunden der (Un-)Sichtbarkeit beziehungsweise der Reichweite von Beiträgen verbunden.44 Während sich die

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Instagram Engineering: Trending on Instagram, Instagram Engineering [publiziert am 6. Juli 2015], URL: https://instagram-engineering.com/trending-on-instagram-b749450 e6d93 [2. Januar 2021]. Ivan Medvedev/Haotian Wu/Taylor Gordon: Powered by AI: Instagram’s Explore recommender system, Facebook Artificial Intelligence [publiziert am 25. November 2019], URL: https://ai.facebook.com/blog/powered-by-ai-instagrams-explore-recommender-s ystem/ [2. Januar 2021]. Gillespie (wie Anm. 34), S. 77. Vgl. Dominique Cardon: Den Algorithmus dekonstruieren. Vier Typen digitaler Informationsberechnung, in: Seyfert/Roberge 2017 (wie Anm. 2), S. 131-150. Vgl. Gillespie 2017 (wie Anm. 34), S. 75-106. Die verschiedenen Logiken haben sich dabei nicht sukzessive durcheinander ersetzt, sondern vielmehr neue ›Wege ins Archiv‹ gebahnt, die sowohl aus technischer wie auch aus Sicht der Anwenderinnen und Anwender eng miteinander verwoben sind.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

Sichtbarkeit mittels der Suchfunktion zunächst vor allem über die Auswahl signifikanter Hashtags und die Popularität der Beiträge bestimmt hatte, haben Trends den Fokus auf kollektive Phänomene und die gleichzeitige Mobilisierung vieler Anwender gelenkt. Die auf künstlicher Intelligenz basierenden Empfehlungen wiederum produzieren Sichtbarkeit über die automatische Analyse individueller Interaktionsmuster auf der Plattform. Zugleich, und dies ist der für diesen Beitrag entscheidende Punkt, wird in der Abfolge der unterschiedlichen Versionen von Instagram auch deutlich, dass die Entwicklung neuer algorithmischen Navigationsmechanismen nicht nur neue Wege ins Archiv bahnt, sondern nachhaltige Auswirkungen auf die Struktur und den Inhalt des Archivs selbst hat. Hashtags, Trends und Empfehlungen sind insofern selbst integraler Bestandteil des Archivs, da es sich in seinem Gebrauch, im Teilen, Verschlagworten, Suchen, Liken und Kommentieren von Beiträgen, kontinuierlich transformiert. Die Einführung neuer Navigationsmechanismen verändert nicht nur den Gebrauch, sondern wird auch zum Ausgangspunkt weiterführender Entwicklungen. So eröffnet etwa die Einführung von Hashtags nicht nur eine Möglichkeit zur inhaltlichen Beschreibung und thematischen Einordnung von Beiträgen, sondern bedingt zugleich die Ausbildung entsprechender Ordnungsstrukturen im Gebrauch der Plattform. Die durch die Vergabe von Hashtags produzierten Datenstrukturen werden in Folge zum Ausgangspunkt von analytischen Werkzeugen, die die Anwenderinnen und Anwender bei der Auswahl geeigneter Hashtags unterstützen sollen. Gleichzeitig eröffnen Hashtags auch die Möglichkeit für Kontrollmechanismen, wie etwa dem Blockieren bestimmter Schlagworte, was wiederum Einfluss hat auf die Frage, welche Themen wie auf Instagram verhandelt werden können.45 In ähnlicher Weise dokumentieren auch die auf komplexen Metriken basierenden Trendanalysen nicht lediglich ein vorgängiges Geschehen, sondern werden zum Ausgangspunkt für strategische Überlegungen der Anwenderinnen und Anwender zur Erhöhung der eigenen Sichtbarkeit und zu Referenzpunkten für die Konstitution eines ›Wirs‹, das sich in der Identifikation mit einem Trend oder auch seiner Negation formieren kann.46 Die Einführung von

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Vgl. Magdalena Olszanowski: Feminist Self-Imaging and Instagram. Tactics of Circumventing Sensorship, in: Visual Communication Quarterly 21 (2014), S. 83-95. DOI: h ttps://doi.org/10.1080/15551393.2014.928154 Vgl. Gillespie 2017 (wie Anm. 34), S. 75-106.

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Trends als Navigationsmechnismus lässt sich zudem auch als eine Ausdifferenzierung der zuvor verwendeten Popularitätsmetriken verstehen, die nun durch weitaus komplexere Modelle ersetzt wurden.47 Eine noch engere Verzahnung von Entwicklung und Gebrauch findet sich schließlich bei den personalisierten Empfehlungsmechanismen, da das Nutzungsverhalten der Anwenderinnen und Anwender hier zum unmittelbaren Ausgangspunkt für die Prognose dessen wird, was eine Person in Zukunft interessieren wird. Die aktuell in Instagram realisierten Empfehlungsmechanismen folgen keiner statischen Logik, sondern passen sich im Gebrauch permanent an, indem sie registrieren, welchen ihrer Empfehlungen eine Person folgt und welche sie als irrelevant markiert.48 Neben Hashtags und Metriken zur Bestimmung von Trends ist das sich wandelnde Nutzungsverhalten hiermit schließlich selbst zu einer grundlegenden Datenstruktur von Instagram geworden. Die hier sehr skizzenhaft dargelegte Entwicklung der algorithmischen Navigationsmechanismen auf Instagram macht deutlich wie schwer es ist, ein ›strukturgebendes Kernmerkmal‹ der Plattform zu identifizieren. Dies gilt umso mehr, als sich die Dynamik von Entwicklung und Gebrauch nicht in der Verzahnung von Algorithmen und Datenstrukturen erschöpft, sondern zugleich eingebettet ist in sich wandelnde technische Infrastrukturen wie auch sich diskursiv formierende Erwartungen der Anwenderinnen und Anwender an ein Produkt oder eine Plattform. So greift beispielsweise Instagram seit 2015 auf die Unicorn Suchmaschine von Facebook zurück, wodurch es möglich wurde komplexere Suchanfragen, wie sie etwa für personalisierte Empfehlungen benötigt werden, zu verarbeiten.49 Zugleich ist Instagram auch Gegenstand eines analytischen Diskurses unter den Anwenderinnen und Anwendern über die Funktionsweise wie auch die praktischen Möglichkeiten der Nutzung geworden.50 Hashtags, Trends und Empfehlungen sind insofern nicht nur technische Produkte, sondern zugleich immer auch »kulturelle Ob-

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Instagram Engineering 2015 (wie Anm. 39). Vgl. Medvedev/Wu/Gordon 2019 (wie Anm. 40). Instagram Engineering: Under the Hood. Instagram in 2015, Instagram Engineering [publiziert am 29. Dezember 2015], URL: https://instagram-engineering.com/under-th e-hood-instagram-in-2015-8e8aff5ab7c2 [2. Januar 2021]. Zum Beispiel Manovich 2016 (wie Anm. 27) – Kelley Cotter: Playing the Visibility Game. How Digital Influencers and Algorithms Negotiate Influence on Instagram, in: New Media & Society 21 (2019), S. 895-913. DOI: https://doi.org/10.1177/14614448188156 84.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

jekte«,51 in denen und durch die wir kollektive Bedeutungs- und Erfahrungshorizonte verhandeln.

Der unvollendete Charakter digitaler Technologien Nachdem wir anhand der Entwicklung der Such-, Trend-, und Empfehlungsfunktionen den provisorischen und unabgeschlossenen Charakter von Instagram nachgezeichnet haben, geht es uns im Folgenden darum, die Entwicklungsdynamiken digitaler Technologien auch theoretisch näher zu bestimmen. Wir versuchen dabei zu zeigen, dass der ›unvollendete‹ Charakter digitaler Technologien nicht auf »schlecht gemachte Algorithmen« oder auf mangelnde Kenntnisse der Anwenderinnen und Anwender zurückzuführen ist,52 sondern vielmehr ein konstitutives Merkmal all jener Technologien darstellt, in denen die Produktion und Verarbeitung von Daten ineinander verschränkt ist und die sich infolge dessen als »embedded programs«53 oder auch als »cultural software«54 verstehen lassen. Um der konstitutiven Verwicklung von Mensch und Technik Rechnung zu tragen, ohne dabei aber die Unterscheidung von Kulturtechniken und kulturellen Praxen aufzugeben, folgen wir hierbei der von Christiane Floyd vorgeschlagenen Konzeption von digitalen Technologien als autooperationalen Formen.55 Im Mittelpunkt der Überlegungen Floyds steht das Verhältnis von menschlicher Praxis und digitalen Technologien aus Sicht der angewandten Informatik als Technikwissenschaft.56 Floyd identifiziert hierbei ›Operationen‹ beziehungsweise ›operationale Formen‹ als den zentralen Gestaltungsgegenstand der Informatik, in dem sich die soziale, technische und formale Dimension digitaler Technologien ineinander verschränken. Ihr Verständnis digitaler Technologien ähnelt insofern im Kern jenen kulturwissenschaftlichen Positionen, die Kulturtechniken als »operative Verfahren zum 51 52

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Gillespie 2017 (wie Anm. 34), S. 77. Felix Stalder: Algorithmen, die wir brauchen – Überlegungen zu neuen technopolitischen Bedingungen der Kooperation und des Kollektiven, in: Standpunkte 1 (2017), S. 0-4. Meir M. Lehmann: Programs, Life Cycles, and Laws of Software Evolution, in: Proceedings of the IEEE 68 (1980), S. 1060-1076. Lev Manovich: Software Takes Command, New York, NY 2013, S. 20ff. Floyd 1997 (wie Anm. 21), S. 237-252 u. Floyd 2002 (wie Anm. 21), S. 5-28. Floyd 1997 (wie Anm. 21), S. 240ff.

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Umgang mit Dingen und Symbolen« begreifen.57 Das Konzept der Operation, und hierin liegt zugleich ein wesentlicher Unterschied zu jenen Positionen, die kulturelle Praxis selbst als Operationskette konzipieren,58 verweist für Floyd aber nicht auf einen Prozess oder einen praktischen Vollzug an sich, sondern ist eine Beschreibungskategorie, die sich auf einen Prozess, oder genauer, eine Klasse von Prozessen bezieht.59 Das Machen eines Fotos, das Schreiben eines Tweets oder das Liken eines Beitrags sind dementsprechend konzeptuell zu unterscheiden von der operativen Beschreibung des Foto Machens, des Tweets Verfassens oder des Likens eines Beitrags. Eine Operation ist für Floyd eine zweckgebundene Beschreibung eines sich wiederholenden oder zu wiederholenden performativen Vorgangs. Indem sie Prozeduren in Bezug auf die Gegenstände, die erzeugt oder verändert werden sollen, die Voraussetzungen, unter denen sie durchgeführt werden können, die Wirkungen, die es zu erzielen, die Mittel, die es zu verwenden und die Regeln, die es bei der Durchführung zu beachten gilt, beschreiben, ermöglichen Operationen nicht nur die Benennung, Abgrenzung und Unterscheidung praktischer Vorgänge, sondern auch deren Übertragbarkeit und Reproduktion.60 Ein wesentliches Ziel der Operation ist es, dementsprechend die »Schritte eines Vollzugs so zu charakterisieren, daß ihre Voraussetzungen und Ergebnisse sowie ihre Randbedingungen geklärt sind, um sie wiederholbar und planbar zu machen«.61 Als zweckgebundene Beschreibungen sind Operationen damit aber nicht nur abstrahierte Modelle vergangener Prozesse, sondern zugleich immer auch Vorlage und Orientierungsrahmen für zukünftige Vorgänge. Um als solche wirksam werden zu können, so Floyd weiter, bedürfen die Operationen stets einer Interpretation und einer Anpassung der situierten Vollzüge, an die in der Operation spezifizierten Bedingungen. Operationen sind in diesem Sinne nicht aus sich heraus wirksam, sondern erfordern immer auch einen entsprechenden situativen Kontext, ein »Milieu«,62 in dem ihre Anwendung den beteiligten Akteuren sowohl sinnvoll oder notwendig 57

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Sybille Krämer/Horst Bredekamp: Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die Diskursivierung der Kultur, in: Bild, Schrift, Zahl, hg. v. Sybille Krämer und Horst Bredekamp, Paderborn 2003, S. 11-22, hier S. 18. Zum Beispiel Schüttpelz (wie Anm. 17), S. 87-110. – Maye 2010 (wie Anm. 17), S. 121135. Vgl. Floyd 1997 (wie Anm. 21) S. 237-252. Floyd 2002 (wie Anm. 21), S. 5-28. Floyd 1997 (wie Anm. 21), S. 242. Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich 2 2012.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

erscheint und zugleich praktisch realisierbar ist. So bleibt etwa die Anleitung für das perfekte Selfie, ohne eine geeignete Kamera, ohne die Kenntnis der eigenen ›Schokoladenseite‹, ohne die Fähigkeit eine entsprechende Körperhaltung einzunehmen, aber auch ohne interessiertes Publikum, wirkungslos. Operationen und praktische Vollzüge sind insofern nicht miteinander ident, aber in konstitutiver Weise aufeinander verwiesen. Durch die wiederholte Explikation und Vergegenständlichung der Operationen und ihrer praktischen Umsetzung in situierten Handlungsvollzügen kommt es zur sukzessiven Ausbildung »operationaler Formen« im Sinne einer »Struktur aus möglichen Operationen in einem interessierenden Gegenstandsbereich«.63 Das Spektrum, der sich im Wechselspiel aus abstrahierender Explikation und situativer Interpretation entwickelnden operationalen Formen, reicht dabei von symbolischen Artefakten wie Handlungsanweisungen und Konstruktionsplänen über materielle Instrumente und Werkzeuge, als operativen Mitteln, bis hin zu komplexen Maschinen und Automaten, die die in ihnen realisierte Operationen eigenständig ausführen. Aufbauend auf diesem Verständnis operationaler Formen, fasst Floyd die Entwicklung digitaler Technologien als ein praktisches Vorhaben auf, das darauf ausgerichtet ist »operationale Form [zu] explizieren und als autooperationale Form verfügbar [zu] machen«,64 das heißt operationale Form in einer Weise zu explizieren, die von einem Computer selbstständig prozessiert werden kann. Damit aber eine operationale Form von einem Computer prozessiert werden kann, muss sie in einer formalisierten und interpretationsfreien Weise spezifiziert werden.65 Dieser Prozess der ›operationalen (Re-)Konstruktion‹ umfasst dabei sowohl die Abgrenzung des zu modellierenden Gegenstandsbereichs, die Spezifikation der als relevant erachteten Elemente und Operationen als diskrete und formal beschreibbare Entitäten sowie ihrer Überführung in eine Reihe berechenbarer Funktionen.66 Die vollständige Formalisierung und interpretationsfreie Darstellung der Operation ermöglicht ihre Ausführung durch einen Computer. Zugleich, und hierin unterscheiden sich digitale Technologien von anderen operationalen Formen, erfordert ihre praktische Anwendung immer auch eine ›Informatisierung‹ des in ihnen modellierten

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Floyd 1997 (wie Anm. 21), S. 242. Floyd 1997 (wie Anm. 21), S. 238. Floyd 2002 (wie Anm. 21), S. 5-28. Floys 2022 (wie Anm. 21), S. 5-28.

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Gegenstandsbereichs.67 Digitale Technologien bedürfen insofern eines praktischen ›Milieus‹, das sich in hinreichender Weise selber symbolisch charakterisieren und in eindeutig interpretierbarer Weise darstellen lässt. Autooperationale Formen erschöpfen sich dementsprechend nicht in einem Algorithmus, einer Datenstruktur oder einem Programm, sondern implizieren immer auch eine Beziehung zu jenem praktischen Gegenstandsbereich, auf den sie sich beziehen. In diesem Sinne umfasst etwa die autooperationale Form der oben diskutierten Suchfunktion von Instagram nicht nur einen Suchalgorithmus, der auf einer geeigneten Datenstruktur operiert, sondern auch die Verschlagwortung der Bildinhalte durch die Anwenderinnen und Anwender mittels Hashtags. Digitale Technologien determinieren nicht den praktischen Handlungsvollzug, bestimmen aber, wie dieser zu gestalten ist, damit die Technologie in intendierter Weise funktionieren kann.68 Die von Christiane Floyd vorgeschlagene Konzeption digitaler Technologien bietet die Möglichkeit, diese als Teil einer weitaus umfassenderen Klasse operationaler Formen zu verstehen und sowohl ihre Herstellung wie auch ihren Gebrauch als kulturelle Prozesse zu fassen. Sie macht zudem deutlich, dass operationale Formen zugleich produktiv wie auch reduktiv sind, da sie es einerseits ermöglichen, praktische Handlungsvollzüge in Bezug auf ihre Regelhaftigkeit zu bestimmen und hierdurch Erwartbarkeiten zu schaffen, dabei aber andererseits notwendigerweise von der Einzigartigkeit jedes praktischen Vollzugs abstrahieren und all jene Facetten der Situation negieren müssen, die sie nicht modellhaft fassen können. In Bezug auf autooperationale Formen betrifft dies, so Floyd nicht zuletzt »persönliche Erfahrung ebenso […] wie körperliches Können, subsymbolisches, implizites Wissen, situative Einbindung und emotionaler Umgang mit der Wirklichkeit.«69 Darüber hinaus ermöglicht es die Konzeption der Operation als einer zweckgebundenen Beschreibung aber auch, verschiedene Formen der situativen Einbettung digitaler Technologien und damit einhergehender Prozesse der Technikgenese zu unterscheiden. Die Grundlage einer solchen Unterscheidung ergibt sich dabei aus dem Verhältnis der autooperationalen Form zu ihrem eigenen Gegenstandsbereich, also jenem Teil der Welt, der in ihr modelliert wird. Lässt man die Möglichkeit außen vor, dass der Gegenstandsbereich einer autooperationalen Form selbst formal bestimmt ist, wie etwa die 67 68 69

Floyd 1997 (wie Anm. 21), S. 237-252. Vgl. Floyd 2002 (wie Anm. 21), S. 5-28. Floyd 1997 (wie Anm. 21), S. 244.

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Berechnung eines Kreisumfangs, und beschränkt sich auf praktische Vollzüge als Gegenstandsbereiche autooperationaler Formen, lassen sich diese insbesondere dahingehend unterscheiden, ob sie selbst Teil jenes Gegenstandsbereichs sind, auf den sie sich beziehen, oder nicht. So sind beispielsweise Programme zur automatischen Rechtschreibkorrektur oder zur Bildbearbeitung nicht Teil ihres eigenen Gegenstandsbereichs. Die Anwendung der automatischen Rechtschreibkorrektur verändert aus sich heraus ebenso wenig die Regeln der Rechtschreibung, wie die Anwendung eines Filters einen unmittelbaren Einfluss auf die Kriterien guten oder schlechten Geschmacks hat. Derartige ›gegenstandsbezogene‹ Programme haben insofern einen instrumentellen Charakter,70 als sich in ihnen eine bereits etablierte regelhafte Beziehung innerhalb des Gegenstandsbereichs realisiert. Die Qualität der autooperationalen Form bemisst sich hierbei insbesondere darin, wie gut es gelingt, die für den jeweiligen Anwendungskontext relevanten Entitäten und Beziehungen innerhalb des Gegenstandsbereich zu identifizieren und in formalisierter Weise zu modellieren. Wie bei anderen Instrumenten auch, ist ihre Funktionsfähigkeit im Wesentlichen davon abhängig, ob es den beteiligten Akteuren gelingt, den Anwendungskontext konstant zu halten und insofern den ›technischen Kern‹ der autooperationalen Form gegen äußere Einflüsse abzuschirmen71 beziehungsweise Regeln eines angemessenen oder richtigen Gebrauchs zu institutionalisieren.72 Die Entwicklungsdynamik ›gegenstandsbezogener‹ Programme vollzieht sich entsprechend in einem Wechselspiel aus operationaler Rekonstruktion und einer Abschirmung des technischen Kerns im praktischen Gebrauch. Anders verhält sich die Situation bei jenen autooperationalen Formen, die in ihrem Gebrauch zu einem Teil des Gegenstandsbereichs werden, den sie selbst modellieren, wie bei denjenigen digitalen Technologien, in denen das Ergebnis der Berechnungen, das, was wahrnehm- und erfahrbar wird, die Datenbasis verändert, auf denen diese Berechnungen beruhen. Dieser Typus autooperationaler Formen, den Lehman als ›eingebettete Programme‹ 70

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In der Terminologie von Lehman handelt es sich hierbei um sogenannte ›P-Programme‹, die im Unterschied zu spezifikationsbasierten Programmen auf die Lösung realweltlicher Probleme abzielen. Vgl. Lehman 1980 (wie Anm. 53), S. 1062. Ingo Schulz-Schaeffer: Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit. Die Abschirmung des technischen Kerns als Leistung der Praxis, in: Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, hg. v. Karl Heinz Hörning und Julia Reuter, Bielefeld 2004, S. 108-126. Lindemann 2017 (wie Anm. 12), S. 103-121.

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bezeichnet hat,73 ist dadurch charakterisiert, dass in den entsprechenden digitalen Technologien nicht nur eine operationale Form, sondern auch die Regeln zur Anwendung dieser Form und damit der situative Anwendungskontext in formalisierter Weise modelliert werden.74 Im Unterschied zu einem gegenstandsbezogenen Programm, nimmt ein eingebettetes Programm insofern seinen eigenen Anwendungskontext vorweg, in dem es festlegt, wie der Gegenstandsbereich zu rahmen ist und wie die sich in ihm vollziehenden Interaktionen zu verstehen sind.75 So impliziert etwa die auf Hashtags basierende Suche von Beiträgen auf Instagram die Annahme, dass die vergebenen Schlagwörter, unabhängig von den Intentionen der jeweiligen Anwenderinnen und Anwender, den einzelnen Beitrag in ein bedeutsames Verhältnis zu allen anderen Beiträgen stellen. Es gibt in diesem Sinn keinen Hashtag, der nichts über einen Beitrag auf Instagram aussagen würde; selbst das Fehlen eines Hashtags wird aus Sicht von Instagram zum interpretationswürdigen Ereignis. In ähnlicher Weise unterstellt die Empfehlungsfunktion, dass alle spezifizierten Interaktionen als Indikatoren für die Interessenslage der Anwenderinnen und Anwender zu werten sind. Da ein eingebettetes Programm, wie Lehman argumentiert hat, auf konzeptueller Ebene ein Modell der Konsequenzen seiner eigenen Ausführung beinhaltet, setzt es einen Moment der Antizipation voraus.76 Ein eingebettetes Programm unterstellt damit einen berechenbaren operativen Zusammenhang, der vor seiner eigenen Anwendungen so noch nicht existiert und produziert damit das, was es gleichzeitig zu repräsentieren vorgibt.77 So bilden etwa die Such-, Trend-, und Empfehlungsfunktionen von Instagram nicht bloß eine strukturierte Bildersammlung, populäre Inhalte oder individuelle Interessen ab, sondern erzeugen diese mit. Dieses antizipative Moment ist ein zentrales Charakteristikum eingebetteter Programme, da ein Modell und damit auch eine autooperationale Form nicht vollständig in sich selbst enthalten sein kann 73 74 75

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Lehman 1980 (wie Anm. 53), S. 1060-1076. Floyd 2002 (wie Anm. 21), S. 5-28. Vgl. Klaus Bruhn Jensen: How to Do Things with Data. Meta-data, Meta-media, and Meta-communication, in: First Monday 18 (2013), online unter: http://journals.uic.edu/ ojs/index.php/fm/article/view/4870 [2. Januar 2021]. DOI: https://doi.org/10.5210/fm.v1 8i10.4870. Lehman 1980 (wie Anm. 53), S. 1060-1076. Vgl. Scott Lash: Power after Hegemony. Cultural Studies in Mutation?, in: Theory, Culture & Society 24 (2007), S. 55-78. DOI: https://doi.org/10.1177/0263276407075956 – Bucher (wie Anm. 3).

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

und somit unvollständig sein muss.78 Diese Unvollständigkeit bedingt aber zugleich, dass jede Anwendung des eingebetteten Programms zu einer Veränderung des Gegenstandsbereichs und damit auch der autooperationalen Form selbst führt. So rekonfiguriert jede Suchanfrage auf Instagram letztlich auch die Suchfunktion und jede Interaktion die Empfehlungsfunktion.79 Der von Lunenfeld reklamierte ›unvollendete‹ Charakter digitaler Technologien ist damit nicht mehr nur Folge extrinsischer Veränderungen des Gegenstandsbereichs,80 sondern intrinsisches Moment aller eingebetteten Programme. Da die Veränderung des Gegenstandsbereichs bei eingebetteten Programmen aber durch die digitale Technologie selbst hervorgebracht wird, ist eine Abschirmung des ›technischen Kerns‹ wie bei gegenstandsbezogenen Programmen nicht möglich. Sowohl die Herstellerinnen und Hersteller wie auch die Anwenderinnen und Anwender eingebetteter Programme müssen in Folge dessen ihre Erwartungen an den Gegenstandsbereich wie auch die Funktionsweise der Technologie permanent anpassen, was wiederum neue Gebrauchsformen wie auch Veränderungen der autooperationalen Form nach sich zieht. Wie bei anderen operationalen Formen sind auch bei eingebetteten Programmen die Erwartungen der Herstellerinnen und Hersteller als auch der Anwenderinnen und Anwender in reflexiver Weise aneinander gekoppelt, da die Herstellerinnen und Hersteller antizipieren müssen, wie die Anwenderinnen und Anwender mit der digitalen Technologie umgehen werden, während diese gleichzeitig die Auswirkungen ihrer Interaktion mit der Technologie antizipieren müssen.81 Anders als bei gegenstandsbezogenen Programmen, können hier aber weder die Herstellerinnen und Hersteller noch die Anwenderinnen und Anwender auf einen der Technologie externen Bezugsrahmen zurückgreifen, an dem sie ihre Erwartungen ausrichten können. Die aus dem Wechselspiel von Herstellung und Gebrauch resultierenden Eigenschaften der eingebetteten Programme haben in diesem Sinne einen ›imaginativen‹ Charakter.82 Dass, was durch derartige digitale Technologien 78

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Lehman 1980 (wie Anm. 53), S. 1060-1076 – Theodore Zamenopoulos/Katerina Alexiou: Towards an anticipatory view of design, in: Design Studies 28 (2007), S. 411-436. DOI: https://doi.org/10.1016/j.destud.2007.04.001. Vgl. Bruhn Jensen 2013 (wie Anm. 75), o.S. Lunenfeld 1999 (wie Anm. 19), S. 6-22. Göran Bolin/Jonas Anderson Schwarz: Heuristics of the Algorithm. Big Data, User Interpretation and Institutional Translation, in: Big Data & Society. December (2015), S. 1-12. Nagy/Neff 2015 (wie Anm. 12), S. 1-9.

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wahrnehm- und erfahrbar wird, ist damit im Wesentlichen bestimmt durch die sich in ihnen manifestierenden und aufeinander bezogenen Erwartungen der Herstellerinnen und Hersteller wie auch der Anwenderinnen und Anwender, hinsichtlich einer regelhaften Ordnung der Welt. Da diese Ordnung aber einen imaginativen Charakter hat, besteht das spezifische ästhetische Moment dieser Technologien in der uneinholbaren Erwartung einer berechenbaren Zukunft; in der Illusion, dass sich der Inhalt von Bildern eindeutig festlegen oder unsere Interessen vorausbestimmen ließen. Die ›Partitionierung des Erfahrbaren‹ erfolgt auf Basis dessen, was einer eindeutigen Beschreibung und Ordnung als zugänglich erachtet wird. Die in dieser Ästhetik inkludierten sinnlichen Erfahrungshorizonte und -modi sind bestimmt durch die kollektiven Vorstellungen hinsichtlich der Formalisierbarkeit menschlicher Erfahrungen.

Die Verschlagwortung von Bildern als Beispiel für die imaginative Wirkkraft digitaler Technologien Die Vorstellung, dass die Eigenschaften und damit auch die Wirkkraft digitaler Technologien einen imaginativen Charakter haben, bedeutet nicht, dass die durch diese Technologien hervorgebrachten Wirkungen nicht real seien. Die Such-, Trend- und Empfehlungsfunktionen haben einen effektiven Einfluss darauf, was für uns auf den entsprechenden Plattformen wahrnehm- und erfahrbar wird. Ihre Wirkkraft resultiert aber nicht aus einem vorgängigen Prinzip, das sich in der autooperationalen Form manifestiert, sondern aus ihrer eigenen Anwendung. Derart eingebettete Programme entziehen sich klassischen Machtstrukturen. Sie basieren, wie Scott Lash argumentiert hat,83 nicht auf ›einer Macht von oben‹, die uns eine äußere Ordnung auferlegt, sondern ›einer Macht von unten‹, die aus unserer Interaktion mit der Technologie selbst entsteht. Zugleich verschiebt das Konzept der autooperationalen Form dabei den Fokus aber auch vom Algorithmus als Kristallisationspunkt der Wirkmacht digitaler Technologien und damit einer »power through the algorithm«,84 hin zu jenen dynamischen

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Lash 2007 (wie Anm. 77), S. 55-78. David Beer: Power Through the Algorithm? Participatory Web Cultures and the Technological Unconscious, in: New Media & Society 11 (2009), S. 985-1002. DOI: https://do i.org/10.1177/1461444809336551.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

Prozessen, in denen im Wechselspiel von operativer Rekonstruktion und situierter Anwendung die Technologie ihre Form gewinnt. Dieser Prozess der Formbildung ist somit, über die Argumentation von Lash hinausgehend, immer schon verwiesen auf jene kulturellen Praktiken, die sich durch die Verwendung digitaler Technologien transformieren. Die Idee, dass digitale Technologien die Handlungsoptionen der Anwenderinnen und Anwender ›rahmen‹, verfehlt insofern den hier thematisierten transaktionalen Charakter der Technikgenese, da sie Technik vergegenständlicht. Die Frage, was durch die Digitalisierung einem formalen Kalkül unterworfen und damit berechenbar gemacht wird, ist in Folge dessen immer auch abhängig von der ›Logik‹ der Praxis selbst, also dem praktischen Verständnis der Akteure hinsichtlich ihres Tuns. Aus dieser Perspektive ist es nicht die Technologie und eine sich in ihr manifestierende ›algorithmische Logik‹, die uns dazu nötigt uns einer imaginativen Regel zu unterwerfen, sondern es sind unsere kollektiven Vorstellungen einer effizienten, zielgerichteten und in diesem Sinne kalkulier- und formalisierbaren Praxis, die eine entsprechende Unterwerfung überhaupt erst sinnhaft erscheinen lassen. Ob »Praxis […] als Technik interpretiert und damit ›strategisch‹ vorentschieden« wird,85 ist damit weniger eine akademische als vielmehr eine praktische Frage. Wir versuchen diesen Gedanken im Folgenden anhand von technischen Entwicklungen zur Verschlagwortung von digitalen Bildern in Sozialen Medien zu konkretisieren und zu zeigen,86 dass das, was durch die jeweiligen Technologien wahrnehmund erfahrbar wird, immer schon verwiesen ist auf die kollektiven aber auch kontingenten Erwartungen der beteiligten Akteure. Das erste Beispiel bezieht sich auf die Einführung von Verfahren des ›Social Taggings‹ als Instrument zur anwendergetriebenen Organisation digitaler Daten auf Plattformen wie de.licio.ous und Flickr in der ersten Hälfte der Nullerjahre. Die Einführung von ›Tags‹ als Mittel zur Verschlagwortung digitaler Inhalte, basierte auf dem praktischen Bedürfnis nach einer einfachen Möglichkeit zur Strukturierung der zu diesem Zeitpunkt schnell anwachsenden individuellen wie auch sozial geteilten Informationsbestände.87 Der Ver-

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Mersch 2016 (wie Anm. 18), S. 31. Die Verschlagwortung von Inhalten mittels Tags bietet sich hier als Beispiel an, da die Entwicklung entsprechender anwendergetriebener Ordnungsstrukturen ein wesentliches Novum Sozialer Medien darstellt. Vgl. Alexis Wichowski: Survival of the Fittest Tag: Folksonomies, Findability, and the Evolution of Information Organization, in: First Monday 14 (2009), online unter: https:

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zicht auf ein vordefiniertes Vokabular, die flache, nicht hierarchische Struktur sowie die Möglichkeit der Einführung neuer Begriffe durch die Anwenderinnen und Anwender, markierte dabei einen deutlichen Bruch mit den bis dato existierenden informationstechnischen Ordnungssystemen.88 Dieser Bruch, der sich im Anschluss an die Überlegungen von Scott Lash als Verlagerung der Wirkkraft des Ordnungssystems von oben nach unten beziehungsweise von außen nach innen verstehen lässt,89 führte zu sehr unterschiedlichen Reaktionen in der hieran anschließenden Diskussion im Netz. Wie weit die Erwartungen an die Entwicklung und den praktischen Nutzen entsprechender Technologien dabei auseinander gingen, wird insbesondere in den Aufsätzen von Jill Walker90 und Cameron Marlow, Mor Naaman, danah boyd und Marc Davis91 deutlich. Während für Walker das Taggen den interessantesten Aspekt von Flickr darstellt, da sich hierin für sie der ›ungezähmte‹ Charakter der Plattform manifestiert, der sich der Kontrolle einzelner Personen entzieht, »since there are no predefined rules for how to tag your photos«,92 veranlasst dieser ›Kontrollverlust‹ Marlow et al. zur Suche nach Mechanismen, die es ermöglichen diese Ordnungsstrukturen zu ›zähmen‹. So schlagen sie ein konzeptionelles Modell vor, das die digitalen Ressourcen, die Tags und die Anwenderinnen und Anwender in ein relationales Verhältnis zueinander setzt, so dass deren ›Bedeutung‹ mittels netzwerkanalytischer Rechenverfahren eingehegt werden kann. Zu den intendierten Anwendungsszenarien zählen hierbei neben Such- und Organisationsfunktionen, insbesondere die Identifikation von

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//journals.uic.edu/ojs/index.php/fm/article/view/2447 [3. Januar 2021]. https://doi.org/1 0.1177/1461444809336551. Zum Beispiel Clay Shirky: Folksonomy, Corante [publiziert am 25. August 2004], ht tps://corante.com/many/folksonomy/ [3. Januar 2021]. – Daniel N. Sturtz: Communal Categorization: The Folksonomy. INFO622: Content Representation. Technical Report, Philadelphia 2004, http://helios.mi.parisdescartes.fr/ lomn/Cours/DM/Material/Article s/sturtz-folksonomy.pdf [3. Januar 2021]. Lash 2007 (wie Anm. 77), S. 55-78. Jill Walker: Feral Hypertext. When Hypertext Literature Escapes Control, in: Proceedings of the Sixteenth ACM Conference on Hypertext and Hypermedia – HYPERTEXT ’05, Salzburg 2005, S. 46-53. DOI: https://doi.org/10.1145/1083356.1083366. Cameron Marlow/Mor Naaman/Danah Boyd/Marc Davis: HT06, Tagging Paper, Taxonomy, Flickr, Academic Article, ToRead, in: Proceedings of the Seventeenth Conference on Hypertext and Hypermedia – HYPERTEXT ’06, Odense 2006, S. 31-39. DOI: htt ps://doi.org/10.1145/1149941.1149949. Walker 2005 (wie Anm. 90), S. 48.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

Spam, die Herstellung von Vertrauen, sowie die Erfassung von Trends, Expertinnen und Experten und Meinungsführerschaften.93 Während die Ambiguität der Begriffe in der praktischen Logik von Walker selbst eine grundlegende Ressource darstellt, ist sie für Marlow et al. ein Hindernis, da sie einer weiterführenden technischen Erschließung der annotierten digitalen Ressourcen im Wege steht und in Folge dessen zu vermeiden ist. Die ›Zähmung‹ der Tags mittels algorithmischer Verfahren, das ist das zweite Beispiel, auf das wir hier eingehen möchten, löst die prinzipielle Möglichkeit eines ›Kontrollverlusts‹ aber nicht auf, sondern ist selbst wiederum eingebettet in die kollektiven Erwartungen hinsichtlich einer entsprechenden Regulierung. Verdeutlichen lässt sich dies an der Diskussion um die Verwendung von Hashtags als strategisches Mittel zur Sichtbarmachung von Inhalten auf Instagram. Die Verwendung von Hashtags ist dabei insofern durch Algorithmen reguliert, als sie sowohl Gegenstand von Popularitätsmetriken wie auch von Kontrollmechanismen, wie etwa dem Blockieren der Suchfunktion für Hashtags, die mit bestimmten Inhalten assoziiert wurden, sind. Auch wenn weder die Grundlagen zur Bestimmung der Popularität noch die Umstände, die zum Blockieren einzelner Hashtags führen, vollständig transparent sind, gehört die Auseinandersetzung mit diesen Algorithmen zu den zentralen Diskussionsthemen unter den Anwenderinnen und Anwendern. Wie Kelley Cotter an Onlinediskussionen von Influencerinnen und Influencern herausgearbeitet hat,94 entwickeln die Anwenderinnen und Anwender dezidierte Strategien zum Umgang mit den Algorithmen, wie etwa die Diversifizierung der Hashtags zur Vermeidung eines eventuellen ›Shadowbans‹. Diese Strategien basieren dabei, so Cotter, jedoch auf unterschiedlichen Interpretationen der Funktionsweise von Instagram. Während eine Gruppe ihr Verhalten an der Idee ›authentischer‹ Erfahrungen und Beziehungen orientiert, folgt eine andere Gruppe einem ›unternehmerischen‹ Modell, in dem sie durch die Simulation von Konnektivität Kapital zu generieren versuchen. Die beiden Modelle haben direkten Einfluss auf die Verwendung von Hashtags. Während das erste Modell Hashtags als potentiell bedeutungs- und identitätsstiftend rahmt, sind Hashtags im zweiten Modell allein auf ihre instrumentelle Funktion reduziert.95 Die Bedeutung und Funktion der Hashtags

93 94 95

Marlow/Naaman/boyd/Davis 2006 (wie Anm. 91), S. 31-39. Cotter 2019 (wie Anm. 50), S. 895-913. Im Modell des Personal Brandings werden diese beiden Modelle wiederum miteinander verbunden.

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ist damit aber ungeachtet der von Instagram eingesetzten algorithmischen Verfahren weitgehend abhängig von den kollektiven Erwartungen der Anwenderinnen und Anwender.96 Das dritte Beispiel schließlich bezieht sich auf den Einsatz von automatisierten Verfahren zur inhaltsbasierten Bilderkennung als einem weiteren Ansatz zur Kategorisierung und Verschlagwortung von Bildern in Sozialen Medien. Entsprechende Anwendungsszenarien reichen derzeit von der Überprüfung von Bildern hinsichtlich der Einhaltung der Community Richtlinien, über die Generierung von Vorschlägen für Tags bis zur automatischen Erstellung alternativer Bildbeschreibungen für Menschen mit Sehbehinderungen. Zum Einsatz kommen hierbei vor allem supervidierte Formen des Maschinellen Lernens, bei denen die Algorithmen anhand von ausgewählten Datensätzen trainiert werden, um vorab definierte Bildinhalte zu identifizieren.97 Entsprechende Technologien sind aufgrund eklatanter algorithmischer Fehlentscheidungen immer wieder zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden.98 Im Mittelpunkt dieser Diskussionen steht dabei für gewöhnlich die Frage, wie sich entsprechende Fehler durch bessere Trainingsdaten oder Algorithmen vermeiden ließen. Diese Frage impliziert aber bereits eine technische Vorentscheidung der Praxis, insofern sie unterstellt, dass es prinzipiell möglich sein müsse, eine entsprechende Regel zu finden. In diesem Fall eine Regel, an der sich festmachen ließe, was in einem bestimmten Bild zu sehen oder eben nicht zu sehen ist. Die Suche nach dieser Regel wird hierdurch zu einem kollektiven Ziel, dass sich nicht zuletzt darin artikuliert, dass die Anwenderinnen und Anwender immer wieder aufgefordert werden, sich aktiv am Training der Algorithmen zu beteiligen. So heißt es etwa auf den Hilfeseiten von Flickr: »Like any pattern recognition software, image recognition sometimes makes mistakes. You can remove incorrect tags from your photos to correct the

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Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Instagram keine klare Position zu den von Cotter identifizierten Interpretationen bezieht. Während das Unternehmen nach eigenen Aussagen gegen ›nicht-authentisches‹ Verhalten vorgeht (https://about.instagram.com/blog/announcements/reducing-inauthentic-activity -on-instagram/ [3. Januar 2021], bewirbt es zugleich weiterhin Hashtags als ein strategisches Marketinginstrument (https://business.instagram.com/tips/ [3. Januar 2021]. Vgl. Lev Manovich: AI Aesthetics, Moskau 2019, S. 11f. Zum Beispiel Alex Hern: Flickr Faces Complaints Over »Offensive« Auto-Tagging for Photos, in: The Guardian [publiziert am 20. Mai 2015], online unter URL: https://www. theguardian.com/technology/2015/may/20/flickr-complaints-offensive-auto-tagging-p hotos [3. Januar 2021].

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

error. This also helps retrain the system to perform more accurately.«99 Eine solche auf Optimierung ausgerichtete Logik des Umgangs mit automatisch generierten Tags ist aber nicht zwingend. Eine Alternative tut sich zum Beispiel dort auf, wo die irrtümliche Kategorisierung der Bilder selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird, wie etwa unter dem Tag ›Autotag‹ auf Flickr. So marginal eine solche Intervention auf Seiten der Anwenderinnen und Anwender auch erscheinen mag, so markiert sie doch einen möglichen Einsatzpunkt »to see cultures in more detail, without immediately looking for, and noticing, only types, structures or patterns«.100

Abseits der Utopie der Regeln Das im Rahmen dieses Beitrags skizzierte Verständnis ›autooperationaler Formen‹ macht es möglich, die Genese digitaler Technologien als einen kulturellen Prozess zu verstehen, ohne dabei die kulturelle Praxis bereits technisch vorentscheiden zu müssen. Die Ästhetik des Digitalen, im Sinne dessen, was durch entsprechende Technologien wahrnehm- und erfahrbar wird, verweist vor diesem Hintergrund auf keine fixe Größe, kein strukturelles Prinzip, sondern auf die kollektive Erwartung an eine mögliche operationale Ordnung, auf die Imagination einer formalisierbaren Regel, die es ermöglicht den Inhalt von Bildern zu bestimmten, Trends zu identifizieren oder unsere Interessen zu prognostizieren. Gerade der unvollendete Charakter digitaler Technologien und die hiermit verknüpfte aber uneinholbare Erwartung einer berechenbaren Zukunft, die wir hier als das spezifische ästhetische Moment digitaler Technologien herausgearbeitet haben, wirft aber zugleich die Frage auf, wie eine kritische Positionierung gegenüber diesen Technologien aussehen könnte. Oder konkreter: wie können wir uns einer algorithmischen Logik entziehen, die auf unserer kollektiven Idee einer (noch zu von uns selbst zu schaffenden) rationalen Ordnung beruht und sich zugleich in unserem praktischen Umgang mit diesen Technologien realisiert? Klassische Formen der rationalen Kritik, etwa in Form der Suche nach einer besseren, effizienteren oder faireren Regel, greifen an dieser Stelle ins

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Tag Keywords in Flickr, Flickr, URL: https://help.flickr.com/tag-keywords-in-flickr-BJUJp QoyX [3.Januar 2021]. 100 Manovich 2019 (wie Anm. 97), S. 18.

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Leere, da sie selbst einer operativen Logik folgen und letztlich die bestehenden Technologien nur weiter optimieren. Ebenso wirkungslos sind Formen des Widerstands gegen digitale Technologien, deren Macht nicht einer ihnen äußerlichen symbolischen Ordnung entspringt kommt, sondern von innen heraus, in ihrem Gebrauch performativ wirksam wird.101 Selbst das Ausbleiben einer Interaktion, wird, wie wir am Beispiel der Empfehlungsfunktion von Instagram gezeigt haben, zu einem interpretationsfähigen Ereignis. Um sich der »Utopie der Regeln«102 als handlungsleitendem und technikformendem Motiv zu entziehen, scheint es uns wichtig, digitale Technologien nicht als Dinge mit inhärenten Eigenschaften und Strukturmerkmalen, sondern als spezifische Formen kultureller Praxis zu verstehen. Wenn wir dies tun, wird es möglich zu sehen, dass es letztlich unsere kollektiven Erwartungen aneinander sind, die den digitalen Technologien ihre Wirkkraft verleihen. Gustav Landauer hat diesen Gedanken, hier jedoch in Bezug auf die Frage nach einer möglichen Veränderung des Staates, wie folgt beschrieben: »Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern; aber die sind eitle Wortemacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding oder einen Fetisch halten, den man zertrümmern kann, um ihn zu zerstören. Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zu einander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.«103 Diese Idee deckt sich sowohl mit der von Kurt Röttgers skizzierten Möglichkeit einer an-archischen Praxis, »die ihren Sinn in sich selbst und nicht in der Erreichung eines vorgesetzten Zieles fände«104 als auch mit der Aufforderung der von Roger Rothman umrissenen anarchistischen Ästhetik, »not to submit to the transcendent law, but to care for the immanent other«.105 Entscheidend ist dabei der Gedanke der Unmittelbarkeit, der Ausbildung neuer Beziehungen zu anderen Menschen wie auch zu den operationalen Formen, auf die wir uns stützen, als Grundlage jeder Veränderung.

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Lash 2007 (wie Anm. 77), S. 55-78. David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln, Stuttgart 2016. Gustav Landauer: Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk!, in: Antipolitik, Ausgewählte Schriften, hg. v. Siegbert Wolf, Lich 2010, S. 232-234, hier S. 234. 104 Röttgers 2015 (wie Anm. 22), S. 71. 105 Rothman 2019 (wie Anm. 23), S. 179.

Überlegungen zur Ästhetik digitaler Technologien

Einige Ansatzpunkte für eine solche an-archische Praxis wie auch Ästhetik finden sich in der Faszination von Jill Walker für die wilden kollaborativen Projekte des Internets, in der Idee Beiträge, Likes und Kommentar als reale Begegnungen mit anderen Menschen zu deuten, wie auch im kreativen Umgang mit den fehlerhaften Vorschlägen, der immer noch lernenden Algorithmen. Neben diesen »poetischen Spielzügen«,106 durch die bestehende Bedeutungs- und Erfahrungshorizonte unterlaufen werden, bestünde aber auch die Möglichkeit den Prozess der Softwareentwicklung als einen dialogischen Prozess zwischen Anwenderinnen und Anwendern sowie Entwicklerinnen und Entwicklern weiter zu denken.107

106 Christoph Richter/Heidrun Allert: Poetische Spielzüge als Bildungsoption in einer Kultur der Digitalität, in: Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven aus Subjektivierungs- und Bildungsprozesse, hg. v. Heidrun Allert, Michael Asmussen und Christoph Richter, Bielefeld 2017, S. 237-261. 107 Christiane Floyd: Software Development as Reality Construction, in: Software Development and Reality Construction, hg. v. Christiane Floyd, Heinz Züllighoven, Reinhard Budde und Reinhard Keil-Slawik, Berlin 1992, S. 86-100.

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Cute GIF Ambivalenzen eines ästhetisch-affektiven Ensembles  digitaler Bildkulturen Katja Gunkel »Cuteness is affective because it allows the subject to relate to and be positively affected by the object.«1   »One of the most common uses of GIFs – if not the most common – is the performance of affect.«2

#happy #excited #kawaii #yay #applause #cheering #eeeee #cute – Frenetischen Beifall spendiert ein unablässig euphorisch in die Hände klatschendes Häschen mit ganzem Körpereinsatz. Während seine Augen vor Begeisterung und Aufregung feucht glänzen, sind sowohl Wangen, Hände als auch rhythmisch im Takt wippende übergroße Schlappohren ob der psychophysischen Anstrengung beinahe fiebrig gerötet. Beflissen wie unermüdlich agierend und die Betrachtenden dabei über das ganze Gesicht anstrahlend, stehen Motivation, Überzeugung und Anteilnahme des kleinen applaudierenden Wesens völlig außer Frage. Happy Cheering – der Titel des soeben beschriebenen GIFs gibt nicht nur eine, potentiell auch ironisch ausdeutbare, Lesart des Dargestellten vor, sondern weist ebenso auf dessen kommunikativ-soziale

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Joel Gn: A lovable metaphor. On the Affect, Language and Design of ›cute‹, in: East Asian Journal of Popular Culture 2 (2016), S. 49-61, hier S. 50. DOI: https://doi.org/10.13 86/eapc.2.1.49_1. Kate M. Miltner/Tim Highfield: Never Gonna GIF You Up. Analyzing the Cultural Significance of the Animated GIF, in: Social Media + Society 3 (2017), S. 1-11, hier S. 4. DOI: https://doi.org/10.1177/2056305117725223.

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Funktion und damit auf eine Gebrauchsweise des digitalen Bildmediums hin, gilt es doch, dem Adressat oder der Adressatin mit der Zusendung des übereifrigen ›Cheerleaders‹ kurzweilig Erbauung zu stiften – ihn oder sie buchstäblich glücklich zu klatschen. Einfach, unmittelbar verständlich und leicht zu konsumieren generiert die ›herzige‹ Animation im Kawaii-Stil mit gerade mal zwei unablässig in Sekundenbruchteilen alternierenden Bildern einen Wohlfühleffekt und steht somit in der Logik einer »Positivkultur der Affekte«.3 Bei längerer Betrachtung der stark stilisierten, anthropomorphen Hasenfigur stellen sich jedoch durchaus gemischte Empfindungen ein: ihr exaltiertes Gebaren wirkt wahlweise manisch oder maschinell, das strahlende Lächeln kippt in ein festgefrorenes Dauergrinsen und auch der aufmerksame Blick aus wässrigen Kulleraugen mutiert zum ›seelenlosen‹ Stieren. Mit zunehmender Dauer des nachdrücklich Dargebotenen gewinnt rezeptionsseitig folglich eine Ambivalenzerfahrung an Intensität. Das nominell implizierte Glücksversprechen gerät in der Endlosschleife zum performativen Imperativ eines »Glücksdiktat[s]«:4 Cheer up (or else…)!

Abbildung 1: Beide Frames des »Happy Cheering GIF«

Mit über 600 Millionen Aufrufen rangiert die beschriebene Animation unter den populärsten GIFs des Jahres 2019:5 Millionenfach geteilt, kollektiv produziert wie konsumiert sind GIF-Animationen ähnlich wie Bildmakros sowohl Kommunikationsanlass als auch sozialer Katalysator und begünstigen

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Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 5 2018 (OA 2017), S. 270; Hervorhebung im Original. Edgar Cabanas/Eva Illouz: Das Glücksdiktat. Und wie es unser Leben beherrscht, Berlin 2019. Vgl. GIPHY’s Top 25 GIFs of 2019 [publiziert am 4. Dezember 2019], URL: https://mediu m.com/@giphy/giphy-2019-year-in-review-c2fd75c703b8 [31. August 2022].

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eine spezielle Form von Sozietät.6 Derart sozial motivierte, memetisch partizipative Ausdrucksformen sind sie nicht nur integraler Bestandteil webbasierter Bildkulturen, sondern auch im alltäglichen digitalen Bildhandeln via Smartphone und Social-Media-Apps gang und gäbe. Inhaltlich maximal kondensiert und auf diese Weise durch »ultrakurze Handlichkeit« charakterisiert, eignen sie sich in besonderem Maße für den mobilen »Austausch als soziale Währung«.7 Nicht nur das GIF, das aufgrund seiner medienspezifischen Fähigkeit zur Emotionalisierung als affektives Medium par excellence gelten kann, sondern auch die ästhetisch-affektive Kategorie cute ist omnipräsentes Stilmittel wie Sujet von Internetkulturen: »Cuteness is a powerful affective register whose social proliferation since the turn of the millenium has been striking.«8 Im Kontext digitaler Kommunikation sind Emotionen und Empathie von zentraler Bedeutung, was sich nicht zuletzt an der strategischen Instrumentalisierung von Affekt zeigt: »The internet is […] a networked instrument for converting distributed affect – even relatively low affect – into concentrated profit. The conversion happens at the level of ›engagement‹: interaction or ›clicks‹.«9 Zur Positionsbestimmung einer Ästhetik digitaler Medien aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist es besonders gewinnbringend, sich dorthin zu begeben, wo Digitalität in sozialen Praxen ausgehandelt wird: »Geschmacksvereine«10 und affektive Gemeinschaften, die

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Die folgende sowie vereinzelt weitere Passagen des nachfolgenden Texts wurden Birgit Richard/Katja Gunkel/Jana Müller: #cute. Eine Ästhetik des Niedlichen zwischen Natur und Kunst, Frankfurt a.M. 2020 entnommen. Elke Rentemeister: Snap!, in: Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Michael Gamper und Ruth Mayer, Bielefeld 2017, S. 367-389, hier S. 389. – Die Popularität des GIFs und das kommunikative Potential des Mediums machen sich längst auch Instant-Messaging-Dienste wie Telegram oder WhatsApp zunutze. Zwischenzeitlich wurde so beispielsweise nicht nur der Chatverlauf für die Darstellung von extern eingebundenen GIFs optimiert, sondern ebenso der direkte Zugriff auf die Onlinedatenbank von Giphy konzeptuell integriert; eine Kooperation, die auch Instagram seit Ende Januar 2018 unterhält. Joshua Paul Dale/Joyce Goggin/Julia Leyda/Anthony P. McIntyre/Diane Negra.: The Aesthetics and Affects of Cuteness, in: The Aesthetics and Affects of Cuteness, hg. v. Joshua Paul Dale u.a., New York 2017, S. 1-34, hier S. 1. Natalia Cecire: Cats, Babies, and Other Hurtable Creatures [publiziert am 10. Dezember 2015], https://www.newcriticals.com/cats-babies-and-other-hurtable-creatures/ [31. August 2022]. Hervorhebung im Original. Konrad Paul Liessmann: Ästhetische Empfindungen. Eine Einführung, Wien 2009, S. 63.

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sich gegenwärtig in Social Media, verstanden als »emotional media«,11 konstituieren. Wie das eingangs gewählte Fallbeispiel demonstriert, bringt die Kombination von GIF und cute nicht nur eine mustergültige affektive Allianz hervor, ganz im Sinne der nachfolgenden Überlegungen ermöglicht sie es ebenso, ein ›kleines‹ Medium (minor medium) mit einer ›kleinen‹ ästhetischen Kategorie (minor aesthetic category) zusammenzudenken. Immer dort zugegen, wo es im Digitalen sinnliche Leerstellen oder Entfremdungssituationen zugunsten einer affektiven Annäherung zu kompensieren gilt, spielen beide im Umgang mit den Herausforderungen und Zumutungen einer zunehmend digital durchwirkten Gegenwart eine entscheidende Rolle. In der Verschränkung von Ästhetik und Affekt eignet cuteness ein besonderes Affizierungsvermögen. Die zugrunde liegende Appellstruktur und das damit verbundene Fürsorgemandat – ›Hab mich lieb!‹ – zielt rezeptionsseitig auf eine bestenfalls langfristige positive Involvierung. Nicht umsonst begegnen uns Zugänglichkeit maximierende Stilmittel des Niedlichen strategisch in Form von cute design allenthalben in der Auseinandersetzung mit (Digital-)Technologie,12 im Bemühen, eine Bindung zwischen Menschen und Maschinen zu etablieren. Als Nähe stiftendes, intimes Zeigemedium korrespondieren die gestisch performativen Qualitäten des GIFs mit der händischen Bedienung reaktiver Touchscreens, wodurch das digitale Format ›zum Anfassen‹ wie kein anderes geeignet scheint, sinnlich haptische Unmittelbarkeit herzustellen. Sowohl das Niedliche als auch das GIF sind dazu prädestiniert, einen »Verstörungscharakter« anzunehmen, »Unbehagen oder Zweifel [zu] evozieren, […] rätselhaft, auch sperrig oder schräg« zu werden.13 Zunächst maximal gefällig anmutend und nachgerade zu Distanzlosigkeit auffordernd, bergen beide ein ausgemachtes Potential für Ambivalenzen. Dies gilt umso mehr, wenn ›kleines‹ Medium und ›kleine‹ Ästhetik miteinander paktieren: Lassen sich der protoniedlichen Hasenfigur bei flüchtiger Betrachtung Attribute wie ›putzig‹, ›süß‹, ›allerliebst‹ oder ›rührend‹ noch vergleichsweise vorbehaltlos attestieren, kippt jene positiv konnotierte Lesart auf Ebene der Bewegung. Schlei-

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Katrin Döveling/Anu A. Harju/Denise Sommer: From Mediatized Emotion to Digital Affect Cultures. New Technologies and Global Flows of Emotion, in: Social Media + Society 4 (2018), S. 1-11, hier S. 1. DOI: https://doi.org/10.1177/2056305117743141. Bezüglich des Konzepts vgl. Gn 2016 (wie Anm. 1). – Joel Gn: Designing Affection. On the Curious Case of Machine Cuteness, in: Dale u.a. 2017 (wie Anm. 8), S. 175-193. Reckwitz 2018 (wie Anm. 3), S. 140, Anm. 69.

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fenförmig arretiert wird Erbauliches zunehmend anstrengend, nervtötend, unheimlich oder in der endlosen Wiederkehr des Ewiggleichen schlicht langweilig. In der dialektischen Qualität jener Gemengelage liegt denn auch das kritische Potential jenes auf »gemischten oder widerstreitenden Gefühlen«14 basierenden (medien-)ästhetisch-affektiven Ensembles, dessen produktive Irritationsmomente abschließend anhand der künstlerischen Arbeitsweise von Lorna Mills veranschaulicht werden. Unter Verwendung des cute GIF wirft die kanadische Medienkünstlerin in ihrer fünfteiligen GIF-Installation Petting Zoo: Demons Begone (2019) affektive Köder aus, deren inhärente Kippmomente sie systematisch auf die Spitze treibt; ein Umstand, dem die Betrachtenden erst allmählich gewahr werden. Ihre repräsentationskritische künstlerische Arbeitsweise, die sich durchaus als Hommage an webbasierte Bildkulturen versteht, spielt sowohl das Reizpotential des Niedlichen als auch des GIFs aus und konterkariert dabei Erwartungen wie Sehgewohnheiten des Publikums. Reflexiv gewendet, ermöglichen die durch Mills ›Wimmelbilder‹ initiierten Irritationsmomente eine kritische Distanznahme zum allzu Nahen, Gefälligen wie Alltäglichen und formulieren eine verschrobene Liebeserklärung an die »Kultur der Digitalität«.15

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Sianne Ngai: Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge/MA 2012, S. 19 sowie S. 57 u. 236; Übersetzung der Autorin. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 4 2019 (OA 2016).

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»Don’t tell it to me, GIF it to me!«16 Zur Medienästhetik und affektiven Performance des GIFs Mit über drei Dekaden kann das digitale Containerformat GIF17 auf eine erstaunlich lange Erfolgsgeschichte zurückblicken. 1987 vom USamerikanischen Onlinedienst CompuServe in der ersten Version GIF87a eingeführt, beschreibt GIF konzeptuell einen grafischen Bereich feststehender Größe, der mit einem oder mehreren übereinandergeschichteten Einzelbildern ›bevölkert‹ wird, die sich mithilfe entsprechender Software als geloopte Animation interpretieren lassen.18 Mit Version GIF89a und somit seit 1989 besteht darüber hinaus die Möglichkeit zur Transparentsetzung des Hintergrundes, so dass Animationen als freistehende Objekte beziehungsweise Clip-Art flexibel in unterschiedlichste Umgebungen eingepasst werden können. Wie Wanda Strauven betont, handelt es sich bei Loop und Transparenz um die zwei zentralsten (Alleinstellungs-)Merkmale des GIFs, denen das Format zugleich seine enorme Vielseitigkeit wie Persistenz verdankt.19 Obgleich sich ›to gif‹ oder ›gifen‹ erst mit dem »GIF 2.0« zu einer

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@reactions (Giphy), URL: https://giphy.com/reactions [31. August 2022]. Abkürzung für engl. graphics interchange format. Innovativ galt das offene, lizenzfreie Dateiformat insbesondere aufgrund eines verlustfreien Kompressionsalgorithmus (LZW). Für einen umfassenden Abriss über die Geschichte des Dateiformats vgl. Jason Eppink: A Brief History of the GIF (so far), in: Journal of Visual Culture 13 (2014), S. 298306. DOI: https://doi.org/10.1177/1470412914553365. – Paddy Johnson: A Brief History of Animated GIF Art (Pt. I) [publiziert am 2. August 2014], URL: https://news.artnet. com/art-world/a-brief-history-of-animated-gif-art-part-one-69060 [31. August 2022]. – Lorraine Boissoneault: A Brief History of the GIF. From Early Internet Innovation to Ubiquitous Relic [publiziert am 2. Juni 2017], URL: https://www.smithsonianmag.com /history/brief-history-gif-early-internet-innovation-ubiquitous-relic-180963543/ [31. August 2022]. Ab 1994 konnten GIFs unter Verwendung des Internetbrowsers Mosaic erstmals animiert dargestellt werden; allerdings nur in einfacher Wiedergabe. Die charakteristische Loop-Funktion ging mit der Veröffentlichung des Netscape Navigators 2.0 im darauffolgenden Jahr einher. Vgl. Lorenzo Marmo: Looping, Laughing and Longing. The Animated GIF in the Contemporary online Environment, in: Comunicazioni Sociali 1 (2016), S. 78-86, hier S. 78. Vgl. Wanda Strauven: Let’s Dance. GIF 1.0 versus GIF 2.0, in: Format Matters. Standards, Practices and Politics in Media Cultures, hg. v. Marek Jancovic, Axel Volmar und Alexandra Schneider, Lüneburg 2020, S. 47-63, hier S. 49. DOI: https://doi.org/10.14619/ 1556.

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»ubiquitäre[n] Bildpraktik [heutiger Netzkultur]« entwickelt hat,20 kommt dem GIF laut Daniela Wentz dennoch eine emblematische Funktion für das Internetzeitalter in toto zu.21 Als eine Frühform usergeneriert, modifizierbarer und dynamischer Inhalte steht es retrospektiv sinnbildlich für die Ästhetik des frühen Internets beziehungsweise die Anfänge »digitale[r] Volkskunst«:22 »Digital Folklore encompasses the customs, traditions and elements of visual, textual and audio culture that emerged from users‹ engagement with personal computer applications during the last decade of the 20th and the first decade of the 21st century.«23 Einstweilen in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, erlebt das Dateiformat seit etwa zehn Jahren als visuelle Kommunikationseinheit und ästhetische Ausdrucksform eine massenwirksame Renaissance. Neben dem 2007 lancierten Mikroblogging-Dienst Tumblr hat insbesondere das 2013 gegründete Giphy, eine ebenfalls US-amerikanische Onlinedatenbank und Suchmaschine für GIF-Animationen aller Art, entscheidend zur Systematisierung, Funktionalisierung und Kommerzialisierung des Mediums beigetragen. Durch die Möglichkeit der direkten Einbindung in Social Media, anfangs vor allem MySpace, Facebook und Twitter, hat sich das animierte GIF innerhalb alltäglicher virtueller Interaktion zu einer bedeutenden Kleinsteinheit phatisch-emotiver Kommunikation und öffentlicher Meinungsbildung entwickelt. Wurde das GIF im Web 1.0 vorrangig genutzt, um die textlastige, statische Onlineumgebung privater Homepages mit einfachsten Bewegtbildern – »hüpfende, winkende Smileys, blinkende, glitzernde Schriftzüge, flackernde Flammen, wehende Fahnen und das notorische ›under-construction‹-Zeichen«24  – visuell zu beleben, begegnet es uns heutzutage vergleichsweise selten in

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Daniela Wentz: Das GIF. Geschichte und Geltung eines Formats aus dem Geist des Tanzes, in: ZfM – Zeitschrift für Medienwissenschaft 22 (2020), S. 42-51, hier S. 43. – 2012 und somit pünktlich zum 25-jährigen Bestehen honorierte denn auch Oxford Dictionaries die zeitgenössische Relevanz jener digitalen Kulturtechnik mit der Wahl zum US-amerikanischen Wort des Jahres. Wentz 2020 (wie Anm. 20), S. 43. Tilman Baumgärtel: 30 Jahre Gif-Animationen. Die Höhlenzeichnungen des Internets [publiziert am 15. Juni 2017], URL: https://taz.de/30-Jahre-Gif-Animationen/!5418 276/ [31. August 2022], o.S. Dragan Espenschied/Olia Lialina: Do you believe in users?, in: Digital Folklore, hg. v. Dragan Espenschied und Olia Lialina, Stuttgart 2009, S. 9-12, hier S. 9f. Wentz 2020 (wie Anm. 20), S. 43; Hervorhebungen im Original.

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Form jenes »animierte[n] Zappelgif [s]«25 . Dem GIF 2.0 dienen zumeist kurze Sequenzen aus Blockbustern, populären Film- und Fernsehproduktionen, kanonisierten Filmklassikern, Sportereignissen, Cartoons, Computerspielen, Musikvideos, Nachrichtensendungen oder Ähnlichem als Ausgangsmaterial, wobei die intendierte Aussage teils mithilfe von nachträglich eingefügtem Text verdeutlicht wird. Besonders populär sind sogenannte Reaction-GIFs, die innerhalb der Giphy-Datenbank entweder entlang konventionalisierter, sprachlich indexierter gestisch-mimischer Ausdrucksformen,26 Emotionen,27 Sprachformeln28 oder Tätigkeiten29 kategorisiert werden. In Form eines appropriierenden frame beziehungsweise video capture ermöglicht das Reaction-GIF eine nuancierte Befindlichkeitsäußerung bei gleichzeitiger Demonstration von popkultureller Kennerschaft sowie der persönlichen Affinität zu bestimmten Stilgemeinschaften.30 Ursprünglich als popkulturelle Hommage gedacht, emanzipiert sich der Frame mit zunehmender Popularität des GIFs von seinem Ursprungskontext, wodurch die kulturelle Ausdrucksform ein eigenständiges Referenzsystem aus Selbstbezügen generiert: »GIFs begin to co-ordinate their own realm of correspondence. An ocean of viral videos turned into a self-serving visual language, looping back on itself ad infinitum.«31 Oftmals werden ausschnitthafte Handlungen gewählt, die im Quelltext nebensächlich sind. Durch die GIF-Animation rücken jene beiläufigen Aktionen in den Fokus und werden selbst ikonisch, d.h. als bildlich dargestellte Performance memetisch. In Funktion eines visuellen Kommunikationsbausteins verdichtet das ultrakurze Bewegtbildformat verschiedene Bedeutungsebenen und Aussageoptionen in einem Medientext. Überdeterminiert und zugleich entkontextualisiert steht es für eine flexible Anschlusskommunikation zur Verfügung. Dank intertextueller Reichhaltigkeit wie kontextübergreifender Passung besitzt das

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Wentz 2020 (wie Anm. 20), S. 43. Thumbs Up, Facepalm, High Five, LOL. Vgl. @reactions (Giphy) (wie Anm. 16). Mad, Amused, Happy, Excited, Disappointed. Vgl. @reactions (Giphy) (wie Anm. 16). Thank You, Whatever, Hello, Yes, No. Vgl. @reactions (Giphy) (wie Anm. 16). Flirting, Laughing, Dancing, Crying. Vgl. @reactions (Giphy) (wie Anm. 16). Vgl. Giampaolo Bianconi: GIFABILITY [publiziert am 20. November 2012], URL: https: //rhizome.org/editorial/2012/nov/20/gifability/ [31. August 2022] – Miltner/Highfield 2017 (wie Anm. 2), S. 4. Daniel Rourke: The Doctrine of the Similar (GIF GIF GIF), in: Dandelion – postgraduate arts & research network 3 (2012), S. 1-5, hier S. 3. DOI: https://doi.org/10.16995/ddl.259.

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GIF somit einerseits autopoietische Qualitäten, erfährt es durch seinen Einsatz in diversen narrativen Zusammenhängen doch allenthalben eine revitalisierende Aktualisierung; andererseits ist eine adäquate Entschlüsselung seines Sinngehalts auf ein hohes Maß an kontextueller Sensibilität und transmedialem Insiderwissen angewiesen. Wie ein GIF interpretiert wird, hängt somit ergo maßgeblich von der Situierung der Betrachtenden ab. Zudem ändert sich die jeweils gemeinte, kollektiv ausgehandelte Bedeutung in Abhängigkeit von der jeweiligen affektiven Gemeinschaft – aufgrund des großen Interpretationsspielraums ist die konkrete Anschlusskommunikation für die Deutung im Einzelfall unabdingbar. In dieser »ästhetischen Zweideutigkeit«,32 dem Spiel mit Ambivalenzen, Ironie und Uneigentlichkeit, liegen Widerständigkeit sowie politische Brisanz des Mediums: »[M]alleability and versatility are key to the GIF’s capacity for interpretive flexibility; the separation of GIFs from their original texts imbues them with multiple layers of meaning that are not universally accessible to all audiences. This […] provides the GIF with resistant potential: similar to doubleentendre, parody, camp, and other types of layered texts, GIFs can be (and often are) used to communicate hidden meanings in plain sight.«33 Neben der skizzierten Polysemie ist der ›stumme‹ Loop, das auf Dauer gestellte tonlose Bewegtbild, ein formalästhetisches Charakteristikum des Mikroformats. Die quantitative Kürze der Sequenz steht dabei kontinuierlich in einem Spannungsverhältnis zur unablässigen Repetition in Form der Endlosschleife. Isoliert von ihrem Ursprungskontext und schleifenförmig arretiert, gewinnen die gewählten Bildabfolgen einerseits an Relevanz. Ihre permanente Wiederholung lässt ihnen jedoch nicht nur besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden, sondern bedingt andererseits zugleich eine inhaltliche Redundanz sowie einen affektiven Gewöhnungseffekt, wodurch das Gezeigte stets Gefahr läuft, zu langweilen und ins Belanglose abzugleiten. Initial durch den Zeige- bzw. Demonstrationscharakter des GIFs getriggert, wird die Schaulust ob der Monotonie des Zu-sehen-Gegebenen schnell schal. Seine idealerweise bruchlose Kontinuität verdankt der Loop einer nahtlosen Montage, die weder Anfang noch Ende erkennen lässt und jedweden

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Hans-Otto Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie, in: montage/av – Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 2 (1993), S. 119-141. Miltner/Highfield 2017 (wie Anm. 2), S. 2.

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linearen zeitlichen Ablauf für sinnlos erklärt oder performativ unterläuft. In der filmischen Tradition von Vaudeville und Slapstick verleiht die endlose Wiederkehr des Ewiggleichen dem Dargestellten komödiantische Qualitäten, die laut Daniel Rubinstein aus der Verbindung zwischen ausgelassenem Spiel und pathologischer Zwangshandlung herrühren. Die zirkuläre Performance betone das Ereignishafte, perpetuiere jegliche Sinnzuschreibungsversuche und eigne sich daher insbesondere für Ironie, Satire sowie Nonsens-Szenarien.34 Das Fragmentarische mündet demzufolge nicht in einer Wiederherstellung des Ganzen, sondern in einer endlosen Fortsetzung seiner selbst als neue Totalität, die keinem anderen Erzählfluss als dem eigenen verpflichtet ist.35 Am Beispiel von Nonsens-Memen stellen Yuval Katz und Limor Shifman die soziale Funktion von vordergründig ›unsinnigen‹ Onlineinhalten heraus, die gleichermaßen für das GIF geltend gemacht werden kann – »a powerful ›social glue‹. We thus claim that while digital nonsensical memes often lack referential meaning, ›they always carry affective meaning‹.«36 Im GIF kondensieren Gesten, Aktionen, Emotionen sowie Figurationen zu Handlungen von Sekundenbruchteilen. Jene mediale Zurichtung in kommunikative Kondensate überführt die durch Bewegung repräsentierten Affekte in ein standarisiertes Brevier, innerhalb dessen sie sich potenziell endlos selbst darbieten. »By putting a single gesture on loop, the reaction GIF acts as a proxy for, or expression of, emotion and/or affect.«37 Speziell im Fall des Reaction-GIFs symbolisiert die kontinuierlich in Dauerschleife ablaufende Bewegtbildsequenz nicht lediglich einen subjektiven wie temporären Gemütszustand, sie bringt diesen vielmehr zur Aufführung – das Medium agiert stellvertretend Emotionen aus, ohne dabei eine nachhaltige Katharsis zu erzielen. Die Expressivität und Überspanntheit der zirkulären »Embodied Enactments«38 lässt an Sianne Ngais ›kleine‹ ästhetische Kategorie zaniness – 34 35 36

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Vgl. Daniel Rubinstein: GIF today [publiziert 2012], URL: http://ualresearchonline.arts .ac.uk/6241/ [31. August 2022]. Vgl. Bianconi 2012 (wie Anm. 30), o.S. Yuval Katz/Limor Shifman: Making sense? The Structure and Meanings of Digital Memetic Nonsense, in: Information, Communication & Society 20 (2017), S. 825-842, hier S. 837. Hervorhebungen der Autorin. DOI: https://doi.org/10.1080/1369118X.2017.1 291702S. Miltner/Highfield 2017 (wie Anm. 2), S. 5. Jackson Tolins/Patrawat Samermit: GIFs as Embodied Enactments in Text-Mediated Conversation, in: Research on Language and Social Interaction 49 (2016), S. 75-91. DOI: https://doi.org/10.1080/08351813.2016.1164391.

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»an aesthetic about performing as not just artful play but affective labor«39  – denken. Wild gestikulierend, konstant in Bewegung, unruhig, zappelig, erregt und extrovertiert kennzeichnet das GIF eine vergleichbare Mischung aus spielerisch und nervtötend – »a ludic yet stressful style«40 . Aufgrund der fehlenden Tonspur ist die bildliche Darstellung – dem Stummfilm wie auch der Pantomime vergleichbar – auf eine körperbetonte Performance, das heißt insbesondere auf ein ausdruckstarkes Gebärden- und Mienenspiel angewiesen. Speziell im Fall von Reaction-GIFs wird die Bildsequenz sorgfältig mit Blick auf ihre emotional-expressiven Qualitäten ausgewählt. Kennzeichnend für mobile digitale Bildmedien wie das GIF ist nach Lorenzo Marmo des Weiteren eine »digitale Haptizität«,41 die auf dessen körperliche Dimension als konkretes, materielles Zeigemedium verweise. Im Kontext mobilen Medienhandelns, das heißt in der Interaktion mit digitalen Bildern über reaktive Touchscreens von portablen Endgeräten, gewinnt der Tastsinn fundamental an Bedeutung. Die Grenze zwischen Sehen und Berühren verschwimmt, Visualität und Taktilität fallen zusammen und die körperliche Interaktion mit Bildern wird buchstäblich greifbar.42 Unter Verwendung von »digitale[n] Nahkörpertechnologien«43 wie dem Smartphone ist das körperbetont-affektive Mikroformat GIF in besonderem Maße durch physische Nähe und Intimität gekennzeichnet.

Niedliches Internet – virtuelle ›Bekuschelung‹ als affektive Kompensation Niedliche Inhalte bilden einen wesentlichen Bestandteil von Onlinekommunikation und werden auch im Medium GIF verhandelt; insbesondere Tiere haben als affektive Agenten und affirmative Beziehungsverstärker im Internet traditionell Konjunktur. Nicht umsonst attestiert Ethan Zuckerman dem

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Ngai 2012 (wie Anm. 14), S. 1. Ngai 2012 (wie Anm. 14), S. 8. Marmo 2016 (wie Anm. 18), S. 82; Übersetzung der Autorin. Vgl. Marmo 2016 (wie Anm. 18), S. 81. – Lisa Gotto: Micro Movies. Zur medialen Miniatur des Smartphone-Films, in: Gamper/Mayer 2017 (wie Anm. 7), S. 349-366, hier S. 362. Timo Kaerlein: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien. Zur Kybernetisierung des Alltags, Bielefeld 2018.

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Web 2.0 eine besondere Eignung für die memetische Verbreitung von niedlichen Katzenbildern.44 Offenkundig besteht die Eigenart von Niedlichem im Allgemeinen wie dessen tierlichen Delegierten im Speziellen in einem spezifischen Reizpotenzial, von dem eine weitgehend verlässliche, breitenwirksame Anziehungskraft ausgeht. Im Rahmen einer Sharing-Kultur ist Niedliches in besonderem Maße geeignet, positive Gefühle zu kommunizieren – »we’re sharing things that make people happy and therefore make us appear like ›happy‹ people.«45 Cute (animal) content liefert beispielsweise einen kostenlosen Lachanlass auf Abruf und trägt somit – gewissermaßen on demand – zur kurzweiligen alltäglichen Erbauung und kommunikativen Selbststilisierung bei. Wie Jody Berland ausführt, wird jenes Bildmaterial mit Blick auf seinen interpersonellen Austausch kreiert.46 »The value […] is mainly determined by how they make people feel. As digital objects they are exchanged for what are ideally still immaterial values such as company, distraction, satire, protest, laughter and crossspecies friendship.«47 Indem sie technologische Entfremdung emotional überbrückten, weist Berland Katzen im Speziellen wie Tieren im Allgemeinen bei der Domestikation von Computertechnologie eine Nähe stiftende Mittlerrolle zu – »the animal mediator is a connector«.48 Mit Blick auf die Virtualisierung zwischenmenschlicher Kommunikation vertreten Joshua Paul Dale und andere einen ganz ähnlichen Standpunkt, attestieren sie bildbasiertem cute (animal) content im Kontext digitaler Kommunikationstechnologie ebenfalls eine emotionale Brückenfunktion: Emojis, Katzen-GIFs und dergleichen dienten demnach zur symbolischen Kompensation einer »affektiven Lücke«,49 die aus der zunehmenden Digitalisierung resultiere. Sie begünstigen phatische Kommunikation und tragen derart zur Sozialität von Onlineumgebungen bei.50 44

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Vgl. Ethan Zuckerman: Cute Cats to the Rescue? Participatory Media and Political Expression, in: From Voice to Influence. Understanding Citizenship in a Digital Age, hg. v. Danielle Allen und Jennifer S. Light, Chicago 2015, S. 131-154, hier S. 134. Sarah Burke: Puppy Power. The Power of Cuteness in Marketing [publiziert am 1. November 2016], URL: https://www.getspokal.com/puppy-power-the-power-of-cuteness-i n-marketing/ [31. August 2022], o.S; Hervorhebungen im Original. Jody Berland: Virtual Menageries. Animals as Mediators in Network Cultures, Cambridge/MA 2019, S. 151. Berland 2019 (wie Anm. 46), S. 153. Berland 2019 (wie Anm. 46), S. 207. Dale u.a. 2017 (wie Anm. 8), S. 17; Übersetzung der Autorin. Zu den phatisch-emotiven Dimensionen vgl. Marcel Danesi: The Semiotics of Emoji. The Rise of Visual Language in the Age of the Internet, London 2017. – Hinsichtlich der inhaltlichen Engführung auf niedliche Ästhetik, deren Stilmittel und Bildsprache vgl.

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Darüber hinaus fungieren sie als »emotionale Werkzeuge« zur bildbasierten Gefühlsäußerung und konkretisieren die Position wie Motivation der Sprechenden: »[B]oth the phatic and emotive functions of emoji enable messaging platforms to be more interactive and positively humanised, insofar as users‹ affections are coded and represented within the platform’s structure. […] [A] medium is perceived to be transparent when its material difference […] is negated by the form of affection that the medium attempts to simulate.«51 Daniel Wittkower ist ebenfalls der Ansicht, dass niedliche Inhalte Aspekte technologischer Entfremdung abmildern könnten. Unter Bezug auf designgeschichtliche Strömungen um die Jahrtausendwende argumentiert er dafür, dass eine gerundete Formensprache und »Cartoon-Anthropomorphismen« bis heute geeignet seien, die rezeptive Wahrnehmung von digitaler Technologie als »fremd, kalt und gefühllos« abzuschwächen, indem sie physiopsychisch Gefühle von Nähe und Wärme evozierten.52 Durchaus plausibel sei daher die Vermutung, dass Nutzerinnen und Nutzer in Form einer Selbstmedikation mittels cute (animal) content aktiv Anflüge von Befremdung innerhalb der Mensch-Maschine-Interaktion zu kurieren suchten.53 Zwei weitere thesenhaft ausgeführte Erklärungsansätze für die Allgegenwart des Niedlichen in digitalen Kulturen sieht Wittkower darüber hinaus in einem mit dem Web 2.0 initiierten demografischen Wandel sowie in der Desublimierungshypothese:

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Joel Gn: Emoji as a ›language‹ of cuteness, in: First Monday 23 (2018). DOI: https://doi.o rg/10.5210/fm.v23i9.9396. – Emojis sind ein prominentes Beispiel für cute design im Kontext technischer Strukturen. Die digitale Sozialität, welche sie bzw. vergleichbarer cute content ermöglichen, ist allerdings nicht losgelöst von einem wirtschaftlichen Mehrwert zu denken: »Emoji offer us more than just a cute way of ›humanizing‹ the platforms we inhabit: they also remind us of how informational capital continually seeks to instrumentalize, analyze, monetize, and standardize affect.« Luke Stark/Kate Crawford: The Conservatism of Emoji. Work, Affect, and Communication, in: Social Media + Society 1 (2015), S. 1-11, hier S. 8; Hervorhebungen im Original. DOI: https://doi.org/10.1177/20563051156 04853. Gn 2018 (wie Anm. 50), o.S.; Übersetzung der Autorin. Dylan E. Wittkower: On the Origins of the Cute as a Dominant Aesthetic Category in Digital Culture, in: Putting Knowledge to Work and Letting Information Play, hg. v. Timothy W. Luke und Jeremy Hunsinger, Rotterdam 2 2012 (OA 2009), S. 167-176, hier S. 216; Übersetzung der Autorin. Vgl. Wittkower 2012 (wie Anm. 52), S. 216.

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Die einprägsame, stark stilisierte niedliche Bildsprache besäße eine »unmittelbare emotionale Ausdruckskraft«,54 die sich direkter vermittle und demnach sowohl einem beschleunigten Informationsfluss als auch einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne zupasskomme. Indem sie nicht über sublime, sondern expressive audiovisuelle Ausdrucksformen kommunizierten, bespielten Onlineinhalte eine deutlich »einfachere emotionalen Palette«,55 deren »extreme Bilder«56  – im Sinne der von Andreas Reckwitz für das Internet konstatierten »›digitale[n] Affektkultur der Extreme‹«57  – unmittelbar bewegten: »Cute images are immediately engaging [and evocative], similar to other categories of communications that have become prominent in new media, such as the hot and the shocking and disgusting.«58

Perfect match – ›kleine‹ Ästhetik trifft auf ›kleines‹ Medium Die ästhetisch-affektive Kategorie cuteness und das Mikroformat GIF spielen ideal zusammen. In Kombination gehen sie eine nahezu perfekte Allianz ein, kennzeichnet ›Kleinheit‹ beide doch gleich in mehrfacher Hinsicht. Niedliches kann als eine mustergültige »Ästhetik des Kleinen«,59 eine »ästhetische Entgegnung auf das Kleine, Schwache und Untergeordnete«60 beschrieben werden, weswegen es laut Ngai für die gesamte Unterklasse ›kleiner‹ Geschmacksurteile exemplarischen Charakter besitzt.61 Im Sinne der komplizierten, dynamischen Machtasymmetrie, auf der Ngai zufolge die Beziehung zwischen Subjekt und dem als niedlich Bezeichneten gründet, bedeute etwas als niedlich auszuweisen, es als machtlos und unselbstständig zu markieren: »There is no judgment or experience of a object [sic!] as cute that does not call up one’s sense of power over it as something less powerful.«62 Mediales Äquivalent zu

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Vgl. Wittkower 2012 (wie Anm. 52), S. 218; Übersetzung der Autorin. Vgl. Wittkower 2012 (wie Anm. 52), S. 218; Übersetzung der Autorin. Vgl. Wittkower 2012 (wie Anm. 52), S. 219; Übersetzung der Autorin. Reckwitz 2018 (wie Anm. 3), S. 270; Hervorhebungen im Original. Vgl. Wittkower 2012 (wie Anm. 52), S. 218. Gn 2017 (wie Anm. 12), S. 177; Übersetzung der Autorin. Ngai 2012 (wie Anm. 14), S. 53; Übersetzung der Autorin. Vgl. Ngai 2012 (wie Anm. 14), S. 53. Ngai 2012 (wie Anm. 14), S. 11.

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Ngais »minor aesthetic categories«63 ist das GIF wiederum ein Paradebeispiel für mobile, dezentrale, kollektiv-partizipative minor media.64 Niedliches suggeriert Einfachheit wie Nahbarkeit und wird daher inflationär eingesetzt, um die Entfremdung zwischen Menschen und digitaler Technologie durch eine vertraute, positiv konnotierte Affizierungssituation zu kompensieren. Mittlerweile fester Bestandteil von Messenger-Apps sind GIF-Animationen, zumal mit niedlichem Inhalt, ein konkretes Instrument jener phatischemotiven Kommunikation. Gepaart mit der haptischen Konkretheit mobil über berührungssensitive Interfaces konsumierter Medieninhalte trägt die inhaltliche Eindeutigkeit zum Eindruck von Unmittelbarkeit bei. Dem Gesuch, sich Niedlichem räumlich zu nähern, gibt das gestisch-performative GIF derart ausdrücklich statt. Intim anmutend und auf das affektive Moment verkürzt, scheint das in Dauerschleife performende GIF in besonderem Maße dem affektiven Gehalt des Niedlichen zu entsprechen. Das Mikroformat unterstützt Niedliches in seiner Emotionalisierungsfunktion als happy object 65 und dient sogar als Affizierungsverstärker. Dermaßen eingepasst tritt jedoch auch die Machtdynamik des Niedlichen deutlicher zutage. Die zirkuläre und stetig abrufbare affektive Performance bringt das 63

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Ngai 2012 (wie Anm. 14), S. 14. Die Vergleichsgröße jenes Komparativs stellen traditionelle, zumeist binär gedachte Kategorien Ästhetischer Theorie dar, gegenüber denen das ästhetische Konzept des Niedlichen einen »marginalen Status« bekleide (Übersetzung der Autorin). Während das Erhabene, Schöne, Eklige und Hässliche auf eindeutigen, stark positiven oder negativen Gefühlen basiere, referierten ›kleinere‹ ästhetische Kategorien auf alltägliche ästhetische Erfahrung und beiläufig gefällte Geschmacksurteile. Die zugrunde liegenden Gefühle seien dabei entweder in stärkerem Maße ambivalent oder weniger intensiv (schwächer). Ihre geringere Intensität könne aus einem Gewöhnungseffekt in Anbetracht der Verfügbarkeit ästhetischer Erfahrungen im Spätkapitalismus resultieren, S. 21. Andreas Broeckmann: Minor Media – Heterogenic Machines [publiziert am 13. November 1998], URL: https://www.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-9811/msg00029 .html [31. August 2022]. Er entlehnt seine Begriffsprägung der Konzeption minoritärer Literatur (littérature mineure) von Gilles Deleuze und Félix Guattari. ›Kleinere‹ – sprich: randständige, marginalisierte – Medien bedienten sich Strategien des ›Minoritär-Seins‹ wie Intensivierung, Refunktionalisierung, Entfremdung und Überschreitung. ›Minoritär-Werden‹ sei demzufolge als künstlerische Strategie der (Re-)Singularisierung, Deterritorialisierung und Subjektivierung zu begreifen, die ›große‹ Technologien (major technologies) in ›kleine‹ Maschinen (minor machines) transformiere. Zum Begriff vgl. Sara Ahmed: Happy Objects, in: The Affect Theory Reader, hg. v. Melissa Gregg und Gregory J. Seigworth, Durham 2010, S. 29-51.

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willfährige Niedliche einerseits stärker unter Kontrolle des Subjekts, zähmt und approximiert es durch ständige Wiederholung. Andererseits vermag gerade die überdrehte, ausgedehnt aufgeführte Darbietung vom positiv rezipierten Niedlich-Spielerischen ins Nervtötend-Unerträgliche oder Anödende zu kippen; die manipulativ-überwältigende Seite des Niedlichen sowie ein Abstumpfungseffekt sind ebenfalls nicht zu verkennen. Kurz, kompakt und vorgeblich klar verständlich fungieren die tonlosen Bewegtbildkondensate als konfektionierte »Emotionsstenografie«66  – eine verdichtete emotive Symbolkraft, die gleichfalls für die Stilmittel des Niedlichen kennzeichnend ist: »As a stylistic device, cute design can act as a ›shorthand‹ for sentiments that would otherwise prove to be more difficult to express.«67 Die Komplexitätsreduktion, welche solch pointierte, vorrangig visuelle Botschaften offerieren, täuscht dabei leicht über die voraussetzungsvolle semantische Dichte des Mediums hinweg. Dass ›klein‹ keineswegs gleichbedeutend mit leicht zu handhaben ist, davon zeugt auch das Niedliche, dessen biologistischer Anstrich tendenziell den Blick auf seine offensichtliche Manieriertheit verstellt.68 Strukturmerkmal sowohl des Niedlichen als auch des GIFs ist das selektive Aufgreifen eines Bezugssystems. Kennzeichnet Niedliches ein »positiver Anthropomorphismus«,69 speist sich das Mikroformat aus einer größeren Erzählung. Zunächst granuliert und ›verkleinert‹, verfestigen sich die Fragmente durch Reproduktion und bedürfen schließlich keiner Validierung an Vorgängigem mehr, sondern dienen sich ausschließlich selbst als Referenz. Wie die Popkultur im Allgemeinen, Jochen Venus spricht in dem Zusammenhang von »spektakulärer

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Baumgärtel 2017 (wie Anm. 22), o.S. Gn 2017 (wie Anm. 12), S. 177; Hervorhebungen im Original. Obgleich variabel und somit offen für Umcodierungen, basiert cuteness auf einem im Kern stabilen Kanon aus phänotypischen wie habituellen Merkmalen, die sich aus der von Konrad Lorenz 1943 unter dem Begriff ›Kindchenschema‹ formulierten Schlüsselreizkonstellation ableiten. Gn 2017 (wie Anm. 12), S. 182; Übersetzung der Autorin. Gemeint ist eine fragmentarische, von antizipiert Abstoßendem bereinigte Übernahme menschlicher Eigenschaften zur Überbrückung der Unterschiede zwischen Menschen und Maschinen mit dem Ziel, den Wunsch nach sozialer Interaktion und Nähe zu forcieren. Diese Vermenschlichung basiert jedoch auf Entmenschlichung: Eine Differenz muss beibehalten werden, um nicht auf Ablehnung aufgrund zu großer Ähnlichkeit – Stichwort: uncanny valley – zu stoßen.

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Selbstreferenz«,70 leben auch digitale Bildkulturen im Speziellen maßgeblich von Selbstbezüglichkeit.

Staging the cute GIF – Lorna Mills’ digitaler Streichelzoo »A dancing bear equals a crusty hippy equals a wagging tail equals a face plant equals kittens, acres of kittens equals a belching frog equals a jiggling fat man equals a car crash equals a street fight.«71 Die Ästhetik vernakulärer digitaler Medien ist für das Schaffen der kanadischen Medienkünstlerin Lorna Mills werkbestimmend. Mit »der Akribie einer Besessenen«72 widmet sich die Net.art-Pionierin seit den 1990er Jahren dem Recycling von online zirkulierendem Videomaterial, das einem eklektischen visuellen Sampling als Arbeitsgrundlage dient und von ihr in Form von GIF-Animationen kompiliert wird. Mills künstlerische Herangehensweise, die Appropriation und Rekombination von vorgefundenem, bereits mit Bedeutung aufgeladenem Bildmaterial anonymer Autorschaft, macht sich die Logik digitaler Bildlichkeit zunutze und führt die ästhetischen Paradigmen von Internetkulturen auf Bildebene vor: »I am stealing constantly. It’s remix culture. It’s collage.«73 Geeignet erscheinende Einzelelemente entnimmt sie hierzu Frame für Frame ihrer ursprünglichen Bildumgebung; ein aufwändiger chirurgischer Eingriff, den Mills – anders als im Bereich digitaler Bildkosmetik üblich – jedoch nicht kaschiert. Im Gegenteil: Visuelle Signatur und

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Vgl. Jochen Venus: Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie, in: Performativität und Medialität Populärer Kulturen: Theorien, Ästhetiken, Praktiken, hg. v. Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke, Wiesbaden 2013, S. 49-73, hier S. 59-67. Richard Murray Vaughan: Flickering Formalism. The Art of Lorna Mills, in: ISEA 2014. Proceedings of the 20th International Symposium on Electronic Art, hg. v. Thorsten Lomker u.a., Dubai 2015, S. 44-45, hier S. 44. TRANSFER: Spring/Break Art Show LA (14.–16.02.2020). Lorna Mills, URL: http://transf ergallery.com/lorna-mills-spring-break-la/ [31. August 2022]; Übersetzung der Autorin. MOA: Lorna Mills, Transkript eines Interviews mit Konstanze Schütze am 21.01.2015, URL: http://methodsofart.net/artist/lorna-mills/, S. 1 [31. August 2022].

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stilistisches Wiedererkennungsmerkmal ihrer Arbeiten sind gerade die überdeutlich wahrnehmbaren ›Schnittkanten‹ der einzelnen Bewegtbildfragmente, die zumeist auf einem kontrastfarbigen monochromen Hintergrund vergesellschaftet werden. Jene nachträglich geschärfte, treppenartige Umrisslinie versteht sich dabei einerseits als medienreflexive Geste, führt sie die diskrete Verfasstheit digitaler Rastergrafiken doch überdeutlich vor. Als »konstante Erinnerung an die Transposition«,74 den vonseiten der Künstlerin willentlich herbeigeführten Eingriff, verweist die »körnige, pulsierende Aura«75 ex negativo beständig auf das, was den freigestellten Videopartikeln fehlt: ihr Kontext. Obgleich in Form eines direkten Zitats verwendet, bleibt das FoundFootage-Material nicht bloß ohne Provenienz, durch Isolation aus dem originären bildimmanenten Bezugsrahmen wird es von Mills sogar noch stärker abstrahiert. Die geringe, teils stark verpixelte Bildqualität der Videofragmente sowie die formatbedingt fehlende Tonspur tragen weiterhin zum Abstraktionsgrad des Dargestellten bei, das derart an Bedeutungsoffenheit gewinnt: »Even though GIFs are created out of representational images, they are radically abstract.«76 Mills’ Bildstil kennzeichnet folglich die visuelle Betonung des Fragmentarischen. Von einem formalistischen Interesse geleitet, stehen dabei laut Eigenaussage weniger narrative, denn choreografische Überlegungen im Mittelpunkt. Anhand pointierter, sorgfältig arrangierter ›Kernbewegungen‹ fokussieren ihre »kinetischen Dioramen«77 vornehmlich Rhythmik und Bildrelationen: »she is […] swarming us with layers of information that we digest first as content […] and then as a painfully precise collage of deep-linked visual cues, as system of matched actions, shapes, gestures.«78 Gründe für die Wahl des GIFs, mit dem die Medienkünstlerin seit 2005 vorrangig arbeitet, liegen ihr zufolge in dessen formatbedingten Limitierungen: lediglich 256 Farben pro RGB-Kanal und eine deutlich niedrigere Framerate als Film, wodurch die Animation nie wirklich flüssig, sondern stets ruckartig wirkt. Diese »jerky motion« oder medienspezifische »gifiness« ist für Mills 74 75

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Seth Barry Watter: Lorna Mills, or the Uses of Ugliness, in: Millennium Film Journal 67 (2018), S. 54-61, hier S. 55; Übersetzung der Autorin. Simon Lewsen: Lorna Mills and Her Subversive GIF Art [publiziert am 1. Juli 2015], URL: https://canadianart.ca/features/lorna-mills-and-her-subversive-gif-art/ [31. August 2022]; Übersetzung der Autorin. Tilman Baumgärtel u.a.: Abstract Video. net.video.abstraction, in: The Moving Image in Contemporary Art, hg. v. Gabrielle Jennings, Oakland/CA 2015, S. 129-144, hier S. 139. Vaughan 2005 (wie Anm. 71), S. 45; Übersetzung der Autorin. Vaughan 2005 (wie Anm. 71), S. 44f.

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von zentraler Bedeutung,79 unterminiert sie doch die Illusion kontinuierlicher Bewegung und irritiert auf diese Weise gewohnte, durch das Kino konventionalisierte Sehgewohnheiten, wodurch sie den Fokus vom Inhalt der Darstellung auf dessen mediales Dispositiv verschiebt.80 Formal, inhaltlich, jedoch insbesondere konzeptuell greift Mills in ihrer künstlerischen Arbeitsweise die strukturelle Logik digitaler Bildkulturen auf: »her GIFS are deeply imbedded in the Internet from both a technological and sociological perspective.«81 Ohne Ursprung, Urheber/Urheberin oder Besitzer/Besitzerin – online zirkulierende Bilder kennzeichnet ein nomadisches Dasein, für das Hito Steyerl den Begriff poor image82 prägt. Ganz dem Gedanken kollektiver Autorschaft verpflichtet, bedient sich Mills buchstäblich an der Ästhetik des Internets und bricht in repräsentationskritischer Absicht unter anderem mit dem Gemeinplatz der ›authentischen Amateuraufnahme‹. Zumeist handelt es sich um usergenerierten visuellen Content, den sie durch ihre Weiterverarbeitung nobilitierend in einen Kunstkontext stellt. Ausschnitthaft in das GIF eingelassen, verleiht Mills Beiläufigem, Flüchtigem und Banalem auf diese Weise ungeahnte Relevanz und Dauer. Die verpixelten, teils nur durch eingehende Betrachtung aus nächster Nähe dechiffrierbaren Partialobjekte, deren niedrige Auflösung mutmaßlich auf das amateurhaft aufgenommene Ausgangsmaterial zurückzuführen ist, und die ›nachlässig‹ oder ›stümperhaft‹ ausgeführte Bildbearbeitung rekurrieren auf eine ästhetische Signatur, die Nick Douglas als »Schlüsselästhetik memetischer Onlineinhalte« identifiziert:83 internet ugly. Mills spitzt deren Low-Fi-Ästhetik visuell jedoch noch weiter zu. Stilistisch stehen ihre Arbeiten daher in der Tradition des GIF 1.0; einfachste Animationen mit geringer Auflösung, deren betonter DIY-Charakter aus heutiger Perspektive ein Statement gegen ›digitale Glätte‹ oder hochaufgelöste Perfektion setzt. Wie Seth Barry Watter anmerkt, arbeitet die Künstlerin nicht nur in ästhetischer, sondern auch in ethischer Hinsicht mit dem Hässlichen, stammt das Bildmaterial doch zumeist aus dem Netz und besitzt daher einen 79 80

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Moa 2015 (wie Anm. 73), S. 2. Noch augenfälliger wird die (Selbst-)Thematisierung des Mediums durch Bildsprünge oder Anschlussfehler, wenn sich Anfang und Ende der als GIF geloopten Sequenz nicht nahtlos zusammenfügen. Baumgärtel u.a. 2015 (wie Anm. 76), S. 139. Vgl. Hito Steyerl: In Defense of the Poor Image, in: e-flux 10 (2009), S. 1-9. Nick Douglas: It’s Supposed to Look Like Shit. The Internet Ugly Aesthetic, in: Journal of Visual Culture 13 (2014), S. 314-339, hier S. 314. DOI: https://doi.org/10.1177/147041291 4544516.

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vorgängigen, nunmehr verborgenen Verwendungszweck: »They [the images] are the Internet’s version of primary process […]. Like most unconscious content they are rife with the prurient, the taboo, the freakish and nasty; and their rudeness is retained in the use to which Mills puts them.«84 Wie die meisten ihrer Arbeiten materialisiert sich Petting Zoo: Demons Begone (2019) zum einen als Fünf-Kanal-GIF-Installation im klassischen Ausstellungskontext. Parallel dazu und unabhängig davon finden sich die Dateien der fünfteiligen GIF-Serie zum anderen jedoch ebenso online auf LornaMillsImageDump,85 der Homepage der Künstlerin. Auf diese Weise speist Mills ihre digitalen Collagen erneut in den Bildfundus des Internets ein und macht sie über ihre ›Bildmüllhalde‹ für Weiterverarbeitungen durch Dritte verfügbar. Die downloadfähigen GIFs präsentiert beziehungsweise archiviert sie dort häufig zusammen mit einer Installationsansicht der Arbeit im realräumlichen Ausstellungskontext. Entgegen gängigen fotografischen Dokumentationen künstlerischer Arbeiten zumeist nicht zentralperspektivisch, sondern von einem seitlich versetzten Standpunkt aus aufgenommen, irritiert die Beiläufigkeit der Fotografien. Schiefe Horizontlinien und partielle Unschärfen tragen ein Übriges zum Skizzencharakter der provisorisch, amateurhaft wirkenden ›Schnappschüsse‹ bei. Im Vergleich zum Internet misst Mills, so scheint es zumindest, der (Re-)Präsentation ihrer Arbeiten im Realraum einen deutlich geringeren Stellenwert bei. Am Beispiel von Petting Zoo: Demons Begone verdeutlicht die Gegenüberstellung von Webversion und fotografisch dokumentierter Ausstellungssituation in jedem Fall, dass die Konstellation des pluralen Bildes nicht finit, sondern variabel ist; also selbst im Plural gedacht wird (Abb. 2 u. 3). Als online verfügbare GIF-Dateien besitzen die Einzelbilder beispielsweise identische Abmessungen; die Künstlerin verzichtet in dieser Version offensichtlich auf eine größenbasierte Bedeutungsperspektive (Abb. 3). Obwohl die GIFs de facto gleich gereiht sind, wird das Auge durch die angrenzenden grellgelben Farbflächen von Bild zu Bild geleitet. Der Legeweise im Domino ähnelnd, ist die gewählte Komposition nicht nur deutlich spielerischer, sie nimmt ebenso Einfluss auf die Interpretation der relationierten Einzelbilder. Die duale Existenzweise der Arbeit demonstriert jenen Versionsgedanken, welcher dem künstlerischen Verständnis von Lorna Mills konzeptuell zugrunde liegt. Analog zur prozessualen Logik der 84 85

Watter 2018 (wie Anm. 74), S. 54. Vgl. Lorna Mills: Visual Art, Images & Animations, URL: https://www.digitalmediatree.com/sallymckay/LornaMillsImageDump/ [31. August 2022].

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Digitalität kennen auch ihre kompositen Arbeiten weder Original noch finales Werk, sondern nur verschiedene Zustandsformen.86 Auch die Vergesellschaftung von Bewegtbildsequenzen zu einem ›Wimmel-GIF‹ ist lediglich eine mögliche – potenziell beliebig erweiterbare – Erscheinungsform. Viele der GIFs, die in Petting Zoo: Demons Begone als Bildelemente zum Einsatz kommen, sind auf der Homepage, dem Instagram- und/oder Giphy-Profil der Künstlerin als eigenständige Einzelbilder zu finden.87

Abbildung 2: Lorna Mills, Petting Zoo: Demons Begone, 2019, 5-Kanal-GIFInstallation kuratiert von TRANSFER für Dilalica, Barcelona. Installationsansicht.

© Lorna Mills

Die nachfolgende Werkanalyse des pluralen Kompositbildes basiert auf einer Ausstellungsansicht im Kunstraum Dilalica in Barcelona (Abb. 2). Kuratiert von TRANSFER wurde Petting Zoo: Demons Begone dort 2019 als FünfKanal-Installation auf schwarz umrahmten Flachbildmonitoren mit unterschiedlichen Bilddiagonalen präsentiert. Abwechselnd im Quer- und Hochformat entlang der Oberkante ausgerichtet, wird das fünfteilige Bewegtbildensemble links und rechts durch zwei querformatige Monitore identischer 86 87

Vgl. hierzu auch Katja Gunkel: Der Instagram-Effekt. Wie ikonische Kommunikation in den Social Media unsere visuelle Kultur prägt, Bielefeld 2018, S. 50-53. Vgl. @lorna.mills (Instagram), URL: https://www.instagram.com/lorna.mills/ [31. August 2022].

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Größe eingefasst. Zum Eindruck formaler Kohärenz trägt zunächst auch die einheitliche monochrome Farbigkeit des Hintergrunds bei, von dessen grell leuchtendem Gelbton sich die hierauf arrangierten Videofragmente optisch deutlich abheben. Die Strukturlosigkeit der Farbfläche intensiviert jene disparate Bildwirkung: Während Mills die gezackte Kontur der inszenierten Partialobjekte durch Scharfzeichnung betont und auf diese Weise deren digitale Verfasstheit überdeutlich hervorkehrt, bleibt der Hintergrund in seiner cleanen Künstlichkeit vergleichsweise eigenschaftslos und scheint daher vielmehr in Funktion einer kontrastgebenden Bildbühne für die qua Titel angekündigten tierlichen Protagonisten. Entsprechend der westlichen Lesart wirkt die virtuelle Menagerie des linken GIFs wie eine vertraute Eingangssituation: Ob Haus-, Nutz- oder Wildtier, heimisch oder exotisch, Säugetier, Amphibie oder Vogel, nahezu alle befinden sich unablässig in Interaktion mit einem nicht näher definierten menschlichen Gegenüber, das lediglich fragmentarisch durch Hände und angeschnittene Unterarme repräsentiert ist. Wie im namensgebenden Streichelzoo üblich, steht die gestische Interaktion sowohl inhaltlich als auch motivisch erwartungsgemäß im Fokus. Die Kontaktaufnahme vollzieht sich dabei an der Schwelle zwischen harmlosem Nähegesuch und renitenter Belästigung; mit dem Unterschied, dass es für die Tiere in Mills virtuellen Zoogehegen weder Rückzugsort noch Entkommen gibt, sind sie doch allesamt in repetitiven Bewegungsabläufen gefangen. Obgleich Liebkosungen wie füttern, streicheln, tätscheln und kraulen das gestische Repertoire dominieren, nimmt die händische Interaktion ob ihrer multirhythmischen Vermassung einen zudringlichen Charakter an. Innerhalb jenes unablässigen Gewimmels lässt sich ein schaukelnder weißer Husky zweifelsfrei als Hauptmotiv ausmachen. Ins Auge springt dieses Bildelement nicht nur aufgrund prominenter Platzierung, Größe und Farbigkeit, sondern ebenso wegen seiner vergleichsweisen entschleunigten Bewegung. Das blaue Kunststoffkorsett der Babyschaukel passt wie angegossen und zwängt das ausgewachsene Tier in eine aufrechtsitzende, menschenähnliche Pose. Babygleich in einem Zustand absoluter Hilflosigkeit und Fremdbestimmung gefangen, legt eine vermenschlichende Lesart des tierlichen Mienenspiels gleichwohl dessen Zufriedenheit nahe. Verschiedentlich stellt Mills eine Analogie zwischen Tieren und menschlichen Babys her und inszeniert damit zwei prototypisch niedliche Figuren. Indem sie das übergeordnete Thema Care-Arbeit jedoch gebrochen behandelt, bringt sie die Ambivalenzerfahrung von »Zärtlichkeit und

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Aggression«88 überzeichnet zur Aufführung. Das farbliche Komplement des Schaukelmotivs bildet ein Dalmatiner, auf dessen Rücken ein leblos wirkendes Kleinkind den Betrachtenden in Rodeomanier entgegen galoppiert. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Puppe oder ein menschliches Wesen handelt, die nicht enden wollenden heftigen Schleuderbewegungen des Babykopfes wirken in jedem Fall verstörend und legen einen missbräuchlichen Umgang nahe. Obgleich die bewegten Partialobjekte – der Metapher entsprechend, mit Tieren in einem Zoogehege vergleichbar – künstlich im Containerformat GIF vergesellschaftet werden, kommt kein ›Gemeinschaftsgefühl‹ auf. Dank der visuell überdeutlichen, wehrhaft flirrenden Demarkationslinie zwischen Einzelbild und Umgebung wirken sie nicht nur vor dem grellgelben Hintergrund wie zwangsverpflanzte Fremdkörper, sondern bleiben in ihrer jeweiligen Bewegungsabfolge auch untereinander isoliert. Die gewaltsam erscheinende Transposition mündet ergo in einer nicht artgerechten Haltung. Im Unterschied zum ersten ›Wimmelbild‹ umfasst das rechts anschließende Hochformat vergleichsweise wenige Bildelemente. Deutlich übereinandergeschichtet, erzeugt deren Staffelung jedoch einerseits eine ungleich tiefenräumlichere Wirkung und stellt andererseits eine stärkere Verbindung zwischen den drei unablässig auf der gelben Bildfläche agierenden Videofragmenten her. Zentrales Motiv ist ein Rabe, der nahezu formatfüllend platziert an einem Finger schaukelt. Leicht nach rechts versetzt wälzt sich eine Person unter ihrer Bettdecke unruhig im Schlaf; derweil unmittelbar über ihrem Kopf eine weiße Wolke schwebt, die mutmaßlich von schwarzen Vögeln umkreist wird. Aufgrund seiner symbolischen Bedeutung, jedoch auch bedingt durch die gigantische Größe sowie umfangende Platzierung hinter den beiden anderen Bildelementen wird der Rabe als unheilvolles Alptraumsymbol lesbar. Entgegen aller Bemühungen – »Weicht, Dämonen!« – lässt sich dieser buchstäblich nicht abschütteln, sondern sucht den zu endlosem Schlaf verdammten Träumenden fortwährend als Nachtmahr heim. Seine Figur steht somit im größtmöglichen Kontrast zum Husky, dessen domestiziertes tierliches ›Naturell‹ durch die anthropomorphe Inszenierung als vollends harmlos ausgewiesen wird, und verweist in Korrespondenz mit dem zweiten Teil des Titels auf die Janusköpfigkeit des Tierlich-Niedlichen. Ebenfalls lediglich aus drei distinkten Videoelementen montiert, greift das mittig positionierte Kompositbild erneut das dynamische Wechselspiel zwischen Verdinglichung und Vermenschlichung auf und kombiniert den 88

Ngai 2012 (wie Anm. 14), S. 19; Übersetzung der Autorin.

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tierlichen Protagonisten, ein als Pommestüte gewandetes Ferkel, mit anthropomorphisierten Sichtweisen auf die Natur. Die Positionierung der vermenschlicht gestalteten Orange oben rechts erinnert an ein Sonnenmotiv auf einer kindlichen Landschaftsdarstellung; eine spielerisch naive Anmutung, die auch ihr aufgemaltes Gesicht der Szenerie bei flüchtiger Betrachtung verleiht. Recht schnell offenbart sich jedoch die Ambiguität des Dargestellten in Form sexueller Konnotationen und Missbrauchsfantasien. Die schnurrbarttragende, rauchende Orange wird alsdann zum allsehenden Voyeur, der das karnevalesk kostümierte Schwein beim Schmatzen am Wasserfall, welcher sich wiederum aus einer gesäßähnlichen Felsspalte ergießt, beobachtet. Der Polysemie des englischsprachigen Ausdrucks entsprechend, kippt der Petting Zoo über implizite Vulgarität und Perversion vom Sehnsuchtsort beziehungsweise unschuldigen Idyll zur pornografischen Peepshow. Nunmehr explizit setzt sich diese im nächsten GIF-Arrangement fort: Eingenommen wird die obere Bildhälfte von der Detailaufnahme eines fetttriefenden, noch leicht blutigen Burgerpatties, das einem Chihuahua sinnbildlich als Spielwiese seiner ›fleischlichen Gelüste‹, der Begattung einer menschenähnlichen Spielzeugpuppe, dient. In Endlosschleife gerät die energische Geilheit der rhythmischen Bewegungen des überzüchteten Schoßhündchens zu einem brutalen Penetrationsversuch, der das Kräfteverhältnis zwischen Subjekt und niedlichem Objekt – einer ausgeübten Rachefantasie des Niedlichen vergleichbar – zumindest symbolisch umzukehren scheint: »So who is really the tool for whom?«89 Sich selbst Vergnügen zu bereiten, weiß offensichtlich auch der in der unteren Bildhälfte angesiedelte Eisbär, der unablässig einen blauen Kanister ins Wasser wirft, nur um ihm anschließend freudig nachzuspringen. In ihrer Eintönigkeit an künstliche, artuntypische Beschäftigungsmaßnahmen in Zoos erinnernd, lassen seine immer gleichen Bewegungsabläufe jedoch auch an Verhaltensstörungen denken, die Tiere häufig in Gefangenschaft entwickeln, und verleiht dem unterhaltsamen Zeitvertreib bemitleidenswert neurotische Züge – die Komödie des tierlichen Alleinunterhalters kippt in Richtung Tragödie.           89

Ngai 2012 (wie Anm. 14), S. 95.

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Abbildung 3: Online-Präsentationsform der fünfteiligen Arbeit auf LornaMillsImageDump.

 

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Während das erste GIF die Versprechungen des Titels inhaltlich noch weitgehend einlöst, verschließen sich die weiteren Darbietungen nicht nur zunehmend dem Versuch einer kohärenten Sinngebung, sondern gipfeln schlussendlich in einem Nonsens-Szenario: Von Stachelrochen über Eule bis zum Haushund versammelt Mills im fünften und letzten ›WimmelGIF‹ völlig verschiedene Tiere, die in unterschiedlichsten Situationen mit Minimalhandlungen befasst sind, aus denen sich beim besten Willen kein übergeordnetes Narrativ ableiten lässt. Kakofon kreuchend und fleuchend, gelangt die Arbitrarität der Darstellung als solche zur Aufführung. Indem sie virtuos mit den Ambiguitäten des Dargestellten spielt, demontiert Mills den Unschuldscharakter des Niedlichen mit seinen eigenen Bildern. Die Vexierbilder, welche durch die zirkuläre, wahlweise beklemmend wie beschwörend wirkende Performance überdeutlich hervortreten, vergiften eine positiv besetzte affektive Bindung. Mittels spielerischer Andeutungen werden nicht nur die kollektiven Perversionen des Internets, sondern ganz konkret auch die der Betrachtenden selbst vorgeführt: wer belästigt hier eigentlich wen? Mills verkehrt die im Streichelzoo übliche Rollenverteilung in ihr Gegenteil, ist das Stressmoment aufgrund jener reflexiven Wendung doch nun aufseiten der Rezipienten oder Rezipientinnen zu suchen – das cute GIF wird zur Erkenntnisfigur.

Abbildungen Abb. 1: Happy Cheering GIF by bluesbear, @bluesbear vom 06.03.2019, https://g iphy.com/gifs/MeIucAjPKoA120R7sN [31. August 2022]. Abb. 2: Lorna Mills, Petting Zoo: Demons Begone, 2019, 5-Kanal-GIF-Installation kuratiert von TRANSFER für Dilalica, Barcelona (Installationsansicht), http ://www.digitalmediatree.com/library/image/179/Barcelona_scr_1.jpg [31. August 2022]. Abb. 3: Online-Präsentationsform der fünfteiligen Arbeit Petting Zoo: Demons Begone (2019) auf LornaMillsImageDump, http://digitalmediatree.com vom 26. 10.2019, https://www.digitalmediatree.com/sallymckay/LornaMillsImageDu mp/?68106 (partieller Screenshot).

Ästhetische Bildung nach dem Internet Grübeleien über eine »Ästhetik digitaler Medien« und deren Bildungspotentiale Torsten Meyer

Der Vortrag, der diesem Text zugrunde liegt, sollte sich – so hatten es sich die Veranstalterinnen und Veranstalter der zugehörigen Tagung ›Ästhetik digitaler Medien‹ gewünscht – vor allem mit der Frage nach den Auswirkungen des medienkulturellen Wandels auf Formen der Rezeption beziehen und insbesondere darauf, inwiefern vor diesem Hintergrund der Ästhetikbegriff für Vermittlungsprozesse im Kunstunterricht neu gefasst werden müsste. Ich hatte damit schon bei der Konzeption des Vortrags meine Schwierigkeiten, weil ich seit einiger Zeit ein gewisses (nicht nur Jacque Rancière geschuldetes) Unbehagen mit dem Begriff der Ästhetik habe, insbesondere, wenn es darum im Kontext digitaler Medien geht. Nach Erläuterung meiner Skepsis gegenüber dem Begriff des Ästhetischen und der Hintergründe, die mich zu dieser Skepsis bewegen, werde ich mich im Folgenden einigen Phänomenen widmen, die nach meiner Beobachtung im Kontext digitaler Medienkultur zu bedenken sind. Dabei geht es zunächst unter der Überschrift Post Internet um die Überwindung der Dichotomie analog/digital, die bis vor kurzem noch substantiell schien, danach unter der Überschrift Post Art um Beobachtungen aktueller Entwicklungen im Feld der Kunst, die korrelationistischen Vorstellungen über ästhetische Wirkprinzipien entgegen laufen und deshalb andere theoretische Perspektiven auf diesen Kontext nahe legen. Abschließen möchte ich mit einer Flucht nach vorn, nämlich dem Versuch eine Spur zu legen, wie der Begriff der Ästhetik – den ich im Kontext Ästhetischer Bildung trotz meines Unbehagens vorläufig noch brauche – mit der topologischen Figur des Sujets im Sinne einer AkteurNetzwerk-Theorie neu gefasst werden könnte.

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Skepsis Meine Skepsis gegenüber dem Begriff der Ästhetik im Zusammenhang mit digitalen Medien hat mehrere Hintergründe. Wesentlich ist meine Beschäftigung mit der medien-kulturhistorischen und epistemologischen Perspektive der Mediologie. Bevor ich darauf explizit in Bezug auf digitale Medien eingehe, zunächst eine Vorbemerkung zum Begriff der Ästhetik. Die Beschäftigung mit den mediologischen Perspektiven hat dazu geführt, dass ich allen Erfindungen, die das kulturelle Makromilieu der Moderne hervorgebracht hat, zunächst einmal provisorisch misstraue. Zu diesen Erfindungen der Moderne gehört auch der Begriff der Ästhetik. Der Begriff der Ästhetik – wie von Baumgarten 1735 in seinen Mediationes grundgelegt – ist ein Produkt aus der Blüte der Buchdruck-Galaxie, aus jener Zeit, in der man dem eigenen Verstand (ohne Anleitung eines anderen) vertraute, den mündigen Bürger in Aussicht stellte, die Selbstbehauptung des (lesenden) Individuums verordnete und dieses im Rückblick ziemlich hochgestapelte, souveräne und zuweilen als solches auch ästhetische Subjekt erfand, das als menschliches Individuum – schöpfend oder betrachtend in jedem Fall ästhetisch erfahrend – einem ästhetischen Objekt gegenübergestellt wurde. Diesem Verständnis nach ist Ästhetik etwas, das sich zwischen Subjekt und Objekt abspielt und das Verhältnis des einen zum anderen bestimmt. »Ästhetische Erfahrung ist nichts, was ein Subjekt ›machen‹ oder ›haben‹ könnte«, schreibt Juliane Rebentisch, »[d]er Begriff ›Erfahrung‹ bezieht sich hier vielmehr auf einen Prozess zwischen Subjekt und Objekt, der beide verwandelt«.1 Suhail Malik spitzt das auf das Problem mit dem Begriff der Ästhetik der Moderne zu: »Zeitgenössische Kunst als ästhetische Erfahrung von Sinn- und Werterzeugung, also Ko-Konstituierung von Kunst-Objekt und Subjekt, setzt also Korrelationismus voraus, reproduziert und bestätigt ihn in jedem Moment ihrer offenen Erfahrung.«2 Ein neuer Trend in Philosophie, Soziologie und Kulturtheorien, die sich im weiteren Sinn an Akteur-Netzwerk-Theorien anlehnen, ist jedoch eine Abwendung von dieser korrelationistischen Konzeption von Ontologie, Erkenntnis-

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Juliane Rebentisch: Questionnaire on ›The Contemporary.‹, in: October (130) 2009, S. 3-124. URL: https://www.jstor.org/stable/40368571 [14. Januar 2022]. Suhail Malik: Warum die zeitgenössische Kunst zerstört werden muss, in: Spike 37 (Herbst 2013), S. 128-134, hier S. 130.

Ästhetische Bildung nach dem Internet

theorie und in der Folge eben auch Ästhetik, die ausgehend von René Descartes’ cogito die denkende Sache (res cogitans) von der ausgedehnten Sache (res extensa) trennt und die eine als Subjekt, die andere als Objekt definiert und beide säuberlich voneinander trennt. Eben diese Subjekt/Objekt-Dichotomie ist gedankliche Basis auch des Verständnisses von Ästhetik in der Moderne und Postmoderne. Für den Versuch (ästhetische) Bildungsprozesse als Netzwerkprozesse zu denken, werden hier sogar beide Begriffe – Bildung wie Ästhetik – höchst problematisch. Denn gemäß der nur knapp nach den Erfindern der modernen Ästhetik – Baumgarten, Kant und Schiller – von Wilhelm von Humboldt (1804) formulierten Theorie der Bildung des Menschen sind diese als Prozesse der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen (Subjekt-/Objektverhältnissen) zu denken und damit ebenfalls korrelationistisch fundiert (Fig. 1).

Fig. 1: Problem: Subjekt/Objekt-Dichotomie in Ästhetik (Subjekt/ Kunstwerk) und Bildungstheorie (Selbst/Welt).

Ein zwar anderes, aber für mich in diesem Kontext ebenso relevantes Problem ist die Ahnung, dass – wenn sich die Frage nach der ›Ästhetik digitaler Medien‹ auch und vielleicht insbesondere auf die aktuelle Kunst (und nicht nur die Alltagskultur) bezieht – der Begriff der Ästhetik ohnehin unangebracht ist, wenn auch Theoretiker der Gegenwartskunst, wie hier zum Beispiel Peter Osborne, der sich nicht explizit auf digitale Medien, sondern ganz allgemein auf eine »Philosophie der Gegenwartskunst« (so der Untertitel des folgend zitierten Buches) bezieht, ihre Zweifel am Begriff der Ästhetik haben:

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»There is no critically relevant pure ›aesthetics‹ of contemporary art, because contemporary art is not an aesthetic art in any philosophically significant sense of the term.«3 Es könnte also sein, dass wir auf einer völlig falschen Spur sind, wenn wir die Frage nach einer ›Ästhetik digitaler Medien‹ im Kontext aktueller Kunst stellen. Diese aktuelle Kunst ist ohnehin und völlig unabhängig von den technologischen Grundlagen ihrer Materialität oder Medialität nicht mehr mit der Kategorie des Ästhetischen zu fassen.

Mediologie Wie eingangs angedeutet, misstraue ich provisorisch allen Erfindungen, die das kulturelle Makromilieu der Moderne hervorgebracht hat, und möchte zunächst aus mediologischer Perspektive fragen, ob dieser Begriff eventuell ein Produkt einer bestimmten symbolischen Konfiguration sein könnte, die mit den Kommunikations- und Informationstechnologien zu tun hat, die im 15. bis 20. Jahrhundert (in Mitteleuropa, später auch Nord-Amerika und mit zunehmender Kolonialisierung und Globalisierung auch im Rest der Welt) gebräuchlich war. Um diese Perspektive, der es um die größeren Zusammenhänge des Sozialen, Kulturellen, Symbolischen und Technologischen geht, kümmert sich in epistemologischer Tradition die Mediologie als Untersuchungsmethode der komplexen Korrelation zwischen einem symbolischen Körper (einem künstlerischen Genre, einer ästhetischen Form, einer Doktrin, einer Religion etc.), einer Form der kollektiven Organisation (einer Partei, einer Schule, einem Industriezweig etc.) und einem technischen System der Kommunikation (technisches Medium, Archivierungssystem etc.).4 Régis Debray, Begründer und Namensgeber der Mediologie, beschreibt das in einem einfachen, sehr anschaulichen Bild: »Wenn der Mediologe auf jemanden trifft, der mit dem Finger

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Peter Osborne: Anywhere or not at all. Philosophy of Contemporary Art, London 2013, S. 10. Vgl. Mediologie als Methode, hg. v. Birgit Mersmann und Thomas Weber, Berlin 2008, S. 7f.

Ästhetische Bildung nach dem Internet

auf den Mond zeigt, dann betrachtet er nicht den Mond, sondern den Finger und die Geste des Zeigens«.5 Im Fokus der Mediologie steht die Annahme, dass kaum etwas so große Bedeutung für die Strukturen einer Gesellschaft und die Formen einer Kultur hat wie die jeweils geschäftsführenden Verbreitungsmedien. Diese Annahme wird von einer ganzen Reihe von Autoren aus ganz verschiedenen Disziplinen geteilt. Neben zum Beispiel Marshall McLuhan und seiner ›GutenbergGalaxis‹6 ist prominent zu nennen der Kunsthistoriker Erwin Panofsky, der sich mit seiner Arbeit über die »Perspektive als Symbolische Form«7 an Ernst Cassirer und seine »Philosophie der Symbolischen Formen«8 anlehnte. An Panofsky lehnte sich seinerseits wiederum Lev Manovich an mit seiner Arbeit über »Database as a Symbolic Form«.9 Aber auch der Soziologe und Kulturtheoretiker Dirk Baecker macht in seinen »Studien zur nächsten Gesellschaft« soziologische Entwicklungen an Aufkommen und Gebrauch bestimmter Medientechnologien fest: Die Einführung der Sprache konstituierte die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers wird die – wie Baecker im Anschluss an den Managementdenker Peter F. Drucker formuliert – »nächste Gesellschaft« konstituieren.10 Ähnlich fasst auch Debray das epochenspezifische Zusammenspiel von technischem Medium, symbolischer Form und kollektiver Organisation mit dem Begriff der »Mediosphäre«. Er hat drei große, durch solche medienkulturellen Prägungen unterscheidbare Epochen identifiziert, die er ähnlich

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Régis Debray: Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland, Berlin 1999, S. 403. Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, London 1962. Erwin Panofsky: Die Perspektive als ›symbolische Form‹, in: Erwin Panofsky. Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1927. Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1921), in: Ernst Cassirer. Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, S. 169-200. Lev Manovich: Database as a Symbolic Form, URL: http://manovich.net/index.php/p rojects/database-as-a-symbolic-form [14. Januar 2022]. – Vgl. auch Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge 2001. Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007, S. 7.

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Baecker als kulturelle Makromilieus versteht und als Logosphäre, Graphosphäre und (zunächst als Videosphäre, später als) Hypersphäre bezeichnet.11 Die aus dem Gebrauch der kommunikativen Mittel und Mittler jeweilig resultierenden kulturellen Praxen und Techniken einer bestimmten Epoche bilden in ihrer Gesamtheit so etwas wie ein »historisches Apriori« im Sinne Michel Foucaults,12 genauer ein medien-kultur-historisches Apriori: ein epochenspezifisches Set von Bedingungen kognitiven, kommunikativen und sozialen Prozessierens, eine Art blinden Fleck des Denkens, Wissens, Erkennens. Die oben genannten Medien- und Kulturtheoretikerinnen und Kunsthistoriker und noch einige andere sind sich darin einig, dass sich mit der aus der digitalen Vernetzung hervorgehenden Kultur ein neues historisches Apriori, eine neue Mediosphäre, ein neues, anderes kulturelles Makromillieu ankündigt und das die Zeit, die wir gerade erleben, eine Zeit des Übergangs – von der modernen zur »informatisierten« (Lyotard) oder »nächsten Gesellschaft« (Baecker) oder von der »Graphosphäre« zur »Hypersphäre« (Debray) ist, in der man auf allen Ebenen des kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens mit dem Wandel festgeglaubter Gewohnheiten zu kämpfen hat.

Post Internet Eben diese These ist Ausgangspunkt des Forschungsschwerpunkts PostInternet Arts Education in Köln:13 Wir befinden uns im Übergang in eine neue Mediosphäre und wir haben auf allen Ebenen des kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und auch des wissenschaftlichen Lebens mit dem Wandel festgeglaubter Gewohnheiten und Üblichkeiten zu kämpfen. Es gibt allerdings inzwischen eine Generation von Menschen, für die all das, was wir jetzt als Wandel, Wechsel, Übergang, Neuigkeit und Besonderheit wahrnehmen, schlicht Normalität ist. Sie sind die Ureinwohner der nächsten Gesellschaft und der Hypersphäre. Diese »Digital Natives«14 sind in den Kunsthochschulen und Akademien angekommen. Und zurzeit sind sie dabei – vor kurzem noch unter dem La11 12 13 14

Régis Debray: Einführung in die Mediologie, Bern 2003, S. 64f. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 187f. Vgl. Post-Internet Arts Education, URL: piaer.net [14. Januar 2022]. Vgl. Marc Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants, in: On the Horizon 9, No. 5 (2001), URL: https://marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%Digital Natives, Digital Immigrants – Part1.pdf [14. Januar 2022]. – Im Anschluss an John Perry

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bel Post-Internet Art in den Feuilletons verhandelt – die Gewohnheiten des Kunstsystems durcheinanderzubringen. Sie verbindet kein erkennbarer Stil, wohl aber eine gemeinsame Haltung, die in Anlehnung an Lyotards »Postmodern Condition« nun als Post-Digital Condition15 gefasst werden kann: Sie leben mit großer Selbstverständlichkeit eine auf den durch digitale Medien induzierten sozialen, politischen, technologischen und wirtschaftlichen Veränderungen fußende Normalität, ohne die Gründe dieser Bedingungen als solche noch zu thematisieren, sind also quasi über das ›Neue‹ und ›Besondere‹ des Digitalen und der Vernetzung hinaus: Post Internet, nach dem Internet, oder besser nachdem das Internet etwas Neues, Besonderes war. Der Kurator Carson Chan bringt das prägnant auf den Punkt: »All diese Ideen, die vor noch gar nicht langer Zeit neu und radikal waren, sind für diese Künstler schon längst zu einer Art zweiter Natur geworden. Die Kunst, die dabei produziert wird, ist nicht notwendigerweise ›für‹ das Internet oder online gemacht, aber automatisch mit einer Art Internet State of Mind.«16 Um diesen Internet State of Mind und um die daraus resultierende Kultur, die anderen Üblichkeiten, geht es in unserem Forschungsprojekt. In einem Prozess explorativer Orientierung kunstpädagogischer Konzeptionen an der Kunstproduktion jener Generation von Künstlerinnen und Künstler, die über das Neue und Besondere des Internets hinaus sind, fragen wir uns: Wie verändern diese anderen Üblichkeiten die Üblichkeiten in der Kunst? Was produzieren Künstlerinnen und Künstler der Generation Digital Native als Kunst? Was erwarten Rezipientinnen und Rezipienten der Generation Digital Native als Kunst? Was kritisieren Kritikerinnen und Kritiker und Künstlerinnen und Künstler der Generation Digital Native als Kunst? Was kuratieren Kuratorinnen und Kuratoren, was sammeln Sammlerinnen und Sammler sowie Schülerinnen und Schüler? – und natürlich vor allem: Was lehren Lehrerinnen und Lehrer der Generation Digital Native als/mit/durch Kunst?

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Barlow: A Declaration of the Independence of Cyberspace [publiziert am 8. Februar 1996], URL: https://www.eff.org/cyberspace-independence [14. Januar 2022]. Dank an Konstanze Schütze für diese Formulierung. Zitiert nach Bianca Heuser: Für eine Handvoll JPGs, in: De:Bug Magazin für elektronische Lebensaspekte [online publiziert am 7. April 2011, URL. http://de-bug.de/mag/fur -eine-handvoll-jpgs/ [14. Januar 2022].

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Post Art »The thing we call ›art‹ is a historical period, like ancient art — it has a vague beginning point that makes it a period, and also an end, which is usually marked by a major changes [sic!] in other areas of life. Quite possibly we’ve just witnessed this end. The thing that we call ›Internet‹ is a whole way of being in the world. It’s the Internet you know from your browser window, but also the Internet of things and materials, and also the internet of minds, of tastes and feelings. After this passing historical period ›Art‹, you have this new period ›Internet‹. So it makes sense to ask, what does that change mean for aesthetics? How do we present and represent in this new period?«17 Die Krise, die den Übergang in die nächste Gesellschaft markiert, ist für die Kunst eine Katastrophe. In seiner »Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland«18 hatte Debray schon angekündigt, was Paul Knaele hier stellvertretend für die Generation der Post-Internet Artists hier auf den Punkt bringt. Debray entlarvt die Kunst als ein Symptom der durch Buchdruck und Zentralperspektive geprägten Moderne. Kunst ist demnach »kein unveränderlicher Bestandteil der conditio humana« und auch keine »transhistorische Substanz«, die sich als anthropologische Konstante unverändert durch die Kulturgeschichte zieht, sondern ein erst »spät im neuzeitlichen Abendland« aufgetauchter Begriff, dessen Fortbestand »keineswegs« gesichert ist. Kunst – so Debray – »das reißerische einsilbige Wort stellt sich jedem Erklärungsversuch in den Weg, der die Wandelbarkeit von Bildern im Auge hat. Es stellt ein Artefakt als Natur vor, einen Augenblick als etwas Wesentliches und die Folklore als universell Gültiges.«19 Jerry Saltz hatte anlässlich der von Carolyn Christov-Bakargiev kuratierten Documenta 13 den schwer fassbaren Begriff Post Art eingebracht: »The best parts of Documenta 13 bring us into close contact with this illusive entity of Post Art – things that aren’t artworks so much as they are about the drive to make things that, like art, embed imagination in material […] Things

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Paul Knaele/Franziska Wildförster: canadian artist paul kneale says post-internet is dead, vice [online publiziert am 20. März 2015], URL: https://i-d.vice.com/en_uk/article /vbdv9x/canadian-artist-paul-kneale-says-post-internet-is-dead [14. Januar 2022]. Debray 1999 (wie Anm. 5). Debray 1999 (wie Anm. 5), S. 149.

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that couldn’t be fitted into old categories embody powerfully creative forms, capable of carrying meaning and making change.«20 Post Art steht wiedererkennbar in Verbindung mit dem Feld der Kunst, denkt aber über die traditionelle bürgerliche Kunst der Moderne hinaus. Das hatte Dirk Baecker so ähnlich für die Kunst der »nächsten Gesellschaft« formuliert: Sie verlässt das »bourgeoise, eurozentrische« Feld und die gewohnten Mechanismen der Ein- und Ausschließung. »Sie sprengt ihre hochkulturellen Fesseln und verlässt das Gefängnis ihrer Autonomie. Sie wird sich«, so Baecker im Gespräch mit Johannes Hedinger, »neue Orte, neue Zeiten und ein neues Publikum suchen. Sie wird mit Formaten experimentieren, in der die gewohnten Institutionen zu Variablen werden.«21 Auch Christov-Bakargiev – als Kuratorin der immerhin größten und bedeutendsten Ausstellung der Gegenwartskunst – war sich bei der Eröffnung der Documenta 13 »ehrlich gesagt« nicht sicher, ob das »Feld der Kunst« – bezogen auf die große abendländische Erzählung – »auch im 21. Jahrhundert überdauern wird«. Sie bezweifelte, »dass die Kategorie Kunst eine gegebene Größe ist. Nichts ist einfach gegeben.«22 Die Konzeption von Kunst, »die Farbe mittels Farbe untersucht, Form mit Form, Geschichte mit Geschichte, Raum mit Raum«, bezeichnet sie als »bourgeoise, eurozentrische Idee«.23 Entsprechend versammelte sie in Kassel Kunst von Outsidern: von Menschen, die keine (professionellen) Künstlerinnen und Künstler sind oder sein wollen und das ›Feld der Kunst‹ eher nur von der Außenseite kennen (Outsider Art), und – wie das seit Okwui Enwezors documenta 11 in solchen Kontexten angemessener Standard ist – von Menschen, die außerhalb eurozentrischer Kulturhoheiten leben (Global Art). Joseph Beuys’s berühmtem dictum »Jeder Mensch ist ein Künstler«, fügte Christov-Bakargiev hinzu: »So is any thing.«24  – Damit ist neben dem expliziten Bruch mit der Geschichte der Kunst als große Erzählung eurozentrischer 20

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Jerry Saltz: A Glimpse of Art’s Future at Documenta, in: What’s Next? Kunst nach der Krise, hg. v. Johannes M. Hedinger und Torsten Meyer, Berlin 2013, S. 490-491, URL: ht tp://whtsnxt.net/134 [3. März 2022]. Dirk Baecker/Johannes M. Hedinger: Thesen zur Nächsten Gesellschaft, in: What’s Next? Kunst nach der Krise, hg. v. Johannes M. Hedinger und Torsten Meyer, Berlin 2013, S. 35-38, URL: http://whtsnxt.net/007 [14. Januar 2022]. Carolyn Christov-Bakargiev/Silke Hohmann: Vielleicht gibt es Kunst gar nicht. Interview mit der Chefkuratorin der documenta 13, in: Monopol. Magazin für Kunst und Leben 6 (2012), S. 60-63, hier S. 62. Christov-Bakargiev, Carolyn: Brief an einen Freund/Letter to a friend, Ostfildern-Ruit 2011, S. 27. Zit. n. Saltz 2013 (wie Anm. 20).

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Hochkultur auch ein Bruch mit dem – möglicherweise zugehörigen – historisch überbetonten Verhältnis zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem Kunstwerk als diesem gegenüberstehenden Objekt angedeutet, das hier zur Debatte steht. In vielerlei Hinsicht steht das kuratorische Projekt Christov-Bakargievs Daniel Birnbaum zufolge »perfectly in tune« mit den Ansätzen, die insbesondere auch im Zusammenhang mit der Post-Internet Art als ›Spekulativer Realismus‹ diskutiert werden. Statt mit der für den traditionellen Begriff der Ästhetik konstitutiven Subjekt/Objekt-Dichotomie sollten wir uns – dazu regte die Documenta 13 als Gesamtprojekt an – mit anderen, »equally exciting and productive« Beziehungen in der Welt befassen, die aus so vielen menschlichen und nichtmenschlichen Akteurinnen und Akteuren oder »Aktanten«, wie Bruno Latour sagen würde, bestehen.25 Das wurde zum Beispiel deutlich an der Konzeption des ›Brain‹, das – abgetrennt von der übrigen Ausstellung durch eine Glaswand – in der Rotunde des Fridericianums das Zentrum der Documenta 13 bildete. Auf der Glaswand war eine Text-Arbeit von Lawrence Weiner angebracht: THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF, 2012. Das ›Brain‹ war ein »associative space of research«, in dem eine Reihe von »artworks, objects, and documents […] in lieu of a concept« – anstelle oder am Ort eines Konzepts – zusammengeführt wurden. Dabei war allerdings nicht ganz eindeutig, ob das ›Brain‹ so verstanden werden sollte, dass es der gesamten Ausstellung Subjektivität zuschreibt, oder ob es als neutrale wissenschaftliche Metapher zu lesen war, die ein neues Verhältnis zu Dingen – »things (including artworks) and other living beings« – postuliert. So oder so – schreibt Birnbaum – spielte sich die daraus resultierende Spannung zwischen zahlreichen Assemblagen und Apparaten ab, die unentschlossen an der Grenze zwischen Subjekt und Objekt schwebten.26          

25

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Daniel Birnbaum: Documenta 13, Artforum International Magazine [Oktober 2012], URL: https://www.artforum.com/print/reviews/201208/documenta-13-34514 [14. Januar 2022]. Birnbaum 2012 (wie Anm. 25).

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Abb. 1-7: »… bewachsene Komposthügel, durch die ein Weg, stellenweise eher Trampelpfad, mit veralgten Pfützen führte. Reifenspuren zeugten von menschlicher Präsenz. Auf den Hügeln wucherten Pflanzen und Unkraut, am Rande des Pfads lagen gestapelte Gehwegplatten und ein Haufen schwarzer Splitt, am Fuß einer Eiche hatte sich eine Ameisenkolonie angesiedelt. Selbst auf den zweiten oder dritten Blick blieb unklar, was hier künstlerisch gestaltet war und was nicht, wo die Kompostieranlage aufhörte und das Kunstwerk anfing.«*

* Hantelmann 2014 (wie Anm. 27), S. 223.

 

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Das trifft in besonderem Maß zu auf Pierre Huyghes ›Untilled‹. Dorothea von Hantelmann beschreibt die Arbeit als »situiertes Kunstwerk«, als »Werk, das buchstäblich mit seinem Kontext verwoben ist, das Wurzeln schlägt, das sich in eine bestehende Assoziation einfügt und diese neu komponiert.«27 Der Künstler hatte ein Biotop angelegt in der Kompostieranlage des barocken Aue-Parks, das aus verschiedenen organischen und nicht-organischen Elementen bestand, darunter toxischen Pflanzen, gestapelten Gehwegplatten und Asphalthaufen, einer im Schlamm liegenden weiblichen Figur aus Beton, die anstelle eines Kopfes einen Bienenstock auf den Schultern trug sowie einer eleganten, weißen Windhündin mit einem fluoreszierend pink gefärbtem Bein namens ›Human‹. Laut Birnbaum war es ein ebenso rätselhaftes Tableau wie das hinter der Holztür in Duchamps Étant donnés,28 das hier daran erinnerte, dass eine Gedankenlinie der Ausstellung durch die Geschichte des Surrealismus führte (Abb. 1-7). In ihrem sehr lesenswerten Aufsatz über das »Denken der Ankunft« beschreibt Dorothea von Hantelmann die Arbeit als »Netzwerk«.29 ›Untilled‹ (engl.: nicht bestellt, nicht kultiviert) bringe ein Wirklichkeitsverständnis zum Ausdruck, das die Arbeit ganz im Sinne von Bruno Latours AkteurNetzwerk-Theorie als Funktionsnetz »aus ganz verschiedenartigen menschlichen wie tierischen, pflanzlichen und dinghaften Aktanten« konzipiert. »Korrespondierend mit einer solchen netzwerkhaften Auffassung von Wirklichkeit realisiert sich das Kunstwerk Untilled auch selbst als ein Netzwerk: als ein Werk ohne stabile Form, das bis in seine innerste Struktur hinein von Kontingenz durchzogen ist.«30 Für den hier zu diskutierenden Zusammenhang lässt sich das Verhältnis von Subjekt und Objekt als Rezipientin/Rezipient und Kunstwerk im Fall von Pierre Huyghes Untilled nur schwerlich in die aus Moderne und Postmoderne gewohnte Form der Subjekt/Objekt-Dichotomie bringen (Fig 2).      

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Dorothea von Hantelmann: Denken der Ankunft. Pierre Huyghes Untilled, in: Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, hg. v. Lotte Everts u.a., Bielefeld 2014, S. 223-241, hier S. 238. Birnbaum 2012 (wie Anm. 25). Hantelmann 2014 (wie Anm. 27), S. 223. Hantelmann 2014 (wie Anm. 27), S. 231.

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Fig. 2: Subjekt/Objekt-Dichotomie am Beispiel des modernen Verständnisses von Rezipientinnen und Rezipienten und Kunstobjekt als Basis für die Ermöglichung ästhetischer Erfahrung.

Fig. 3: Das Kunstwerk/Objekt löst sich auf, zerspringt bei genauerer Betrachtung seiner Konzeption und Wirkungsweise in eine Ansammlung von einzelnen Elementen: »ein Werk ohne stabile Form, das bis in seine innerste Struktur hinein von Kontingenz durchzogen ist.«*

*Hantelmann 2014 (wie Anm. 27), S. 231.

Vielmehr müsste eine symbolische Darstellung wohl ungefähr wie Fig. 3 aussehen. Das als Objekt gedachte Kunstwerk zerspringt in eine Ansammlung

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von Elementen, die in Form von Aktanten miteinander in Beziehung stehen und ein Funktionsnetz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie bilden (Fig. 3).

Beyond Spectatorship Die Elemente, die das Kunstobjekt Untilled bilden, sind über biologische oder soziale Prozesse untereinander verbunden und »in Bezug auf ihre Vermehrung, Verbreitung oder ihr Vergehen (Kompostieren) in unterschiedliche Prozessualitäten eingebunden.« Die Arbeit existiert, so Hantelmann, nicht nur in Abhängigkeit von den jeweiligen subjektiven Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Interpretationsweisen der Rezipientinnen und Rezipienten, die die Elemente in ihrer Wahrnehmung miteinander verbinden, sondern sie verändert sich ganz buchstäblich und unablässig auch ganz unabhängig davon, ob sie gerade rezipiert werden oder nicht.31 Ähnlich wie Untilled funktioniert eine andere Arbeit aus dem Kontext der Post-Internet Art, die ich in diesem Zusammenhang noch kurz vorstellen möchte. Kristin Klein hat sich im Rahmen unseres Forschungsprojekts PostInternet Arts Education Research damit ausführlich beschäftigt.32 New Eelam ist konkret dem Kontext der Post-Internet Art zuzurechnen. Es handelt sich, ähnlich Untilled, um ein langfristig angelegtes Kunstwerk, diesmal in Form eines Startup-Unternehmens. Das Projekt wurde von Christopher Kulendran Thomas in Zusammenarbeit mit der Kuratorin Annika Kuhlmann gegründet. Seit 2016 arbeiten sie mit einem interdisziplinären Team an der Umsetzung eines globalen Flatrate-Subskriptionsmodells für ›homes‹, Wohnungen/ Heime/Zuhause für eine wachsende Klasse von weltweitgewordenen Nomadinnen und Nomaden, die projektbezogen und mobil von ihren Laptops aus arbeiten und sich ganz selbstverständlich zwischen verschiedenen Sprachen, Ländergrenzen und Zeitzonen bewegen. Ebenso wie deren Musik- und VideoAbonnements, soll New Eelam nun auch das ›Zuhause‹ streamable machen: »What if homes were streameable just like music or movies?«, heißt es in einem neben diversen Flyern, Video-Clips und einer Web-Site zum Werk gehörigen

31 32

Hantelmann 2014 (wie Anm. 27), S. 231. Im Folgenden wird wesentlich Bezug genommen auf Kristin Klein: New Eelam, unveröffentlichtes Manuskript, Universität zu Köln 2018.

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Werbefilm, »You could be wherever you need to be, to be inspired by whatever fires your imagination. Wherever. Whenever. But always at home.«33 (Abb. 8-15)

Abb. 8-15: New Eelam (Christopher Kulendran Thomas 2016ff) netzwerkartige Assoziation von Elementen, die eine mit den üblichen Mitteln der Rezeption kaum fassbare Konstellation von Kunstwerk als Objekt bilden.

New Eelam bezieht sich auf die mit fortschreitender Digitalisierung aller Lebensbereiche wachsende Mobilität der Menschen und Vervielfältigung möglicher Lebensentwürfe, spielt jedoch zugleich auf die mit der Globalisierung verbundenen weltweiten Migrationsbewegungen an. Der Titel der Arbeit verweist auf Tamil Eelam, den während des Bürgerkriegs in Sri Lanka (1983 bis 2009) von tamilischen Separatistinnen und Separatisten geforderten Staat im Nordosten der Insel, der auf wirtschaftliche Selbstverwaltung, Abschaffung des Kastensystems und Gleichberechtigung von Frauen zielte. 33

Transkription des zur Arbeit New Eelam gehörigen Videoclips von Christopher Kulendran Thomas: New Eelam [2016], URL: https://vimeo.com/202821309 [14. Januar 2022].

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Die in den 1970er Jahren begonnenen Autonomiebestrebungen wurden 2009 brutal niedergeschlagen. Vor diesem Hintergrund thematisiert die Arbeit den Anspruch und das – zurzeit an nationale Staatsbürgerschaft gebundene – Recht darauf, irgendwohin zu gehören und ein Zuhause zu haben. Dieser Konzeption von an Nationalität gebundenem Staatsbürgertum setzt New Eelam die Vision eines Weltbürgertums als ›Liquid Citizenship‹ entgegen: »New Eelam’s flexible housing service will give global citizens a growing stake and a collection of beautifully designed homes in some of the world’s most charismatic neighbourhoods. So you can move around between cities as you wish. We are making it as simple as a flat rate monthly subscription. So you won’t have to choose between the security of home ownership and the flexibility to move around. Because we want to enable a more fluid form of citizenship beyond borders. So that the whole world can be your home.«34 Das Werbevideo ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem größeren Netz von Elementen, die einen wirklich großen Zusammenhang, eine mit den üblichen Mitteln der Rezeption kaum fassbare Konstellation bilden. Kristin Klein beschreibt die Arbeit als »abstrakte und vielverzweigte Entität und komplexen Prozess, den man im Sinne einer Teilhabe und Bewegung […] mitproduzieren kann und damit die Idee in die Köpfe bringt.«35 Dabei geht es nicht nur darum, wie sich die Arbeit im musealen Raum jedes Mal wieder anders präsentiert, sondern vor allem auch, wie sich die anderen Elemente darum herum formiert: »Ausstellungen und Installationen bilden […] nur einen Teil der Arbeit ab. Um diese zu erfassen, muss man sich ein breites Rahmenwerk ihrer Artikulationen anschauen. So ist das ›Werk‹ schwer zu fassen, es ist zugleich StartUp und damit eine Idee, die in Interviews, Texten, Dokumentation und Diskussionen beständig weiter ausformuliert wird. Die Arbeit verändert sich und passt sich in ihren Formen an ihre Umgebung und ihr Zielpublikum an. Es ist eher als verteiltes Netzwerk zu verstehen denn als abgeschlossene Arbeit, die bislang zumindest, als Idee einer spekulativen Zukunft immer wieder wiederholt werden muss, wenn sie genug Mitstreiter*innen finden

34 35

Thomas 2016 (wie Anm. 33). Klein 2018 (wie Anm. 32).

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will (oder im Sinne der Zirkulation als latent wabernde Möglichkeit, als spekulative Kraft aktiv im Umlauf gehalten werden soll).«36 Interessant in unserem Zusammenhang ist dabei vor allem, dass für Thomas die Rezipientinnen und Rezipienten nicht Ziel, sondern Material der künstlerischen Arbeit sind: »But rather than playing up to the fantasy of critical distance, the artistic practices sited here work through networked contingencies to produce communities and consequences that institute reality. Spectatorship here becomes only part of the materials of (and not the purpose of) art’s ecology of effects beyond the viewer’s interpretation.«37 Die symbolische Darstellung des Verhältnisses des rezipierenden Subjekts zu dem, was einmal das Kunst-Objekt war, möchte ich also für das Beispiel New Eelam wie folgt, um die anderen Rezipientinnen und Rezipienten erweitern (Fig. 4):

Fig. 4.: Rezipientinnen und Rezipienten sind nicht Ziel, sondern Material des Netzwerks, das einmal das Kunst-Objekt gewesen ist.

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Kristin Klein: Hyperlinks or it didn’t happen, unveröffentlichtes Manuskript zum Vortrag, Universität zu Köln 2018, vgl. URL: http://kunst.uni-koeln.de/monthly/hyperlinksor-it-didnt-happen-kunst-und-ihre-zirkulation-nach-dem-internet/ [14. Januar 2022]. Christopher Kulendran Thomas: Art & Commerce. Ecology Beyond Spectatorship, in: Arts Education in Transition. Ästhetische Bildung im Kontext kultureller Globalisierung und vernetzter Digitalisierung (Kunst Medien Bildung), hg. v. Jane Eschment u.a., München 2020, S. 283-291, hier S. 290.

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Ein neues Sujet Nachdem nun das Kunstwerk als Objekt in zahlreiche Elemente zersprungen ist, die zusammen mit den Rezipientinnen und Rezipienten ein Funktionsnetz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie bilden, soll abschließend noch ein Blick auf das Subjekt geworfen werden, das dem ehemaligen Kunst-Objekt gegenüberstand. Im Rahmen unseres Kölner Forschungsprojekts hat Kristin Klein den Künstler Artie Vierkant, der unter anderem auch aufgrund seines Essays über The Image Object Post-Internet von 2010 als einer der Pioniere der Post-Internet Art gesehen werden kann, interviewt. Seine künstlerischen Arbeiten würden sich als netzwerkartige Entitäten hier gut in die Argumentation einfügen. Es soll aber nun um das Selbstverständnis des Künstlers als Subjekt gegenüber dem Kunstwerk/Objekt gehen. Artie Vierkant beschreibt sich selbst in Bezug auf seine »Image Objects« zwar als Autor und Urheber der Arbeit,38 zählt jedoch auch eine ganze Reihe von menschlichen und vor allem auch nicht-menschlichen Aktanten auf, die an seiner Arbeit beteiligt sind: »Of course you can say that I’m the author of the work but so much of it rests on, for example, the programmers who created ›Photoshop‹, the programmers who created ›Rhino Modelling Software‹, collaborations that I have with industrial fabricators, because in a traditional, conceptional art tradition, I physically produce almost nothing that I make.«39  – Nicht einmal die Idee, denn auch die ist für Vierkant ein hybrides Objekt, »that exists between multiple states« und ist lediglich »protected by this juridical function« Autorschaft.40 Im Rahmen unserer Forschungsarbeit sehen Lea Herlitz und Manuel Zahn hier vor allem eine Verschiebung künstlerischer Produktionsprozesse »hin zu für die menschlichen Sinne nicht unmittelbar wahrnehmbaren (transaktionalen) Prozessen zwischen menschlichem Körper und Software; sprich, Codes und Algorithmen, die […] hinter dem Interface verborgen bleiben bzw. sich dort performativ (neu) in ihrer Anwendung konstituieren.«41 (Fig. 5)

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40 41

Artie Vierkant : Image Objects, URL : http ://artievierkant.com/imageobjects.php [14. Januar 2022]. Artie Vierkant/Kristin Klein: Interview im Rahmen des Projekts Post-Internet Arts Education Research am 4. Juli 2018, unveröffentlichtes Transkript, Universität zu Köln 2018, S. 12. Vierkant/Klein 2018 (wie Anm. 39), S. 10. Lea Herlitz/Manuel Zahn: Bildungstheoretische Potentiale postdigitaler Ästhetiken – Eine methodologische Annäherung, Kulturelle Bildung online (2019), URL: http

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Fig. 5: Und nun zerspringt auch noch die Künstlerin/der Künstler (eventuell in Folge auch der/die Rezipientinnen und Rezipienten?) in solch eine netzwerkartige Assoziation von Aktanten …

Selbst die Künstlerin oder der Künstler als scheinbar historisch überdauernde Akteurinnen und Akteure im Sujet der Ästhetischen Bildung ist also bei genauerer Untersuchung eine Art Blackbox, in der ein Netzwerk aus Materialien, Umgebungen, Personen, Diskursen, Marktstrategien und Kunstbegriffen werkelt, das als Künstlerin oder Künstler bezeichnet wird – vor allem, weil das eine Möglichkeit ist, »schnell auf […] Netzwerke Bezug nehmen zu können, ohne es mit endloser Komplexität zu tun zu haben«.42 Das gilt sicher nicht nur für den hier beispielhaften Künstler Artie Vierkant, sondern lässt sich, wenn man die Grundlagen der Akteur-NetzwerkTheorie radikal ernst nimmt, auf vermutlich alle Künstlerinnen und Künstler ausdehnen. Ebenso lässt sich vermutlich auch die Darstellung des analog als Blackbox und insofern als Objekt gedachten Kunstwerks verallgemeinern, das tatsächlich und ganz unabhängig davon, ob es sich bei seinen materiellen Trägern um eine ölbeschichtete Leinwand, ein kuratiertes Biotop im barocken Park oder ein Startup-Unternehmen handelt, immer eine netzwerk-

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s://www.kubi-online.de/artikel/bildungstheoretische-potentiale-postdigitaler-aestheti ken-methodologische-annaeherung [14. Januar 2022]. John Law: Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Ordnung, Strategie und Heterogenität, in: Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hg. v. Andréa Belliger und David J. Krieger, Bielefeld 2006, S. 429-446, hier S. 436.

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artige Assoziation von verschiedenartigen Elementen in gegenseitiger semiotischer Interaktion ist. Denkt man in diese Assoziation nun noch wieder die Rezipientinnen und Rezipienten im Sinne Thomas als ›Material‹ und ersetzt in hier etwas übereilter Argumentation (die noch im Detail weiter ausgearbeitet werden müsste) nun die Künstlerin/den Künstler durch andere, ehemals als Subjekte gedachte Aktanten – zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Kuratorinnen und Kuratoren, Kritikerinnen und Kritiker –, so ergibt sich ein weitaus komplexeres Bild als es die ursprünglich sehr übersichtliche Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt im Kontext der okzidentalen Moderne gedachten Ästhetik nahelegte (Fig. 6).

Fig. 6: Symbolische Darstellung der am (ästhetischen) Rezeptionsbzw. Produktionsprozess beteiligten Elemente. Vgl. auch Fig. 1 und Fig. 2.

In der Ästhetischen Bildung dreht sich – so die seit 250 Jahren übliche Fachlogik – alles um das Kunstwerk/Objekt, das für die bzgl. Bildungsprozess der menschlichen Subjekte substanziell relevanten Ästhetischen Erfahrungen verantwortlich gemacht wird. Dabei denke ich – meiner Disziplin, der Bildenden Kunst entsprechend – zuerst an Bilder, visuelle Arrangements, Skulpturen und Objekte, an Installationen und Environments usw. – und weiß aus den (nicht mehr so ganz neuen) Diskussionen um den Werkbegriff sehr wohl, dass ein dinghafter Begriff von ›Kunstwerk‹ schon lang nicht mehr verwendet werden sollte. Dennoch wird die Beziehung der Rezipientin und des Rezipienten zum Kunstwerk/Objekt ebenso wie die Beziehung der Produzentin

Ästhetische Bildung nach dem Internet

und des Produzenten zum Kunstwerk/Objekt weit verbreitet in Form der für die okzidentale Moderne üblichen Subjekt-/Objekt-Dichotomie gedacht: Ein Subjekt (Künstlerin/Künstler) produziert ein Objekt (Kunst), das andere Subjekte (Rezipientinnen und Rezipienten) zu bestimmten Erfahrungen, die wir ›ästhetisch‹ nennen, veranlasst. Vor dem Hintergrund des zuvor Erörterten möchte ich, um dem eine Alternative entgegenzuhalten, nun abschließend meine symbolische Darstellung der am (ästhetischen) Rezeptions- bzw. Produktionsprozess beteiligten Elemente um das, was ein Netzwerk üblicherweise ausmacht, nämlich die Fäden, die die einzelnen Elemente oder Knoten miteinander verbinden, ergänzen und damit die topologische Figur des Sujets einführen (Fig. 7).

Fig. 7: Ein neues Sujet.

Das Gesamtarrangement der menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten, die an den Prozessen beteiligt sind, die wir, sei es produzierend, rezipierend, reflektierend oder – darum geht es mir im Besonderen – bildend, als ›ästhetisch‹ bezeichnen, nenne ich Sujet, um damit etwas zu setzen, das mit dem, was wir gewohnt sind als Subjekt zu denken, wiedererkennbar in Verbindung steht, aber ebenso auch als ›Thema‹, ›Stoff‹, ›Motiv‹ usw. gelesen werden kann. Dieses Sujet ist mit dem, was wir gewohnt waren als Subjekt im Sinne intentional handelnder Akteurinnen und Akteure zu verstehen und uns als Selbst-bewusstes Individuum vorstellten, allerdings nur noch bedingt in Einklang zu bringen. Die Perspektive ist verschoben hin zur Pluralität der an einem potentiell ästhetischen Bildungsprozess beteiligten Komponenten und deren Verbindungen untereinander.

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Torsten Meyer

Dieses Sujet entsteht – wenn es funktioniert, also wenn es sich bildet (und dieses sich müssen wir denken, wie in wenn sich Nebel bildet) – in Form eines Funktions-Netzes, das die potentiellen Komponenten und Elemente zueinander ins Verhältnis und in Verbindung setzt: (zum Beispiel) den Raum, das Klassenzimmer, die Museumsarchitektur, die Bühne, den Event, den Lehrplan, den Stoff, die Umgebung, die Mitschülerinnen und Mitschüler, Museumsbesucherinnen und Museumsbesucher, die Lehrerin und der Lehrer, die Kuratorin und der Kurator, die Dramaturgin und der Dramaturg, die Künstlerin und der Künstler, die Kunstgeschichte, den Bildungsauftrag, die Geräte, die Medien, die Werkzeuge, das Thema, das Denken, die Materialien, die Archive, die Motive, die Schule, den Markt, den Staat, die Kunst, das Selbstverständnis, die Gesellschaft, die Welt, die Politik, die Tradition, die Aussicht, die Ideale, die Zukunft und das Subjekt, das sich in diesem Sujet bildet. Das, was im Fall Ästhetischer Bildung geschieht, muss hier als verteiltes, netzwerkartiges und von niemandem – auch nicht der Künstlerin oder dem Künstler – vollständig begreif- und bestimmbares imaginäres Prozessieren verstanden werden, das nicht allein der Einbildungskraft eines einzigen singulären menschlichen Individuums als ästhetischem Subjekt zugedacht werden kann. Das war wohl schon immer so. Auch zu den Zeiten, als man – zwar griffig, aber eben auf ziemlich hohem Niveau der Abstraktion vom Innenleben der Blackboxes – die ästhetischen Qualitäten noch substanziell den Objekten und die Erfahrungen den menschlichen Subjekten zugeschrieben hat. Nun aber müssen wir in dieses nicht vollständig begreif- und bestimmbare imaginäre Prozessieren auch die neuen, digital vernetzten Werkzeuge des Symbolischen und deren noch einmal anderes, aber ebenfalls nicht vollständig begreif- und bestimmbare imaginäre Prozessieren einkalkulieren, das inzwischen – nicht nur im Fall der Post-Internet Artists – wesentliche Komponente der künstlerischen Funktions-Netze und damit auch des Sujets der Ästhetischen Bildung geworden ist. Von einer ›Ästhetik digitaler Medien‹, die mich professionsbedingt vor allem in Bezug auf eine gegebenenfalls daraus resultierende Ästhetische Bildung interessiert, mag ich vor dem Hintergrund des Erörterten – reinen Gewissens – immer noch nicht sprechen. Es geht darum, dass diese digitalen Medien, genauer gesagt, die aus der digitalen Vernetzung der Welt entstandene Kultur das Denken jener Generation von Künstlerinnen und Künstler, Rezipientinnen und Rezipienten, Kuratorinnen und Kuratoren, Kritikerinnen und Kritiker, Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler, die mit dem Internet aufgewachsen sind, und damit auch ihre Konzeption

Ästhetische Bildung nach dem Internet

von Begrifflichkeiten soweit verändert haben, dass der Begriff der Ästhetik in seiner traditionellen Grundlegung an sich in Frage gestellt ist. Der ›Internet State of Mind‹ bringt einen veränderten Blick auf vermeintlich vertraute Begebenheiten mit sich. Unter den eben genannten Komponenten des Sujets haben die meisten mit der digitalen Vernetzung der Welt einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren. Der Raum, … die Bühne, … der Event, … die Umgebung, … die Geräte, die Medien, die Werkzeuge, das Thema, das Denken, die Materialien, die Archive, die Motive, … das Selbstverständnis, die Gesellschaft, die Welt, die Politik, … die Aussicht, die Ideale, die Zukunft sind andere geworden. Die Frage nach einer ›Ästhetik digitaler Medien‹ hinterlässt da ein eher teilnahmsloses Schulterzucken.

Abbildungen Abb. 1-7: Pierre Huyghe: Untilled, 2012. Zitiert nach: Hantelmann, Dorothea von: Thinking the Arrival: Pierre Huyghe’s Untilled and the Ontology of the Exhibition. In: ONCURATING, Issue 33, 2017, https://www.on-curating.org/ issue-33-reader/thinking-the-arrival-pierre-huyghes-untilled-and-the-ontol ogy-of-the-exhibition.html#.X4GXtZMzYW8 [1. September 2022]. Abb. 8-15: Christopher Kulendran Thomas: New Eelam, 2016ff. https://new-e elam.com; https://bb9.berlinbiennale.de/de/participants/christopher-kulend ran-thomas/; https://www.newgalerie.com/?page=artists&id=25 [1. September 2022]. Fig. 1-7: © Torsten Meyer 2019.

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