Status und Stigma: Werdegänge von Unternehmer_innen türkischer Herkunft - eine bildungswissenschaftliche Studie aus postmigrantischer Sicht 9783839445327

The number of migrant companies in Austria is constantly increasing. However, we know little about their situation, moti

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Status und Stigma: Werdegänge von Unternehmer_innen türkischer Herkunft - eine bildungswissenschaftliche Studie aus postmigrantischer Sicht
 9783839445327

Table of contents :
Inhalt
1. Selbständigkeit als innovativer Bruch
2. Unternehmer_innen türkischer Herkunft
3. Bildung, Gesellschaft, Zugehörigkeiten
4. Berufsbiografien von Unternehmer_innen türkischer Herkunft
5. Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit
6. Bildungsprozesse und Anerkennungskämpfe
7. Sozialer Kampf, Status und Stigma
8. Quellen

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Heiko Berner Status und Stigma

Postmigrantische Studien  | Band 2

Editorial Im postmigrantischen Diskurs, der nicht nur in den Sozialwissenschaften an Verbreitung gewinnt, kommt eine widerständige Praxis der Wissensproduktion zum Ausdruck – eine kritische und zugleich optimistische Geisteshaltung, die für postmigrantisches Denken von zentraler Bedeutung ist. Die Vorsilbe »post-« bezeichnet dabei nicht einfach einen chronologischen Zustand des Danach, sondern ein Überwinden von Denkmustern, das Neudenken des gesamten Feldes, in welches der Migrationsdiskurs eingebettet ist – mit anderen Worten: eine kontrapunktische Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse. In der radikalen Abkehr von der gewohnten Trennung zwischen Migration und Sesshaftigkeit, Migrant und Nichtmigrant kündigt sich eine epistemologische Wende an. Das Postmigrantische fungiert somit als offenes Konzept für die Betrachtung sozialer Situationen von Mobilität und Diversität; es macht Brüche, Mehrdeutigkeit und marginalisierte Erinnerungen sichtbar, die nicht etwa am Rande der Gesellschaft anzusiedeln sind, sondern zentrale gesellschaftliche Verhältnisse zum Ausdruck bringen. Kreative Umdeutungen, Neuerfindungen oder theoretische Diskurse, die vermehrt unter diesem Begriff erscheinen – postmigrantische Kunst und Literatur, postmigrantisches Theater, postmigrantische Urbanität und Lebensentwürfe –, signalisieren eine neue, inspirierende Sicht der Dinge. Mit der Reihe »Postmigrantische Studien« wollen wir diese Idee und ihre wegweisende Relevanz für eine kritische Migrations- und Gesellschaftsforschung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und dazu einladen, sie weiterzudenken. Die Reihe wird herausgegeben von Marc Hill und Erol Yildiz.

Heiko Berner (PhD), geb. 1968, forscht und lehrt an der Fachhochschule Salzburg im Studiengang Soziale Arbeit/Soziale Innovation zum Thema Migrationsgesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind (Anti-)Diskriminierung und Rassismuskritik.

Heiko Berner

Status und Stigma Werdegänge von Unternehmer_innen türkischer Herkunft – eine bildungswissenschaftliche Studie aus postmigrantischer Sicht

Die Publikation wurde unterstützt von der FH Salzburg.

Die vorliegende Publikation beruht auf der Dissertation »Selbständig. Werdegänge von Salzburger Unternehmer/innen türkischer Herkunft. Eine bildungswissenschaftliche Studie«, die 2017 an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck eingereicht wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Heiko Berner, Salzburg, 2018 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4532-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4532-7 https://doi.org/10.14361/9783839445327 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Selbständigkeit als innovativer Bruch | 7

2

Unternehmer_innen türkischer Herkunft | 15

Grenzziehungen | 15 Türkische Selbständige in Mittelösterreich: Zahlen und rechtlicher Rahmen | 18 Migrantisches Unternehmertum, Selbständige mit Migrationserfahrung | 35 Zwischenfazit | 54 3

Bildung, Gesellschaft, Zugehörigkeiten | 57

Bildung und alltägliche Erfahrung | 59 Gesellschaft und Handeln | 81 Zugehörigkeit zwischen Selbstbestimmung und Fremdzuschreibungen | 95 Zwischenfazit | 120 4

Berufsbiografien von Unternehmer_innen türkischer Herkunft | 123

Ziel der empirischen Forschung | 123 Lebensgestaltung und Biografie | 125 Bildungstheoretisch fundierte Biografieforschung | 137 Forschungsmethodisches Vorgehen | 144 Zur Auswertung der Interviews | 148 5

Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit | 155

Die Interviewpartner_innen | 155 Motive für die Selbständigkeit als Anerkennungsdefizite | 165 Zwischenfazit | 174

6

Bildungsprozesse und Anerkennungskämpfe | 179

Berufliche Veränderungen ohne Bildungsprozesse | 182 Interesse am Spiel | 185 Aneignung von Raum | 197 Kosmopolitismus | 223 Zwischenfazit | 249 7

Sozialer Kampf, Status und Stigma | 261

Bildung und Gesellschaft | 262 Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen | 264 Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse | 266 Aktuelle Situation | 270 8

Quellen | 273

Interviewpartner_innen | 273 Literatur | 274

1 Selbständigkeit als innovativer Bruch

Die Entscheidung, sich selbständig zu machen, ist weitreichend, riskant und zugleich mit Hoffnungen verbunden. Die Hoffnungen und Ambitionen derjenigen, die diesen Weg einschlagen, können darin liegen, ihren gesellschaftlichen Status zu verbessern oder einfach mehr Geld zu verdienen, als es eine frühere unselbständige Erwerbstätigkeit erlaubte. In Fällen von beruflicher Unsicherheit oder Arbeitslosigkeit versprechen sich die Betroffenen von der Selbständigkeit unter Umständen sogar ein höheres Sicherheitsgefühl, trotz des Risikos, das mit der Selbständigkeit verbunden ist. Für diejenigen, die zum ersten Mal diesen Weg gehen, ist die Selbständigkeit Neuland und sie dürften daher neue Selbstanteile an sich entdecken oder entwickeln. Auf diesem Gedanken fußt die vorliegende Studie: Fasst man Bildung als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen auf, so liegt es nahe, die Begriffsverwandtschaft von Selbstverhältnis und Selbständigkeit aufzugreifen und eine Neuinterpretation des zunächst wirtschaftlich gemeinten Begriffs der Selbständigkeit zu versuchen. Die Wege in die Selbständigkeit von Unternehmer_innen türkischer Herkunft werden in der vorliegenden Studie auf die darin enthaltenen Bildungsprozesse hin betrachtet. Selbständigkeit bedeutet dann, neben einem Begriff, der die Stellung im Beruf bezeichnet, auch ein Stadium im Prozess der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen. Sie hat damit einen ökonomisch-manifesten Anteil – gemeint ist die Art der Erwerbstätigkeit unter bestimmten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – und eine persönlich-individuelle Facette, die auf die Bildungsprozesse unter eben diesen Rahmenbedingungen abzielt. Dass migrantische Unternehmen ein gesellschaftlich bedeutsames Thema sind, zeigt die große Zahl von Veröffentlichungen dazu. Sie sind regelmäßig Gegenstand von Forschungsarbeiten im Umkreis um das Themenfeld Migration (stellvertretend Schmid et al. 2006; Haberfellner 2012; Dabringer, Trupp 2012). Der Grund für diese ausführliche Auseinandersetzung liegt sicherlich in der zunehmenden Zahl migrantischer Unternehmen (für Österreich: Haberfellner 2012),

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die auch für den Arbeitsmarkt mehr und mehr zur relevanten Größe werden. Bildungstheoretisch fundierte Studien dazu gibt es dagegen kaum (exemplarisch Nohl et al. 2009). Die Wahl fiel hier auf Unternehmer_innen mit Migrationserfahrungen, die auf die Türkei verweisen. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Herkunftsgruppe schon eine jahrzehntelange Geschichte in Österreich hat und damit als etabliert bezeichnet werden kann, aber gleichzeitig strukturell benachteiligt ist (vgl. Herzog-Punzenberger 2005; Latcheva, Herzog-Punzenberger 2011). Daraus folgt die Annahme, dass es gerade diese Unternehmer_innen sind, die sich immer wieder aufgrund einer strukturellen Benachteiligung dazu entscheiden, sich selbständig zu machen. Auch jüngere Studien kommen zu dem Befund, dass die Entscheidungen zur Selbständigkeit bei Migrant_innen allgemein häufig in ihren schlechteren Beschäftigungsmöglichkeiten liegen. So heißt es bei Biffl: „Research into the reasons for the take-up of self-employment suggests that the deterioration of employment opportunities of migrant workers resident in Austria became a motivating force to start up a business.“ (Biffl 2016: 116)

Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob in der Selbständigkeit ein Ausweg aus ebendiesen Benachteiligungen liegen kann. Da es sich um Neugründungen von Unternehmen handelt, die hier im Zentrum des Interesses stehen, wurden solche Unternehmer_innen befragt, die sich das erste Mal selbständig gemacht haben. Die Fragen entwickeln sich – das wurde schon deutlich – entlang der Berufsbiografien von Unternehmer_innen. Der Bildungsforschung liegt hier deshalb ein Verständnis von bildungstheoretisch fundierter Biografieforschung zugrunde. Da diese Forschungsrichtung auf die subjektiven Sinndeutungen von Individuen angewiesen und daher notwendigerweise interpretativ ausgerichtet ist, gestaltet sich der empirische Teil des Forschungsvorhabens qualitativ. Insgesamt wurden zwölf problemzentrierte Interviews mit Unternehmer_innen türkischer Herkunft geführt. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine homogene Gruppe und womöglich formiert sie sich ohnehin nur aufgrund gemeinsam erlittener Fremdzuschreibungen. Ausschlaggebend für die Wahl der Interviewpartner_innen war daher auch nicht ihre Staatsbürgerschaft oder ihr Geburtsort, sondern vielmehr Attribute, wie beispielsweise der Name, die sie aus Perspektive einer Mehrheitsgesellschaft als „türkisch“ labeln. Die Fallstudie wurde in einer österreichischen Stadt durchgeführt, die hier als „Alpstadt“ bezeichnet wird. Alpstadt liegt im ebenfalls fiktiven Bundesland „Mittelösterreich“. Die Entscheidung für die Wahl der Pseudonyme erfolgte aus zwei Gründen: zum einen kann nur so die Anonymisierung der Interviewpartner/innen

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gewährleistet werden. Einige davon haben exponierte Eigenschaften: sie sind der „Erste seiner Art“ in der Stadt oder „die Einzige ihrer Art“, so dass bei Nennung der Stadt, Rückschlüsse auf ihre Identität gezogen werden könnte. Zum zweiten soll auf diese Weise ein höherer Grad an Verallgemeinerung der Ergebnisse gekennzeichnet werden. Man könnte einwenden, dass sich österreichische Städte ihrem Wesen nach unterscheiden – so gelten beispielsweise Graz oder Linz landläufig als offener oder liberaler, während Innsbruck oder Salzburg eher als konservativ beschrieben werden – dennoch lassen sich die Ergebnisse der Tendenz nach übertragen. Wie oft bei qualitativen Studien, handelt es sich bei den Schlüssen, die aus den Ergebnissen gezogen werden, um „Theorien mittlerer Reichweite“ (Merton 1995). Koller und Wulftange formulieren die Ansprüche einer biografisch ausgerichteten qualitativ-empirischen Bildungsforschung entlang von drei Merkmalen, die auch für die vorliegende Studie richtungweisend sind: 1. 2. 3.

Einbeziehung gesellschaftlicher Relevanz von Bildungsprozessen, die sich zunächst auf individueller Ebene abspielen. Ideal der Weiterentwicklung des theoretischen Fundaments durch die empirischen Erkenntnisse. Frage nach den normativen Implikationen von Bildungsprozessen. Lassen sich Bildungsprozesse rein deskriptiv erfassen? Oder ist es eine Bedingung von Bildungsprozessen, dass sie zu einem gelingenden Leben bzw. zu einer wünschenswerten Gesellschaft beitragen? (vgl. Koller, Wulftange 2014: 9)

Die Fragen, denen die Studie nachgeht, beziehen sich auf diese Ansprüche. Sie lauten: 1.

2.

Können die beruflichen Werdegänge von Unternehmer_innen türkischer Herkunft als Bildungsprozesse beschrieben werden? Wie sind diese inhaltlich ausgefüllt? Unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen finden die Bildungsprozesse statt? Auf welche Weise tragen sie zu gesellschaftlicher Veränderung bei? Wie verändert sich die Gesellschaft durch ihr Tun?

Die Forschungsfragen lassen sich auch konkreter ausformulieren. Gegliedert in einen ersten Teil, der die individuellen Verläufe und Entscheidungen in den Blick nimmt, einen zweiten Teil, der die gesellschaftlichen Bedingungen und die Rückwirkungen der Handlungen darauf fokussiert, und einen dritten, der sich auf die aktuelle Situation bezieht, lauten sie:

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Welche Gründe nennen die Unternehmer_innen für ihre Entscheidung zur Selbständigkeit? Welche Bildungsprozesse durchliefen sie auf ihren Wegen in die Selbständigkeit? Wie beschreiben sie ihre biografischen Wege, ihre Lebensläufe, die Gestaltung ihrer Lebensläufe? Wie beschreiben sie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf dem Weg in die Selbständigkeit? Welche dieser Rahmenbedingungen waren aus Sicht der Unternehmer_innen förderlich, welche hinderlich, und welche Auswirkungen hatten sie jeweils auf die persönliche Entwicklung? Wie stellt sich ihre aktuelle Situation dar? Wie geht es ihnen in der Selbständigkeit? Die Studie folgt einem mehrgliedrigen Verfahren. Der erste Schritt besteht in einer Dokumentenanalyse. Diese greift auf Daten zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsabschlüssen zurück sowie auf rechtliche Bedingungen und Fragen nach rassistischer Diskriminierung im Bereich von Erwerbstätigkeit. Ziel ist es, den strukturellen Hintergrund sichtbar zu machen, vor dem sich die individuellen Werdegänge abspielen. Anschließend erfolgt eine Literaturanalyse zum Themenkomplex migrantisches Unternehmertum (beides Kapitel 2). Daraufhin wird die theoretische Rahmung der Arbeit formuliert (Kapitel 3). Dieser folgen die Fassungen des Verständnisses von Biografie, das hier zur Anwendung kommt, sowie bildungswissenschaftlich fundierter Biografieforschung (Kapitel 4). Nach der Definition dieser Grundbegriffe wird das Vorgehen bei der empirischen Erhebung und der Auswertung des Interviewmaterials beschrieben (noch Kapitel 4). Die Auswertung der Interviews umfasst zunächst eine zusammenfassende Inhaltsanalyse, bei der die Motive der zwölf interviewten Unternehmer_innen erhoben werden. Diese werden darauf hin betrachtet, ob sie zugleich Formen missachteter Anerkennung darstellen (Kapitel 5). Im anschließenden Kapitel werden dann vier der Erzählungen auf ihre Gehalte als Bildungsprozesse hin interpretiert. Dieser Auswertungsschritt folgt einem textanalytischen, interpretativen Verfahren, das sich auf die verschiedenen Bedeutungen rhetorischer Figuren stützt, die im Lauf der Entwicklungen der Biografien verwendet werden. Schließlich wird die Frage beantwortet, ob die beruflichen Aktivitäten der Selbständigen mit Anerkennungskämpfen einhergehen und wie sie zur Veränderung der Gesellschaft beitragen (Kapitel 6). Abschließend werden die Arbeitsschritte zusammengefasst und die zentralen Ergebnisse vorgestellt. Die Schlussfolgerungen gliedern sich entlang der Forschungsfragen in einen Abschnitt zur theoretischen Rahmung, in einen zu Bildungsprozessen, einen weiteren zu deren Verknüpfung mit gesellschaftlichen Bedingungen – jeweils in Bezug auf die Frage nach sozialen Kämpfen –, bis abschließend die heutige Situation der Unternehmer_innen erörtert wird (Kapitel 7).

Selbständigkeit als innovativer Bruch | 11

Tabelle 1: Forschungsdesign Literatur- und Dokumentenanalyse Kapitel 2

3 Schritte

Ziel: Beschreibung gesellschaftlicher Bedingungen, Formen struktureller Benachteiligung Daten zu Erwerbstätigkeit und Bildung

Studien zu Diskriminierung

Studien zum Themenkomplex migrantisches Unternehmertum

Kapitel 3

Theorie: Bildung – Gesellschaft – Zugehörigkeiten/Identität

Kapitel 4

Empirische Forschung: Grundbegriffe und Methode

Qualitative problemzentrierte Interviews Kapitel 5

Schritt 1

Kapitel 6

Schritt 2a

Kapitel 6

Schritt 2b

Ziel: Motive für Selbständigkeit und Formen missachteter Anerkennung

Bezugsebene: Interviewkorpus

Methode: Zusammenfassende Inhaltsanalyse

Ziel: Bildungsprozesse und Anerkennungskämpfe: Einzelfälle

Bezugsebene: Einzelfallanalysen

Methode: Textanalyse, interpretatives Verfahren

Ziel: Bildungsprozesse und Anerkennungskämpfe: Allgemeine Hypothesen

Bezugsebene: Interviewkorpus

Methode: Zusammenfassende Inhaltsanalyse

Da die Forschungsfragen nach der Einbettung individueller Biografien in einen gesellschaftlichen Kontext verlangen, besteht ein zentrales Ziel – neben der Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit – in der Entwicklung einer theoretischen Position, die es erlaubt, individuelle Bildungsprozesse und gesellschaftliche Veränderung zusammenzudenken. Dieser Anspruch folgt dem bereits angeführten ersten Punkt, den Koller und Wulftange (2014) formulieren. Beide Teile – theoretisches Fundament und empirische Forschung – nehmen daher in etwa das gleiche Volumen innerhalb der Studie ein. Die theoretische Grundlegung besteht zunächst aus zwei Polen: Bildungstheorie und Theorie gesellschaftlicher Entwicklung. Das Zentrum der Bildungstheorie liegt in John Deweys Konzept des Erfahrungslernens, das ein Hauptkriterium für die vorliegende Forschung erfüllt: Bildung findet in der alltäglichen Lebenswelt der Protagonist_innen statt. Das Konzept wird um

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jüngere Ansätze ergänzt. Einer davon ist Hans-Christoph Kollers Begriff transformatorischer Bildungsprozesse, mit dem Fragen zu Anlässen von Bildungsprozessen geklärt werden. In seinem Konzept sind dies krisenhafte Einschnitte, die das Selbst dazu nötigen, sich neu zu orientieren und neues Handeln so zu konzipieren, dass es geeignet ist, neuen Bedingungen gerecht werden zu können. Eine zweite Theorie stammt von Krassimir Stojanov. Mit ihm werden Transformationen der Weltverhältnisse bestimmt, die in seinem Verständnis in der intersubjektiven Aushandlung neuer, gemeinsamer Welthorizonte liegen. Ein weiterer Ansatz stammt von Ulrich Oevermann, mit dem vor allem der kritische Moment des Beginns neuen Handelns erklärt wird sowie die Frage danach, worauf Individuen zurückgreifen, wenn sie sich neu orientieren. Dewey formuliert außerdem den Anspruch, Bildung als gesellschaftskonstituierend zu begreifen, und schafft dadurch die Grundlage für eine gesellschaftstheoretische Erweiterung seines Konzepts. Aufbauend auf der bildungstheoretischen Fassung wird die Anerkennungstheorie nach Axel Honneth zusammengefasst und auf den Gegenstand bezogen. Mit ihr ist es möglich, individuelle Bildungsprozesse und gesellschaftliche Entwicklung zu verknüpfen. Dies wirft die Frage danach auf, ob es sich bei Bildungsprozessen um Formen des Kampfes um Anerkennung handeln kann. Schließlich werden die zwei Zugänge um Theorien der Zugehörigkeit und der Identität ergänzt. Dies scheint nötig, da beide – Deweys und Honneths – Zugänge solche Krisen oder Formen missachteter Anerkennung wenig berücksichtigen, die in der Fremdzuweisung zu Gruppen liegen oder die sich im Kontext von Stigmatisierung, Rassismus oder Ethnisierung ergeben. Aus der Zusammenfügung von Deweys Erfahrungslernen und Honneths Anerkennungstheorie folgt dann auch die spezifischere Frage: Können die Aktivitäten der Selbständigen, die sie im Zuge ihrer Bildungsprozesse entwickeln, als Kämpfe um Anerkennung gedeutet werden? Einige forschungsleitende Hypothesen können formuliert werden:     

Die heute Selbständigen erlitten häufig ein Anerkennungsdefizit, das sich auf den Bereich ihrer Erwerbstätigkeit auswirkte. Sie empörten sich über Benachteiligungen und bringen diese Empörung zum Ausdruck. Häufig waren es diese Benachteiligungen, die sie dazu bewogen, alternative berufliche Wege zu kreieren. Berufliche Anerkennungsdefizite können Benachteiligungen in Form von Diskriminierung sein. Es bedarf eines besonderen Einschnitts (zum Beispiel einer Krise oder einer neuen familiären Situation), um den Schritt aus einem Angestelltenverhältnis

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in die Selbständigkeit zu tun. Arbeitslosigkeit oder Dequalifizierung können solche Krisen sein. Die Argumentation folgt dann der Reihenfolge: 1. 2. 3.

Gibt es kollektive Anlässe, die ein Anerkennungsdefizit darstellen? Schlagen sich diese auf individueller Ebene nieder? Stellen sie Krisen dar? Wie gehen die Betroffenen damit um? Führen die Krisen zu Bildungsprozessen und wie lassen sich diese beschreiben? Ist der Umgang damit auch ein Kampf um Anerkennung?

Die Anerkennungstheorie erklärt und begründet solche sozialen Kämpfe. Allerdings fasst Honneth seine Theorie insofern schwach, als dass er Verhältnisse missachteter Anerkennung als Bedingung von Anerkennungskämpfen bezeichnet, diese aber nicht als zwingende Folge begreift, denn ob das Gefühl der Missachtung „zu einer politisch-moralischen Überzeugung führt, hängt empirisch vor allem davon ab, wie die politisch-kulturelle Umwelt der betroffenen Subjekte beschaffen ist – nur wenn das Artikulationsmittel einer sozialen Bewegung bereitsteht, kann die Erfahrung von Mißachtung zu einer Motivationsquelle von politischen Widerstandshandlungen werden“ (Honneth 1994: 224 f.).

Die Frage, der hier auf gesellschaftlicher Ebene also nachgegangen wird, ist die, welches Verhältnis zwischen den zu beschreibenden Bildungsprozessen und Kämpfen um Anerkennung besteht. Durch die Einbettung in die Anerkennungstheorie als Konzept allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklung von modernen Gesellschaften, versteht sich das hier angewandte Vorgehen nicht unbedingt als ausgesprochene Migrationsforschung. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die städtische Gesellschaft eine Migrationsgesellschaft darstellt, in dem Sinne, dass Ein- oder Auswanderung, Pendeloder Transmigration, vor allem aber auch das Bleiben von Immigrierten und das Herausbilden von Folgegenerationen mit allen möglichen individuellen Mischungen und innovativen Identitätsentwürfen, selbstverständliche gesellschaftskonstituierende Bestandteile sind. Diese bedingen immer wieder Konflikte zwischen Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen, die schließlich zu sozialen Kämpfen führen können, stellen dabei aber gleichzeitig die gesellschaftliche Normalität dar. Die Perspektive, der die Arbeit folgt, kann in diesem Sinne auch unter dem Begriff des Postmigrantischen (Yildiz 2015) zusammengefasst werden. Yildiz nennt als zentrales Ziel des postmigrantischen Blickwinkels einen „innovativen Bruch“

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(ebd., S. 15) mit tradierten Dualismen. Gemeint ist damit die Auflösung der Teilung gesellschaftlich wirksamer Machtlinien, die sich beispielsweise in westlich vs. nicht-westlich oder in Inländer_in vs. Ausländer_in manifestieren. Gemessen an gesellschaftlicher Wirklichkeit, wie sie aus postmigrantischem Blickwinkel rekonstruiert wird, erscheinen diese unterkomplex. Eine Lösung liegt darin, „produktive Spaltungen, Mehrfachzugehörigkeiten und bewegte Biografien ins Blickfeld“ (ebd., S. 21) zu rücken. Thematisch fügt sich die Studie ebenfalls in die postmigrantische Perspektive ein, die Yildiz als Folie für die Neuinterpretation der Geschichte(n) von „Gastarbeitern“ und deren Nachfolgegenerationen versteht. Insbesondere Fremdzuweisungen zu einer vermeintlichen Gruppe von „Migrant_innen“ und die daraus resultierenden Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen sind relevante Betrachtungsebenen, die der postmigrantische Blick provoziert. Auch historisch schließt das hier präsentierte Vorgehen an solche Fälle an, aus denen heraus sich ein postmigrantischer Blick entwickelte. Über Formen der Selbstbehauptung am Arbeitsmarkt von Gastarbeitern, schreibt Yildiz: „Die einzige Möglichkeit schien dabei für viele der Weg in die Selbständigkeit. Dafür mussten erhebliche Hürden überwunden werden. Die Selbständigkeit bedeutete für die meisten Arbeitsmigranten einerseits Schutz vor der Diskriminierung auf dem offiziellen Arbeitsmarkt, zu dem sie kaum Zugang hatten, und versprach andererseits eine gewisse Aufwertung ihres sozialen Status.“ (Ebd., S. 24 f.)

Genau solche Statuswechsel können im Folgenden detailliert nachgezeichnet werden. Welche sozialen Folgen der ökonomische Aufstieg für die Akteur_innen mit sich bringt, soll gezeigt werden.

2 Unternehmer_innen türkischer Herkunft

GRENZZIEHUNGEN In der wissenschaftlichen Literatur zum Thema migrantisches Unternehmertum ist immer wieder von türkischen oder türkischstämmigen Unternehmer_innen die Rede. Ist eine Personengruppe mit einem Attribut fest umrissen – und dies ist dann der Fall, wenn von türkischstämmigen Selbständigen die Rede ist –, so ist damit eine unterkomplexe Zuweisung verbunden. Unterkomplex ist die Zuweisung zum einen, weil sie alle Personen, die auf diese Weise zusammengefasst werden, auf das titelgebende Attribut reduziert. Das Attribut wird dadurch zum beherrschenden Merkmal der Personen. Zum zweiten ist von vornherein nicht bekannt, wo die angesprochenen Personen sich selbst verorten, welche Merkmale und Zugehörigkeiten ihnen wichtig sind oder in welchem Verhältnis sie zu Gruppen stehen, denen sie angehören oder denen sie eben gerade nicht angehören. Um diesem Problem beizukommen, wurde hier der Begriff „Alpstadter Unternehmer_innen mit türkischer Herkunft“ gewählt. Dadurch soll das verbindende Merkmal der hier besprochenen Gruppe das des beruflichen Status sein. Mit Judith Butler gesagt: Die Betroffenen werden als Unternehmer_innen angerufen, mit allen Auswirkungen, die diese Anrufung beinhaltet (stellvertretend Koller 2014, Rose 2014). Dennoch spielen ihre Migrationserfahrungen eine Rolle, da gerade herausgefunden werden soll, ob dieses Merkmal spezifische Erfahrungen nach sich zieht und wie diese Erfahrungen aussehen. Aus diesem Grund soll in der empirischen Studie mit den Interviewpartner_innen selbst ihr Verhältnis zu verschiedenen Gruppen besprochen werden. Mit Gruppen können nationale, ethnische oder kulturelle gemeint sein, aber auch dem Diverstitätsbegriff entlehnte Kategorien wie Geschlecht oder soziale Herkunft sollen berücksichtigt werden, um eine vorschnelle, eindimensionale Zuordnung zu vermeiden. Gerade die soziale Herkunft ist im hier zu verhandelnden Kontext wesentlich, da sie die Untersuchungsebene der sozialen Mobili-

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tät, die mit dem Weg in die Selbständigkeit verbunden ist, umfasst. Soziale Herkunft und soziale Mobilität verweisen, unabhängig von gelungener oder nicht gelungener Selbständigkeit, auf den Versuch, die gesellschaftliche Position, also den gesellschaftlichen Status, zu erhöhen, so eine zentrale Hypothese der Arbeit. Eine grundsätzliche Entscheidung, die in einer sozial- oder bildungswissenschaftlichen Arbeit getroffen werden muss, liegt in ihrer Positionierung zum Phänomen der sozialen Gruppe. Eine mögliche Position kann sich aus der Entscheidung für Individualisierungstheorien ergeben, nach denen sich soziale Gruppen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugunsten der Individualisierung von Subjekten mehr und mehr auflösen (Beck 1986). Gerade bei biografischen Ansätzen werden solche Grundlagen herangezogen (siehe auch Kapitel 4). Andere Positionen – und die Entscheidung fiel hier zu deren Gunsten aus – betrachten soziale Gruppen als gesellschaftskonstitutiv und ziehen daher den Gruppenbegriff als zentrale Analysekategorie für gesellschaftliche Phänomene heran. Allerdings kann, wie schon angemerkt, nicht umstandslos von eindimensionalen oder eindeutigen Zugehörigkeiten ausgegangen werden. Mit der Deklaration einer Gruppe anhand eines Attributs ist eine weitere Gefahr verbunden: Die Mehrheitsgesellschaft oder eine machtvolle gesellschaftliche Gruppe legt eine Differenzlinie fest, die von der wissenschaftlichen Arbeit reproduziert wird, im Falle, dass sie sie unreflektiert übernimmt. Nun kommt Wissenschaft kaum umhin, durch Kategorisierungen solche Grenzen zu ziehen, die es unter Umständen in der gesellschaftlichen Realität der Betroffenen auf diese Weise überhaupt nicht gibt bzw. nicht gäbe, wären da nicht gesellschaftlich machtvolle Instanzen wie die Wissenschaft, die sie gerade erst immer und immer wieder reproduzieren. Eine naheliegende Lösung kann darin liegen, die Reflexion der Trennlinie selbst zum konzeptuellen Bestandteil des wissenschaftlichen Zugangs zu machen. Sökefeld (2004) nimmt einen solchen Blickwinkel ein. Er verweist dabei besonders auf die Verbindung nationaler Gruppenzuweisungen mit kulturellen Zuschreibungen. Durch die Verfestigung dieser Zuschreibungen ist stets die Grenzziehung zwischen einem (bei Sökefeld: deutschen) „Wir“, das durch eine statische Leitkultur bestimmt ist, und einem (nicht-deutschen) „Fremden“ verbunden, das unabdingbar auf seine „fremde“ Kultur festgelegt ist (ebd.: 10). Mitunter wird in der bildungswissenschaftlichen Literatur – zu Recht – vor essentialistischen kulturellen Zuschreibungen gewarnt (z.B. Leiprecht 2008). Sökefeld interpretiert Kulturalisierung nicht als naturgegeben, sie ist vielmehr durch gesellschaftliche Verhältnisse konstruiert. Dennoch wirkt sie in die gesellschaftliche Realität hinein. Mit dem Begriffspaar „Wir“ vs. „Fremd“ ist auch der Begriff des „Othering“ (z.B. Mecheril, Rose 2012) angesprochen. Dieser beschreibt die vereinfachte Zuschreibung von Charakteristika an vermeintliche Angehörige einer

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als fremd betrachteten Gruppe durch eine machtvolle Mehrheit. Das Prinzip, das mit Othering verbunden ist, ist das einer dichotomen Zuweisung, bei der stets das Gegenteil der (häufig unreflektierten) Selbstsicht gewählt wird, um das Gegenüber zu beschreiben: Wird „das Andere“ als barbarisch bezeichnet, so liegt es nahe, dass der/die Bezeichnende sich selbst für zivilisiert hält, nennt er/sie die „Anderen“ irrational oder emotional, so wird er/sie sich selbst für rational und reflektiert halten. Diese Zuschreibungen sind ihrem Wesen nach mit dem Begriff der Dichotomie hinlänglich beschrieben. Sie beinhalten aber auch den Aspekt von Macht, da Zuschreibungen zwar wechselseitig getätigt werden können, sich im gesellschaftlichen Diskurs aber meist nur in eine Richtung durchsetzen können. Zuletzt soll in diesem Kontext Paul Mecheril erwähnt werden, der die Diskussion um Gruppenzuschreibungen prägnant übertitelt. Er schreibt: „Die untersuchte Gruppe ist keine Gruppe“ (Mecheril 2003: 9), und er versucht, das Dilemma rhetorisch zu lösen, indem er seine Zielgruppe als „Andere Deutsche“ bezeichnet. „Somit kann – ganz im Sinne der forschungsparadigmatischen Intention des Ausdrucks Andere Deutsche – die Rede von Anderen Deutschen als Gebrauch einer Perspektive verstanden werden. ‚Andere Deutsche‘ fungiert hier als Instrument der Beschreibung und Analyse der Lebenssituation von Menschen mit identitär bedeutsamem und sozial salientem Migrationshintergrund.“ (Ebd.: 12)

Mecherils Lösung ist treffend, weil er es schafft, die Zielgruppe seiner Betrachtung nicht auf eine soziologische Kategorie zu reduzieren, sondern sie aus einer gesellschaftlichen Realität heraus zu begründen, die mitunter gerade in der kollektiven Fremdzuschreibung unterschiedlicher Einzelner zu vorgegebenen Gruppen besteht. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, das Dilemma von Beginn an diskursiv aufzulösen, indem die Betroffenen zunächst als Unternehmer_innen angesprochen werden und dann versucht wird herauszufinden, ob ihre Migrationsgeschichten – oder vielleicht eher: der Umgang einer Mehrheit mit ihren Migrationsgeschichten – ihre beruflichen Werdegänge auf spezifische Weise prägten. Der Gegenstand der Auseinandersetzung ist dann weniger die vermeintliche Gruppe als vielmehr die gesellschaftlichen Umstände, in denen eine Wirkmacht auf die betroffenen Personen liegt. Die Leitfrage ist demzufolge die danach, wie sich diese Wirkmacht darstellt und welches genau ihre Folgen für die Betroffenen sind. Eine weitere begriffliche Grenzziehung scheint auf den ersten Blick geografisch angelegt zu sein. Der Ort der Untersuchung ist die Stadt Alpstadt und ihre Umgebung. Die Auswahl der Interviewpartner_innen folgte zunächst einer räumlichen Logik. Allerdings wird der Ort durch überregionale Beziehungen, durch

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Transmigration oder Transnationalität erweitert. Wenn der Standort des Unternehmens von den Akteur_innen überschritten wird, z.B. durch Kontakte, die außerhalb Alpstadts liegen, dann ist er für die Untersuchung eher ein Bezugspunkt, der das Überschreiten erst möglich macht. Wichtig sind dann auch die Konnotationen, die mit derartigen Grenzüberschreitungen verbunden werden. Zentral werden Fragen danach, wie Kontakte ins Ausland interpretiert werden: eher als regressiv im Sinne einer vermeintlichen Zuwendung zur „alten Heimat“ oder eher als progressiv im Sinne von Globalisierung. Der Ort „Alpstadt“ kann auch als städtischer Raum interpretiert werden. In Abhebung zum nationalen Raum ist diese Grenzziehung bedeutsam, denn die Stadt kann für die Handlungen von Unternehmer_innen folgenreich sein. Während „Staat und Gesellschaft im Großen und Ganzen weiterhin im nationalen Kontext bleiben, sind die Städte längst dabei, sich zur Welt zu öffnen“ (Yildiz 2006: 47 unter Bezugnahme auf Beck-Gernsheim 2007). Daher ist es in Hinblick auf die Selbstsicht der Interviewpartner_innen wichtig, inwiefern sie sich eher anhand einer nationalen Kategorie (als Türk_innen oder als Österreicher_innen) einordnen, und wie wichtig es ihnen ist, Städter_innen bzw. Alpstadter_innen zu sein. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der vorliegenden Arbeit der Gruppenbegriff eine zentrale Analysekategorie für die Betrachtung der Werdegänge der Selbständigen darstellt. Die Gruppenattribute sollen sich neben ethnischen, nationalen und kulturellen Gesichtspunkten auf weitere Kategorien stützen. Dies ist insbesondere dort wichtig, wo es um die Überwindung sozialer Positionierungen, um soziale Mobilität, geht. Ein weiterer Aspekt liegt in der Unterscheidung zwischen Fremdzuschreibungen durch machtvolle gesellschaftliche Diskurse und der Selbstsicht der Interviewpartner_innen. Eine weitere Analysekategorie betrifft die räumliche Eingrenzung. Diese stellt, wie die nationale Zuschreibung „türkisch(-stämmig)“, eine bewegliche Größe dar, da die lokale Situierung der Selbständigen in Alpstadt und Umgebung nur ein Ausgangspunkt der Betrachtung sein kann, der unter Umständen – in Abhängigkeit von den empirischen Forschungsergebnissen – auch aufgelöst werden kann.

TÜRKISCHE SELBSTÄNDIGE IN MITTELÖSTERREICH: ZAHLEN UND RECHTLICHER RAHMEN Wurde im letzten Abschnitt der Versuch unternommen, die Begriffe „türkisch“ und „Alpstadt“ zu reflektieren und sie als relativ und beweglich herauszustellen, so erfolgt nun eine Art Rückfall in die an sich unzulässige Verwendung einer allzu

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einfachen Gruppenkonstruktion, die auf lediglich einem Merkmal beruht: der nationalen Herkunft „Türkei“. Dieses Vorgehen spiegelt ein Dilemma wider, das sich zwischen zwei Polen abspielt: Zum einen ist dies die Öffnung des Gruppenbegriffs hin zu einem individualisierten Zugang zum einzelnen Subjekt. Zum anderen ist da die Notwendigkeit, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu beschreiben, die für Menschen zutreffen, die ein bestimmtes Merkmal tragen. Dadurch können spezifische Charakteristika erst sichtbar gemacht werden, die diejenigen Menschen betreffen, welche – unter anderen – genau dieses eine Merkmal tragen. Oder aber: Es werden spezifische Charakteristika sichtbar, die Menschen betreffen, die von einer machtvollen Gruppe bzw. aufgrund etablierter Normalitätserwartungen zu einer Gruppe mit dem betreffenden Merkmal zugewiesen werden (siehe hierzu unten Carolin Emckes Form von kollektiver Identität, die sie in Anlehnung an Sartre beschreibt). Erst durch dieses Vorgehen können benachteiligende Strukturen oder ein im Verhältnis zur Mehrheit abweichender Zugang zu Ressourcen nachgewiesen werden, die beispielsweise als Indikatoren für Diskriminierung taugen. Die Entscheidung, die hier getroffen wurde, um das Dilemma zu lösen, fiel zugunsten einer provisorischen, dabei aber vereinfachenden Grenzziehung aus. Dies bedeutet gleichzeitig die nachrangige Behandlung der im letzten Teilkapitel beschriebenen Erkenntnisse, ohne allerdings den kritischselbstreflexiven Blick aufzugeben. Wenn im Folgenden Daten und Statistiken vorgestellt und besprochen werden, die Personen mit dem Geburtsland Türkei ansprechen, so soll dies immer mit der Einschränkung geschehen, dass die Gruppe „in der Türkei Geborene“ eben gerade keine Gruppe und erst recht keine homogene Gruppe darstellt. Vielmehr handelt es sich um eine vorläufige Hilfskonstruktion, die auf einen machtvollen gruppenkonstruierenden Diskurs verweist, der in der Lage ist, Personen mit bestimmten Merkmalen als „Andere“ auszugrenzen und ihnen den Zugang zum „Normalen“ zu verweigern. Wenn in der Literatur Daten der Statistik Austria präsentiert werden, so wird oft bedauert, dass für die sogenannte zweite Generation kaum statistisches Material zur Verfügung steht (z.B. Schmid et al. 2006: 27). Für die Beantwortung spezifischer Fragestellungen mag dieses Defizit tatsächlich eine Erschwernis darstellen, zum Beispiel, wenn es um die generationenübergreifende Verfestigung von Schichtzugehörigkeiten geht (stellvertretend Herzog-Punzenberger 2005). Da die statistischen Daten hier aber ohnehin mit einem gewissen Unbehagen diskutiert werden und außerdem die Kinder von Einwander_innen faktisch zu den „in Österreich Geborenen“ zählen, wiegt das genannte Defizit weniger schwer. Um den Rahmen der im Bundesland lebenden Selbständigen nachzeichnen zu können, soll es hier daher genügen, die Konzentration auf diejenigen Personen zu richten, die in der Türkei geboren wurden, und sie mit denen zu vergleichen, deren Geburtsort Österreich ist. Sie werden,

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da wo es die Argumentation unterstützt, um Beschreibungen der Nachfolgegenerationen ergänzt. Stellung im Beruf, Arbeitslosigkeit und Dequalifikation Im Bundesland Mittelösterreich1 lebten im Jahr 2015 insgesamt 534.838 Personen (265.778 davon männlich und 278.060 weiblich). Von diesen Mittelösterreicher_innen wurden 446.801 in Österreich geboren (218.663 männlich, 228.1608 weiblich) und 7.295 in der Türkei (3.825 männlich, 3.470 weiblich)2. 4.872 dieser 7.295 Personen waren sogenannte Erwerbspersonen3; unter den in Österreich Geborenen gab es 234.425 Erwerbspersonen im Bundesland nach ihrer Stellung im Beruf. Die beiden Herkunftsgruppen weisen eine deutlich unterschiedliche Verteilung bei der Stellung im Beruf auf, den die beiden Grafiken in Abbildung 1 illustrieren. Den größten Teil der in Österreich geborenen Erwerbspersonen nehmen die Angestellten ein (50,28 %). Die Arbeiter_innen machen 29,48 Prozent aus, die Selbständigen 13,47 Prozent. Die Verteilung der in der Türkei geborenen Erwerbspersonen gestaltet sich ganz und gar anders: Hier ist der weitaus größte Teil den Arbeiter_innen zuzurechnen (80,01 %), während lediglich 11,80 Prozent zu den Angestellten und 7,43 Prozent zu den Selbständigen zählen. Die große Mehrheit der Arbeiter_innen unter den in der Türkei Geborenen lässt sich sicherlich auf die Geschichte der sogenannten Gastarbeiter zurückführen. Dennoch ist es erstaunlich, dass noch im Jahr 2015 keine bemerkbare Annäherung an die Autochthonen stattfand, da die heutigen Erwerbspersonen dem Alter nach nicht mehr die ursprünglich nach Österreich gekommenen „Gastarbeiter“ sind, sondern eher ihre

1

Die statistischen Daten stammen überwiegend von der Statistik Austria. Es handelt sich dabei um Zahlen, die sich auf das fiktive Bundesland Mittelösterreich mit seiner Landeshauptstadt Alpstadt beziehen.

2

Hier wurde die Herkunftsgruppe anhand des Geburtslandes definiert. Ein anderes – ebenso übliches – Verfahren wäre die Unterscheidung der Gruppen nach der Staatsbürgerschaft. Allerdings fallen die Stichprobengrößen dann deutlich kleiner aus. Beispielsweise gab es im Jahr 2013 nach Abgestimmter Erwerbsstatistik im Land Mittelösterreich 307 Selbständige, die in der Türkei geboren wurden. Dagegen waren es lediglich 165 Selbständige mit türkischer Staatsbürgerschaft (Stadt Alpstadt und Umgebung: 123 gegenüber 219 Personen, zur regionalen Grenzziehung siehe auch unten).

3

Daten: Statistik Austria, Abgestimmte Erwerbsstatistik 2015. Erwerbspersonen sind diejenigen Personen, die am Erwerbsleben teilnehmen (Erwerbstätige) oder dies anstreben (Arbeitslose) (Statistik Austria 2009: 35)

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Kinder, die im Zug des sogenannten „Familiennachzugs“ immigrierten. Diese wuchsen in Österreich auf, erfuhren ihre institutionelle Sozialisation in Österreich (Weiß 2007) und sind auch sprachlich mit Autochthonen gleichgestellt. Abbildung 1: Stellung im Beruf, Personen mit Geburtsland Österreich (links), Türkei (rechts) im Land Mittelösterreich. Werte auf ganze Zahlen gerundet. Quelle: Abgestimmte Erwerbsstatistik 2015, Statistik Austria. Eigene Darstellung. 7% 0%

0% 1%

13%

7% 12%

30%

50%

80% Selbständig Erwerbsttätige (inkl. mithelfende Familienangehörige) Angestellte Arbeiter_innen Sonstige unselbständig Erwerbstätige Arbeitslos, unbekannt, erstmals Arbeit suchend

Deutliche Unterschiede zwischen den zwei Gruppen gibt es auch in Hinblick auf die Arbeitslosenzahlen. Betrug die Arbeitslosenquote im mittelösterreichischen Durchschnitt im Jahr 2015 beinahe 5,8 Prozent, unter den in Österreich Geborenen sogar nur 4,7 Prozent, so lag sie bei Personen mit türkischer Herkunft bei 15,8 Prozent (Tabelle 2). Tabelle 2: Erwerbspersonen, Arbeitslosenquoten im Land Mittelösterreich, Quelle: Abgestimmte Erwerbsstatistik 2015, Statistik Austria. Eigene Darstellung. Erwerbspersonen Land Mittelösterreich gesamt

Erwerbstätige

Arbeitslose

Arbeitslosenquote

289.712

272.937

16.775

5,79 %

Geburtsort Türkei

4.872

4.103

769

15,78 %

Geburtsort Österreich

234.425

223.407

11.018

4,70 %

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Ein Indikator für benachteiligende Strukturen stellt Dequalifikation dar. Eine Veröffentlichung der Statistik Austria aus dem Jahr 2015 gibt einen Hinweis auf das Ausmaß der Personen „mit Migrationshintergrund“, die nicht gemäß ihrer Qualifikation beschäftigt sind. Abbildung 2 zeigt die Kluft zwischen Autochthonen und Migrant_innen bzw. deren Nachkommen. Abbildung 2: Überqualifizierung nach Geburtsland 2014 in Prozent der 15- bis 64-jährigen Erwerbstätigen. Quelle: Statistik Austria 2015, S. 70.

Zwar schätzten sich weniger Personen, die in der Türkei geboren wurden, als überqualifiziert ein, als dies Personen aus anderen Herkunftsländern taten, dennoch liegt die Quote mit ca. 14 Prozent deutlich über jener der in Österreich Geborenen, die bei Männern bei 7,1 Prozent, bei Frauen bei 10,7 Prozent liegt. Leider ist die Stichprobe der in der Türkei geborenen Frauen nicht aussagekräftig, so dass hier keine Zahlen vorliegen. In einer älteren Publikation unterscheidet die Statistik Austria zwischen erster und zweiter Migration (Abbildung 3). Lag im Jahr 2008 der Grad der Dequalifikation unter den Immigrant_innen noch deutlich über jenem von Personen „ohne Migrationshintergrund“, so verringerte sich der Unterschied mit der Folgegeneration. Dennoch lag die Zahl an dequalifiziert Beschäftigten mit ca. 15 Prozent noch immer klar über der der Autochthonen mit durchschnittlich ca. zehn Prozent. Gächter argumentiert in Hinblick auf diese Beobachtung, dass es am österreichischen Arbeitsmarkt einen vorhandenen Bedarf an wenig qualifizierten Arbeitskräften gibt, der abgedeckt werden muss. Daher werden zum einen Einwander_innen systematisch dequalifiziert beschäftigt und zum anderen werden die Folgegenerationen der Immigrant_innen schon im Schulsystem von höheren Abschlüssen exkludiert, damit sie nicht in Konkurrenz zu den etablierten Autochthonen kommen können (Gächter 2007: 15 f.). Dieses Phänomen sei, so Gächter, gar nicht

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explizit gewollt, sondern eher dem Umstand von bestehenden Schichtgrenzen geschuldet, die auf diese Weise reproduziert werden. Abbildung 3: Anteil der nicht entsprechend ihrer Qualifikation beschäftigten Personen nach Migrationshintergrund. Quelle: Statistik Austria 2009, S. 58.

Eine weitere Form spezifischer Benachteiligung von Migrant_innen liegt in ihrer Diskriminierung, sei es beim Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt, sei es innerhalb des Arbeitsalltags4. Für den mittelösterreichischen bzw. Alpstadter Arbeitsmarkt gibt es keine Studie, die sich mit dem Thema befasst, und insgesamt ist das Phänomen nur wenig erforscht. Studien, die Diskriminierung zum Gegenstand haben, stellen aber regelmäßig heraus, dass das Problem existiert und einen maßgeblichen Einfluss auf die Betroffenen hat. So zeigt eine Studie aus dem Jahr 2011, dass sich österreichische Arbeitnehmer_innen, die nicht in Österreich geboren wurden, benachteiligt oder diskriminiert fühlen: „In beiden Gruppen [den Herkunftsgruppen Afrika und Türkei, Anm. HB] erleben Befragte überdurchschnittlich häufig Benachteiligungen, wobei dies im Falle einer türkischen Herkunft vor allem für Männer (24%) und zu einem deutlich geringeren Ausmaß für Frauen (13%) zutrifft.“ (Riesenfelder et al. 2011: 20)

Schmidt (2015) ermittelt ebenfalls die Wahrnehmung von Mitarbeiter_innen, hier aus drei deutschen Betrieben. Auf die Frage, ob die Betroffenen das Gefühl haben, in ihrem Betrieb schon aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt worden zu sein, antworteten 80 Prozent der türkischen Mitarbeiter_innen mit „nie“ oder „selten“, immerhin aber fünf Prozent mit „fast täglich“ und 14 Prozent mit „öfters“ (Schmidt 2015: 269). Dass Diskriminierung beim Zugang zu Stellen ein relevantes Phänomen ist, zeigt eindrücklich eine Studie des IZA für Deutschland (Krause et al. 4

Die folgende Passage ist weitgehend entnommen aus: Berner 2016.

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2010). Die Autor_innen befassen sich darin mit Jobbewerbungen und der Chance, zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Bewerber mit einem deutschen Namen eine positive Rückmeldung erhalten, fällt um 14 Prozent höher aus als für Bewerber mit einem türkischen Namen.“ (Krause et al. 2010: 7) Bei Bewerbungen um Ausbildungsplätze kommen Schneider und Weinmann (2015) zu ähnlichen Ergebnissen. In einem vergleichenden Testverfahren5 untersuchten sie die Erfolge von ausländischen und deutschen Jugendlichen bei Bewerbungen um Ausbildungsplätze. Sie fassen ihre Ergebnisse unmissverständlich zusammen: „Die Studie ‚Diskriminierung am Ausbildungsmarkt‘ […] hat erstmals den statistisch abgesicherten Nachweis erbracht, dass ethnische Diskriminierung beim Zugang zur dualen Ausbildung tatsächlich vorkommt.“ (Schneider/Weinmann 2015: 136) Die Autor_innen Scherr, Janz und Müller betonen im Kontext des Zugangs zur Berufsausbildung, dass das Kopftuch, das von jungen Frauen aus religiösen Gründen getragen wird, eine ausgesprochene Quelle der Diskriminierung darstellt: In über 35% der Betriebe6 ist es ein „Ausschlusskriterium bei der Lehrstellenvergabe“ (Scherr et al. 2015: 150). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Personen, die in der Türkei geboren wurden, in Mittelösterreich weit über dem Durchschnitt als Arbeiter_innen beschäftigt sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein Teil von ihnen dequalifiziert tätig ist. Diese ungleiche Verteilung lässt sich durch die Geschichte der „Gastarbeiteranwerbung“ erklären, die dezidiert Personen nach Österreich brachte, die dann – unabhängig von ihrer früheren beruflichen Bildung – Stellen als unqualifizierte Arbeiter einnahmen. Allerdings besteht der Unterschied noch immer, obwohl mittlerweile die meist in Österreich aufgewachsenen Kinder der „Gastarbeiter“ im erwerbstätigen Alter sind. Diese Umstände lassen sich – das konnte anhand einiger jüngerer Studien gezeigt werden – auf eine systematische, teils diskriminierende Benachteiligung zurückführen. Besonders eine diskriminierende Vergabepraxis von Lehrstellen verlängert die verfestigten Zuweisungen zur beruflichen Stellung als Arbeiter_in von Personen, die aus der Türkei immigrierten, und ihrer Nachkommen.

5

Verschickt wurden identische schriftliche Bewerbungen, die sich nur im Namen der Bewerber_innen unterschieden. Ausgewertet und verglichen wurden das Antwort- bzw. Einladungsverhalten der adressierten Betriebe.

6

Die Studie bezieht sich auf das deutsche Bundesland Baden-Württemberg. Befragt wurden Personalverantwortliche.

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Selbständigkeit: Quoten und Verteilung auf Wirtschaftssektoren Die folgende Tabelle 3 ergänzt die bereits genannten Zahlen zu den Erwerbspersonen mit Geburtsort Türkei oder Österreich und die Gesamtzahl für das Land Mittelösterreich7 um Angaben zu Daten zu Erwerbstätigen, untergliedert in die unselbständig Erwerbstätigen und die Selbständigen (mit Quoten, d.h. dem Verhältnis zwischen Selbständigen und den Erwerbspersonen der jeweiligen Gruppe insgesamt). Zuletzt sind die Arbeitslosenzahlen mit den Arbeitslosenquoten, also dem Verhältnis zwischen Erwerbspersonen und Arbeitslosen, angeführt. Tabelle 3: Erwerbspersonen, Selbständigenquoten, Arbeitslosenquoten im Land Mittelösterreich, Quelle: Abgestimmte Erwerbsstatistik 2015, Statistik Austria. Eigene Darstellung.

Mittelösterreich gesamt Geburtsort Türkei Geburtsort Österreich

Erwerbspesonen

davon: Erwerbstätige

davon: unselbständig Erwerbstätige

Selbstständige

Selbständigenquote

289.712

272.937

236.906

36.031

12,44 %

4.872

4.103

4.498

344

7,06 %

234.425

223.407

202.522

31.321

13,36 %

Lag die Selbständigenquote im Jahr 2015 unter den in Österreich Geborenen bei über 13 Prozent, so beziffert sie sich für die in der Türkei Geborenen auf lediglich 7,06 Prozent. Tabelle 4 zeigt die Entwicklung der Selbständigenquoten der Personen mit Geburtsort Türkei von 2009 bis 2015 (Tabelle 4). In diesen sechs Jahren stieg sie leicht an, von 5,92 Prozent auf 7,06 Prozent. In absoluten Zahlen heißt das: 2009 gab es 288 Selbständige, die in der Türkei geboren wurden. 2015 waren es 344 bei einer fast gleich gebliebenen Anzahl an Erwerbspersonen (4.864 im Jahr 2009 gegenüber 4.872 in 2015). Von den 344 Selbständigen im Jahr 2015 waren 252 männlich und 92 weiblich. Vergleicht man die Selbständigenquoten unter Personen verschiedener Herkunftsländer (Abbildung 4), so fällt auf, dass sie unter denjenigen mit einem Geburtsort in der Europäischen Union deutlich höher ausfallen als unter denjenigen der in der Türkei Geborenen. Dies liegt zum einen daran, dass die aus Deutschland stammenden Erwerbspersonen überdurchschnittlich oft selbständig sind, zum 7

Die vorliegende Studie zieht den geografischen Rahmen um die Stadt Alpstadt. Dennoch wurden in diesem Kapitel Daten für das Bundesland ausgewertet, da die Stichprobe für die Stadt sehr klein ausfällt. In der städtischen Region beläuft sich die Zahl an Selbständigen (inkl. mithelfenden Familienmitgliedern) im Jahr 2013, die in der Türkei geboren wurden, auf 219 Personen. Im Land Mittelösterreich sind es 307.

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zweiten war der Arbeitsmarkt für Personen aus den nach 2007 zur EU gestoßenen Ländern (Rumänien und Bulgarien) bis 2014 mangels Arbeitnehmerfreizügigkeit auf selbständige Tätigkeiten begrenzt. Dieser Umstand förderte die sogenannte Scheinselbständigkeit und erhöhte die Zahl der rumänischen und bulgarischen Selbständigen. Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien (außer Slowenien) hatten dagegen mit 3,73 Prozent eine Selbständigenquote, die noch deutlich unter jener der in der Türkei Geborenen lag. Tabelle 4: Entwicklung der Selbständigenquoten, Geburtsort: Türkei, Land Mittelösterreich, Quelle: Abgestimmte Erwerbsstatistik 2009-2015, Statistik Austria. Eigene Darstellung.

Erwerbspersonen Selbständige (inkl. mithelf. Familienangeh.) davon: männlich; weiblich Selbständigenquote

2009

2010

2012

2013

2015

4.864

4.864

4.855

4.868

4.872

288

283

291

307

344

k.A.

k.A.

222; 69

222; 85

252; 92

5,92 %

5,82 %

5,99 %

6,31 %

7,06 %

Ein letzter Vergleich betrifft die Sektoren, in denen die Selbständigen tätig sind. Wieder wurde zwischen Personen mit Geburtsort Türkei und Österreich unterschieden. Die Zahl der Selbständigen, die in Österreich geboren wurden, liegt bei 31.321 Personen, derjenigen mit türkischer Herkunft bei 344 Personen, wie oben schon gezeigt wurde. Abbildung 5 zeigt ihre prozentuale Verteilung auf die drei Wirtschaftssektoren8. Der primäre Sektor, also die Land- und Forstwirtschaft, ist von Personen mit österreichischer Herkunft dominiert. Rund ein Viertel der Selbständigen mit Geburtsort Österreich sind dort tätig. Dagegen ist es weniger als ein Prozent der Selbständigen mit türkischer Herkunft. Im sekundären Sektor, zu dem Sachgüterproduktion und Bauwesen gehören, sind im Verhältnis etwas mehr Personen aus der Türkei selbständig tätig (14,83 %). Der Dienstleistungsbereich schließlich hat den

8

Primärer Sektor: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei; sekundärer Sektor: Bergbau, Sachgüterproduktion, Energie- und Wasserversorgung, Bauwesen; tertiärer Sektor: Markt- und nichtmarktmäßige Dienstleistungen: http://www.statistik.at/web_de/statisti ken/wirtschaft/volkswirtschaftliche_gesamtrechnungen/bruttoinlandsprodukt_und_haupt aggregate/jahresdaten/019715.html [13.04.2017]

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höchsten Anteil an türkischstämmigen Selbständigen (84,88 %). In absoluten Zahlen sind dies 292 von den insgesamt 344 in Mittelösterreich angesiedelten Selbständigen, die ihren Geburtsort in der Türkei haben. Zu diesem Sektor gehören auch die Gastronomie und der Einzelhandel. Eine Studie, die verschiedene Herkunftsgruppen von Selbständigen (nach Staatsbürgerschaft) in Österreich nach Branchen unterscheidet, bestätigt dies9, wie Abbildung 6 zeigt (Schmid et al. 2006). Abbildung 4: Selbständigenquoten im Vergleich nach Herkunftsländern. Quelle: Abgestimmte Erwerbsstatistik 2015, Statistik Austria. Eigene Berechnungen. 16,00% 14,00%

13,36% 11,07%

10,82%

12,00% 10,00%

7,06%

8,00%

4,65%

6,00% 4,00% 2,00% 0,00%

Österreich

EU, EWR, Schweiz, assoziierte Staaten

ehemaliges Jugoslawien

Türkei

sonstige Staaten (einschl. unbekannt)

In der Grafik von Schmid et al. sind die Sektoren nach Branchen differenziert. Sichtbar wird hier, dass ein großer Teil der Selbständigen mit türkischer Staatsbürgerschaft in den Bereichen „Handel, Lagerung“ bzw. „Beherbergungs- und Gaststättenwesen“ beschäftigt sind. Gemeinsam machen diese zwei Sparten über 50 Prozent aus. Die restlichen knapp 50 Prozent verteilen sich auf „Persönliche, soziale und öffentliche Dienste“, „Geld-, Kreditwesen, Privatversicherung“, „Bauwesen“ und „Industrie“.

9

Die Daten bei Schmid et al. 2006 stammen aus der Volkszählung 2001.

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Abbildung 5: Vergleich Sektoren, Selbständige im Land Mittelösterreich mit Geburtsland Österreich und Türkei. Quelle: Statistik Austria, Abgestimmte Erwerbsstatistik 2015. Eigene Darstellung. 84,88%

90,00% 80,00%

65,02%

70,00% 60,00% 50,00% 40,00% 30,00%

25,23% 14,83%

20,00% 10,00%

9,68% 0,30%

0,07%

0,00% primärer Sektor

sekundärer Sektor Türkei

teriärer Sektor

unbek. Tätigkeit

Österreich

Schmatz und Wetzel (2014) untersuchen ebenfalls die Verteilung verschiedener Herkunftsgruppen (nach Geburtsort) für Wiener Unternehmen (Abbildung 7). Die Verteilung der in der Türkei geborenen Wiener_innen differenziert sich nach „Freiberufliche Dienstleistungen“ (16,9 %), „Handel“ (24,1 %), „Beherbergung und Gastronomie“ (12,8 %), „Verkehr“ (14,3 %), „Bau“ (4,9 %), „Sonst. Wirtschaftliche Dienstleistungen“ (4,2 %), „Sonst. Dienstleistungen“ (8,8 %), „Herstellung von Waren“ (3,3 %) und „Andere“ mit einem Anteil von weniger als drei Prozent. Abbildung 6: Verteilung verschiedener Herkunftsgruppen (nach Staatsbürgerschaft) auf Branchen in Österreich, 2001. Quelle: Schmid et al. 2006:44.

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Abbildung 7: In der Türkei geborene Wiener Unternehmer_innen nach Branchen (Schmatz, Wetzel 2014). Eigene Darstellung.

3,3%

3,0%

Freiberufliche Dienstleistungen 16,9%

8,8%

Handel Beherbergung und Gastronomie

4,2%

Verkehr

4,9% 24,1%

14,3%

Bau Sonst. wirtschaftliche Dienstleistungen

12,8%

Sonst. Dientsleistungen

Bildungsabschlüsse und Selbständigkeit Der Zugang zu Bildung stellt eine weitere für gesellschaftliche Teilhabe relevante Ressource dar. Tabelle 5 und Abbildung 8 zeigen die höchsten Bildungsabschlüsse der türkischen und der österreichischen Herkunftsgruppe. Außerdem wurde eine dritte Teilgruppe mitberücksichtigt. Es handelt sich um Personen, die in Österreich geboren wurden und eine türkische Staatsbürgerschaft haben, d.h. es handelt sich um eine Teilmenge der in Österreich Geborenen. Diese Personengruppe wurde gewählt, weil sie innerhalb des statistisch Verfügbaren am ehesten die zweite Generation verkörpert. Freilich sind hier türkischstämmige Personen der zweiten Generation, wie sie die Statistik Austria definiert, also solche, die in Österreich geboren wurden und zwei aus der Türkei stammende Eltern haben, nur zum Teil inkludiert, da diejenigen unter ihnen mit österreichischer Staatsbürgerschaft nicht sichtbar werden. Die Teilgruppe wurde hier dennoch mit angeführt, weil der Unterschied zwischen Autochthonen und in der Türkei Geborenen eklatant ausfällt und ein Vergleich zur Folgegeneration ermöglicht werden soll. Es werden nur Erwerbspersonen insgesamt, ohne Unterscheidung zwischen Unselbständigen und Selbständigen, berücksichtigt, weil die zwei Teilgruppen (unselbständig und selbständig Erwerbstätige) in dieser Gruppe zu klein ausfallen, um verlässliche Angaben dazu machen zu können.

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Tabelle 5: Bildungsabschlüsse von Selbständigen und Unselbständigen mit Geburtsort Österreich und Türkei im Vergleich. Quelle: Abgestimmte Erwerbsstatistik 2015, Statistik Austria. Eigene Darstellung. Geburtsort Türkei

Selbständige

Geburtsort Österreich

Unselbständige

Selbständige

Unselbständige

Geburtsort Österreich, Staatsbürgerschaft Türkei Erwerbspersonen gesamt

Gesamt

344

4.498

31.321

202.522

714

Pflichtschule

212

3.196

2.825

25.419

439

Lehrabschluss

76

875

11.413

81.035

201

Mittlere, höhere Schule

45

317

11.652

65.737

70

Hochschule, Akademie

11

110

5.431

30.331

4

Das folgende Diagramm (Abbildung 8) visualisiert die absoluten Zahlen und deren prozentuale Verteilung, so dass die Unterschiede zwischen den Gruppen deutlicher augenfällig werden. Abbildung 8: Verhältnisse zwischen höchsten Bildungsabschlüssen. Quelle: Statistik Austria. Abgestimmte Erwerbsstatistik 2015. Eigene Darstellung. 80,00% 70,00% 60,00% 50,00% 40,00% 30,00% 20,00% 10,00% 0,00%

Selbständige, Geburtsort Türkei

Pflichtschule

Unselbständig Erwerbstätige, Geburtsort Türkei

Lehrabschluss

Selbständige, Geburtsort Österreich

Unselbständig Erwerbspersonen, Erwerbstätige, Geburtsort Österreich, Geburtsort Österreich Staatsbürgerschaft Türkei

Mittlere, höhere Schule

Hochschule, Akademie

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Zunächst fällt auf, dass der Anteil an Pflichtschulabsolvent_innen unter den Personen mit Geburtsort Türkei deutlich höher ist als unter den in Österreich Geborenen. Dies gilt, etwas abgeschwächt, auch für die Gruppe der in Österreich Geborenen mit türkischer Staatsbürgerschaft. Reziprok verhält es sich für die Inhaber_innen eines Lehrabschlusses und Absolvent_innen einer mittleren, höheren Schule oder Hochschule. Vergleicht man die Selbständigen, so zeigt sich, dass sie – unabhängig vom Geburtsort – die durchschnittlich höheren Bildungsabschlüsse haben. Allerdings ist der Unterschied zwischen den zwei Personengruppen, geboren in Österreich vs. Türkei, noch immer auffallend hoch. Dass die Folgegeneration der türkischen Immigrant_innen in Österreich noch immer einen benachteiligten Zugang zur Ressource Bildung hat, zeigen Lachmayr und Rothmüller: „Mit 28% hatten doppelt so viele Jugendliche der 2. Generation nach Pflichtschulende keine weiterführende Ausbildung mehr besucht wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund im Alter zwischen 20 und 26 Jahren (bei Jugendlichen mit türkischem Hintergrund sind es sogar 36% mit nur Hauptschulabschluss, Weiss 2006: 28).“ (Lachmayr/Rothmüller 2009: 19)

Als Ursache für diese Bildungsbenachteiligung der Folgegeneration türkischer Immigrant_innen macht Herzog-Punzenberger „das Ineinandergreifen eines stark selektiven Schulsystems und eines starren, aber relativ geschützten Arbeitsmarktes, die beide ethnisch segmentiert und in diesem Sinne jeweils den Erfordernissen des anderen Systems dienlich sind“ aus (Herzog-Punzenberger 2005: 208). Diese Bemerkung stützen Schneider et al. (2015), die einen Vergleich zwischen Ländern machen, in denen schon früh – meist nach vier Schuljahren – die Entscheidung über weiterführende Schulen getroffen wird, gegenüber den Ländern, in denen dies später passiert. Bei den Ländern mit frühen Weichenstellungen (besonders Deutschland und Österreich) sind deutlich weniger Kinder türkischer Herkunft in den Gymnasien als in Ländern, in denen erst später getrennt wird (besonders Schweden, Belgien, Frankreich) (Schneider et al. 2015: 56-60). Dass diese Situation bis 2015 anhält, zeigt die kontinuierliche Beobachtung des Politikfeldes Integration durch den Migration Integration Index (MIPEX). Hier heißt es im Länderbericht über Österreich: „Labour market integration improves over time in AT as elsewhere, but the employment gaps are greater for high-educated immigrants, while the school system seems to reproduce inequalities over time.“ (Huddleston et al. 2015: 22)

Insgesamt kann also konstatiert werden, dass der Zugang zu institutionalisierter Bildung unter den in der Türkei Geborenen weit unter dem der Autochthonen

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liegt. Dies hängt nicht allein damit zusammen, dass ein Großteil der türkischen Immigrant_innen in den 1960er und 70er Jahren als Gastarbeiter_innen nach Österreich kam, da sich die Verhältnisse bis in die 2000er Jahre hinein prolongieren und sich überdies auf die Folgegeneration übertragen. Man kann daher von einem benachteiligten Zugang zur Ressource Bildung auch für türkischstämmige Österreicher_innen reden. Rechtlicher Rahmen Im August 2002 trat in Österreich die neue Gewerberechtsordnung in Kraft. Die wesentlichste Neuerung für Drittstaatenangehörige betraf den Wegfall der sogenannten „Erfordernis der Gleichstellung“ (Haberfellner 2012: 45). Diese hatte vorgesehen, dass jeder und jede Drittstaatenangehörige nachweisen musste, dass die geplante Selbständigkeit einen volkswirtschaftlichen Nutzen erbringen sollte, um einen Gewerbeschein ausgestellt zu bekommen. Haberfellner kommt zum Schluss, dass der Ermessensspielraum der Behörden bei der Vergabe groß war und häufig zuungunsten der Betroffenen ausfiel. Diese hatten dann zwei Möglichkeiten, dem Hindernis auszuweichen, die beide freilich nur wenig realistisch zu erreichen waren: Sie konnten den Umweg über die österreichische Staatsbürgerschaft gehen oder sie konnten eine Gesellschaft mit österreichischer Geschäftsführung gründen. Die neue Gewerberechtsordnung, die 2002 in Kraft trat, sieht dagegen lediglich einen Aufenthaltstitel als Bedingung für den Erhalt des Gewerbescheins vor. Dass dieses neue Verfahren zu einer Zunahme der Unternehmensgründungen führte, belegt Haberfellner mit den Gründungszahlen von migrantischen Unternehmen in Wien. Betrugen diese in den Jahren 2000 und 2001 noch vier bzw. fünf pro Jahr, so waren es 2002 29 Neugründungen und 2005 schon 87 (ebd.: 48). Besonders der Zugang zu freien, also nicht-reglementierten, Branchen wie dem Handel, aber auch zur freien Gastronomie profitierte davon, da hier „keine speziellen Befähigungsnachweise für die Erlangung eines Gewerbescheines erbracht werden müssen. Drittstaatenangehörige können bei Vorliegen eines Aufenthaltstitels, der selbständige Erwerbstätigkeit erlaubt, nun problemlos selbst den Gewerbeschein lösen und ein Einzelunternehmen gründen.“ (Ebd.: 46) Ein Aufenthaltstitel in Form einer befristeten Niederlassungsbewilligung kann nach Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (Fassung vom 16.11.201510) erteilt werden, wenn eine selbständige Erwerbstätigkeit angestrebt wird (ebd., § 8), d.h.

10 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzes nummer=20004242 [06.03.2017]

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Selbständige brauchen keine Bewilligung, bevor sie den Gewerbeschein beantragen (vgl. ebenfalls Statistik Austria 2009). Wie erwähnt, ist durch die Gesetzesnovelle besonders der Zugang zu unreglementierten, freien Gewerben11 erleichtert. Reglementierte Gewerbe12 sind für Personen, die ihre Bildungs- und Ausbildungskarriere nicht in Österreich absolviert haben, oft weiterhin verschlossen, da die im Ausland erworbenen Qualifikationen häufig nicht anerkannt werden. Dies betrifft beispielsweise die Gastronomie: Zur Leitung eines Gastronomiebetriebs bedarf es einer Ausbildung. Ausnahme stellt das sogenannte freie Gastgewerbe dar, das in Österreich besonders in Form des Würstelstandes13 erwähnenswert ist, zu dem auch Kebab-Imbisse gezählt werden. Eine Zwischenform, die zwischen reglementiertem und freiem Gewerbe angesiedelt ist, stellen sogenannte Teilgewerbe14 dar. Für deren Betrieb ist eine vereinfachte Form des Befähigungsnachweises erforderlich, der beispielsweise durch einen Kurs bei den regionalen Wirtschaftskammervertretungen absolviert werden kann. Ein typisches Beispiel sind Änderungsschneidereien. Sie stellen im Gegensatz zu Maßschneidereien ein Teilgewerbe dar. Maßschneidereien gehören zu den reglementierten Gewerben und können nur von Personen mit entsprechender Ausbildung und einem Meistertitel geführt werden. Problematisch gestaltet sich die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt im Falle des Scheiterns. Die Betroffenen sind „daher gezwungen, Unternehmen auch dann weiterzuführen, wenn sie nicht rentabel waren“ (Haberfellner 2012: 47), denn von der Beschäftigung ist die Aufenthaltsgenehmigung in Österreich abhängig. Auf Personen mit Geburtsort Türkei trifft diese Problematik in besonders hohem Maße zu, denn nur knapp über die Hälfte der türkischen Erwerbstätigen hat eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (Statistik Austria 2009: 70). Scheitert das Unternehmen und erleidet der Betreiber oder die Betreiberin größere Umsatzeinbußen, so hat dies auch Folgen für die Vergabe der österreichischen Staatsbürgerschaft, denn es „muss dauerhaft ein Einkommen über den Ausgleichzulagenrichtsatz (2015/872 Euro für einen Erwachsenen pro Monat) [nach-

11 Liste der freien Gewerbe in Österreich: http://www.bmwfw.gv.at/Unternehmen/Gewerbe/Documents/Bundeseinheitliche_Liste_der_freien_Gewerbe.pdf [06.03.2017]. 12 Liste der reglementierten Gewerbe in Österreich: https://www.wien.gv.at. /wirtschaft /gewerbe/gewerbeverfahren/reglementiert.html [06.03.2017]. 13 https://www.wko.at/Content.Node/branchen/ooe/Gastronomie/Freies_Gastgewerbe.html [06.03.2017]. 14 Liste der Teilgewerbe in Österreich: https://www.wien.gv.at/wirtschaft/gewerbe /gewerbeverfahren/teilgewerbe.html [06.03.2017].

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gewiesen werden, Anm. HB], wobei Belastungen wie Kredite oder Unterhaltszahlungen noch hinzugerechnet werden. Die bedarfsorientierte Mindestsicherung darf keinesfalls bezogen werden.“ (Sel/Bichl 2015: o.S.) Selbständige, die die österreichische Staatsbürgerschaft anstreben, sind daher permanent dem Risiko ausgesetzt, die Bedingungen nicht zu erfüllen – ein Risiko, das sie gegenüber einheimischen Selbständigen systematisch benachteiligt und das daher als unmittelbare Diskriminierung interpretiert werden kann. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen nach 2002 das Gründen von Unternehmen durch nicht-österreichische Staatsbürger_innen erleichterten, dass aber nach wie vor eine Benachteiligung vorliegt – sei es eine direkte oder eine indirekte, wie die Folgen einer erschwerten Vergabe der Staatsbürgerschaft. Immerhin wurde die direkte Benachteiligung durch die Gewerberechtsnovelle im Jahr 2002 spürbar reduziert. Exemplarisch lässt sich diese Erleichterung an der deutlichen Zunahme von Unternehmensgründungen durch Migrant_innen in Wien seit 2002 zeigen (Haberfellner 2012). Zusammenfassung Das Ziel des Teilkapitels lag darin, die Situation der Selbständigen mit türkischer Herkunft im Land Mittelösterreich zu beschreiben und daraufhin zu überprüfen, ob von einer benachteiligenden Struktur ausgegangen werden kann. Es lässt sich feststellen, dass Personen, die in der Türkei geboren wurden, viel häufiger als Arbeiter_innen, weniger dagegen als Angestellte tätig sind als Autochthone. Sie haben niedrigere Bildungsabschlüsse und weisen im Beruf einen höheren Grad an Dequalifikation auf. Es gibt deutlich mehr Arbeitslose als unter den in Österreich Geborenen und sie haben die niedrigere Selbständigenquote. Diese Befunde vererben sich auf die Folgegenerationen, wie die Besprechungen der Bereiche Bildung und Dequalifikation zeigten. Neben der strukturellen Benachteiligung kann auch vom Umstand der Diskriminierung ausgegangen werden. Dies belegen verschiedene Studien, wie zum Beispiel Riesenfelder, Schelepa, Wetzel (2011) oder Scherr, Janz, Müller (2015). Benachteiligungen bis hin zu unmittelbaren Diskriminierungen lassen sich auch für die rechtlichen Rahmenbedingungen bei der Unternehmensgründung feststellen, wie im letzten Teilkapitel gezeigt werden konnte.

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MIGRANTISCHES UNTERNEHMERTUM, SELBSTÄNDIGE MIT MIGRATIONSERFAHRUNG Unternehmer_innen sind Selbständige, aber nicht alle Selbständigen haben ein Unternehmen. Zu unterscheiden ist demnach zwischen Selbständigen, die ein Gewerbe angemeldet haben, und sogenannten „Neuen Selbständigen“, die nicht unter das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz (GSVG) fallen15. Dazu gehört auch eine Vielzahl an Selbständigen, die freien Berufen nachgehen: Rechtsanwälte, Ärzte, Übersetzer oder Dolmetscher. In der vorliegenden Arbeit werden ausschließlich solche Selbständigen berücksichtigt, die ein Unternehmen führen, sei es einen Laden, einen Handwerks- oder einen Gastronomiebetrieb. In den letzten Jahren nahm die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zum Thema migrantische Ökonomie im deutschsprachigen Raum bemerkenswert zu. Die Ursache dafür dürfte in einer insgesamt steigenden Anzahl der von Migrant_innen geführten Unternehmen liegen, die für den Arbeitsmarkt von einiger Relevanz sind: Diese Unternehmen schaffen schlicht immer mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze (für Österreich beispielsweise Haberfellner 2012). Ein Grund für die steigende Zahl an migrantischen Unternehmen wiederum ist die Erweiterung der EU in den 2000er Jahren mit einem zunächst beschränkten Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt für Migrant_innen aus einzelnen Herkunftsländern. Erst seit 2014 gilt die sogenannte Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumän_innen und Bulgar_innen, die seit 2007 zu den EU-Bürger_innen zählen, so dass deren einzige Möglichkeit, am österreichischen Arbeitsmarkt teilzuhaben, bis dahin in der Selbständigkeit lag. Dies waren und sind immer wieder offenkundig Formen der Scheinselbständigkeit, auch wenn dies statistisch kaum zu erfassen ist. Ein weiterer, womöglich noch wichtigerer Grund für die anhaltende Zunahme von Selbständigen mit Migrationshintergrund liegt in der Etablierung länger ansässiger Herkunftsgruppen, die mittlerweile eine zweite und dritte Generation herausgebildet haben und die sich durch die Wahl der Selbständigkeit versprechen, ihre soziale Position zu verbessern, oder überhaupt nur in der Selbständigkeit eine Möglichkeit sehen, am Arbeitsmarkt gleichberechtigt zu partizipieren. Dass strukturelle Benachteiligungen die Hintergrundfolie beruflicher Entwicklungen bilden, konnte im letzten Teilkapitel gezeigt werden.

15 https://www.wko.at/Content.Node/Service/Arbeitsrecht-und-Sozialrecht/Sozialversich erung/Sozialversicherung-fuer-selbststaendig-Erwerbstaetige/Neue_Selbstaendige.html [06.03.2017]

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Die wissenschaftlichen Perspektiven der Studien über migrantisches Unternehmer_innentum sind unterschiedlich. So widmen sich die in Österreich erschienenen Beiträge „Entrepreneurship von Personen mit Migrationshintergrund“ (Schmid et al. 2006) und „Ethnische Ökonomien als (potenzielle) Arbeitgeberbetriebe“ (Haberfellner 2012) eher der wirtschaftlichen Seite des Gegenstands. Es handelt sich bei ihnen um Studien, die vom österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS) in Auftrag gegeben wurden. Dies ist dem Umstand gezollt, dass migrantische Unternehmen zunehmend in ihrem Arbeitgeberpotential und als mögliche Ausbildungsstätten wahrgenommen werden. Andere, wie beispielsweise „Marginale Urbanität. Migrantisches Unternehmertum und Stadtentwicklung“ (Hillmann 2011), sind stadtsoziologisch ausgelegt, wieder andere folgen zwar soziologischen Fragestellungen, haben aber auch zum Ziel, Handlungsmotivationen von migrantischen Unternehmer_innen sichtbar zu machen, oder wollen auf eine bessere Beratung und Unterstützung hinarbeiten, so dass sie – wenngleich soziologischen Ursprungs – als bildungswissenschaftlich relevant betrachtet werden können. Beispiele hierfür sind „Selbständigkeit von Migranten und informelle Netzwerke als Ressource für die Stadtentwicklung“ (Floeting 2009), „Perspektiven der ‚Transkulturalität als Praxis‘. Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin“ (Pütz 2009) oder „Brücken bauen. Migrantenunternehmen in München“ (Schütt 2015), eine Studie, die von der Stadt München selbst durchgeführt wurde und einen Beitrag zur Beschreibung der Stadt leisten soll. Auch „Migrantische Ökonomien in Wien“ (Schmatz/Wetzel 2014) bezieht das Phänomen „migrantische Selbständigkeit“ auf eine Stadt und fasst es als Teil der Stadtentwicklung auf. Genuin bildungswissenschaftliche Studien zum Thema liegen kaum vor. Neben den Versuchen, das gesellschaftliche Phänomen zu verstehen und Dynamiken nachzuvollziehen, die die Zunahme der von Migrant_innen geführten Unternehmen erklären, wird in diesen jüngeren Veröffentlichungen auch die Begrifflichkeit selbst diskutiert. In den folgenden Teilkapiteln wird diese Debatte nachvollzogen. Die Literatur befasst sich auch mit zentralen Charakteristika migrantischer Unternehmen. So werden Motive für die Gründung von Unternehmen erforscht, Unterstützungsstrukturen und Marktbedingungen werden thematisiert oder Auswirkungen auf das soziale und auf das sozialräumliche, meist städtische Umfeld werden besprochen. Auf Auswirkungen auf die Personen, auf ihre Selbstsicht, auf Fragen der Identität wird weniger eingegangen. Hier wird der empirische Teil der vorliegenden Arbeit anschließen. Im folgenden Teilkapitel werden die Begriffsgenese im deutschsprachigen Gebrauch und Ergebnisse relevanter, auch internationaler Studien zusammengefasst und diskutiert. Neben der Beschreibung und Diskussion der unterschiedlichen Zugänge soll mit Hilfe dieses Kapitels die Forschungsfrage weiter eingegrenzt und ihre Relevanz genauer begründet werden. Außerdem soll es als

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Basis für die Wahl von theoretischen Zugängen dienen, die zur Beantwortung der Forschungsfragen dienen können. Begriffsgenese, Begriffsimplikationen In der Literatur tauchen verschiedene Begriffe auf, die vermeintlich alle auf denselben Gegenstand referieren: „Ethnische Ökonomien“ (Haberfellner 2012), „Entrepreneurship von Personen mit Migrationshintergrund“ (Schmid et al. 2006), „migrantisches Unternehmertum“ (Hillmann 2011), „migrantische Ökonomie“ (Yildiz 2011a) oder „Migrantenunternehmen“ (Schütt 2015) sind prominente Beispiele. Die folgende Begriffsdiskussion stellt jedoch heraus, dass mit den verschiedenen Begriffen unterschiedliche Aspekte des Gegenstands betont werden oder sogar unterschiedliche Gegenstände gemeint sind – seien es kategorische Unterschiede, seien es Nuancen oder Implikationen. Nach Haberfellner besteht ein erster wesentlicher inhaltlicher Unterschied in der Art der Unternehmen, die die jeweiligen Begriffe umfassen: „Unter einer ethnischen Ökonomie werden grundsätzlich die Selbständigen sowie die ArbeitgeberInnen und deren Beschäftigte einer ethnischen Gruppe verstanden. […] Es handelt sich also um jenen Teil der Wirtschaft, der genuin durch Angehörige ethnischer Gruppen bzw. von MigrantInnengruppen entwickelt und geprägt wurde. Nicht berücksichtigt werden in diesem Zusammenhang beispielsweise Angehörige einer ethnischen Gruppe, die in anderen Teilen der Wirtschaft Beschäftigung gefunden haben.“ (Haberfellner 2012: 12)

Auf die Akteur_innen bezogen beinhaltet der Begriff „ethnische Ökonomie“ nicht allein die Inhaber_innen von Unternehmen, sondern auch deren Beschäftigte. Ausgeschlossen sind dagegen Migrant_innen, die „in anderen Teilen der Wirtschaft Beschäftigung gefunden haben“, die nicht von der Ethnie geprägt sind. Dies können beispielsweise die Leiter_innen eines Handwerksbetriebs, einer KfzWerkstatt, selbständige Friseur_innen usw. sein. In erster Linie werden mit der Begrifflichkeit also Betriebe gemeint, die ein sogenanntes Nischenprodukt anbieten. Möglich wären in diesem Sinne Gastronomiebetriebe mit spezifischem Angebot („Pizzeria“, „Dönerstand“ etc.). Vereinfachend und wenig zeitgemäß ist diese Engführung deshalb, weil viele Betriebe dieses Typs über eine differenzierte Angebotspalette verfügen – stellvertretend kann hier eine Bäckerei mit einer Mischung aus „typisch“ türkischen und österreichischen Backwaren genannt werden. Darüber hinaus sind die Anbieter_innen ohnehin so kreativ, nicht nur die Produktpalette zu mischen, sondern auch die Namen der Waren, so dass zum Beispiel Lahmacun als „(türkische) Pizza“ deklariert wird. Auch müssen die Inhaber_innen

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regionaler Waren nicht unbedingt aus der Region stammen, so ist es nicht ungewöhnlich, wenn eine „italienische“ Pizzeria von einem Kroaten oder einer Serbin geführt wird. Ein dritter Kritikpunkt geht auf ein bei Haberfellner angeführtes Merkmal ethnischer Ökonomien zurück, das sie als „Nachfrage durch community“ bezeichnet (ebd.: 14, Grafik). Sicher dürfte bei der Gründung von ethnischen Ökonomien die Nachfrage einer bestimmten Käufer_innengruppe eine Rolle spielen, aber erstens sind, wie gezeigt, Angebote oft vielfältig und nicht auf das Interesse einer einzigen ethnischen Gruppe reduziert und zweitens stehen für eine ethnische Gruppe „typische“ Produkte allen potentiellen Käufer_innen zur Verfügung, auch solchen, die einer anderen ethnischen Gruppe angehören. Haberfellner selbst erweitert den kategorisch engen Begriff der ethnischen Ökonomie, indem sie Marktnischen als Basis für die Entstehung von Migrant_innenunternehmen differenziert in: „ethnische Nischen“, „ökonomische Nischen“ und „lokale Nischen“ (ebd.: 15 f.). Die Dynamik, die aus der Wirksamkeit der verschiedenen Nischen entsteht, beschreibt sie wie folgt: „Unterschiedliche Unternehmensformen mit jeweiligen Schwerpunkten können sich entlang der lokalen und ökonomischen Rahmen entwickeln mit einer unterschiedlich starken Betonung der ethnischen Ressourcen. Nischen können durch Nachfragen der etablierten Bevölkerung entstehen, die einerseits ethnische Produkte nachfragt, aber auch Produkte, die keinen spezifischen ethnischen Hintergrund haben. In letzterem Fall handelt es sich häufig um ökonomische Nischen, die aufgrund der Abwanderung einheimischer UnternehmerInnen Chancen für ImmigrantInnen eröffnen.“ (Ebd.)

Haberfellner versucht, sich durch die Einbeziehung von ökonomischen und lokalen Nischen von einem veralteten Modell zu verabschieden, das Floeting folgendermaßen beschreibt: „Das Nischenmodell bezieht sich vor allem auf die Einwanderer der ersten Generation. Sie entsprechen mit ihren Geschäften vor allem den Bedürfnissen der eigenen ethnischen Gruppe.“ (Floeting 2009: 55) Haberfellners Öffnung des Begriffs ließe es auch zu, sich ganz vom Nischenbegriff zu trennen, da sich die so beschriebenen Unternehmen mehr und mehr den autochthonen Ökonomien annähern. Wesentlich beim Begriff der ethnischen Ökonomie – und gleichzeitig Anlass für Kritik – ist, dass die inhaltliche Ausrichtung des Begriffs auf dem Produkt bzw. dem Angebot oder der Dienstleistung liegt, während der Umstand der Migration keine zentrale Rolle spielt: Auch ethnische Minderheiten, die über einen langen Zeitraum in einem Land sesshaft sind, werden damit abgedeckt. Der Begriff „Ethnic Business“ wird synonym geführt (ebd.).

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Floeting legt dagegen einen anderen Schwerpunkt an den Begriff der ethnischen Ökonomie an: „Unter ‚ethnischer Ökonomie‘ wird im folgenden selbständige Erwerbstätigkeit von Migranten und abhängige Beschäftigung von Migranten in von Migranten geführten Betrieben verstanden, die in einem spezifischen Migrantenmilieu verwurzelt sind.“ (Floeting 2009: 53)

Wie bei Haberfellner umfasst der Terminus hier die Inhaber_innen und ihre Beschäftigten. Dieses Mal ist jedoch nicht die Angebotspalette wesentlich für die Namensgebung, sondern die vermeintliche Verwurzelung der Inhaber_innen in einem Migrantenmilieu. Auch dieser Zugang ist kritisch zu sehen, reproduziert er doch bestehende Milieus, ohne auf die Wirkmacht der Unternehmen in Bezug auf gesellschaftliche Normalisierungsprozesse einzugehen. Der Begriff „Immigrant Business“ hat, nach Haberfellner, inhaltlich zum Schwerpunkt, dass die Gründer_innen selbst über Migrationserfahrung verfügen – sei es, dass Migrant_innen selbst oder ihre Nachfahren das Unternehmen gründen –, während das Produkt bei der Bezeichnung unerheblich ist. Die oben angeführten migrantischen Kfz-Werkstattinhaber_innen führen in diesem Sinne also ein „Immigrant Business“ (ebd.). Charakteristisch für beide Attribute in Verbindung mit „Ökonomie“ oder „Business“ ist, dass sie nicht auf das einzelne Unternehmen und nicht auf den einzelnen Inhaber oder die einzelne Inhaberin, sondern auf einen „Teil der Wirtschaft“ (ebd.) verweisen. Dieser kann, je nach Größe, räumlicher Konzentration und Dauer der Sesshaftigkeit einer Herkunftsgruppe relativ autonom funktionieren. Dies kann in Stadtteilen mit einer hohen Anzahl von Personen einer Herkunftsgruppe der Fall sein. Möglich ist demgegenüber auch, dass die Unternehmen mit der Gesamtwirtschaft mehr oder weniger vernetzt sind. So stellte Haberfellner für Wien fest, „dass trotz hoher räumlicher Konzentrationen in manchen Stadtteilen die Unternehmen mit der Wirtschaft der Mehrheitsgesellschaft in vielfältigen Geschäftsbeziehungen stehen“ (ebd.: 13). Freilich stellt sich dann die Frage, ob die beobachteten Betriebe selbst nicht schlicht zu einem Teil der Mehrheitsgesellschaft werden – dies scheint eine Sache des Betrachtungswinkels, der bei der hier durchgeführten empirischen Studie berücksichtigt werden soll. Haberfellner läuft zumindest Gefahr – ähnlich wie Floeting, wenn er auf Migrantenmilieus als feststehendes Charakteristikum verweist –, eine Grenze zu reproduzieren, die sich womöglich längst aufgelöst hat. Dies wäre immerhin eine alternative Deutung ihrer Forschungsergebnisse.

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Etwas verwirrend ist der Begriffsmix, der aus Kombinationen entsteht. So ist bei Haberfellner einmal von „Ethnic Entrepreneurship“, dann von „Immigrant Entrepreneurship“, dann wieder von „Immigrant“ bzw. „Ethnic Business“ die Rede. Nach Schmid et al. (2006, an der Studie wirkte auch Haberfellner mit) ist mit „Entrepreneurship von Personen mit Migrationshintergrund“ jedenfalls das Pendant zum Haberfellner’schen „Immigrant Business“ gemeint, das heißt, zentral ist die Migrationserfahrung16, nicht das Produkt. Überdies werden selbständige Freiberufler_innen miteinbezogen. Empirisch jedenfalls ist die reduzierte Betrachtung von ethnischen Ökonomien nicht gerechtfertigt, da sie nur einen (kleinen) Teil der von Migrant_innen geführten Unternehmen ausmachen. So konstatieren Desiderio und MestresDomènech im OECD-Bericht „Migrant Entrepreneurship in OECD Countries“: „Migrant entrepreneurship has been traditionally associated with ethnic businesses that cater mainly to populations from their ethnic enclaves. However, migrants develop their business activities not only in these traditional sectors but also in other high-value activities.“ (Desiderio/Mestres-Domènech 2011: 151)

Die Kritik von Schütt geht ebenfalls dahin, dass der Begriff „ethnisch“ auf ein bestimmtes Angebot von Produkten oder Dienstleistungen verweist, die die ethnischen Gruppen bedienen sollen (Schütt 2015: 16). Damit werde „ethnische Ökonomie“ nicht der Realität gerecht. Außerdem inkludiert „Ökonomie“ strenggenommen alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, also auch nicht-selbständige – genau diese sind für gewöhnlich aber nicht gemeint, wenn von ethnischen Ökonomien die Rede ist (ebd.: 16). Schütts Studie „versteht unter ‚Migrantenökonomie‘ zunächst jede Form der wirtschaftlichen Tätigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund, d.h. selbständige und unselbständige Erwerbstätigkeit“ (ebd.: 17). Für die eigene Studie präferiert sie daher den Begriff Migrantenunternehmen: „Mit ‚Migrantenunternehmen bzw. ‚migrantischen Unternehmen‘ bezeichnen wir Unternehmen, die von Personen mit Migrationshintergrund geführt werden, ohne dabei auf eine bestimmte Ethnie zu fokussieren.“ (Ebd.)

16 Da es sich um eine quantitative Studie handelt, verstehen Schmid et al. aus Gründen der Datenverfügbarkeit unter „Personen mit Migrationshintergrund“ Migrant_innen und in Österreich Geborene, die nicht über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügen. Kinder von Migrant_innen, die die österreichische Staatsbürgerschaft haben, werden in der Regel statistisch als autochthone Österreicher_innen erfasst, d.h. ihre indirekte Migrationserfahrung wird nicht sichtbar.

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An all den bisher genannten Begriffen kann kritisiert werden, dass sie nicht über bestehende Grenzen zwischen Herkunftsgruppen hinausführen. Allesamt laufen sie Gefahr, Grenzen zu reproduzieren und gesellschaftliche Normalisierungsprozesse nicht wahrzunehmen, die darauf hinauslaufen, dass einstige Minderheitenökonomien zum Mainstream werden. Schütt berücksichtigt diesen Punkt, wenn sie erklärt, dass „ethnisch“ das Problem birgt, dass alle Ethnien damit gemeint werden müssten, auch solche, die innerhalb deutscher nationaler Grenzen tradiert sind, bzw. auch eine deutsche Mehrheitsethnie, so es eine solche gibt. Dieser auf Ethnien anderer Herkunftsländer oder -regionen reduzierte Begriff von „Ethnie“ trägt daher zur Trennung zwischen „Uns“ und den „Anderen“ bei. Dabei gibt es Forschungsergebnisse, die es nahelegen würden, dass sich in der sozialen Wirklichkeit eine Grenze zwischen Gruppen längst auflöst, dass also ein höherer Grad an gesellschaftlicher Integration stattfindet, wie die Beobachtung von Haberfellner über die Verflechtung des Wiener Unternehmtums zeigt. Dennoch reflektiert Haberfellner die Gruppengrenzen, die in den verwendeten Begriffen angelegt sind, nicht mit. Eine Alternative theoretische Basis schlägt Pütz mit dem Konzept der Transkulturalität nach Welsch vor: „Welsch geht mit dem Hinweis auf die Globalisierungsdebatten zunächst davon aus, dass territorial verortbare homogene Kulturen aufgrund vielfältiger Verflechtungszusammenhänge nicht mehr angenommen werden können. Transkulturalität impliziert also die Aufhebung der Kongruenz von Territorium und Kultur.“ (Pütz 2009: 64 f.)

Die Autorinnen Dabringer und Trupp (2012) versuchen das Dilemma zu lösen, indem sie am Begriff der ethnischen Ökonomie zwar festhalten, dabei aber den Begriffsteil „ethnisch“ in Anführungszeichen setzen. Die Anführungszeichen verweisen darauf, so die Herausgeber_innen, dass sie einerseits an der Grenzziehung zu „den Anderen“ festhalten, um überhaupt ein gesellschaftlich wirksames Phänomen erklärbar machen zu können, andererseits aber darauf hinweisen, dass sie die Begrifflichkeit keinesfalls essentialisierend verstehen. So steht im Zentrum ihres Interesses auch nicht die Beschreibung von Gruppen als bestehende Größen mit bestehenden Merkmalen, sondern die Erfassung von dynamischen, meist lokalen Prozessen der Aneignung und Umdeutung, die durch migrantische Unternehmen initiiert werden. Sie führen den Begriff „ethnische Ökonomie“ dann auch parallel zu „migrantisches Unternehmertum“ oder „migrantische Ökonomie“ (ebd.: 10 f.) „Migrantisches Unternehmertum“ und „migrantische Ökonomien“ werden in der Regel synonym geführt. Hillmann et al. bezeichnen sie „als Oberbegriff für die migrantische Selbständigkeit“ (Hillmann et al. 2011: 10). Inhaltlich erweitern

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sie aber die Perspektive auf den Gegenstand um die Selbstsicht der Betroffenen. Demnach ist es grundlegend wichtig, den Prozess gesellschaftlicher Normalisierung festzustellen, der allerdings immer begleitet ist von Fremdzuschreibungen zu den betroffenen migrantischen Selbständigen durch die Mehrheitsgesellschaft. So betont die Herausgeberin von „Marginale Urbanität“, dass die Untersuchungsergebnisse des Sammelbandes belegen, „dass es neben der feststellbaren ‚besonderen‘ Position der MigrantInnen in der Stadtgesellschaft immer auch der Versuch der MigrantInnen ist, für sich selbst möglichst viel ‚Unauffälligkeit‘, möglichst viel ‚Normalität‘ herzustellen. Schon dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die MigrantInnen auf ein sie als ‚anders‘ einschätzendes Umfeld reagieren.“ (Hillmann et al. 2011: 9)

Das Zitat zeigt eine Erweiterung des oben geführten Zugangs an: Die Perspektive der Migrant_innen selbst ist hier Teil der Betrachtung. Das Streben nach Normalität wird mitberücksichtigt und als Handeln gegen Fremdzuschreibungen und Gruppengrenzziehungen interpretiert. Dies hat auch zur Folge, dass kaum mehr „von einer ‚typischen migrantische Ökonomie‘ im Allgemeinen“ (ebd.: 11) gesprochen werden kann, da sie sich – ähnlich wie dies bei von Autochthonen geführten Betrieben der Fall ist – nach den Bildungshintergründen ihrer Gründer_innen stark unterscheiden. Spezifisch für Migrant_innen ist allerdings der benachteiligende rechtliche Rahmen. In diesem unterscheiden sie sich offensichtlich von den österreichischen Staatsbürger_innen und untereinander je nach Herkunft (EU vs. Drittstaat). Aus diesen Gründen plädieren Hillmann et al. für eine gut begründete Differenzierung zwischen verschiedenen (Herkunfts-, Bildungs-)Gruppen, da diese erst dann mit der nötigen Genauigkeit erfasst und beschrieben werden können und da sie je sehr unterschiedlichen Dynamiken unterworfen sind. Die vorliegende Arbeit verfolgt einen ähnlichen Zugang. Freilich ist bei einem solchen Zugang darauf zu achten, dass keine Essentialisierung und keine Kulturalisierung erfolgen. Motive und Ursachen für den Gang in die Selbständigkeit Ein zentraler Punkt in der Beschäftigung mit migrantischen Unternehmen betrifft die Motive der Gründer_innen und die Ursachen für ihren Gang in die Selbständigkeit. Schmatz und Wetzel unterscheiden hierfür Push- und Pull-Faktoren. Die ersten verweisen auf benachteiligende Rahmenbedingungen, die zweiten auf die persönlichen Stärken und Präferenzen der Unternehmensgründer_innen. Elf Pro-

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zent der Befragten in Schmatz’ und Wetzels Studie gaben Push-Faktoren als Motive an, 45 Prozent Pull-Faktoren, 41 Prozent der Befragten gaben beide Typen an. In Hinblick auf die Gruppe der türkischstämmigen Selbständigen kommen die Autorinnen zum Befund: „UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund Türkei sind signifikant seltener dem Pull-Typ zuzuordnen (11% vs. 45%) und gehäuft im Typ ‚Mix Push/Pull‘ (69%) zu finden“ (Schmatz/Wetzel 2014: 60) Offenbar spielt für Türk_innen der Umstand der strukturellen Benachteiligung eine wichtige Rolle. Hervorzuheben ist außerdem, dass trotz der vielen Doppelnennungen von Push- und Pull-Faktoren die Autorinnen bei der kategorialen Unterscheidung zwischen Push- und Pull-Faktoren bleiben. Ob dies gerechtfertigt ist, wird im empirischen Teil der Arbeit noch eingehender erörtert. Schmid et al. gehen von zwei ähnlichen Motivkategorien aus: Diese folgen zum einen einer Logik „die einer ‚Ökonomie der Not‘ (Push-Faktoren) gehorcht, und andererseits der intrinsisch begründeten ‚Ökonomie der Selbstverwirklichung‘ (Pull-Faktoren).“ (Schmid et al. 2006: 78) Sie beschreiben die zwei Typen wie folgt: „Bei den Selbständigen, die einer ‚Ökonomie der Not‘ folgen, handelt es sich um Menschen, die in die Selbständigkeit gedrängt werden, weil sie weder realistische noch akzeptable Alternativen auf dem Arbeitsmarkt sehen. […] Dem entgegengesetzten Muster, einer Rationalität der Selbstverwirklichung, folgen idealtypisch Menschen, die vergleichsweise gute Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen haben und sich von einer selbstständigen, nicht weisungsgebundenen Tätigkeit angezogen fühlen.“ (Ebd.)

Die überwiegende Mehrheit der Befragten aus der Studie von Schmid et al. gibt an, Gründen der Selbstverwirklichung zu folgen. Allerdings wird nicht weiterverfolgt, woher das Streben nach Selbstverwirklichung ursprünglich kommt und ob es womöglich erst als Reaktion auf eine Notlage entstand. Ohne diese Unterscheidung ist das Argument für eine bildungswissenschaftliche Perspektive nur bedingt verwertbar. Ein Interviewpartner aus der genannten Studie erwähnt eine Notlage in Form einer Krankheit. Andere nennen beides – den Wunsch nach einem höheren Maß an Autonomie und eine nicht befriedigende aktuelle Situation. Gerade die angesprochene Kluft zwischen den beiden idealtypischen Motivkategorien liefert einen wichtigen Hinweis. Einerseits ist eine in der vorliegenden Studie vertretene grundlegende Annahme die, dass – bildungswissenschaftlich argumentiert – irgendeine Krise, ein Einschnitt, auch ein andauerndes Anerkennungsdefizit die Ursache für eine berufliche Neuorientierung darstellen kann. Andererseits schließt dies nicht aus, dass gleichzeitig ein intrinsisches Motiv, wie beispielsweise das

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Bedürfnis nach Selbstverwirklichung17, bei den Entscheidungen eine Rolle spielt. Womöglich ist gerade die Kombination der beiden Ebenen handlungsentscheidend. Daher – so die hier vertretende Auffassung – fallen häufig „Ökonomie der Not“ und „Ökonomie der Selbstverwirklichung“ in eins. Schmid et al. selbst relativieren ihre Forschungsergebnisse dahingehend. Sie schränken die idealtypische Unterscheidung folgendermaßen ein: „Ein großer Teil derer, die angaben, der Ökonomie der Selbstverwirklichung gefolgt zu sein, verfügen über einen vergleichsweise hohen Bildungsabschluss (mindestens Matura, allerdings meistens im Ausland), sind jedoch in Österreich von einem Bruch in der Erwerbsbiografie (Gelegenheitsjobs, Dequalifikation) gekennzeichnet. Es kann somit vermutet werden, dass auch der Wunsch nach Selbstverwirklichung zumindest teilweise ‚aus der Not heraus‘ entspringt.“ (Ebd.: 80)

Diese Relativierung kann als Ausgangspunkt für die vorliegende Studie betrachtet werden. Sie ist essentiell für die Wahl der theoretischen Grundannahmen und diese sollen in der Lage sein, Schmids Beobachtung zu erklären. Das Motiv der Not, das die Wahl der Selbständigkeit begründet, findet sich auch bei anderen Autor_innen wieder. So schreibt Yildiz über die Entwicklung der Kölner Keupstraße in früheren Jahren der Gastarbeiter-Geschichte: „Die leer stehenden Wohnungen, Lokale und Läden wurden wie in der Weidengasse schrittweise von türkischen MigrantInnen übernommen, weil der Schritt in die Selbstständigkeit für die meisten der einzige Weg aus der Arbeitslosigkeit war.“ (Yildiz 2012: 84) Pichler schreibt über das Österreich der Gegenwart: „Auch als Reaktion auf steigende Arbeitslosenraten positionieren sich die MigrantInnen der ersten, zweiten und dritten Generation in Nischen des österreichischen Arbeitsmarkts. Viele wählen zur Absicherung der eigenen Existenz im Zielland den Weg in die Selbstständigkeit.“ (Pichler 2012: 108) Floeting verweist bei der Beschreibung des sogenannten Reaktionsmodells, das einen besonderen Entstehungsprozess von ethnischen Ökonomien erklärt, auf die immer noch schlechten Chancen von Ausländern am deutschen Arbeitsmarkt: „Neuere Untersuchungen sehen die Entstehung ethnischer Ökonomien häufig als Reaktion der Migranten auf ihre spezifische Lebenslage in Deutschland (Reaktionsmodell). Wesentliches Motiv für den Entschluss zur Selbständigkeit wären damit die oft vergleichsweise

17 Der Begriff der Selbstverwirklichung ist unglücklich, weil er impliziert, dass ein Mensch bei seiner Geburt eine Anlage mitbringt, die es zu verwirklichen gilt. Dazu mehr in Kapitel 3.

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schlechteren Chancen von Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt und die höheren Marktchancen von Migrantenunternehmen in bestimmten Wirtschaftsbereichen.“ (Floeting 2009: 57)

Floeting begründet diese Annahme mit Zahlen, die die strukturelle Schlechterstellung der ausländischen Bevölkerung in Deutschland belegen (Anteil von Ausländer_innen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, Arbeitslosenquote, Dequalifikation). Auch Bergmann nennt die prekären Ausgangslagen, auf die er in einer Feldforschung in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln im Zuge einer stadtgeografischen Studie immer wieder stößt: „Das Ausbrechen aus einer marginalisierten ökonomischen, juristischen und sozialen Lage bildet das primäre Ziel für die Gründung.“ (Bergmann 2013: 163) Hackett wendet sich in einer qualitativen Studie, in der sie 21 „türkische Muslime“ in der Stadt Bremen interviewte, dezidiert von einem Ansatz ab, der sich auf Diskriminierung als Ursache für die Gründung von migrantischen Unternehmen konzentriert. Auch sie unterscheidet positive Motive wie „consciously made choices“ oder „a conscious desire to be economically independent“ (Hackett 2014: 6) von benachteiligenden Strukturen, die sich zum Beispiel folgendermaßen äußern: „A few of the interviewees portrayed self-employment as a consequence of discrimination and a lack of opportunities in the local labour market either in reference to themselves or others.“ (Ebd.) Auch Schütt folgt der Unterscheidung der Motive in solche, die aufgrund „fehlender Alternativen am Arbeitsmarkt erfolgen“ (Schütt 2015: 52), und solche, die „intrinsischen Motiven der Gründerinnen und Gründer geschuldet sind“ (ebd.). Als drittes Motiv führt sie Unternehmen an, die im Zuge der Legalisierung von Erwerbstätigkeit entstehen. Schütt wählt in ihrer Studie den Weg über die Erforschung einzelner Biografien und erstellt eine Typologie aus insgesamt fünf Typen von Gründungsgeschichten. Dabei weist sie nur einem der fünf Typen (den „Ausweichgründungen“, ebd.: 59) dezidiert das Motiv der Not zu. Die anderen Typen gehen nicht systematisch der Frage nach Einschnitten und Notsituationen nach, die zu Unternehmensgründungen führten. Allerdings erscheinen solche Motive mitunter querschnittartig. So heißt es bei einer Fallbeschreibung: „Die Gründerinnen sind hochqualifiziert, die akademischen Abschlüsse wurden aber in Deutschland nicht anerkannt.“ (Ebd.: 56) Interessant sind Schütts Beschreibungen des Typs mit der am deutlichsten ausgeprägten intrinsischen Motivation. Sie nennt ihn „Gründung für eine Idee“. Die Gründer_innen „zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie mit der Selbstständigkeit eine Idee, von der sie überzeugt sind, konsequent weiterverfolgen wollen. Wir haben es mit Unternehmerpersönlichkeiten zu tun, die das, was sie tun als Berufung betrachten.“ Allerdings vernachlässigt

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sie bei den hier zugeordneten Fällen die Suche nach Krisen, da sie sie von vornherein kategorisch ausschließt. Ein Beispiel, das Schütt innerhalb des Typs „Gründung für eine Idee“ anführt, kann dieses Manko verdeutlichen: „Ein anderer Unternehmer war in jungen Jahren ein erfolgreicher Sportler und hat sich nach der aktiven Sportlerlaufbahn im kaufmännischen Bereich etabliert. Nach einigen Jahren der Berufstätigkeit ist er den Weg zurück in den Sport gegangen und nun international als Manager für Sportlerinnen und Sportler tätig.“ (Ebd.: 66)

Im Beispiel können zwei krisenhafte Einschnitte zumindest vermutet werden: ersten die Beendigung der aktiven Sportlerkarriere, die freilich vom Altern abhängt und daher vorhersehbar hätte sein können, und zweitens das Bedürfnis, wieder in das gewohnte Metier zurückzukehren. Diese Einschnitte haben nichts mit der Migrationserfahrung des Betroffenen zu tun, können aber dennoch Anlass für die Wahl der beruflichen Tätigkeit gewesen sein. Hier hätte man sich ein systematisches Verfolgen des Motives der Krise gewünscht. Dies soll in der vorliegenden Arbeit, aufbauend auf einem angemessenen bildungswissenschaftlichen Zugang, verfolgt werden. Deutlich wird bei der Betrachtung von Schütts Studie und ihrer Konzentration auf die persönlichen Geschichten, dass Motive der Not mitunter aus einer strukturellen Benachteiligung bestimmter Herkunftsgruppen erklärbar werden können. Aber auch andere Einschnitte und Krisen, die eben nicht auf einer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit bzw. damit verbundenen Benachteiligung beruhen, können Anlass für die Idee der Selbständigkeit sein, wie das Beispiel des Sportlers aus Schütts Studie zeigt. Zumindest für Mittelösterreich konnte gezeigt werden, dass die türkische Herkunftsgruppe strukturell benachteiligt ist. Überdies kommt es zu Diskriminierung beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung und im Arbeitsalltag fühlen sich Migrant_innen häufig diskriminiert, so dass es naheliegt, in der empirischen Untersuchung darauf zu achten, ob und wie Krisen eine kollektive Dimension einnehmen, also als Motive der Not bezeichnet werden können. Diese schließen auf der anderen Seite – auf persönlicher Ebene – ein unternehmerisches, intrinsisch motiviertes Agieren aber nicht aus. Dieser Grundkonflikt soll bei der Erörterung der Bildungstheorie diskutiert werden. Wesentlich beim hier präferierten Zugang ist, dass Motive der Benachteiligung und positive Motive, wie die bewusste Wahl, sich beruflich zu entwickeln, nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen. Beide haben ihre Berechtigung – gesellschaftlich-strukturelle Nachteile oder Diskriminierung sowie die Fähigkeit der Einzelnen, zu agieren und sich zu entwickeln – und beiden Spuren wird in der empirischen Forschung nachgegangen.

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Ressourcen und Unterstützungsstrukturen Ein weiteres zentrales Charakteristikum migrantischen Unternehmertums, das in der Forschungsliteratur besprochen wird, ist das der Ressourcen und Unterstützungsstrukturen, die die Unternehmensgründungen und den Betrieb der Unternehmen begleiten. Die Rede ist hier immer wieder von sogenannten „informellen“ Unterstützungsleistungen, die ein Spezifikum für migrantische Unternehmen darzustellen scheinen. Im folgenden Teilkapitel werden verschiedene Positionen zu diesen informellen Unterstützungen aufgezeigt und kritisch daraufhin hinterfragt, ob und wie charakteristisch sie für Migrant_innenökonomien sind. Das Modell, das Haberfellner (2012) als allgemeinen Beschreibungsrahmen für ethnische Ökonomien wählt, gibt einen Hinweis auf mögliche informelle Unterstützungsleistungen oder zumindest einen Hinweis darauf, wie diese Form der Unterstützung in der sozialwissenschaftlichen Literatur besprochen wird.

Abbildung 9: Strategien der Unternehmer_innen als Reaktion auf Opportunitäten und Gruppencharakteristika (Haberfellner 2012: 1418). In ihrem Modell sind Ressourcen als eine analytische Kategorie – neben Marktbedingungen/Nachfrage, Zugang zur Selbständigkeit und spezifischen Rahmenbedingungen – inkludiert. Die Ressourcen werden mit den Stichworten „Kontakte zum Herkunftsland“, „Einbindung in Community“, „Evtl. gruppenspezifische Förderprogramme“ betitelt, von denen die ersten beiden Punkte als informelle Ressourcen bezeichnet werden können. Schmid et al. unterscheiden im qualitativen Teil ihrer Studie „Die Rolle des persönlichen Umfelds im Gründungsprozess“

18 Haberfellner übernimmt das Modell von Waldinger, Aldrich und Ward 1990.

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und „Die Rolle von Unterstützungsleistungen im Gründungsprozess“, wobei erstere die informellen Unterstützungen beinhalten. Die Autor_innen stellen drei Arten der persönlichen Unterstützung bei der Gründung migrantischer Unternehmen fest: 1. Psychische, seelische Unterstützung, 2. Finanzmittel bzw. Bürgschaften und 3. fachliche Unterstützung (Schmid et al. 2006: 80 f.). Die Studie arbeitet heraus, dass sich alle Formen von Unterstützung nachweisen lassen. Eine Diskussion darüber, ob diese Kriterien ein Spezifikum migrantischen Unternehmer_innentums darstellen, bleibt allerdings aus. Lediglich der zweite Punkt scheint auf Migrant_innen in stärkerem Maße zuzutreffen als auf österreichische Unternehmensgründer_innen, da Banken Migrant_innen gegenüber sparsamer auftreten, wo es um die Vergabe von Krediten geht, so die Autor_innen. In Hinblick auf Netzwerke und originär migrantisches Hintergrundwissen diskutiert Pütz das Phänomen der Transkulturalität. Er will transkulturelles Wissen aber weniger als eindimensionale Ressource verstanden wissen, sondern vielmehr als Hintergrund für Strategien der Positionierung innerhalb lokaler Märkte. Transkulturelles Agieren kann demnach ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen, je nach spezifischer Situation und Geschichte der einzelnen Akteur_innen. Zwei Varianten unterscheidet Pütz grundlegend: Diese sind erstens alltägliche Transkulturalität, unter der er „das routinisierte Heranziehen von Deutungsschemata“ (Pütz 2009: 78) versteht, und zweitens die sogenannte strategische Transkulturalität, die „eine absichtsvolle reflexive Verortung“ (ebd.) bezeichnet. Die Akteur_innen sind hier in der Lage „mit Identitätscodierungen flexibel umzugehen und sich situationsabhängig und intentional auf unterschiedliche Bezugssysteme einzustellen“ (ebd.). Informelle Netzwerke erwähnt auch Floeting: Sie „spielen bei der Unterstützung auf dem Weg in die Selbständigkeit, bei der Unternehmenstätigkeit und bei der Formation von Migrantenökonomien eine wichtige Rolle“ (Floeting 2009: 53). Beim Weg in die Selbständigkeit kommen besonders Fragen der Finanzierung zum Tragen. Bergmann führt informelle Netzwerke ebenfalls in Hinblick auf die Finanzierung an. „Die Unternehmensgründungen erfolgen, soweit vorhanden, mit Hilfe von informellen Finanzierungen aus dem erweiterten Familiennetzwerk.“ (Bergmann 2013: 162) Auch Schmid et al. betonen, dass die Familie finanzielle Unterstützung leisten kann. „Insbesondere bei türkischstämmigen GründerInnen zeigt sich, dass eine ausreichende Eigenkapitalausstattung als Voraussetzung für deren Aufnahme angesehen wird, und dass die Familie dem/der GründerIn in der Start-Up-Phase finanzielle Unterstützung zukommen ließ.“ (Schmid et al. 2006: 80) Dies, so die Autor_innen, ist ein Spezifikum für migrantische Unternehmen, da die hier aktiven Gründer_innen „oft einen schwierigeren Zugang zu Finanzmitteln im Vergleich zu ‚einheimischen‘ Unternehmen haben“ (ebd.).

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Neben der Finanzierung sind die „Beschaffung von Waren aus dem Herkunftsland“ und die „Rekrutierung von Helfern und Beschäftigten“ (Floeting 2009: 55) den informellen Netzwerken zuzuzählen. Scheint die Finanzierung aber eine migrationsspezifische Ausprägung zu haben, so gilt dies nicht unbedingt für die soziale Seite familiärer Unterstützung, denn die Frage ist, ob nicht jede Unternehmensneugründung, auch die von Autochthonen, von einer derartigen informellen Unterstützung begleitet wird. Diese These verfolgt auch Pütz, wenn er Zugänge kritisiert, die durchaus vorhandenes soziales Kapital als spezifisch ethnisches interpretieren. Nach Pütz konstatieren wirtschaftssoziologische und wirtschaftsgeografische Ansätze regelmäßig, dass „ökonomisches Handeln als grundsätzlich immer auch soziales Handeln aufgefasst wird und dass damit der Kontext sozialer Beziehungen als relevant für jegliche ökonomische Interaktion in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. […] Das Denkmodell ‚ethnischer Ressourcen‘ dreht die Argumentationslogik jedoch um. Hier werden […] soziale Ressourcen zu ‚ethnischen‘, das heißt, dem Unternehmer als ethnisch prädisponiertem Wesen wird eine spezifische Art an Embeddedness, sozialem Kapital et cetera zugesprochen, die sich aus seiner Herkunft ergeben.“ (Pütz 2009: 68)

Schließlich wird oft die Familie als Unterstützungsressource in Sachen Mitarbeit angeführt, die in der Lage ist, die Personalkosten niedrig zu halten, die sogar überhaupt die Bedingung für den Erfolg darstellen kann. So argumentiert Schmiz unter Rückgriff auf Blaschke und Erköz (1986): „The authors see Turkish migrant business in Berlin as ‚products of an economy of poverty‘, which can only be sustained through a high degree of self-exploitation of family members.“ (Schmiz 2013: 59)

Zusammenfassend lassen sich drei Aspekte informeller Unterstützungsressourcen zeigen, die als migrationsspezifisch bezeichnet werden können: 1. 2.

3.

transkulturelles Wissen, das in strategisches Agieren einfließen kann, informelle Finanzierungsformen, die durch die erschwerten Kreditvergaben an migrantische Klientel durch Banken als spezifisch für migrantische Unternehmen bezeichnet werden können, und die Unterstützung durch die Mitarbeit der Familie, die einerseits, obwohl oft positiv konnotiert, doch einen Hinweis auf ausbeuterische Rahmenbedingungen liefert und andererseits nicht nur spezifisch für Migrant_innen gilt, sondern auch als mögliche Unterstützungsform in von Autochthonen geführten Kleinbetrieben gelten kann.

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Gesellschaftliche Auswirkungen migrantischen Unternehmertums Die Auswirkungen migrantischen Unternehmertums auf die Gesellschaft können erstens unter einem Gesichtspunkt der strukturellen Integration einzelner Akteur_innen und zweitens als Beitrag zu einer integrierten Gesellschaft betrachtet werden – dies bringt das folgende Zitat von Floeting auf den Punkt: „Dies betrifft nicht nur die eigene Arbeitsmarktintegration der Selbständigen, sondern auch die Schaffung von weiteren Arbeits- und Ausbildungsplätzen [betrifft die strukturelle Integration Einzelner, Anm. HB], die Stärkung der lokalen Ökonomie und Versorgungsstrukturen, das heißt die Stadtteilentwicklung als Ganzes [betrifft das Maß der gesellschaftlichen Integration, Anm. HB].“ (Floeting 2009: 52)

In einem zunehmend prekarisierten Arbeitsmarkt spielt die Selbständigkeit für den ersten Blickwinkel – den der strukturellen Integration von Individuen – eine immer stärkere Rolle. Zahlen zu den von Migrant_innen geführten Unternehmen in Mittelösterreich wurden schon angeführt. Ein weiterer Aspekt – migrantische Unternehmen als Arbeitgeber_innenbetriebe – wurde dagegen bisher noch nicht besprochen. Die vom AMS Österreich in Auftrag gegebenen Studien von Schmid et al. (2006) und Haberfellner (2012) zielen auf dieses Thema ab. Gerade Haberfellners „AMS Report 82/83 Ethnische Ökonomien als (potenzielle) Arbeitgeberbetriebe“ (ebd.) thematisiert es dezidiert. Die Autorin kommt zum Schluss, dass die von Migrant_innen bzw. Personen der zweiten Generation geführten Unternehmen eine zunehmende Bedeutung als Arbeitgeber_innenbetriebe haben. Für Österreich gibt es keine verlässlichen Daten über die Anzahl an Arbeitgeber_innenoder Ausbildungsbetrieben, die von Migrant_innen oder von Personen mit Migrationserfahrung geführt werden. Zahlen für Wien immerhin liefert die Studie „Migrantische Ökonomien in Wien“ (Schmatz/Wetzel 2014). Den Autorinnen zufolge liegt der Anteil von Arbeitgeber_innenbetrieben bei ca. einem Viertel (23 %) der insgesamt ca. 26.000 Wiener Unternehmen, die von Personen aus den zwölf neuen EU-Mitgliedsstaaten, aus dem ehemaligen Jugoslawien (ohne Slowenien), aus der Türkei oder sonstigen Staaten, nicht jedoch aus einem EU-14-Staat stammen19. Die Quote erhöht sich auf ca. 34 Prozent, wenn jene Unternehmen dazugezählt werden, die zwar keine Mitarbeiter_innen angestellt haben, aber mithelfende Angehörige oder punktuell eingesetzte Arbeitskräfte beschäftigen (ebd.: 69). Dabei

19 Sie beziehen sich auf Daten der Statistik Austria, Abgestimmte Erwerbsstatistik von 2010.

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kann keinesfalls davon ausgegangen werden, dass diese Unternehmer_innen überwiegend Personal aus der eigenen Herkunftsgruppe rekrutieren. Schmatz und Wetzel beziffern – wiederum für Wiener Unternehmen, die von Migrant_innen geführt werden – autochthone Angestellte auf ca. 30 Prozent, Angestellte aus derselben Herkunftsgruppe des Inhabers bzw. der Inhaberin auf ca. 30 Prozent und Personen mit Migrationserfahrungen aus anderen Herkunftsländern auf ca. 40 Prozent. Neben ihrer Rolle als Arbeitgeber_innenbetriebe bilden migrantische Unternehmen auch Lehrlinge aus. Dies ist allerdings nur in ca. einem Prozent der Wiener migrantischen Unternehmen der Fall (ebd.: 93 f.). Die Gründe dafür sind in erster Linie, dass „keine passenden Tätigkeitsbereiche“ (ebd.) ausgewiesen werden können. Auch der hohe zeitliche Aufwand, mangelnde Qualifikation der Arbeitgeber_innen oder mangelnde Information zur Lehrlingsausbildung werden von den Interviewpartner_innen der Telefonbefragung der Studie genannt (ebd.: 94). Der Wille, Lehrlinge auszubilden, ist aber offenbar vorhanden. So gaben ca. 20 Prozent der befragten Unternehmer_innen an, in der Zukunft Lehrlinge ausbilden zu wollen (ebd.: 96). Die zweite Facette von gesellschaftlichen Auswirkungen betrifft das Maß an Integration, das die Gesellschaft durch die Zunahme von migrantischen Unternehmen erreicht. Yildiz betont, dass es sich um Normalisierungsprozesse handelt, die weniger darauf abzielen, einzelne Herkunftsgruppen in Parallelgesellschaften zu isolieren, sondern die vielmehr zu einer Durchmischung verschiedener sozialer Gruppen beitragen. Mit Yildiz’ Worten: „Großstädtische, durch migrantische Ökonomie geprägte Viertel werden immer wieder als Parallelgesellschaften, als Orte der Desintegration abgewertet. Dabei weisen sie oftmals eine besser funktionierende Infrastruktur auf, haben ökonomische Nischen mit zahlreichen Unternehmen besetzt und damit durch Eigeninitiative Aufstiegschancen geschaffen.“ (Yildiz 2015: 25)

Yildiz plädiert in seinem Konzept einer „postmigrantischen Perspektive“ (z.B. Yildiz/Hill 2015) für einen Perspektivenwechsel von einem Blickwinkel der etablierten Mehrheitsgesellschaft hin zum Standpunkt der Migrant_innen selbst. Möglich wird dann überhaupt erst das Gewahrwerden von „Erfolgsgeschichten“ (Yildiz 2011a: 120), wie sie die „Leistungen von Migranten zur Stadtentwicklung und ökonomischen Aufwertung von Stadtquartieren“ (ebd.) darstellen. Dass es sich hierbei um Prozesse handelt, die Normalisierung vorantreiben, die aber keinesfalls frei von Friktion sind, zeigt Ferdinand Sutterlütys Studie „In Sippenhaft“. Der Autor vergleicht exemplarisch Quartiere zweier deutscher Städte und kommt einerseits zum Schluss, dass der soziale Aufstieg türkischstämmiger

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Quartierbewohner_innen, der sich zum Teil in der Präsenz türkischer Läden äußert, zur Begegnung zwischen der deutschstämmigen und der türkischstämmigen Bevölkerung beiträgt. Dies ist ganz banal auf eine ökonomische Logik zurückzuführen, die alle Kund_innen gleichermaßen auf das günstigere Angebot zurückgreifen lässt – unabhängig von der Herkunftsgruppe (Sutterlüty 2010: 237-243). Allerdings macht Sutterlüty auch einen gegenteiligen Effekt aus. Er zeigt das Phänomen der Desintegration auf, das desto mehr zum Tragen kommt, je mehr die Betroffenen strukturell integriert bzw. ökonomisch erfolgreich sind. Die Ursachen für das ausgrenzende Handeln der alteingesessenen, deutschstämmigen Bevölkerung erklärt der Autor mit deren Angst vor Konkurrenz. Sutterlüty macht in seiner Untersuchung eine Spaltung zwischen den ethnisch-nationalen Gruppen aus, die er als Masterstatus beschreibt. Freilich kann man seiner Studie vorwerfen, dass sie sich ausschließlich auf die Suche nach den Divergenzen zwischen den Gruppen macht und gerade nicht neue Formen des Miteinanders berücksichtigt. In dieser Beobachtung verbirgt sich ein wesentlicher Aspekt, der die Diskussion um migrantische Ökonomien ausmacht. Es handelt sich dabei um die Frage nach der Perspektive, die Frage nach der normativen Ausrichtung der Forschung. Kann Sutterlüty für seine einseitige Forschungsperspektive kritisiert werden, wenn er sich einseitig auf negative Zuschreibungen der beteiligten Gruppen im Quartier konzentriert, so kann andererseits positiv betont werden, dass er die Zuschreibungen beider Seiten erhebt und erörtert. Dennoch schließt Sutterlüty mit der Entscheidung, die Forschung ausschließlich auf negative Konnotationen auszurichten, das Entdecken von neuen, immer normaler werdenden Praktiken von vornherein aus. Derartige Gefahr laufen allerdings viele der Studien, die sich mit migrantischen Unternehmen befassen. Dies muss nicht so sehr daran liegen, dass sie negative, desintegrative Effekte nach vorne kehren – im Gegenteil versuchen doch einige gerade das Miteinander verschiedener sozialer Gruppen zu beschreiben (Schütt 2015, Schmatz/Wetzel 2014, Haberfellner 2012) und dadurch die Funktion migrantischer Unternehmen für eine zunehmende gesellschaftliche Integration zu betonen. Andererseits vernachlässigen sie dabei das, was Yildiz als postmigrantische Sicht bezeichnet, also die Sicht der Migrant_innen selbst. Mitunter ordnen sie vielmehr ihre Forschungsergebnisse – obwohl diese zum Teil auf Interviews mit migrantischen Unternehmer_innen aufbauen – einer „einheimischen“ Sicht auf den Gegenstand unter. Dies zeigt sich beispielsweise dann, wenn Haberfellner die Durchmischung der Kundschaften migrantischer Unternehmen konstatiert, aber dennoch auf dem Begriff der ethnischen Ökonomien beharrt, oder wenn Schütt Benachteiligungen am Arbeitsmarkt als krisenhafte Anlässe für Entscheidungen registriert, das Konzept der krisenhaften Veränderung aber nicht auf

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Krisen, die außerhalb migrationsbedingter Erfahrungen angesiedelt sind, anwendet. Dass es Reibungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gibt, lässt sich freilich auch mit dem Begriff der Normalisierung nicht wegdiskutieren, das zeigte schon Sutterlütys Beitrag. Terkessidis (2005) führt an, dass der Blick auf die Migrationsgesellschaft, wie er öffentlich verhandelt wird, oftmals mit abstrakten Konzepten wie „Integration“ oder „multikulturelle Gesellschaft“ durchsetzt ist, die keineswegs real sind, sondern eher normative Horizonte darstellen, die bestehende Grenzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen festigen. Normalisierung als Begriff, der Prozesse der Annäherung an diese Utopien begleitet, ist aber nicht mit real stattfindender Normalität zu verwechseln. Die Frage, die daraus resultiert, ist die danach, welche Formen die normalen sind. Da ist zum einen eine „Mehrheitsnormalität“, die sich in den genannten – hier kritisch betrachteten – Beispielen äußert: Haftenbleiben in der Trennung verschiedener Gruppen, Problematisierung von migrationsspezifischen Werdegängen und Eigenschaften. Andererseits gibt es real bestehende Normalitäten, die sich mit dem Alltag von Minderheiten beschreiben lassen. Terkessidis verwendet hierfür, in Anlehnung an Foucault, den Begriff der Heterotopie. Im politischen Sinne liegt der Unterschied, so Terkessidis, vor allem darin, dass die abstrakten, utopischen normativen Setzungen stets darauf aus sind, die Normalität der Mehrheitsgesellschaft zu erhalten, ohne dabei die „kulturellen Artikulationen der MigrantInnen selbst“ (Terkessidis 2005: 2) zu berücksichtigen. Diese Artikulationen finden in Räumen statt, zu denen beispielsweise Kulturvereine, aber eben auch migrantische Unternehmen wie zum Beispiel Diskotheken, „Männercafés“ oder Gastronomie im Allgemeinen gehören. Auch wenn diese Orte mehr oder weniger offen sind, das heißt eine heterogene Kundschaft oder Klientel anziehen, so sind sie doch Orte der Verwirklichung kultureller Hintergründe, die von migrantischer Wirklichkeit geprägt sind. Der Unterschied der Terkessidis’schen Auslegung des Heterotopiebegriffs zum Foucault’schen Original ist der, dass bei Foucault Hetorotopien von der Mehrheit begründete „Außen“-Orte sind, die diejenigen Menschen, die von der Normalität abweichen, aussondern. Terkessidis dagegen erweitert diesen Gedanken mit Henri Lefebvre, indem er einen Schwerpunkt auf die Aktivität der „Ausgesonderten“ legt. Dadurch bekommen sie eine Vieldeutigkeit, die in Foucaults Begriff nicht angelegt war. In Hinblick auf die Diskussion um die gesellschaftlichen Auswirkungen könnte man sagen, dass manche migrantische Unternehmen als Heterotopien funktionieren, sie stellen innovative Orte der konkreten Normalisierung dar, die vom Kriterium variabler Zugehörigkeiten bestimmt sind und in denen die Beteiligten aktiv zur Gestaltung des Miteinanders verschiedener Personengruppen beitragen. Überhaupt werden migrantische Räume, ganz wie das die Beschreibung

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der Heterotopien nahelegt, als „hybride Räume“ mit „grenzüberschreitenden Praxen“ (Bergmann 2013) oder als ein „dritter Stuhl“ (Badavia 2002) bezeichnet, der in engem Zusammenhang zur Identität der Akteur_innen steht.

ZWISCHENFAZIT Im Folgenden soll daher die Perspektive der Forschung auf die Realität der Interviewpartner_innen gelegt werden. Dies soll geschehen, indem der Schwerpunkt der Betrachtung auf Normalisierung gelegt wird, ohne dabei den Blick auf Reibungen zu vernachlässigen, die stets in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen auftauchen. Relevant ist, wie die Interviewpartner_innen ihre Entscheidungs- und Handlungsprozesse beschreiben, ohne dabei das Label „Migration“ überzubetonen. Weiter ist von Interesse, wie sie selbst Veränderungen in den Begegnungen zu vermeintlich anderen sozialen Gruppen beschreiben. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen migrantischer Unternehmen ganz praktisch auf der Ebene struktureller Integration Einzelner verortet sind, die sich zahlenmäßig erfassen lassen. Zum anderen haben sie einen Einfluss auf den Grad gesellschaftlicher Integration. Diese lässt sich anhand kritischer Studien, die das Phänomen der Desintegration und Diskriminierung aufzeigen, nachvollziehen. Darüber hinaus entscheidet die Forschungsperspektive selbst über die Grenzen und Möglichkeiten der Realisierung von Prozessen gesellschaftlicher Integration. Die Besprechung der Beschreibungsmerkmale stellt einen wesentlichen Aspekt heraus, der in der Literatur nur teilweise reflektiert wird: Migrantische Unternehmen unterscheiden sich von „einheimischen“ zwar in einigen Punkten, wie beispielsweise einem benachteiligten Zugang zu Finanzierung (v.a. zu Bankkrediten), in vielen anderen Details können sie aber auch ganz ähnlich wie die von Autochthonen geführten Betriebe beschrieben werden. Sie bieten Produkte an, die von der lokalen Umgebung nachgefragt werden, sie werden gegründet aufgrund von Einschnitten im Leben der Gründer_innen und diese werden mitunter von der Familie unterstützt. Alle diese Charakteristika sind bei Autochthonen genauso vorzufinden. Unterschiede gibt es in erster Linie aufgrund von rechtlichen Rahmenbedingungen und strukturellen Benachteiligungen, die einzelne Herkunftsgruppen betreffen. Diskriminierung spielt bei diesen Benachteiligungen eine gewichtige Rolle, so die Erkenntnisse einschlägiger Forschungsliteratur zu diesem Thema. Die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit greift diese Grundlagen auf und folgt dabei zwei Blickwinkeln: Die Interviewpartner_innen werden

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nach Einschnitten in ihrem Leben befragt, die zur Unternehmensgründung führten, sie werden nach Ressourcen, Rahmenbedingungen etc. gefragt, die ihr Selbständigsein begleiten. Was die Anlässe für die Entscheidungen zur Selbständigkeit betrifft, so werden Einschnitte, die sich aus Diskriminierung oder einer strukturellen Benachteiligung der Betroffenen ergeben, von solchen getrennt, die eher auf individuelle Krisen zurückzuführen sind. Ressourcen und Rahmenbedingungen werden – falls sinnvoll – entlang einer persönlichen und einer strukturellen Ebene unterschieden. Wesentlich ist, dass Motive der Unternehmensgründung, die in Formen der Benachteiligung liegen, und Motive, die das bewusste Streben von Akteur_innen betonen, nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen. Vielmehr soll davon ausgegangen werden, dass beide im Wechselspiel miteinander stehen – seien es Motive, die spezifisch für Migrant_innen sind, seien es individuelle, die nichts mit dem Merkmal der Migrationserfahrung zu tun haben. Die Frage, die im kommenden Kapitel im Zentrum steht, ist demzufolge die, wie individuelle Bildungsprozesse mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen (hier als Normalisierungsprozesse bezeichnet) auf theoretischer Ebene verknüpft werden können. Dazu ist es nötig, zunächst einen geeigneten Bildungsbegriff herauszuarbeiten. Mit diesem sollen Bildungsprozesse, die auf die beschriebenen Formen der Benachteiligung zurückzuführen sind, beschrieben werden können. Daraufhin muss eine geeignete Gesellschaftstheorie dargelegt werden, die anschlussfähig an die Bildungstheorie ist, die also Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene ausgehend von individuellen Veränderungen erklärt. In den folgenden Kapiteln werden theoretische Zugänge ausgebreitet, die in der Lage sind, diese Themenfelder systematisch zu bearbeiten.

3 Bildung, Gesellschaft, Zugehörigkeiten

Im nun folgenden Kapitel werden die theoretischen Zugänge der Studie vorgestellt, die dann zur Beantwortung der Fragen nach Bildungsprozessen und deren Verflechtung mit gesellschaftlichen Veränderungen dienen. Zunächst sind hier grundlegende Theorien zu „Bildung“ und zu „Gesellschaft“ relevant. Wie sich zeigen wird, ist es im Anschluss nötig, die Begriffe „Gruppe“ und „Zugehörigkeit(-en)“ näher zu betrachten, da diese eine prominente Rolle innerhalb der grundlegenden Theorien spielen, ohne dass sie dort in befriedigender Weise reflektiert würden. Besondere Beachtung wird der Kluft zwischen Selbstverortung und Fremdzuweisung geschenkt. Da in der vorliegenden Studie herausgefunden werden soll, wie die interviewten Unternehmer_innen ihre Wege in die Selbständigkeit gestalteten, ist es naheliegend, sich nicht auf institutionelle Bildung allein zu konzentrieren, sondern Bildungsprozesse als im Alltag stattfindend aufzufassen. Für die Bildungstheorie wird daher ein Ansatz konzipiert, der in der Lage ist, den Fragen nach lebensweltlichen Bildungsprozessen nachzugehen. Als zentrales Konzept wurde hier John Deweys Erfahrungslernen gewählt (Oelkers 20111), da es zum einen Bildung auch außerhalb von Institutionen, eingebettet in die alltäglichen Lebenswelten der Individuen, verortet. Zum anderen bringt Deweys Konzept die Voraussetzung mit, die bildungswissenschaftliche Grundlage in einen gesellschaftlichen Kontext zu setzen, um Bildung und Gesellschaft als einander bedingend zu konzeptualisieren. Deweys Zugang wird durch zwei jüngere bildungstheoretische Ansätze erweitert: Hans-Christoph Kollers „Transformatorische Bildungsprozesse“ (Koller 2012a und 2012b) und Krassimir Stojanovs „Bildung und

1

Jürgen Oelkers ist der Herausgeber von „Demokratie und Erziehung“, das in der Erstauflage der deutschen Übersetzung auf das Jahr 1993 zurückgeht. Oelkers verfasste das Vor- und das Nachwort. John Deweys Originaltext erschien erstmals 1916 (hier: Dewey 2008).

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Anerkennung“ (Stojanov 2006). Die beiden wurden gewählt, weil sie entscheidende Stellen vertiefen, die bei Dewey zwar angelegt, aber noch wenig fundiert werden. Der Ansatz Kollers wird zusätzlich durch ein konkreteres Modell ergänzt, das Koller selbst zur Begründung der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse heranzieht. Es handelt sich dabei um Oevermanns Konzept des genetischen Strukturalismus (Oevermann 1991), der beschreibt, welcher Logik neuartige, unroutinierte Handlungen und Entscheidungen von Individuen folgen können, die darauf angewiesen sind, sich unter neuen Bedingungen zurechtzufinden. Gerade diese unroutinierten Handlungen und Entscheidungen sind als Ausgangspunkte der Werdegänge in die Selbständigkeit von zentraler Bedeutung, so lautet eine Hypothese, die der hier formulierten Fragestellung folgt. Da diese Lern- bzw. Bildungsprozesse in der vorliegenden Arbeit als eingebettet in gesellschaftliche Rahmenbedingungen aufgefasst werden, wird die Diskussion um ein Gesellschaftsmodell ergänzt. Dewey selbst beschreibt eine ideale Gesellschaft, verzichtet aber auf die Analyse gesellschaftlicher Entwicklung hin zu seinem normativen Ideal. Idealerweise soll die gewählte Gesellschaftstheorie auch dem Anspruch gerecht werden, Gesellschaft in ihrer Prozesshaftigkeit zu beschreiben, denn genau das Wechselspiel zwischen individuellen Bildungswegen und der Veränderung von Gesellschaft ist die Hauptbetrachtungsebene der Arbeit. Die Wahl fiel auf Axel Honneths Anerkennungstheorie, da sie weniger einen gesellschaftlichen Status quo als vielmehr ihre Entwicklung in den Blick nimmt und dadurch originär den Anschluss von bildungswissenschaftlichen Konzepten ermöglicht. Die perspektivische Ausrichtung dieser gesellschaftstheoretischen Fundierung liegt auch in der Auseinandersetzung mit sozialem Handeln. Wieso handeln Menschen, wie sie handeln? Welche Umstände motivieren sie dazu? Dies sind Fragen, auf die die Erörterung von Honneths Konzept abzielt. Beide Grundlagen – Deweys Bildungsbegriff und Honneths Begriff der Anerkennung – sind, so soll gezeigt werden, an einer argumentativen Stelle noch ergänzenswert, denn Gruppenkonzepte werden noch wenig entlang der Dimension von Fremdzuschreibungen gedacht. Der Anknüpfungspunkt, den Honneth zu diesem Thema formuliert, liegt in der ungleichen Verteilung von Anerkennung, die sich überwiegend in geringerer Wertschätzung äußert, die solchen Tätigkeiten entgegengebracht wird, die von bestimmten, „weniger wertvollen“ Gruppen erfüllt werden. „Hier spielen insbesondere naturalistische Vorstellungskomplexe eine große Rolle, durch die sozialen Teilgruppen ‚essentialistisch‘ bestimmte Kollektiveigenschaften zugeschrieben werden.“ (Honneth/Fraser 2003: 174) An dieser Stelle soll also angeknüpft werden: Um die Komplexität von Gruppenzugehörigkeiten und Friktionen zwischen sozialen Gruppen aufzeigen zu können, wird der theoretische Rahmen um Konzepte von Gruppen(-zugehörigkeiten) und Identität ergänzt.

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Zentral sind dabei solche Konzepte, die das Verhältnis zwischen eigenständiger Wahl von Zugehörigkeiten und Fremdzuweisungen aushandeln. Dabei wird mit Emcke (2010) ein Begriff kollektiver Identität herangezogen, der ähnlich zum Begriff der Gruppenzugehörigkeit verwendet wird. Emcke trifft eine erste Unterscheidung zwischen den beiden grundsätzlich zu unterscheidenden Formen von Gruppen – frei gewählte und fremd bestimmte Zugehörigkeiten sind damit gemeint. Ihre Darstellung wird im Anschluss ergänzt um verschiedene Modelle von Fremdbestimmungen und Fremdzuschreibungen von Merkmalen und den Reaktionsmöglichkeiten von Betroffenen. Die Begriffe, die im Folgenden erörtert werden, bauen also aufeinander auf und ergänzen sich gegenseitig. Es sind dies, geordnet nach den folgenden Teilkapiteln:   

Bildung und alltägliche Erfahrung, Gesellschaft und Handeln, Zugehörigkeit zwischen Selbstbestimmung und Fremdzuschreibungen.

Das Ziel dieser umfassenden theoretischen Auseinandersetzung liegt darin, ein in sich schlüssiges Gesamtkonzept zu erarbeiten, das allen Aspekten der Forschungsfrage gerecht werden kann. Leitend bei der Ausformulierung dieses Konzepts ist ein Gedanke, den Oelkers im Nachwort zu Deweys „Demokratie und Erziehung“ in Bezug auf den Pragmatismus formuliert: Der Pragmatismus, dem Deweys Ansatz zugerechnet werden kann, betont „den Prozess der ständigen Korrektur, die Theorien nicht wie Wahrheiten, sondern wie Hypothesen behandelt“ (Oelkers 2011: 500). In diesem Sinne will die im Anschluss formulierte dreigliedrige Theorie keine Wahrheit vermitteln, der sich die Empirie zu unterwerfen hat. Vielmehr wird das theoretische Konzept kontrovers entfaltet und soll anhand der empirischen Erhebung erörtert und abschließend kritisch reflektiert werden. Im folgenden Teilkapitel wird nun der bildungswissenschaftliche Zugang, der das theoretische Zentrum der Arbeit darstellt, dargelegt.

BILDUNG UND ALLTÄGLICHE ERFAHRUNG Bildung wird in der folgenden Ausarbeitung als Entwicklung der Selbst-, Fremdund Weltverhältnisse aufgefasst (hierzu beispielsweise Klafki 2007: 20-25), weniger in ihrer institutionalisierten Form. Es handelt sich um Prozesse, die im Alltag von Individuen stattfinden, die notwendig an die aktive Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und an Interaktionen mit anderen gekoppelt sind und die sich in-

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tersubjektiv mit verschiedenen Welthorizonten auseinandersetzen. Dieses Grundverständnis ist naheliegend, sollen die Werdegänge der interviewten Unternehmer_innen doch auf Bildungsprozesse hin untersucht werden, die nicht – oder zumindest nicht nur – im institutionellen Kontext stattfinden, sondern sich in alltäglichen Entscheidungen äußern. In diesem Kapitel werden bildungstheoretische Konzepte beschrieben und zusammengeführt, die als Grundlage für die folgende empirische Auseinandersetzung dienen können. Als Rahmen fiel die Wahl auf John Deweys Konzept des Erfahrungslernens, wie er es v.a. in „Demokratie und Erziehung“ (Oelkers 2011) vorstellt. Dewey verfolgt darin einen Ansatz, der Bildung in der aktiven Teilhabe an der jeweils gegenwärtigen Lebenswelt der Menschen verortet – eine Teilhabe, die schließlich Rückwirkungen auf das Individuum und Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umgebung zur Folge hat. Dadurch kann er getrost als Vorreiter eines Bildungsbegriffs bezeichnet werden, der sich von der Vermittlung eines gemeinsamen kulturellen Kanons abhebt und Bildung als intersubjektiv erarbeitete Weiterentwicklung von Einzelnen und Gesellschaft fasst. Sollte sich herausstellen, dass die Unternehmer_innen institutionalisierte Bildungsangebote, wie Ausbildungen, Weiterbildungen oder Kurse, in Anspruch nahmen, so lässt sich diese Form der Bildung in die Analyse integrieren – eben als ein Teilstück einer breiter angelegten Auffassung von Bildung. Dewey selbst zieht aus seinem grundlegenden Verständnis von Bildung Rückschlüsse auf die Schulpädagogik. Diese Schlussfolgerungen sind für den bildungstheoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit zunächst nicht wesentlich, allerdings können sie, falls nötig, in die anschließende Erörterung der empirischen Ergebnisse einfließen, nämlich dann, wenn es darum geht, eventuell genutzte institutionalisierte Bildungsangebote zu bewerten. Deweys Ansatz wird durch weitere Konzepte vertieft und ergänzt, auch aktualisiert, und auf den hier betrachteten Gegenstand hin maßgeschneidert. Diese sind, wie erwähnt, die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse (Koller 2012a und 2012b) und das Konzept „Bildung und Anerkennung“ (Stojanov 2006). Erweitert wird die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse um den genetischen Strukturalismus (Oevermann 1991), den auch Koller zur Fundierung seines Ansatzes heranzog. Hier wird näher darauf eingegangen, weil Oevermanns Entwurf zwei Aspekte eingehend erklärt: den Moment der Entscheidung, der neues Handeln einleitet, und die Vorerfahrungen, an denen sich neues Handeln orientiert. John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (Oelkers 2011) wurde im Original schon 1916 in den USA veröffentlicht. Die Rezeption im deutschsprachigen Raum setzte aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, allerdings war der Tenor zurückhaltend, da die Schrift dem amerikanischen Pragmatismus zugeordnet wurde, der

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hier als zu oberflächlich galt, um ernsthaft in den deutschsprachigen Diskurs aufgenommen zu werden (ebd.: 3). Warum wird in der vorliegenden Arbeit ein Ansatz herangezogen, der von Erziehung spricht, ist hier doch eher Bildung als Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse von Erwachsenen gemeint, die in deren Alltag platziert stattfinden und nicht unbedingt eines Eingriffs – eines erzieherischen Eingriffs! – von außen bedarf? Deweys Konzept versteht Erziehung umfassend: Er meint damit eine institutionelle Erziehung von Kindern und Jugendlichen, die aber außerhalb der Institutionen und nach Verlassen der Institutionen – seien es Schulen oder weiterführende Einrichtungen – nicht beendet ist. Im Gegenteil, Erziehung nach Dewey hat gerade auch einen erwachsenen Menschen im Blick, der idealerweise in der Lage ist, sich zu verändern. Institutionalisierte Erziehung ist daher nur ein Anteil von Erziehung in Deweys Sinn. Der andere ist Bildung, die als lebenslang verstanden werden kann. Aus diesem Grund soll in der Folge der Dewey’sche Begriff von Erziehung in diesem weiteren Sinn auch als Bildung bezeichnet werden (hierzu auch Stojanovs Kritik zur deutschen Übersetzung von „Education“ als „Erziehung“ in „Demokratie und Erziehung“, vgl. Stojanov 2006: 28-30). Auf den folgenden Seiten wird ein Konzept von Bildung vorgestellt, dem als roter Faden die Argumentation Deweys in „Demokratie und Erziehung“ (Oelkers 2011) zugrunde liegt. Zentrales Moment ist dabei ein krisenhafter Lebenseinschnitt, der Bildungsprozesse auslöst. Die Argumentationsschritte werden jeweils anhand der genannten jüngeren Literatur diskutiert:     

Bildung und Gesellschaft, Anpassung und Umformung, Moment der Krise, vor der Krise, nach der Krise: Erfahrung, normative Ausrichtung.

Das Ziel der Erörterung liegt darin, ein stimmiges Gesamtkonzept von Bildung zu erstellen, das als Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfragen herangezogen werden kann. Das letzte Teilkapitel stellt die Überleitung „Gesellschaft und Handeln“ dar, in dem neben der Entwicklung einer Theorie gesellschaftlicher Entwicklung auch die normative Ausrichtung der vorliegenden Arbeit besprochen wird.

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Bildung und Gesellschaft Das vorläufige Ziel von Erziehung, das Dewey in „Demokratie und Erziehung“ (Oelkers 2011) anführt, besteht in der Selbsterneuerung der Gesellschaft. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Reproduktion des gesellschaftlichen Kanons durch Erziehung. Schulische Erziehung hat die Aufgabe, Kindern das Wissen der Gemeinschaft beizubringen. Mit Wissen sind „Interessen, Zwecke, Kenntnisse, Fertigkeiten und Handlungsweisen der reifen Mitglieder“ (ebd.: 17) gemeint. Die Schule ist also Teil des Erziehungswesens, grundlegend für Erziehung aber ist Kommunikation – Dewey redet von Verkehr – zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft. Erst durch Kommunikation kann eine Gruppe sich eines gemeinsamen Sinns vergewissern. Hier wird schon deutlich, dass Deweys Idee von Erziehung über die schulisch-institutionalisierte Erziehung hinaus in den Alltag der Menschen hineinreicht. Ohne Kommunikation wäre jede/r Einzelne Teil eines Ganzen, das aber keine Gruppe darstellte. „Nicht einmal das Zusammenwirken zu einem gemeinsamen Zweck macht aus den einzelnen eine soziale Gruppe. Die Teile einer Maschine wirken mit der denkbar höchsten Genauigkeit in dieser Weise zusammen und bilden doch keine Gesellschaft. Wenn sie jedoch alle dieses gemeinsamen Zweckes bewusst, wenn sie alle daran interessiert wären, […] dann erst würden sie eine Gemeinschaft bilden.“ (Ebd.: 19 f.)2

Um diesen gemeinsamen Zweck erlernen zu können, genügt es laut Dewey nicht, seine Facetten im Unterricht zu repetieren, vielmehr müssen gemeinsame Werte eingebettet in die soziale Umwelt erlebt werden, um den Lernenden verständlich werden zu können. Dewey definiert Umwelt und soziale Umwelt wie folgt: „Die Umwelt besteht in der Gesamtsumme aller Bedingungen, die in der Ausübung der für ein lebendes Wesen kennzeichnenden Betätigungen eine Rolle spielen. Die soziale Umwelt besteht aus allen denjenigen Betätigungen der Mitmenschen, die in den Ablauf der Betätigungen irgendeines ihrer Mitglieder verwickelt sind.“ (Ebd.: 42)

Die soziale Umgebung kann die Einzelnen einseitig prägen, wenn sie die immer gleichen Impulse gibt, die ein bestimmtes Verhalten fördern. Im hier zu betrachtenden Gegenstand könnte man so weit gehen zu sagen, dass auch benachteiligte

2

Dass Deweys Gruppenbegriff ungenau ist, zeigen die drei unterschiedlichen Begriffe, denen er im Zitat die gleiche Bedeutung zuweist: soziale Gruppe, Gesellschaft, Gemeinschaft.

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Arbeitnehmer_innen ihren benachteiligten Zustand hinnehmen, wenn sie ihn nur als einigermaßen akzeptabel und als alternativlos wahrnehmen. Die Gewohnheit und die immer gleichen Impulse verleiten die Einzelnen dazu, in ihrer Situation zu verharren. Es bedarf daher schon eines besonderen Anlasses, vielleicht sogar einer besonderen Krise, die zur Durchbrechung der Handlungsroutinen führt. Wachstum Den Begriff des Wachstums bezieht Dewey grundlegend auf das Wachstum der Gesellschaft. Das, was Kinder im Heute lernen, wird die zukünftige Gesellschaft bestimmen. Wachstum ist also, auch wenn es individuell stattfindet, doch immer auch das Wachstum der Gesellschaft. Dass Individuen überhaupt wachsen können und wollen, gründet sich auf zwei Bedingungen: der Unreife und der Bildsamkeit. Der Begriff „Unreife“ scheint etwas unglücklich gewählt, besonders, wenn man ihn auf Erwachsene anwendet, gemeint ist aber lediglich das Potential, zu wachsen. „Nicht vergleichsweise [vergleichend zwischen Unreifen und Reifen, Anm. HB], sondern a n s i c h betrachtet bedeutet Unreife eine positive Kraft oder Fähigkeit, nämlich die Kraft zu wachsen.“ (Ebd.: 66, Hervorh. i. Orig.) In Hinblick auf die hier betrachtete Zielgruppe könnte man vermuten, dass sich manche Betroffene aus einer dequalifizierten beruflichen Situation frei machen wollen, indem sie die Selbständigkeit wählen. Man könnte diese türkischstämmigen Arbeitnehmer_innen dann als unreif bezeichnen, weil sie ein Lernpotential aufweisen. Das heißt, sie haben das Potential, sich zu entwickeln, und tun dies, wenn sie einen Ausweg suchen. Werden sie aber von außen an einer freieren Entfaltung gehindert, zum Beispiel indem sie systematisch benachteiligt werden, so reicht Unreife als Bedingung für Wachstum nicht aus. Es gesellt sich eine von außen wirkende „Bremse“ hinzu, die als Hindernis gelten kann, über das es sich hinauszuentwickeln gilt. Die zweite Bedingung für Wachstum ist die „Bildsamkeit“ (im Original „plasticity“, Dewey 2008). Darunter versteht Dewey „letzten Endes die Fähigkeit, aus der Erfahrung zu lernen, die Kraft, aus ihr etwas zurückzubehalten, was für die Überwindung der Schwierigkeiten einer später eintretenden Sachlage verfügbar ist. Das bedeutet die Kraft, Handlungen auf Grund der Ergebnisse früherer Erfahrungen abzuändern, Dispositionen zu entwickeln.“ (Oelkers 2011: 68)

Bildsamkeit ist also eine prinzipielle Fähigkeit und als solche angeboren. Sie ist ähnlich wie die Neugierde eine Fähigkeit, die den Einzelnen zum Handeln „verleitet“.

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Mit dieser Fassung von Bildung als Vehikel, das die Erneuerung der Gesellschaft aus sich heraus vorantreibt, und dem damit verbundenen allgemeinen Anspruch von Bildung liegt Deweys Konzept zunächst nicht weit entfernt von einem klassischen Bildungsbegriff, wie er im deutschsprachigen Raum vorherrschte. Dieser klassische Bildungsbegriff stammt aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert und orientiert sich in erster Linie an Wilhelm von Humboldts (neu-)humanistischem Grundgedanken (Klafki 2007, Koller 2012a)3. Er wird im folgenden Abschnitt in der gebotenen Kürze beschrieben, um zu zeigen, dass Deweys Konzept – auch wenn er sich nicht dezidiert darauf bezieht – so doch einige Merkmale mit diesem klassischen Bildungsbegriff teilt4. Diese Fundierung scheint für eine im deutschsprachigen Raum erarbeitete Studie angemessen, um zu zeigen, dass sie an eine verbreitete Diskussionslinie anschlussfähig ist. (Neu-)Humanistischer Bildungsbegriff im deutschsprachigen Raum Den zeitgeschichtlichen Hintergrund der klassischen Epoche kennzeichnen gesellschaftliche Neuausrichtungen, die sich „im Kampf um die Durchsetzung republikanischer Forderungen, um die Absicherung von Bürgerrechten und Bürgerfreiheiten in den politischen Verfassungen“ (Klafki 2007: 17) äußern und die „die Keime zur Entwicklung von weiterreichenden Demokratisierungsforderungen und zur Konsolidierung entsprechender gesellschaftlich-politischer Bewegungen“ (ebd.) darstellen. Dewey selbst lehnt den Diskurs um den im deutschsprachigen Raum entwickelten Bildungsbegriff allerdings dezidiert ab – zu sehr interpretiert er ihn in Abhängigkeit zum einschränkenden Eingreifen eines direktiven Staates in das öffentliche Bildungswesen (Oelkers 2011: 128-135) und damit als nicht geeignet, freie (persönliche und staatliche) Entwicklungen zu ermöglichen. Die basale Ausrichtung hin zu einem demokratischen Staatenverständnis zeigt dennoch, dass mit dem klassischen Bildungsverständnis ein Rahmen gesteckt ist, an den sich Deweys Überlegungen zu einem demokratisch fundierten Konzept an-

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Klafki verweist darauf, dass es den einen klassischen Bildungsbegriff nicht gibt. Er erörtert Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Vertreter_innen und konstruiert daraus ein einheitliches Verständnis (Klafki 2007: 16). Die hier erfolgte Diskussion baut auf diesem einheitlichen Begriff auf.

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Im Gegenteil distanziert sich Dewey ausdrücklich von der deutschen Traditionslinie. Er tut dies allerdings weniger auf einer analytischen Ebene als vielmehr auf einer historischen, anwendungsbezogenen.

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schließen lassen. Der zeitgeschichtliche Kontext der Entstehung von Deweys „Demokratie und Erziehung“ in der späten Bismarck-Ära und zu Beginn des Ersten Weltkriegs erklärt seine Abneigung gegenüber der deutschsprachigen Tradierung. Bildung im Sinne eines klassischen Bildungsbegriffs kann charakterisiert werden „als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, die die Emanzipation von Fremdbestimmung voraussetzt oder einschließt, als Befähigung zur Autonomie, zur Freiheit eigenen Denkens und eigener moralischer Entscheidungen. Gerade deswegen ist denn auch Selbsttätigkeit die zentrale Vollzugsform des Bildungsprozesses“ (Klafki 2007: 19).

Diese Grundlegung ist kompatibel mit der oben beschriebenen Ausrichtung eines hier präferierten Bildungsbegriffs, der Bildung als Prinzip der Selbstentwicklung begreift, die nicht nur via institutionalisierte Bildung, sondern vordergründig in den alltäglichen Lebenswelten der Individuen stattfindet. Dies trifft sowohl auf die Verortung von Bildung im Alltag als auch auf die allgemeine Ausrichtung von Bildung zu, die über das Abarbeiten an einem kulturellen Kanon hinausreicht (wenngleich der Erwerb eines solchen Kanons die Teilhabe in bestimmten sozialen Lagen erst ermöglicht, also durchaus eine alltagsrelevante Komponente innehat). Die in diesem Kapitel zu erörternde Rückbindung von Bildung an die aktuelle Gesellschaft, die Dewey in seinem Konzept als Basis setzt, ist auch im klassischen Bildungsbegriff Programm: „Vernünftigkeit, Selbstbestimmungsfähigkeit, Freiheit des Denkens und Handelns gewinnt das Subjekt nur in Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozessen mit einer Inhaltlichkeit, die zunächst nicht ihm selbst entstammt, sondern Objektivation bisheriger menschlicher Kulturtätigkeit im weitesten Sinne des Wortes ist.“ (Ebd.: 21)

Auch dieser Punkt zeigt die Anschlussfähigkeit von Deweys Konzepts an den humanistischen Bildungsbegriff. Normativ hat dieser einen „Humanisierungsprozess“ (ebd.: 24) im Sinne, so dass Bildung stets ein Zukunftsaspekt innewohnt. Bildung ist gekoppelt an eine allgemeine Vermittlung und an eine allgemeine Gültigkeit, die die Vertreter dieser Ausrichtung in der Entwicklung der Welt – im Sinne des Humanismus – verankerten. „Wurde Bildung zunächst als Bildung für alle zur Selbstbestimmungsfähigkeit charakterisiert, so ist jetzt eine zweite Bestimmung festzuhalten: Bildung ist nur möglich im Medium

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eines Allgemeinen, das heißt historischer Objektivationen der Humanität, der Menschlichkeit und ihrer Bedingungen, dies aber nicht in historisierender Rückwendung, sondern in der Orientierung auf Möglichkeiten und Aufgaben humanitären Fortschritts.“ (Ebd., Hervorh. i. Orig.)

Die Textpassage macht ersichtlich, dass es auch bei klassischer Bildung um Zukunftsgerichtetheit geht und um das Anstreben eines normativen Ziels, das hier mit „humanitärem Fortschritt“ bezeichnet wird. Übereinstimmung finden die Konzepte des Neuhumanismus und des Erfahrungslernens nach Dewey in ihrem Anspruch, mithilfe von Bildung zu einer besseren Gesellschaft beizutragen. Allein die Idee der guten Gesellschaft unterscheidet sich. Beim Humanismus ist es die Humanität, bei Dewey gelingende Interaktion zwischen unterschiedlichen Individuen und gesellschaftlichen Gruppen. Die Hinwendung zum Allgemeinen beinhaltet aber auch die Ermöglichung und Beförderung von Individualität durch Bildung. Beispielhaft kann dies am Spracherwerb nachvollzogen werden: Hat Sprache einen allgemeinen Wert – ist sie doch grundsätzlich nur als gemeinsam anerkanntes Medium denkbar –, so ermöglicht sie es dennoch jedem Menschen, der sie gebraucht, sich individuell zu äußern, und dies umso differenzierter, je besser er sie beherrscht. Gerade dieses Zusammenspiel von allgemeiner Ausrichtung und individueller Entwicklung kann als grundlegende Ähnlichkeit der beiden Ansätze verstanden werden. Ob aber sprachliche Artikulation allein eine individuelle Verfeinerung des Ausdrucks gewährleistet, wird anhand der Ergebnisse der empirischen Studie noch hinterfragt werden müssen. Das Beispiel Spracherwerb kann auch auf einen Unterschied zwischen den Ansätzen verweisen. Dieser liegt darin, dass Bildungsprozesse im neuhumanistischen Verständnis als kontinuierlich verstanden werden, während sie bei Dewey anlassbezogen sind. Hier ist es immer erst die neue Situation, die eine Neuorientierung und damit einen Bildungsprozess erforderlich macht. Dieser kurze Abschnitt über den (neu-)humanistischen, klassischen Bildungsbegriff im deutschsprachigen Raum hatte keineswegs die Absicht, diesen umfänglich zu erörtern, geschweige denn ihn angemessen kritisch zu reflektieren. Er sollte vielmehr daraufhin geprüft werden, ob und inwiefern sich Deweys Konzept daran anschließen lässt und wo dieses darüber hinausweisen kann. Abschließend soll ein Kritikpunkt Klafkis vorgetragen werden, der sich in erster Linie an die zeitgenössische Rezeption des klassischen Bildungsbegriffs richtet, der aber auch einen Hinweis auf die Anschlussfähigkeit zur demokratiefördernden Konzeption von Deweys Überlegungen gibt:

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„Allgemeinbildung muss gerade heute, neu aufkommenden Entpolitisierungsbestrebungen entgegen, auch als politische Bildung zur aktiven Mitgestaltung eines weiter voranzutreibenden Demokratisierungsprozesses verstanden werden.“ (Ebd.: 40)

Im folgenden Abschnitt wird die oben schon angelegte, aber noch nicht fundierte Relevanz von Intersubjektivität in den Mittelpunkt gestellt. Zunächst wird hierfür Deweys Argumentation nachvollzogen, um sie im Anschluss mit einem Argument von Krassimir Stojanov zu ergänzen. Anpassung und Umformung Wo in der deutschen Übersetzung von „Demokratie und Erziehung“ von Gewohnheit die Rede ist, steht im englischen Originaltext „habits“. Der Begriff der Gewohnheiten im Deutschen, aber auch die Wortverwandtschaft zwischen „habit“ und „Habitus“ (im Sinne Pierre Bourdieus 1987) weisen auf verfestigte Zustände hin. Dies ist von Dewey ausdrücklich anders gemeint. Er unterscheidet Gewohnheit von Routinegewohnheit. Erstere wird bei ihm stets als Prozess der Gewöhnung verstanden, also eigentlich als ein Akt der Veränderung. Diese Veränderung bezieht sich zunächst auf das bildsame Individuum selbst, in der Folge ist aber auch die Mit-Veränderung der Umgebung, die durch das Individuum initiiert wird, gemeint. „Wenn wir unter ‚Gewohnheit‘ nichts weiter verstehen als eine im Organismus bewirkte Veränderung, und die Tatsache übersehen, dass diese Veränderung in der Fähigkeit besteht, in der Folge die Umgebung umzugestalten, so werden wir dazu geführt bei ‚Anpassung‘ nur ein bloß passives Geprägtwerden von der Umgebung zu denken.“ (Oelkers 2011: 71)

An dieser Stelle wird der zweite Begriff – Anpassung – eingeführt, der den handelnden Anteil bei der Erringung der Gewohnheit anspricht. Die Auslegung von Anpassung als „passives Geprägtwerden“ ist nicht falsch, so Dewey, aber unvollständig. Anpassung bedeutet zunächst im passiven Sinne das, was „nicht selten […] als Erwerb derjenigen Fähigkeiten, die die Anpassung des Einzelwesens an die Umwelt bewirken“ (ebd.: 71), definiert wird. Es bedeutet aber noch mehr. Gemeint ist die Veränderung bzw. die Anpassung der Umwelt selbst in Wechselwirkung mit der Anpassung der handelnden, sich anpassenden Subjekte. Anpassung bei Dewey bedeutet also immer Anpassung an die Umgebung und Anpassung der Umgebung an den gestaltenden Menschen.

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Welterschließung Stojanovs jüngerer intersubjektivitätsorientierter Ansatz (2006) liegt in diesem Punkt nahe an Deweys Entwurf, der ja, wie gezeigt wurde, das Miteinander der Gruppen und der Einzelnen und deren Veränderung durch „Verkehr“, wie es bei ihm heißt, betont. Auch verändern sich nicht nur die beteiligten Personen, sondern mit ihnen auch die soziale Wirklichkeit, die sie gestalten. Stojanov fundiert dieses miteinander Verkehren, die damit verbundene Erschließung neuer Welthorizonte und die daraus resultierende Veränderung der Umwelt. Sein Konzept wird hier kurz umrissen, mit dem Schwerpunkt auf der Begründung der wechselseitigen Anpassung der Welthorizonte. Dieser Ansatz ist für die vorliegende Studie besonders geeignet, da sich die Forschungsfragen auch auf die Veränderung der Umwelt durch die Selbständigen beziehen. Die Beantwortung lag zum Teil im Abarbeiten statistischer Daten – die eine Veränderung allein aufgrund der Anzahl migrantischer Unternehmen nahelegen –, doch sie soll darüber hinausreichen. Die Beantwortung hängt von den Erzählungen der Interviewpartner_innen ab. In dieser Hinsicht sind dann solche Änderungen relevant, die sich auf die (veränderten) Verhältnisse zu anderen Personen beziehen. Genau diesen Aspekt spricht Stojanov an. Stojanovs bildungstheoretischer Entwurf stützt sich auf Axel Honneths Anerkennungstheorie, dessen Orientierung an intersubjektiver Gestaltung der Gesellschaft für Stojanovs Anliegen besonders attraktiv ist. Stojanov hat zum Ziel, die Paradoxie zwischen Universalismus und Partikularismus in der zeitgenössischen Bildung zu überwinden. Mit Universalismus ist der Anspruch auf allgemeine Bildung und Allgemeingültigkeit von Bildung gemeint, wie er im klassischen Bildungsbegriff angelegt war. Dieser beinhaltet gleichzeitig die Ermöglichung zur Entwicklung von individueller Autonomie, wie am Beispiel des Spracherwerbs oben gezeigt werden konnte. In einer zeitgenössischen Gesellschaft, die geprägt ist vom Miteinander unterschiedlichster Gruppen mit unterschiedlichsten tradierten Referenzen trägt der Universalismus allerdings nicht mehr länger, so Stojanov (ebd.: 64-66). Er wird durch das Erfordernis nach Partikularismus kontrastiert, der sich in der alltäglichen Begegnung und Interaktion von Individuen mit verschiedenartigen kulturellen Hintergründen und lebensweltlichen Erfahrungen manifestiert. Der Bildungsprozess muss „als sich in alltäglich-sozialen Interaktionserfahrungen ereignend konzeptualisiert werden. Der universalistische Gehalt des Bildungsbegriffs darf aber nicht verloren gehen. Dieser universalistische Gehalt […] ist nämlich im Kontext posttraditioneller Gesellschaften in einem besonders hohen Maß bewahrenswert.“ (Ebd.: 66)

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Ein Schlüssel zur Auflösung der Paradoxie liegt in der Ermöglichung einer gleichberechtigten Ausgestaltung von gemeinsamen Welthorizonten, die die Deutungshoheit einer Mehrheitsgesellschaft überschreiten. Als Grundlage für solche intersubjektiven Prozesse fasst Stojanov zunächst Donald W. Winnicotts Objektbeziehungstheorie zusammen, die Selbstentwicklung theoretisch untermauert. Darauf wird im Kapitel „Gesellschaft und Handeln“ noch einmal näher eingegangen, nur so viel sei hier zusammenfassend gesagt: Die Entwicklung des Menschen vom Säugling über das Kleinkindalter und die Kindheit bis zur Jugend ist geprägt von einem sich permanent wiederholenden Sichabwendens von und wieder Zuwendens zu den primären Bezugspersonen. Die damit verbundene wesentliche Erfahrung ist die des äußeren Erlebens, das sich mit der Spiegelung im Gegenüber abwechselt und schließlich – anerkennt die Primärperson die sich entwickelnde Persönlichkeit stets aufs Neue – idealerweise ein gereiftes, selbständiges erwachsenes Selbst hervorbringt. Die primären Bezugspersonen haben bei diesem Prozess die Funktion eines „Selbstobjekts“, das heißt, ihre ihnen eigene Persönlichkeit spielt für das Kind nur eine nachgereihte, indirekte Rolle, viel wesentlicher ist ihre Funktion als Spiegel für eigenes neues Wahrnehmen und Handeln. Für das Vorhaben Stojanovs – eine durch Intersubjektivität geformte Bildungstheorie zu formulieren – greift Winnicotts Objektbeziehungstheorie damit zu kurz. Stojanov erweitert sie daher um Heinz Kohuts Selbstpsychologie (Stojanov 2006: 129-139). Zunächst verweist Stojanov auf den Grundgedanken „vom Selbstsein in einem Anderen“ (ebd.: 128), den schon Hegel so formuliert hatte. Anders als die klassische Psychoanalyse nach Freud reift der Mensch nicht originär mit der Entwicklung seiner Triebe und der damit jeweils verbundenen Neuorientierung in der Welt, sondern Entwicklung findet von Anfang an entlang der Begegnung mit anderen statt. Stojanov beschreibt den Unterschied zwischen den Ansätzen mit folgenden Worten: „Diese Ansätze revidieren die generelle Freudsche Auffassung, wonach jedes menschliche Verhalten direkt oder indirekt von primären Trieben herrührt (Eagle 1988, S 7f.), welche daher vor den Interaktionen des menschlichen Individuums gegeben sein müssen. Stattdessen weisen sowohl die Objektbeziehungstheorie als auch die Selbstpsychologie die fundamentale, primäre Bedeutung der Bindungserfahrungen des Individuums mit seinen Bezugspersonen für die Ausbildung seiner psychischen Strukturen aus.“ (Stojanov 2006: 130, Hervorh. i. Orig.)

Zentral bei dieser Auffassung ist, dass sich das Selbst prinzipbedingt anhand der Begegnung zwischen dem Individuum und seinem Gegenüber in der Funktion als Selbstobjekt entwickelt. Den Ablauf dieser Begegnungen beschreibt Stojanov als

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das Ausbalancieren zwischen den „Pole[-n] des Getrennt-Seins und des Auf-denAnderen-bezogen-Seins“ (ebd.: 134). Dabei wird die eigenständige Persönlichkeit des Gegenübers allerdings systematisch vernachlässigt. Der Gewinn der Selbstpsychologie liegt nun genau in dieser konzeptuellen Erweiterung des Ansatzes. Die Selbstpsychologie fasst die Bedeutung des Gegenübers weiter, als dies Winnicotts Objektbeziehungstheorie tut. Das erwachsene Individuum ist in der Lage, nicht nur selbstbezogen wahrzunehmen, sondern kann abstrahieren und einen allgemeinen Standpunkt reflektieren. Die Selbstwahrnehmung weist deshalb auch über eine anfängliche vorkognitive Wahrnehmung des eigenen Anteils in einer universellen Welt hinaus. Ist die Selbstwahrnehmung fortgeschritten, so artikuliert das Individuum subjektive Theorien, die einen reflektierten Anteil haben, der das Verhältnis zwischen subjektiver Position und der Welt zum Thema haben. Das Individuum konzipiert daher in der Begegnung mit dem Anderen nicht nur sein eigenes Selbst neu, es nimmt das andere Individuum auch als Person mit eigenem Selbst wahr und ist so in der Lage, durch die dialogische Interaktion einen neuen Welthorizont zu entwerfen. Diese Auffassung impliziert, dass Bildung nicht nur auf Selbstentwicklung des Einzelnen reduziert ist, sondern notwendigerweise in der Gesellschaft mit anderen stattfindet und die Überwindung bestehender Normalität zur Folge hat. Dieser Entwurf hat wesentliche Folgen für die Beschreibung der Anlässe von Bildungsprozessen. Im folgenden Teilkapitel wird auf diese Anlässe, die oft als krisenhafte Einschnitte im Lebenslauf identifiziert werden, näher eingegangen. Der Begriff der Krise wird schließlich – aufbauend auf Stojanovs grundlegenden Überlegungen zur Bedeutung von Intersubjektivität im Bildungsprozess – kritisch reflektiert. Moment der Krise Wie schon erwähnt, bedeutet Gewohnheit etwas anderes als der Begriff des Habitus, wie ihn beispielsweise Bourdieu führt, und der auf eine verfestigte Prägung verweist. „Habit“ bei Dewey beinhaltet ein Prinzip der Veränderung, der steten Weiterentwicklung. Der Gegenbegriff dazu ist Routinegewohnheit, die ihrerseits die Bildsamkeit aufhebt. „Gewöhnung als E i n gewöhnung ist in der Tat etwas verhältnismäßig Passives; wir gewöhnen uns an das, was uns umgibt, an unsere Kleidung, unsere Schuhe und Handschuhe.“ (Oelkers 2011: 71, Hervorh. i. Orig.) Dewey bezeichnet diese Art von Gewöhnung auch als „Akkommodation“ oder „dauernde Anpassung“ (ebd.: 72) und verweist darauf, dass sie passiert, indem ein Mensch Dinge benutzt. Sie ist aber auch der Hintergrund für „spezielle Anpassung“ (ebd.), die wiederum einen höheren Grad an Aktivität beinhaltet.

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„Gewohnheiten nehmen teils die Form der Angepasstheit an – d.h. eines allgemeinen und dauernden Gleichgewichtes der organischen Betätigungen mit der Umgebung –, teils die andere der aktiven Fähigkeit, das eigene Handeln unter neuen Bedingungen abzuändern und ihnen erneut anzupassen. Gewohnheiten der ersten Art bilden den Hintergrund des Wachstums; die der letzten Art sind das Wachstum selbst.“ (Ebd.: 79)

Unter welchen Umständen aber diese zweite, fundamentalere Form der speziellen Anpassung stattfindet, wird bei Dewey nicht eingehend besprochen. Ein jüngerer Ansatz, der die Anlässe von Bildungsprozessen im Besonderen sieht, das die Routine durchbricht, ist Hans-Christoph Kollers „Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“ (2012a und 2012b). Sein Konzept wird an dieser Stelle kurz vorgestellt. Theorie der transformatorischen Bildungsprozesse Koller beschreibt in der Einleitung seines Buches „Bildung anders denken“ (Koller 2012a) Bildung sehr passend zum bisher ausgebreiteten Begriff: „Bildung im Sinne des hier vorzustellenden Konzepts kann […] als ein Prozess der Erfahrung beschrieben werden, aus dem ein Subjekt ‚verändert hervorgeht‘ – mit dem Unterschied, dass dieser Veränderungsvorgang nicht nur das Denken, sondern das gesamte Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu anderen und zu sich selbst betrifft.“ (Ebd.: 9)

Damit hebt Koller Bildung von Lernen ab, das nicht die Veränderung der Person bewirkt, sondern als reine „Aufnahme neuer Informationen verstanden werden“ (Koller 2012b: 20) kann und das ungefähr zu Deweys Begriff der „passiven Anpassung durch Geprägtwerden“ passt. Hatte Humboldt Bildung als kontinuierliche Prozesse verstanden, die naturwüchsig aus dem menschlichen Entfaltungsbedürfnis resultierten, so sieht Koller den Anlass für Bildung in krisenhaften Ereignissen, weil gerade diese das Individuum dazu zwingen, Routinegewohnheiten zu durchbrechen. Damit kann er die Lücke bei Dewey füllen, der mit den Begriffen kontinuierliche Anpassung und spezielle Anpassung die Reproduktion von Gewohnheiten und die Neuorientierung und Eingewöhnung in Neues voneinander trennte, ohne ein Konzept für Motive und Ursachen der speziellen Anpassung vorzustellen. Nach Koller ist Bildung „(1) ein Prozess der Transformation (2) grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses (3) in Auseinandersetzung mit Krisenerfahrungen, die die etablierten Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses in Frage stellen“ (ebd.: 20 f., Hervorh. i. Orig.).

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Um Welt- und Selbstverhältnisse theoretisch einordnen zu können, verweist Koller auf Pierre Bourdieus Gesellschaftstheorie, „da sie mit dem Konzept des Habitus über ein begriffliches Instrumentarium verfügt, um die gesellschaftliche Dimension individueller Welt- und Selbstverhältnisse differenziert zu erfassen“ (ebd.: 22). Die Habitustheorie ist überdies in der Lage, Zusammenhänge zwischen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und schichtspezifischen Normen herzustellen. Ihre Schwäche in Bezug auf den Bildungsbegriff liegt freilich in ihrer wenig ausgeprägten Besprechung von Veränderung. Der Schwerpunkt von Bourdieus Gesellschaftstheorie liegt vielmehr in der akribischen Beschreibung eines gesellschaftlichen Status quo. Um diesem Defizit beizukommen, stellt Koller dem Begriff des Habitus den des sprachlich vermittelten Diskurses beiseite. Dieser dient als Hintergrundfolie für individuelle und gesellschaftliche Veränderung – ein Anspruch, den Koller grundlegend an eine Bildungstheorie formulierte und der für die empirische Erforschung von Bildungsprozessen noch wichtig werden wird. Ein Anknüpfungspunkt an den klassischen Bildungsbegriff kann in dessen zentraler Stellung von Sprachvermittlung, die anhand eines Beispiels erwähnt wurde, gesehen werden. Krise als Auslöser für Bildungsprozesse Zentral für die hier zu erörternde theoretische Basis ist Kollers Erklärung zu den Auslösern für Bildungsprozesse, die er in krisenhaften Einschnitten in das Leben verortet. Zur Beschreibung führt er den Begriff der Horizontstruktur an, demgemäß „wir Erfahrungen mit einem uns fremden Gegenstand nur innerhalb eines bereits vorhandenen Horizonts machen können, indem wir ein bestimmtes Vorverständnis dieses Gegenstandes entwerfen“ (ebd.: 24). Die Begegnung mit Unbekanntem provoziert demzufolge die Revision des vorhandenen Horizonts und kann so zum Anlass für einen Bildungsprozess werden. Der eigentliche Anlass für die Neuorientierung liegt dann in einer „negativen Erfahrung“. Diese bezeichnet die Enttäuschung, die aus einer nicht erfüllten Erwartung resultiert. Sie kann mit der mangelnden Kongruenz zwischen erworbenem Habitus und einer neuen Umgebung erklärt werden. Als Beispiel für eine solche Nicht-Passung führt Koller die Habitus von Migrant_innen an, die in einer neuen Umgebung nicht länger greifen und daher – mittels Bildung – neu ausgestaltet werden müssten, um zum selben Resultat zu führen wie in der Herkunftsumgebung. Als weiteren Anlass nennt Koller Bernhard Waldenfels „Erfahrung mit dem Fremden“. „Fremd ist mithin das, was nur insofern wahrgenommen werden kann, als es sich der jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung verweigert, oder besser: indem es störend in diese Ordnung einbricht.“ (Ebd.: 24)

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Im Kontext der vorliegenden Arbeit wird missachtete Anerkennung, die zum krisenhaften Einschnitt führt, als besonders relevanter Anlass betrachtet, der einen Bildungsprozess auslösen kann. Dieser Ansatz muss die Koller’sche Argumentation nicht in Frage stellen, womöglich kann er sie ergänzen oder sogar bestätigen. Dies wäre dann möglich, wenn bestimmte Formen missachteter Anerkennung zu einer als fremd wahrgenommenen Situation führen. Der plötzliche Verlust des Arbeitsplatzes könnte so eine Form sein, die den Betroffenen bzw. die Betroffene mit der ihm bzw. ihr fremden Situation der Arbeitslosigkeit konfrontiert. Dieser Aspekt wird unten, wenn die Anerkennungstheorie nach Honneth vorgestellt wird, näher diskutiert. Wurde nun also die Krise oder der Einschnitt, der von außen auf das Individuum einwirkte, als Anlass für einen Bildungsprozess herausgestellt, so bleibt im Folgenden zu erörtern, was im Bildungsprozess passiert, der nach dieser Krise einsetzt, und worauf sich der Bildungsprozess gründet. Vor der Krise, nach der Krise: Erfahrung 5 Ein wichtiger Punkt für die auf Erfahrungen gestützte Form von persönlicher Entwicklung ist die Ausgangslage jedes Individuums. Dewey geht zwar davon aus, dass Individuen von Geburt an Anlagen mitbringen – er nennt sie „ursprüngliche Ausstattung“ (ebd.: 105) –, nicht aber, dass alle Talente eines Individuums von vornherein in ihm angelegt seien. Dieses Verständnis lässt die Idee eines „geborenen Unternehmers“ nicht zu. Das heißt, dass alle Unternehmer_innen die Vorliebe der Selbständigkeit gegenüber einer unselbständigen Tätigkeit zumindest in Anteilen auch gelernt haben müssen. Das Ziel von Erziehung, respektive Bildung, kann daher nicht darin liegen, einen Menschen in seiner Selbstverwirklichung zu fördern, denn dem Begriff der Selbstverwirklichung liegt die Idee zugrunde, angeborene Fähigkeiten prägten die Persönlichkeit eines Menschen schon so stark, dass es im Lauf des Lebens nur noch gilt, sie vollständig zu entwickeln. Vielmehr ist jeder Mensch im Moment seiner Geburt offen für eine Entwicklung, die sich aus Einflüssen und aus seinen Erfahrungen ableitet. Gemeint ist damit das immer wiederkehrende Bewerten von Bekanntem an einer sich immer neu darbietenden Gegenwart.

5

Die Konzeption des genetischen Strukturalismus nach Oevermann, die in diesem Teilkapitel zusammengefasst wird, ist ausführlicher in Berner (2016) dargelegt.

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Erfahrung Der Begriff der Erfahrung wurde bisher noch nicht genauer definiert. Dies ist nötig, da die Umformung bestehender Zustände durch den Prozess der Erfahrung erfolgt. Erfahrung hat in Deweys Sinne eine stark aktive Komponente. Erfahrung beginnt immer mit einer Handlung. Der anschließende passive Teil ist das Erleiden der Folgen der Handlung. Erfahrung ist kein zufälliger Umstand, sie schließt immer die Reflexion mit ein. Man kann sie in die folgenden Abschnitte gliedern: 1. Wahrnehmung eines Problems. 2. Aufstellen einer Hypothese, d.h. Anstellen von Vermutungen über mögliche Folgen einer Handlung, die der Lösung des Problems beikommen soll. 3. Handeln, Ausprobieren. 4. „Erleiden“ der Folgen. 5. Reflektieren der Folgen der Handlung. 6. Gegebenenfalls Korrektur der Hypothese und erneute Handlung (ebd.: 202 f.). Bisher wurde der Ablauf des Bildungsprozesses in verschiedenen Etappen beschrieben: Krise – Erfahrung – Etablierung des (erfolgreichen) neuen Handelns. Die Erfahrung, also das neue Handeln mitsamt der Reflexion über die Eignung dieses neuen Handelns unter neuen äußeren Bedingungen ist es, die den Bildungsprozess inhaltlich ausfüllt. Zwei Momente in der Chronologie des Bildungsprozesses bleiben bisher noch unterbelichtet. Dies ist zum einen der Moment der Evaluierung neuen Handelns, also der Entscheidung, welches Handeln zur neuen Situation passt. Zum anderen ist es die Frage danach, worauf Individuen zurückgreifen, wenn sie neues Handeln das erste Mal ausprobieren. Zur Beantwortung beider Fragen greift Koller in seinem Ansatz transformatorischer Bildungsprozesse auf Oevermann (1991) zurück. Oevermanns Erklärungen stützen sich wie auch Deweys Zugang auf die Grundidee, dass es der krisenhafte Einschnitt ist, der als Anlass für eine Neuorientierung fungiert. Moment der Entscheidung In seinem Modell des genetischen Strukturalismus beschreibt Oevermann, ähnlich Dewey, die Bearbeitung vergangener Erfahrungen, ihre Einbettung in eine gegenwärtige Situation und die anschließende Umdeutung des Vergangenen vor dem Hintergrund des Neuen. Außerdem bezieht er sich bei der Ausgestaltung seiner Argumentation – da, wo es um den Moment der Entscheidung zu einem neuen Handeln kommt – dezidiert auf Deweys Kritik an einem allzu eindimensionalen psychologischen Reiz-Reaktions-Schema (Oevermann 1991: 312). Dieses ist allein deshalb unterkomplex, weil es nicht berücksichtigt, dass jede Reaktion gleichzeitig Reiz für weitere Reaktionen sein kann. Reiz und Reaktion fallen dann in eins. Zur Lösung dieser Ambiguität verweist Oevermann auf einen weiteren Pragmatisten: Es ist Georg Herbert Meads Definition des Selbst, das es ermöglicht, Reiz und Reaktion als zwei Anteile eines Vorgangs zu beschreiben. Der Gedanke,

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der der Beschreibung des Selbst als Verschränkung zweier Teile – „I“ und „me“ – zugrunde liegt, ist, dass neue Handlungen Versuche sind, deren Folgen vom Handelnden erst anschließend bewertet werden können. Erst rückblickend lässt sich entscheiden, ob eine Anschlusshandlung unter neuen Rahmenbedingungen gelungen ist oder nicht. Das „I“, das eine Spontaneitätsinstanz darstellt, ist die „Quelle von Innovation und Transformation“ (ebd.: 298). Zusammen mit dem „me“ als reflektierte Seite bilden sie die Pole des Selbst. In einer neuen Situation, die rational nicht in ihren Folgen erfasst werden kann, ist das „I“ der für die Anschlusshandlung verantwortliche Selbstanteil. Das „me“ dagegen erfasst die vollzogene Handlung und bewertet sie, fügt sie schließlich in eine neu entstehende, oder besser: gerade eben entstandene, Handlungsroutine ein, d.h. überführt das Emergierte in ein Determiniertes. Dieser Prozess ist als ein Prozess des aus „I“ und „me“ dialektisch konstituierten Selbst zu denken, der dadurch in einen Akt zusammenfällt und als dialektischer Prozess von Emergenz und Determination beschrieben werden kann. Darin, „dass das Neue, je nach Stellung im Verhältnis der Momente der Handlungszeitlichkeit und im Verhältnis von unvermittelter Gegenwart und vermittelter, praxiszeitenthobener Ausdrucksgestalt einmal das Emergente und das andere Mal des Determinierte ist, wird die Gleichzeitigkeit von Besonderem und Allgemeinem am konkreten, innovativen Handlungsereignis systematisch greifbar“ (ebd.: 299).

Dieser dialektische Vorgang hat zur Folge, dass das Neue zum einen als originär („das Besondere“), zum anderen als regelhaft hergeleitet („das Allgemeine“) aufgefasst werden kann. Durch die Einheit des Selbst und die zeitlich abgestimmte Praxis fallen Besonderes und Allgemeines, Emergenz und Determiniertheit zusammen. Eine forschungspraktische Konsequenz hat die Trennung in „I“ und „me“: Das Vergangene wird neu formuliert, sobald das Neue vom „me“ in die Folgerichtigkeit der eigenen Biografie eingebettet und dadurch retrospektiv erklärbar gemacht wurde. Das Vergangene wird rückblickend so rekonstruiert, dass es in der Lage ist, einst intuitiv – „ins Blaue hinein“ – getroffene Entscheidungen als erklärbar erscheinen zu lassen. Hier kommt noch einmal Deweys Kritik am Reiz-ReaktionsSchema ins Spiel (ebd.: 312). Der Reiz kann erst im Nachhinein überhaupt als Reiz gedeutet werden und wird dadurch zum Teil einer Handlungseinheit, die Reiz und Reaktion in eins legt.

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Krise und inneres Bild Entscheidend für die Auswahl der neuen Handlung ist, so Oevermann weiter, zweierlei: gesellschaftliche Normen und – auf persönlicher Ebene – der Rückgriff auf vorvergangene Erfahrungen. Dieser Argumentationsschritt erfolgt unter Rückgriff auf Freuds Traumforschung (ebd.: 319). Der Traum dient im Bildungsprozess als Prototyp für Krisenbearbeitung, denn in ihm werden als krisenhaft aufgefasste Tagesreste mithilfe von in der Kindheit erworbenen Mustern bearbeitet oder gelöst. Das Traumbild und – übertragen auf die äußere Welt – das künstlerische Bild sind in der Lage, die Krise widerzuspiegeln und sie gleichzeitig zu lösen. „Wir können von daher also annehmen, dass die Krise als eine subjektiv unmittelbar erfahrene Konstellation zugleich auf ihrer Rückseite schon immer die ausdeutbaren Inhalte, gewissermaßen die konkreten Utopien der Zukunftserschließung bereithält, auf die im Gesichtskreis des gescheiterten Alten kein Licht fallen konnte. So gesehen wäre das Neue zugleich die Rekonstruktion des hinter dem gescheiterten Alten liegenden ganz Alten bzw. Vor-Vergangenen.“ (Ebd.: 319 f.)

Jürgen Habermas beschreibt in „Erkenntnis und Interesse“ (1973) Freuds Psychoanalyse und ihren Stellenwert für die Persönlichkeitsentwicklung. Er verwendet hierfür den Begriff der „Kausalität des Schicksals“ (ebd.: 312), der die Folgerichtigkeit von Handeln erklärbar macht, ohne auf ein naturwissenschaftliches Verständnis von Kausalität angewiesen zu sein. Der Begriff verweist vielmehr auf individuelle frühkindliche Prägungen, die für anschließende Entwicklungen entscheidend sind. Habermas’ Zusammenschau der Freud’schen Theorie zeigt aber auch eine ihr immanente Schwäche in Bezug auf Oevermanns Konzept auf, denn bei Freud ist Selbstentwicklung durch Gewahrwerdung kindlicher Erfahrungen selbstreferentiell ausgelegt. Die Psychoanalyse vernachlässigt konzeptuell äußere Einflüsse. Darauf weist auch Stojanov hin, wenn er die Entwicklung des Säuglings zum Kind im Sinne von Winnicotts Objektbeziehungstheorie durch Kohuts Selbstpsychologie erweitert. Selbstentwicklung ist hier auf die Begegnung mit anderen Persönlichkeiten angewiesen, also auf Erfahrungen im Außen. Die psychoanalytische Methode der Selbstreflexion kann frühe Prägungen aufdecken. Dazu unterscheidet sie Referent_in (mit seinen bzw. ihren verdeckten Prägungen) und Rezipient_in (der Referent bzw. die Referentin selbst als sich selbst Reflektierende/r bzw. Analysierende/r). Dieses System ist aber selbstreferentiell, denn Änderungen und Lernprozesse, die sich entlang äußerer Einflüsse gestalten, werden in der Theorie eher im Sinne von Objekten des Selbst betrachtet als denn als eigenständige äußere Phänomene, die sich zu „Erfahrungsbildern“ verdichten können. Dadurch bekommt Habermas’ Begriff „Kausalität des Schicksals“ – und mit

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ihm Oevermanns Idee des Traumbilds als Abbild der Vorvergangenheit und Ausgangspunkt für Neues – einen verfestigten Charakter, da er jede Entwicklung des Individuums auf seine ureigenen Prägungen zurückführt. Das ist sicher zum Teil richtig. Entwicklung ist aber auch unabhängig von frühkindlicher Prägung möglich. Dies wurde bei Deweys Konzept deutlich, als der Einfluss der jeweils gegenwärtigen sozialen Umgebung auf Bildungsprozesse beschrieben wurde. Auch wurde es, wie gezeigt, deutlich bei Stojanovs Rückgriff auf die Selbstpsychologie Heinz Kohuts, der Selbstentwicklung im intersubjektiven Geschehen zwischen zwei eigenständigen Personen anlegte. Der Begriff „Kausalität des Schicksals“ passt dennoch zu Oevermanns Modell, da auch dieser auf die frühkindlichen Muster verweist, die in der Lage sein sollen, Impulse für Veränderung zu geben. Der Begriff zeigt insofern eine Schwäche in der Oevermann’schen Argumentation auf, da er impliziert, dass Veränderungen des Handelns niemals mit Veränderungen des Selbst einhergehen können, wenn dieses ausschließlich auf die frühkindlichen Prägungen angewiesen ist. Dies ist aber mitnichten so. Um Oevermanns Modell gangbar zu machen, ist es daher nötig, alternative innere Bilder als Antrieb und Inhalt für Entscheidungen des „I“ vorzusehen, die Lernprozesse auslösen und formen können, die dann auf das Selbst zurückwirken können. Der Begriff „Kausalität des Schicksals“ ist also bis zu einem gewissen Grad passend für die Erklärung der Muster, die neuem Handeln zugrunde liegen. „Kausalität des Schicksals“ muss dann aber um die Vorstellung einer Selbstentwicklung erweitert werden, die Identität nicht allein als Produkt der Selbstreflexion frühkindlicher Prägung, sondern als Prozess des Zusammenspiels frühkindlicher Muster im Kontext neuer Erfahrungen und im Lauf des Lebens erfahrener alternativer Bilder auffasst. Dies können früher erfahrene äußere Bilder sein, die dann verinnerlicht wurden. Spielt sich Lebenspraxis also nur auf der Ebene von in der Kindheit erworbenen, verfestigten Mustern ab – und die Argumentation mit Freuds Traumtheorie legt dies nahe, so ist nicht klar, warum der Rückgriff auf Vorvergangenes nicht schon zu jeder Zeit, auch vor der Krise als Grundlage für Entscheidungen diente –, kann das Individuum doch gar nicht anders, als sein Handeln auf eben diese Muster aufzubauen. Legt es ihn aber oberflächlicher an, so müsste der Begriff des „Bildes“ um oberflächlichere Varianten, die in der äußeren Welt angesiedelt sein können, erweitert werden. Nicht nur Traumbilder, innere Bilder oder künstlerische Bilder, sondern auch beispielsweise Rollenvorbilder, die als innere Bilder ins Selbst integriert werden, wären dann als Impuls und Inhalt für die transformatorische Revision gewohnter Handlungsmuster denkbar – wieder kann die Selbstpsychologie mit ihrer Betonung interkommunikativer Erkenntnisse, die in einen (dann gemeinsamen) Welthorizont einfließen, als Erklärungsmodell herangezogen werden. Die Auswahl von neuen Entscheidungen bleibt insofern zwar ein

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freier Akt, allein die Bandbreite an Alternativen, die zur Wahl stehen, ist in ihrer Wahrscheinlichkeit eingeschränkt durch persönliche vorvergangene Erfahrungen. Implikationen für die Bildungsforschung Oevermanns Konzept bringt wesentliche Implikationen für die Bildungsforschung mit sich. Koller verbindet das Modell mit seiner Theorie der transformatorischen Bildungsprozesse. Der genetische Strukturalismus scheint ihm besonders gut dafür geeignet, da er erstens individuelle Entwicklungen von Selbst- und Weltbezügen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung ansiedelt, zweitens eine systematische Untersuchung von Selbst- und Weltbezügen erlaubt und drittens zu erklären vermag, „warum bzw. inwiefern ein bisheriges Welt- und Selbstverhältnis […] in einer Krisensituation an seine Grenzen gelangt“ (Koller 2012a: 118). Der Duktus, den Koller in dem Modell angelegt sieht, folgt drei Schritten: langsam-plötzlich-langsam. Das bedeutet, es bedarf am Anfang einer „Art Inkubationszeit […], in der das zunächst nur keimhaft vorhandene Neue allmählich bzw. ‚spiralförmig‘, wie es bei Oevermann heißt, in realitätsadäquate Handlungen übersetzt wird“ (ebd.: 120). Dies entspricht der hier vorliegenden Auffassung, dass die länger anhaltende Dauer der Missachtung von Leistung und Ambition oder beruflicher Fähigkeiten und Qualifikationen sich bis zu einer Krise aufhäuft oder als Nährboden für eine von außen eintretende Krisensituation dient. Auch eine länger anhaltende Phase der rationalen Überlegung, die einer Unzufriedenheit mit gegebenen Umständen folgen kann, ist in dieser vorbereitenden Zeit angelegt. Die Krise scheint schließlich plötzlich auf und leitet die Neuorientierung ein, die wiederum einen längeren Prozess aus Versuch und Irrtum darstellt. Koller äußert eine Kritik am genetischen Strukturalismus folgendermaßen: „im Blick auf die gesellschaftliche Dimension von Welt- und Selbstverhältnissen und ihrer Transformation [ist] unklar, wie die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen ermittelt werden sollen, die Oevermann zufolge den Hintergrund der je besonderen Fallstruktur bilden“ (ebd.: 121).

Diese Kritik soll zum Anlass genommen werden, eine Leerstelle zu füllen. Oevermann unterscheidet zwei Selektionsschritte: Neben der persönlichen Ebene schränken gesellschaftliche Normen die Auswahl an geeigneten Anschlusshandlungen ein. Bisher wurde die Auswahl an möglichen Alternativen für Entscheidungen aber nur auf der persönlichen Ebene diskutiert, die gesellschaftliche wurde vernachlässigt. Koller versucht, Bourdieus Habitustheorie, die die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Norm und individueller Sozialisation auslotet,

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in Oevermanns Konzept zu integrieren. Er zieht sie für den Selektionsschritt, der auf der individuellen Ebene stattfindet, heran. Zur Fassung dieses Schritts wurde hier Habermas’ Begriff der „Kausalität des Schicksals“ vorgeschlagen und, in Anlehnung an Kohut, um äußere Einflüsse ergänzt. Bourdieus Habitustheorie scheint dagegen besser denjenigen Selektionsschritt zu beschreiben, der von den gesellschaftlichen Bedingungen eingegrenzt wird. Dieser Selektionsschritt betrifft gerade die allgemeinen Regeln der Auswahl von Entscheidungen, also die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Bourdieus Theorie ermöglicht die Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und sie ermöglicht dadurch – vor dem Hintergrund von Oevermanns Theorie – die Analyse derjenigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Menschen für die Vorauswahl ihrer Entscheidungen bereitstehen. Bevor im nächsten Kapitel auf die Anerkennungstheorie eingegangen wird, folgt ein kurzer Blick zurück auf Deweys Konzept. Thema des folgenden Teilkapitels ist seine normative Ausrichtung. Normative Ausrichtung Dewey geht es in seinem Bildungskonzept um die Beförderung einer gewünschten – bei ihm: demokratischen – Idee. Bislang wurde gesagt, dass Deweys Konzept kein absolutes Ziel beinhaltet, das durch Bildung oder Erziehung zu erreichen wäre. Es gilt nicht, beispielsweise einen humanistischen Bildungskanon zu erreichen oder den Idealen einer bestimmten Glaubensrichtung nahezukommen. Erziehung als Anpassung und Umformung ist das Ziel selbst. Dieser Prozess korrespondiert mit Deweys Charakterisierung von Demokratie, die als Ziel erzieherischer Tätigkeit verstanden werden kann: nicht als ein letztes utopisches Ideal, zu dem eine Gesellschaft irgendwann gelangen soll, sondern als Prozess der ständigen Weiterentwicklung. Zentral ist dabei der Gedanke, dass der Fortschritt existierender Demokratien sich daran bemessen lässt, dass immer mehr Gruppen sich in offenem Austausch befinden und bereit sind, sich durch diesen Austausch selbst zu verändern. Diese Beschreibung scheint nicht komplex genug, um demokratische Systeme zu umreißen, doch ist sie als Ausgangspunkt für die weitere Beschreibung der Entwicklung moderner Gesellschaften geeignet, wie sie die Anerkennungstheorie vorsieht. Der Gruppenbegriff, den Dewey führt, ist weit gefasst. Er versteht darunter politische Parteien, „soziale Schichten, Cliquen, Banden, Verbände, Teilhaberschaften, durch Bande des Blutes eng verbundene Gruppen, usw. in endloser Mannigfaltigkeit“ (ebd.: 114). Auch beinhaltet sind „verschiedene Bevölkerungsteile, mit verschiedenen Sprachen, Religionen, Sittengesetzen und Überlieferungen“ (ebd.). Das Ziel von Erziehung ist es demzufolge, die Mitglieder

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all dieser Gruppen dazu zu befähigen, sich offen zu verständigen mit der Bereitschaft, in der Kommunikation eine gemeinsame Erfahrung zu machen, die auf die Individuen und die Gruppen zurückwirkt und diese selbst verändert. Deweys oberflächliche Zusammenfassung von verschiedenen Gruppen legt es nahe, den Begriffen „Gruppe“ und „Zugehörigkeit(-en)“ größere Aufmerksamkeit zu schenken. Demokratie muss sich nach Dewey an zwei Bedingungen bewähren: Erstens muss das wechselseitige Interesse zwischen verschiedenen Gruppen vorhanden sein und ihre Beziehungen regeln. Zweitens verändern sich die Gruppen, passen sich neu an durch die wechselseitigen Beziehungen. Es wird noch zu zeigen sein, ob ein gesellschaftlicher Fortschritt nicht auch dann erzielt ist, wenn sich Gruppen offen, tolerant und respektvoll zueinander verhalten, ohne ineinander aufzugehen. Zusammenfassung Bildung wurde im vorangehenden Kapitel maßgeblich anhand von John Deweys Konzept des Erfahrungslernens beschrieben und mit jüngeren Ansätzen erweitert, aktualisiert und begründet. Dabei folgte die Erörterung den Schritten: 1. Bildung und Gesellschaft, 2. Anpassung und Umformung, 3. Moment der Krise, 4. vor der Krise, nach der Krise: Erfahrung und 5. normative Ausrichtung. Befindet sich Dewey in seinen ersten Argumentationsschritten noch nahe an einem klassischen Bildungsbegriff, wie er aus einer neuhumanistischen Auffassung von Bildung bekannt ist, nimmt er in den folgenden Schritten eine neue Richtung ein. Dies wurde deutlich, als es um die Umformung der Gesellschaft durch Bildungsprozesse einzelner Individuen ging. Hier wurde auf Krassimir Stojanovs Diskussion um den Begriff der Welterschließung verwiesen. Welthorizonte und dadurch auch gesellschaftliche Realität entwickeln sich in der Begegnung zwischen Individuen und deren intersubjektiver Aushandlung nun gemeinsamer Welthorizonte. Im darauf folgenden Kapitel, das sich mit krisenhaften Einschnitten befasste, wurde auf Hans-Christoph Kollers Theorie transformatorischer Bildungsprozesse verwiesen, die insbesondere krisenhafte Lebenseinschnitte als Anlass für Bildungsprozesse begründet. In wenigen Worten zusammengefasst kann Bildung wie folgt beschrieben werden: (1) Sie wirkt auf das Selbst und dessen Entwicklung. (2) Individuen verändern im Zuge ihrer Begegnung auf intersubjektive Weise Welthorizonte und dadurch gesellschaftliche Realität. (3) Bildungsprozesse haben krisenhafte Einschnitte zum Anlass. (4) Sie sind ergebnisoffen, ohne direktiv-normative Setzung, ihre Verwirklichung selbst ist das normative Ziel.

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Diese vier Grundannahmen werden in der empirischen Forschung auf den Forschungsgegenstand – Bildungsprozesse von türkischstämmigen Unternehmer_innen auf dem Weg in die Selbständigkeit – übertragen. Ein Teil der Forschungsfragen zu den Werdegängen von Unternehmer_innen bezieht sich auf Wechselwirkungen zwischen individuellen Bildungswegen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Deweys Konzept zieht hierbei Auswirkungen auf das unmittelbare soziale Umfeld der Betroffenen in Betracht, hat aber auch die Entwicklung der gesamten Gesellschaft im Blick. Im Folgenden soll nun eine geeignete Theorie beschrieben werden, die das Handeln Einzelner mit gesellschaftlicher Entwicklung verknüpfen kann.

GESELLSCHAFT UND HANDELN Was die Ergebnisoffenheit von Bildung betrifft, so wurde schon bemerkt, dass Dewey sie über das Bildungsgeschehen hinaus auf den Fortschritt von demokratischen Gesellschaften bezieht. Dabei beschreibt er Demokratie nicht mit der angemessenen Komplexität. Er verweist eher auf eine zentrale Bedingung von Demokratie: Die Begegnung von immer differenzierteren gesellschaftlichen Teilgruppen und deren Bereitschaft zur Veränderung sind Voraussetzung für ein demokratisches Miteinander. Axel Honneths Anerkennungstheorie hat eine ganz ähnliche Grundidee. Neben ihrem normativen Gehalt einer „guten“, sittlichen Gesellschaft hat sie den Anspruch, Entwicklungsdynamiken von modernen Gesellschaften zu erklären. Sie steht im Zentrum des folgenden Kapitels und bildet den normativen Kern der vorliegenden Studie. Um gesellschaftliche Entwicklung erklärbar zu machen, formuliert Honneth eine besondere Form der Motivation zu „neuem“ Handeln, also von Handeln, das der Gesellschaft Fortschritt überhaupt ermöglicht. Es ist in der Missachtung von Anerkennung begründet. Für die vorliegende Arbeit erfüllt die Anerkennungstheorie mehrere Funktionen: Sie soll erstens als normative Grundlage dienen, sie analysiert zweitens gesellschaftliche Entwicklung, sie macht drittens Motive für soziales Handeln sichtbar und kann viertens Anlässe für individuelle Krisen erklären, die zu Bildungsprozessen führen. Anerkennungstheorie Die Anerkennungstheorie bietet sich aus mehreren Gründen als grundlegende Gesellschaftstheorie für die hier vorliegende Thematik an. Zunächst ist sie eine allgemeine Theorie gesellschaftlichen Wandels. Sie nimmt dabei einen normativen

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Blickwinkel ein und versucht, gesellschaftliche Entwicklung mit Fokus auf eine sittliche Gesellschaft zu erklären. Es handelt sich überdies um ein Konzept, das die Keimzelle des Wandels auf der Ebene des Individuums und sozialer Gruppen verortet. Sie ist daher als Grundlage für einen bildungswissenschaftlichen Zugang besonders gut geeignet. Wird sie auf den folgenden Seiten zusammengefasst, so werden dabei verschiedene Absichten verknüpft: Die Theorie soll als normative Grundlage für die vorliegende Arbeit aufgefasst werden, Motive für „neues“ Handeln werden beschrieben, soziales Handeln selbst wird in einen gesellschaftstheoretischen Kontext eingebettet, und das, was oben als Krise oder Einschnitt in die Biografie eines Menschen bezeichnet wurde, wird im Kontext der Anerkennungstheorie intersubjektiv begründet. Die Anerkennungstheorie als Gesellschaftstheorie, wie sie Axel Honneth (1994) beschreibt, gründet auf Hegels Anfang des 19. Jahrhunderts verfassten Jenaer Schriften, in denen dieser Gesellschaft als sittliche Gemeinschaft beschreibt. Hegel versteht Gesellschaft als das Produkt von „sittlichen, also gemeinschaftsfördernden Einstellungen“ (ebd.: 22). Aus diesem grundsätzlichen Gedanken leitet sich auch die Basis des normativen Horizonts ab, auf den sich Honneth in Anlehnung an Hegel bezieht, denn „eine versöhnte Gesellschaft [kann] angemessen nur als sittlich integrierte Gemeinschaft freier Bürger verstanden werden“ (ebd.: 23). Die normative Prägung erhält die Theorie durch die Abkehr Hegels von einem Menschenbild, das er mit Macchiavelli und Hobbes beschreibt. Diese gehen grundlegend davon aus, dass die menschliche Natur immer darauf ausgelegt sei, dass sich jede/r Einzelne gegen alle anderen Gesellschaftsmitglieder durchsetzen wolle. Daraus resultiert die Annahme, dass staatliche Gemeinschaften nur mithilfe des staatlichen Rechtssystems möglich sind, das die Einzelnen gewissermaßen zähmt. Hegels Basis stellt demgegenüber ein Denken dar, das die einzelnen Individuen in den Kontext permanenter intersubjektiver Aushandlungen einer sittlichen Gemeinschaft setzt. Das von Hobbes und Macchiavelli als natürlich angenommene Wesen des Menschen muss demnach grundsätzlich überhaupt nicht überwunden werden, weil Hegel „die Existenz von intersubjektiven Verpflichtungen bereits als eine quasinatürliche Bedingung jedes Prozesses der menschlichen Vergesellschaftung vorausgesetzt hat; nicht die Genese von Mechanismen der Gemeinschaftsbildung überhaupt, sondern die Umbildung und Erweiterung von anfänglichen Formen der sozialen Gemeinschaft zu umfassenderen Verhältnissen der gesellschaftlichen Interaktion stellt daher den Vorgang dar, den er erklären können muss“ (ebd.: 27).

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Auf dieser Grundlage entwickelt Honneth seine Gesellschaftstheorie, die die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung als kollektive Versuche von Gruppen auffasst, „erweiterten Formen der reziproken Anerkennung institutionell und kulturell zur Durchsetzung zu verhelfen“ (ebd.: 149). Honneth unterscheidet, in Anlehnung an Hegel und an Mead, drei Formen von Anerkennung: die der emotionalen Zuwendung, die des Rechts und diejenige der solidarischen Wertschätzung. Noch einmal sei hier die Verbindung der Begriffe Gesellschaftstheorie, normative Orientierung und Formen der Anerkennung mit Honneths Worten zusammengefasst: „Unter Einbeziehung von Meads Sozialpsychologie läßt sich daher die Idee, die der junge Hegel in seinen Jenaer Schriften mit genialer Primitivität umrissen hat, zum Leitfaden einer normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie machen; deren Absicht ist es, Prozesse des gesellschaftlichen Wandels in Bezugnahme auf die normativen Ansprüche zu erklären, die in der Beziehung der wechselseitigen Anerkennung strukturell angelegt sind.“ (Honneth 1994: 148)

Drei Anerkennungsformen Die erste Anerkennungsform wurde bereits, im Zuge der Ausführungen zu Stojanovs „Bildung und Anerkennung“ (2006), erwähnt. Sie beinhaltet die Selbstentwicklung im frühkindlichen Stadium im Sinne der Objektbeziehungstheorie nach Winnicott und hat dadurch gleichzeitig den Wert, die Anerkennungstheorie im Kern zu begründen. Demnach entwickelt das heranwachsende Kind sein Selbst als Ergebnis des dialektischen Prozesses von Zuwendung zu den primären Bezugspersonen als Objekte der Spiegelung des eigenen Selbsthorizonts sowie Abwendung von diesen Personen und damit gleichzeitig der selbständigen Zuwendung zu seiner Umwelt. In diesem entwicklungspsychologischen Spannungsbogen reift der Mensch zum Erwachsenen heran – im Idealfall nun selbst in der Lage, herausgewachsen aus der Abhängigkeit der Anerkennung durch die primären Bezugspersonen, Beziehungen wechselseitiger Anerkennung führen zu können. Diese sind von der doppelten Fähigkeit zur empathischen Zuneigung zu anderen und zu selbständiger Wahrnehmung der eigenen Person als isoliertes einzigartiges Subjekt geprägt. Die Entwicklung des Kindes hin zum selbständigen Erwachsenen, der Anerkennung in ihrer essentiellen Bedeutung als Selbsterfahrung erlebt hat und dadurch in die Lage versetzt wird, selbst Andere anzuerkennen, ist fester Bestandteil menschlicher Entwicklung und ermöglicht es den Individuen zu lieben. Wechselseitige Anerkennung ist die Bedingung für Liebe, die sich als emotionale Zuwendung zum Gegenüber darstellt und das Individuum gleichzeitig befähigt, unabhängig und autonom als Einzelner zu handeln (vgl. Honneth 1994: 153-172).

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Die rechtliche Dimension von Anerkennung geht über persönliche Beziehungen hinaus und ist unabhängig von affektiver Zuneigung. Sie gründet auf dem Verständnis des einzelnen Menschen, sich selbst und alle anderen bzw. stellvertretend den generalisierten Anderen als Rechtsträger aufzufassen, der Rechte empfängt und im Gegenzug den gleichgestellten anderen normativ verpflichtet ist, weil diese ebenfalls gleichberechtigte Träger derselben Rechte sind. In der Moderne ist ein historischer Zustand erreicht, in dem Recht über die reine Teilhabe an einem Gemeinwesen als ein von allen Beteiligten gemeinsam verfasstes Gut verstanden werden kann, das die generalisierten Interessen aller widerspiegelt. Damit ist eine andere Qualität von Wechselseitigkeit gemeint als die, die in der Anerkennungsform der Liebe beschrieben wurde: „[D]ie Rechtssubjekte erkennen sich dadurch, dass sie dem gleichen Gesetz gehorchen, wechselseitig als Personen an, die in individueller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen.“ (Ebd.: 177) Ein besonderes Merkmal der Anerkennungsform des Rechts liegt darin, dass der einzelne Mensch – unabhängig von Zuneigung, aber auch unabhängig von Leistung – allein aufgrund seiner menschlichen Würde Anerkennung erfährt. Ein weiteres Kriterium dieser zweiten Anerkennungsdimension liegt in der Ausdehnung auf soziale Rechte, deren Bedeutung seit dem 20. Jahrhundert realisiert wurde. Sie betreffen das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, der es dem Menschen erst ermöglicht, sich partizipativ am politischen Prozess zu beteiligen. Das Resultat gelungener rechtlicher Anerkennung ist Selbstachtung, da das Subjekt unter der Erfahrung gleicher Teilhabe am gemeinsamen rechtlichen Rahmen „sein Handeln als eine von allen anderen geachtete Äußerung der eigenen Autonomie begreifen“ kann (ebd.: 192). Mehr noch: Durch den gemeinsamen rechtlichen Rahmen, der in der modernen Gesellschaft das Produkt allgemeiner diskursiver Beteiligung darstellt, erlebt sich der Einzelne als Person, „die mit allen anderen Mitgliedern eines Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung befähigen“ (ebd.: 195). Dass nicht alle Bewohner_innen eines Gemeinwesens dieselben Rechte haben müssen oder weniger Rechte besitzen können, zeigte die Besprechung der rechtlichen Bedingungen beim Zugang zur Selbständigkeit von nicht-österreichischen Staatsbürger_innen. Dies betrifft auch andere Rechte, wie das Aufenthalts- oder das Wahlrecht. Die dritte Anerkennungsform schließlich ist die der sozialen Wertschätzung bzw. die der Solidarität (ebd.: 196). Anders als die Dimension des Rechts ist soziale Wertschätzung auf individuelle Ausprägungen der Subjekte ausgelegt. Sie ist abhängig von einem Wertekanon – mit Honneths Worten: dem „kulturellen

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Selbstverständnis einer Gesellschaft“ (ebd.: 198) –, an dem sie den Wert der jeweiligen Leistungen bemessen kann. Dieser Wertehorizont wandelt sich permanent: „Weil der Gehalt derartiger Interpretationen seinerseits freilich wiederum davon abhängig ist, welcher sozialen Gruppe es gelingt, die eigenen Leistungen und Lebensformen öffentlich als besonders wertvoll auszulegen, ist jene sekundäre Deutungspraxis gar nicht anders denn als kultureller Dauerkonflikt zu verstehen: die Verhältnisse der sozialen Wertschätzungen unterliegen in modernen Gesellschaften einem permanenten Kampf, in dem die verschiedenen Gruppen versuchen, unter Bezug auf die allgemeinen Zielsetzungen den Wert der mit ihrer Lebensweise verknüpften Fähigkeiten anzuheben.“ (Ebd.: 205 f.)

In ständischen Gesellschaften war es noch die Ehre, die Mitgliedern einzelner (Standes-)Gruppen zugewiesen wurde und die die Mitglieder untereinander unhinterfragt akzeptierten. Verschiedene Stände wiederum billigten einander wechselseitig Ehre in unterschiedlichem Maß zu (ebd.: 199-204). Mit der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften verlor der moralische Begriff der Ehre an Bedeutung: „In diesen historischen Zusammenhang fällt der Prozeß, in dem sich der Begriff der sozialen Ehre allmählich zu dem des sozialen Prestiges ausdünnte.“ (ebd.: 203) Diese gesellschaftliche Entwicklung ist wesentlich, denn dem Stand weist Honneth den Begriff der Statusgruppe (ebd.: 200) zu. Standeszugehörigkeit bedeutet in diesem Sinne über einen Status zu verfügen und sich dadurch – was die soziale Anerkennung betrifft – kategorisch von anderen, die nicht Mitglieder des Standes sind, zu unterscheiden. In der liberaldemokratischen Gesellschaft dagegen ist es das Prestige, das sich mit der sozialen Mobilität – jetzt graduell – verändert. Damit unterscheidet sich der Begriff der Statusgruppe von einem (sozialen) Status, der sich graduell bewerten lässt und der näher an Honneths Begriff des Prestiges liegt6. Fraglich auf den hier zu diskutierenden Gegenstand ist es, welches Prestige, welchen sozialen Status die Selbständigen erwarten und ob sie das Erhoffte zu bekommen verspüren, denn „in der dritten Anerkennungssphäre schließlich nimmt der Anerkennungskampf im allgemeinen die Gestalt an, daß Individuen oder soziale Gruppen unter Berufung auf das Leistungsprinzip bislang vernachlässigte oder unterschätzte Tätigkeiten und Fähigkeiten zur

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In der amtlichen Statistik ist dagegen vom Erwerbsstatus die Rede, wenn zwischen erwerbstätig und nicht erwerbstätig bzw. in Teilzeit erwerbstätig unterschieden wird (vgl. Statistik Austria 2015).

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Geltung bringen, um mit einer höheren sozialen Wertschätzung zugleich eine Umverteilung von (materiellen) Ressourcen einzuklagen“ (Honneth/Fraser 2003: 171).

Gerade für den Frageteil, der sich auf die aktuelle Situation der Inter viewpartner _innen bezieht, spielt diese Unterscheidung eine wesentliche Rolle: Konnten die Unternehmer_innen ihren Status bzw. ihr Prestige verbessern? Welche Erwartungen verbinden sie mit einem solchen sozialen Aufstieg? Anders als im Bereich der rechtlichen Anerkennung, bei der stets kategorisch darüber entschieden wird, ob eine Person anerkannt ist oder nicht (man verfügt über ein Recht oder man tut dies nicht), geht es im Bereich der sozialen Wertschätzung innerhalb moderner Gesellschaften um eine graduelle Taxierung. Honneths Verwendung des Begriffs der „höheren sozialen Wertschätzung“ beinhaltet diese Unterscheidung: Ein Individuum kann mehr oder weniger Anerkennung, zum Beispiel in Form eines höheren oder niedrigeren Gehalts bei gleicher Leistung, bekommen. Dass für den hier zu erörternden Gegenstand die rechtliche Komponente eine Rolle spielt, wurde schon betont. Das eigentliche Handeln der Protagonist_innen findet aber auf der Ebene der Leistung und dem Entgelten von Leistung statt. Daher ist es naheliegend, die hier zu verhandelnden Anerkennungskämpfe auf dieser dritten Ebene zu diskutieren. Die dritte Anerkennungsform ist die in der Literatur sicherlich am meisten besprochene, auch weil auf dieser Ebene die sozialen Kämpfe besonders offen zum Tragen kommen. Prominent weiterentwickelt wird diese Anerkennungsform bei Krassimir Stojanov, dessen Bildungstheorie bereits besprochen wurde. Er widmet sich besonders der sozialen Wertschätzung und entwickelt sein bildungswissenschaftliches Konzept aus der kulturell-biografischen Anerkennung, wie er sie nennt, die dieser dritten Honneth’schen Form zugeordnet ist. Auch die Debatte zwischen Axel Honneth und Nancy Fraser (Honneth/Fraser 2003), in der Fraser die analytische Trennung von der Verteilung von Ressourcen und kultureller Anerkennung verlangt, konzentriert sich auf diese dritte Anerkennungsform. Honneth subsummiert beide Dimensionen innerhalb dieser Anerkennungsform. Zwei zentrale Dimensionen sprechen Honneth und Fraser an, die auch in der vorliegenden Arbeit immer wieder aufgegriffen werden. Es handelt sich um den Zugang zu ökonomisch-materiellen Ressourcen und um die Anerkennung und den Stellenwert von sozialen Gruppen, die sich mit Merkmalen beschreiben lassen, wie sie beispielsweise in der Intersektionalität verhandelt werden: Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, kulturelle und ethnische Zugehörigkeit, Religion oder Herkunft können genannt werden (ebd.).

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Folgende „Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse“ entwickelt Honneth: Tabelle 6: Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse (Honneth 1994: 211) Anerkennungsweise

emotionale Zuwendung

kognitive Achtung

soziale Wertschätzung

Persönlichkeitsdimension

Bedürfnis- und Affektnatur

moralische Zurechnungsfähigkeit

Fähigkeiten und Eigenschaften

Anerkennungsformen

Primärbeziehungen (Liebe, Freundschaft)

Rechtsverhältnisse (Recht)

Wertgemeinschaft (Solidarität)

Generalisierung, Materialisierung

Individualisierung, Egalisierung

Entwicklungspotential

praktische Selbstbeziehung

Selbstvertrauen

Selbstachtung

Selbstschätzung

Missachtungsformen

Misshandlung und Vergewaltigung,

Entrechtung und Ausschließung,

Entwürdigung und Beleidigung,

Bedrohte Persönlichkeitskomponente

psychische Integrität

soziale Integrität

„Ehre“, Würde

Wesentlich bei der realen kommunikativen Vermittlung von Anerkennung ist, dass es weniger um die Anerkennung eines Individuums durch ein anderes geht. Vielmehr geht es um Formen institutionalisierter Ordnung, unter deren Bedingungen Anerkennung stattfindet. Die Rolle des anerkennenden Individuums kann vielleicht am besten mit der Figur des generalisierten Anderen beschrieben werden, die Honneth für alle drei Anerkennungsformen einsetzt. Er vertritt die These, dass „die normative Erwartung, die die Subjekte der Gesellschaft entgegenbringen, auf die soziale Anerkennung ihrer Fähigkeiten von Seiten unterschiedlich generalisierter Anderer gerichtet ist“ (Fraser/Honneth 2003: 204). In Bezug auf die rechtliche Dimension will man, neben den erwähnten Fähigkeiten, das Dasein im gemeinsamen rechtlichen Rahmen hinzufügen, da sich Anerkennung hier nicht auf Leistung, sondern vielmehr auf die Zugehörigkeit zum selben Rechtssystem bezieht; in Bezug auf die Liebe handelt es sich um objektivierte primäre Bezugspersonen, die den Stellenwert eines quasi-generalisierten Anderen einnehmen.

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Die drei Anerkennungsformen stellen die notwendigen Bedingungen „einer gelingenden Selbstverwirklichung“ 7 (ebd.: 279) von Einzelnen und Gruppen dar. Besonders deutlich wird dies, wenn sie nicht gewährleistet oder ins Gegenteil verkehrt sind, also verletzt werden. Die letzten beiden Zeilen der Tabelle betreffen Missachtungsformen und die daraus resultierenden bedrohten Persönlichkeitskomponenten. Diese sind wesentlich für die Formulierung von Anerkennungsdefiziten, die in Honneths Verständnis wiederum als handlungsmotivierend gelten. Erleidet eine Person oder eine Gruppe ein Anerkennungsdefizit, so fügt sich dem Prozess der Bewusstwerdung und der Artikulation des Defizits eine Handlungsmotivation hinzu, so dass der Prozess auf bestehende gesellschaftliche Maßstäbe zurückwirken kann. Auf diese Weise konstituiert sich Gesellschaft in einem immerwährenden Prozess immer wieder neu. Gesellschaftliche Entwicklung Für die frühe Frankfurter Schule, die den gesellschaftlichen Wandlungsprozess eng an Marx angelegt verstand, war es nicht notwendig, so Honneth, die dahinterstehende Entwicklungslogik in den Blick zu nehmen – zu klar war das Interesse der Arbeiterschaft nach Veränderung vorhanden, als dass es einer genaueren Analyse bedurft hätte: „Solange das Proletariat vorwissenschaftlich als eine soziale Klasse gelten konnte, die gleichsam von Haus aus ein Interesse am Umsturz der kapitalistischen Verhältnisse besitzen musste, schien es keiner weiteren Erörterung zu bedürfen, welche Erfahrungen oder Handlungspraktiken eine Transzendierbarkeit der gegebenen Sozialordnung zu garantieren vermochten.“ (Honneth/Fraser 2003: 275)

Mit dem Nationalsozialismus kamen Zweifel daran auf, dass die Arbeiterschaft bzw. die „Struktur von gesellschaftlicher Arbeit“ (ebd.: 275) dazu in der Lage waren, bestehende Herrschaft zu überwinden. Dieser Umstand wurde in der Nachkriegszeit reflektiert und

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An anderer Stelle nennt Honneth das Ziel individuelle Autonomie – ein Begriff, der besser zu seinem Konzept passt, da er ohnehin nicht von einem authentischen Selbst ausgeht, wie ihn der Begriff der Selbstverwirklichung suggeriert und das idealerweise wiederhergestellt werden kann, sondern einen offeneren Begriff der Selbstentwicklung pflegt.

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„seither ist die Frage danach, welche anderen Instanzen, Erfahrungen oder Praktiken vorwissenschaftlich eine Überschreitung der gegebenen Ordnung sichern können, zur zentralen Quelle von Neuentwürfen im Bereich der kritischen Gesellschaftstheorie geworden“ (ebd.: 275).

Ein Merkmal von Marx’ Theorie und von denjenigen Theorien, die auf ihn folgen und nun neue Veränderungskräfte zu beschreiben suchen, ist stets die Annahme, dass das zentrale Moment der zukünftigen Veränderung schon in der treibenden Kraft angelegt sein müsse, um sich nach dem Veränderungsprozess schließlich in einer neuen Ordnung zu manifestieren. Honneth hat in diesem Punkt eine andere Auslegung. Er vertritt den Standpunkt, dass Merkmale einer neu auszuhandelnden Ordnung zwar noch nicht im Vorhinein greifbar seien, dass aber sehr wohl ein allgemeines gesellschaftliches Prinzip darin liege, dass eine bestehende Ordnung immer aufs Neue hinterfragt – transzendiert, überschritten – werde und Gesellschaft sich aus diesem Umstand heraus in permanentem Wandel befinde. Ein zentrales Merkmal des Honneth’schen Ansatzes liegt darin, dass nicht die zu jeder Zeit empirisch wahrnehmbaren konkreten Gerechtigkeitsforderungen verantwortlich für soziale Veränderung sind, sondern das gesellschaftliche Prinzip, das sich im Geltungsüberschuss der schon in den bestehenden Verhältnissen angelegten widerständigen Kräfte äußert. Diese widerständigen Kräfte resultieren aus Anerkennungsdefiziten, das heißt aus Missachtungserfahrungen, aus Demütigungen oder Ähnlichem. Zu einem Kampf um Anerkennung, der gesellschaftliche Entwicklung vorantreibt, kommt es schließlich, „sobald eine hinreichend große Zahl von Betroffenen ihre Bestrebungen mit dem Ziel aufeinander abstimmt, eine weitere Öffentlichkeit von der allgemeinen, exemplarischen Bedeutung des eigenen Falles zu überzeugen und damit die herrschende Statusordnung im ganzen in Frage zu stellen“ (Honneth/Fraser 2003: 184).

Honneth spricht in diesem Zusammenhang von Geltungsüberhängen. Diese sind das Prinzip, nach dem jede gesellschaftliche Ordnung jederzeit nicht geklärte Fälle von missachteter Anerkennung bereithält, die potentielle Anlässe von (idealerweise produktiv verlaufenden) Konflikten sein können, die dann notgedrungen Bildungsprozesse bei den am Konflikt Beteiligten auslösen. Dadurch ist Honneths Ansatz auch geeignet, Deweys normativ orientierte Theorie, nach der sich Demokratie auf eine bestimmte Art und Weise verhalten soll, gesellschaftstheoretisch zu untermauern. Noch einmal zur Erinnerung, Koller beschreibt die Anlässe für Bildungsprozesse folgendermaßen:

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„Transformatorische Bildungsprozesse sind […] als ein interaktives Geschehen zu begreifen, das auf einen Anspruch antwortet, der vom Fremden ausgeht.“ (Koller 2012a: 24)

Das hier vertretene Verständnis folgt Koller, fasst aber den Begriff des „Fremden“ enger. Es sind „Geltungsansprüche“, die aus der Wahrnehmung einer Situation als fremdartig und gleichzeitig als ungerecht resultieren: Bildungsprozesse sind als ein interaktives und intersubjektives Geschehen zu begreifen, das auf einen Anspruch antwortet, der auf missachteter Anerkennung basiert und der von daraus resultierenden Geltungsansprüchen ausgeht. Freilich sind solche Geltungsüberhänge nicht die einzig denkbaren Anlässe für Bildungsprozesse, sie tragen aber das Charakteristikum der normativen Orientierung in sich. Ein Bildungsprozess, der aus einer durch den Betroffenen bewussten erlittenen Missachtung von Anerkennung resultiert, ist immer auch so gestaltet, dass er einen Kampf um Anerkennung darstellt und dadurch – im Erfolgsfalle – eine bessere, im Sinne einer sittlich integrierten, Gesellschaft nach sich zieht. Eine Eingrenzung des Begriffs der gesellschaftlichen Entwicklung in Honneths Verständnis liegt darin, dass sie an das Gerechtigkeitskriterium geknüpft ist, das eine normative Richtung vorgibt. Es handelt sich also weniger um den Versuch, gesellschaftliche Veränderung allgemein zu beschreiben, als vielmehr darum, Entwicklungen hin zu einer gerechten, sittlichen Gesellschaft greifbar zu machen. Hier kommen die Begriffe der Anerkennung und der individuellen Selbstverwirklichung8 ins Spiel. „[Die] Gerechtigkeit oder das Wohl einer Gesellschaft bemisst sich an dem Grad ihrer Fähigkeit, Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung sicherzustellen, unter denen die persönliche Identitätsbildung und damit die individuelle Selbstverwirklichung in hinreichend guter Weise vonstatten gehen kann.“ (Fraser, Honneth 2003: 206)

Honneths Ansatz kann also nicht den Anspruch haben, gesellschaftliche Veränderungen im Allgemeinen analytisch zu fassen, sondern er ist vielmehr dahingehend konzipiert, diejenigen Veränderungen sichtbar zu machen und zu erklären, die hin

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Der Begriff der Selbstverwirklichung kann hier missverstanden werden als Erfüllung eines Selbst mit angeborenen Anlagen, die es im Lauf des Lebens zu verwirklichen gilt. Honneth meint es aber anders – sein ganzes, als ergebnisoffen angelegtes Konzept weist darauf hin. Hier ist in erster Linie relevant, dass mit den im folgenden Zitat verwendeten Stichworten „Identitätsbildung“ und „Selbstverwirklichung“ die Anschlussfähigkeit der Anerkennungstheorie an den hier ausformulierten Bildungsbegriff gegeben ist.

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zu einer sozial gerechteren Welt führen, das heißt, weniger gesellschaftliche Veränderung als vielmehr gesellschaftliche Entwicklung im Sinne von gelingenden Anerkennungskämpfen, die zu einem höheren Maß an sozialer Integration führen, sind der Gegenstand der Anerkennungstheorie. Soziale Integration Wechselseitige Anerkennung ist es auch, die soziale Integration bedingt: „Im Kern läuft meine Vorstellung auf die Hypothese hinaus, dass jede soziale Integration von Gesellschaften auf geregelte Formen der wechselseitigen Anerkennung angewiesen ist, an deren Unzulänglichkeiten und Defiziten sich stets wieder Empfindungen der Missachtung festmachen, die als Antriebsquelle gesellschaftlicher Veränderungen gelten können.“ (Honneth/Fraser 2003: 282)

Honneth lehnt sich bei seinem Begriff der sozialen Integration an den Soziologen David Lockwood an. Dieser unterscheidet zwischen sozialer Integration und Systemintegration. Er definiert das Begriffspaar wie folgt: „Während beim Problem der sozialen Integration die geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen der Handelnden eines Systems zur Debatte stehen, dreht es sich beim Problem der Systemintegration um die geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen zwischen den Teilen eines sozialen Systems.“ (Lockwood 1970: 125)

Die Beziehungen zwischen Handelnden stehen im Vordergrund – dieser Punkt ist wichtig, da er sich deutlich abhebt von einem Verständnis von Integration, nach dem der Integrationsstatus von Einzelnen oder Minderheitengruppen entlang ihres Verhältnisses zu einer Mehrheit bewertet wird. Es geht bei dieser Form von Integration weniger um das Ziel einer „guten“ Gesellschaft als vielmehr darum, dass eine „gute“ Gesellschaft um die Bedingungen für gelingende Aushandlungsprozesse zwischen Akteur_innen bemüht ist. Hier kommt noch einmal der Begriff des Geltungsüberhangs ins Spiel. Den drei Anerkennungsprinzipien wohnt ein Geltungsüberhang inne, das heißt, die Tatsache allein, dass ein Prinzip in einer bestehenden Ordnung eine bestimmte Ausprägung besitzt, hat zur Folge, dass sie Einzelne exkludiert – ein Missverhältnis zwischen bestehender etablierter Auslegung einer Anerkennungsdimension und Unbehagen Einzelner sorgt dafür, dass gesellschaftliche Veränderung permanent in Gang ist. Die Lösung im Sinne einer sozial

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integrierten Gesellschaft manifestiert sich auf zwei Ebenen: der Steigerung individueller Autonomie und der Erhöhung des Grades gesellschaftlicher Inklusion. Honneth hierzu: „Fortschritt innerhalb von sozialen Anerkennungsverhältnissen vollziehen sich […] entlang der beiden Dimensionen der Individualisierung und der sozialen Inklusion: Entweder werden neue Persönlichkeitsanteile der wechselseitigen Anerkennung erschlossen, so dass das Maß an sozial bestätigter Individualität steigt, oder ein Mehr an Personen wird in die bereits existierenden Anerkennungsverhältnisse einbezogen, so dass der Kreis der sich wechselseitig anerkennenden Subjekte anwächst.“ (Honneth/Fraser 2003: 220)

Zwar wird das Verhältnis zwischen einem Anerkennungsprozess auf der Ebene sozialer Integration und den Auswirkungen auf die Ebene des Systems bei Honneth nur am Rande ausgeführt, doch scheint es sinnvoll, diesen Punkt noch einmal zu betrachten. Wie erwähnt, ist es nicht Honneths Anliegen, die Erklärung gesellschaftlicher Erneuerung aus Perspektive der Systemteile zu erörtern, vielmehr entwickelt er konsequent einen Ansatz, der Entwicklung aus der Ebene des Individuums oder von Gruppen sichtbar macht. Ohne Auswirkungen auf Ebene des Systems, gleichsam Manifestationen der erfolgreichen Artikulation von Ansprüchen, kann jedoch kaum erkannt werden, ob die Benachteiligten einen höheren Grad an Anerkennung bzw. an Integration erreicht haben. Ein Beispiel soll dies erläutern: Die Entwicklung von beruflichen Werdegängen italienischer Gastarbeiter in Deutschland manifestiert sich unter anderem in der Entwicklung typisch italienischer Gastronomie. Diese kann als Ausweg der Akteur_innen gesehen werden, einer Geringschätzung im Feld der Erwerbstätigkeit zu entkommen (für Österreich hierzu Haberfellner 2012), um damit zu vermeiden, im Bereich der unqualifizierten Hilfstätigkeiten in der Industrie verbleiben zu müssen. In der Folge durchliefen auch die Gastronomiebetriebe selbst einen Prozess der gesellschaftlichen Anerkennung. Hatten italienische Pizzerias zunächst einen niedrigen gesellschaftlichen Stellenwert, wurden sie nach und nach innerhalb der gängigen symbolischen Ordnung anerkannt – bis sie schließlich sogar völlig unabhängig von der Herkunft der Inhaber_innen, nun als Marke, funktionierten. Die Auswirkungen auf beiden Ebenen, der der Handelnden und der der Teile des Systems, sind offensichtlich: die Namen der Wirtschaften im Straßenbild, die soziale Höherpositionierung der erfolgreichen Selbständigen – alle Bestandteile transformierten die relevanten gesellschaftlichen Elemente –, seien es strukturelle in Form der neuen Ausprägungen kleiner und mittlerer Unternehmen bzw. des Gastronomiewesens oder sozialintegrative in Form der sozialen Aufwärtsmobilität der Akteur_innen.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Honneth auf Lockwoods Verständnis von sozialer Integration aufbaut und mit der Anerkennungstheorie einen normativen Rahmen, also ein Entwicklungsprinzip moderner Gesellschaften, kompatibel zu dieser Begrifflichkeit ausformuliert. Darüber hinaus stellt die Anerkennungstheorie eine Terminologie bereit, die soziale Integration weiter ausdifferenziert in die Unterscheidung zwischen individueller Autonomie und gesellschaftlicher Inklusion als die zwei bestimmenden Bestandteile von sozialer Integration. Begrifflich gefüllt werden diese normativen Maßstäbe mit den drei Anerkennungsdimensionen, deren Gewährleistung einen hohen Grad an gesellschaftlicher Integration verspricht, und deren Formen von Missachtung den jeweiligen Modus von Desintegration inhaltlich zu beschreiben in der Lage sind. Analytisch ist nicht ganz geklärt, in welchem Verhältnis erfolgreich artikulierte Ansprüche auf Anerkennung in einer Gesellschaft sichtbar werden können bzw. wie es um ihren Einfluss auf etablierte Teile gesellschaftlicher Struktur bestellt ist. Ein noch ungeklärter Punkt liegt darin, dass die Gelingensbedingung der Inklusion durch ein Mehr an Selbständigkeit nicht erfüllt werden kann. Gerade die berufliche Selbständigkeit – zumindest auf den ersten Blick – ist eine Form, die die Abkehr des/der Einzelnen von gemeinschaftlichem Handeln nahelegt, also sich gegen die normative Ausrichtung Honneths – eine sittliche, gemeinschaftsfördende Gesellschaft – richtet. Andererseits ist die Selbständigkeit geeignet, die zweite Bedingung für eine integrierte Gesellschaft zu erfüllen. Sie kann dem Einzelnen individuelle Autonomie verschaffen. Sollte sich im empirischen Teil der Studie herausstellen, dass doch die Bedingung der Inklusion erfüllt wird, so muss geklärt werden, (1.) ob es sich hierbei um ein Paradoxon handelt, (2.) ob die Akteur_innen zuerst den Missstand (organisiert) zum Ausdruck brachten und danach erst die Entscheidung zur Selbständigkeit fällten oder (3.) ob die Akteur_innen anderweitig, vielleicht parallel zur beruflichen Entwicklung, das erlittene Anerkennungsdefizit (so es sich nachweisen lässt) verbalisierten, und dadurch zu gesellschaftlicher Inklusion beitrugen. Letzten Endes beschreibt Honneth neues Handeln jedenfalls stets als ein Handeln im sozialen Kampf, das sich auf eine nicht erfüllte Anerkennung begründet. Die Fragen, die sich gerade im Kontext von Bildungswegen von Unternehmer_innen stellen, sind dann darauf ausgerichtet, ob diese Motivation die einzig mögliche ist oder ob sie als einzige Begründung nicht zu schwach ausfällt. Zusammenfassung und Zwischenfazit Die Anerkennungstheorie nimmt gesellschaftliche Kämpfe in den Blick und sie lotet die Beziehung zwischen individuellen Verhältnissen und gesellschaftlicher

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Entwicklung aus. Dadurch erfüllt sie eine zentrale Bedingung für das hier verfolgte Forschungsvorhaben. Sie passt überdies ausgesprochen gut zu Deweys Konzept von Erfahrungslernen, da sie ebenfalls ergebnisoffen angelegt ist. Es geht beiden vielmehr um das Miteinander verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und um die Lösung gesellschaftlicher Konflikte durch das Einbeziehen neuer (Minderheiten-)Gruppen in einen bestehenden gesellschaftlichen Kanon. Dieses Merkmal lässt sich mit dem Begriff der Inklusion überschreiben. Im Kapitel „Bildung und alltägliche Erfahrung“ wurden Anlässe diskutiert, die zu Bildungsprozessen führen können. Dort wurde Kollers Begriff des „Fremden“ vorgestellt. Neben diesem Begriff, sollen hier als Anlass Geltungsüberhänge, die sich zu Krisen verdichten, ausgemacht werden. Damit ist noch nicht gesagt, inwieweit sich Geltungsansprüche als individuelle Ansprüche formieren oder ob sie auch kollektiv formuliert werden. Ein Vorteil für das hier verfolgte Anliegen liegt in der Verknüpfung der Mikro- mit der Makroebene, die im Geltungsüberhang steckt, referiert der Begriff doch auf individuelles Erleben genauso wie auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn erst hervorbringen. Die Frage, der im empirischen Teil nachgegangen werden muss, ist dann die, ob Akteur_innen Missachtungserfahrungen erleben und – im Falle, dass ja – wie sie sie zum Ausdruck bringen. Wie auch immer die Antwort ausfällt, so kann jetzt schon als vorausgesetzt gelten, dass Solidarität im politischen Sinne nicht das Kernanliegen von Selbständigen darstellt – zu sehr sind sie auf individuellen Erfolg ausgerichtet. In jedem Fall kann für die weitere Analyse als gesetzt gelten, dass die Kämpfe, um die es ihr geht, sich zwischen rechtlicher Missachtung abspielen, die in erster Linie diejenigen Unternehmer_innen betrifft, die keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Diese rechtliche Dimension bildet allerdings lediglich eine Hintergrundfolie. Da die betreffenden Rechte – das ist der Fragestellung der Arbeit geschuldet – aber durch das Handeln der Selbständigen nicht ihrem Wesen nach zur Disposition stehen, können sie im Zuge beruflicher Neuorientierung höchstens kritisch reflektiert werden. Wichtiger im Kontext der Missachtung von Rechten sind Fragen der Gleichbehandlung, also solche Fragen, die die (Nicht-) Gewährleistung bestehender Rechte für Unternehmer_innen, die das Label „türkisch“ tragen, betreffen (Honneth/Fraser 2003: 201). In erster Linie geht es aber um die Anerkennungsform der Solidarität oder der sozialen Wertschätzung. Die Frage, die hier im Vordergrund steht, ist die nach den meritokratischen Verhältnissen im Umfeld der Unternehmer_innen: Welche Rolle spielte ihr Empfinden in Hinblick auf gerechte Bezahlung, auf die berufliche Qualifikation oder auf ihre Stellung im Beruf? Diese Fragen resultieren aus den Ergebnissen der Analyse des

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Gegenstands im zweiten Kapitel. Dort konnte festgestellt werden, dass es einerseits zu Diskriminierungen von türkischen Arbeits- oder Ausbildungsplatzsuchenden kommt (oder besser gesagt: von Personen, die als türkisch gelabelt werden) und sich andererseits strukturelle Merkmale der früheren türkischen Gastarbeiter als strukturelle Benachteiligungen in die Gegenwart prolongierten. In Honneths Sinn sind Gruppen als kulturelle Gruppen zu verstehen, die sich entlang eines Merkmals formieren. Allerdings beachtet er die Entstehungskontexte von Gruppen nicht eingehend. Gruppen, die er in Beispielen bespricht, sind in historischer Rückschau die Arbeiterschaft oder in der gegenwärtigen Gesellschaft Neue Soziale Bewegungen (NSB), wie zum Beispiel feministische Gruppen, organisierte Gruppierungen von Homosexuellen oder US-amerikanische schwarze Bürgerrechtsbewegungen. Sie sind die Voraussetzung für intersubjektive Prozesse, aber ihre Genese wird nicht in der Form mitgedacht, die schließlich selbst als missachtete Anerkennung interpretiert werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn Fremdzuschreibungen erst zur Fassung einer Gruppe führen und die Gruppenmitglieder nur begrenzt an der Ausgestaltung der eigenen Gruppe mit Wesensmerkmalen beteiligt sind. Es wurde schon angesprochen, dass auch Dewey einen vagen Gruppenbegriff führt und Dynamiken, die zwischen Gruppen herrschen, nur wenig berücksichtigt. Im folgenden Kapitel wird daher ein Begriff von Zugehörigkeit herausgearbeitet, der die offenen Stellen in Bezug auf den Gruppenbegriff, die in den diskutierten theoretischen Modellen blieben, ausfüllt. Es muss sich dabei um einen Begriff handeln, der Zugehörigkeit weder essentialistisch oder beschränkt auf die selbständige Wahl der Gruppenmitglieder versteht, noch die mit der Zugehörigkeit verbundenen Merkmale als allein abhängig von den Präferenzen der Mitglieder interpretiert. Vielmehr soll Zugehörigkeit im Zusammenspiel zwischen äußeren Bedingungen, Handlungen und inneren Entwicklungen angelegt werden. Die zu entwickelnde Begrifflichkeit wird stets auf das hier besprochene Thema, die Werdegänge von Unternehmer_innen mit Migrationserfahrungen, hingeführt. Dabei werden besonders Fragen nach den Verhältnissen zwischen Mehrheit und Minderheitengruppen berücksichtigt, da diese für den hier zu betrachtenden Forschungsgegenstand besonders relevant sind.

ZUGEHÖRIGKEIT ZWISCHEN SELBSTBESTIMMUNG UND FREMDZUSCHREIBUNGEN In den letzten beiden Teilkapiteln zum Bildungsbegriff und zu gesellschaftlicher Entwicklung wurde schon herausgestellt, dass die Beziehung des Einzelnen zu

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Gruppen und die Beziehungen zwischen Gruppen einen erheblichen Stellenwert sowohl beim Bildungsprozess als auch bei der Entwicklung der Gesellschaft innehaben. Beim hier betrachteten Gegenstand sind die Fragen relevant: Zu welchen Gruppen fühlten und fühlen sich die Befragten zugehörig? Welche Veränderungen ergaben sich durch die Selbständigkeit? Welche Zugehörigkeiten gelten nicht länger und welche sind mittlerweile bedeutsam? Wie beschreiben sie ihre Zugehörigkeiten? Welchen Fremdzuschreibungen sind sie ausgesetzt? Im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs um Integration (beispielhaft Integrationsbericht 20159: 28 f.) löst sich allmählich eine Vorstellung von Integration auf, die Mehrfachidentitäten, also die gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen, kulturellen oder ethnischen Gruppen, als unnormal betrachtet. Diese Vorstellung stützt sich auf das bis heute tradierte Integrationsbild der 1980er Jahre (maßgeblich hierzu Esser 1980). Ging Esser noch von einer Zerrissenheit der Menschen aus, die mit „Mehrfachidentitäten“ leben, so lösten sich spätere Ansätze von dieser Auffassung und schätzten Mehrfachidentität als Normalfall von integrierten Personen ein (etwa Fassmann 2006). Was dem Integrationsbegriff aber inhärent bleibt, ist der oft unausgesprochene Wertegrundsatz, welcher besagt, dass zugewanderte Personen sich an einer bestehenden statischen Leitkultur zu orientieren hätten. Verinnerlicht ein Mensch diese Leitkultur unter gleichzeitigem Beibehalt der Zuwendung zu seinem Herkunftsland, so resultiere daraus eine doppelte ethnische Identität, so die Vertreter_innen dieser Auffassung. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass sich Kultur dynamisch verhält und sich mit den teilhabenden Personen verändert (Leiprecht 2008). Auch mögliche Auswirkungen, wie neue Identitäts- oder Lebensentwürfe (beispielsweise Yildiz 2015) – die aus der Perspektive der Mehrheit nicht als Einheit erscheinen können, solange sie diese entlang überkommener Normen einschätzt – oder transnationale Identitäten, die aus der kommunikativen Verbindung zwischen Personen an verschiedenen Orten resultieren (Pries 2010), können mit dem veralteten Integrationsverständnis nicht erfasst werden. Der Begriff der Mehrfachidentität wird hier daher als grundlegend falsch erachtet. Es wird eher nötig sein, Identität so zu definieren, dass sie als Einheit beschrieben werden kann, die es schafft, viele Zusammenhänge, Merkmale oder Zugehörigkeiten, die einer einzigen Person eigen sind und die von der Mehrheitsgesellschaft als ungewöhnlich wahrgenommen werden, zu verbinden (hierzu etwa Beck-Gernsheim 2007: 112-114). In diese Diskussion um Zugehörigkeiten hat sich nun unversehens ein Begriff eingeschlichen, der zunächst nicht in Zusammenhang mit sozialen Gruppen und

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http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Integration/Integrationsbericht _2015/IB15_DE_150623_web.pdf [06.03.2017].

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deren Verhältnissen zueinanderstehen muss: der Begriff der Identität. Tatsächlich gibt es Auffassungen, die Identität als ursprünglich, naturgegeben oder essentialistisch interpretieren (kritisch hierzu Yildiz/Khan-Svik 2011), oder solche, die Identität in erster Linie auf die innere Genese des Selbst beziehen (Erikson 1973). Wenn in der Folge die Rede von Identität ist, so ist damit aber ein Begriff gemeint, der besser als kollektive Identität (Emcke 2010) bezeichnet werden kann und damit nahe an der Diskussion liegt, die hier in Bezug auf Gruppen geführt wird. Kollektive Identität bezieht sich auf verschiedene Formen von Zugehörigkeiten und auf das Miteinander verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Kollektive Identität kann daher auch als Bindeglied zwischen Selbst und Gesellschaft gesehen werden, denn in ihr spiegelt sich eine Selbstentwicklung, die, analog zum bereits entwickelten Bildungsbegriff, als Resultat von Erfahrungen verstanden werden kann, die nur im Kontext der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Miteinander verschiedener sozialer Gruppen denkbar sind. Diese Auffassung schließt auch an Deweys Konzept an, der als Maßstab für die Bewertung von Bildung ebenfalls das Gelingen des Miteinanders verschiedener Gruppen anlegte. Vorbemerkung zu Identität Identität ist ein schwer zu fassender Begriff, weil er auf mehreren Ebenen angesiedelt und aus mehreren Perspektiven betrachtet werden kann. Bei der Entscheidung für einen geeigneten Begriff ist es also nötig, diese Perspektiven getrennt zu betrachten. Für die Konzipierung des Identitätsbegriffs ist überdies relevant: 1. 2. 3.

die diachrone Betrachtung von Identitäten, also deren Entwicklung; die Unterscheidung zwischen realem Lebenslauf und der retrospektiven Erzählung über denselben; die Beziehungen zwischen Individuen und zwischen Gruppen sowie zwischen Individuum und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Dieser letzte Punkt betrifft das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Identität: Es wird angenommen, dass gesellschaftliche Bedingungen die Identitäten der Individuen beeinflussen. Yildiz etwa weist in der Besprechung des Identitätsbegriffs von Nassehi darauf hin, dass – anders als häufig angenommen – nicht misslungene Identitäten die Ursachen von Desintegration seien, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Umstände, welche Identitäten der Gesellschaftsmitglieder formen (Yildiz 2006: 39). Insgesamt wird – mit Yildiz – davon ausgegangen, dass die Erhebung von Identitätsmerkmalen nicht ohne die gesellschaftlichen Kontexte denkbar ist, in denen die Individuen sich bewegen (ebd.: 49 f.). Die hier zu vertiefenden Fragen nach Zugehörigkeiten und Selbst- vs. Fremdzuschreibungen werden eng verwoben mit dem Begriff der (kollektiven) Identität diskutiert, deren

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Genese stets in Abhängigkeit zur Gesellschaft und im Miteinander zwischen gesellschaftlichen Gruppen verstanden wird. Der Kern der folgenden Diskussion liegt in den Verhältnissen zwischen Einzelnen und Gruppen und in den Verhältnissen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Dabei wird „Zugehörigkeit“ oft deckungsgleich mit dem Begriff der (kollektiven) Identität geführt, stets aber unter Berücksichtigung des Einflusses von Fremdzuweisungen zu Gruppen. Aufbauend auf der bisherigen Argumentation steht immer die Frage im Mittelpunkt, wie Bildungsprozesse verlaufen können, die die Emanzipation des Einzelnen von starren Gruppenzugehörigkeiten und von Fremdzuschreibungen bewirken, denn das Hervorbringen von neuen „Selbst-Eigenschaften“ ist „als emanzipativ in Bezug auf sozialisatorische ‚Prägungen‘ und vorgegebene Identitätsmuster zu verstehen“ (Stojanov 2006: 177). Vor diesem Hintergrund werden verschiedene Ansätze vorgestellt, die sich mit der Thematik kollektive Identität bzw. Zugehörigkeit und Selbst-/Fremdzuschreibung befassen. In einem ersten Schritt werden unter Rückgriff auf Carolin Emckes „Kollektive Identitäten“ (2010) verschiedene Formen von Gruppenidentitäten präsentiert. Dass die damit verbundenen Konstellationen und Prozesse einen großen Grad an Komplexität innehaben, verdeutlicht die Erörterung von Emckes Typisierung. Danach folgt die Besprechung von Erving Goffmanns Identitätsbegriff, wie er ihn in der Studie „Stigma“ (1975) erarbeitet. Dort wird deutlich, wie sich die Identität Stigmatisierter stets aus der Interaktion mit einer Mehrheit herausbildet, sich an ihr reiben oder an ihr messen muss. Diesen Ansatz vertieft Terkessidis in „Banalität des Rassismus“ (2004), in dem er den Begriff des Alltagsrassismus fundiert. Dieser wird anschließend erörtert. Er führt seinen Denkansatz gleichzeitig auf eine Migrationsgesellschaft zurück, die von rassistischen Ressentiments gegenüber Minderheiten durchsetzt ist. Schließlich werden die Aspekte, die rund um Identitäten und Zugehörigkeiten in der Migrationsgesellschaft erarbeitet wurden, um den Begriff der Ethnisierung ergänzt. Dieser Ansatz ist für die weitere Argumentation besonders wichtig, weil er Fremdzuschreibungen von der Ebene des Personenmerkmals abrückt und auf die Ebene des Handelns in kommunikativen Situationen verlagert. Wie zu zeigen sein wird, ist gerade diese Verlagerung fruchtbar für die Schlussfolgerungen über die individuellen Bildungsprozesse Alpstadter Unternehmer_innen mit Migrationserfahrung und deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Verhältnisse. Abschließend dient ein Exkurs dazu, die zuvor ausgebreitete Diskussion über Stigmatisierung, Rassismus und Ethnisierung um den Begriff der Diskriminierung zu erweitern. Da eine Form von Nichtanerkennung, der in der vorliegenden Studie besonders nachgegangen wird, in Diskriminierung liegt, wird die Gelegenheit genutzt, diese aufbauend auf Rassismus zu definieren. Dadurch kann gleichzeitig konzeptionell eine

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Verbindung zwischen Bildungsprozessen und dem gesellschaftlichen Phänomen der Diskriminierung angeboten werden: Sind rassistische Grundhaltungen die Ursache für diskriminierende Handlungen, so können Bildungsprozesse der von Diskriminierung Betroffenen dazu beitragen, Diskriminierung entgegenzuwirken. Sie tun dies, zum einen indem sie sich ihrer Benachteiligung gewahr werden und sie nun öffentlich artikulieren können und zum anderen indem die an dem kommunikativen Akt Beteiligten einander kennenlernen und dadurch stereotype kollektive Merkmale aufgelöst und durch eine individualisierte Sicht abgelöst werden – so das theoretische Ideal. Von selbständiger Wahl und Fremdbestimmung: Formen kollektiver Identität Emcke (2010) fasst in „Kollektive Identitäten“ Typen von Identitätsmodellen zusammen, die sich allesamt um die Begriffe Gruppe(n) und Zugehörigkeit(en) formieren. Die vier Typen von kollektiver Identität10 lehnen sich jeweils an Hauptvertreter an (in der folgenden Übersicht in Klammern): 1. 2. 3. 4.

das liberale, individualistische Modell (Rawls), das Gruppen-Identitäts-Modell (Kymlicka, Taylor), das passive, serielle Identitäts-Modell (Sartre, Young), das Modell erzwungener, ausgegrenzter Identität/Differenz (Foucault).

Die ersten beiden Typen bilden eine Einheit, da beide die bewusste Entscheidung der Individuen für eine Gruppe vorsehen. Die Typen drei und vier gehören ebenfalls zusammen: Sie verweisen auf Gruppen, deren Mitglieder sich nicht selbst für die Zugehörigkeit entschieden haben. Ein wenig erstaunt es, dass Emcke Bourdieu nicht in ihre Typisierung aufnimmt, läge hier doch ein ausgereiftes Modell für die zweite Art vor, bei der Personen durch Prozesse der Verinnerlichung – sozusagen ungewollt und qua Geburt – zu ihrer sozialen Gruppe kommen. Im folgenden Abschnitt werden die Typen vorgestellt. Ad 1. Der erste Typ geht von der Vorstellung freier, rationaler Wahl aus, wie sie im liberalen Verständnis John Rawls’ (1975) beschrieben wird. Bestimmt wird das Modell durch die „individuelle Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung des 10 Emcke führt kollektive Identität häufig ähnlich dem Begriff der Gruppe. Dies ist zwar für die hier stattfindende Auseinandersetzung hilfreich, dennoch ist im Begriff der Identität eine innere Dimension des Selbst integriert, die im Gruppenbegriff nicht unbedingt relevant ist.

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konkreten Einzelnen, Rationalität und Vernünftigkeit des Selbstentwurfs und der freien Wahl, Kritikfähigkeit und Distanznahme gegenüber der sozialen Welt“ (Emcke 2010: 28). Kennzeichnend für das Konzept ist die Vorstellung eines individuellen Lebensplans, den jeder Mensch verfolgt und an dem entlang er passende Entscheidungen rational treffen kann. Für jedes Individuum gilt, dass es sich um eine Person „mit Zugehörigkeiten und Zuneigungen zu Gruppen und Kollektiven, die sowohl Ursprung als auch Resultat ihrer Lebenspläne zu sein vermögen“ (ebd.: 32), handelt. Lebenspläne verkörpern eine Vorstellung des Einzelnen vom „Guten“, ohne – und dies gilt insbesondere in zunehmend individualisierten Gesellschaften – dieses Gute allgemein festlegen zu wollen. Was als gut gilt, entscheidet vielmehr jedes Individuum in Bezug auf die individuelle Lebensgeschichte für sich selbst. Wesentlich ist, dass Kollektive nicht die Größen sind, die die Identität des Einzelnen bestimmen. Vielmehr resultieren die Zuwendung zu verschiedenen Gruppen und Neuausrichtungen von Zugehörigkeiten aus der individuellen Persönlichkeit. Dadurch haben Gruppen auch keinen essentialistischen Charakter, da sie ja erst durch die Wahl ihrer Mitglieder als Gruppen überhaupt ihre Berechtigung erfahren. Unterschieden werden kann zwischen öffentlicher und privater Identität. Demnach verändert sich die öffentliche Identität einer Person niemals. Die Person ist immer als Rechtssubjekt gedacht, das unabhängig von sich verändernden privaten (kulturellen, religiösen, weltanschaulichen) Präferenzen mit seinem „Anspruch auf Grundrechte und -freiheiten gleichbleibt“ (ebd.: 36). Normativ ist das Konzept insofern zu kritisieren, als dass es nicht berücksichtigt, dass Individuen in soziale Verhältnisse hineingeboren und enkulturiert werden. Dadurch reichen kulturelle Merkmale über die private Identität hinaus. Das Rawls’sche Modell unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Ausgangsbedingungen und unterbetont dadurch benachteiligende Strukturen oder Diskriminierung. Ad 2. Gruppen haben hier – im Gegensatz zum ersten Modell – einen identitätsstiftenden Charakter. Sie sind, zum Beispiel als kulturelle oder nationale Gruppen, gegeben und werden an die in sie hineingeborenen Individuen vererbt. „Nach Kymlicka ist die Sozialisation in eine bestimmte Kultur konstitutiv für die intakte Ausbildung und Entwicklung personaler Identität.“ (Ebd.: 55) Typ zwei gleicht dem ersten Typ in dem Punkt, dass sich die Gruppen selbstbestimmt, ohne Einfluss von außen, allein durch die aktive Auseinandersetzung ihrer Mitglieder konstituieren. Wie beim ersten Typus geht es auch hier um die politikwissenschaftliche Frage nach dem Verhältnis des Subjekts zum Staat. Kymlicka strebt ein Modell an, das kollektive und individuelle Rechte in einem rechtlichen Rahmen integriert. Emcke schränkt dieses Konzept dahingehend ein, dass Kymlicka kulturelle

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Zugehörigkeit eng an nationale und, damit verbunden, an territoriale und sprachliche Gegebenheiten koppelt. Dadurch können kulturelle Gruppen nicht berücksichtigt werden, die sich entweder in der Diaspora realisieren (also ohne Territorium) oder die sich nicht entlang des Merkmals Sprache, zum Beispiel anhand der Religion, konstituieren. „Ethnische Gruppen bestehen nach Kymlicka aus individuellen Immigranten und deren Familien, die ihre ‚eigene‘ nationale Gemeinschaft verlassen haben, um in eine andere Gesellschaft einzutreten.“ (Ebd.: 62, Hervorh. i. Orig.) Ein zweiter Vertreter dieses zweiten Typs, Charles Taylor, sieht ebenfalls die freie Entscheidung von Individuen für oder gegen die Teilhabe an kulturellen Gruppen vor. Taylor baut seinen Begriff von Identität um das Streben nach Selbstverwirklichung auf. Zentral ist hierbei – dies ist Merkmal und Anlass für Kritik gleichermaßen – die zweideutige Auslegung der Begriffe Selbstverwirklichung und Anerkennung11. (1.) Im einen Verständnis ist der Hintergrund für die Gestaltung eines Lebenswegs die dialogische, intersubjektive, in eine Sprach- und Handlungsgemeinschaft eingebundene Entwicklung eines individuellen Wegs. Anerkennung heißt in dieser Logik die kommunizierte und verhandelte Anerkennung eines Bedürfnisses in einer Gemeinschaft. (2.) Das andere Mal ist die Vorstellung von Selbstverwirklichung eng an einen essentialistischen Begriff von Authentizität gekoppelt, das heißt, an ein ursprüngliches, originäres Selbst, das es im Laufe des Lebens zu erfüllen gilt12. Anerkennung ist dann als das Wiedererkennen des einst schon Gegebenen aufzufassen. Identität ist in diesem Fall als innere Identität, im ersten Fall als dialogische Identität aufzufassen (ebd.: 85). Taylor präferiert die zweite Lesart. Diese wird durch die Auswirkungen auf reale kulturelle Gruppen problematisch: Sie können in ihrem Gehalt beschrieben werden, sie können sich aber nicht – dialogisch, intersubjektiv – weiterentwickeln. Ad 3. Der dritte Typ, wie auch der vierte, ist von den ersten beiden dem Wesen nach unterschieden, da hier die Dimension der Fremdzuschreibung eine zentrale

11 Diese doppelte Auslegung resultiert aus dem englischen Begriff „recognition“, der das eine Mal „Anerkennung“ bedeutet, das andere Mal „Wiedererkennen“ eines ursprünglichen, authentischen Zustands. 12 Dies scheint für die nordamerikanische Begriffstradierung verständlich, geht es hier doch um gestohlene Identitäten, also um die Unterdrückung der Identitäten von Ureinwohner_innen im Zuge der Besiedelung des Landes durch Europäer_innen und um die Verhinderung einer Verwirklichung dieser Identitäten. Durch einen solchen Wiedergutmachungsversuch wird allerdings die Entwicklungsfähigkeit (mit Deweys Vokabular: die „Bildsamkeit“) der Unterdrückten missachtet.

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Rolle einnimmt. Gruppenzugehörigkeit ist dadurch aus Sicht der Mitglieder passiv vermittelt. „Nicht die subjektive Rationalität der handelnden Personen, sondern die objektive Realität von Machtstrukturen oder etablierten Praktiken und Habitus, in die sich die Angehörigen von Minderheiten, Frauen oder Bevölkerungen von Kolonialstaaten fügen müssen, werden in diesen Modellen diskutiert.“ (Ebd.: 97)

Kollektive Identität wird hier, unter Verweis auf Sartre, exemplarisch anhand der Auseinandersetzung mit jüdischer Identität beschrieben. Nach Sartre ist für die Identität die historische Situation entscheidend, in der ein Mensch sich befindet. „Sartre bemüht sich gar nicht erst, die jüdische Identität als Ergebnis einer bestimmten individuellen Überzeugung, einer Identifikation mit einem Glauben, einer Konfession, mit gewissen Praktiken und Bedeutungen auszumachen.“ (Ebd.: 102)

Bestimmend für die Situation und damit für die Identität der Juden sei vielmehr der moderne Antisemitismus. Dieser fixiere alle Juden gleichermaßen, unabhängig von ihrer eigenen Positionierung zur eigenen Religion und zu ihrer Umgebung, auf das Merkmal des Jüdisch-Seins. Historisch, so erklärt Sartre, wird dieses Jüdisch-Machen in einer Zeit – zu Anfang des 19. Jahrhunderts – populär, in der die Betroffenen in Europa vielfach ihre Konfession ablegten, sich assimilierten und in der sie rechtlich gleichgestellt wurden. Dagegen wurden aber Rassekriterien konstruiert, die sie gerade wieder zu Außenstehenden machten. „Es ist also die Reaktion, die Vorstellung, die Projektion, der Hass der ‚Anderen‘, der NichtJuden, der die Situation des Juden und seine jüdische Identität bestimmt.“ (Ebd.: 104)

Bei diesem Prozess ist entscheidend, dass das Jüdisch-Sein von den Antisemiten nicht nur geformt, sondern ganz und gar konstruiert wird. Völlig unwesentlich ist in Sartres Verständnis die Idee von Juden, die sie von sich selbst, aus sich selbst heraus entwickeln. Das ist insofern nachvollziehbar, als dass sich eigene Selbstbestimmungen vielfältig ausdifferenzieren können, während die Fremdzuschreibungen einem Stereotyp folgen, also aus unterschiedlichen jüdischen Individuen „den Juden“ machen. Dadurch wird aus der Fremdzuschreibung soziale Realität, die wiederum auf die Betroffenen zurückwirkt und so ihre Identität bestimmt. Diese Beschreibung erinnert auffällig an Goffmans Auseinandersetzung mit stigmatisierten Gruppen. Wichtig erscheint, dass „Jude“ als Begriff für ein Individuum erst dann zur identitätsbestimmenden Kategorie wird, wenn der Begriff sich

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an einem Außen messen muss. Insofern kann es sehr wohl eine jüdische Identität geben, nur ist sie eben für die Betroffenen so selbstverständlich, dass sie nicht weiter ins Bewusstsein rückt. Erst durch die Konfrontation mit der Außenwelt – in diesem Fall mit der abwertend-antisemitischen – wird der Begriff „Jude“ als Kategorie tragfähig und mit Inhalten gefüllt. Die Projektion, die die Betroffenen verinnerlichen, führen dazu, dass die neue, fremdbestimmte Identität mit Scham verbunden ist. Die Scham resultiert aus der Erfahrung, nicht selbstbestimmt über die eigene Identität verfügen zu können. Als Lösung des Dilemmas sieht Sartre vor, dass die so stigmatisierten Juden sich ihrem Jüdischsein stellen und sich offen dazu äußern sollen, um dem Kreislauf der Fremdbestimmung zu entgehen. Politisch sei dies keine Lösung, denn das eigentliche Problem läge im Antisemitismus, aber für die Gruppe, die sich im antisemitischen System zurechtfinden müsse, sei es die einzige Möglichkeit, zur Selbstbestimmtheit zurückzufinden (ebd.: 124 f.) Sartre bezeichnet den Vorgang des Aktivwerdens als Entwicklung von einer Serie zu einer Gruppe. Serie bedeutet in seinem Verständnis das Verbundensein durch gesellschaftliche Strukturen und durch Objekte, die die Serie formen. Sein Beispiel für eine Serie sind an der Bushaltestelle wartende Personen, die einander nicht kennen, die aber durch das Warten, durch die Haltestelle und äußere Umstände, wie das Wetter, miteinander verbunden sind und die ihr Handeln aufeinander abstimmen (ebd.: 128). Dagegen ist die Gruppe „eine durch ein gemeinsames Ziel, durch ein gemeinsames Projekt verbundene Kollektivität, deren Mitglieder sich und ihr gemeinsames Engagement wechselseitig anerkennen“ (ebd.: 128)13. Zusammenfassung Obwohl Emcke ihre Übersicht so aufbaut, dass die ersten beiden Typen einen aktiveren Anteil an der Identitätsbildung, der dritte und vierte dagegen passiv der

13 Ad 4. Auf die Vorstellung des vierten Typs wird an dieser Stelle verzichtet. Emcke legt diesem Typ des völligen Ausgeliefertseins an machtvolle Rahmenbedingungen Foucaults Beschreibung einer zunehmenden Verinnerlichung von herrschenden hegemonialen Verhältnissen zugrunde. Dabei übersieht sie, dass sich dieses Foucault’sche Konzept schwer als Grundlage für kollektive Identitäten nutzen lässt, ist es von Foucault doch als allgemeine Entwicklung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und formen gedacht und dient eben gerade nicht der Beschreibung von Prozessen, die soziale Gruppen herausbilden, die sich innerhalb einer Gesellschaft voneinander abheben. Vielleicht wäre es möglich gewesen, diesen Typ durch Optionen der Dekonstruktion bestehender Machtverhältnisse zu erweitern, wie sie etwa Stuart Hall in „Kodieren/Dekodieren“ (Hall 1999) vorsieht. Doch dann wäre er möglicherweise zu nahe an das Konzept des dritten Typus herangerückt.

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Umwelt ausgesetzt sind, lässt sich die Reihe bis hierher auch als zunehmend komplexer werdende Skala verstehen. Ist bei Rawls (Emckes Typ eins) noch ein sehr einfaches Verständnis von menschlicher Positionierung gegeben, bei der das Individuum mit wenig Widerstand durch bestehende gesellschaftliche Umstände zu rechnen hat, so kommt in der Konzeptionierung Kymlickas und Taylors, mehr noch bei Sartre, das Wechselspiel zwischen Umwelt und Kollektiv und schließlich zwischen Selbst- und Fremdbestimmung zum Tragen. Gerade durch Sartres Begriffsunterscheidung von Serie und Gruppe wird deutlich, dass diese Idee kollektiver Identität zwar Prozesse der Fremdbestimmung als inhärenten Anteil vorsieht, dennoch ist das Agieren, das Sichpositionieren gegenüber bestehenden Rahmenbedingungen ebenfalls konstitutiver Bestandteil der Identitätsbildung. Emcke selbst schreibt, dass es durch die von ihr entwickelten zwei Typen möglich wird „zwischen Gruppen, die durch wechselseitige Anerkennung entstanden sind und deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit aufgrund individueller Überzeugung erlangen, und solchen Gruppen zu unterscheiden, die durch Zuschreibungen entstanden sind, mit denen sich die als zugehörig klassifizierten Personen nicht identifizieren wollen“ (ebd.: 260, Hervorh. i. Orig.).

Gerade diese Unterscheidung soll hier aber nicht getroffen werden, da sie Möglichkeiten des Wechselspiels zwischen Selbst- und Fremdbestimmung ja gerade ausschließt. Die von Emcke eröffnete Skala soll vielmehr für die Betrachtung der interviewten Unternehmer_innen herangezogen werden. Aus dieser Perspektive soll dann ihr Verhältnis zu Gruppenzugehörigkeiten beschrieben werden. Die Typen sollen also – trotz ihrer jeweiligen Schwächen – vorläufig erhalten bleiben und als Raster dienen, das in der vorliegenden Studie zur Interpretation des empirischen Materials herangezogen werden kann. Der im folgenden Kapitel vorgestellte Ansatz wurde gewählt, weil er als vertiefte Diskussion um die Gestaltung von Beziehungen zwischen Einzelnen und Gruppen gesehen werden kann. Identität und Stigma Goffman widmete sein Buch „Stigma“ (1975) der sogenannten beschädigten Identität und Techniken ihrer Bewältigung. Es ist für die Beschreibung der hier präferierten Auffassung von Selbst- und Fremdzuschreibungen trotz seines frühen Entstehungsjahres geeignet, da Goffman grundlegend zwischen den zwei Eckpunkten

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unterscheidet, die bisher als Leitplanken für Neuorientierung dienten: äußere Bedingungen und Selbst. Hier wird im Folgenden in erster Linie Wert auf den analytischen Rahmen gelegt, also auf Goffmans Konzept von Identität, der auf die verfolgte Fragestellung angewandt werden kann. Für die anschließende Interpretation der empirischen Ergebnisse können die „Techniken der Bewältigung“ später noch bedeutsam werden. Stigma und Identität Mit Stigma meint Goffman zweierlei. Es ist das körperliche oder symbolische Zeichen, das einen Menschen in einer Gesellschaft diskreditiert, das ihn entehrt und ihm einen moralisch niedrigen Status zuweist. Es wird aber auch gleichzeitig „auf die Unehre selbst […] angewandt“ (Goffman 1975: 9), die durch das Symbol vermittelt wird. Der Begriff lässt sich daher in die Diskussion um Anerkennung eingliedern, ein Stigma produziert Unwohlsein bei den Betroffenen. Es kann insofern auch als Ausdruck einer Form von missachteter Anerkennung interpretiert werden. Um Stigmata erklären zu können, zieht Goffman den Begriff der Identität hinzu, ohne auf den Bezug zu gesellschaftlichen Normen zu verzichten. Er beschreibt zunächst „soziale Identität“, die in Interaktionen als Grundlage für die Einordnung in eine Norm dient. Soziale Identität ist die Erweiterung von sozialem Status, „weil persönliche Charaktereigenschaften wie zum Beispiel ‚Ehrenhaftigkeit‘ ebenso einbezogen sind wie strukturelle Merkmale von der Art des ‚Berufs‘“ (ebd.: 10). Goffman unterscheidet soziale Identität weiter in virtuale und aktuale soziale Identität. Virtuale soziale Identität resultiert aus den affektiven Erwartungen des Gegenübers an eine Person. Damit ist die unmittelbare Taxierung einer Person gemeint, die im ersten Kontakt erfolgt. Aktuale soziale Identität dagegen umfasst die „Kategorie und die Attribute, deren Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden“ (ebd.) können. Beschädigt ist Identität dann, wenn ein Mensch ein Stigma trägt, das „eine besondere Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität“ (ebd.: 11) konstituiert. Ein Stigma ist also ein Merkmal, das eine Person trägt und das negative stereotype, vorurteilsvolle Assoziationen beim Gegenüber auslöst. Wesentlich ist, dass es sich dabei um ein relatives Merkmal handelt – ein Merkmal, das bei der einen Person stigmatisierend oder diskreditierend wirkt, kann für eine andere Person ein ganz gewöhnliches Merkmal sein. Als Beispiel führt Goffman einen Hochschulabschluss an, der in dem einen „Job“ erwartbar ist, in dem anderen aber ein Stigma darstellt, nämlich dann, wenn ein Hochschulabsolvent in einer dequalifizierten Tätigkeit als Gescheiterter erscheinen könnte. Goffman unterscheidet weiter in Stigmata, die diskreditierend

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wirken, und solchen, die diskreditierbar sind. Im ersten Fall handelt es sich um offene Zeichen, die für jedes Gegenüber sichtbar sind, im zweiten Fall – etwa beim erwähnten Hochschulabschluss – ist das Zeichen nicht offen erkennbar, es besteht hier vielmehr stets die Gefahr, entdeckt und als Stigma identifiziert zu werden. Die unterschiedlichen Stigmaformen haben eine Auswirkung auf den Umgang im lebensweltlichen Alltag der Betroffenen. Für die hier vorliegende Untersuchung kann von diskreditierenden Stigmata ausgegangen werden, besagt doch eine Eingangshypothese, dass türkischstämmige Arbeitnehmer_innen aufgrund ihrer ethnischen, nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit, die sich meist in Äußerlichkeiten wie dem Aussehen oder dem Namen manifestieren, in ihrem Beruf sozial geringgeschätzt werden. Sie können die Merkmale, aus denen die virtuale soziale Identität entspringt – wie zum Beispiel ihren Namen oder einen Akzent – schwerlich verstecken14 (unabhängig von ihrer Intention, dies zu tun oder nicht zu tun!). Ob einzelne Interviewpartner_innen auch Stigmata in Form von diskreditierbaren Merkmalen tragen, wird die Studie herausstellen. Jedenfalls aber wertet Goffman ethnische Zugehörigkeit als potentielles Stigma: „Schließlich gibt es die phylogenetischen Stigmata von Rasse, Nation und Religion. Es sind dies solche Stigmata, die gewöhnlich von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben werden und alle Mitglieder einer Familie in gleicher Weise kontaminieren.“ (Ebd.: 13)

Ein Stigma zu tragen bedeutet, sich in Interaktionen in einem unauflösbaren Teufelskreis zu befinden, denn zum einen weiß der Betroffene nicht, wie der „Normale“ – also der Mächtige, der Mehrheitsvertreter – auf ihn reagieren wird, und zum anderen, selbst wenn ihm Wohlwollen widerfährt, bemisst sich dieses Wohlwollen am Stigma. Dadurch entstehen eine permanente Unsicherheit und ein permanentes Ausgesetztsein. Die Selbstentwicklung ist eingeschränkt, so Goffman, da sie stets wieder auf diese Erfahrungsmuster zurückfällt: „Personen, die ein bestimmtes Stigma haben, zeigen eine Tendenz, ähnliche Lernerfahrungen hinsichtlich ihrer Misere zu machen und ähnliche Veränderungen in der Selbstauffassung – einen ähnlichen ‚moralischen‘ Werdegang zu haben, der beides ist, Ursache und Wirkung der Gebundenheit an eine ähnliche Sequenz persönlicher Anpassungen.“ (Ebd.: 45)

14 Unten wird noch näher darauf eingegangen, inwiefern es sich um selbstgewählte Zugehörigkeiten oder um Fremdzuweisungen handelt.

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Unter den verschiedenen Mustern von Werdegängen, die Goffman definiert, betrifft eines diejenigen Stigmatisierten, die „anfänglich in einer fremden Gemeinschaft sozialisiert wurden, entweder innerhalb oder außerhalb geografischer Grenzen, der normalen Gesellschaft“ (ebd.: 49). „Es sollte hinzugefügt werden, dass wenn ein Individuum spät im Leben ein neues stigmatisiertes Ich erwirbt, das Unbehagen, das es gegenüber den neuen Gefährten fühlt, langsam dem Unbehagen weichen kann, das den Gefährten von früher gilt.“ (Ebd.)

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung in Menschen, die der Betroffene vor seiner Stigmatisierung kannte (z.B. Familie oder Freunde) und diejenigen, die er nach der Stigmatisierung – zum Beispiel nach der Migration – kennenlernte. Zweitere stigmatisieren ihn durch und durch, so dass die Verhältnisse zwar unliebsam, aber berechenbar sind. Das Verhältnis zu den ersten ist dagegen komplexer, da sie auch alte Erwartungen an ihn hegen, denen er nicht mehr uneingeschränkt gerecht werden kann. Dennoch, so Goffman, wird für den Stigmatisierten der Kontakt zu anderen mit dem gleichen Stigma bedeutsam sein, da sie Menschen mit der ganzen möglichen Palette an Eigenschaften darstellen, also nicht auf das Stigma begrenzt sind (ebd.: 53 f.). Neben die soziale Identität gesellt sich die persönliche Identität, die das Individuum zum Individuum, also zum einzigartigen Menschen macht. Sie ist durch originale positive Kennzeichen, wie zum Beispiel die Fingerabdrücke oder das Gesicht, und durch die Aufschichtung und Kombination aller persönlichen Merkmale, die in ihrer Gesamtheit ein einzigartiges Bild konstruieren, konstituiert (ebd.: 67-80). Einfacher, aber ebenfalls wesentlich für die persönliche Identität sind offizielle Dokumente und öffentlich zugängliche Informationen, die im Laufe des Lebens angesammelt werden. Diese sind in ihrer Summe Teil der persönlichen Identität eines Individuums, sie machen das Individuum zur einzigartigen, unverwechselbaren Persönlichkeit. „Außerdem ist die üblicherweise zugängliche Information über das Individuum die Basis, von der es ausgehen muss bei der Entscheidung, welchen Weg es in Hinblick auf sein Stigma einschlagen soll.“ (Ebd.: 64)

Persönliche Identität wird besonders für persönliche Beziehungen relevant. Bezog sich soziale Identität auf Kontakte zwischen Unbekannten, die allein auf stereotypen Erwartungen aufbaute, so bezieht sich persönliche Identität auf die Begegnun-

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gen zwischen einander bekannten Personen. Eingangs wurde gesagt, dass Goffman soziale Identität und Ich-Identität15 voneinander unterscheidet. Beziehen sich soziale und persönliche Identität auf Taxierungen von außen, so spielt sich IchIdentität in der Person ab. „Beide Identitätstypen [soziale und persönliche, Anm. HB] können besser verstanden werden, wenn man sie gleichstellt und sie mit dem kontrastiert, was Erikson und andere ‚empfundene‘ oder Ich-Identität genannt haben, nämlich das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt.“ (Ebd.: 132)

Wesentlich in Goffmans Verständnis von Identität ist, dass Ich-Identität sich nicht ohne den Hintergrund denken lässt, der sich aus Zugehörigkeitsverhältnissen und aus dem Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft ergibt (Überblick: Abbildung 10). Abbildung 10: Identitätsformen bei Goffman (1975), eigene Darstellung Beziehung zum Außen Soziale Identität

Aktuale soziale Identität (kollektive Attribute => Gruppenzugehörigkeit)

Selbst-Wahrnehmung Ich-Identität (= Selbst-Identität)

Virtuale soziale Identität (Erwartungen des Gegenübers) Persönliche Identität (persönliche Attribute, persönliche Geschichte => einzigartige Person)

Für die Analyse der Lebensgeschichten ist diese Unterscheidung hilfreich: Aus der Lebensgeschichte leitet sich die einmalige persönliche Identität des Individuums ab. Die Lebensgeschichte lässt sich aber nicht ohne ein Eingebundensein in eine oder mehrere Gemeinschaften denken. Hier spielen die zwei Seiten sozialer Identität hinein. Ich-Identität wiederum verweist auf die innere Entwicklung des Selbst, die in Wechselwirkung, also veranlasst durch Erfahrungen in Deweys Sinne, mit der äußeren Entwicklung stattfindet.

15 Goffman führt Ich-Identität und Selbst-Identität synonym (ebd.: 132).

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Verhältnisse zwischen Mehrheit und Stigmatisierten Besonders schwierig werden die Identitätsverhältnisse von Stigmatisierten, wenn sie sich aus ihrer ihnen zugeschriebenen, tradierten Gruppe herausbewegen wollen. „Wenn feststeht, dass das stigmatisierte Individuum in unserer Gesellschaft Identitäts-Standards erwirbt, die es auf sich anwendet, obwohl es ihnen nicht entspricht, ist es unvermeidlich, dass es hinsichtlich seines eigenen Ichs einige Ambivalenz empfinden wird.“ (Ebd.: 133)

Diese Beobachtung ist für die Frage nach den Folgen der Kämpfe um Anerkennung der Selbständigen besonders relevant, streben diese doch offenbar, eine soziale Veränderung an, indem sie den Schritt vom Arbeiter oder von der Angestellten zum/zur Selbständigen wagen. Ethnische Minderheitengruppen weisen gerade in Sachen soziale Mobilität eine besondere Form von Stigmatisierung auf, so Goffman: „Hinsichtlich dieser Gruppen ist das soziologische Hauptproblem ihr Platz in der Sozialstruktur; die Gegebenheiten, denen diese Personen in unmittelbarer Interaktion begegnen, sind nur ein Teil des Problems und etwas, das nicht an sich und ohne Beziehung auf die Geschichte, die politische Entwicklung und die gegenwärtige Politik der Gruppe vollständig verstanden werden kann.“ (Ebd.: 156)

Es wird bei der empirischen Analyse darauf zu achten sein, in welchen Verhältnissen sich die Interviewpartner_innen befinden. Die Historie, von der Stellung als sogenannte Gastarbeiter bis hin zu Formen der Diskriminierung bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz, wurde schon in Kapitel 2 ausführlich besprochen. Die auf das Aufwärtsstreben folgende Ambivalenz zeigt sich in der Begegnung mit anderen. Diese können auch Personen, der „eigenen“ Gruppe sein, die ein mehr oder weniger sichtbares Stigma aufweisen und zu denen sich der Stigmatisierte auf die eine oder andere Art positionieren muss. Die Verhältnisse zwischen den Stigmatisierten und den der Norm Entsprechenden haben nicht nur individuelle Implikationen oder spielen sich zwischen einzelnen sozialen Gruppen ab, sondern sie haben gesellschaftskonstitutiven Charakter. Jeder Mensch gehört – und sei es allein aufgrund seines Alters – irgendwann zu einer oder mehreren stigmatisierten Gruppen. Das Verhalten, das beide, „Normale“ wie auch Stigmatisierte, an den Tag legen, ist meist der Norm entspre-

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chend in dem Sinne, dass auch Stigmatisierte nicht pathologisch reagieren, sondern angemessen auf ihre Situation als Ausgegrenzte. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Mechanismus, der alle Beteiligten so konditioniert, dass sie zum Aufrechterhalten von gesellschaftlichen Normen beitragen. Die Personen, die nahe der Norm sind, orientieren sich ohnehin genau an dieser. Die Stigmatisierten tun dies auch, denn wenn sie das Stigma zu offensiv artikulieren, riskieren sie den Ausschluss aus der Gesellschaft. Die Nicht-Stigmatisierten unterstützen sie schließlich oberflächlich in ihrer Zurückhaltung, indem sie die Abweichung der Stigmatisierten verschweigen oder herunterspielen, denn das Öffentlichmachen würde die Norm selbst in Frage stellen. Dadurch bilden die Gegensatzpaare „ich“ vs. „der Andere“ bzw. „normal“ vs. „stigmatisiert“ eine Einheit, aus der sich das alltägliche soziale Miteinander hervorbringt. Oft befinden sich Stigmatisierte und Vertreter_innen der Mehrheit im Alltag jedoch nicht beieinander, da sie sich permanent voneinander beobachtet fühlen müssen – schließlich wird jede Handlung auf den Abstand zur gängigen Verhaltensnorm hin geprüft. Der hier mit Goffman ausgebreitete Begriff des Stigmas wird im folgenden Kapitel weiter eng geführt auf das Phänomen des Rassismus, also eine Form von Stigmatisierung, die sich dezidiert gegen nationale, kulturelle oder ethnische Minderheiten richtet. Alltagsrassismus Terkessidis’ Beitrag zur Alltäglichkeit von Rassismus in Deutschland befasst sich mit Mechanismen der Produktion von Selbst- und Fremdwahrnehmung (Yildiz 2006: 45 f.): „In der Wissenschaft spiegelt sich die große Aufmerksamkeit für kulturelle Differenzen im hohen Maß am Interesse für den Aspekt der so genannten kulturellen Identität. In dieser Untersuchung [über alltäglichen Rassismus, Anm. HB] freilich wurde ein anderer Weg beschritten. Ich habe den Unterschied zwischen Einheimischen und Migranten der zweiten Generation – wie auch immer er sich äußern mag – nicht vorausgesetzt, sondern die Frage gestellt, wie dieser Unterschied, wie also ‚Fremdheit‘ produziert wird.“ (Terkessidis 2004: 210)

Das zeigt, dass Terkessidis’ Studie über die Frage nach Identität hinausweist und eher die Rahmenbedingungen für das Entstehen bestimmter Identitätsformen erforscht. Damit steht er in der Tradition Goffmans, der mehr als Terkessidis ein Interesse für die Identität von Stigmatisierten aufbrachte, wo Terkessidis sich eher

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auf das Phänomen des Rassismus als gesellschaftliche Instanz der Genese kollektiver Identitäten konzentriert. Rassismus in Terkessidis’ Verständnis ist ein alltägliches, in den Strukturen verfestigtes Phänomen. Es gliedert sich in drei Komponenten: „1. Die Rassifizierung. 2. die Ausgrenzungspraxis. 3. die differenzierende Macht.“ (Ebd.: 98) Beim ersten Bestandteil, der Rassifizierung, werden Menschen zu einer Gruppe von Menschen zusammengefasst und mit kollektiven Merkmalen belegt. Die Merkmale und der Bestand der Personengruppe werden essentialisiert, d.h. Bestehen und Art der Gruppe werden als natürlich aufgefasst. Dieser Vorgang ist nicht unbedingt an eine offensichtliche (Ab-)Wertung gekoppelt – allein der Umstand, dass Personen von anderen (Mächtigeren, Angehörigen der Mehrheit) überhaupt zu vermeintlich natürlichen Gruppen zusammengefasst werden, macht die Rassifizierung aus und wertet die betroffenen Personen dadurch ab. Der zweite Teil des Rassismus, die Ausgrenzungspraxis, ist in modernen Gesellschaften als scheinbares Paradox aufzufassen, so Terkessidis, da die konstruierten Personengruppen nicht von den Mehrheiten abgetrennt werden, sondern zwar als Teil der Gesamtgesellschaft erscheinen, aber innerhalb einer Mehrheit immer als Minderheit markiert werden16. „Jemanden ausschließen, indem man ihn einbezieht“ (ebd.: 95) – diese Formel ist konstitutiv für die Moderne, so Terkessidis. Der dritte Aspekt schließlich, die differenzierende Macht, verweist auf die Machtverhältnisse, die darüber entscheiden, wer hegemoniale Verhältnisse produziert und pflegt und wer nur über einen eingeschränkten Zugang zu Ressourcen verfügen kann. Dieser Aspekt scheint für die Definition von Rassismus zentral, da der Rassismusbegriff ohne ihn leicht hätte beliebig werden können. Ist es bei Terkessidis’ Untersuchungsgruppe, die aus Jugendlichen der zweiten Migrant_innengeneration besteht, ein wichtiger Aspekt, dass dieselben erst als Migrant_innen konstruiert werden, so ist dies bei Personen der ersten Generation, die ja nicht weniger von Rassismus betroffen sind, nicht unbedingt selbstverständlich, da diese sich unter Umständen, zumindest in Teilen, unter dem Merkmal der nationalen Herkunft selbst identifizieren, ganz unabhängig von Fremdzuschreibungen. Rassismus als gesellschaftliches Phänomen wird daher erst zum Merkmal von Ausgrenzung, Diskriminierung und Benachteiligung, wenn er unter Ungleichheitsbedingungen wirksam wird, denn handelt eine Minderheitengruppe, die sich in einer schwachen sozialen Position befindet, rassistisch, dann entsteht daraus kein Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen. Dies ist erst dann der Fall, wenn eine Mehrheit

16 Als Beispiel könnte die Erwähnung des ersten Skifahrers mit Migrationshintergrund im nationalen österreichischen Kader genannt werden (http://sport.orf.at/stories/2226988/ [06.03.2017]).

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sich gegenüber Minderheiten rassistisch verhält. In diesem Kontext soll Terkessidis’ Zugang als aufbauend auf Goffmans Stigmabegriff aufgefasst werden, denn dann wird klar, dass erst ungleich verteilte Machtverhältnisse Rassismus zu konstituieren in der Lage sind. Eine Ähnlichkeit zu Goffman – und auch zum Modell Sartres – ist durch die Machtungleichverteilung gegeben, wenn es darum geht, wer sich womit auseinandersetzen muss: Stets sind es die Minderheiten mit benachteiligtem Zugang zu Ressourcen, die sich mit einer gesellschaftlichen Normalität auseinandersetzen müssen, die an ihr bemessen und beurteilt werden und die sich selbst an ihr bemessen müssen. Terkessidis erarbeitet ein „Inventar der rassistischen Situationen“ (ebd.: 172). Fünf Formen sieht er vor: (1.) Entfremdung, (2.) Verweisung, (3.) Entantwortung, (4.) Entgleichung, (5.) Spekularisation. Es handelt sich dabei um Charakteristika und Mechanismen rassistischer Praxis aus der Sicht der Betroffenen. Ad 1. Der Begriff Entfremdung beschreibt den Vorgang des Fremdmachens. In Terkessidis’ Sinne ist dieser Vorgang nicht unbedingt abstrakt, sondern ganz real, da die Interviewpartner_innen aus seiner Studie – aus den Ergebnissen wurden die fünf Begriffe induktiv erarbeitet – sich ursprünglich als Deutsche wahrnahmen bzw. die Kategorie nationale oder ethnische Zugehörigkeit für sie überhaupt nicht relevant war. Im hier ausgebreiteten Kontext soll Entfremdung aber auch in einer abstrakten Bedeutung relevant sein, wenn Personen – unabhängig von ihrer Selbstverortung – auf rassistische Weise von einer mächtigen Gruppe zu Gruppen zusammengefasst und mit Merkmalen versehen werden17. Eine gewisse Unsicherheit besteht, wenn nach der Identität von Personen gefragt wird, denn nie kann man sich sicher sein, in welchem Maß sich eine Gruppe überhaupt selbst konstituierte und in welchem Maß sie an der Auswahl der für sie relevanten Merkmale beteiligt war. Identitätsmerkmale können selbstgewählt sein, sie können aber auch im Zuge einer Entfremdung von außen vermittelt und dann verinnerlicht worden sein, ohne dass sich die Betroffenen dessen bewusst sein müssen. Daher ist es notwendig, mögliche Entfremdungsmechanismen mit zu reflektieren (ebd.: 178). Ad 2. Verweisung ist in Terkessidis’ Verständnis ebenfalls ganz konkret zu verstehen: Betroffenen wird ein Ort zugewiesen, der mit ihrer vermeintlichen ethnisch-nationalen Herkunft übereinstimmt. Hier spielt, wie bei der Entfremdung, ein tatsächlicher Zusammenhang zu einem Ort keine große Rolle: Ein Koreaner kann schon einmal zu Japan oder China gehören. „Gehören“ ist auch die zentrale

17 Hierin ähnelt Entfremdung dem Vorgang des „Othering“ (Mecheril et al. 2010).

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Beurteilungskategorie, denn von der Mehrheit wird selten anerkannt, dass die Betroffenen zu ihnen und zu ihrem Geburtsland, hier Deutschland, gehören. Sie gehören „nicht hierher“, sondern „anderswohin“. Ad 3. und 4. Die Begriffe Entantwortung und Entgleichung bezeichnen den Vorgang der klischeehaften kollektiven Zuweisung von Merkmalen zu einer Gruppe. Damit verbunden ist eine Entindividualisierung, da die Betroffenen nicht länger als Individuen handeln, sondern immer als Vertreter_innen „ihrer“ Gruppe angesehen werden, und ihr Handeln immer entlang des typischen Handelns der Gruppenmitglieder beurteilt wird. Entgleichung betont zudem die damit verbundene Abwertung der Betroffenen. Ad 5. Spekularisation entlehnt Terkessidis der Kulturtheoretikerin Luce Irigaray. Spekularisation meint – wieder ist eine Ähnlichkeit zu Othering vorhanden – negative Spiegelung. Vertreter_innen der Mehrheit geben Minderheiten Merkmale mit, die nichts mit den Merkmalsträger_innen zu tun haben, sondern die dazu dienen, eine Negativfolie zu eigenen Eigenschaften zu erzeugen. Der Mechanismus, der dahintersteht, ist eine dichotome Logik, nach der dem Gegenüber immer genau die umgekehrten Merkmale zugewiesen werden – umgekehrt zu denen, die man bei sich selbst verortet. Hält man sich selbst für rational, wird das Gegenüber als irrational oder emotional eingestuft, hält man sich selbst für modern und zivilisiert, gilt das Gegenüber als mittelalterlich und unzivilisiert. Resümierend fordert Terkessidis die Anerkennung von Lebens- oder Identitätsentwürfen, die es erlauben, verschiedene Merkmale und Merkmalsausprägungen zu realisieren, ohne sich an einer bestehenden, statischen Norm messen zu müssen. Er kommt zu dem Schluss, dass die Betroffenen dazu in der Lage sind, einen neuen Raum für sich erschaffen zu können, in dem Begriffe wie „‚Heimat‘, Herkunft, Tradition, Kultur etc. eine völlig neue Bedeutung erhalten. Es wäre wichtig, dass diese aktive Herstellung von neuen Lebensformen gewürdigt wird und als Ansatzpunkt dient.“ (Ebd.: 213) Dieser Grundgedanke findet sich auch in der postmigrantischen Perspektive wieder (Yildiz/Hill 2015). Ethnisierung und Labeling Auch der Entwurf von Ethnisierung, wie ihn Bukow und Llaryora (1988) herleiten, zeigt modellhaft die Ausgrenzung aus Mehrheitsgruppen von ethnischen Minoritäten auf. Grundsätzlich gilt hier:

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„Die Situation einer Minderheit ist immer die Antwort auf eine Majorität, wobei zusätzlich mit einem intensiven soziokulturellen Diskurs zwischen beiden Parteien zu rechnen ist, in dessen Verlauf sich beide Seiten auch ständig verändern.“ (Bukow/Llaryora 1988: 46, Hervorh. i. Orig.)

Ob die Veränderung eher die Minderheit betrifft oder ob die Minderheit auch einen Einfluss auf die Mehrheit entwickeln kann, wird die folgende Diskussion des Interviewkorpus zeigen. Die Autoren definieren Ethnisierung wie folgt: „Mit dem Begriff der Ethnisierung soll die ethnisch ausgewiesene Soziogenese einer Minorität bezeichnet werden. Gemeint ist, wie ein Wanderer seiner für selbstverständlich gehaltenen Gesellschaftlichkeit enthoben und in eine Minorität eingeordnet wird, und dabei in eine Dynamik des Ein- und Ausgrenzens sowie der ethnischen Fremd- und Selbstidentifikation gerät.“ (Ebd.: 51)

Die Argumentation deckt sich mit der von Goffman und Terkessidis und ihren Begriffen der Stigmatisierung und der rassistischen Fremdzuschreibungen, da diese ihre Wirksamkeit ebenfalls aus der Interaktion zwischen einer Mehrheitsgruppe und Vertreter_innen einer Minderheit sowie aus dem Ungleichgewicht der Machtverhältnisse entwickeln, denen sich die Minderheit nicht entziehen kann. Auch Goffman und Terkessidis verstehen ihre Konzepte als eingebettet in gesellschaftliche Dynamiken und berücksichtigen die gesellschaftliche Tragweite von Stigmatisierung und Rassismus (wenngleich bisher der Schwerpunkt der Betrachtung auf den Auswirkungen auf Identitätskonstruktionen lag). Der Begriff der Ethnisierung, wie ihn Bukow und Llaryora entwickeln, ist ebenfalls konstitutiver Bestandteil von gesellschaftlichen Mechanismen. Die Autoren vollziehen die Dynamik einer „ethnic redefinition“ (ebd.: 52) nach. Diese resultiert daraus, dass Migrant_innen, unabhängig von ihren Versuchen, sich im Alltag, zum Beispiel bei der Arbeit, an die Umgebung anzupassen, nicht von der Mehrheit anerkannt werden. Diese schwer nachvollziehbaren Zurückweisungen haben zur Folge, dass die davon Betroffenen sich bei der Konstruktion ihrer Selbstidentität auf ihre persönliche Geschichte, ihre Familie, ihre Herkunftsgesellschaften beziehen. Dieser Prozess kann ganz allgemein als Prozess der Ausgrenzung von Gruppen beschrieben werden. Zur Ethnisierung wird er erst dadurch, dass die mächtige Gruppe der Minderheit das Label einer Ethnie zuweist. Diesen Vorgang bezeichnen die Autoren als „Labeling“. Labeling findet in alltäglichen kommunikativen Situationen statt, die sich nach Scripts richten, so Bukow und Llaryora. Scripts stellen ein implizites, oft nicht offen artikuliertes Regelwerk dar, an das sich alle an der Situation teilnehmenden

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Personen halten müssen, um gleichberechtigt daran teilhaben zu können. Wesentlich ist, dass nicht alle Anwesenden die „soziale Grammatik“ (ebd.: 65) gleichermaßen kennen oder mehr noch: auch gleichberechtigt an der Aushandlung der Regeln teilhaben können. Scripts bestimmen vielmehr die Umgangsregeln innerhalb von sozialen Gruppen und regeln dadurch die Teilhabe an diesen Gruppen. Nun versuchen die Autoren mit dem Rückgriff auf das Script die Exklusion von Migrant_innen in sozialen alltäglichen Situationen erklärbar zu machen. Die Erklärung greift insofern, als dass Fremde kein Wissen über „das soziale Drehbuch“ (ebd.) haben. Sie soll hier aber auch auf einen weiteren Rahmen bezogen werden, bei dem es um das Miteinander zwischen Mitgliedern verschiedener sozialer Lagen (Bourdieu 1987) geht. Diese Ausweitung hat den Vorteil, dass sie auch auf solche Personen angewendet werden kann, die in Österreich geboren wurden – also über alltägliche Scripts sehr wohl Bescheid wissen, aber eben nur innerhalb des Milieus, in dem sie sich bewegen oder in dem sie sozialisiert wurden (zu den Begriffen „soziale Lage“ und „Milieu“ s.u.). Wesentlich ist, dass unter Rückgriff auf den Begriff des Scripts die Perspektive von der Identität der Personen abrückt und auf ihr Handeln fokussiert. Zentrale Fragen, die an diesen Perspektivenwechsel anschließen, sind dann: Wie gelingt es den Interviewpartner_innen, Einfluss auf wirkmächtige Scripts zu nehmen bzw. ihre eigenen Scripts zu etablieren? Konnten die Interviewpartner_innen im Bereich ihrer nun selbständigen Erwerbstätigkeit die Scripts in alltäglichen sozialen Situationen selbst prägen? Wie genau prägen sie sie? Diskriminierung Oben wurde schon eine Hypothese der Arbeit ausgeführt, die darauf hinausläuft, dass Diskriminierung eine besondere Form der Nichtanerkennung einer Leistung darstellt. Die Verbindung zwischen Anerkennungstheorie und Diskriminierung im Bereich der Erwerbstätigkeit diskutiert schon Sprung (2011), der Gedanke ist also nicht neu. Bisher wurde Diskriminierung jedoch noch nicht definiert, und dies wird im folgenden Teilkapitel – aufbauend auf Terkessidis’ Rassismusbegriff nachgeholt. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird Diskriminierung durchaus unterschiedlich beschrieben. Anhand von zwei Definitionen soll dies verdeutlicht werden. So wird im folgenden Zitat Wert auf die Auswirkungen einer diskriminierenden Handlung gelegt, die die Diskriminierung erst zu einer solchen machen: „Diskriminierung besteht dann, wenn jemand aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe benachteiligt wird, wenn sich also für den Ausschluss eines Bewerbers ein (in der Regel)

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unveränderliches Merkmal als ausschlaggebend herausstellt, das unabhängig von seiner Eignung als Mieter oder Arbeitnehmer ist wie etwa Geschlechtszugehörigkeit oder ethnische Herkunft. Ein Bewerber, der aufgrund seiner türkischen Herkunft eine Wohnung nicht bekommt, wird diskriminiert.“ (Gestring et al. 2006: 65, Hervorh. HB)

Eine zweite Definition ist dagegen weiter gefasst. Hier ist die Auswirkung der diskriminierenden Handlung zweitrangig. Es geht vielmehr um die Ungleichbehandlung selbst – unabhängig von den Konsequenzen, die durch diese erlitten werden können: „Diskriminierung bedeutet, allgemein gesprochen, Unterschiede aufgrund tatsächlicher oder zugeschriebener Gruppenmerkmale zu machen und diese zu bewerten. […] Im sozialen Sinn ist damit die Ungleichbehandlung von Menschen bzw. Gruppen von Menschen gemeint.“ (Sprung 2011: 133)

Für diese offenere Auslegung spricht, dass diskriminierende Handlungen allein schon durch die Handlung selbst eine Verletzung der Menschenwürde darstellen (hierzu Bielefeldt 2010). Es bedarf nicht erst der faktischen Auswirkung (dazu unten mehr). In dieser zweiten Definition ist ein weiterer Aspekt enthalten: Sie lässt offen, auf welche Weise die Beschreibung einer sozialen Gruppe geschieht („aufgrund tatsächlicher oder zugeschriebener Gruppenmerkmale“). Wesentlich ist hier, dass sich Vorurteile, die die einen gegen die anderen hegen, auf die Einschätzung einer Gruppe niederschlagen können. Das Bild, das die eine Gruppe von der anderen Gruppe hat, beruht nicht unbedingt auf realen Merkmalen, sondern kann sich auf Annahmen, gängige Klischees oder Halbwissen gründen. Es lässt sich sagen, dass schon mit der Zuweisung einer Person zu einer Gruppe ein der Diskriminierung vorgelagerter Schritt vollzogen wird. Wird ein Mensch zum Beispiel einer bestimmten Herkunftsgruppe zugewiesen, obwohl er eine Staatsbürgerschaft hat, die nichts mit dieser Gruppe zu tun hat, obwohl er gar nicht dort geboren wurde, wo vermutet wird, obwohl er die Sprache der zugeschriebenen Herkunftsgruppe nicht spricht oder obwohl er sich selbst dieser Gruppe gar nicht zugehörig fühlt, so liegt in der Zuweisung schon ein Teil der Diskriminierung. Die Nähe zu Terkessidis’ Rassismusbegriff wird deutlich, sind hier doch auch die von ihm angeführten Merkmale – Entfremdung, Verweisung, Entantwortung, Entgleichung und Spekularisation – enthalten. Es kann nur schwer entschieden werden, ob eine rassistische Grundhaltung bereits eine Diskriminierung ausmacht. Jedenfalls aber ist sie Teil des Entstehungsmechanismus von Diskriminierung und soll daher – als der Diskriminierung vorgelagerte Akt – zur Definition des Begriffes zugerechnet werden.

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Annette Sprung verweist auch auf die symbolische Ebene von diskriminierenden Akten: „Gerade in Hinblick auf Prozesse der Zuschreibung von Merkmalen an bestimmte Gruppen ist zudem auf die symbolische und sprachliche Ebene von Diskriminierung hinzuweisen. Diskurse über MigrantInnen oder einzelne Zuwanderergruppen bieten eine Fülle an Beispielen für symbolische Diskriminierung, die in weiterer Folge diskriminierende Handlungen legitimiert und begünstigt.“ (Ebd.: 135)

Zu trennen ist demnach zwischen symbolischer und manifester Diskriminierung. Hat manifeste Diskriminierung eine Auswirkung auf die Teilhabe von Personen an gesellschaftlichen Bereichen, so ist mit symbolischer Diskriminierung die Exklusion auf der Ebene der symbolischen Ordnung der Gesellschaft gemeint (exemplarisch Bourdieu 1987: 388-399). Dies beinhaltet auch den Unterschied zwischen Mechanismen und Effekten von Diskriminierung (Gomolla 2006: 98). Bisher wurden beide Begriffe – symbolisch und manifest – auf ihren Effekt hin betrachtet. Die symbolische Ebene umfasst aber darüber hinaus auch den Entstehungsmechanismus von Diskriminierung – die grundlegende Logik, die hinter dem Entstehensprozess steht. In der sozialwissenschaftlichen Literatur werden einige begriffliche Trennlinien beschrieben, die Diskriminierung und verschiedene Formen davon genauer beschreiben. Diskriminierungsformen Eine erste Unterscheidung betrifft die Absicht des Handelns. Dass mitunter absichtsvoll diskriminiert wird, muss nicht extra betont werden. Nicht jeder Akt von Diskriminierung muss aber vom Akteur als solcher intendiert sein. Im Falle von institutioneller Diskriminierung kann der Sachbearbeiter bzw. die Sachbearbeiterin einer Behörde aus der eigenen Sicht heraus gänzlich „normal“ agieren, einfach, weil es der normalen Organisationskultur entspricht, dennoch diskriminiert er bzw. sie unter Umständen. Die Rede ist dann von nicht-intendierter Diskriminierung. Weiter sind verschiedene Formen von Diskriminierung zu unterscheiden. Gängig ist die Einteilung in interaktionelle, institutionelle und strukturelle Diskriminierung (Sprung 2011: 135, oder Hormel/Scherr 2004). Institutionelle Diskriminierung ist auf der Mesoebene angesiedelt. Sie ist im Organisationsalltag, in der Unternehmenskultur verfestigt und systematische Benachteiligungen von einzelnen Personengruppen müssen nicht vom Einzelnen intendiert sein. Sie werden

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vielmehr als Normalzustand erlebt bzw. eben gerade dadurch vom Einzelnen nicht realisiert (vgl. Gomolla 2006). Strukturelle Diskriminierung schließlich findet auf der gesellschaftlichen Ebene – auf der Makroebene – statt. Mit strukturellen Diskriminierungen sind solche Formen gemeint, „die aus existierenden gesellschaftlichen Strukturen resultieren“ (Bielefeldt 2010: 30). Nicht ganz einfach ist die Abgrenzung struktureller Diskriminierung von sozialer Ungleichheit. Soziale Ungleichheit ist zunächst ein soziologischer Befund, der keine Diskriminierung darstellt. Interaktionelle Diskriminierung findet zwischen Einzelnen oder Gruppen direkt in einer kommunikativen Situation, einer Interaktion also, statt. Sie kann sich allein in sprachlichen Ausgrenzungen äußern, zum Beispiel indem vorurteilsvoll Merkmale zugeschrieben werden (z.B. Sutterlüty 2010), das heißt, sie findet auf der symbolischen Ebene statt, sie kann aber auch unmittelbar sichtbare Auswirkungen nach sich ziehen – beispielsweise im Falle, dass ein Wohnungssuchender nicht zur Wohnungsbesichtigung eingeladen wird, nachdem er einen nichtdeutsch klingenden Namen genannt hat. Für die vorliegende Studie wird die Betrachtung interaktioneller Formen von Diskriminierung besonders relevant sein, finden doch in Interaktionen alltägliche Bildungsprozesse statt. Das heißt nicht, dass institutionelle oder strukturelle Diskriminierung für die hier Interviewten nicht stattfindet. Wenn es beispielsweise um Behördenkontakte geht (bei der Beantragung eines Gewerbescheins, bei Niederlassungsfragen etc.), kann sehr wohl auch institutionelle Diskriminierung relevant sein. Für die Bildungsprozesse der Einzelnen sind dann aber die konkreten Interaktionen mit Behördenvertreter_innen bedeutsam. Interaktionelle Diskriminierung kann zusammenfassend in drei Abschnitte gegliedert werden, die fließend ineinander übergehen: 1.

2.

Der Diskriminierung vorgelagert ist eine rassistische Grundhaltung, das heißt, der oder die Diskriminierende weist eine Person einer bestimmten sozialen Gruppe zu und wertet diese Gruppe ab, ohne sich rückzuversichern, in welchem Verhältnis die Person überhaupt zur Gruppe steht. Diese Zuweisung trägt unter Umständen überhaupt erst zur Konstruktion oder Reproduktion der Gruppe bei. Unter dem Akt der Diskriminierung selbst wird im Folgenden die Verletzung der Würde einer Person durch eine bestimmte Form von Benachteiligung verstanden. Diese Benachteiligung findet aufgrund der (vermeintlichen) Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe statt, die von dem Diskriminierenden oder von der Diskriminierenden negativ bewertet wird.

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3.

Benachteiligende Auswirkungen der Diskriminierung stellen den dritten Abschnitt dar. Die Benachteiligung hat Konsequenzen im sprachlich-symbolischen Bereich (z.B. in einer kommunikativen Situation, in der der Vertreter einer religiösen Minderheit durch eine Zote über diese religiöse Gruppe verbal von der versammelten Mehrheit ausgeschlossen wird) oder im manifesten Bereich (z.B. durch die Exklusion aus oder den erschwerten Zugang zu gesellschaftlichen Teilbereichen wie Bildung, Erwerbsarbeit oder Wohnen).

Da Diskriminierung hier auf eine bestimmte Herkunftsgruppe enggeführt wird, ist mit Diskriminierung in erster Linie rassistische Diskriminierung gemeint. Aber auch andere Diskriminierungsressourcen (zum Begriff: Sprung 2011: 133 f.), wie das Geschlecht, können relevant sein, bzw. verschiedene Diskriminierungsressourcen können einander als Mehrfachdiskriminierung verstärken. Entsprechende Erfahrungen werden daher bei der Auswertung des empirisch erhobenen Materials beachtet. Zusammenfassung Im Kapitel „Zugehörigkeit zwischen Selbstbestimmung und Fremdzuschreibungen“ wurden verschiedene Zugänge zu Gruppenzugehörigkeiten, zu kollektiver Identität und zu Selbst- vs. Fremdzuschreibungen aufgezeigt. Dabei konnten zunächst verschiedene Abstufungen von mehr oder weniger bewusster Entscheidung für Gruppenzugehörigkeiten beschrieben werden. Dies ging von vollständiger rationaler Entscheidung zur Teilnahme an Gruppen bis hin zu einem hohen Grad an Fremdzuweisung, verbunden mit der Fremdzuschreibung von Merkmalen. Das folgende Teilkapitel befasste sich eingehender mit Formen dieses komplexen Verhältnisses zwischen Stigmatisierten und Mehrheitserwartungen an sie. Daraufhin wurde das Thema in Bezug auf das Phänomen des (Alltags-)Rassismus fokussiert. Terkessidis entwickelt dabei ein Schema, das sich – wenn man den Identitätsbegriff zur Beschreibung heranziehen will – auf diejenige Form von Identität bezieht, die Goffman soziale Identität nennt. Anschließend wurden die Begriffe des Labeling und der Ethnisierung mit Bukow und Llaryora erklärend herangezogen. Für die hier verfolgte empirische Arbeit soll ein Gruppenbegriff formuliert werden, der Gruppenzugehörigkeit als oszillierend zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung begreift. Der Grad an selbständiger Wahl zu einer Gruppe soll zunächst offen bleiben, denn es ist von vornherein nicht gesagt, wie sich die Interviewpartner_innen zu möglichen Gruppen positionieren – sei es in Hinblick auf eine Herkunftsgruppe, auf die Stellung im Beruf, auf die Entscheidung für eine Branche oder hinsichtlich einer beliebigen anderen für die Interviewten bedeutsamen Kategorie. Diese Position kann von den Betroffenen auch kontrovers oder

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ambivalent entschieden werden. Dies entscheidet sich induktiv am Interviewmaterial. Was die Ich- oder Selbst-Identität im Goffman’schen Sinn betrifft, so wird hier eine Vorstellung von unteilbarer Identität bevorzugt, wie ihn beispielsweise Beck-Gernsheim (2007: 112-114) beschreibt. Unabhängig vom Grad der freien Wahl sind Verhältnisse innerhalb von Gruppen und zwischen unterschiedlichen Gruppen relevant für die Identitätsentwürfe der Befragten. Wie beschreiben sie sich selbst? Welchen Einfluss haben Fremdzuschreibungen für sie? Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass für die Interviewten einzelne Kategorien überhaupt erst durch Prozesse der Fremdzuschreibung relevant werden können – eine Erkenntnis, die Terkessidis eindrücklich herausgearbeitet hat. Diese Fremdzuschreibungen und damit verbundene Abwertungen sind der erste Schritt zu diskriminierenden Handlungen, so ein Ergebnis der Diskussion um Diskriminierung. Die Wurzeln von Diskriminierung können in rassistischen Grundhaltungen angelegt werden, die sich schließlich in kommunikativen Situationen niederschlagen. Dadurch konnte auch eine systematische Verbindung zwischen alltäglichen Bildungsprozessen und Diskriminierung gezeigt werden. Die Unterscheidung in freie Wahl und Fremdzuweisung bzw. -zuschreibung ist darüber hinaus analytisch bedeutsam, denn die Zweiten gehören zu den gesellschaftlichen Umständen, die das Handeln der Unternehmer_innen hinterlegen, während die freie Wahl womöglich eine Form der aktiven Auseinandersetzung der von Stigmatisierung, Rassismus und Ethnisierung Betroffenen darstellen kann. Dabei spielt der Begriff des Scripts, der in Bukows und Llaryoras Ausführungen zu Ethnisierung relevant ist, in der vorliegenden Arbeit eine besonders prominente Rolle. Er ermöglicht den Wechsel der Betrachtungsebene von den Identitätsmerkmalen hin zur Ebene der Handlungen. Gerade dieser Wechsel erlaubt es, die Unternehmer_innen als Akteur_innen wahrzunehmen und der Frage nachzugehen, auf welche Weise sie schließlich handelnd zu einer gesellschaftlichen Veränderung beitragen.

ZWISCHENFAZIT Drei Eckpfeiler umfasst die theoretische Rahmung der vorliegenden Studie. Den Ausgangspunkt bildet die Bildungstheorie. Ihr Zentrum stellt Deweys Erfahrungslernen dar, das hier um jüngere Ansätze ergänzt und aktualisiert wird. Da ist einmal Kollers Konzept transformatorischer Bildungsprozesse, das in erster Linie auf die Krise als Anlass für Bildungsprozesse hin betrachtet wird. Ein weiterer Aspekt ist Stojanovs Vorstellung von der Veränderung von Weltverhältnissen, die hier als

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interaktiv begründete Weitung der Welthorizonte durch intersubjektiven Austausch verstanden wird. Schließlich entstammen die Ideen der Evaluierung neuen Handelns und der vorvergangenen Erfahrung als Hintergrund für neues Handeln Oevermanns Theorie des genetischen Strukturalismus. Die Theorie um Bildungsprozesse findet dann ihr Gegenüber in der Anerkennungstheorie, die die Entwicklung der Gesellschaft beschreibt und dadurch individuelle Bildungsprozesse in ein Modell gesellschaftlicher Entwicklung integriert. Da gerade Fremdzuschreibungen von Merkmalen und Fremdzuweisungen zu Gruppen für missachtete Anerkennung sorgen können, die sich beispielsweise in Diskriminierung äußern kann – ein Punkt, den Honneth und Dewey nicht genügend ausführen –, kommt als dritter Eckpfeiler die Diskussion um die Begriffe „Gruppe“, „Zugehörigkeit(-en)“ und „(kollektive) Identität“ zum theoretischen Rahmen der Studie hinzu (Überblick: Tabelle 7). Tabelle 7: Theorien im Überblick Bildung  Bildung als Erfahrungslernen mit offenem Ausgang  Krise als Anlass für Bildungsprozesse  Neues Handeln  Bewertung des neuen Handelns  Vorvergangenes als Pool für die Neuorientierung

Gesellschaft  Gesellschaftliche Entwicklung durch permanenten Geltungsüberhang an missachteter Anerkennung  Anerkennungsdefizite als Form der Krise  Soziale Integration als normativer Horizont  Erhöhung individueller Autonomie und gesellschaftlicher Inklusion als Bedingungen einer integrierten Gesellschaft

Zugehörigkeiten  Freie Wahl zu Gruppen vs. Fremdzuweisung  Stigmatisierung, Rassismus, Ethnisierung als Formen der Missachtung  Reaktionen auf Missachtung und aktive Gestaltung von Zugehörigkeit (z.B. Selbständigkeit) als Strategie

Im empirischen Teil der Arbeit gilt es nun, die Werdegänge von Selbständigen auf ihre Bildungsprozesse hin zu untersuchen. Zunächst wird die Frage nach den Anlässen für die Bildungsprozesse im Zentrum der Analyse stehen. Diese werden – neben ihrer Relevanz für die individuellen Veränderungen – auf ihren Stellenwert in Hinblick auf die gesellschaftliche Veränderung bewertet. Es geht also darum herauszufinden, ob es sich um Formen missachteter Anerkennung handelt. Daraufhin muss gefragt werden, ob es überhaupt zu Bildungsprozessen kommt. Wenn ja, so ist zu klären, ob sie Anerkennungskämpfen gleichkommen und wie diese sich gestalten. Bei diesem Pendeln zwischen individueller und struktureller Ebene ist immer die Frage nach den Zugehörigkeitsverhältnissen der Protagonist_innen wesentlich, da missachtete Anerkennung, so eine Hypothese, gerade

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durch Formen der Fremdzuschreibungen verursacht werden kann und da sich durch die Wahl von Zugehörigkeiten womöglich ein Umgang mit Anerkennungsdefiziten zeigen lässt.

4 Berufsbiografien von Unternehmer_innen türkischer Herkunft

ZIEL DER EMPIRISCHEN FORSCHUNG Ein Teil der Forschungsfragen, besonders jene zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, konnte in Kapitel 2 beantwortet werden. Dort wurden zunächst statistische Daten und Fragen des rechtlichen Zugangs zur Selbständigkeit aufbereitet. Anschließend wurden in einer Literaturanalyse Studien zum Thema migrantisches Unternehmertum erörtert und auf die Fragestellung hin zusammenfassend analysiert. Im folgenden Kapitel wird der empirische Teil der vorliegenden Studie vorgestellt, für den Selbständige interviewt wurden, die als türkisch codiert (stellvertretend Pütz 2009) bezeichnet werden können. Zunächst sollen die Forschungsfragen noch einmal aufgeschlüsselt werden. Aufbauend auf einer durch die Erkenntnisse der Diskussionen in den Kapiteln 2 und 3 differenzierten Sicht können sie nun konkretisiert werden. Was die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrifft, so zeigte sich, dass es für Alpstadter_innen bzw. Mittelösterreicher_innen, die in der Türkei geboren wurden oder deren Eltern aus der Türkei einwanderten, zu strukturellen Benachteiligungen kommt. Dies konnte anhand verschiedener Indikatoren – Stellung im Beruf, Arbeitslosigkeit, höchster Bildungsabschluss oder Dequalifizierung – deutlich gemacht werden. Diese Befunde gelten für die sogenannte erste Generation von Einwander_innen. Damit sind aber nicht die ursprünglich als „Gastarbeiter“ nach Österreich gekommenen Personen gemeint, denn diese sind aufgrund ihres Alters häufig schon nicht mehr erwerbstätig. Oft sind es ihre Kinder, die sie im Zuge des sogenannten Familiennachzugs seit den späten 1970er und 1980er Jahren nachgeholt haben. Diese sind meist in Österreich aufgewachsen und haben große Teile der institutionalisierten Sozialisation (Weiß 2007) in Österreich verbracht. Außerdem betreffen die genannten strukturellen Benachteiligungen die

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Nachfahren der „ersten Generation“, die in Österreich bzw. Mittelösterreich geboren wurden. Die rechtlichen Rahmenbedingungen erschweren türkischen Staatsbürger_innen gegenüber österreichischen Staatsbürger_innen den Weg in die Selbständigkeit. Im Zentrum der Studie steht nun die Sicht von Betroffenen. Grob lassen sich die Forschungsfragen, die auf dieser Ebene beantwortet werden sollen, in diejenigen gliedern, die den Rückblick der Interviewpartner_innen auf ihre berufliche Laufbahn betreffen, und in jene, die ihre Sicht auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen inklusive der Zugehörigkeitsverhältnisse beschreiben. Im Zentrum der Analyse stehen die persönlichen Erlebnisse der Interviewpartner_innen, die unmittelbar mit den benachteiligenden Strukturen zusammenhängen, aber auch ihre Beurteilungen und die Bewertungen dieser Rahmenbedingungen sind hier relevant. Dies gilt unabhängig davon, ob die Strukturen Entscheidungen beeinflussten, ob Benachteiligungen überwunden werden mussten oder – im Gegenteil – als irrelevant für das eigene Leben empfunden werden. Dieser Umstand wird hier hervorgehoben, weil er in der Literatur um migrantische Ökonomien oft nicht differenziert diskutiert wird: Migrantische Selbständige werden dort meist, wie gezeigt werden konnte, unterschieden in erstens diejenigen, die das Bedürfnis formulieren, erlittenen Benachteiligungen durch den Weg in die Selbständigkeit entgegenzuwirken („Ökonomie der Not“), und zweitens in jene, die ihrer intrinsischen, persönlichen Motivation nachgehen („Unternehmertypen“). Im hier verfolgten Ansatz bilden diese Motive keine Gegenpole, sie sind vielmehr auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt. Unabhängig von der subjektiv-individuellen Einschätzung wird einerseits angenommen, dass es strukturelle Benachteiligungen gibt, die die hier untersuchte Personengruppe betreffen und die Auswirkungen auf sie hat. Andererseits gilt die Grundannahme, dass Menschen ganz generell ein Bedürfnis nach Selbstentwicklung in sich tragen (bei Dewey: Bildsamkeit) oder zumindest, dass Bildungsprozesse unabdingbar sind, wenn aufgrund von Krisen alte Handlungsroutinen nicht mehr genügen und neue erprobt und etabliert werden müssen. Das heißt: Unternehmertypen gibt es nicht von Geburt an, sie bilden sich vielmehr durch die strukturellen Bedingungen und durch persönliche Erfahrungen heraus. Beide Aspekte verweisen auf die Gründe und Motive für den Weg in die Selbständigkeit. Auf der persönlichen Ebene können sich Benachteiligungen zu Krisen verdichten und zum Anlass für Neuorientierung werden. Die Forschungsfragen, die sich hier anschließen sind die nach Bildungsprozessen und nach den biografischen Wegen der Interviewpartner_innen. In die Analyse der Aussagen, die diese Themenfelder betreffen, fließen verschiedene theoretische Ansätze ein. So betrifft der

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bildungstheoretische Begriff neben den krisenhaften Anlässen für Neuorientierungen auch die Frage nach Vorbildern, auf die in der Phase der Neuorientierung zurückgegriffen werden kann. Als Hintergrundfolie oder Ursache für Krisen wurde Honneths Anerkennungstheorie herangezogen. Er bezeichnet Anerkennungsdefizite, die sich in erlittenen Missachtungen äußern, als Ausgangssituation von gesellschaftlichen Kämpfen, die hier auch als Anlass für die individuelle Neuorientierung interpretiert werden (z.B. dequalifizierte Tätigkeit oder Arbeitslosigkeit). Schließlich gibt es verschiedene Arten von unmittelbaren Krisen oder biografischen Einschnitten, die Bildungsprozesse auslösen können. Marotzki (2006) nennt zum Beispiel neue Formen von Verantwortung (denkbar wären familiäre Veränderungen). Auch persönliche Krisen, wie beispielsweise Krankheit, werden in der Literatur genannt. Schließlich betreffen Bildungsprozesse nicht nur die Transformation von Selbstbildern, sondern auch die Erschließung neuer Welthorizonte, die stets gemeinsam mit Anderen in intersubjektiver Ausdeutung geschaffen werden (dazu: Stojanov). Daher werden, wo es um biografische Prozesse und um Bildungsprozesse geht, auch Veränderungen im Verhältnis zu Gruppen bzw. Zugehörigkeitsverhältnisse (Emcke, Goffman, Terkessidis, Bukow/Llaryora) relevant. Schließlich geht es um förderliche bzw. hinderliche Faktoren auf dem Weg in die Selbständigkeit. Die Frage bezieht sich auf Faktoren, die auf der strukturellen Ebene liegen, und auf ihre Auswirkungen auf die individuelle Entwicklung der Interviewpartner_innen. In der Literaturanalyse konnten schon Erkenntnisse zu Unterstützungsstrukturen gewonnen werden. Diese können in der Familie liegen, aber auch Fragen der Finanzierung wurden hier angeführt. Als hinderliche Faktoren wurden etwa Schwierigkeiten bei der Vergabe von Bankkrediten oder behördliche Probleme beschrieben. Diesen soll in der empirischen Erhebung weiter nachgegangen werden. Die folgenden zwei Teilkapitel „Lebensgestaltung und Biografie“ und „Bildungstheoretisch fundierte Biografieforschung“ fassen die zentralen Begriffe zusammen, die den Rahmen für die anschließende empirische Untersuchung darstellen.

LEBENSGESTALTUNG UND BIOGRAFIE Persönliche Identität und Biografie sind verwandte Begriffe. „Erst durch die Biografie gewinnt der individuelle Bildungsprozess seine Gestalt, werden die Einzelnen damit zu individuellen Subjekten.“ (Kade/Nolda 2012: 281) Biografie, so kann gefolgert werden, ist ein zentraler Begriff, wenn es um die

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Entwicklung persönlicher Identität geht, die, wie oben gezeigt, stets im Zusammenspiel mit sozialer Identität und der Entwicklung der Ich-Identität stattfindet. Im folgenden Kapitel wird der Begriff der Biografie in Bezug auf die individuelle Lebensgestaltung, aber auch eingebettet in gesellschaftliche Rahmenbedingungen, entwickelt. Biografie verbindet damit aus einer diachronen Betrachtungsperspektive Individuum und Gesellschaft. Diese zweipolige Betrachtung wurde bisher entlang der Themen Bildung, Gesellschaft und Gruppenzugehörigkeiten verfolgt. Im Zentrum der folgenden Diskussion steht die diachrone Perspektive auf individuelle Biografien. Das Ziel dieser theoretischen Umrahmung von „Biografie“ liegt darin, die Lebenswege der befragten Selbständigen angemessen theoriegeleitet nachvollziehen und im Kontext zu Bildungsprozessen und gesellschaftlicher Entwicklung interpretieren zu können. Der Unterschied zwischen Lebenslauf und Biografie liegt bei oberflächlicher Betrachtung auf der Hand. Mit Lebenslauf ist das gemeint, was Menschen „wirklich“ erlebten und erleben, während die Biografie eine wie immer geartete Aufzeichnung dieses Erlebten darstellt. Bei genauerem Hinschauen ist die Differenz aber nicht mehr so eindeutig. Dass „wirklich“ hier in Anführungszeichen steht, soll anzeigen, dass sich dieses Wirkliche zum einen aufgrund seiner Flüchtigkeit überhaupt nicht direkt greifen lässt und zum anderen – dadurch, dass es stets menschengebunden ist – auch immer schon an die menschliche Betrachtung und Interpretation gebunden ist. Nun ist aber mit Biografie gerade das „festgehaltene“ und damit einer durch den Biografieträger oder die -trägerin ersten Interpretation unterworfene Leben gemeint. „Erste Interpretation“ soll es heißen, weil in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine zweite folgt: Dies ist die wissenschaftliche Interpretation mitsamt der Einbettung der Biografie in einen Analyserahmen und in einen Gegenstandsbereich. Dabei ist zu beachten, dass die erste Interpretation unterschiedlich ausfallen kann! Abhängig von der Erzählsituation, von den Gesprächspartner_innen und dem Kontext kann eine Geschichte von ein und derselben Erzählerin, von ein und demselben Erzähler ganz anders gewichtet, können ganz andere Details betont werden. Dies ist gerade bei einer Interviewsituation zu beachten, die andere Biografien produziert, als dies eine Erzählung beispielsweise im Freundeskreis täte. „Hier [in der Interviewsituation, Anm. HB] treffen individuelle, soziale, gesellschaftliche und wissenschaftliche Ambitionen zusammen bzw. – schärfer formuliert – prallen aufeinander. Forscher(in) und Beforscht(e) produzieren gemeinsam Biografie.“ (Bukow/Spindler 2006: 19, Hervorh. i. Orig.)

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Das folgende Teilkapitel „Lebenslaufregime und Statuspassagen“ widmet sich möglichen Strukturierungen von Lebensläufen und stellt damit eine Vorstufe zur späteren wissenschaftlichen Analyse dar. Anschließend wird der Begriff der Biografie vom Lebenslauf getrennt. Darauf folgt die Beschreibung von Biografizität – eines Konzepts wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Biografie – und dessen kritische Besprechung und Einbettung in den hier ausgebreiteten bildungs- und gesellschaftstheoretischen Rahmen. Lebenslaufregime und Statuspassagen Raiser (2007) beschreibt Lebensläufe auf drei Ebenen: der Makro-, der Meso- und der Mikroebene. Auf der Makroebene sind die institutionellen Lebenslaufregime angesiedelt, die Stationen des Lebenslaufs als Normalitätserwartung beschreiben. Sie können als Referenzrahmen für die Betrachtung von Lebensläufen herangezogen werden, wenngleich sie in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft nur noch bedingt aussagekräftig sind. Wesentlich für ihre Erfassung sind Statuspassagen, das heißt, institutionalisierte Übergänge zwischen Lebensabschnitten, wie zum Beispiel von der Schule zur Berufsausbildung oder zur tertiären Bildungseinrichtung. Statuspassagen stellen die Weichen für weitere individuelle Entwicklungen dar, und die kollektive generationenübergreifende Reproduktion von sozialen Zugehörigkeiten findet an ihnen statt. Der Begriff der Statuspassage hat sich allerdings, vor allem in Bezug auf den Übergang von Schule zu Arbeitsmarkt, mit der Individualisierung von Lebensläufen von einem strikten Regime, wie es sich beispielsweise in Übergangsritualen äußert, gelöst. Statuspassagen können als Prozesse aufgefasst werden, die sich nicht in allen Fällen gleich oder auch nur ähnlich ausgestalten müssen (Nohl et al. 2010: 10 f.). Für die unterschiedlichen Verläufe, für den unterschiedlichen Erfolg sind das kulturelle Kapital und die damit verbundenen sozialen Ausgangspositionen maßgeblich und die Frage, ob „und mit welchem Erfolg die ersten Schritte der Statuspassage in den Arbeitsmarkt durchlaufen werden, entscheidet auch darüber, welche Voraussetzungen in weitere ‚Karriereschritte‘ eingebracht werden können“ (ebd.: 11). Eine wesentliche Rolle beim Übergang können Gatekeeper_innen spielen, die als Institutionenvertreter_innen agieren und so die Tür zum nächsten biografischen Schritt öffnen oder verschließen können (Raiser 2007: 67). Nohl et al. differenzieren den Begriff der Statuspassage weiter in „mehrdimensional strukturierte Statuspassagen“ (ebd.). Das bedeutet, dass bei Migrant_innen neben dem Wechsel von der Schule in den Beruf auch der Wechsel des Wohnortes als Passage aufgefasst werden kann und der Übergang dadurch eine zweite Dimension erfährt. Diese kann sich auf

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Folgegenerationen auswirken, beispielsweise wenn diese im Ankunftsland der Eltern aufgrund von deren Herkunft strukturell benachteiligt werden. Raiser siedelt familiäre Verhältnisse, familiäre Unterstützung oder Erwartungen auf der Mesoebene an, während Nohl et al. die „partnerschafts- und familienbezogene Lebensführung“ (ebd.) als dritte Dimension der Statuspassage subsummieren. Damit sind die Verhältnisse zwischen den Generationen angesprochen, zum Beispiel die Bildungsaspirationen der Eltern, aber auch Familienzusammenschlüsse und neue Partnerschaften sind gemeint (Schittenhelm 2010: 41). Auf der Mikroebene schließlich findet nach Raiser die persönliche Bilanzierung statt, die sich an gesellschaftlichen Normalitätserwartungen und familiären Erwartungen messen muss. Das Wissen um verschiedene Formen von (rassistischen) Fremdzuschreibungen macht es unmöglich, gesellschaftliche Normalitätserwartungen auf berufliche Entwicklungen hin verkürzt zu erörtern. Vielmehr fließen hier zum einen Diskriminierung, zum anderen komplexe Wechselwirkungen zwischen Stigmatisierten und Mehrheitsbevölkerung ein, die für die Werdegänge mitentscheidend sein mögen. Diese Aspekte werden bei der Interpretation der Lebensgeschichten der interviewten Selbständigen berücksichtigt. Die diachrone Strukturierung der Interpretation ist durch die Statuspassagen vorgegeben, sie werden aber in Verbindung mit dem oben vorgestellten Konzept lebensweltlicher Bildungsprozesse im Kontext von Zugehörigkeiten ausgewertet. Wenn in der vorliegenden Studie von Statuspassagen die Rede ist, so ist als Angelpunkt der eine Übergang aus einem früheren (meist unselbständigen) Beruf in die Selbständigkeit gemeint, die allerdings eingebettet in einen größeren zeitlichen Kontext und in Verbindung zu früheren, und eventuell späteren, Übergängen interpretiert werden soll. Diese Übergänge können Veränderungen der familiären Verhältnisse sein, sie betreffen die schulische und berufliche Entwicklung, schließlich ist auch ein Wohnortwechsel – von einem Land in das andere, von einem Stadtteil in einen anderen usw. – damit gemeint. Biografie und Migration Dass Migration einen besonderen Stellenwert in der Biografie eines Menschen hat, wurde schon anhand der Begrifflichkeit der multidimensionalen Statuspassagen herausgestellt. An dieser Stelle soll noch einmal auf Stojanovs „Bildung und Anerkennung“ (2006) Bezug genommen werden. Er beschreibt anhand verschiedener Studien, die sich mit Biografien von Migrant_innen und deren Nachkommen befassen (Stojanov 2006: 186-1981), den biografischen Einschnitt, der durch

1

Die Beispiele und deren Interpretationen entlehnt Stojanov von: Koller 2002, Nohl 2001, Heitmeyer et al. 1997, Badavia 2002.

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Migration entsteht, der aber auch durch bestehende soziale Trennlinien über die erste Migrant_innengeneration hinaus für die Folgegenerationen erhalten bleiben kann. Wichtig ist bei seiner Zusammenschau der Fokus auf biografische Leistungen, die – je nach theoretischer Ausrichtung der zusammengefassten Studien – unterschiedliche Auswirkungen auf die Interpretation von Identitäten der Individuen haben können. Besonders kritisch betrachtet Stojanov Heitmeyers Studie zum Fundamentalismus (Heitmeyer et al. 1997), weil ihre theoretische Basis nicht die Syntheseleistungen der Jugendlichen mitberücksichtigt, die diese durch die Kombination und Verbindung unterschiedlicher kultureller Referenzrahmen erbringen und zu einer neuen, kohärenten Ich-Identität verdichten. Dies gelingt den anderen zitierten Studien und exemplarisch kann für die transformativen Bildungsprozesse der Begriff des „dritten Stuhls“2 (Badavia 2002) genannt werden: Dieser erlaubt es, die neu entwickelten Identitäten der Jugendlichen als in sich kohärent und als innovativ – gemessen am Repertoire vorhandener Rollenidentitäten – zu bezeichnen. Aus Sicht Stojanovs liegt eine vordringliche biografische Tätigkeit von Migrant_innen und ihren Folgegenerationen genau darin: Synthesen kultureller Muster zu kreieren, die ihnen im Alltag begegnen, und als neue Identitätsformen zu artikulieren. Dies kann freilich nur gelingen, wenn ein öffentlicher Raum für die Artikulation vorhanden ist, durch den die Artikulationsleistung überhaupt erst zu Anerkennung kommen kann. Stojanovs Entwurf ähnelt in diesem Punkt Terkessidis’ Vorstellung von innovativen Identitätsentwürfen (2004) und einer postmigrantischen Perspektive, wie sie Yildiz (2015) vertritt. Neben dieser spezifischen Leistung, die besonders Migrant_innen oder deren Kinder vollbringen, da bei ihnen die Wahrscheinlichkeit besonders hoch ist, mit mehreren kulturellen Hintergründen konfrontiert zu werden, zeigen die Beispiele auch ganz allgemein, dass Biografie stets mit biografischer Tätigkeit zusammenhängt: Sie ist die aktive Gestaltung des Lebens. Biografie Bis hierher wurden die Begriffe „Lebenslauf“ und „Lebensgestaltung“ besprochen. Damit ist das „reale“ Leben von Menschen gemeint, das allerdings stets flüchtig bleibt. Lebenslauf ist also eher ein idealtypischer, wenig greifbarer Begriff. Biografie dagegen meint das niedergeschriebene oder das erzählte Leben, also eine retrospektiv ausgelegte Lebensgeschichte, die sich in Textmaterial manifestiert. Sie findet einerseits durch den Filter der Rückschau auf einer höheren

2

Der „dritte Stuhl“ ist eine Metapher dafür, dass zwischen zwei Stühlen zu sitzen nicht gleichbedeutend ist mit „im leeren Raum“ zu bleiben bzw. ohne Zugehörigkeit zu sein.

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Abstraktionsebene als der Lebenslauf statt, andererseits ist sie konkreter als dieser flüchtige Lebenslauf: Sie hat den Vorteil, sich überhaupt als Datenkorpus zu manifestieren. Dass sich die Biografie systematisch vom wirklich erlebten und gelebten Leben unterscheidet, wurde schon bei der Beschreibung von Oevermanns Modell deutlich, das „I“ und „me“ als Entscheidungsinstanzen des Selbst trennt. Vergangene Entscheidungen werden demnach erst nach dem Eintreffen ihrer Konsequenzen reinterpretiert. Im Moment der Entscheidung selbst – und dies gilt besonders im Fall von Neuorientierungen – lag unter Umständen zwar die Motivation zur Handlung offen, die Begründung für die eine einzige, tatsächlich vollzogene Entscheidung war aber mangels Einblick in die zukünftigen Folgen rational noch gar nicht möglich. Insofern liegt es auf der Hand, dass Biografien stets Geschichten des Vergangenen aus der Perspektive und den angehäuften Erfahrungen des Jetzt sind. Die Herausgeber_innen von „Biografische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess“ (Bukow et al. 2006) charakterisieren biografische Konstruktionen, ausgehend von der Begriffstradierung, anhand dreier konstitutiver Merkmale: „Erstens hat man […] erkannt, dass das biographische Format unentrinnbar konstruktivistisch ausgerichtet ist. […] Das Format erzeugt überhaupt erst die Realität, die es wiederum formatiert. […] Zweitens hat man auch bald erkannt, dass das biographische Format auf drei unterschiedlichen Ebenen organisiert werden kann: auf der Ebene des Lebenslaufs, der biographischen Erzählung bzw. eines curriculum vitae und der Biographieforschung als eine Analyse biographisch zentrierten Erzählens. Drittens wird dann sehr schnell klar, dass der gesellschaftliche Kontext, in dem das Format jeweils Verwendung findet, von entscheidender Bedeutung ist.“ (Ebd.: 10, Hervorh. i. Orig.)

Alle drei Merkmale wurden in der vorliegenden theoretischen Auseinandersetzung schon explizit gemacht. Der erste im Zitat genannte Punkt – die Biografie als Konstrukt – soll hier aber noch einmal betont werden: Die zitierten Autor_innen sprechen von „doing biography“ (ebd.: 11). Dies betrifft ganz maßgeblich die Biografieforschung, nicht zuletzt deshalb, weil die Rekonstruktion der Biografie von ihrer Gestalterin oder ihrem Gestalter in der Interviewsituation auf ganz besondere Weise erzählt wird und später durch die wissenschaftliche Aufarbeitung noch eine zweite Stufe der Interpretation erfolgt. Wichtig bei beiden Interpretationsstufen ist, dass penibel auf die Zeitebenen geachtet werden muss. So wird zwar die Vergangenheit rekonstruiert, aber immer aus dem Blickwinkel der gegenwärtigen Situation (Bukow/Spindler 2006: 26). „In seinem [Peter Alheits, Anm. HB] Begriff der Biographizität verbirgt sich die These, dass eine Biographie stets einen

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retrospektiven Entwurf darstellt – ein Entwurf, der sich dem Augenblick der Entstehung des Entwurfs verdankt.“ (Ebd.) Das Konzept der Biografizität wird im folgenden Teilkapitel besprochen. Was den dritten Punkt betrifft – die Rückbindung an gesellschaftliche Bedingungen –, so verfolgt die vorliegende Arbeit zunächst einen Ansatz, der die Beschreibung von Lebensläufen und die Erklärung bestimmter Entscheidungen auf individuelle Gründe und auf gesellschaftliche Kontexte zurückführt. Im Umkehrschluss wird das einzelne Leben dann auch zum Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit und ist in der Lage, diese zu beschreiben. „In jedem Fall ist es ein Konstrukt, das über die Partikularität des Einzelfalls hinausweist“ (Alheit 2009: 21). Das Konstrukt hängt auch vom unmittelbaren Kontext ab, in dem es produziert wurde. Ein Jugendlicher wird, wenn er sich um eine Lehrstelle bewirbt, seinen schulischen und beruflichen Werdegang im Lebenslauf zusammenfassen. Derselbe Jugendliche, wenn er delinquent wird, präsentiert in einer Gerichtsverhandlung dagegen seine kriminelle Geschichte, wenn ihn die Richterin oder der Richter danach fragt (Beispiel aus Bukow/Spindler 2006: 32). Im hier verfolgten Vorhaben sind die beruflichen Werdegänge der Anlass für die Interviewsituation – so ist zu erwarten, dass die Befragten ihre Biografien an ihren Berufsgeschichten ausrichten werden. Wird aber nach Einschnitten oder Krisen im Leben gesucht, die Bildungsprozesse veranlassen können, welche aber gerade nicht direkt mit dem Beruf zu tun haben (beispielsweise könnte die Geburt eines Kindes so ein Einschnitt sein, der einen jungen Vater auch eine berufliche Weiterentwicklung anstreben lässt), so kommt man nicht umhin, andere Kontexte auch zu erfragen. Solche Kontexte können beispielsweise die familiäre Situation, die Migrationsgeschichte, aber auch Diskriminierungserfahrungen sein. Bukow und Spindler bezeichnen diese Kontexte als Ordnungssysteme, die sich aus einem hermeneutischen Bündnis in der Interviewsituation zwischen Interviewer oder Interviewerin und Befragtem oder Befragter ergeben bzw. sich von den Beteiligten sensibel gestalten lassen. Biografizität Dem Konzept der Biografizität3 (Alheit 2006) liegt der Begriff der modernen Biografie zugrunde. Deren Etablierung als „Lebenslauf des Einzelnen, des konkreten Subjekts“ hatte ihren Anfang im späten 18. Jahrhundert (ebd.: 2) und liegt nicht zufällig in zeitlicher Nähe zum Aufkommen des klassischen Bildungsbegriffs, der

3

Der Begriff geht ursprünglich auf Martin Kohli (1988) zurück.

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sich auch um die Entwicklung der Persönlichkeit des Individuums drehte. Alheit unterscheidet ein früheres, vormodernes Verständnis von Biografie von dieser jüngeren Lesart. So war Biografie zunächst der starre Rahmen, der je nach gesellschaftlicher Funktion des Biografieträgers oder der Biografieträgerin idealtypisch ausgefüllt wurde. Eine sehr strenge, eindimensionale Auslegung des Begriffs des Lebenslaufsregimes könnte diese Lesart widerspiegeln. Biografie war in diesem Sinne nicht mit (individueller) Entwicklung verknüpft. In einer modernen Auffassung kann dagegen von einer „Identität-für-sich“ (ebd.) geredet werden, bei der die Trägerin oder der Träger nicht länger vorgegebene Verhaltensmuster stets aufs Neue reproduziert oder zugewiesene Plätze im Geflecht gesellschaftlicher Teilbereiche belegt, sondern in einem kontinuierlichen Lernprozess sich seiner einzigartigen Identität stets neu versichert. Biografizität und Individualisierung Eine historische Voraussetzung für diese moderne Auffassung von Biografie liegt in der längeren Lebenserwartung, so Alheit, die eine gewisse Sicherheit und Planbarkeit des Lebens zur Folge hat. Ein weiteres wesentliches Argument, das Alheit für das Konzept anführt, liegt darin, dass es zwar Handlungsbeschränkungen durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Normalitätserwartungen gibt, aber dennoch die stets große Bandbreite an alternativen Entscheidungsmöglichkeiten einen Sinnüberschuss erzeugt. Dieser Sinnüberschuss ist eine Folge der nicht gewählten Alternativen, die nach einer Entscheidung immer unerfüllt bleiben müssen: „Dabei hat niemand von uns alle denkbaren Möglichkeiten. Aber im Rahmen begrenzter Veränderungschancen haben wir mehr Alternativen, als wir jemals realisieren werden.“ (Ebd.: 5) Und weiter: „Wir sind in gewissen Grenzen […] durchaus ‚autopoietische Systeme‘. Wir haben die Chance, die Sinnüberschüsse unserer Lebenserfahrung zu erkennen und für eine bewusste Veränderung unseres Selbst- und Weltbezuges nutzbar zu machen.“ (Ebd.) Alheit betont in seiner Auslegung von Biografizität die Individualisierung in Verbindung mit dadurch entstehenden Gestaltungsmöglichkeiten. Restriktive gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind in seinem Ansatz zunächst eher als Chance relevant: als Chance, sie zu überwinden. Ein Merkmal von weitgehender Entscheidungsfreiheit ist demzufolge auch die potentielle Infragestellung bestehender gesellschaftlicher Normalität. Durchbrechen Einzelne ihre alltäglichen Routinen und ersetzen sie durch abweichendes Verhalten, so hat dies „durchaus soziale Sprengkraft“ (ebd.: 5). Die beiden Seiten von Biografie – individuelle Entwicklung und Rückwirkung auf die Gesellschaftsstruktur – sind also Grundlage für das Konzept der Biografizität. Biografizität bedeutet, sein Leben individuell selbst zu gestalten, und sie ist die innere Seite einer individualisierten Gesellschaft (Beck 1986). Sie kann daher als

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moderner Vergesellschaftungsmodus bezeichnet werden. Gleichzeitig ist mit Biografizität aber auch eine spezielle Kompetenz gemeint, die es dem Einzelnen ermöglicht, äußere Einflüsse („inputs“, ebd.: 6) in den je persönlichen Lebens- und Erfahrungskontext zu integrieren und dadurch zu einem je individuellen Sinn auszudeuten. Der Begriff lässt sich durch dieses Merkmal umstandslos in das hier ausgelegte Verständnis von Bildungsprozessen übertragen. Biografizität und gesellschaftliche Rahmenbedingungen „Die meisten von uns haben das sichere Gefühl, ihr Leben ‚in der Hand‘ zu haben“ (ebd.: 5), schreibt Alheit in Bezug auf die Freiheit bei der Gestaltung der eigenen Biografie. Der springende Punkt, den das Zitat unerwähnt lässt, ist, dass neben der Autonomie, Entscheidungen frei treffen zu können, äußere und innere Zwänge handlungsleitend wirken. Äußere Zwänge können in desintegrativen gesellschaftlichen Mechanismen wie der Diskriminierung von Minderheiten oder in unterschiedlichen Zugängen zu Ressourcen liegen. Innere Zwänge liegen in verinnerlichten, sozialisierten oder enkulturierten Bedürfnissen und Präferenzen (beispielsweise Bourdieu 1987). Bukow (1996) legt seinem Verständnis von Biografizität dasselbe gesellschaftstheoretische Konstrukt wie Alheit zugrunde – eine zunehmend individualisierte Gesellschaft im Sinne Becks (Bukow/Spindler: 27) – und beschreibt Biografizität ebenfalls als Vergesellschaftungsmodus der selbstreflexiven Moderne. Allerdings betont er konzeptionell die Perspektive der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stärker. Diese bestimmen den Grad an Akzeptanz, den eine Gesellschaft verschiedenen biografischen Realisierungen entgegenbringt. Bukow stellt heraus, dass gerade nicht alle Gesellschaftsmitglieder dieselben Chancen auf „strukturelle Koppelung“ (Bukow 1996: 109) an die Gesellschaft haben. Dieser Spagat zwischen individualisierter Biografie und begrenzender gesellschaftlicher Rahmung ist konzeptuell nicht einfach zu meistern. Dies zeigt ein Beispiel, das Bukow in „Feindbild Minderheit“ beschreibt. Es handelt sich dabei um eine Clique von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (nicht um die Gruppenmitglieder als einzelne Subjekte!) und ihre durch das Kollektiv geprägten Handlungen. Durch die Erklärung des Verhaltens der Jugendlichen als Mitglieder der Gruppe entindividualisiert Bukow seinen Ansatz. Gerade dieser Widerspruch allerdings rückt Bukows Zugang in die Nähe der vorliegenden Arbeit. Durch eine Drehung des Blickwinkels auf den Begriff der individualisierten Gesellschaft lässt sich das Dilemma lösen: Die Herausgeber_innen von „Biografische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess“ (Bukow et al. 2006), zu denen auch

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Wolf-Dietrich Bukow gehört (!), beschreiben als Kontext der zunehmenden Bedeutung von Biografie weniger die Freiheit, die aus der zunehmend individualisierten Gesellschaft resultiert, als vielmehr den Druck, den diese auf ihre Mitglieder auswirkt: „In einer funktional differenzierten und radikal individualisierten Gesellschaft scheinen sich die Situationen enorm ausgeweitet zu haben, die uns permanent zu biographischen Entscheidungen zwingen.“ (Ebd.: 11) Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte erfüllt daher auch den Zweck, die Unsicherheiten einer Risikogesellschaft auszugleichen, indem Weichenstellungen in einen in sich schlüssigen Sinnzusammenhang gebracht werden – der freilich selbst erst rückblickend in das eigene Leben hineininterpretiert oder überhaupt erst konstruiert wird. Biografizität und Anerkennung Biografizität im Sinne Alheits und Bukows verweist auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Sie sprechen der Wirkmacht der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf individuelle Entscheidungen einen unterschiedlichen Stellenwert zu. Alheit entlehnt der Gehirnforschung den Begriff der Perturbation als treibende Kraft für Entwicklungen (Alheit 2006: 6). Er geht aber nicht näher auf Anlässe in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein, die für solche Perturbationen sorgen können. Auch Bukow, der gesellschaftlichen Bedingungen eine größere Wichtigkeit beimisst, geht nicht näher auf die Art ihrer Einflussnahme auf die Einzelnen ein. Beide legen ihren Ansätzen Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ (1986) zugrunde. Im Kapitel „Gesellschaft und Handeln“ wurde für die hier vorliegende Arbeit schon die grundsätzliche Entscheidung getroffen, Gesellschaft als durch das Wechselspiel zwischen sozialen Gruppen, Hierarchien und Ordnungen bedingt zu verstehen, und im Kapitel „Zugehörigkeiten zwischen Selbstbestimmung und Fremdzuschreibungen“ wurden Formen derartiger Wechselspiele detailliert beschrieben. Anders als bei Bukow und Alheit ist nicht Becks „Risikogesellschaft“ die grundlegende Gesellschaftstheorie – obwohl an einer zunehmenden Individualisierung europäischer, spätmoderner Gesellschaften nicht gezweifelt werden soll –, sondern Biografizität soll hier an Honneths Anerkennungstheorie adaptiert werden. Dies impliziert eine stärkere Gewichtung von gefährdeten Anerkennungserfahrungen, die biografische Tätigkeit motivieren können, und spricht dadurch auch die besondere Bedeutung von sozialen oder kulturellen Gruppen an. Dabei ist zu beachten, auf welche Weise sich Gruppen formieren, welchen Einfluss die Mitglieder selbst auf die Teilhabe an diesen Gruppen haben und wie die (Nicht-)Zugehörigkeit selbst einen Einfluss auf soziale Wertschätzung – im Sinne der Honneth’schen dritten Anerkennungsdimension – hat.

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Das Individuum erlebt als Einzelnes die Folgen dieser Wechselspiele, gesellschaftsverändernd wirken Handlungen Einzelner aber erst, wenn sie im Kollektiv zur Realität werden oder wenn sich Gruppen neuen Mitgliedern öffnen. Vor diesem Hintergrund soll das Konzept der Biografizität ausgelegt werden. Das Reagieren auf Krisen mit „neuen“ Handlungen geschieht angesichts gesellschaftlicher Strukturen, die Einfluss auf die Entscheidungen und Handlungen der Subjekte haben. Dieser Einfluss kann direkt sein, z.B. limitiert durch einen eingeschränkten Zugang zu Ressourcen (hierzu besonders die Kontroverse in Honneth/Fraser 2003), oder indirekt durch einen milieuvermittelten Habitus. Entscheidungsspielräume, die auf dieser Ebene variieren, beschreiben Dausin und Mecheril in „Normalität und Biografie“ (2006) näher. Neben dem Zugang zu Ressourcen, auf materieller Ebene, ist Normalität, auf diskursiver Ebene, der Referenzrahmen, der Entscheidungsfreiheit beeinflusst. Kurz gesagt: Menschen mit weniger Ressourcen haben weniger Entscheidungsspielraum und sind innerhalb ihres Milieus auf die normative Referenz des akzeptierten Verhaltens angewiesen. Dausien und Mecheril unterscheiden in ihrem Artikel zwei Formen von Normalität: die dominante und lokale Normalität. Mit dominanter Normalität meinen sie gesellschaftliche Hegemonie, während sich lokale Normalitäten auf regionale Referenzen beziehen. Die oben beschriebenen Konzepte von Bildung und Gesellschaft legen auch nahe, die Rückwirkungen von Handlungen der „Biografiegestalter_innen“ in Hinblick auf die bestehende gesellschaftliche Ordnung mit zu berücksichtigen. Rückwirkungen sind möglich durch die Vermehrung von materiellen Ressourcen, also durch den sozialen Aufstieg der Akteur_innen, oder durch die Veränderung einer symbolischen Ordnung, die sich in der Gestaltung von Scripts niederschlagen kann. Die Ebene der dominanten Normalität kann mit dem hier angewendeten Forschungsdesign nur schwer nachvollzogen werden. Relevanter für den hier praktizierten Zugang sind lokale Normalitäten, die sich beispielsweise in den genannten symbolischen Ordnungen bzw. in Scripts äußern können. Direkt kann nach der subjektiven Wahrnehmung der Unternehmer_innen gefragt werden, die sich auf lokale Normalitäten beziehen. Das Biografizitätskonzept soll hier in diesem Sinne angewendet werden. Zusammenfassung Im Kapitel „Lebensgestaltung und Biografie“ wurden verschiedene Differenzierungen getroffen, die für die analytische Rekonstruktion von Bildungsprozessen im Alltag nötig sind. Dies ist zum einen die Unterscheidung zwischen dem theoretischen Begriff des Lebenslaufs, der sich in seiner Flüchtigkeit schwer fassen lässt, und dem Begriff der Biografie, die als Erzählung zwar manifest wird, sich

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aber gleichzeitig als Konstrukt herausstellt. Der Lebenslauf kann chronologisch anhand von Statuspassagen strukturiert werden und er kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Raiser nennt die Makro-, die Meso- und die Mikroebene. Zwar schenkt er der Makroebene, auf der Lebenslaufregime angesiedelt sind, besondere Beachtung. Diese können in einer spätmodernen Gesellschaft mit einem relativ hohen Grad an Individualisierung aber nur in Form vager Normalitätserwartungen zur Analyse herangezogen werden. Dennoch wurde bei der Vorstellung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die mitunter innovative Identitäten entwickeln müssen, klar, dass Normalitätserwartungen durchaus eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung des Lebensentwurfs spielen können – eben dann, wenn die Entwürfe diesen nicht entsprechen. Hiermit ist auch das Merkmal der Tätigkeit angesprochen: Menschen gestalten ihre Leben aktiv. Anstatt der Formulierung Lebenslauf bietet sich daher der Begriff der Lebensgestaltung an. Biografie wird auf mehreren Ebenen konstruiert. Zunächst handelt es sich um einen retrospektiven Entwurf, der vergangene Entscheidungen aus der Perspektive der Gegenwart in einen Sinnzusammenhang stellt. Biografie ist auch durch die Kontexte und Ordnungssysteme konstruiert, die sich aus der Fragesituation, dem Forschungsthema und der Beziehung zwischen Interviewer/in und Interviewpartner/in ergeben. Die Interviewsituation ist konstitutiv für das „Produkt Biografie“, das gemeinsam zwischen den Gesprächspartner_innen entwickelt wird. Einzelne Biografien werden außerdem als Produkte betrachtet, die aus dem Wechselspiel zwischen Gesellschaft, Gruppen und individuellem Werdegang heraus erklärbar sind. Das bedeutet auch, dass sie als kleine Einheiten von Gesellschaft angesehen werden können, die dann im Umkehrschluss aus den Biografien heraus erklärbar gemacht werden kann. Eine Bedingung dafür ist die Beschreibung des Forschungsgegenstands, der gleichzeitig den gesellschaftlichen Rahmen verkörpert, in den später die Biografien der türkischstämmigen Unternehmer_innen eingebettet werden sollen. Das Konzept Biografizität geht maßgeblich auf Alheit zurück und wird außerdem prominent von Bukow vertreten. Im Wesentlichen sind die hier beschriebenen Charakteristika von Biografie auch für den Begriff der Biografizität zutreffend. Das Konzept geht über den Biografiebegriff hinaus, indem es zum einen eine Kompetenz bezeichnet, die eine zunehmend individualisierte Gesellschaft nötig macht, und die durch aktive Gestaltung der eigenen Biografie eine relative Sicherheit in einer Welt bietet, die mehr und mehr von individuellen Risiken durchzogen ist. Biografizität wirkt gleichzeitig gesellschaftskonstitutiv. In diesem Punkt wird das Konzept allerdings an die hier präferierte Gesellschaftstheorie angeschlossen, denn es wird davon ausgegangen, dass gesellschaftliche Veränderung – auch bei zunehmender Individualisierung – entlang der Positionierung von sozialen oder

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kulturellen Gruppen angelegt ist. Dabei ist nicht gesagt, dass diese Gruppen als feste Größen aufzufassen wären, vielmehr kommt gerade auch – mitunter spannungsgeladenen – Prozessen von Selbstverortungen und Fremdzuweisungen eine zentrale Bedeutung bei der Veränderung von Gesellschaft zu. Diese Beschreibung und Differenzierung des Begriffsfeldes um den Begriff „Biografie“ stellt die Grundlage für die Ausarbeitung der Forschungsmethode dar. Zunächst aber werden einige aktuelle Zugänge zum Thema Biografieforschung vorgestellt, die methodisch in die Auswertung der Interviews mit Unternehmer_innen einfließen.

BILDUNGSTHEORETISCH FUNDIERTE BIOGRAFIEFORSCHUNG Einen Überblick über die zeitgenössische deutschsprachige bildungstheoretisch fundierte Biografieforschung gibt der Sammelband „Lebensgeschichte als Bildungsprozess? Perspektiven bildungstheoretischer Biographieforschung“ (Koller/Wulftange 2014). In diesem Band analysieren verschiedene Autor_innen jeweils dasselbe narrative Interview mit einem jungen Mann. Der Interviewte ist ein 22-jähriger Student der Medizintechnik, dessen Eltern beide aus der Türkei stammen. Sein Name wird anonymisiert, er wird Hakan Salman genannt. Dass er über eine (indirekte) Migrationserfahrung verfügt, kommt dem hier zu besprechenden Ansatz entgegen, weil in einigen Beiträgen des Bandes rassistische Erfahrungen für Bildungsprozesse eine Rolle spielen. Freilich ist dieser Umstand keine Bedingung, da – neben den migrationsbedingten – vor allem allgemein gültige Erkenntnisse herausgearbeitet werden, die auf alle Bildungsprozesse zutreffen. Die Autor_innen betrachten dasselbe Interview in ihren Beiträgen dann aus je unterschiedlichen Forschungsperspektiven und theoretischen Zugängen heraus. Koller und Wulftange, die Herausgeber des Sammelbandes, formulieren in der Einleitung den Anspruch, Bildungsforschung und Bildungstheorie zusammenzuführen. In der pädagogischen Tradition ist dieser Versuch keineswegs selbstverständlich. Allzu oft, so die Autoren, existieren beide Zweige unabhängig voneinander: Bildungstheorie als philosophische Fassung normativer Vorgaben für pädagogisches Handeln einerseits und Bildungsforschung als empirisches Vorgehen andererseits, das mitunter zu wenig auf die theoretische Fundierung des Bildungsbegriffs, hauptsächlich seine normative Setzung eingeht. Auch in diesem Punkt trifft das Anliegen des Sammelbands die Überlegungen der vorliegenden Arbeit.

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Drei Hauptfragen stellen Koller und Wulftange, die den Hintergrund für die Textsammlung darstellen und die hier in etwas kürzerer Form wiedergegeben werden (Koller/Wulftange 2014: 9): 1.

2. 3.

Wie können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von einer qualitativempirischen Bildungsforschung berücksichtigt werden und wie können neben Transformationen der Selbstverhältnisse auch die Weltverhältnisse in die Analyse miteinbezogen werden? Wie kann empirisches Material dazu verwendet werden, zur Theorieentwicklung beizutragen? Wie können die normativen Implikationen des Bildungsbegriffs im Zuge der Forschung berücksichtigt werden? Sind Bildungsprozesse überhaupt Bildungsprozesse, wenn sie keine wünschenswerten Transformationen hervorbringen?

Alle drei Fragen sind für die vorliegende Arbeit relevant. Sie wurden daher schon in der Einleitung als forschungsleitende Fragen vorgestellt. Die erste Frage wurde dahingehend entschieden, individuelle Bildungsprozesse als kleinste Bestandteile von gesellschaftlicher Entwicklung zu betrachten, die mithilfe der Anerkennungstheorie beschrieben werden kann. Die Transformation der Weltverhältnisse zeichnen sich hauptsächlich in kommunikativen Situationen ab, die Auswirkungen auf die symbolische Ordnung haben. Die Beantwortung der zweiten Frage wird sich entlang der Interpretation des empirischen Materials entwickeln. Es kann hier schon gesagt werden, dass die Ergebnisse zentrale Fragestellungen der Anerkennungstheorie ein Stück weit ergänzen. Die dritte Frage schließlich kann ebenfalls unter Rückgriff auf die Anerkennungstheorie diskutiert werden, die ganz ähnliche Implikationen aufweist wie Deweys Erfahrungslernen. Bei beiden geht es darum, eine gute Gesellschaft in dem Sinne zu entwickeln, dass es zu einem höheren Grad an sozialer Integration, das heißt, an einem vertieften Miteinander von verschiedenen sozialen Gruppen kommen soll. Ob die hier zu diskutierenden Bildungswege diese Bedingung erfüllen, wird noch zu zeigen sein. Im Folgenden werden vier der Zugänge, die für die vorliegende Forschung besonders aussagekräftig erscheinen, vorgestellt und auf ihren hier verwertbaren Gehalt hin fokussiert zusammengefasst. Es handelt sich dabei um die Beiträge von Arnd-Michael Nohl, Hans-Christoph Koller, Nadine Rose und Janina Zölch.

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Wissenspfade Einen im Kontext des vorliegenden Vorhabens eher ungewöhnlichen Zugang wählt Arnd-Michael Nohl (2014), der sich weniger auf die Suche nach krisenhaften Einschnitten macht, die den Protagonisten zu Bildungsprozessen veranlassen, als vielmehr den Begriff des Wissenspfads vorzuschlagen, der eine gewisse Kontinuität impliziert. Mit diesem Begriff versucht er, die Auswahl an möglichen Anschlusshandlungen an neue äußere Bedingungen zu präfigurieren. Damit setzt seine Auseinandersetzung an dem Punkt an, der hier zugunsten von Oevermanns Überlegungen entschieden wurde: Einerseits sind es gesellschaftliche Normen, die eine offene Anzahl von Anschlusshandlungen eingrenzen, zum anderen sind es innere Folgerichtigkeiten, die hier mit Habermas’ Begriff der „Kausalität des Schicksals“ beschrieben wurden, wiewohl ergänzt um äußere Einflüsse, die die selbstreferentielle Entwicklung des Individuums ergänzen. Es wird nun zu zeigen sein, inwieweit sich der Begriff des Wissenspfads in die bestehende Theorie integrieren lässt. Die Grundlage des Wissenspfads ist der Terminus „Pfadabhängigkeit“, der auf die Ökonomen Arthur und David zurückgeführt werden kann (Nohl 2014: 178). Mit Pfadabhängigkeiten sollten ursprünglich Erklärungen für den Erfolg von Technologien gefunden werden, die sich gegen vermeintlich effizientere Konkurrenzprodukte am Markt durchsetzen. Der Ablauf dieses Sichdurchsetzens am Markt beginnt üblicherweise mit Zufällen bzw. durch „small events“ (ebd.: 179). Wichtig ist, dass in diesem Moment gleichzeitig der Beginn eines Pfades liegt, der die weitere Entwicklung prädisponiert und die Realisierung anderer Entwicklungsmöglichkeiten nach und nach unwahrscheinlicher macht. Im Laufe der Zeit verfestigt sich der Pfad durch Selbstverstärkungseffekte, und zwar so lange, bis er nur noch unter hohen Kosten aufgegeben werden kann. „Hiermit wird das Beibehalten einer ‚ineffizienten Technologie‘ und die Unmöglichkeit des ‚Wechsels zu einer effizienteren Technologie‘ erklärt“ (ebd.). Die Hauptkritik an diesem Modell geht dahin, dass es zu absolut argumentiert und Institutionen, die vor allem am Anfang des Pfades schon Einfluss nehmen, vernachlässigt werden. Nohl seinerseits kritisiert an dem ökonomisch begründeten Modell, dass es nicht in der Lage ist, die Ursprünge von Pfaden zu rekonstruieren, da es schon von vornherein nur auf Technologien oder Institutionen achtet, nicht aber auf „einzelne Wissensbestände, die für die Entstehung einer Technologie bedeutsam sind, oder auch noch nicht reziprok typisierte habituelle Handlungen“ (ebd.: 180). Nohl versucht hier gewissermaßen diejenigen Abläufe sichtbar zu machen, die vor dem im Kontext von Pfadabhängigkeit üblichen Rahmen der technologischen oder institutionellen Entwicklung passieren. Dafür verwendet er den Begriff des Wissenspfads. „Ein

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Wissenspfad bezeichnet nun einen Rahmen, innerhalb dessen Probleme und Aufgaben auf eine spezifische (und nicht eine andere) Weise wahrgenommen, bearbeitet und gelöst werden.“ (Ebd.: 181) Nohl illustriert die Bedeutung des Wissenspfads anhand des Beispiels des Interviews mit Hakan Salman. Der Beginn des dort identifizierten Wissenspfads liegt im Gespräch des Grundschülers Hakan mit seiner Lehrerin, die ihm einen neuen Platz im Klassenzimmer zuweist. Saß er vorher im Umkreis seiner „türkischen Clique“, so ist sein neuer Nachbar ein Junge aus einem deutschen, akademischen Milieu. Die beiden freunden sich an und lernen gemeinsam, so dass Hakan bald bessere Noten erzielt und er in seinen Lernambitionen von seinem neuen Freund angesteckt wird. Er entwickelt schließlich – durch selbstverstärkende Effekte – so viel Ehrgeiz, dass er bis zum Fachabitur und zu einem Studium kommt. Nohl interpretiert diese Abfolge als Pfad, der mit dem Gespräch zwischen Lehrerin und Schüler gelegt wurde und alle folgenden Entscheidungen und Entwicklungen beeinflusste. Letztlich ist es eine Entscheidung für eine bestimmte Theorie, die das Geschehen auf eine bestimmte Weise interpretieren lässt. Das hier präferierte Verständnis würde das Schüler-Lehrerinnen-Gespräch in der Grundschule eher als Krise bewerten, die Hakan in eine neue, ihm unbekannte Situation (der neue deutsche Sitznachbar) führte, die er durch neues Handeln bewältigen musste. Alles Handeln danach – das sich an einer positiven Einstellung gegenüber der Institution Schule orientiert – ist demzufolge kein neues Handeln. Es folgt vielmehr dem bewährten einstmals neuen Handeln, das in der Grundschule etabliert wurde. Dennoch hat Nohls Zugang den Vorzug, zeigen zu können, wie weit eine solche neue Situation und der Umgang mit ihr reichen können. Krisen und ihre Bewältigung, die vor langer Zeit geschahen, können noch weit später einen Einfluss auf das Handeln haben. Eine wesentliche Erkenntnis, die hier zur Anwendung kommen kann, ist dann die, dass es nicht nur aktuelle Ereignisse sein müssen, die den Gang in die Selbständigkeit nach sich ziehen, sondern dass die Präfiguration dazu schon weit in der Vergangenheit liegen kann. Subjektivation und Anrufung Koller (2014) wählt in seinem Beitrag einen weiter gefassten Begriff von Bildung als Nohl, der in seinem Beispiel eher einen Ausschnitt aus einer breiter angelegten Bildungstheorie beschreibt. Ein Vorteil von Nohls Zugang liegt darin, dass er sich konkret in einem empirischen Forschungsvorhaben anwenden lässt. Inwieweit dies bei Kollers Ansatz möglich ist, soll im Folgenden gezeigt werden.

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Wenn Koller die Erzählung Hakans betrachtet, so interpretiert er sie „als die Geschichte der Konstitution und Transformation eines Subjekts in seinem Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selber“ (ebd.: 217 f.). Nun wurde die Entscheidung zugunsten von Kollers transformatorischen Bildungsprozessen getroffen und die Theorie wurde schon präsentiert. Dennoch soll hier noch einmal darauf eingegangen werden, weil ein wichtiges Augenmerk nun auf dem Begriff der Subjektivation in Anlehnung an Judith Butler liegt, der für die folgende Auswertung der Interviews bedeutend sein wird. Im Akt der „Anrufung“ wird der Angerufene zum Subjekt und er wird zugleich dem Subjekt der Macht, das ihn anruft, unterworfen. Ein Beispiel, das Anrufung beschreibt, ist der Polizist, der einen Passanten mit „Hey, Sie da!“ anruft. Der Angesprochene dreht sich um und unterwirft sich dadurch der Macht des Polizisten. Zugleich wird er auch zum Subjekt, das aus der intersubjektiven Situation heraus entsteht. Dies ist allerdings lediglich das neu geschaffene Fundament des wechselseitigen Verhältnisses und gerade dadurch, dass der Betroffene zum Subjekt einer Situation gemacht wurde, wurde er in die Lage versetzt, sich subversiv dagegen zu wenden. In der später folgenden Interpretation der Interviews werden sich Beispiele finden, in denen der Interviewer seinen Interviewpartner bzw. seine Interviewpartnerin durch eine Frage „anruft“. Dies ist insbesondere da der Fall, wo durch die Frage Differenzlinien eingeführt werden, die die Angesprochenen einer bestimmten Gruppe oder einer bestimmten Eigenschaft zuweisen. Der Umgang mit diesen Anrufungen ist dann höchst unterschiedlich. Ein weiterer Aspekt des Vorgangs liegt in der Wiederholung der Anrufung. Da jede weitere Wiederholung eine stets neue Situation hervorbringt, die denselben Begriff der Anrufung („Sie da!“) in einen stets neuen kommunikativen Kontext einbettet, verschiebt sich allmählich die Bedeutung des Begriffs. Auf diese Weise kann ein Bildungsprozess sichtbar gemacht werden. „Möglichkeitsbedingung transformatorischer Bildungsprozesse ist nach Butler also die iterative Struktur von Sprechakten, die mit der Möglichkeit der Resignifizierung, d.h. der verändernden Wiederholung einer Anrufung durch die Macht und damit auch eines (potenziell widerständigen) Handelns einhergeht.“ (Ebd.: 222)

Dieser Grundgedanke ist zentral für die Interpretation von Begriffen, die in ein und derselben Erzählung mit immer neuen, teils eher denotativen, teils konnotativen, metaphorisch aufgeladenen Bedeutungen verwendet werden. Ohne hier näher auf Kollers empirisches Beispiel eingehen zu wollen, soll doch eine Schlussfolgerung betont werden. Koller kommt in seiner Interpretation zum Ergebnis, dass „ein Bildungsprozess beim Protagonisten stattgefunden hat,

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obwohl die kritische Reflexion eigener Positionen sowie gesellschaftlicher Machtverhältnisse“ (ebd.: 234), die oft als Bedingungen von Bildungsprozessen genannt werden, hier nicht gezeigt werden konnten. Zu dieser Entscheidung trägt bei, so Koller, dass „in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung eine Tendenz besteht, die Messlatte für die Attestierung eines Bildungsprozesses so hoch zu hängen, dass sie nur ausgesprochen selten übersprungen werden kann“ (ebd.).

Auch Koller verweist auf den allmählichen Charakter des hier stattfindenden Bildungsprozesses, wenngleich er die Ereignisse anders gliedert. Bei ihm sind es drei Schlüsselerlebnisse, die die Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses von Hakan Stück für Stück formen. Anders als bei idealtypischen, punktuell stattfindenden Krisen und Neuorientierungen bedeutet diese Interpretation, dass ein Bildungsprozess „in einer unscheinbaren, aber dennoch wirkungsvollen Perspektivenverschiebung bestehen kann“ (ebd.: 236). Metaphern Rose (2014) stellt in ihrem Beitrag eine Metapher ins Zentrum der Interpretation von Hakan Salmans Erzählung. Er redet an zwei Stellen seiner Erzählung vom „Katz-und-Maus-Spiel“. Das erste Mal berichtet er über eine Situation, in der er seine Angst vor dem Vater zum Ausdruck bringt, der die Mutter geschlagen hatte und von dem sich die Familie schließlich trennte. Das zweite Mal verwendet er die Metapher am Ende seiner Geschichte in Bezug auf die Schwierigkeiten, die er beim Lernen immer hatte und die er erfolgreich bewältigen konnte. Rose zieht ebenfalls Butlers Konzept der Subjektivation4 heran und stellt dann Hakans Migrationsgeschichte und die potentielle Diskriminierbarkeit in ihrer Interpretation in den Vordergrund. Die Anrufung, der sie nachgeht, legt Hakan als „Migrationsanderen“ fest (Rose 2014: 240) unter Bezugnahme auf Mecheril). Zentral ist die Verknüpfung des Konzepts der Anrufung mit dem Begriff des Rassismus, wie ihn Stuart Hall und Paul Mecheril führen. Die Subjektivierung von Migrationsanderen als Personen, die sich in irgendeiner Weise in Relation zum Mächtigen, Anrufenden verhalten müssen, macht sie potentiell zu Objekten der Diskriminierung: Sie sind dadurch rassistisch diskriminierbar, ohne dass es zu realen Diskriminierungen kommen muss. Diese Einschätzung ähnelt dem Begriff des Stigmas, wie ihn

4

Rose bevorzugt den Begriff Subjektivierung gegenüber Subjektivation.

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Goffman führt, das den Stigmatisierten ebenfalls immer abverlangt, sich auf irgendeine Weise zu ihrem Stigma zu verhalten. Auch hier kommt ein Machtungleichgewicht zwischen Stigmatisierenden und Stigmatisierten zum Tragen. In Hinblick auf die zweimalige Verwendung einer Katz-und-Maus-Metapher weist Rose, wie schon Koller, auf die Bedeutungsverschiebung ein und desselben Begriffs durch Iteration, also die neue Kontextualisierung der rhetorischen Figur in der Erzählung hin, die einen Hinweis auf einen Bildungsprozess liefert. War sie in der ersten Verwendung mit der konkreten Bedrohung durch den Vater verbunden, so wurde sie beim zweiten Mal eher in einem Sinne gebraucht, der zeigen sollte, dass Hakan es beim Lernen schwerer als andere hatte. Allein die erste Bedeutungsaufladung erweitert diese etwas harmlosere Interpretation um die Komponente des Bedrohlichen. Rose erklärt die potentielle Bedrohung mit der stetigen Gefahr des Diskriminiertwerdens als Migrationsanderer. Diese Gefahr wiederum hatte Hakan implizit immer wieder zum Ausdruck gebracht, so dass es naheliegend ist, sie auch auf diese Situation zu übertragen. Eine Bedingung für einen Bildungsprozess lässt sich insofern erkennen, als dass es zu einer Resignifizierung des metaphorischen Gehalts der Redewendung kam. War die Maus, mit der sich Hakan offensichtlich identifiziert, beim ersten Mal das Opfer, das der Bedrohung durch den Vater hilflos ausgeliefert war, so kannte die Maus der zweiten Nennung – Hakan war hier schon ein junger Mann – sich mit den Spielregeln aus und war in der Lage, auf die Bedrohung durch die Katze zu reagieren. Dennoch kommt Rose zum Schluss, dass es sich im Beispiel um keinen Bildungsprozess handelt, da es sich nicht auf einen bestehenden Normalitätsdiskurs bezieht und verändernd auf diesen einwirkt. Fremdheitszuschreibung als krisenhafter Einschnitt Der letzte Beitrag des Sammelbandes, der hier besprochen wird, stammt von Janina Zölch (2014). Sie geht der Frage nach, ob Fremdheitserfahrungen oder Fremdheitszuschreibungen ein solcher krisenhafter Einschnitt im Leben sein können, dass sie eine Neuorientierung für den Betroffenen oder die Betroffene nahelegen, die dann eine Transformation seiner oder ihrer Selbst- und Weltverhältnisse zur Folge hat. Der Ansatz ist deshalb besonders relevant, weil die Autorin zur Beschreibung von Fremdheitserfahrungen auf Terkessidis (2004) zurückgreift, der auch in der vorliegenden Arbeit einen wichtigen Bestandteil der Diskussion um Gruppen(-identitäten) und Zugehörigkeiten bildet. Zölch geht davon aus,

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„dass diese drei Akte [Verweisung, Entantwortung, Entfremdung, HB] eine solch krisenhafte Erfahrung darstellen können, dass die bisherigen Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses ins Wanken geraten und Wandlungsprozesse angestoßen werden können“ (Zölch 2014: 267).

Besonders wichtig erscheint Zölchs Interpretation da, wo sie Hakans Positionierung zum „Deutschsein“ und zum „Türkischsein“ thematisiert. Es wurde schon angesprochen, dass der Grundschüler Hakan seinen Platz in der Klasse wechselte und neben einen deutschen Mitschüler gesetzt wurde. Daraufhin bekam er die Motivation, sich in der Schule zu engagieren und von seinem neuen Freund, der bald eine Art Vorbild wurde, zu lernen. Wesentlich ist, dass er im Lauf der Erzählung zum Schluss kommt, dass er zwei Anteile – einen deutschen und einen türkischen – in seiner Persönlichkeit integriert. Stellvertretend führt er dafür seine deutsche und seine türkische Freundesclique an. Schließlich stellt er sich selbst dann aber so dar, dass er sich zwar als Türke fühle, als „ganzer“ Türke aber – genauso wie seine türkischen Freunde – niemals erfolgreich sein könne. Als Deutscher fühlt er sich dagegen nicht. Er fühlt sich den deutschen Freunden nur ebenbürtig. Allerdings kann er durch diese Identifizierung mit ihnen auch genauso erfolgreich wie sie werden. Dieses Fremdheitsgefühl ist es dann auch, was als derart krisenhaft interpretiert werden kann, dass es zu einer Auseinandersetzung mit seinen Selbstanteilen führt. Schlussendlich kann Zölch aber keine so prägnante Situation in der Erzählung ausmachen, die einer konkreten Fremdheitszuschreibung entsprechen würde und die als punktuell auftretende Krise gewertet werden könnte. In Terkessidis’ Sinne könnte das eine Situation der Verortung oder Verweisung sein, die Kindern von Migrant_innen beim Heranwachsen zum ersten Mal vor Augen führt, dass ihr „Migrantsein“ überhaupt eine relevante Kategorie ihrer Persönlichkeit darstellt. Auch das Hineingeworfenwerden in eine neue Gesellschaft, allein durch einen Wohnortwechsel, könnte ein so starkes Fremdheitsgefühl bewirken. Die vier Beispiele sollen einen Einblick in den Stand der deutschsprachigen bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung geben, zu der sich die hier vorliegende Studie zählt. Alle vier Ansätze fließen gleichzeitig in die Auswertung der Interviews ein, die den Kern des nun folgenden empirischen Teils der Arbeit darstellen.

FORSCHUNGSMETHODISCHES VORGEHEN Im Zeitraum von November 2014 bis Juli 2016 wurden insgesamt elf teilstrukturierte, problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) mit Selbständigen in Alpstadt

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und Umgebung geführt, die – in erster Linie aufgrund ihrer Namen – als türkisch codiert (stellvertretend: Pütz 2009) bezeichnet werden können. Da es bei der Auswahl darum ging, Personen anzusprechen, die von der Mehrheitsgesellschaft potentiell einer vermeintlich homogenen „türkischen“ Gruppe zugeordnet werden, spielten der reale Geburtsort und die Staatsangehörigkeit keine Rolle bei der Auswahl. Über die Selbstverortung zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen konnte, ohne Kenntnis der Interviewpartner_innen, ohnehin im Vorfeld der Interviews keine Aussage getroffen werden, so dass diese später zurückhaltend im Interview thematisiert wurde und vor allem in die Auswertung der Interviews einfloss. „Zurückhaltend“ heißt es hier deshalb, weil in der Interviewsituation möglichst wenige Vorannahmen seitens des Interviewers suggeriert werden sollten. Andererseits wurde bei den Vorgesprächen und Terminvereinbarungen offen angesprochen, dass „türkische“ oder „türkischstämmige“ Personen gesucht wurden, so dass das Thema schon zugrunde lag und dann teilweise auch offen im Gespräch diskutiert werden konnte. Oben wurde schon gesagt, dass die hier besprochenen Fragestellungen und das gewählte Forschungsdesign ein Dilemma produzieren, weil man einerseits durch die Fragestellung selbst Gefahr läuft, eine „homogentürkische“ Gruppe zu (re-)produzieren, und andererseits gerade diese Gruppenzuweisung und damit verbundenes Zuweisen stereotyper Attribute dekonstruiert werden sollen. Um diesem Dilemma methodisch beikommen zu können, wurde ein Teil der folgenden Auswertung nach einem interpretativen Verfahren durchgeführt, das die Fragen des Interviewers – und die damit verbundene (Re-)Produktion impliziter oder expliziter Differenzlinien – mit berücksichtigt. Bei der Auswahl der Interviewpartner_innen war wichtig, dass die Unternehmer_innen ihre Geschäfte nicht von den Eltern geerbt haben. Sie sollten sich aus eigener Entscheidung in die Selbständigkeit begeben haben, ohne dass dieser Weg durch Vererbung nahegelegt worden wäre. Dadurch sollte gewährleistet werden, überhaupt Personen zu interviewen, die sich (beruflich) neu orientierten – eine Bedingung für das Einsetzen eines Bildungsprozesses, der mit der beruflichen Neuorientierung verbunden ist. Ein weiteres Auswahlkriterium war, dass die Gespräche auf Deutsch geführt werden konnten, da der Interviewer nicht Türkisch spricht. Bei einem Interview war der Senior des Betriebs (einer Fleischerei) der eigentliche Interviewpartner. Da er sich nicht flüssig auf Deutsch ausdrücken konnte, dolmetschte der Junior. Er arbeitet ebenfalls im Betrieb und beteiligte sich inhaltlich am Interview. Ein anderes Interview wurde auf Englisch geführt, da sich der Interviewte im Englischen wohler fühlte als im Deutschen. Alle anderen Interviews fanden auf Deutsch statt.

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Ansonsten wurde auf eine möglichst große Heterogenität bei der Auswahl des Samples geachtet. So sind die Interviewpartner_innen unterschiedlich alt – zwischen Mitte zwanzig und Ende fünfzig. Auch die Branchen, in denen sie tätig sind, sollten unterschiedlich sein. Acht der Interviewpartner_innen sind Männer, drei davon sind Frauen. Da es weniger weibliche türkischstämmige Selbständige in Alpstadt gibt als männliche, erwies sich die Suche nach Interviewpartnerinnen schwieriger als die nach Interviewpartnern. Überhaupt konnten nur durch „Türöffner_innen“ Interviewpartner_innen gefunden werden. Der Versuch, Inhaber_innen von Geschäften direkt um ein Interview zu bitten, erwies sich als erfolglos. Dies wurde von den „Türöffner_innen“ immer wieder mit dem Misstrauen der Selbständigen gegenüber „Fremden“ erklärt. Unter fremd kann hier zum einen die Möglichkeit verstanden werden, von behördlicher Seite (zum Beispiel vom Finanzamt) ausgefragt zu werden. Zum anderen kommen Vorbehalte gegenüber einem Forschungsvorhaben und der damit verbundenen öffentlichen Wahrnehmung zum Tragen. Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung bei der Bereitschaft, sich an einem Interview zu beteiligen, liegt in der beruflichen Tätigkeit selbst begründet: Die Betreiber_innen von Läden, Geschäften, Gastronomiebetrieben, Werkstätten usw. sind oft zeitlich sehr eingebunden, so dass die Aussicht, sich an einem nicht-standardisierten Interview von ca. einer Stunde Dauer zu beteiligen, als wenig attraktiv erscheint. Als Türöffner_innen fungierten schließlich mehrere Personen: eine persönliche Bekannte des Autors, die selbst ein Geschäft in der Stadt führt; eine Bekannte türkischer Herkunft, die einen Freund ihrer Familie vermittelte; ein Lokalpolitiker; ein türkischer Religionslehrer; sowie ein weiterer Bekannter des Autors, der Mitglied in einem türkischen Kulturverein ist. Der Leitfaden gliederte sich nach verschiedenen chronologischen Abschnitten der beruflichen Werdegänge. Referenzpunkt war stets die aktuelle Selbständigkeit, die auch in der Anfangsfrage thematisiert wurde (Zeitpunkt, Anlass, Gründe für die Entscheidung etc.), da sie als Grund für die Anfrage nach einem Interview gesetzt war. Dieser Punkt wird für die spätere Auswertung der Interviews noch relevant, weil – im Sinne von Judith Butler – die Interviewpartner_innen vom Interviewer explizit als Selbständige angerufen wurden. Vom Beginn der Selbständigkeit an wurde im Leitfaden chronologisch zurückgegangen, zuerst bis hin zu der Zeit vor der Selbständigkeit (frühere berufliche Tätigkeiten, Bildung, Ausbildung, Unterstützung bei der Unternehmensgründung, Vorbilder etc.), dann – noch früher – zur Zeit der frühen (kindlichen) Sozialisation. Schließlich wurde der Bogen zur Gegenwart gespannt, wo Fragen nach Zugehörigkeitsverhältnissen (Treffen mit anderen Selbständigen, neue Bekannte etc.) oder nach Veränderungen (offen gefragt, nach eigener subjektiver Einschätzung) relevant wurden. Schließlich rundete eine offene Schlussfrage die Interviews ab. Gerade die Schlussfrage stellte

Berufsbiografien von Unternehmer_innen türkischer Herkunft | 147

sich bei einigen der Interviewpartner_innen als äußert fruchtbar heraus. Hier wurden immer wieder Themen, die vermeintlich mit dem Berufsthema nicht in Zusammenhang stehen, angesprochen. Oft wurde hier von Benachteiligungs- oder Diskriminierungserfahrungen berichtet. Auch wurde die Gelegenheit, den Interviewer nach seinen Einschätzungen zu fragen, genutzt. Insgesamt diente der Leitfaden der Orientierung im Gespräch. Wenn Interviewpartner_innen vom Leitfaden abwichen, wurde ihre Erzählung nicht unterbrochen, da sie möglichst autonom über die Wichtigkeit des Erzählten entscheiden können sollten. Nur an Stellen, an denen ein Erzählbogen geschlossen wurde, wurde das nächste Thema des Leitfadens aufgegriffen. Die Interviews selbst sind zwar biografisch – abgefragt wurden Berufsbiografien –, sie sind aber nicht im strengen Sinne narrativ (im Sinne von Schütze 1983). Vielmehr fiel die Entscheidung zugunsten teilstrukturierter leitfadengestützter Interviews (Witzel 2000), weil die Selbständigen in ihrem engen zeitlichen Korsett so besser erreicht werden konnten. Dadurch ist aber auch schon eine chronologische Reihung der Erzählungen vorgegeben, d.h. in diesem Punkt sind die Geschichten nicht frei entwickelt. Dennoch wurde vom Interviewer immer wieder darum gebeten, offen über einzelne Lebensabschnitte zu berichten oder Beispiele für Einschätzungen zu liefern, um die Interviewpartner_innen dazu anzuregen, innerhalb der thematischen Sequenzen frei zu erzählen. In den Interviewsituationen selbst stellte sich, wie erwähnt, heraus, dass es gerade nach dem Ende des eigentlichen Leitfadenabschnitts öfter zu einem offenen Austausch zwischen Interviewer und Interviewten kam, in dem die Interviewpartner_innen Relevantes erzählten oder auch Rückfragen an den Interviewer stellten, die wiederum je eigene Inhalte, Meinungen oder Positionierungen verkörperten. Leider war, wie angeführt, mitunter dann schon das Aufnahmegerät abgestellt. Durch Gedächtnisprotokolle wurde versucht, dieses Defizit zu kompensieren. Bei einigen Interviews aber lief die Aufnahme noch, so dass diese Passagen auch wortwörtlich, als Transkripte, in die Auswertung einfließen konnten. Die Interviews dauerten zwischen einer Dreiviertelstunde und zwei Stunden. Die Aufnahmen wurden von mehr oder weniger langen Einführungen und offenen anschließenden Gesprächen gerahmt, die, wie oben bemerkt, in unterschiedlicher Länge mitgeschnitten wurden. Die längste Audioaufnahme umfasst eine Stunde und vierzehn Minuten. Die Aufnahmen wurden wörtlich transkribiert, wobei nonverbale Äußerungen, Pausen oder rhetorische Stilmittel wie Ironie in Klammern vermerkt wurden, wenn sie inhaltlich relevant schienen. Hörerrückmeldungen seitens des Interviewers wurden dort angeführt, wo eine längere Pause im Gesprächsschritt des bzw. der Interviewten stattfand. Teilweise – möglichst selten – wurde

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die Sprache ins Hochdeutsche „geglättet“, vor allem da, wo Formulierungen sehr in eine österreichisch-dialektale Varietät gerieten. Ausgewertet wurden – das wurde anhand der Betrachtung des Begriffes „Biografie“ deutlich gemacht – die Transkripte, also die schriftliche Fassung der Interviews. Alle Transkripte zusammen bilden den Korpus der Auswertung. So versteht sich die folgende Auswertung auch als Auswertung dieses Korpus. Es handelt sich also um ein text- bzw. gesprächsanalytisches Verfahren. Die Transkripte stellen retrospektive Betrachtungen der je eigenen Leben der Interviewpartner_innen dar, die auch retrospektiv motivierte Sinndeutungen beinhalten. Relevant ist die Frage, ob überhaupt frühere Bildungsprozesse identifiziert werden können: Sie können höchstens aus dem Material heraus interpretiert werden. Dabei kann zwischen dem Gehalt der wörtlichen Aussagen und dem, was sich indirekt erschließen lässt, unterschieden werden (Nohl 2012). In der Auswertung soll zwischen Erzählung/Beschreibung und Argumentation/Begründung unterschieden werden (ebd.). Anders als dies in der Auswertung von narrativen Interviews (Schütze 1983) vorgesehen wird, sollen hier aber beide Textsorten als gleichwertig ertragreich gelten. Die Erzählungen vermitteln Informationen über ein „praktisches Selbstbild“ (Rose 2001: 62), aus dem die Akteur_innen „die Fähigkeit zum intentionalen Handeln beziehen“ (ebd.). Dieses intentionale Handeln – davon ist auszugehen – ist den Erzähler_innen kognitiv zugänglich, kann von ihnen reflektiert werden und erscheint in den Interviews als Argumente bzw. Begründungen.

ZUR AUSWERTUNG DER INTERVIEWS Die Auswertung des empirischen Forschungsteils folgt der theoretischen Grundlegung von Bildungsprozessen, wie sie in Kapitel 3 dargelegt wurden. Diese werden im Sinne der Anerkennungstheorie in gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet. Zunächst stellt sich demnach die Frage nach (krisenhaften) Einschnitten innerhalb der Berufsbiografien der Interviewpartner_innen. Diese werden im Korpus ermittelt und systematisiert. Außerdem wird gezeigt, inwiefern sie als Formen missachteter Anerkennung gedeutet werden können. Daraufhin wird entschieden, ob es sich in einzelnen Fällen tatsächlich um solche Neuorientierungen handelt, die Bildungsprozesse einleiteten. Ist dies der Fall, dann werden im Anschluss Bildungsprozesse anhand von Fallanalysen in ihrer tieferen Bedeutung – auf Ebene der Selbst- und Weltverhältnisse der Betroffenen – nachvollzogen. Schließlich wird zu entscheiden sein, wie genau die Anerkennungsverhältnisse beschrieben werden können und ob es zu Kämpfen um Anerkennung kam bzw. in

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welcher Art und Weise die nun Selbständigen darauf reagierten – mit Honneths Worten: wie genau ein Kampf um Anerkennung sich gestaltete. Zur Erinnerung soll erwähnt werden, dass die Auswertung des empirischen Teils das Verhältnis zwischen Persönlichkeit und gesellschaftlichen Bedingungen in den Blick nimmt, konkreter gesagt: erstens der Frage nach Anerkennungsdefiziten und zweitens dem Umgang der Interviewpartner_innen mit diesen Defiziten nachgeht. In Kapitel 2 konnte anhand von Statistiken und Studien zu Diskriminierung am Arbeitsmarkt schon gezeigt werden, dass strukturelle Benachteiligungen und diskriminierende Verhältnisse beim Zugang zur Erwerbstätigkeit und zum Ausbildungsmarkt sowie bei der alltäglichen Arbeit gängige Formen von missachteter Anerkennung unter Arbeitnehmer_innen mit Migrationserfahrungen sind. Im Folgenden werden diese Überlegungen als Ausgangspunkt genommen und es wird gezeigt, wie sich diese Anerkennungsdefizite detailliert beschreiben lassen und auf welche Art die Interviewten agieren bzw. darauf reagieren. Die folgende Analyse der Interviews umfasst zunächst die chronologische Ordnung der Daten, die die Interviewpartner_innen im Laufe der Interviews mehr oder weniger strukturiert nannten. Die Interviewten werden mithilfe von Zeitstrahlen vorgestellt. Dieser Schritt dient der besseren Nachvollziehbarkeit der Geschichten der insgesamt zwölf interviewten Selbständigen5 und der ersten Identifizierung der Gründe oder der Anlässe, die zur Selbständigkeit geführt haben. Gleichzeitig können sie so auch in ihrer persönlichen Identität (Goffman 2014, Kapitel 3) beschrieben werden, die im vorliegenden Fall oft in Bezug zu wechselnden Statuspassagen beschrieben werden kann, beispielsweise da wo der Wohnort gewechselt oder eine neue berufliche Tätigkeit aufgenommen wurde. Anschließend werden die Interviewtexte auf die Motive und Anlässe für die Wahl der Selbständigkeit hin analysiert und es kann entschieden werden, welche dieser Motive sich auch als Anerkennungsdefizite deuten lassen. Bis hierher handelt es sich um eine Form der Auswertung, die sich am denotativen Gehalt der Aussagen orientiert6: Der Gegenstand – die berufsbiografischen Wege und krisenhafte Einschnitte in diese Wege – lässt sich wörtlich aus den Aussagen der

5

Zwölf Personen wurden interviewt. Bei einem Gespräch handelt es sich um ein gemeinsames Interview mit Vater und Sohn, Herr Bilge senior und junior, so dass der Korpus insgesamt elf Interviews beinhaltet.

6

Methodisch handelt es sich um eine zusammenfassende Inhaltsanalyse nach Mayring (2010).

150 | Status und Stigma

Interviewpartner_innen reproduzieren7. An dieser Stelle endet dann aber gleichzeitig das, was man als den „identifizierbaren Gegenstand“ (Koller 2012: 146) nennen kann, und hier setzt nun dies ein, was Koller in Anlehnung an eine interpretative oder rekonstruktive Sozialforschung folgendermaßen beschreibt: „Phänomene der sozialen Wirklichkeit – und d.h. in unserem Beispiel etwa Bildungsprozesse – können […] nicht objektivierend erfasst bzw. quantitativ gemessen werden, sondern sind nur interpretativ zu erschließen, indem man diejenigen Konstruktionsprozesse rekonstruiert, in denen Phänomene der sozialen Wirklichkeit (also z.B. Bildungsprozesse) interaktiv oder diskursiv hervorgebracht worden sind.“ (Ebd.: 147, Hervorh. i. Orig.)

Die Ergebnisse der ersten beiden Auswertungsschritte dienen dazu, eine tabellarische Strukturierung zu erstellen, an der sich dann die tiefere, textanalytische Interpretation anschließt. Deren Ziel liegt dann darin, zu bestimmen, (1.) ob es sich bei den bis dahin definierten Motiven für die Wahl der Selbständigkeit auch um solche Einschnitte handelte, die einen Bildungsprozess einleiteten, (2.) wie sich solche Bildungsprozesse inhaltlich näher beschreiben lassen und (3.) ob sie als Handlungsstrategien wider erlittene missachtete Anerkennung gelten können. Diese tiefere Beschreibung der Bildungsprozesse soll spezifische Merkmale sichtbar machen, die auf die interviewten Unternehmer_innen mit Migrationserfahrungen zutreffen. Im Kontext von missachteter Anerkennung können diese Spezifika dann als Strategien ausgelegt werden, die den Unternehmer_innen dabei halfen, sich Anerkennung zu verschaffen. Für diesen Auswertungsabschnitt werden in Kapitel 6 einzelne Interviews als Fallanalysen (Söffner 1995) in verschiedenen Schritten interpretiert. Diese Analyse folgt verschiedenen Verfahren: 1. 2. 3.

7

Analyse rhetorischer Figuren, Analyse von Differenzlinien, Interpretatives Verfahren nach Geertz.

Dennoch ist hier schon einschränkend anzumerken, dass die Übersetzung des Erzählten in eine chronologische Abfolge schon einen interpretativen Einschnitt darstellt und dass außerdem nicht gewusst werden kann, was die Interviewpartner_innen nicht erzählten – weil sie es im Moment des Interviews nicht für wichtig erachteten, weil sie es gegenüber dem Interviewer im gegebenen Setting als irrelevant erachteten, weil es ihnen unangenehm oder zu persönlich erschien oder sie es aus irgendeinem anderen Grund nicht erzählen wollten.

Berufsbiografien von Unternehmer_innen türkischer Herkunft | 151

Ad 1. Ein Teil der Analyse erfolgt anhand geeigneter rhetorischer Figuren, oftmals sind dies Begriffe, die das eine Mal mit ihrer denotativen Bedeutung verwendet werden, das andere Mal aber einen metaphorischen Gehalt haben. Sie werden induktiv aus den Transkripten ermittelt und auf Resignifizierungen im Text hin untersucht (Koller 2014, Rose 2014 unter Bezugnahme auf Butler). Theoretische Grundlage dafür ist Jacques Lacans psychoanalytisches Konzept, nach dem Metaphern und Metonymie „strukturelle Entsprechungen im Unbewussten haben“ (Koller 2012: 162). Die zentralen Fragen, denen die Interpretation folgt, sind dann: Welche rhetorischen Figuren wurden von den Interviewten zur Beschreibung ihrer beruflichen Wege gewählt? Wiederholen sich die Figuren in ihren Erzählungen? In welchen Kontexten erscheinen sie im Text bzw. mit welchen neuen Bedeutungen werden sie in der Wiederaufnahme im Text versehen?8 In dieser Etappe werden in erster Linie die Veränderungen der Selbstverhältnisse der Befragten gedeutet. Es wird zu zeigen sein, ob und wie diese auch unmittelbar mit den Welthorizonten der Betroffenen zusammenhängen. Ad 2. Des Weiteren werden Differenzlinien identifiziert, um zu ermitteln, welche davon wirksam sind und ob sie sich im Verlaufe der biografischen Transformationen veränderten. Wichtig in diesem Zusammenhang sind auch die (sich ändernden) Gruppenzugehörigkeiten und Loyalitäten. Dadurch kann auf das Verhältnis zwischen der Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen der Interviewten rückgeschlossen werden.

8

Unter Metapher soll hier ein bildhafter Ausdruck verstanden werden, der durch eine symbolische Aufladung über das reine Denotat eines Begriffes hinausreicht. Meist handelt es sich dabei um beliebige Begriffe, die zunächst in ihrer denotativen Bedeutung verwendet werden und im Laufe der Erzählung um einen metaphorischen Anteil angereichert werden. Mit Metonymie dagegen sind verwandte Begriffe, oft Überbegriffe, gemeint, die enger gefasste Begriffe ersetzen. Beides sind Tropen, d.h. sie verlagern oder erweitern die eigentliche semantische Bedeutung eines Begriffs. Aus einer ontologischen Perspektive sind strenggenommen alle Wörter des Interviewkorpus als solche rhetorischen Figuren zu verstehen, da sich die Transkripte nie direkt auf Referenten einer realen Welt beziehen, sondern immer Spiegel der aktuellen Perspektive der Berichtenden auf ihr vergangenes und derzeitiges Leben sind. Wenn in der Auswertung der Interviews davon die Rede ist, dass ein Interviewpartner oder eine Interviewpartnerin im Zuge einer Resignifizierung die Bedeutung eines Wortes von seinem eigentlichen, auf einen Referenten bezogenen semantischen Gehalt auf einen metaphorischen Gehalt hin verlagert, so ist diese Metaebene stets mit zu denken.

152 | Status und Stigma

Ad 3. Da davon ausgegangen wird, dass die Interaktion zwischen Interviewer und Interviewten soziale Realität erzeugt, wird bei der Interpretation auch auf ein interpretatives, ethnografisches Verfahren zurückgegriffen: Die Analyse erfolgt hier nach dem Muster Text-Kokonstruktion-Text9 – ein Verfahren, das sich an Clifford Geertz’ interpretativen Analysezugang anlehnt (Mecheril/Rose 2012, Geertz 2015). Dieser Rückbezug auf die Interviewsituation selbst ist auch aufgrund des bereits beschriebenen Dilemmas notwendig. Die Auswahl der vier in Kapitel 6 besprochenen Fallbeispiele erfolgte nach der Sichtung des gesamten Korpus. Zunächst werden kurz solche Fälle besprochen, bei denen sich keine Bildungsprozesse zeigen lassen. Das schließt aber nicht aus, dass ihr berufliches Handeln nicht doch einem Agieren gegen missachtete Anerkennung gleichkommt – es ist lediglich kein neues Handeln in dem Sinne, dass es eine Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse der Akteur_innen mit sich brachte. Bei den weiteren besprochenen Fällen handelt es sich um solche, die zwei Ansprüche erfüllen: Erstens lässt sich anhand der Fälle ein latenter Modus, der den Kern der zuvor gezeigten manifesten Anerkennungsdefizite darstellt, beschreiben. Zweitens können die Fallbesprechungen exemplarisch Handlungsstrategien aufzeigen, mit denen die Interviewpartner_innen auf erlittene Anerkennungsdefizite reagieren. Mit Handlungsstrategien sind hier solche Handlungen gemeint, die über die Veränderung an der Oberfläche – hier: Entscheidungen zur Selbständigkeit – hinausgehen. Es sind also solche Strategien, die die Bildungsprozesse inhaltlich auffüllen. Sie lassen sich analog zu den Veränderungen der Selbstverhältnisse beschreiben. Wenn zum Beispiel anhand der Textanalyse eine bestimmte Transformation der Selbstverhältnisse nachvollzogen werden kann, so charakterisiert diese Beschreibung auch das dann neue Handeln bzw. neue Strategien des Umgangs mit neuen Situationen. Jeweils im Anschluss an die textanalytischen Auswertungen der ausgewählten Fallbeispiele wird das gesamte Interviewkorpus nach solchen Merkmalen hin un-

9

Der Autor nahm im Mai 2016 an einem Workshop an der Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck teil, den Prof. Paul Mecheril für PhD-Studierende anbot. Mit „Text-Kokonstruktion-Text“ ist gemeint, dass Teile eines textlichen Korpus mithilfe eines intersubjektiven Interpretationsworkshops in einen interpretierenden Text übergeführt werden. Außerdem stellte der Autor verschiedene Interviews und erste Interpretationen im Rahmen mehrerer Forschungswerkstätten, unter der Leitung von Prof. Erol Yildiz, unter Fachkolleg_innen zur Diskussion, so dass die Interpretationen so weit wie möglich intersubjektiv fundiert sind.

Berufsbiografien von Unternehmer_innen türkischer Herkunft | 153

tersucht, die die Strategien inhaltlich füllen. Dabei wird auf bestehende Kategorien theoretischer Konzepte zurückgegriffen, um die Interviews systematisch analysieren zu können. Ziel ist es, die drei Strategien in verallgemeinerbare Hypothesen zu überführen. Abschließend wird die Frage nach normativen Implikationen gestellt, die immer wieder als Bedingung von Bildung überhaupt formuliert werden: Die Entscheidung für den Bewertungshorizont normativer Belange wurde zugunsten der Anerkennungstheorie entschieden. Die zwei zentralen Fragen, die sich in Anlehnung an Honneths Ansatz daraus ableiten, lauten: Kann man bei den neu eingeführten Handlungsroutinen von mehr Autonomie und einem höheren Grad an Inklusion reden? Dieser Punkt schließt gleichzeitig die Frage nach der Rückwirkung auf die Gesellschaft ein. Tabellarisch lässt sich die folgende Auswertung wie folgt überblicken: Tabelle 8: Auswertungsschritte Inhalt

Ziel

Methode

Bezugsebene

Kapitel 5 Bildungsprozesse: Formen der Neuorientierung und Motive für die Wahl der Selbständigkeit Vorstellung der Interviewpartner_innen

Persönliche Identität: Interviewpartner_innen als Individuen

Krise und Neuorientierung: Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit

Wechselwirkung: individuelle und gesellschaftliche Ebene. Anlässe als Anerkennungsdefizite

Zusammenfassende Inhaltsanalyse

Gesamtes Korpus

Kapitel 6 Handlungs- und Lösungsstrategien Fälle, die keine Bildungsprozesse innehaben

Aufzeigen des Zusammenhangs zwischen Bildungsprozessen und Anerkennungskämpfen

Textanalytisches Verfahren

Fallbeispiele

Interesse am Spiel: Fallbeispiel

Spezifische Bedeutungsaufladung individueller Bildungsprozesse

Textanalytisches Verfahren, Analyse rhetorischer Figuren

Fallbeispiel

Interesse am Spiel: Fundierung und Verallgemeinerung

Systematische Anwendung der Spezifika und Handlungsstrategien auf die Gesamtheit der Interviews

Strukturierende Inhaltsanalyse

Gesamtes Korpus

Aneignung von Raum: Fallbeispiel Fundierung, Verallgemeinerung

Äquivalent zu oben

Kosmopolitismus: Fallbeispiel Fundierung, Verallgemeinerung

Äquivalent zu oben

5 Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit

Das Kapitel „Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit“ gliedert sich in zwei große Teile. Als Vorbereitung dient das folgende Unterkapitel, in dem die Interviewpartner_innen vorgestellt werden. Hier werden alle Biografien grafisch in zentrale Stationen gegliedert – oft sind dies Wechsel von Statuspassagen, zum Beispiel in Form von Migration oder von neuen beruflichen Stationen. Im Anschluss werden die Entscheidungen zur Selbständigkeit auf ihre Hintergründe geprüft. Die Motive, die die Interviewpartner_innen als grundlegend für ihre Entscheidungen anführen, werden dann daraufhin geprüft, ob sie als Formen missachteter Anerkennung interpretiert werden können. Dadurch soll analytisch die Verknüpfung der zunächst individuellen Biografien mit gesellschaftlicher Entwicklung ermöglicht werden.

DIE INTERVIEWPARTNER_INNEN Bevor der Auswertungskorpus mit den einzelnen Interviewpartner_innen vorgestellt wird, soll eine Tabelle eine bessere Übersicht ermöglichen. Von den insgesamt zwölf Interviewten wurden sechs in der Türkei geboren und kamen in den Jahren zwischen 1977 und 1994 als Kinder oder Jugendliche im Zuge des sogenannten Familiennachzugs nach Österreich (Herr Deniz, Herr Güçlü, Herr Kaya1, Herr Memiş, Frau Sarı, Frau Şen, siehe auch Vorstellung der einzelnen Interviewpartner_innen). Drei kamen aus unterschiedlichen Gründen als Erwachsene nach Österreich (Herr Aydın/Asyl/2002, Herr Bilge senior/„Gast-

1

Herr Kaya wurde in Österreich geboren, übersiedelte mit fünf Jahren mit den Eltern in die Türkei und kam als Jugendlicher mit den Eltern wieder zurück nach Österreich.

156 | Status und Stigma

arbeiter“/1978, Herr Çoban/Studium/1990, Herr Ercan/Hochzeit mit Österreicherin/2014). Zwei wurden in Österreich geboren und haben Eltern, die aus der Türkei immigrierten (Herr Bilge junior, Frau Yeşilçay). Tabelle 9: Überblick über die Interviewpartner_innen m/w

geb.

Branche

Selbständig seit

Herr Aydın

m

1983

Änderungsschneiderei

2008

erste Selbständigkeit

Herr Bilge, sen.

m

1956

Fleischerei, sen.

2013

verschiedene selbständigeTätigkeiten in Alpstadt ab 1985, in Rente, Mitarbeit im „Familienbetrieb“

Herr Bilge, jun.

m

1982

Fleischerei, jun.

Herr Çoban

m

1966

Juwelier

2004

1995-2000: Lebensmittelgeschäft im Land Mittelösterreich

Herr Deniz

m

1974

Änderungsschneiderei

2012

erste Selbständigkeit

Herr Ercan

m

1985

Vertrieb von Lebensmitteln und Gastronomiebedarf

2015

frühere Selbständigkeit in Ankara (Computer-, Handyladen)

Herr Güçlü

m

1962

Glaser

2000

seit 1993 parallel zur unselbständigen Erwerbstätigkeit selbständig als Glaser

Herr Kaya

m

1975

Maler

2009

früher: Internetversand, parallel zur unselbständigen Erwerbstätigkeit

Herr Memiş

m

1976

Kfz-Werkstatt

2009

davor: selbständiger Kfz-Aufbereiter

Frau Sarı

w

ca. 1983

Restaurant

2012

erste Selbständigkeit

Frau Şen

w

1976

Hijab-Modeboutique

2012

erste Selbständigkeit

Frau Yeşilçay

w

ca. 1990

Herrenboutique

2015

erste Selbständigkeit

Alias2

2

Bemerkungen zur Selbständigkeit

angestellt im „Familienbetrieb“

Alle Namen, auch andere Eigennamen und Ortsangaben, wurden geändert.

Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit | 157

Herr Aydın wurde im Jahr 1983 in Kappadokien geboren3. Er besuchte dort fünf Jahre lang die Pflichtschule und begann anschließend eine Lehre als Friseur. Im Interview erzählt er nicht, ob er diese abschloss, jedenfalls begann er im Anschluss daran, in der Schneiderei seines Vaters in die Lehre zu gehen. Im Jahr 2002 emigrierte er nach Österreich, wo er einen Asylantrag stellte. Er machte dafür die politische Verfolgung als Kurde geltend. Zwar fühlte er sich, so erzählt er, nicht verfolgt, erhoffte sich durch diese Begründung aber die Anerkennung als politischer Flüchtling. Während der Antragsphase arbeitete er schwarz in einer Schneiderei. Allerdings ist er „zwei Mal erwischt worden vom Finanzamt“ (Herr Aydın, Z. 25). Dies und der Umstand, dass er wenig verdiente, ließen ihn die Entscheidung zur beruflichen Neuorientierung treffen. Er erkundigte sich im Jahr 2006 und fand heraus, dass es Asylwerber_innen in Österreich gestattet ist, sich selbständig zu machen. Er legte die nötige Prüfung bei der Wirtschaftskammer ab, erhielt den Gewerbeschein und eröffnete 2008 seine Änderungsschneiderei, nachdem er über einen Bekannten erfahren hatte, dass ein etabliertes Geschäft vom Vorbesitzer aufgegeben werden sollte. *1983 Kappadokien, Türkei

2007 WIFI Gewerbeschein

Fünf Jahre Pflichtschule

2008, lernt über einen Bekannten ausscheidenden Schneider kennen

Lehre Friseur

Lehre Schneider im väterlichen Betrieb

2002 Flucht Ankunft in Österreich, Asylantrag

2008 Eröffnung der Änderungsschneiderei

Abgelehnter Asylantrag, Visum beantragt (Richterin als Ratgeberin)

2014 Heirat

Illegale Tätigkeit bei einem Schneider

2014 Eröffnung des zweiten Ladens

Zeitstrahl 1: Herr Aydın, Änderungsschneiderei Kurz darauf wurde sein Asylantrag abgelehnt, aber die zuständige Richterin riet ihm, sich um eine Niederlassungsbewilligung zu bemühen – schließlich sei er schon erwerbstätig –, und er erhielt diese auch. Im Jahr 2014 heiratete er eine 3

Die Vorstellungstexte werden im Indikativ formuliert und nicht an jeder Stelle wird darauf verwiesen, dass es sich bei den Informationen um die Perspektive des/ Interviewpartners bzw. der Interviewpartnerin handelt (z.B. indem die Aussagen mit Nebensätzen verknüpft werden: „…, so erzählt Herr Aydın“). Dies stellt sicher eine Gratwanderung dar, da hier strenggenommen nicht auf eine ontologische Wirklichkeit referiert, sondern die Sicht der Interviewpartner_innen auf „ihre“ Wirklichkeit – mitsamt Betonungen und Auslassungen – wiedergegeben wird. Dennoch wurde, zugunsten des Erzählflusses, auf Konjunktive und verweisende Nebensätze verzichtet. Ab dem folgenden Kapitel (Motive für die Selbständigkeit als Anerkennungsdefizite), in dem die Analyse einen interpretativeren Charakter annimmt, wird sich dies ändern.

158 | Status und Stigma

Schneiderin, mit der er schon zusammengearbeitet hatte. Zur Zeit des Interviews hatten die beiden gerade eine zweite Filiale im Stadtzentrum eröffnet. Allerdings lief das Geschäft offenbar nicht wie gewünscht und – so berichtete später ein anderer Interviewpartner, der Herrn Aydın kennt – sie mussten es nach kurzer Zeit wieder schließen. Herr Bilge senior wurde 1956 in der Türkei geboren und machte dort die Matura. Danach arbeitete er in der Fleischerei des Vaters eines Freundes. Er übersiedelte 1978 nach Österreich, wo er zunächst als Hausmeister arbeitete, später dann als Bauarbeiter, bis er einen Arbeitsunfall hatte und sich in einem längeren Krankenstand befand. Dies war auch der Grund, so Herr Bilge, für seine Kündigung. 1982 bekam er den ersten von drei Söhnen, den Interviewpartner Herrn Bilge junior. Im Jahr 1985 eröffnete er einen Kebab-Stand – den ersten in Alpstadt, wie er und sein Sohn (Herr Bilge jun.) stolz betonen. „Ich mochte diesen Beruf, Fleischerei, aber in dieser Zeit, war in Österreich, Kebab war überhaupt nicht wissen, ’84.“ (Herr Bilge sen., Z. 67 f.) Er selbst hatte schon Erfahrung in dieser Branche gesammelt, denn schon während seiner Schulzeit hatte er in der Türkei in der Fleischerei eines Onkels ausgeholfen. Nach zehn Jahren, 1995, wollte er seine geschäftliche Aktivität ausweiten und übernahm ein Lebensmittelgeschäft: „Aber ich habe einen Blödsinn gemacht. Ich habe [den Kebab-Stand, Anm. HB] aufgehört. Ich machte ein großes Lebensmittelgeschäft auf, ich, 3000 Quadratmeter, Lebensmittelgeschäft, Kebab, Textil, alles.“ (Herr Bilge sen., Z. 72-74) Im Jahr 2000 musste er in Konkurs gehen, weil er sich finanziell verschätzt hatte.

Herr Bilge senior *1956, Türkei

Matura

Mitarbeit in Fleischerei

1978 Übersiedlung nach Österreich

Hausmeister in Hotel Herr Bilge junior *1982, Alpstadt

1985-1995 Kebab-Stand (erster seiner Art in Alpstadt)

1995-2000 Lebensmittelgeschäft

Konkurs

Lebensmittelgeschäft des Sohnes, Mitarbeit des sen.

Baustelle, Bauarbeiter, Arbeitsunfall, Krankenstand, Kündigung

2013 Eröffnung der Fleischerei, Lebensmittelgeschäft, freies Gewerbe Mitarbeit (als Rentner, geringfügig) Junior: BFI-Studium/-Ausbildung, Einzelhandel, Bürokaufmann bis 2016

Zeitstrahl 2: Herr Bilge (senior) und Herr Bilge (junior), Fleischerei Zwischenzeitlich eröffnete einer seiner Söhne ein weiteres Geschäft, bei dem Herr Bilge als Angestellter arbeitete. Auch die 2013 eröffnete Fleischerei läuft auf einen der Söhne, den jüngsten, 18-jährigen. Herr Bilge senior selbst ist schon in Rente und arbeitet auf geringfügiger Basis im Betrieb mit. Sein ältester Sohn macht eine Ausbildung im Einzelhandel und hat ebenfalls vor, sich in Zukunft

Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit | 159

selbständig zu machen. Eventuell möchte er zunächst die Fleischerei übernehmen und sich dann selbst etwas suchen, dann allerdings nicht im Lebensmittelbereich. Herr Çoban, geboren 1966 in der Türkei, hat einen Juwelierladen in einem Alpstadter Stadtteil. Eine Filiale wurde soeben geschlossen und eine andere kürzlich an einem attraktiveren Standort eröffnet. Eine weitere Filiale leitet seine Frau. Der Interviewpartner studierte Betriebswirtschaftslehre in München, bevor er 1992 endgültig nach Alpstadt umzog. Nach seinem Studium war er zunächst Abteilungsleiter einer Supermarktfiliale, bis er 1994 nach einer Stimmbandoperation für ein halbes Jahr aus der Erwerbstätigkeit ausfiel. Daraufhin eröffnete er einen Lebensmittelladen mit „südländischen Produkten“. Den Laden gab er 2000 wieder auf und arbeitete bis 2004 als technischer Angestellter – er hatte sich, so erzählt er, für die unselbständige Tätigkeit entschieden, weil die Wirtschaftslage nicht stabil genug war und er die weitere Selbständigkeit nicht riskieren wollte. 2004 änderten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und er ergriff die Gelegenheit, als der Juwelierladen eines Bekannten durch dessen Pensionierung abgegeben wurde. Vorher hatte er sich schon auf die Fortführung der Selbständigkeit vorbereitet, indem er verschiedene Kurse bei der Wirtschaftskammer absolviert hatte. *1966 Türkei

Ferialjob in Ankara im Juwelierladen des Onkels

1995-2000 Selbständigkeit, Lebensmittel, südländische Produkte

1990 Übersiedlung nach Österreich, Studienaufenthalt in München, BWL-Studium

2000-2004 Technischer Angestellter

1992 langfristige Übersiedlung nach Österreich, Alpstadt

2004 Unternehmensgründerkurs WK4

1992-94 Abteilungsleiter, Supermarktfiliale

2004 Übernahme des ersten Juweliergeschäfts

2007 Eröffnung zweiter Standort

1994 Einschnitte Sohn kommt auf die Schule Tochter wird geboren Stimmbandoperation

2015 Eröffnung dritte Filiale Schließung der zweiten Filiale

Zeitstrahl 3: Herr Çoban, Juwelier Als konkrete Anlässe nennt er eine längere Phase der Krankheit und die Geburt des zweiten Kindes. Mit der Schmuck-/Goldbranche war er schon ein Stück weit vertraut, da er früher schon, noch in der Türkei, im Juwelierladen eines Onkels in den Ferien aushalf. Drei Jahre später eröffnete er schließlich die mittlerweile wieder geschlossene, zweite Filiale des Juwelierladens. Im Betrieb ist auch der Sohn angestellt und die Tochter, die Erziehungswissenschaft studiert, hilft immer wieder aus. Herr Çoban hat in seinem Juwelierladen einen festangestellten Mitarbeiter und eine Lehrlingskraft. 4

WK steht für Wirtschaftskammer.

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Herr Deniz besitzt eine Änderungsschneiderei. Er wurde 1974 in der Türkei geboren und übersiedelte 1990, mit 17 Jahren, gemeinsam mit seiner Mutter nach Österreich, wo der Vater schon vorher gelebt hatte. Er machte eine Ausbildung zum Schlosser und besuchte die Berufsschule. Die ersten sieben Jahre nach Abschluss der Lehre arbeitete er in derselben Firma als Schlosser, danach war er bei verschiedenen Firmen als Schweißer tätig, bis er 2009 arbeitslos wurde und daraufhin eine weitere Ausbildung, nun zum Schneider, absolvierte. 2011 entschied er, sich selbständig zu machen, und übernahm im Jahr 2012 eine bestehende Änderungsschneiderei. Ein Jahr später wechselte er den Standort, den er bis zum Zeitpunkt des Interviews innehat. Er beschäftigt dort eine Angestellte auf geringfügiger Basis, würde aber gerne jemanden mit mehr Stunden anstellen, allein: Bisher konnte er niemand Geeigneten finden. Derzeit macht er die Meisterprüfung, allerdings ohne weitere Ambitionen, beispielsweise eine Maßschneiderei zu eröffnen, für die der Meistertitel nötig wäre. Herr Deniz hat drei Kinder: zwei Söhne mit sechs und 13 Jahren und eine Tochter mit 18.

*1974 Türkei

ab 2009 Arbeitslosigkeit Umschulung auf Herrenkleidermacher

1990 Übersiedlung nach Österreich (mit 17 Jahren) Vater war schon vorher in Alpstadt, kam mit der Mutter nach Ende 2011 Entscheidung, sich selbständig zu machen

Berufsschule, Ausbildung: Schlosser

2012 Selbständigkeit, Änderungsschneiderei

Erst sieben Jahre gleiche Firma als Schlosser, dann verschiedene Firmen als Schweißer

2013 Umzug, neuer Standort

Derzeit: Meisterprüfung

Zeitstrahl 4: Herr Deniz, Änderungsschneiderei Herr Ercan wurde 1985 in der Nähe von Ankara geboren und wuchs auch dort auf. Er absolvierte ein Studium im Bereich „Computer, Technician, Communication“ (Herr Ercan, Z. 159; das Interview wurde auf Englisch geführt) und öffnete parallel dazu einen Bücher- und Zeitschriftenladen. Nach dem Studium führte er schließlich zwei Läden: einen Computer- und einen Handyladen. Er heiratete die Schwester eines Freundes, die in Österreich aufgewachsen ist. Zunächst hatten die beiden beschlossen, in der Türkei zu bleiben, doch seine Frau, von Beruf Englischlehrerin, fand keine Stelle. Daher entschieden sie, nach Österreich zu ziehen, wo sie seit Ende 2014 leben. Herr Ercan begann als Kinderbetreuer zu arbeiten – zum Zeitpunkt des Interviews betreut er noch immer nachmittags privat einen Jungen. Ende 2015 machte er sich wieder selbständig. Er kooperierte zuerst mit einem Konditor, der Baklava verkaufte, und übernahm später den Betrieb ganz. Noch immer vertreibt er die Baklava des früheren Kompagnons. Zusätzlich vertreibt er Gastronomiebedarf in Süddeutschland, besonders in Bayern, und in Österreich.

Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit | 161

Vor einem Jahr kam die Tochter auf die Welt. Für die Zukunft plant er unter Umständen die Änderung der Produktpalette, unbedingt will er aber selbständig bleiben, denn er versteht sich von jeher als Unternehmer: „I’m a small businessman. It’s for me, lifestyle. Because I like this. Because I was, I made this all my life. I’m always thinking, I can, … I don’t like the other jobs.“ (Herr Ercan, Z. 275 f.)

*1985 Nähe Ankara

2013 Heirat mit einer „österreichischen Türkin“, Englischlehrerin

„I started business when I was seven years old.“ (Z. 291)

Studium „Computer Technician, Communication“ Parallel: Selbständigkeit, Shop

Ende 2014 Übersiedlung nach Österreich

Arbeit als Kinderbetreuer

2015 Geburt der Tochter

Danach: Selbständigkeit in der Türkei, Bücher-, Zeitschriftenladen

Ende 2015 Selbständigkeit Lebensmittel, Gastronomiebedarf, Verkauf, Vertrieb

Selbständigkeit in der Türkei, zwei Shops: Computerund Handyladen

Pläne, die Produktpalette zu ändern

Zeitstrahl 5: Herr Ercan, Vertrieb von Lebensmittel und Gastronomiebedarf Herr Güçlü wurde 1962 ebenfalls in der Türkei geboren. Mit 15 Jahren folgte er dem Vater, der aus Arbeitsgründen schon 1972 nach Österreich gekommen war. Nach einem Deutschkurs begann er eine Lehre zum Glaser und arbeitete einige Zeit in diesem Beruf. 1990 begann er dann bei einem großen metallverarbeitenden Betrieb als Werkzeugschleifer und machte nebenher die Prüfung zum Glasermeister. Schon ab 1993 begann er, nebenbei selbständig als Glaser zu arbeiten, und nahm Aufträge aus seinem Bekanntenkreis an. Schließlich kündigte er im Jahr 2000 die unselbständige Stelle und machte sich vollends selbständig. Sein Vater war ihm in Sachen Selbständigkeit ein Vorbild: „Auf jeden Fall vom Vater habe ich natürlich das wahrscheinlich schon das geerbt, klar. Er ist ja die meiste Zeit selbständig gewesen.“ (Herr Güçlü, Z. 346 f.) *1962 Türkei

ca. 1972 Vater kommt nach Österreich

Ab 1990 Arbeit als Werkzeugschleifer bei metallverarbeitendem Betrieb

1977 Übersiedlung nach Österreich

1993 Selbständigkeit als Glaser (zunächst im Keller)

1990 Glasermeister

Zeitstrahl 6: Herr Güçlü, Glaser

1978 Deutschkurs Beginn der Lehre

2000 Kündigung, Konzentration auf die Selbständigkeit Erste Werkstatt: 16 Quadratmeter

1982 Heirat

Nach der Lehre erwerbstätig als Glasschleifer

Kauf des Hauses, in dem der Betrieb schon war => Vergrößerung Übergabe des Betriebs an den Sohn („zweiter Chef“)

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Seither führt er eine Glaserei in der Nähe von Alpstadt, die er schrittweise vergrößerte, bis er schließlich das Haus mit Werkstatt kaufte. Der Betrieb hat einen Lehrling. Mittlerweile übergab Herr Güçlü die Leitung des Betriebs an seinen Sohn, den er als „zweite[n] Chef“ (Herr Güçlü, Z. 397) bezeichnet. Geheiratet hat er 1982, die zwei Söhne sind 30 und 25 Jahre alt, die Tochter 27. Herr Kaya, geboren 1975 bei Alpstadt, übersiedelte im Jahr 1980 mit den Eltern in die Türkei. Dort verbrachte er seine Kindheit und Jugend, absolvierte die Volksschule, die Hauptschule und eine Fachschule für Metallverarbeitung, bis er 1990 nach Österreich zurückkehrte. Der nun 16-Jährige begann eine Ausbildung zum Maler in dem Betrieb, in dem auch sein Vater beschäftigt war. Er arbeitete im Anschluss daran zehn Jahre lang als Maler, bis er 2000 für ein Jahr als Lkw-Fahrer tätig war. 2001 schließlich begann er bei einem größeren metallverarbeitenden Betrieb. Nebenbei führte er einen kleinen Versandhandel mit Computerbedarf und machte eine Unternehmerprüfung bei der Wirtschaftskammer. 2008 holte er die Meisterschule als Maler nach, kündigte seine unselbständige Erwerbstätigkeit und eröffnete 2009 seine Malerwerkstatt. Auch Herr Kaya nennt ausdrücklich die Vorbildfunktion seines Vaters für die Selbständigkeit: „Selbständigkeit schon, also es liegt schon ein bisschen in der Familie. Also mein Opa war, hatte einen Einzelhandel gehabt, und mein Vater hat auch immer seinen eigenen Lkw, also ein kleines Transportunternehmen gehabt, also, ich denke schon, dass es schon irgendwie immer einen familiären Hintergrund auch hat, ja.“ (Herr Kaya, Z. 406-409)

*1975 bei Alpstadt

1980 Übersiedlung mit den Eltern in die Türkei

2000 Lkw-Fahrer

2001 unselbständig tätig in metallverarbeitendem Betrieb

dort VS, HS5, Fachschule/ Metallverarbeitung

Nebenbei: Versandhandel, Unternehmerprüfung, WK

1990 Rückkehr nach Österreich

1990 Ausbildung als Maler im Betrieb, in dem auch der Vater beschäftigt war

2008 Meisterschule dann Kündigung der Stelle

2009 Selbständigkeit, zunächst im Keller und Auto

im Anschluss: angestellter Maler

seit 2013 Neuer Standort, größer, auch: zwei Mitarbeiter

Zeitstrahl 6: Herr Kaya, Malerwerkstatt Zu Beginn hatte er nur einen Keller und das Firmenauto als Werkstatt und Lager. 2013 vergrößerte er aber, wechselte an einen anderen Standort und hat mittlerweile zwei angestellte Mitarbeiter. Herr Kaya hat vier Kinder mit zehn, elf und 13 Jahren und mit sieben Monaten. 5

VS steht für Volksschule (entspricht der deutschen Grundschule); HS für die Handelsschule.

Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit | 163

Herr Memiş ist 39 Jahre alt. Er kam 1976 in der Türkei, an der Schwarzmeerküste, zur Welt. 1982 emigrierten seine Eltern nach Österreich, wo sie in der Gastronomie tätig waren. 1987 folgte Herr Memiş gemeinsam mit seiner Schwester und seinem jüngeren Bruder nach Alpstadt. Dort absolvierte er die Hauptschule und machte danach eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker. Er arbeitete aber nicht in diesem Beruf, sondern bei verschiedenen Firmen auf dem Bau. 2008 verlor er seine Arbeit und war für eineinhalb Jahre lang arbeitslos. Währenddessen versuchte er, über eine Weiterbildungsstiftung eine zweite Ausbildung, zum Mechatroniker, zu machen. Dieser Plan scheiterte aber daran, dass Herr Memiş keine Praktikumsstelle fand. Daher machte er sich 2009 selbständig. Er startete mit einem Ein-Mann-Unternehmen als Kfz-Aufbereiter und bot Reifenmontagen an. Das Geschäft lief nicht so gut wie gewünscht, daher orientierte er sich um: Er mietete eine ungenutzte Halle in der Nachbarschaft seiner bestehenden Werkstatt und eröffnete 2012 eine freie Kfz-Werkstatt. Er hat dort mittlerweile mehrere Angestellte. *1976 Türkei, Schwarzmeerküste, nahe Georgien

Bau (verschiedene Firmen)

1982 Vater und Mutter kommen nach Österreich, Arbeit in der Gastronomie

2008 Arbeitslosigkeit (1,5 Jahre) Versuch, über Weiterbildungsstiftung Mechatroniker-Ausbildung zu machen: scheitert, da keine Praktikumsstelle

1987 Übersiedlung nach Österreich mit Schwester und kleinerem Bruder

2009 Selbständigkeit Kfz-Aufbereitung und Reifenmontagen

Deutschkurs, HS, Berufsschule/KfzMechaniker

Heirat

2012 Kfz-Werkstatt, Halle gemietet

Zeitstrahl 7: Herr Memiş, Kfz-Werkstatt Frau Sarı ist etwa 30 Jahre alt, d.h. sie ist ca. 1986 in der Türkei geboren. Im Alter von acht Jahren kam sie mit ihren Eltern nach Österreich, wo die Familie, gemeinsam mit dem älteren Sohn, zuerst in einer kleineren, touristisch geprägten Stadt im Land Mittelösterreich lebte. Dort besuchte sie die Volks- und die Hauptschule. 2004 übersiedelte die Familie nach Alpstadt und Frau Sarı absolvierte dort eine Abend-Handelsschule. Im Anschluss machte sie eine Ausbildung zur diplomierten Arztassistentin und arbeitete dann in diesem Beruf. Nebenbei arbeitete sie in einem Fastfood-Restaurant, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. Die beiden eröffneten einen Gastronomiebetrieb, unter der Leitung des Ehemanns, schlossen diesen aber drei Jahre später. Mittlerweile, im Jahr 2008, waren ihre Zwillingskinder auf die Welt gekommen und Frau Sarı machte eine kurze Erwerbstätigkeitspause. 2011 begann sie in einer Rechtsanwaltspraxis zu

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arbeiten und jobbte nebenbei wieder in dem Fastfood-Restaurant. 2014 schließlich eröffnete sie die Trattoria, in der nun ihr Mann als Koch angestellt ist, und erfüllte sich damit „ihren Traum“: „Ich war, wollte mich selbständig machen, ich wollte mich selbständig machen. Ich wollte meinen Traum erfüllen“ (Frau Sarı, Z. 35 f.) Frau Sarı ist Diabetikerin und gerade die Krankheit, so berichtet sie, gibt ihr eine besondere Motivation, sich beruflich zu engagieren: „Ich habe gesagt, ja mein Gott, na, also, sterben muss ich irgendwann, und bis dahin kann ich arbeiten und für meine Kinder was tun. Und ja, wir haben das alle beide aufgebaut und wir kämpfen alle beide [ihr Ehemann und sie, Anm. HB].“ (Frau Sarı. Z. 458-460)

Auch sie spricht von ihrem Vater als Vorbild bei der Entscheidung, sich selbständig zu machen, und auch seine disziplinierte Art und seinen Perfektionismus bei der Arbeit betont sie. „Mein Vater ist mein sehr großes Vorbild. Er hat Disziplin in der Arbeit. Obwohl er so ein kleines Kebab-Standl gehabt hat, er hat wirklich Disziplin gehabt. Also noch meiner Meinung, hat er perfekt gemacht. Und es ist, also mein Vater ist mein großes Vorbild.“ (Frau Sarı, Z. 276-278)

*ca. 1986 Türkei

ca. 1994 (mit 8 Jahren) Übersiedlung in Kleinstadt gemeinsam mit den Eltern

Tätigkeiten in Arztpraxis und in FastfoodRestaurant

2007 Heirat Selbständigkeit des Ehemanns, Gastronomiebetrieb bis 2009

Besuch der VS, HS in der Kleinstadt, Nebenjobs in der Gastronomie

2008 Geburt der Zwillinge

2004 Übersiedelung nach Alpstadt

Besuch der Handelsschule und Abend-Handelsakademie

ab 2011 Rechtsanwaltspraxis nebenbei Fastfood-Restaurant

ab Anfang 2014 für sechs Monate Arbeitslosigkeit (Planung der Selbständigkeit)

Ausbildung zur diplomierten Arztassistentin

Juli 2014 Eröffnung der Gastronomie

Zeitstrahl 8: Frau Sarı, Trattoria Frau Şen wurde 1976 in der Türkei geboren und kam als Kleinkind mit den Eltern nach Österreich. Mit sechs Jahren übersiedelte sie wieder in die Türkei, wo sie die Volksschule besuchte – um besser Türkisch zu lernen, so die Intention des Vaters, erzählt sie. Danach, mit zwölf Jahren, kam sie wieder zurück nach Alpstadt, wo sie seither lebt. Sie machte eine Ausbildung zur Friseurin und arbeitete einige Jahre in diesem Beruf. Allerdings musste sie aufgrund einer Allergie aufhören und wechselte daher zu einer Glasfirma als Kontrolleurin. 2011 kam ihre dritte Tochter auf die Welt (die ersten beiden sind 1998 und 2002 geboren) und sie war für ein Jahr in Karenz. Danach wollte sie nicht zurück in die dequalifizierte, unselbstän-

Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit | 165

dige Erwerbstätigkeit und nahm, mit Unterstützung ihres Mannes, der als Taxifahrer selbständig ist, die frühere Idee einer Marktlücke wieder auf: die Eröffnung eines Hijab-Modeladens. Er ist der erste und bisher einzige in Alpstadt.

*1976 Türkei

Kurz darauf Umzug mit den Eltern nach Österreich

Tätigkeit als Friseurin für vier, fünf Jahre => Allergie

2004 Geburt der zweiten Tochter

1982 Rückkehr in die Türkei, Besuch der VS

Tätigkeit bei einer Glasfirma als Kontrolleurin

1988 Übersiedlung nach Alpstadt

2011 Geburt der dritten Tochter, Karenz

Ausbildung zur Friseurin

2012 Eröffnung des Ladens, zunächst auf den Namen des Ehemannes

1998 Geburt der ersten Tochter

2015 Umschreiben des Ladens auf Frau Şen

Zeitstrahl 9: Frau Şen, Hijab-Mode Frau Yeşilçay ist Mitte 20, sie wurde ungefähr 1990 in Alpstadt geboren. Ihre Eltern stammen beide aus der Türkei. Frau Yeşilçay hat die Volks- und die Hauptschule besucht, begann dann die Handelsschule, brach diese jedoch ab. Danach machte sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau im Textilbereich. Sie arbeitete dann bei einem Drogeriemarkt. 2010 kam ihr Sohn zur Welt und Frau Yeşilçay hatte für ein Jahr Elternzeit, um danach beim Drogeriemarkt weiterzuarbeiten. Schon 2014 entwickelte sie gemeinsam mit ihrem Mann, einem Maler, die Idee, eine Herrenboutique zu eröffnen. Die Idee entwickelte sich zum Plan und sie setzten ihn 2015 in die Tat um, als sich nach längerer Suche ein geeigneter Raum finden ließ, der günstig liegt und keine zu hohe Miete mit sich bringt.

ca. *1990 Alpstadt

Angestellte, Drogeriemarkt

Besuch der VS, HS

2010 Geburt des Sohns, Karenz

Besuch der Handelsschule, abgebrochen

Angestellte, Drogeriemarkt

Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau (Textilbranche)

2015 Eröffnung des Ladens

Zeitstrahl 10: Frau Yeşilçay, Herrenboutique

MOTIVE FÜR DIE SELBSTÄNDIGKEIT ALS ANERKENNUNGSDEFIZITE Jeder und jede der Interviewpartner_innen hatte Gründe für die Wahl der Selbständigkeit. Im letzten Teilkapitel wurden schon einige solcher Anlässe, die die

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interviewten Selbständigen nannten, besprochen. Sie sind das Hauptthema dieses Kapitels. Einige der Interviewten beschreiben ihre Gründe ausführlich und nennen sie explizit, andere weniger. Bei einem Interview nannte der Interviewpartner (Herr Çoban) beispielsweise erst nach mehrmaligem Nachfragen eine längere Krankheit, die ihn dazu bewogen hatte, sich beruflich neu zu orientieren. Alle Interviewpartner_innen nannten als ein Motiv das Bedürfnis, eine „(Geschäfts-)Idee“ umzusetzen. Die Ideen entsprangen verschiedenen Umständen:  

 

Manche erkannten eine Marktlücke (der erste Alpstadter Kebab-Stand, Herr Bilge sen.; der erste Hijab-Modeladen, Frau Şen). Einer stellte eine konkrete Produkterwägung an (z.B. Herr Çoban, der den Vorteil von Schmuck und Edelmetallen darin sieht, dass sie nicht an Wert verlieren). Andere ergriffen eine gute Gelegenheit (z.B. Herr Ercan, der sich länger umgehört hatte, bevor er einen Kompagnon kennenlernte). Einige betonten die Freude daran, etwas Neues auszuprobieren (z.B. Frau Yeşilçay, die gerne etwas verkaufen wollte, „was ihr gefällt“ – in ihrem Fall ist dies Herrenmode).

Bei allen Interviewpartner_innen gab es aber auch konkrete, oft plötzlich auftretende Anlässe, die erst den Ausschlag für die Gründung des Geschäfts gaben. Ein Teil dieser Motive kann als (krisenhafter) Einschnitt gedeutet werden, der einen Bildungsprozess einleitete. Im Gesamtkorpus können verschiedene solcher Krisen in den Lebensgeschichten der Interviewten identifiziert werden. Es gibt aber auch Fälle, bei denen keine Bildungsprozesse angenommen werden können, weil die Gründe für die berufliche Veränderung nicht in Krisen liegt, sondern in allmählichen Transformationen, die sich schrittweise und ohne vorgelagerten offensichtlichen (krisenhaften) Anlass gestalten. Teilweise können die Krisen als Anerkennungsdefizite bezeichnet werden, die auf kollektive Formen der Benachteiligung zurückgehen. Häufig hängen diese mit den Migrationsgeschichten der Betroffenen zusammen. Teilweise handelt es sich dagegen um Einschnitte, die mit dem Themenfeld Migration nicht in Verbindung stehen6.

6

Sie können dennoch kollektiv auftreten, beispielsweise da, wo es um die Gruppe der „Väter“ geht. Der Anlass ist hier das Vaterwerden, das eine Neuorientierung des Handelns unter nun neuen Umständen verlangt. Auch für diese Gruppe wäre eine Studie wünschenswert, die die beruflichen Neuorientierungen solcher junger Väter in den Blick nimmt.

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Als zentrales Kriterium, das für die empirische Einschätzung solcher Anerkennungsdefizite herangezogen werden kann, verwendet Honneth den Begriff des „Unbehagens“ oder auch des Verspürens eines „sozialen Unrechts“ und der „Unrechtsempfindung“ (Honneth/Fraser 2003: 149). In den folgenden Teilkapiteln werden diese Einschnitte, die zu einem großen Teil bei den Betroffenen ein Unbehagen oder ein Unrechtsempfinden auslösen, einzeln beschrieben und kategorisiert. Wie bei einem qualitativen Verfahren üblich, spielt die Häufigkeit der Nennung keine Rolle, es geht vielmehr darum, die verschiedenen Anlässe möglichst umfassend zu erkennen, zu beschreiben und zu systematisieren. Familiäre Veränderungen Herr Çoban, der Juwelier, war für eine längere Zeit krankgeschrieben und machte sich in dieser Phase selbständig. Zu diesem Krankenstand kam noch ein anderer Umstand hinzu, den er folgendermaßen beschreibt: „’94 war der Grund, erstens im Familienbereich, mein Sohn hat mit der Schule begonnen. Und gleichzeitig, meine Tochter ist auf die Welt gekommen. Ich habe eine Operation gehabt, an den Stimmbändern. Ich habe eineinhalb Jahre eine Therapie gehabt. Also ich war sechs Monate krank, also eineinhalb Jahre logopädische Therapie gehabt. In der Zwischenzeit Wahnsinnskosten gehabt. Von ’90 bis ’92, das war fast doppelt. Weil damals bin ich allein hier, danach waren wir vier Köpfe. […] Das war der Knackpunkt, man muss etwas tun.“ (Herr Çoban, Z. 171-178)

Dass es sich im vorliegenden Fall um eine Veränderung handelt, die eine Transformation des gewohnten Handelns nach sich zog, kann aus der Betonung von den neuerdings angefallenen „Wahnsinnskosten“ und dem Umstand, dass Herr Çoban sich nun um „vier Köpfe“ kümmern musste, rückgeschlossen werden. Besonders aber die abschließende Formulierung „Das war der Knackpunkt“ spricht für diese Deutung. Bei dieser Form des Einschnitts lässt sich allerdings schwerlich von einem Anerkennungsdefizit reden, denn die Zunahme familiärer Verantwortung kann zwar – dies zeigt das Beispiel – eine Neuorientierung des (beruflichen) Handelns nahelegen oder sogar notwendig machen. Sie stellt hier aber kein kollektives Merkmal dar, das migrationsspezifisch ist. Weiterhin ist nicht gesagt, dass der Betroffene ein Unbehagen gegenüber seiner neuen Situation entwickelt. Auch das Beispiel von Frau Şen unterstreicht dies. Sie hatte ihr drittes Kind bekommen, war in Elternzeit und entschied sich danach, sich selbständig zu machen – als Krise, die ein Unbehagen hätte auslösen können, empfand sie diese Veränderung keineswegs. Anders verhält es sich bei den folgenden Motiven, angefangen bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit.

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Unfreiwillige Arbeitslosigkeit Unfreiwillige Arbeitslosigkeit wurde immer wieder in den Interviews genannt. So erzählt beispielsweise Herr Deniz: „Also, ich habe damals eine Umschulung gemacht, auf Herrenkleidermacher. Und das war ein Interesse von mir, immer, dass ich diesen Beruf lerne. Also durch die Krise war ich arbeitslos. Dann habe ich die Möglichkeit bekommen, Umschulung zu machen. Also eine Stelle zu finden, war nicht so einfach, in dem Bereich. Dann, okay, ich war fertig mit meiner Lehre – habe ich entschieden, dass ich mich selbständig mache, warum nicht?“ (Herr Deniz, Z. 15-19)

Von Arbeitslosigkeit waren auch einige andere Interviewpartner betroffen. So konnte Herr Aydın, der Schneider, nach Kontrollen durch das Finanzamt seiner Schwarzarbeit nicht mehr nachgehen, Herrn Bilge senior, dem Fleischer, wurde nach einem Arbeitsunfall gekündigt, Herr Çoban, der Juwelier, war durch die Stimmbandoperation ebenfalls arbeitslos geworden. Auch Herr Memiş, der jetzt eine Kfz-Werkstatt führt, wurde arbeitslos: „Dann haben wir auf der Baustelle gearbeitet, und ganz am Schluss, […], habe ich gutes Einkommen gehabt, auch, Alleinverdiener, und leider hat, wollte die Firma nach, ich glaube, nach Tschechien auswandern. Haben gesagt, ja, jetzt müssen wir die Leute kündigen. […] Leider es sind sehr viele Arbeitslose hier, dann habe ich gesagt, na, …!“ (Herr Memiş, Z. 7-13)

Anlässlich der Arbeitslosigkeit versuchte Herr Memiş eine weitere Ausbildung als Mechatroniker zu machen, fand aber keine Praktikumsstelle. Dies führt er auf die Konkurrenz an Bewerber_innen zurück, die er mit der großen Arbeitslosigkeit in Alpstadt erklärt. Herr Memiş war insgesamt eineinhalb Jahre lang arbeitslos, bevor er sich entschloss, einen eigenen Betrieb zu gründen. Dass es sich bei dieser Form von Krise um ein Anerkennungsdefizit handelt, von dem in besonderem Maße türkische Migranten kollektiv betroffen sind, kann strukturell mit statistischen Daten begründet werden. Diese legen es nahe, dass die Zugehörigkeit zu dieser (nationalen) Herkunftsgruppe Arbeitslosigkeit begünstigt. Aus Sicht der Interviewpartner_innen wurde selten direkt über rassistisch motivierte Benachteiligungen berichtet. Mindestens aber kann die Arbeitslosigkeit als Anerkennungsdefizit, das auf die individuelle Ebene durchschlägt, gewertet werden, mit der die Betroffenen einen Umgang finden mussten.

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Gesundheit Der Gesundheitszustand stellt ebenfalls einen Anlass für eine berufliche Neuorientierung dar. Dieses Motiv tritt immer in Kombination mit anderen Motiven auf. Oben wurde schon ein Beispiel beschrieben, in dem ein Arbeitsunfall eine Kündigung zur Folge hatte (Herr Bilge sen.). Ein weiteres Beispiel war die Geschichte von Herrn Çoban, bei dem eine Stimmbandoperation mit familiären Veränderungen zusammentraf. „Ich habe gesundheitlich das Problem gehabt, das ist über eineinhalb Jahre Kosten. Ich habe gesagt, wenn das nach 30, 40 Jahren wieder passiert, wie kann ich mich absichern?“ (Herr Çoban, Z. 353)

Deutlich wird im Zitat auch, dass gesundheitliche Gründe mit ökonomischer Absicherung in Verbindung gebracht werden. Das Vertrauen von Herrn Çoban in die staatliche Absicherung ist offenbar nicht so groß, dass er ihr zutraut, ihm in einem weiteren längeren Krankheitsfall genügend helfen zu können. Die Selbständigkeit ist für ihn das sicherere Mittel. Aufgrund einer längeren Arbeitslosigkeit begann Herr Memiş alternative berufliche Möglichkeiten zu erörtern: „Und gesundheitlich geht’s mir auch nicht so gut. Magenprobleme, Kreuzprobleme, Rückenprobleme. […] Und da habe ich gesagt, ich will nicht in die Baustelle. Und woanders kann ich kein Geld verdienen. Sagt er, mein Bruder hat gesagt, ja, es gibt ja diese Aufbereiter. Und die sind ja ganz jetzt aktuelle und berühmt jetzt.“ (Herr Memiş, Z. 341)

Drei Möglichkeiten zu reagieren nennt er im Interview: (1.) auf der Baustelle zu arbeiten, sichert ihm einen guten Verdienst, war ihm aber aufgrund körperlicher Einschränkungen nicht mehr möglich, (2.) er hätte sich eine andere Tätigkeit suchen können, die ihm aber zu wenig Einkommen versprach, das galt auch für seinen Ausbildungsberuf als Kfz-Mechaniker und schließlich – so entschied er sich dann auch – konnte er sich (3.) selbständig machen. Schlechte Bezahlung Besonders häufig wird die schlechte Bezahlung im unselbständigen Bereich genannt. So berichtet Herr Aydın: „Der Grund ist, wenn ich fremd arbeite, arbeite ich auch so viel, dafür verdiene ich wenig. Und bei selbständig, ich arbeite für mich selber. Das hat mich sehr interessiert.“ (Herr Aydın, Z. 8 f.)

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Auch für den oben schon zitierten Herrn Çoban waren finanzielle Gründe mit ausschlaggebend, als er von seinem gerade eingeschulten Sohn und der Geburt der Tochter sprach. Herr Bilge junior führt ebenfalls die hohen Lebenshaltungskosten, die man sich als Angestellter kaum leisten kann, an: „Miete zum Beispiel, sogar jetzt die Miete wird immer höher, das war schon hoch und jetzt wird es immer höher und höher. Und mit 1300 Euro müssen Sie 800 Euro Miete zahlen, also bleiben 500 Euro zum Überleben und wenn Sie rauchen 300 Euro ist also mindestens, also 200 Euro – und Sie haben keine Chance.“ (Herr Bilge jun., Z. 167-170)

Herr Güçlü, der Glaser, spricht vom höheren Einkommen als eigentlichem Grund für den Gang in die Selbständigkeit, wenn er auf die Frage nach den größten Veränderungen in seinem Leben durch die Selbständigkeit antwortet: „Ja, dass ich mehr Geld in der Tasche gehabt habe, ne. Für das macht man sich ja schließlich selbständig.“ (Herr Güçlü, Z. 713 f.)

Dequalifizierung Frau Şen, die Inhaberin des Hijab-Modeladens, machte sich nach ihrer Elternzeit selbständig. Ein wichtiger Grund dafür war, dass sie nicht wieder in die unselbständige Tätigkeit in der Qualitätskontrolle eines großen Betriebs zurück wollte. Sie ist gelernte Friseurin, kann diese Tätigkeit aber aufgrund einer Allergie nicht ausführen (auch: Gesundheitsaspekt). Für Herrn Bilge senior war der unmittelbare Anlass für die berufliche Neuorientierung seine Kündigung nach dem Arbeitsunfall. Allerdings förderte die unqualifizierte Tätigkeit auf dem Bau seine Entscheidung: „Die ganze Zeit, ich bin Ausländer gewesen, immer gearbeitet mit Pickel, mit der Hand gearbeitet. Für mich ganz schwer arbeiten. Ich bin Türkei, studieren, als ich hergekommen, muss arbeiten [im Sinne von: körperlich, unqualifiziert. Anm. HB].“ (Herr Bilge sen., Z. 137 f.)

Auch bei Herrn Memiş spielte dieser Grund eine Rolle. Er war vor seiner Arbeitslosigkeit unqualifiziert tätig gewesen und hatte nach der Kündigung die Alternativen unqualifiziert zu arbeiten, was aufgrund der Gesundheit nicht länger möglich war (siehe auch Kapitel „Gesundheit“) oder qualifiziert als Kfz-Mechaniker, was ihm aber nur ein geringes Einkommen versprach.

Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit | 171

Wirtschaftliche Unsicherheit Vier der Interviewpartner_innen kündigten die unselbständige Erwerbstätigkeit selbst mit dem Ziel, sich selbständig zu machen. Zwei davon nannten als Grund dafür die wirtschaftliche Unsicherheit und die unsichere Arbeitssituation mit zunehmendem Alter. Beide, der Glaser Herr Güçlü und der Maler Herr Kaya, waren in der metallverarbeitenden Industrie tätig, hatten vorher schon eine Ausbildung absolviert und holten später den Meistertitel nach, obwohl sie nicht aktiv in ihrem Ausbildungsberuf tätig waren. Auf die Frage, aus welchem Grund er seine Stelle verließ, antwortet der Maler Herr Kaya: „Wirtschaftskrise, war das damals. Das war schon der Anstoß. Ich habe das immer überlegt, selbständig zu werden, aber das hat sich beschleunigt, die Wirtschaftkrise, 2007, ’08.“ (Herr Kaya, Z. 93 f.)

Und auf die Frage, ob ihm gekündigt wurde, erklärt er: „Nein, ich bin nicht gekündigt worden, ich habe selber gekündigt.“ (Herr Kaya, Z. 98) Schließlich nennt er, neben der Wirtschaftskrise, den konkreten Grund: „Und ich habe das so überlegt, wenn ich irgendwo 45, 50 bin und […] irgendwie dann gekündigt werde, dann habe ich keine Chance mehr irgendwo einzusteigen, ja, […] Deswegen habe ich entschlossen, dass ich schon früher selber was in die Wege stelle.“ (Herr Kaya, Z. 107-112)

Aber auch für Herrn Çoban, der zunächst aus den genannten familiären Gründen in die Selbständigkeit wechselte, spielte dieser Faktor in die Entscheidung mit hinein: „Ich habe gesundheitlich das Problem gehabt, das ist über eineinhalb Jahre Kosten. Ich habe gesagt, wenn das nach 30, 40 Jahren wieder passiert, wie kann ich mich absichern? Da muss man das Risiko erhöhen, ich mache mich selbständig dann.“ (Herr Çoban, Z. 353356)

Interessant ist, dass diese Ursache für den Gang in die Selbständigkeit schon in der Literatur der 1990er Jahre angeführt wird, wie Punkt (2) des folgenden Zitats zeigt: „(1) family tradition, (2) economic security considerations in view of rising unemployment rates, particularly among second-generation Turks; and (3) the increasing demand for special goods and services among the growing Turkish communities“ (Blaschke et al. 1990: 92).

172 | Status und Stigma

Im herrschenden neoliberalen System, in dem der Staat die Verantwortung über eine gelingende Teilhabe an gesellschaftlichen Teilsystemen Stück für Stück zurücknimmt, kann davon ausgegangen werden, dass diejenigen, die ohnehin schon benachteiligt werden, als Erstes zum Opfer von Exklusion – im hier verhandelten Fall vom Erwerbsleben – werden. Daher verwundert es nicht, dass der 1990 von Blaschke et al. formulierte Grund noch immer Gültigkeit besitzt. Rechtliche Unsicherheit Herr Aydın, der einen Status als Asylwerber hatte, konnte nicht legal arbeiten. Für ihn stellte die Selbständigkeit eine Möglichkeit dar, wenn schon nicht den Aufenthaltsstatus, so doch zumindest den rechtlichen Rahmen für seine Erwerbstätigkeit zu legalisieren. Er verbindet diesen Schritt – das wird die Diskussion unten noch genauer zeigen – mit einem generellen Zugehörigkeitsgefühl, wie das folgende Zitat zeigt: „Asyl beantragt damals und durfte ich nicht arbeiten und bin ich dort zwei Mal erwischt worden vom Finanzamt, und dann bin ich, konnte ich nicht mehr arbeiten dort. Dann habe ich mir gedacht, dann mache ich mich selbständig, ja. Wenn ich darf. Habe ich mich erkundigt, und hab ich positive Antwort bekommen, ich dürfte mich selbständig machen, als Asylwerber, okay.“ (Herr Aydın, Z. 25-28)

Zwar ist der Status als Asylwerber/in unter den Personen, die aus der Türkei nach Österreich einwandern, derzeit relativ selten, dennoch kam der Fall im Korpus vor, und dass das Bedürfnis nach rechtlicher Absicherung auch unter anderen Bedingungen vorhanden sein kann, zeigt der Fall von Herrn Bilge junior und senior, die immer wieder darauf verwiesen, dass sie von den Behörden die angefragte Standgenehmigung nicht bekamen: „Ich habe einen Kebab-Stand gemacht, das ist mein Beruf, aber fünf, sechs Jahre ohne Genehmigung gearbeitet. Aber ohne zu …, Steuer, alles bezahlt, aber ohne Genehmigung. Ich gemeldet. ich habe keine Beruf. Diese Zeit keinen Imbiss, ich habe keine, die Frau L., die arbeitet im K. [Behörde], immer schicken bei mir Strafe. Ich möchte immer, jedes Jahr ich möchte eine Genehmigung, eine Genehmigung, nicht bekommen, nie. Und ich glaube, ’92, oder ’90, schon vergessen, er kriegt Imbiss eröffnet. Gott sei Dank.“ (Herr Bilge sen., Z. 54-59)

Dieses Beispiel stellt keinen Anlass für den Gang in die Selbständigkeit dar, denn diese war schon gegeben. Hier wird die rechtliche Situation erst durch die Eröffnung des Imbiss-Stands zum Thema. Rechtliche Unsicherheit – im Fall von Herrn Bilge senior in Hinblick auf den Standplatz des Imbiss-Stands, im Fall von Herrn

Motive und Anlässe für die Entscheidung zur Selbständigkeit | 173

Aydın in Hinblick auf die beschränkten Möglichkeiten von Asylwerber_innen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen – kann als Anerkennungsdefizit im Bereich des Rechts gelten. Dadurch unterscheidet sich diese Form von den zuletzt genannten, die sich im Bereich der sozialen Wertschätzung abspielen. Diskriminierung Diskriminierung erscheint stets als Mischform, denn sie ist einerseits rechtlich bedingt, da sie im Zuge des Gleichbehandlungsgesetzes zur Rechtssache gemacht wird, andererseits ist sie eng mit sozialer Wertschätzung verknüpft. Dies gilt auch deshalb, weil nicht jeder diskriminierende Akt rechtswirksam verfolgt werden kann – zu schwierig ist es, in jedem Fall den Nachweis zu liefern, dass es sich um Diskriminierung handelt –, dennoch haben Diskriminierungen soziale Folgen für die Beteiligten. Diese besondere Form der missachteten Anerkennung wurde in keinem Fall als Anlass für die berufliche Neuorientierung genannt. Sie wird hier dennoch diskutiert, weil sie in der Literatur dezidiert als Motiv für die Wahl der Selbständigkeit genannt wird und weil sie in den Erzählungen der Interviewpartner_innen in Bezug auf andere Lebensbereiche immer wieder eine Rolle spielte. Dass im oben besprochenen Beispiel die Genehmigung für den Standort des Kebab-Standes von den Behörden nicht erteilt wurde, führt Herr Bilge junior auf eine Diskriminierung durch die Behördenverteter_innen zurück: „Weil die wissen nicht, die möchten nicht, glaube ich, dass Ausländer vorwärtskommen. Weil die guten Plätze kriegen immer, kriegt kein Ausländer, also ich meine jetzt von den Türken her.“ (Herr Bilge jun., Z.109)

Die verweigerte Anerkennung ist in diesem Beispiel allerdings kein Anlass für die Entscheidung zur Selbständigkeit. Sie findet vielmehr während bzw. im Rahmen der selbständigen Tätigkeit statt. Dieser Umstand ist im ganzen Korpus zu verzeichnen. Keine/r der Interviewpartner_innen berichtete über Diskriminierungserfahrungen, die dann Anlass hätten sein können, die unselbständige Erwerbstätigkeit aufzugeben. Das heißt nicht, dass es solche Diskriminierungen nicht gab – es bedeutet lediglich, dass niemand davon berichtete. Dennoch erzählten einige der Interviewten von solchen Erfahrungen in anderen Kontexten. Herr Kaya erzählte beispielsweise von einer Situation in der Volksschule seines Sohnes, wo er eine Diskriminierung seitens der Schule ausmachte, die den Sohn beim Übertritt in die höhere Schule benachteiligen wollte. Frau Sarı erzählte, wie sie als Kind in der Schule ausgeschlossen

174 | Status und Stigma

wurde. Herr Güçlü berichtete, wie er von anderen Mitgliedern seines Sportvereins immer wieder als „der Türke“ oder als „der Moslem“ verunglimpft wurde. Auch die Furcht vor rassistischen Übergriffen wurde in einem Interview genannt. So erzählt Frau Şen, die ein Hijab-Modegeschäft führt, dass sie immer wieder Angst davor habe, dass ihre Schaufenster eingeschlagen werden könnten: „Weil es hier in Alpstadt sowas ja noch nie gegeben hat. Und ein paar Kunden, zu mir haben auch gesagt, Respekt, Du traust Dich was. Sage ich ‚Wieso?‘ ‚Ja, dass Du eben Puppen mit Kopftüchern aufstellst.‘ Ich habe am Anfang wirklich die Befürchtung gehabt, dass vielleicht irgendwann einmal, wenn ich in der Früh herkomme, dass meine Auslagen also irgendwie eingeschlagen sind.“ (Frau Şen, Z. 341)

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Diskriminierungen und rassistische Übergriffe stattfinden oder befürchtet werden, allerdings nicht als Benachteiligungen bei den früheren unselbständigen Erwerbstätigkeiten der Interviewpartner_innen. Dies soll nicht als Beleg dafür gesehen werden, dass es diese nicht gibt. Im Gegenteil, zeigt doch die Literatur zum Thema sehr deutlich, dass es Diskriminierungen beim Zugang zum Arbeits- und zum Ausbildungsmarkt sowie im Arbeitsalltag von Personen mit türkischer Herkunft gibt (Kapitel 2). Ein weiterer Aspekt wird durch die Diskriminierungen, die eine Folge der Selbständigkeit sind, deutlich: Die Bildungsprozesse enden keineswegs mit dem Eintritt in die Selbständigkeit. Die Selbständigkeit stellt eine Neuorientierung dar, die auf krisenhafte Einschnitte erfolgt, und dadurch kann sie als punktuelles Ereignis innerhalb eines Bildungsprozesses bezeichnet werden, der eine momentane Krise lösen kann. Gerade durch die Selbständigkeit kommt es aber zu neuen Lebensumständen, die dann wieder neue Reaktionen der Betroffenen nach sich ziehen. Erlittene Diskriminierungen, die eine Folge der neuen Tätigkeit sind, sind Beispiele für diese anhaltenden Bildungsprozesse.

ZWISCHENFAZIT Aus dem Umstand, dass die interviewten Selbständigen nicht über Diskriminierung im Bereich der (eigenen früheren) Erwerbstätigkeit erzählen, folgt: Nicht nur, dass sie solche Formen verwehrter Anerkennung nicht nennen, sie positionieren sich auch nicht dagegen. Kein Interviewpartner und keine Interviewpartnerin sagte, dass er oder sie die Selbständigkeit wählte, um sich gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz zu wehren, und keine/r davon scheint dies in einer institutionalisierten Form zu artikulieren, zum Beispiel im Kontext eines türkischen Unternehmer_innenverbands oder eines Migrant_innenvereins. Zwar wird dort das Thema

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Diskriminierung behandelt – zum Beispiel lud während der Interviewphase ein türkischer Kulturverein zum Informationsabend gegen Diskriminierung 7 ein –, dort kam Diskriminierung am Arbeitsplatz aber nicht dezidiert zur Sprache. Dieses Phänomen mag ein Spezifikum der Gruppe der Selbständigen sein. Wenn Honneth davon spricht, dass der Kampf um Anerkennung die Artikulation des Missstands beinhaltet, so scheint es unter den interviewten Selbständigen diesen Kampf, zumindest in einer vergesellschafteten Form, nicht zu geben, „denn ein Kampf ist nur in dem Maße als ‚sozial‘ zu charakterisieren, in dem sich seine Ziele über den Horizont von individuellen Absichten hinaus bis zu einem Punkt verallgemeinern lassen, an dem sie zur Basis einer kollektiven Bewegung werden können“ (Honneth 1994: 259). Die hier aus dem Korpus isolierten Motive lösen in vielen Fällen Unbehagen oder ein Unrechtsempfinden bei den Betroffenen aus. Außerdem treten sie häufig vor dem Hintergrund der in Kapitel 2 gezeigten strukturellen Benachteiligungen auf, die kollektiv auf die Gruppe der „Türk_innen“ zutreffen: Arbeitslosigkeit, Dequalifizierung, wirtschaftliche Unsicherheit sind Beispiele dafür. Verstärkt wird dieser Umstand dadurch, dass alle Interviewpartner_innen zumindest über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar über einen Meistertitel oder einen akademischen Grad verfügen. Sie befanden sich vor der Selbständigkeit in den misslichen Lagen, obwohl sie zu den wenigen Personen türkischer Herkunft im Land Mittelösterreich mit einem höherem Bildungsabschuss gehören8. Die Motive, die hier gelistet werden, sollen daher als Formen missachteter Anerkennung betrachtet werden. Als Ausnahme können veränderte Familienverhältnisse gelten, die meist eben gerade kein Unbehagen verursachen – höchstens in einigen Fällen den Bedarf nach einem höheren Einkommen und mehr Sicherheit verstärken. Die meisten dieser Anerkennungsdefizite spielen sich im Bereich sozialer Wertschätzung ab, einzelne im Bereich rechtlicher Anerkennung. In einigen Fällen wurde direkt gesagt, dass die Selbständigkeit der/dem Selbständigen mehr Achtung verleihe. So berichtet Herr Kaya:

7

Im Juli 2016 organisierte der Verein gemeinsam mit der Alpstadter Antidiskriminierungsstelle die Veranstaltung im Rahmen einer Reihe, bei der es um aktuelle Themen ging, die öffentlich verhandelt werden, wie auch zum Beispiel „Parallelgesellschaft“. An dem Abend zu „Diskriminierung“ waren neun Personen anwesend, die zum Teil von eigenen Diskriminierungserfahrungen berichteten – dies aber kaum im Bereich der Erwerbstätigkeit.

8

Siehe Kapitel 2: Der Anteil der in der Türkei Geborenen mit einem Pflichtschulabschluss liegt bei etwa 70 Prozent, derjenigen mit Lehrabschluss bei etwa 20 Prozent.

176 | Status und Stigma

„Bei uns in [im Ort, Anm. HB], da hat die Gemeinde so ein Flüchtlingsbegrüßungs-Dings organisiert, Veranstaltung, dann habe ich gesagt, okay, Tee und Kaffee von mir, ne. Und meine Frau hat dann Kuchen gebacken und so weiter. Jetzt wenn du das rechnest, da sind gleich einmal ein paar hundert Euro. Und, das zahlst du ungeschaut. Aber als Arbeiter musst du das gleich zweimal überlegen, kann ich das?“ (Herr Kaya, Z. 718-722)

Dass die Selbständigkeit mehr als nur ein beliebiger Beruf, eher ein besonderer Status ist, zeigt auch Frau Sarıs Anspruch, ihren Laden und damit den Status als Selbständige an ihren Sohn zu vererben: „Also ich will schon diesen Laden, ..., ich meine sicher, für die Zukunft kann man nie eine Garantie geben, aber wenn man jetzt mich fragt, ich will diesen Laden meinen Kindern übergeben.“ (Frau Sarı, Z. 299)

Wie wichtig dieser Status ist, zeigt auch das folgende Zitat von Frau Şen, der Inhaberin des Hijab-Modeladens. Anfangs war der Laden auf ihren Mann angemeldet, weil der Vorgang der Geschäftsgründung für beide leichter zu handhaben war, später übernahm sie dann das Gewerbe: „Mein Mann kommt nicht rein, mein Mann verkauft nicht. Aber ich gelte als Verkaufsleiterin. Ich habe gesagt, das will ich nicht mehr. Ich habe gefragt ‚Geht das nicht?‘ Er sagt, sicher, wieso nicht. Am Anfang hat er das gemacht, weil es dann schneller gegangen ist, weil er eben das Gewerbe hat, hat er einfach über sich aufgemacht, wegen Gewerbe. Und dann irgendwann einmal habe ich gesagt, Du, ab jetzt gehört es mir.“ (Frau Şen, Z. 522526)

Hier geht es offensichtlich nicht um Geld, denn für die beiden ändert der Inhaber_innenwechsel finanziell nichts, es geht Frau Şen in erster Linie darum, auch „auf dem Papier“ Selbständige zu sein, also offiziell den Status innezuhaben. Die gelisteten Punkte wurden hier sortenrein besprochen. Es zeigte sich aber, dass es in fast allen Fällen Mischformen sind, die einen Anlass für Neuorientierungen darstellen, bzw. sich mehrere Anlässe zu einem Komplex summieren. So nannte Herr Çoban eine familiäre Veränderung, er hatte einen längeren Krankenstand und die unsichere wirtschaftliche Situation spielte in die Entscheidung hinein. Bei Herrn Aydın, um ein weiteres Beispiel zu nennen, kamen die missachtete rechtliche Anerkennung und das geringe Einkommen zusammen. Herr Güçlü wollte mehr Geld verdienen und er führte die wirtschaftliche Unsicherheit als Argument an (Überblick: Tabelle 10).

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Tabelle 10: Überblick über Motive und Motivkombinationen Familiäre Veränderung

Unfreiwillige Arbeitslosigkeit

Gesundheit

Schlechte Bezahlung

Dequalifizierung

Wirtschaftliche Unsicherheit

Rechtliche Unsicherheit

Diskriminierung

Herr Aydın Herr Bilge jun., sen. Herr Çoban

Herr Deniz

Herr Ercan

Herr Güçlü

Herr Kaya Herr Memiş Frau Sarı

Frau Şen Frau Yeşilçay

Die zentralen Erkenntnisse der Analyse der Gründe für den Weg in die Selbständigkeit sind: 1.

2. 3.

4.

Die oben kritisierten Motive, die in der Literatur immer wieder genannt werden – Unternehmertyp vs. Ökonomie der Not – treten im hier zugrunde liegenden Korpus in allen Fällen gemeinsam auf: Alle Interviewpartner_innen hatten eine eigene Geschäftsidee oder eine intrinsische Motivation, alle nennen aber auch spezifische Motive, die als (teils krisenhafte) Einschnitte bezeichnet werden können. Diese Motive können häufig als Anerkennungsdefizite identifiziert werden. Sie treten selten einmal einzeln auf, sondern meist handelt es sich um Komplexe, die erst in ihrem Zusammenwirken zum Anlass für die berufliche Neuorientierung werden. Es scheint nicht zu einem Kampf um Anerkennung im Sinne eines sozialen, also kollektiv geführten Kampfes zu kommen.

Im folgenden Kapitel werden diese Anlässe einer tieferen Analyse unterzogen. Dabei werden einzelne Fälle im Detail betrachtet. Das Ziel dieser Erörterung liegt

178 | Status und Stigma

(1.) in der Entscheidung darüber, wann die Anlässe auch wirklich Bildungsprozesse zur Folge hatten, (2.) in der detaillierten Beschreibung von je neuem Handeln – das mit den Krisen beginnt und sich bis zum Zeitpunkt der Interviews erstreckt, also auch die Folgen der Selbständigkeit umfasst –, aufgeschlüsselt in die Selbst- und in die Weltverhältnisse der Akteur_innen, und (3.) in der Unterscheidung in verschiedene Formen des neuen Handelns, die dann gleichsam Strategien im Umgang mit Anerkennungsdefiziten darstellen. Diese Unterscheidungen sollen jeweils auch in allgemeine Schlussfolgerungen, die über die Betrachtung der Einzelfälle hinausgehen, münden. Daher wird der gesamte Korpus entlang der Erkenntnisse aus den einzelnen Fallbeispielen entschlüsselt.

6 Bildungsprozesse und Anerkennungskämpfe

Als Anlässe für Bildungsprozesse wurden bisher Krisen und Einschnitte besprochen und es wurde die Überlegung angestellt, ob und wie sie mit Anerkennungsmissachtungen gleichzusetzen sind. In der vorliegenden Arbeit wurden die krisenhaften Anlässe für einen Bildungsprozess als eine punktuelle Missachtung von Anerkennung oder als anhaltende Missachtung von Anerkennung, die in einer einzelnen Erfahrung kumulieren mag oder durch eine einzelne Erfahrung punktuell gesteigert wird, betrachtet. All diesen Anlässen ist gemein, dass sie punktuell auftreten oder sich zumindest über einen längeren Zeitraum hin mehr und mehr verdichten, so dass sie die Rahmenbedingungen im Leben eines Menschen verändern und eine Neuorientierung und Veränderung gewohnter Handlungsroutinen nahelegen oder sogar notwendig machen. Dabei werden in der aktuellen bildungswissenschaftlichen Literatur auch Formen von Anlässen genannt, die hier bisher nicht berücksichtigt wurden. Besonders soll an dieser Stelle noch einmal auf Fremdheitserfahrungen hingewiesen werden, in denen Zölch (2014) solche Anlässe für Neuorientierung ausmacht. Zwar wurde in der vorliegenden Studie die Entscheidung getroffen, diese nicht zu den Anlässen zu zählen, dennoch spielen sie eine wesentliche Rolle bei der Transformation von Selbst- und insbesondere von Weltverhältnissen, da gerade in den komplexen Verhältnissen zur sozialen Umwelt und in Zugehörigkeitsordnungen Erkenntnisse über die Weltverhältnisse der Einzelnen liegen können1. Es fällt schwer, bei solchen zwischenmenschlichen Erfahrungen eine klare Trennung in Anlässe für Bildungsprozesse und dementgegen in

1

Oben wurde schon auf Terkessidis’ Klassifizierung grundlegender Erfahrungen referiert, die rassistisches Handeln begründen. Janina Zölch zieht denselben Ansatz für ihre Ausführungen heran.

180 | Status und Stigma

Auswirkungen von Handlungsneuorientierungen zu setzen. In der folgenden Auswertung wird daher auch zu prüfen sein, ob Anlass und Auswirkung nicht doch mitunter ineinander übergehen. Die zentralen Kategorien für neues Handeln – das ist gleichzeitig Ausgangspunkt und Zentrum der vorliegenden Arbeit – sind erstens der Weg der Akteur_innen in die Selbständigkeit und zweitens die Zugehörigkeitsverhältnisse, die ihre Entscheidungen beeinflussen oder hinterlegen. Selbständigkeit stellt das neue Handeln dar, das die Selbständigen wählten, um neuen Rahmenbedingungen nach Einschnitten in ihr Leben beikommen zu können. Mitunter gibt es Fälle, in denen die Selbständigkeit gar keine Neuorientierung ist, sondern eher die Routine, die als nötige Sicherheit andere Formen der Neuorientierung begleitet. In wieder anderen Fällen wird der Weg in die Selbständigkeit anderen Formen des Agierens beiseitegestellt, so dass sie nicht allein das Mittel der Wahl für die Akteur_innen ausmacht. All dies wird im folgenden Kapitel diskutiert. Die Auswertung ist auf ein interpretatives Verfahren angewiesen, das 1. 2. 3.

der Analyse rhetorischer Figuren, der Analyse von Differenzlinien und einem interpretativen Verfahren nach Clifford Geertz, bei dem die gesamte Interviewsituation einbezogen wird, folgt.

In jedem Fall muss einzeln entschieden werden, (1.) ob ein Einschnitt im Leben überhaupt ausschlaggebend für einen Bildungsprozess und, wenn ja, wie relevant er für die berufliche Umorientierung der einzelnen Interviewpartner_innen war, (2.) mit welchen Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen neues Handeln und neue Weltsichten der Interviewpartner_innen einhergingen und (3.) ob es Zusammenhänge zwischen Einschnitten und neuem Handeln gab bzw. ob diese sich klar voneinander trennen lassen, ob sie ineinander übergehen oder miteinander wechselwirken. Die Beispiele, die in den folgenden Teilkapiteln en detail diskutiert werden, nehmen den Stellenwert von Fallstudien ein (Soeffner 1995). Sie wurden gewählt, weil sie besonders gut geeignet sind, spezifische Charakteristika aufzuzeigen, die sich im Korpus in Variationen wiederholen. Ziel des Verfahrens ist es, ebendiese Charakteristika vertieft zu beschreiben, sie wissenschaftlich zu fundieren und den Gesamtkorpus daraufhin zu untersuchen, auf welche Weise sie sich wiederholen und daher zur Verallgemeinerung taugen. Durch das Durchsuchen des Interviewkorpus nach den Merkmalen der zuvor ermittelten charakteristischen Handlungsweisen sollen die Ergebnisse der Fallanalysen als allgemein anwendbare Hypothesen reformuliert werden. Ausgewertet werden zunächst die Interviews mit

Bildungsprozesse und Anerkennungskämpfe | 181

den Interviewpartner_innen Herrn Aydın, Herrn Bilge junior und senior, Herrn Memiş und Frau Şen. Oben wurde schon angeführt, dass sich drei Formen des Handelns, die als Strategien im Umgang mit Anerkennungsdefiziten bezeichnet werden können, zeigen lassen: 1. Interesse am Spiel, 2. Aneignung von Raum, 3. Kosmopolitismus. Wichtig bei diesem Auswertungsschritt ist die Verlagerung der Perspektive zurück von strukturellen Bedingungen hin zum alltäglichen Handeln. Dieses folgt Scripts (Bukow/Llaryora 1988), die Zugehörigkeits- und Machtverhältnisse regeln. Werden die drei Handlungsstrategien theoretisch fundiert, so liegt ein Merkmal dieser theoretischen Ansätze dann auch darin, dass sie sich auf das (alltägliche) Handeln von Individuen beziehen. Schließlich wird der Interviewkorpus systematisch auf die drei Kategorien hin durchsucht. Abschließend rückt die Frage ins Zentrum: Welche Formen eines Kampfes um Anerkennung gibt es unter den Unternehmer_innen? Wie reagieren sie auf Defizite, wenn sie sie nicht direkt artikulieren? Tabelle 11: Handlungsstrategien Interesse am Spiel „Ich bin positiv geworden, glaube ich“ (Herr Aydın)

Diskussion anderer Beispiele aus dem Gesamtkorpus Raumaneignung „… mit dem kann man nicht leben“ (Herr Memiş) „Und ich will wirklich einen guten Platz“ (Herr Bilge jun. und sen.)

Diskussion anderer Beispiele aus dem Gesamtkorpus Kosmopolitismus „Man plaudert ein bisschen“ (Frau Şen)

Diskussion anderer Beispiele aus dem Gesamtkorpus

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Tabelle 11 gibt einen Überblick über die Auswertung. Zwar lassen sich die drei Strategien nicht idealtypisch den einzelnen Fällen zuordnen, denn jeder Interviewpartner bzw. jede Interviewpartnerin wendet die Strategien auf die eine oder andere Art und in schwächerem oder stärkerem Ausmaß an. Eine Gliederung ist dennoch möglich, so lässt sich zum Beispiel im Fall von Herrn Aydın das „Interesse am Spiel“ besonders eindrücklich aufzeigen, bei Herrn Bilge (jun. und sen.) und bei Herrn Memiş steht das Thema „Raumaneignung“ im Vordergrund. Bei Frau Şen schließlich kommt eine kosmopolitische Haltung gut zum Ausdruck, wenngleich auch das Interesse am Spiel und die Aneignung von Raum eine Rolle bei ihr spielen. In der Tabelle sind die Hauptstrategien dunkel hinterlegt, hell unterlegt sind diejenigen Strategien, die sich bei den einzelnen Interviewpartner_innen ebenfalls nachvollziehen lassen, im jeweiligen Kapitel aber nicht im Vordergrund stehen.

BERUFLICHE VERÄNDERUNGEN OHNE BILDUNGSPROZESSE Bei einigen Interviewpartner_innen stellte sich heraus, dass sie zwar einen beruflichen Neuanfang vollzogen, dabei aber schwerlich von einem Bildungsprozess die Rede sein kann. Am deutlichsten wird dies bei der Inhaberin der Herrenboutique, Frau Yeşilçay. Sie ist Mitte zwanzig und wurde in Alpstadt geboren. Dort machte sie auch eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. In diesem Beruf arbeitete sie einige Jahre in einem Drogeriemarkt. Sie war dort zufrieden, allerdings wollte sie sich anlässlich der Geburt ihres Sohnes und der damit verbundenen Unterbrechung der beruflichen Tätigkeit neu orientieren. Zuerst blieb sie noch eine Zeit lang beim Drogeriemarkt tätig, dann kam aber der Wunsch nach Veränderung auf: „Und nach der Karenzzeit habe ich trotzdem noch beim Drogeriemarkt gearbeitet. Und dann haben ich und mein Mann entschlossen, dass wir mal was anderes machen, nicht immer nur immer dasselbe, Routine, wie arbeiten, nach Hause, arbeiten, immer das selbst. Wir haben uns entschlossen, machen wir uns ein Ziel, machen wir was auf.“ (Frau Yeşilçay, Z. 11-14)

Folgt man Frau Yeşilçays Erzählung, dann ließe sich schließen, dass es einen Bildungsprozess gab, denn immerhin spricht sie wortwörtlich den Punkt an, den Dewey als Voraussetzung einer neuen Erfahrung nennt: Sie wollte die Routine durchbrechen. Dagegen spricht aber ihre Schilderung über die Zeit der Umsetzung der

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Idee zum Laden, den sie mittlerweile seit einem Jahr betreibt. Die Entscheidung darüber fiel aber früher: „Vor zwei Jahren schon. Eigentlich war der Gedanke immer schon da. Nur man hat sich immer ein bisschen sich nicht getraut, soll man’s. Und kurz davor, bevor wir das geöffnet haben, waren wir auf der Suche nach einem Mietraum, also wo natürlich ein bisschen günstiger Miete ist, und dann haben wir entschlossen hier, weil hier der freie Platz, also hier war der Platz frei, sagen wir mal so.“ (Frau Yeşilçay, Z. 58-61)

Vor allem aber die Selbsteinschätzung der jungen Frau spricht dagegen, dass sich ihre Persönlichkeit verändert hätte. Auf die Frage, ob sich ihr Verhältnis zu anderen geändert habe, besteht sie darauf, dieselbe geblieben zu sein: „Also ich selber bin nämlich gleich geblieben. Das kommt darauf an, wie ich (betont) bin und ich bin so wie ich immer war. Ich bin jetzt nicht hochnäsig geworden, nur weil ich jetzt selbständig bin, oder weil ich einen eigenen Laden habe.“ (Frau Yeşilçay, Z. 210)

Eine Ausnahme bildet der Händler Herr Ercan. Er kam ein gutes Jahr vor dem Interview nach Österreich, weil seine Frau aus der Alpstadter Gegend stammt und in der Türkei als Lehrerin keine Arbeit fand. Zwar hatten die beiden ursprünglich ausgemacht, in der Türkei wohnen zu bleiben, aber auf den Wunsch seiner Frau hin orientierten sie sich um, so Herr Ercan. Bei ihm stellt weniger eine berufliche Krise den Anlass für eine Neuorientierung dar, als vielmehr die Migration selbst und die folgenden Fremdheitserfahrungen. Er erzählt im Interview immer wieder von der Erfahrung, als „dangerous man“ (Herr Ercan, Z. 530) eingeschätzt zu werden, was ihn offenbar belastet. Über die Entscheidung, sich selbständig zu machen, sagt er: „No, all my family is by business, made businesses, when I was five years, no, not five, seven years old, I sold orange Saft in the bazars. I started when I was seven years old. I started then.“ (Herr Ercan, Z. 290)

Später studierte er „Kommunikation, Computer“ in der Türkei, führte aber immer neben dem Studium einen Laden, unmittelbar vor der Emigration sogar zwei. Für ihn stellt die Selbständigkeit in Österreich offenbar weniger eine Neuorientierung dar als eine Konstante, mit der er seine Fremdheitserfahrungen zu bewältigen versucht und wieder einen Anschluss an sein bisheriges Leben machen will. Es lässt sich auch hier ein Bildungsprozess erkennen, allerdings war keine berufliche Krise der Anlass, sondern die Fremdheitserfahrungen in Österreich. Außerdem stellt die Selbständigkeit kein neues Handeln dar, sondern sie ist eher das Mittel, Gewohntes wiederzuerlangen. Neuorientierung findet für Herrn Ercan eher in Bezug auf

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seinen Umgang mit Menschen statt, da er hier öfters mit Vorurteilen und Abwertungen konfrontiert ist. Obwohl also ein Verlauf vorliegt, der nicht die Selbständigkeit als Neuorientierung innehat, kann man von einem Kampf um Anerkennung auf der individuellen Ebene reden. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil Herr Ercan dezidiert äußert, dass er sich mithilfe des Austauschs mit anderen um den Abbau von Vorurteilen bemühen will – insofern lässt sich womöglich doch sagen, dass seine selbständige Tätigkeit als Händler, bei der er eine Vielzahl an neuen Kontakten knüpft, dem Kampf um Anerkennung eine Basis gibt: „I’m feeling these things, and like the police people, the Finanzamt people, they are looking to me, I’m sure ‚Aha, you are a Turkish man. I’m sure, you stole some things.‘ […] It’s not good. It’s not feeling good. Then it’s a problem, but, the positive thing is my job, when they’re talking, when they understand me, I think, they change their idea.“ (Herr Ercan, Z. 543-548)

Zwei weitere Fälle, bei denen es sich offenbar weniger um Bildungsprozesse handelt, die durch ein punktuelles Krisenereignis eingeleitet worden wären, zeigen die Erzählungen des Glasers Herrn Güçlü und des Malers Herrn Kaya. Beide befanden sich in einer sicheren beruflichen Position, beide verfügten über eine handwerkliche Ausbildung und arbeiteten qualifiziert bei einem großen metallverarbeitenden Betrieb. Beide berichten auch gleichermaßen von den guten Arbeitsbedingungen und Verhältnissen zu ihren Vorgesetzten. Sie holten während dieser Zeit die Meisterprüfung nach und begannen Schritt für Schritt ihr Geschäft. Herr Güçlü arbeitete noch während der unselbständigen Tätigkeit als Glaser. Er hatte seine Werkstatt im Keller. Erst als er sich einigermaßen sicher war, dass das Geschäft läuft, kündigte er und machte sich vollends selbständig. Bei Herrn Kaya war der Beginn etwas risikoreicher, aber auch er kalkulierte realistisch. Als Grund für die Entscheidung gibt er an: „Und ich habe das so überlegt, wenn ich irgendwo 45, 50 bin und irgendwie dann gekündigt werde, dann habe ich keine Chance mehr irgendwo einzusteigen, ja, ...“ (Herr Kaya, Z. 107 f.)

Herr Güçlü erzählt, dass er sich einfach weiterentwickeln wollte, und als er sich sicher war, dass es klappt, die Entscheidung zur Kündigung traf: „Zum Beispiel man bekommt im Leben einige Male so gewisse Chancen, gewisse Möglichkeiten, für sagen, wir, Jackpot zu knacken, mehr oder weniger. Und wenn du diese Möglichkeiten im Leben wirklich ausnützen kannst, dann geht die Tür auf für dich, weit auf.“ (Herr Güçlü, Z. 198-200)

Ein zentrales Motiv für ihn war der Verdienst, der zwar früher nicht schlecht war, aber eben doch besser hätte sein können. Mit dem Einkommen verbindet er dann

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auch einen höheren gesellschaftlichen Status und mehr Ansehen – ein höheres Prestige, wie es bei Honneth heißt. Auch in diesen beiden Fällen kann davon ausgegangen werden, dass die Interviewten mit ihrem Handeln nach mehr Anerkennung streben – nach mehr Sicherheit, nach mehr Geld und mehr Achtung. Dies ist der Fall, obwohl die berufliche Veränderung nicht als Teil eines Bildungsprozesses aufgefasst werden kann. Besonders deutlich zeigt sich dies in ihren Erzählungen über Diskriminierungserlebnisse. Herr Kaya erzählt davon, wie er sich von der Lehrerin und der Direktorin der Volksschule seines Sohnes diskriminiert fühlt. Unabhängig davon, wie dieser Fall zu bewerten ist, wird eines deutlich: Der Unternehmer verfügt über ein hohes Selbstvertrauen, er ist sich seines Status als Unternehmer bewusst. Er fühlt sich aber von den Vertreterinnen der Schule nicht als solcher wahrgenommen. Gerade der Umstand, dass er sich ein höheres soziales Prestige oder einen höheren sozialen Status erarbeitet hat, verdeutlicht das Stigma, das er trägt. Ähnlich verhält es sich bei Herrn Kaya. Seine Erzählung einer Diskriminierungserfahrung wird unten aufgegriffen. Beide bekamen es, obwohl sie nicht auf punktuelle berufliche Krisen reagierten, doch mit missachteter Wertschätzung zu tun. Gerade die berufliche Entwicklung verstärkte diese Missachtung. Bei allen anderen Erzählungen finden sich Gründe, die dafür sprechen, dass es sich bei den beruflichen Neuorientierungen um Teile von Bildungsprozessen handelt. Diese sind: Herr Aydın, Herr Bilge jun. und sen., Herr Çoban, Herr Deniz, Herr Memiş, Frau Sarı und Frau Şen. In den folgenden Kapiteln werden nun vier dieser Fälle vorgestellt und neben der Beschreibung der Bildungsprozesse steht die Frage im Zentrum, ob und in welcher Weise es sich um Anerkennungskämpfe handelt, bleibt die offene Artikulation wider erlittene Missachtungen doch meist aus.

INTERESSE AM SPIEL Das folgende Fallbeispiel – es handelt sich um die Erzählung des Schneiders Herrn Aydın – wird nun auf rhetorische Figuren und ihre Bedeutungsverschiebungen hin ausgewertet. Der Fall zeigt, dass das Interesse am „Spiel“ innerhalb des beruflichen Felds für Herrn Aydın eine besonders herausragende Strategie darstellte, mit der er eine berufliche Krise bewältigen konnte. Im Anschluss wird dann der theoretische Ansatz, auf dem der Begriff „Interesse am Spiel“ fußt (Bourdieu 1998), vorgestellt, um den gesamten Korpus auf diese Form der Neuorientierung hin lesen zu können.

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„Ich bin positiv geworden, glaube ich“ Herrn Aydıns Motive für die Wahl der Selbständigkeit sind die unfreiwillige Arbeitslosigkeit, die frühere schlechte Bezahlung und die rechtliche Unsicherheit aufgrund des ungeklärten Aufenthaltsstatus. Er erzählt, dass er 2002 nach Holland emigrieren wollte, um dort einen Asylantrag zu stellen. Holland war sein Ziel, so berichtet er, weil ein Onkel von ihm dort lebt. Über die Emigration selbst, für die er einen Schleuser engagiert hatte, will er im Interview keine Details nennen, sagt aber, dass die Gruppe, mit der er reiste, in Österreich kontrolliert und inhaftiert wurde. Um nicht in die Türkei abgeschoben zu werden, stellte er in Österreich einen Asylantrag. Nun konnte er während der Dauer seines Asylantrags Österreich nicht verlassen – einmal versuchte er nach Holland weiterzureisen, wurde aber in Deutschland aufgegriffen und wieder zurück nach Österreich geschickt. Den Grund für seine Flucht beschreibt er mit den Worten: „Die Flucht war politische selber nicht, ja. Auch, wie sagt man, die Flucht war: bessere Zukunft, Arbeit, verstehst du, was ich meine? Damals war schlechte Politik in der Türkei, leider. Und mein Vater hat gesagt, gehst du irgendwo in Europa oder mein Onkel war in Holland, gehst du bei ihm. Vielleicht die können dir helfen, behilflich sein, vielleicht hast du dir schöne Zukunft.“ (Herr Aydın, Z. 58-61)

Es scheint, als ob der Vater die Entscheidung, die Türkei zu verlassen, maßgeblich herbeigeführt hat. Der Grund war nicht, dass Herr Aydın unmittelbar politisch bedroht gewesen wäre, es handelte sich eher um eine Mischung aus politisch „schlechter“ Lage und der Hoffnung auf ein materiell besseres Leben. Die vom Vater veranlasste Emigration aus der Türkei und der Umstand, dass Herr Aydın seinen Onkel in Holland nicht erreichen konnte, können als durch die Migration verursachte Krise bezeichnet werden. Der damals 19-Jährige befand sich in der neuen Umgebung und war in Österreich zunächst auf sich allein gestellt. Dazu kam, dass er gerne arbeiten wollte und hierfür den für ihn unkompliziertesten Weg wählte: Er berichtet davon, dass er während der Zeit seines Asylantrags schwarz in einer Schneiderei arbeitete, aber zweimal vom Finanzamt „erwischt“ (Herr Aydın, Z. 26) wurde und daher nicht weiter dort tätig sein konnte. Wieder wurden von außen Rahmenbedingungen geändert, wieder hatte er – dieses Mal wird dies noch deutlicher als bei der Entscheidung zur Emigration – keinen direkten Einfluss auf die Veränderungen. Dennoch schaffte er es offenbar, handelnd der neuerlichen Krise beizukommen. Er erkundigte sich danach, ob es möglich sei, als Asylwerber selbständig erwerbstätig zu werden. Er ergriff die Initiative, legte die nötige Prüfung bei der Wirtschaftskammer ab und erhielt so den Gewerbeschein. Als Hauptgrund für die Selbständigkeit nennt er im Interview zuerst allerdings

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nicht den externen Eingriff durch das Finanzamt und die dadurch bedingte Niederlegung seiner Arbeit, sondern dass er als Schwarzarbeiter viel arbeitete und dabei wenig verdiente: „Der Grund ist, wenn ich fremd arbeite, arbeite ich auch so viel, dafür verdiene ich wenig. Und bei selbständig, ich arbeite für mich selber. Das hat mich sehr interessiert.“ (Herr Aydın, Z. 8 f.)

Ungewöhnlich scheint die Formulierung „fremd arbeiten“, die er für die unselbständige Schwarzarbeit verwendet. Dies kann womöglich auf seinen eingeschränkten Wortschatz zurückgeführt werden, dennoch spiegelt – mit Lacan argumentiert – genau diese Wortwahl, genau diese rhetorische Figur einen inneren Zustand von Herrn Aydın wider. Sie wird kontrastiert mit der Formulierung „für sich selbst arbeiten“, die die Selbständigkeit repräsentiert. Die Wortwahl gibt einen Hinweis darauf, wie die berufliche Selbständigkeit für Herrn Aydın zwei Ideen vereint: „nicht-fremd“ und „für sich selbst“. Dass Selbständigkeit berufliche Unabhängigkeit repräsentiert, ist nicht ungewöhnlich. Gleichzeitig – auch das ist naheliegend – verbindet der Interviewpartner damit ein höheres Einkommen bei gleichem Arbeitsvolumen. Für ihn kommt dazu, und dieser Punkt unterscheidet seine Selbständigkeit ganz wesentlich von derjenigen von Personen mit gesichertem Aufenthaltsstatus, dass die Selbständigkeit für ihn die einzige Möglichkeit war, in Österreich auf legale Weise erwerbstätig zu werden. Dieses Argument wiegt für ihn besonders schwer, weil ihm die Schwarzarbeit, nachdem er zweimal kontrolliert worden war, nicht mehr möglich war. Darüber hinaus ist das Selbständigsein zusätzlich mit einer weiteren Bedeutung aufgeladen – der des „Nicht-fremdSeins“ –, die einen Kontrast zum „fremd Arbeiten“ als illegal angestellter Schneider eröffnet. Vor dem Hintergrund der ersten Krise, die durch die Migration ausgelöst worden war – sie kann als Hintergrundkrise oder als vorgelagerte Krise bezeichnet werden – ist nachvollziehbar, dass das „Nicht-fremd-Sein“ auch als Lebensgefühl für ihn besonders wichtig war. Da es sich hier um eine Diskrepanz zwischen seiner Selbstwahrnehmung als gelernter Schneider und der Fremdzuweisung zum illegalen Arbeiter handelt, kann – im Sinne Goffmans – von einer Stigmatisierung ausgegangen werden, der er durch die spätere Neuorientierung hin zur Selbständigkeit begegnete. Dass er die Hürden auf sich nahm und seine eigene Änderungsschneiderei eröffnete, sollte sich für ihn als entscheidend für den weiteren Aufenthalt in Österreich herausstellen, da sein Asylantrag, wie er erzählt, abgelehnt wurde und er nur aufgrund der selbständigen Erwerbstätigkeit einen Aufenthaltsstatus in Österreich erhielt. Eine weitere rhetorische Figur, die die Transformation des Selbstverständnisses von Herrn Aydın genauer beschreibt, taucht im Text immer wieder auf. Es ist

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der Begriff „positiv“. Er erscheint dreimal und ihm werden im Transkript je unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen. Zunächst referiert der Begriff auf die rechtliche Möglichkeit, sich als Asylwerber selbständig zu machen: „Habe ich mich erkundigt, und hab ich positive Antwort bekommen, ich dürfte mich selbständig machen, als Asylwerber, okay.“ (Herr Aydın, Z. 27 f.)

Später im Text wird die Bezeichnung „positiv“ wieder aufgenommen. Dieses Mal im Kontext der Antragstellung und der Ablehnung des Asylgesuchs. „Ein paar Mal war ich beim Gericht und man hat gesagt, nein, du hast keine Chance [auf die Anerkennung von Asyl, Anm. HB]. Und das letzte Mal war ich in Linz und die Richterin hat zu mir gesagt, du kannst dir ein Visum ansuchen. Du hast eine Chance. Damals war ich schon selbständig. Die Dame hat gesagt, du kannst dir um ein Visum ansuchen, beim Magistrat. Du kriegst sicher ein Visum. Du hast keine Probleme hier. Keine polizeiliche Strafe. Und vom Sozialamt habe ich nie Hilfe bekommen. Und das war für mich alles positiv, ja. Und dann war ich beim Magistrat, habe ich Papiere, habe ich alles abgegeben. Nach drei Monaten habe ich dann das Visum, positiv.“ (Herr Aydın, Z. 88-94)

Zur Beschreibung des Asylverfahrens ist die Begrifflichkeit üblich, denn der „positive Asylbescheid“ ist der rechtlich-formal gängige Begriff. Daher verwundert es nicht, dass er ihn auf den Erhalt des Visums überträgt. Dennoch geht die Bedeutungszuweisung über den formalen Aspekt hinaus, wenn Herr Aydın damit nicht nur auf seinen Aufenthaltsstatus verweist, sondern „alles“ als positiv in die Waagschale legt, was ihm den positiven Status zu verleihen in der Lage scheint: kein Kontakt zum Sozialamt, keine polizeiliche Strafe (bei den Kontrollen durch das Finanzamt wurde er offenbar nicht aktenkundig) und die Selbständigkeit. Schließlich taucht „positiv“ an einer dritten Stelle, am Ende des Interviews, auf, als Herr Aydın auf die Frage nach den wichtigsten Veränderungen durch die Selbständigkeit gefragt wird: „Wichtigste Veränderung. (Pause, überlegt) Für mich selber, oder? [mhm] (Pause, überlegt) Finanziell. Ist mir gut gegangen. Noch. (Pause, überlegt) Auch noch mehr selbstbewusst geworden, ja. [mhm] Und Freude hätte ich noch. Wie sagt man. Positiv. Ich bin positiv geworden, glaube ich. Es ist viel anders geworden. Mein Leben ist total anders geworden.“ (Herr Aydın, Z. 318-324)

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass „positiv“ nun einmal die Möglichkeit meint, legal erwerbstätig werden zu können, dann verweist der Begriff auf den legalen Aufenthaltsstatus und schließlich bezieht er sich auf Herrn Aydıns Lebensgefühl, das er mit dem Attribut „Freude“ verbindet und das sich durch die

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Selbständigkeit (und die damit verbundene rechtliche und finanzielle Absicherung) für ihn ergeben hat. Wie schon bei der rhetorischen Figur des „Nicht-fremdSeins“, das zweierlei Referenten aufwies, die sich in zwei verschiedenen Krisen äußerten – einmal die Migration, ein anderes Mal die Beendigung seiner ersten, illegalen Tätigkeit als Schneider –, bezieht sich auch diese Figur auf beide Krisen, die dadurch ein Stück weit zusammengeführt werden: Mit dem Begriff „positiv“ verleiht Herr Aydın retrospektiv der Abfolge seiner Handlungen und Entscheidungen Folgerichtigkeit und er belegt sie mit einem klar bezeichneten Sinn. Die Etappen der Veränderung, die er beschreibt, reichen von der Möglichkeit, legal zu arbeiten, über den legalen Aufenthaltsstatus bis hin zum positiven Lebensgefühl. Dass hierbei der Weg in die Selbständigkeit das Mittel der Wahl war, kann mit Oevermanns Annahme erklärt werden, dass zur Bewältigung krisenhafter Einschnitte auf vorvergangene Erfahrungen zurückgegriffen wird: Herr Aydıns Vater war selbständiger Schneider in der Türkei und der Interviewpartner selbst hat dort seine ersten Arbeitserfahrungen nach der Friseurlehre gemacht. Was dennoch bleibt, ist sein Gefühl der Trennung in ethnisch-nationale Gruppen. Zum Abschluss des Interviews fragt Herr Aydın den Interviewer danach, „Was Ihr überhaupt von uns denkt.“2 Auf die Nachfrage, wen er mit ihr und wir meine, erwidert er „Türken“ und „Österreicher“. Er berichtet dann auch von unangenehmen Erlebnissen, gerade mit österreichischen Kundinnen, die ihm gegenüber besonders „hochnäsig“ seien. Immerhin hat er dank des eigenen Geschäfts nun selbst die Hoheit über sein Terrain und es obliegt ihm selbst abzuwägen, wie er mit diesen Kundinnen umgeht. Die Motivation und die Fähigkeit, sich den gesellschaftlichen Kämpfen zu stellen, resultiert aus Herrn Aydıns Entscheidung, sie auf der Ebene des Berufs auszutragen. Sein großes Interesse an diesem Feld des Ökonomischen ermöglicht es ihm, kontinuierlich den jeweils nächsten Handlungsschritt zu gehen, der dann auch immer wieder als Lösung je aktueller Problemlagen erscheinen kann. Dieses „Interesse am Spiel“ (Bourdieu 1998) ist ausschlaggebend für seine Handlungsfähigkeit, d.h. für die Fähigkeit, sich überhaupt auf einen Anerkennungskampf einlassen zu können. Im folgenden Kapitel wird das Interviewkorpus auf die Beteiligung der Unternehmer_innen am „ökonomischen Spiel“ hin analysiert. Theoretische Richtschnur ist Bourdieus Begriff des Handelns, wie er es in „Praktische Vernunft“ (Bourdieu 1998) vorstellt.

2

Diese Passage wurde nicht aufgezeichnet. Die Diskussion stützt sich auf das Gedächtnisprotokoll.

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Interesse an der Selbständigkeit Bourdieu geht in „Praktische Vernunft“ (1998) der Frage nach, ob interessefreies Handeln möglich ist3. Er umreißt dann einen Begriff des Handelns, der sich auf Felder, d.h. auf gesellschaftliche Teilsysteme, bezieht. Gerade deshalb ist er für die folgende Analyse, die sich mit Handeln in beruflichen Feldern befasst, ertragreich. Unter Interesse versteht Bourdieu weniger ein bewusstes, zielgerichtetes Handeln als vielmehr das Gegenteil von Indifferenz. Er geht in seiner Argumentation so weit, dieses Interesse – ähnlich einem Trieb – als im Menschen angelegt zu verstehen. Deutlich wird dies anhand des Begriffes der Libido, den er verwendet, um die Grundlage von Handlungsmotivation zu beschreiben. Drei zentrale Merkmale begleiten das Handeln im Feld: 1. 2. 3.

durch Habitualisierung verinnerlichte Nähe zum Feld, unbewusstes, vorkognitives Interesse, Antizipation.

Der erste Punkt ist naheliegend, denn der Begriff des Habitus ist eine Konstante von Bourdieus Gesellschaftsmodell. Mit Habitualisierung ist die Vergangenheit der Protagonist_innen, also der Prozess ihrer Sozialisierung von der frühen Kindheit an, angesprochen, die ihnen in der aktuellen Situation zu einem verinnerlichten, vorkognitiven Interesse verhilft. Ihr Handeln ist ohne Zweifel immer da zweckrational, wo es um anstehende Entscheidungen geht, der Antrieb dazu ist aber in Bourdieus Verständnis vorkognitiv angelegt. Schließlich sind gute Spieler_innen in der Lage, durch ihre Kenntnis des Feldes Situationen zu antizipieren. Bourdieu verwendet zur Illustration dieses Gedankens das Bild des Tennisspielers, der schon, bevor der Ball landet, weiß, wo dieser auftreffen wird, und der daher schon vor dem Ball an der richtigen Stelle steht. Schließlich wird für die hier realisierte Analyse von Bildungsprozessen Wert darauf gelegt, die Dynamiken des Spiels auf die Ebene alltäglichen Handelns anzuwenden, das durch Scrips (Bukow/Llaryora 1988) geregelt ist. Im Folgenden wird das gesamte Interviewkorpus auf diese Merkmale hin durchsucht, um „Interesse am Spiel“ als Handlungsstrategie verallgemeinerbar zu machen. Alltägliche Skripts Der hohe Stellenwert alltäglicher Skripts äußert sich schon in den Begegnungen zwischen Interviewer und Interviewten. Die Unternehmer_innen stellten sich allesamt mit ihren jeweiligen Expertisen dar, die sie vom Interviewer abheben. Fast 3

Eine detailliertere Auseinandersetzung mit dem Thema findet in Berner 2015 statt.

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alle Interviews fanden an den Unternehmensorten, seien es Läden, Werkstätten oder Gastronomiebetriebe, statt4 und alle Interviewten konnten als Gastgeber_innen in Erscheinung treten. Diese Atmosphäre war durchaus beabsichtigt und der Interviewer förderte sie. Grundlage der Gespräche war gegenseitige Wertschätzung. Die Interviewpartner_innen brachten diese auch dem Interviewer in seiner Rolle als Akademiker entgegen. Die Gastgeber_innen bestimmten die Rahmenbedingungen und hatten die Oberhoheit über die Inhalte der Gespräche. Der Interviewer bestimmte dagegen die Interviewfragen und damit die Themenfelder, über die geredet wurde5, und ihre Reihenfolge, freilich ohne auf der Beantwortung zu beharren. Diese Verteilung wurde in jedem Fall unabgesprochen eingehalten. Dadurch konnte die gemeinsame Gestaltung des Scripts verwirklicht werden. Scripts spielen auch bei Kontakten zwischen den Unternehmer_innen mit anderen Professionellen eine Rolle. Die Regelwerke dieser Scripts bestimmen hier die Logiken der Felder der jeweiligen Branchen. Der Juwelier Herr Çoban beispielsweise betont, dass er regelmäßig auf Messen fahre, wo er den Austausch mit anderen Branchenvertreter_innen suche. Der Glaser Herr Güçlü erzählt davon, wie er mit anderen Glasern seltene Glassorten austauscht, die es sich nicht in großen Mengen zu kaufen lohnt. Die Wirtin Frau Sarı berichtet von Besuchen anderer Lokale. Dies sei unter Gastronom_innen üblich, nicht nur um Preise und Speisekarten der Konkurrenz in Erfahrung zu bringen, sondern auch, um die anderen dazu zu bewegen, selbst ins eigene Lokal zu Besuch zu kommen, was wiederum den Bekanntheitsgrad und den Umsatz steigere. Frau Şen, die Besitzerin des Hijab-Modeladens erzählt, wie sie eine angehende Konkurrentin besuchte, die ebenfalls einen solchen Laden eröffnen wollte. Diese fragte sie vor der Eröffnung des eigenen Ladens um Rat und Erfahrungen. Frau Şen gab sie ihr gerne, so erzählt sie. Als Geschäftsfrau lerne man auch automatisch andere Geschäftsleute kennen, betont sie: „Und die anderen, die wir nicht kennen, lernt man später dann, wenn man das Geschäft aufgemacht hat, dann ist man Geschäftsfrau oder Geschäftsmann und dann kennt man sich einfach untereinander.“ (Frau Şen, Z. 484-486)

In all diesen Fällen schaffen sich die Unternehmer_innen Möglichkeiten, die Regeln der Scripts alltäglicher Kommunikation selbst zu kontrollieren, und jedes Mal ist es die Teilhabe am Feld, die ihnen das ermöglicht. 4

Einzige Ausnahme: Das Interview mit dem Händler Herrn Ercan fand in den Räumlichkeiten eines Kulturvereins statt. Herr Ercan verfügt über keinen Geschäftsraum, er betreibt sein Gewerbe ausschließlich von seinem Transporter aus.

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Eine Ausnahme bildete die so wichtige, offene Abschlussfrage!

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Auch die Scripts, die die Kommunikation zwischen Unternehmer_innen und Kund_innen oder Angestellten regeln, geben einen Hinweis auf das oben beschriebene Phänomen, nach dem die Unternehmer_innen durch ihre Selbständigkeit die Deutungshoheit über alltägliche Scripts erlangen. So zeigte sich Frau Sarı als Gastgeberin, die auch freundschaftliche Kontakte zu ihren Kund_innen herstellt. Auch für Frau Şen sind die Kontakte zu Kundinnen wichtig und, so erzählt sie, sie hat auf diese Weise schon einige neue Freundinnen gewonnen. Frau Yeşilçay bringt ihr Verhältnis zu Kund_innen auf den Punkt, indem sie die Gleichheit aller betont. Auf die Frage, wer alles in ihren Laden kommt, sagt sie: „Touristen, oder eben jetzt heutzutage eben diese Asylanten, die kommen auch. Die sind auch interessiert. Also für mich ist jeder ein Kunde, der was hier reinkommt. Kunde ist Kunde. Und berate ich genauso. Wie die anderen.“ (Frau Yeşilçay, Z. 239-241)

Was den Umgang mit Angestellten betrifft, so ärgert sich der Schneider Herr Deniz ein wenig darüber, dass er keinen geeigneten Mitarbeiter bzw. keine geeignete Mitarbeiterin finden könne. Teilweise verfügen die Bewerber_innen sogar über eine Schneiderausbildung, berichtet er, können aber trotzdem nicht gut genug nähen. Der Besitzer der Kfz-Werkstatt, Herr Memiş, erzählt von seinem ehemaligen Kompagnon, mit dem er zeitweilig den Betrieb teilte. Er hatte gehofft, im Urlaub gleichwertig vertreten zu werden, doch es stellte sich heraus, dass er sich nicht auf ihn verlassen konnte. Daher beendete er die Partnerschaft und führt die Werkstatt wieder alleine. Das Phänomen der Dominanz alltäglicher Scripts durch die ökonomische Logik des Feldes beschreibt auch Ferdinand Sutterlüty in seiner Studie „In Sippenhaft“ (2010). Er kommt dort zum Schluss, dass es – beispielhaft gesagt – für Kund_innen letztlich nicht relevant sei, wer eine Ware anbiete oder woher er komme, ausschlaggebend sei der Preis der Ware, „weil Märkte offene Gebilde sind und eigene Gesetze haben. Hier zählen die Mechanismen von Angebot und Nachfrage dem Prinzip nach mehr als die Ethnizität der Akteure.“ (Sutterlüty 2010: 237) Diese Schlussfolgerung kann hier weitgehend bestätigt werden, allerdings mit der Ergänzung, dass es gerade diese Freiheit ist, die es den Selbständigen ermöglicht, auch Wertvorstellungen in ihrem Umfeld zur Geltung zu bringen, indem sie sie in die kommunikativen Scripts einfließen lassen. Frau Şen macht dies deutlich, wenn sie davon erzählt, dass sie ärmeren Kund_innen von Zeit zu Zeit einen Artikel schenkt: „Ich habe auch Kunden, die reingekommen sind, oder diese Asylanten, die was jetzt kommen. Dann gebe ich ihnen einfach ein Stück, oder zwei Stücke. Kopftücher oder Röcke. Weil, bei uns gibt es ein Sprichwort: Von manchen das Geld und von manchen das Gebet. Wenn sie sagen, Gott segne Dich, reicht uns das.“ (Frau Şen, Z. 292-295)

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Verinnerlichte Nähe zum Feld Verinnerlichung bzw. Habitualisierung von Merkmalen und Gewohnheiten der verschiedenen Branchen ist mitunter durch die Teilhabe der Eltern oder naher Verwandter am Feld bestimmt. Es geht hier also in erster Linie um frühere Erfahrungen oder Vorbilder. Verinnerlicht ist die Nähe zum beruflichen Feld dann, wenn sie im Zuge früher Sozialistation schon vermittelt wurde. Zumindest kann davon ausgegangen werden, dass den Teilhabenden der Habitus des Feldes dadurch vertraut ist. Dieses Muster findet sich bei einem Großteil der Interviewten. Der Vater von Herrn Aydın war schon Schneider und er selbst arbeitete in der Schneiderei seines Vaters mit. Herr Bilges Onkel hatte eine Fleischerei, in der Herr Bilge senior schon früh, nach der Matura, arbeitete. Herr Çoban berichtet vom Ferialjob bei seinem Onkel, der Juwelier war. Für Herrn Ercan ist das Selbständigsein gleichbedeutend mit „lifestyle“ (Herr Ercan, Z. 274). Er machte schon mit sieben Jahren erste Erfahrungen mit selbständigem Verkauf von Orangensaft auf dem Bazar. Über Branchenkenntnisse im Handel mit türkischen Lebensmitteln verfügt er nicht zuletzt wegen seiner Herkunft, wie er betont: „Because I know the Turkish men, what they like to eat.“ (Herr Ercan, Z. 205) Diese Kenntnisse stellen ein kulturelles Kapital dar, auf das er zurückgreift, weil er seinen eigentlichen Beruf im Computerbereich, in dem er über einen Universitätsabschluss verfügt, in Österreich (noch) nicht ausüben kann. Herr Güçlü geht sogar noch ein wenig weiter und beschreibt sich selbst als geborenen Selbständigen: „Genau. Ich habe das alles schon vorher im Sinn gehabt. Und schon als Kind habe ich zum Beispiel. Ich glaube, das ist dieser Geist, eines Menschen, glaube ich, die Selbständigkeit man muss eher als, als, als, wie sagt man denn da, als Selbständiger geboren sein, das heißt für die Selbständigkeit geboren sein.“ (Herr Güçlü, Z. 330-332)

Herr Kayas Vater war Maler und obwohl er kein besonderes Faible für die Malerei hatte, begann er durch diese Nähe eine Ausbildung in diesem Beruf. Für den Inhaber der Kfz-Werkstatt Herrn Memiş war der berufliche Habitus zunächst nicht so naheliegend, doch seine Eltern vermittelten ihm die Lehrstelle. Er legte dann einen langen Berufsweg zurück, bevor er zu seinem Lehrberuf als Kfz-Mechaniker zurückkehrte, dieses Mal als Selbständiger. Die Gastronomin Frau Sarı erzählt mit Nachdruck, wie wichtig ihr der Vater als Vorbild – auch in Sachen Selbständigkeit – war und ist. Er selbst führte bis zur Pensionierung einen Kebab-Imbiss, so dass ihr die Gastronomiebranche wohlbekannt war. Frau Şen nennt ihren Ehemann, der schon vor ihr in die Selbständigkeit ging, und ihren Vater, der vor seiner Pensionierung einen Handyladen führte. Dort arbeitete Frau Şen selbst schon früh mit und übte so die Selbständigkeit ein.

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Unbewusstes, vorkognitives Interesse Dass Herr Aydıns Handeln nicht so sehr zweckgerichtet – im Sinne eines Planes, der ein Ziel verfolgt – als vielmehr geleitet ist vom Interesse, am Spiel teilzuhaben, lässt sich aus seiner Erzählung erschließen. Er agierte im Laufe der Ausgestaltung seines beruflichen Werdegangs häufig gerade nicht zielbewusst, sondern er reagierte auf je neue Umstände, so zum Beispiel, wenn er nach den Kontrollen durch das Finanzamt nicht länger schwarzarbeiten konnte und erst dann entschied, sich in Sachen Selbständigkeit zu erkundigen. In den Interviews wird immer wieder hervorgehoben, dass es ein großes Interesse am Beruf gebe, das mitunter nicht näher begründet wird. Der Schneider Herr Deniz, der früher eine Schlosserlehre absolviert hatte und lange in diesem Bereich erwerbstätig war, betont, dass er aus reinem Interesse später noch die zweite Ausbildung zum Schneider machte. Er unterstreicht, dass es für seine berufliche Neuorientierung gerade keine Vorbilder gab. Der Lebensmittel- und Gastronomiebedarf-Händler Herr Ercan beschreibt sein Interesse mit dem Begriff „lifestyle“. Hier kommt sicher die frühe Sozialisation erklärend zum Zuge. Es scheint fast so, als gebe es für ihn gar keine Alternative zur Selbständigkeit. Noch deutlicher sagt Frau Sarı, dass der eigene Gastronomiebetrieb für sie die Verwirklichung eines Traums sei. Auch für sie scheint es keine Alternative zu geben und letztlich wartete sie nur auf einen Anlass, der den letzten Ausschlag für die Entscheidung hin zum eigenen Lokal gab: „Ich war, wollte mich selbständig machen, ich wollte mich selbständig machen. Ich wollte meinen Traum erfüllen. […] Also das war mein Traum eigentlich. Ich wollte nicht selbständig sein, ich wollte nur meinen Traum erfüllen.“ (Frau Sarı, Z. 35 f.)

Auch Frau Yeşilçay wählt eine ähnliche Beschreibung, wenn sie über die Entscheidung, sich selbständig zu machen, berichtet: „Wir haben uns entschlossen, machen wir uns ein Ziel, machen wir was auf. Ganz was Anderes, also nach unserem Geschmack, nach unseren Hobbys, sozusagen, und wir haben auf der Seite ein bisschen investiert gehabt und diese, finanziell hat uns dazu auch natürlich unterstützt, sonst hätten wir das nicht locker geschafft.“ (Frau Yeşilçay, Z. 13-16)

Der Verweis auf den Geschmack, auf die Hobbys kann in Bourdieus Sinne gedeutet werden, wenn dieser über das Interesse am Spiel sagt: „Man kann an einem Spiel interessiert (im Sinne von nicht indifferent) und doch frei von Interessen sein.“ (Bourdieu 1998: 141) Das Interesse in diesem Sinne ist vorkognitiv und via Habitualisierung verinnerlicht. Es ist das Nicht-Gleichgültig-Sein gegenüber der eigenen Sache.

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Vorausschauendes Handeln, Antizipation Ein weiterer Punkt wird im Zitat von Frau Yeşilçay angesprochen. Es ist das, was man mit Bourdieu als vorausschauendes Handeln oder Antizipation beschreiben könnte: „Wie ein guter Tennisspieler steht man nicht da, wo der Ball ist, sondern wo er gleich auftrifft; man plaziert sich und seinen Einsatz nicht da, wo der Profit ist, sondern wo er gleich anfällt.“ (Bourdieu 1998: 143)

Frau Yeşilçay und ihr Mann eröffneten sich Möglichkeiten, indem sie Geld sparten, um es in dem Moment in die Selbständigkeit von Frau Yeşilçay investieren zu können, als die Gelegenheit günstig schien. Herr Aydıns ganzer Werdegang ist begleitet von vorausschauenden Entscheidungen, die ihm später verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten eröffneten. Zuletzt machte er einen Deutschkurs, um die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen zu können, obwohl er sich noch gar nicht sicher ist, ob er das überhaupt will: „Dann habe ich vor zwei Jahren B1-Kurs wegen Staatsbürgerschaft geschafft, ja. Und auch selber viel gehört, gelesen habe ich auch.“ (Herr Aydın, Z: 214 f.) Herr Güçlü und Herr Kaya kündigten beide ihre sicheren Stellen bei einem großen metallverarbeitenden Betrieb, um der zukünftigen Unsicherheit im höheren Alter zuvorzukommen. Herr Ercan hörte sich im Bekanntenkreis so lange um, bis er an einen Unternehmer geriet, der selbst einen Kompagnon suchte. Man könnte hier von „weak ties“ (Granovetter 1973) reden, die in Bourdieus Verständnis gerade keinen Zufall darstellen, sondern Resultat der Bewegung von Herrn Ercan in seinem angestrebten beruflichen Feld sind. Der Juwelier Herr Çoban wechselte unselbständige und selbständige Erwerbstätigkeit, immer vor dem Hintergrund der sich verändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, bereitete sich aber immer aufs Neue auf die Selbständigkeit vor und arbeitete auf diese hin, indem er zunächst ein betriebswirtschaftliches Studium und später verschiedene Kurse der Wirtschaftskammer absolvierte. Herr Deniz belegt zur Zeit des Interviews einen Meisterkurs als Schneider. Er betont dabei, dass er nicht beabsichtigt, eine Maßschneiderei zu eröffnen, für die er den Meistertitel bräuchte: „Eigentlich brauche ich diesen Zettel Papier nicht, also, aber schadet auch nicht. Schadet auch nicht.“ (Herr Deniz, Z. 218) Später ergänzt er: „Und, wie gesagt, jetzt möchte ich die Meisterprüfung machen, weil was die Zeit bringen wird, wissen wir nicht. Vielleicht wird’s was Anderes in der Zukunft.“ (Herr Deniz, Z. 403 f.) Er zeigt dadurch Interesse am Spiel, ohne sich interessegeleitet, zielgerichtet vor-

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zubereiten. Dennoch erweitert er seinen Möglichkeitenraum für zukünftige Entscheidungen. Auch der Fleischer Herr Bilge junior spricht von seiner laufenden Ausbildung. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews in einer Ausbildung als Einzelhandelskaufmann beim Alpstadter Berufsförderungsinstitut (BFI) und schafft sich dadurch einen verbesserten Entscheidungsspielraum für seine geplante Selbständigkeit, ohne momentan schon zu wissen, in welcher Branche und an welchem Ort dies sein wird. Anhand der Beispiele aus dem Interviewkorpus wurde deutlich, dass das Interesse am Spiel mit all seinen Merkmalen ein wesentlicher Bestandteil der Handlungsstrategien der Unternehmer_innen ist, wenn sie für eine höhere Anerkennung – hier im beruflichen Bereich – antreten. Ein besonderes Merkmal des Interesses am Spiel der Unternehmer_innen mit Migrationserfahrungen liegt darin, dass sie gerade durch die Verlagerung ihrer Handlungen auf das berufliche Feld in die Lage versetzt werden, auch milieuspezifische Merkmale im Alltag zu realisieren und die Deutungshoheit darüber zu wahren. Nun leitet Bourdieu sein Handlungskonzept aus dem Habituskonzept ab. Daher ist es naheliegend, dass sich Handeln allein auf der Ebene von Gruppenzugehörigkeiten und Grenzziehungen abspielt, ohne dass hierbei Fragen der moralischen Wertschätzung betroffen wären. Die Diskussion des Beispiels von Herrn Aydın zeigt aber eine spezifische Ausprägung: Durch die Konzentration seines Handelns auf das Feld gelang es ihm, Ethnisierung und Stigmatisierung ein Stück weit zu entgehen, da er als Selbständiger nicht nur das allgemeingültige Regelwerk des ökonomischen Feldes übernahm, sondern gleichzeitig die Hoheit über Begegnungen in seinem Laden, der als sozialer Raum verstanden werden kann, errang. Der Schlüssel für die Verbindung von Durchsetzung reinen Interesses mit subjektiver Wertewelt liegt in der Alltäglichkeit des sozialen Kampfes, dessen Regeln durch Scripts festgelegt werden. Herr Aydın kann das alltägliche Script, das im Miteinander zwischen ihm und Kund_innen stattfindet, im Wesentlichen selbst prägen. Dies scheint zwar nur teilweise zu gelingen, denn er erzählt am Ende des Interviews davon, wie er sich von österreichischen Kundinnen diskriminiert fühlt. Allerdings relativieren die Regeln des Ökonomischen die Versuche der Kundinnen, ihrerseits das Script zu dominieren. Wenn Herr Aydın mit einem Geschäftsgebaren nicht einverstanden ist, so kann er seiner Kundschaft gleichberechtigt gegenübertreten. Dieses Phänomen ist ein Stück weit paradox, weil hier gerade die Abkehr von milieuspezifischen Scripts und die Zuwendung zu vermeintlich wertneutralem Gelände es dem Akteur erlauben, seine eigene Vorstellungswelt zu realisieren. Damit ist gleichzeitig die große Bedeutung des Raums angesprochen, in dem das professionelle Handeln stattfindet. Raumaneignung stellt eine weitere Dimension der Handlungsstrategien dar.

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ANEIGNUNG VON RAUM Im nächsten Auswertungsschritt werden zwei Fallbeispiele eingehender besprochen, die die Dimension der Raumaneignung besonders deutlich sichtbar machen. Es ist die Erzählung des Kfz-Mechanikers Herrn Memiş und der Fleischerei-Inhaber Herrn Bilge senior und Herrn Bilge junior. In diesem zweiten Beispiel wird dann auch eine übergeordnete Bedeutung der Raumaneignung klar, die sich durch die Interpretation der metaphorischen Verwendung des Begriffs des Platzes ergibt. Steht bei Herrn Memiş die Raumaneignung mit ihren sozialräumlichen Facetten im Vordergrund, so wird diese im Falle der Geschichte von Herrn Bilge senior und Herrn Bilge junior um eine gesellschaftliche Dimension angereichert, mit der der Platz der Betroffenen in der Gesellschaft angesprochen ist. „ ka , du kannst die

alle neh en“

Herr Memiş, von Beruf Kfz-Mechaniker, wurde 2008 arbeitslos, weil sein Arbeitgeber – eine Baufirma – den Alpstadter Standort schloss und alle Mitarbeiter_innen entließ. Diese Krise bewog ihn dazu, sich beruflich neu zu orientieren: Er wollte die Zeit der Arbeitslosigkeit dazu nutzen, über eine Weiterbildungsstiftung eine zweite Ausbildung zum Mechatroniker zu machen. Da er keine Praktikumsstelle finden konnte, musste er sich aber eine andere Lösung einfallen lassen. Wieder auf einer Baustelle zu arbeiten, kam für ihn nicht in Frage, da er verschiedene gesundheitliche Einschränkungen hatte. In seinem Lehrberuf als Kfz-Mechaniker wollte er wegen des geringen Verdienstes nicht arbeiten: „Mit dem kann man nicht leben“ (Herr Memiş, Z. 11), so Herr Memiş im Interview. Interesse am Spiel Herr Memiş sieht in der Selbständigkeit eine Alternative, um erstens einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, die er gesundheitlich bewältigen kann – die Arbeit auf einer Baustelle kommt daher nicht mehr in Frage – und die zweitens ein genügend hohes Einkommen verspricht. Dass er bewusst eine Neuorientierung anstrebt, wird anhand seiner Formulierung „Hab’ ich gesagt: ‚Ja, was kann ich sonst machen?‘“ (Herr Memiş, Z. 24) explizit und sichtbar. Die Abfolge berufliche Krise – in Form von Anerkennungsdefiziten, charakterisiert durch die Motive Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Einkommen – und Neuorientierung legen die Deutung von Herrn Memiş’ Entscheidung zugunsten der Selbständigkeit als Bildungsprozess nahe. Herr Memiş zeichnet seinen beruflichen Werdegang in sich schlüssig nach und – wie die Wortwahl „machen“ schon andeutet – betont das aktive Gestalten von

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Veränderungen. Zunächst absolviert er die Hauptschule, danach die Berufsschule und die Ausbildung zum Kfz-Mechaniker. Dabei kam ihm die Unterstützung durch seine Eltern zugute, wie er berichtet, die in einem größeren Mercedes-Autohaus aushilfsweise reinigten und den Inhaber darauf ansprachen, ob er nicht eine Ausbildungsstelle für ihren Sohn habe. Er ergriff die Gelegenheit, allerdings war ihm im Anschluss der Lohn zu niedrig, so dass er in verschiedenen Firmen auf dem Bau arbeitete, nun mit einer für ihn angemessenen Entlohnung, bis er schließlich arbeitslos wurde. Die Arbeitslosigkeit beschreibt Herr Memiş als Phase der Orientierung, die er selbst maßgeblich gestaltet. Er betont dabei das Entscheiden und Handeln, weniger das Misslingen. Scheitert er – wie mit dem Versuch, eine Mechatroniker-Lehre zu beginnen –, sucht er eine neue Idee. Er beginnt 2009 als selbständiger Kfz-Aufbereiter mit Reifenmontage. Die Idee hatte ursprünglich sein Bruder, der eine Marktlücke entdeckt hatte: „Und da habe ich gesagt, ich will nicht in die Baustelle. Und woanders kann ich kein Geld verdienen. Sagt er, mein Bruder hat gesagt, ja, es gibt ja diese Aufbereiter. Und die sind ja ganz jetzt aktuelle und berühmt jetzt.“ (Herr Memiş, Z. 342-344)

Dieser Tätigkeit geht er ein Jahr lang nach. Mangels finanziellen Erfolgs überlegt er sich aber eine neue Lösung, mietet eine größere Halle unmittelbar neben der ersten an und eröffnet eine Kfz-Werkstatt, die er zur Zeit des Interviews führt. Alle beruflichen Stationen erzählt er mit positivem Grundtenor. Denkbar wäre auch, dass er die Missgeschicke und die Hindernisse in seiner Geschichte nach vorn kehrt, er wählt aber immer wieder eine Begrifflichkeit, die seine Tatkraft unterstreicht. Gerade das Machen – wie in „sonst machen“ oder „noch machen“ – spielt hier die wesentliche Rolle. Der Verdienst aus der Kfz-Werkstatt schließlich macht Herrn Memiş „nicht reich, aber reicht zum Leben“ (Herr Memiş, Z. 203). Seine ganze Laufbahn lässt sich als Erfolg interpretieren, weil das Interesse an der Beteiligung am beruflichen Feld groß war und es ihm ermöglichte, Durststrecken zu überwinden. Raum Der Raum ist bei Herrn Memiş eine Konstante, die durch seine Erzählung führt. Besonders die „Hallen“, in denen er seine Werkstätten unterbringt, spielen dabei eine tragende Rolle. Das ist naheliegend, da er in seiner Branche einen Raum benötigt, in dem er eine Werkstatt führen kann. Die denotative Bedeutung ist so auch relativ eindeutig nachzuvollziehen: Raum meint ganz konkret die Arbeitsstätte, die Kfz-Werkstatt selbst, oder besser gesagt: den physischen Raum, in den die Arbeitsstätte integriert werden kann.

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„Und der Eigentümer hat gesagt, ja, er kann mir diesen Raum vermieten. Na ja, dann habe ich vor vier Jahren habe ich denn angefangen als Kfz-Mechaniker.“ (Herr Memiş, Z. 46)

Der Unterschied zwischen leerem, physischem Raum und dem Befüllen des Raums kommt zum Tragen, wenn Herr Memiş auf die Frage, ob in der Halle schon früher eine Werkstatt war, antwortet: „Das war eine leere Halle und wir haben alles komplett neu aufgebaut.“ (Herr Memiş, Z. 55) Die Halle war zunächst leer und der Interviewpartner gestaltete sie neu, er funktionierte sie dadurch zu „seiner“ Werkstatt um. Das Motiv der Raumaneignung erweist sich als zentrales Charakteristikum, das den Bildungsprozess begleitet und inhaltlich anreichert. Der Begriff des Raums taucht so auch in der Erzählung von Herrn Memiş immer wieder auf, mit wechselnden Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen. Mobilität Die Entscheidung, einen Raum einzunehmen, ist bei Herrn Memiş gleichzeitig mit dem Verzicht auf räumliche Mobilität verbunden. Er tauscht diese gegen einen „festen Platz“ ein, von dem er sich dafür die soziale Aufwärtsmobilität erhofft. Früher, so erzählt er, verwendete er viel Geld für Autos, denn Mobilität war ihm wichtig. „Ich habe gesagt, ich habe damals viele Autos gehabt. Habe 15 [Tausend, Anm. HB] für ein Auto bezahlt, nach fünf Jahren weggeschmissen. Ich habe dann 12.000 für ein Auto bezahlt, das habe ich auch weggeschmissen. Ich habe gesagt, wenn ich für so eine Sache so viel ausgeben kann, ich kann ja mal finanziell, diese Sache mal probieren. Und wenn’s einmal danebengeht, sage ich mir, ich habe ein Auto weggeschmissen.“ (Herr Memiş, Z. 179182)

Mit dieser Anekdote erklärt er, wie er die Finanzierung der ersten Maschinen für die Tätigkeit als Kfz-Aufbereiter rechtfertigte. Für Herrn Memiş war das Auto früher, so scheint es, ein wichtiger Gegenstand, für den er viel Geld aufwendete, dann aber verändert er seine Haltung zugunsten der beruflichen Selbständigkeit. Mit dieser Veränderung geht Verantwortung einher. Dienten die früheren Ausgaben dem Erwerb von Autos als Konsumgütern, die nach kurzer Zeit zum „Wegschmeißen“ waren, so wandeln sie sich in der zitierten Passage zur Investition, mit der er seine berufliche Zukunft gestaltet. Rein arithmetisch könnte man von einer „Milchmädchenrechnung“ reden, denn Verlust ist Verlust, für Herrn Memiş bedeutet diese Auslegung aber eine gewisse Sicherheit oder auch ein Senken des Risikos aus seiner persönlichen Sicht heraus. Herr Memiş schämt sich im Interview fast ein wenig zu erzählen, dass er derzeit einen Mercedes fährt, und betont, dass er diesen günstig erworben habe. Letztendlich hat das Auto einen weniger hohen Wert als Statussymbol für ihn, es ist vielmehr Mittel zum Zweck, und er

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tauscht die Mobilität – hier die zweite symbolische Aufladung des Autos – ein gegen die räumliche Statik, die ihm aber soziale Mobilität ermöglichen soll. Aneignung des Raums Der erste Schritt, der noch vor der Veränderung der Räumlichkeiten erfolgte, war das Ergreifen des Raums. Herr Memiş verwendet dazu das Verb „nehmen“: „Sagt er [der Vermieter, Anm. HB] ja, er muss es sich überlegen. Hat er dann überlegt, sagt er: ‚Okay, du kannst die Halle nehmen.‘“ (Herr Memiş, Z. 378 f.) Die Raumnahme ist die Voraussetzung für Herrn Memiş’ Neuorientierung. Der reale Raum, den Herr Memiş sich nimmt, ist ein wenig versteckt, wie er sagt: „... ja, das ist, nur es ist bisschen versteckt, aber wie gesagt, das spricht sich sehr schnell herum. Die Kundschaft ist zufrieden, ja.“ (Herr Memiş, Z. 64) Dennoch ist die nicht ganz ideale Lage keine Beeinträchtigung für den geschäftlichen Erfolg. Die erste Werkstatt, in der er seinen Kfz-Aufbereitungsbetrieb führte, liegt unmittelbar neben der zweiten, größeren Halle, in der er ein Jahr später die KfzWerkstatt installierte. Wie oben schon angeführt, füllte Herr Memiş die leere Halle mit seinen Maschinen aus. Zunächst aber musste er sie ausräumen, wie er anschaulich beschreibt: „Und das war dieser eine, dieser Abend, wo wir zusammengesessen sind, und diese Lagerhalle war ja voll mit Schrott, Alteisen, alles Mögliche. Da sage ich zu ihm, ja was machen Sie mit dieser Halle, die steht einfach leer. […] Da sage ich, ich könnte so was hier drinnen machen. Das war ein Tag später. Sage ich, ja, wenn man das ganze Zeug wegschmeißt und saubermacht, dann könnte ich in dieser Halle mal ein Jahr lang Aufbereiter probieren.“ (Herr Memiş, Z. 348-351)

Der Prozess des Ausräumens und des anschließenden Befüllens ist zugleich ein Prozess der Aufwertung und der Umdeutung des Raums. Das tätige Sichaneignen spiegelt die Veränderung wider, die Herr Memiş durch die berufliche Veränderung durchlebt. Die etappenweise Veränderung drückt sich ebenfalls in der Beschreibung der Gestaltung der Werkstatt aus: „Und danach habe ich dann, wenn ich dann dahergekommen bin, habe ich dann, jedes Jahr nur ein Teil gekauft, ein Teil gekauft, so habe ich dann das Ganze dann aufgebaut.“ (Herr Memiş, Z. 187 f.)

Eine weitere Etappe der räumlichen Veränderung wird eingeleitet, als das Geschäft als Kfz-Aufbereiter nicht wie gewünscht läuft und Herr Memiş die Idee eines neuen Geschäftsmodells entwickelt. Dabei sind ihm, so erzählt er, wieder

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andere – dieses Mal Freunde und Bekannte – Stichwortgeber, die ihn auf eine Marktlücke hinweisen: „Es ist nicht so richtig viel gewesen. Und zwischendurch habe ich auch viele Freunde und Bekannte und die haben gesagt, ja, warum tust Du nicht Autos reparieren? Wir brauchen das.“ (Herr Memiş, Z. 371 f.)

Wieder ist es eine nicht genutzte, mit Schrott angefüllte Halle, die er nutzen kann. Sie gehört demselben Vermieter und dieser lässt sich auf Konditionen ein, die Herrn Memiş akzeptabel erscheinen. Er hatte die erste Werkstatt noch als „so eine kleine Halle, ja“ (Herr Memiş, Z. 156) bezeichnet, in der es nicht möglich war, Autos zu reparieren. „Sage ich, wieso, da herinnen, das ist nur drei Meter hoch, wie soll ich da Autos reparieren?“ (Herr Memiş, Z. 373) Die neue Halle stellt also einen weiteren Entwicklungsschritt – eine Vergrößerung – dar. Herrn Memiş’ Veränderungen lassen sich zusammenfassend anhand der Raummetapher, beschreiben als: Raumnahme, tätige Aneignung, Aufwertung mit etappenweiser Veränderung und Vergrößerung. Sie geht einher mit dem kurzfristigen Verzicht des Status- und Mobilitätssymbols „Auto“ und der damit erkauften Ermöglichung sozialer Mobilität. Bleiben im Raum Das zur Zeit des Interviews aktuelle Thema für Herrn Memiş ist – nach Nehmen und Gestalten – das Bleiben. Auch das Bleiben erweist sich als Kampf und als anhaltende Überwindung von Widerständen, denn der Vermieter will nun die Halle verkaufen und Herrn Memiş den Mietvertrag kündigen. Sie hatten mündlich einen Zehnjahresvertrag vereinbart, so Herr Memiş, von dem mittlerweile erst vier Jahre vergangen sind. Herr Memiş schafft es, auch diese Hürde zu nehmen, indem er mit dem Vermieter in Verhandlung geht: „Und dadurch, dass wir halt keinen Vertrag abgeschlossen haben mit dem Eigentümer, hat er gesagt, Du musst rausgehen. Sage ich, ich habe einen unbefristeten Mietvertrag, weil ein mündlich abgeschlossener Mietvertrag ist unbefristet und Du hast mir zehn Jahre versprochen. Ich bleibe meine zehn Jahre, dann gehe ich raus.“ (Herr Memiş, Z. 398)

Um eine Erhöhung der Miete kommt er nicht herum, diese war Teil des Verhandlungsergebnisses. Immerhin hat er sich aber dank des Kompromisses Zeit erhandelt, in der er sich wieder neu orientieren kann – dieses Mal ohne akute Krise.

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Raum und Gesellschaft Dass sich die Raummetapher auf mehr als die berufliche Entwicklung von Herrn Memiş erstreckt, zeigt die folgende längere Interviewpassage. Herr Memiş antwortet hier auf die abschließende offene Frage nach Informationen oder Themen, die er selbst noch für wichtig halte. Raum bezieht sich hier auf seine Position zu gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre und seine Verstrickung in die Gesellschaft, vor allem was Fragen der Ausübung von Religion betrifft. Der Interviewer hatte in diesem abschließenden Dialog von seiner eigenen Erfahrung einer von Generation zu Generation abnehmenden Gläubigkeit im eigenen Kreis berichtet und dann gefragt, wie sich dieses Thema denn beim Interviewten entwickelt hatte. „Es ist genau umgekehrt passiert, kommt mir vor. Wenn ich meine Eltern so anschaue, wie sie ’82 dahergekommen sind. Ich weiß nicht, was sie da gehabt haben, was für Möglichkeiten sie gehabt haben, weiß ich nicht. Nur – ich bin ’87 gekommen – da war nur eine einzige Moschee in Alpstadt. Wir sind nur halt einmal im Monat oder am Wochenende, oder sag ich mal, ganz wenig. Ja, und dann, wir sind selber halt, ja wir suchen ja irgendwas. Da fehlt ja irgendwas und die Kultur ist nicht mehr da, die türkische Kultur, mit der wir aufgewachsen sind. Glaube ist auch nicht mehr so da. Und dann fühlt man sich, da ist eine Leere. Da fehlt doch irgendwas und da haben wir gesagt, wo fangen wir an. Die Kultur kann man hier nicht mehr leben, weil wir in so einer Gesellschaft leben, Minderheit, jeder lebt so und wir sagen, wir leben jetzt so, das funktioniert nicht. Wir versuchen parallel mit denen zu leben, aber dafür wenigstens unseren Glauben aufrechtzuerhalten. Und mit der Zeit ist es dann halt viel mehr geworden, haben wir viel mehr die Möglichkeit gehabt, und das hat sich schon auch viel ins Positive entwickelt, meine Meinung. Und jetzt hat jedes Kind die Möglichkeit in der Nähe in die Moschee zu gehen, in Vereine zu gehen. Auch in den Schulen gibt es auch Islamunterricht, sag ich mal, es ist ziemlich ins Positive gegangen.“ (Herr Memiş, Z. 624-639)

Zunächst, das stellte sich im Interview zuvor schon heraus, unterscheidet Herr Memiş die Identitätsmerkmale „muslimischer Glaube“ und eine „ethnisch-nationale türkische Zugehörigkeit“. Die Passage beinhaltet Hinweise, dass Herr Memiş in seiner Vergangenheit in beiden Belangen ein Defizit erlebte. Er legt seiner Aussage ein „Wir“ zugrunde, das sich in erster Linie auf die ethnisch-nationale Zugehörigkeit bezieht, und konstatiert, dass sich die türkische Kultur in Alpstadt nicht leben lasse, da sich eine (türkische) Minderheit einer (nicht-türkischen) Mehrheit anpassen müsse. Dies beschreibt er als Verlust. Ein kleiner Widerspruch tut sich im folgenden Satz auf, in dem er nun nicht mehr bei dem Verzicht auf kulturelle Gewohnheiten bleibt, sondern ein paralleles Leben benennt, das eigentlich auch das Praktizieren einer vom früheren Leben in der Türkei geprägten Kultur beinhalten könnte, in dem er aber viel mehr den muslimischen Glauben betont. Letztlich vermengt Herr Memiş die beiden Merkmale erneut, wenn er sagt, dass die

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Kinder es heute leichter haben: Sie können in eine Moschee in der Nähe, sie können in Vereine gehen und es gibt Islamunterricht an den Schulen. Unabhängig von der Vermengung von Religion und Kultur lässt sich die Aussage von Herrn Memiş räumlich lesen. Da ist zunächst das „parallele Leben“, mit dem er eigentlich das gemeinsame Leben mit der autochthonen Mehrheit meint, das aber auf den Raumbegriff der „Parallelgesellschaft“ bezogen ist. Gab es früher nur eine einzige Moschee in der Stadt, so ist nun eine „in der Nähe“. „So eine Gesellschaft“ – gemeint ist eine westlich-kapitalistische Gesellschaft – verbindet Herr Memiş mit der räumlichen Zuweisung „hier“. Die Raummetaphern, die sich vorher konkret auf das berufliche Leben bezogen, entwickeln in diesem Interviewabschnitt eine abstraktere Ebene, mit der Herr Memiş weiter gefasste Themen beschreibt. So erscheinen die vorher im Interview entwickelten Beschreibungen räumlicher Aneignung nun in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext und werden somit durch eine größere, mit gesellschaftlichen Konnotationen angereicherte Tiefe ergänzt. Die Raumaneignungsprozesse im beruflichen Kontext erscheinen nun als in sich geschlossene Metapher, die sich auf die Position von Herrn Memiş in der Gesellschaft beziehen lässt. Forschungsmethodisch ist für diese Deutung wesentlich, dass das Thema nicht durch eine Frage des Interviewers suggeriert, sondern vom Interviewten selbst eingebracht wurde. Das folgende Beispiel, die Erzählungen von Herrn Bilge junior und senior, zeigt noch deutlicher, welchen Stellenwert der zunächst beruflich gemeinte „Platz“ für die gesellschaftliche Position der Erzähler haben kann. „Und ich will wirklich einen guten Platz“ – Anlässe für Bildungsprozesse Im Werdegang von Herrn Bilge senior kann eine berufliche Krise ausgemacht werden, die ein Arbeitsunfall auslöste. Herr Bilge war 1978 nach Österreich emigriert und arbeitete dort zunächst als Hausmeister und dann auf Baustellen, bis er den Arbeitsunfall hatte. Dieser hatte einen längeren Krankenstand zur Folge, der zu Kündigung führte, so berichtet er: „Ich bin Kanal gearbeiten. […] Ich bin runtergefallen, ich bin im Krankenhaus gewesen, dann bekommen Kündigung.“ (Herr Bilge sen., Z. 51 f.)

Dass es sich bei der Arbeit auf der Baustelle um eine dequalifizierte Tätigkeit handelte, mit der Herr Bilge nicht zufrieden war, sagt er im Interview deutlich:

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„Die ganze Zeit, ich bin Ausländer gewesen, immer gearbeitet mit Pickel, mit der Hand gearbeitet. Für mich ganz schwer arbeiten. Ich bin Türkei, studieren, als ich hergekommen, muss arbeiten [gemeint ist: unqualifiziert, Anm. HB].“ (Herr Bilge sen., Z. 37)

So lag es nahe, die Krise zum Anlass zu nehmen, sich beruflich neu zu orientieren. 1985 eröffnete er einen Kebab-Stand in der Stadt. Im Zitat deutet er das Attribut „Ausländer“, mit dem er sich im Interview belegt, und das aus seiner Sicht Anlass für Benachteiligungen bei der Baustellenarbeit war, um (die Zugehörigkeitsverhältnisse, die in der Formulierung „Ausländer“ angesprochen sind, werden unten näher diskutiert). Er verwandelte die Diskriminierbarkeit als „Ausländer“ in einen Vorteil, in eine Art kulturelles Kapital, indem er eine eigene Geschäftsidee daraus entwickelte: Sein Kebab-Stand war der erste in Alpstadt. Wieder, wie schon bei Herrn Aydın, ist die Entscheidung an eine vorvergangene Erfahrung angelehnt, da der 59-Jährige schon früher, noch in der Türkei, trotz des höheren Schulabschlusses, in einer Fleischerei mitgearbeitet hatte und ihm die Arbeit lag. „Schon gemacht, in der Fleischerei gearbeitet. […] Ich habe einen Freund. Sein Papa, sein Großpapa, der hat einen Kebab gemacht, und ich habe studiert, Matura und dann in der Fleischerei gearbeitet. Ich mochte diesen Beruf. […]. Ich sagte, das ist mein Beruf, Fleischerei.“ (Herr Bilge sen., Z. 65-68)

Herr Bilge erzählt, dass die Selbständigkeit zehn Jahre lang gut ging, bis er sich entschied, die geschäftliche Tätigkeit auszudehnen und sich mit der Eröffnung eines größeren Ladens finanziell übernahm. 2000 musste er Konkurs anmelden. Dennoch strebte er, nun gemeinsam mit seinen Söhnen, immer wieder die Selbständigkeit an. Diese Reihe von Entscheidungen könnte mit Wissenspfaden, in Nohls (2014) Sinne, erklärt werden. Dies legt eine Formulierung von Herrn Bilge junior nahe: „Also selbständig, 30 Jahre, selbständig sich machen, was also, ich meine jetzt auf gut Deutsch gesagt, wir sind Familie A [nennt den Familiennamen, Anm. HB], seit 40 Jahren, seit den 70er Jahren, von den 70er Jahren weg, alle selbständig.“ (Herr Bilge jun., Z. 237 f.)

Selbstverhältnisse Um dem eigentlichen Bedeutungsgehalt des Wissenspfads näher zu kommen, kann auf eine zentrale rhetorische Figur, die Herr Bilge junior im Interview immer wieder verwendet, verwiesen werden. Dies ist der Begriff des „Platzes“, des „richtigen Platzes“ oder des „guten Platzes“. Einmal funktioniert er wörtlich, ein andermal als Metapher. Der Terminus „Platz“ und seine kontextuelle Einbettung werden im Folgenden näher interpretiert. Die erste Nennung im Interviewtranskript lautet wie folgt.

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„Die [die zuständigen Behörden, Anm. HB] möchten nicht, glaube ich, dass Ausländer vorwärts kommen. Weil die guten Plätze kriegen immer, kriegt kein Ausländer, also ich meine jetzt von den Türken her, weil wir sind wirklich, wir sind tüchtige Leute, also wir arbeiten, wir arbeiten täglich von acht bis acht, also das macht über 50, 60 Stunden, wir zahlen unsere Steuer.“ (Herr Bilge jun., Z. 109-112)

„Platz“ hat in dieser Nennung an erster Stelle die wörtliche Bedeutung von Standort für ein Geschäft inne, hier den Kebab-Stand. Der Standort stellt die denotative Bedeutung von Platz dar. Nebenbei schwingt aber schon eine konnotative Bedeutung mit, die mit dem Gefühl der ungerechten, diskriminierenden Behandlung als „Türken“ durch die österreichischen Behörden zusammenhängt. Die nun folgenden Wiederaufnahmen von „Platz“ geben Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Denotat und Konnotat. Die zweite Nennung wird nun in den Kontext einiger Fragen und Antworten eingebettet wiedergegeben, da sich der Sinn dadurch erst erschließt: „Herr Bilge jun.: Ich habe bis jetzt nichts gelernt. Nach der Schule habe ich gleich meinem Vater geholfen. Und jetzt bin ich gerade dabei, dass ich meine Ausbildung mache. Interviewer: Und wollen Sie dann, wenn Sie fertig sind ... Herr Bilge jun.: … ich will schon selbständig weiter machen. I: Wollen Sie auch als Fleischer dann arbeiten? Herr Bilge jun.: Nein, ich mache, was anderes machen. I: Auch in Alpstadt dann? Herr Bilge jun.: Auch in Alpstadt. Aber ich ... gute Platz, also …“ (I und Herr Bilge jun., Z. 120-127)

Herr Bilge verwendet den Begriff „guter Platz“ zum zweiten Mal und ohne die erste Nennung würde nicht ganz klar werden, was genau er damit meint. Es scheint, dass sein Verbleib in Alpstadt von einem guten Geschäftsstandort abhängt. In dieser Verwendung weist nichts darauf hin, dass Platz als Metapher aufgefasst werden müsste, wäre da nicht die erste Nennung, in der die übergeordnete, konnotative Bedeutung angelegt wurde. Die dritte Nennung, die Herr Bilge im Zuge der Erzählung einer früheren Suche nach einem neuen Platz für einen KebabStand verwendet, ist vordergründig wieder wörtlich zu verstehen, d.h. der Referent von „Platz“ ist hier ein gewünschter Standort für einen zukünftigen KebabStand in Alpstadt und – wieder – nur durch die frühere Andeutung bei der ersten Nennung kommt ihr metaphorischer Gehalt zur Geltung: „Also ich habe einen Platz gefunden in der Stadt und da habe ich mit ihnen [den Behörden, Anm. HB] telefoniert und sie hat gesagt, ja, okay, blablabla, und sie hat, glaube ich die Namen gelesen und dann hat sie gesagt, nein, das geht nicht.“ (Herr Bilge jun., Z. 147-149)

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Der gewünschte Platz wird ihm von der Behördenvertreterin verwehrt, so Herr Bilge. Er führt dies zum Teil auf eine rassistische Diskriminierung zurück, weil er – das wird im folgenden Gespräch deutlich – meint, mit einem deutsch klingenden Namen hätte er die Genehmigung bekommen. Teilweise fühlt er sich aber auch persönlich benachteiligt, weil der Nachname der Familie durch ihre Alpstadter Vorgeschichte, so meint er, schon bekannt sei und die Behördenvertreterin ihn wiedererkannt habe. Bei der vierten Nennung schließlich wird „Platz“ kontextuell neu eingebettet. Zunächst fragte der Interviewer danach, ob die beiden Männer stolz auf das seien, was sie erreicht haben. Die Frage war zunächst an Herrn Bilge junior adressiert, der aber kurz überlegt. Daher antwortet der Vater zuerst: „I: Und stolz, sind Sie stolz? Herr Bilge sen.: (Kommentar auf Türkisch). Ich kann nicht sagen, nein. Herr Bilge jun.: Ich würde richtig mal so stolz sein, oder richtig mal sein, okay schaun’s: ‚Jetzt habe ich ein gutes Leben gehabt, das hat alles geklappt‘ – aber es klappt nie was. Herr Bilge sen.: Immer Stress.“ (I, Herr Bilge jun. und sen., Z. 214-219)

Nachdem der Senior die Frage nach dem Stolzsein verneint hatte, führt sein Sohn zuerst mögliche Gründe an, die ihn „stolz“ machen könnten. Diese sind „ein gutes Leben“ oder dass „alles geklappt“ hat. Dann bezieht er diese Basis auf sein eigenes Leben und verneint ebenfalls: „aber es klappt nie was“. Der Vater schließlich ergänzt diese Gründe mit „Stress“. In der folgenden Replik nennt Herr Bilge wieder den Begriff „Platz“. Es handelt sich hier zunächst um die koreferentielle Wiederaufnahme des schon eingeführten Begriffs, die dieses Mal ganz deutlich ein zusätzliches Konnotat, also eine neue, nun metaphorische Bedeutung führt. Er sagt: „Stress, aber wenn ich einen richtigen Platz oder ein richtiges Leben will oder richtig Steuern zahlen will und ich will mir das Leben wirklich richtig genießen, dann will ich auch einen guten Platz haben. Wissen Sie, was ich meine?“ (Herr Bilge jun., Z. 220-222)

Dieser Passus kann als Akt der (weiteren) iterativen Resignifizierung von „Platz“ gedeutet werden. Ohne die frühere Nennung würde die Erweiterung der Bedeutung nicht funktionieren – „Platz“ als eigenständige bzw. erstgenannte Metapher wäre hier wenig kohärent. Erst durch die Umdeutung von der wörtlichen zur metaphorischen Bedeutung funktioniert die Resignifizierung. Die zentrale Bedingung für ein „richtiges“, legales Leben („Steuern zahlen“), das Herr Bilge „genießen“ könnte, ist der gute Platz. War mit Platz vorher zum einen ein gewünschter Standort für ein Geschäft und zum zweiten ein Platz in der Gesellschaft, der frei von Diskriminierung ist, gemeint, so wird diese Bedeutung nun erweitert um

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das richtige, legale und gute Leben. Einerseits ist der reale Platz Bedingung dafür, andererseits geht dieses Leben im „guten Platz“ auf. Die fünfte Nennung schließlich erfolgt auf die Frage nach Herrn Bilges beruflichen Plänen. Er will sich selbständig machen, sobald er die Ausbildung beendet hat, allein: Es hängt vom Platz ab: „Und ich will wirklich einen guten Platz. Es gibt keinen guten Platz in Alpstadt.“ (Herr Bilge jun., Z. 296)

Die iterative Umdeutung von „Platz“ nimmt in der Rede von Herrn Bilge junior also mehrere Etappen ein: Da ist zum einen die denotative Bedeutung des guten Standorts, die nach der ersten Nennung aber stets um das Konnotat eines festen, diskriminierungsfreien gesellschaftlichen Platzes erweitert wird. Schließlich wird (in der vierten Nennung) ein positives Bild von „Platz“ entwickelt, das für ein richtiges, legales Leben steht, das Herr Bilge genießen könnte. Abschließend nimmt Herr Bilge den Begriff noch einmal resümierend auf, dieses Mal bringt er zum Ausdruck, dass er einen guten Platz will, dass er aber der Meinung ist, dass es diesen in Alpstadt nicht geben könne. Bildungsprozesse Als Bildungsprozess von Herrn Bilge senior konnte die frühere Selbständigkeit, begonnen im Jahr 1985, nach einer längeren Phase der Arbeitslosigkeit und vorheriger dequalifizierter Tätigkeit interpretiert werden. Für den Sohn, Herrn Bilge junior, ist das Selbständigsein schon beinahe ein institutionalisierter Teil der Familiengeschichte. Diese war aber – abgesehen vom früheren Erfolg mit dem ersten Alpstadter Kebab-Stand – immer mit einem Scheitern verbunden. Von einem Bildungsprozess, in dem Sinne, dass ein krisenhafter Einschnitt eine Neuorientierung ausgelöst hätte, kann bei Herrn Bilge junior – zumindest in Hinblick auf seine berufliche Laufbahn – nicht die Rede sein. Vielmehr schloss er sich der „Familienroutine“ an. Er entwickelt keine alternative Haltung zum Gegebenen, sondern transformiert dieses, indem er versucht, sich durch die institutionalisierte Bildung in Form der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Dennoch lässt sich seine berufliche Situation in Hinblick auf Anerkennungsverhältnisse als defizitär interpretieren. Ein Defizit bezieht sich auf die rechtliche Anerkennungsdimension: Es zeigt sich dort, wo er über die benachteiligende Behandlung seitens der Behörden berichtet. Das Defizit betrifft aber auch die soziale Wertschätzung. Dies kommt da zum Ausdruck, wo er voller Unbehagen über seine finanzielle Situation berichtet, die er als Maßstab für Erfolg heranzieht. Auf die Frage nach den positiven Seiten des Selbständigseins fällt ihm im Interview zunächst nichts ein. Der Interviewer schlägt daraufhin vor, dass

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„Stolz“ ein Kriterium sein könne und fragt, ob die beiden denn stolz seien auf ihre Leistungen in der Vergangenheit. Darauf antwortet Herr Bilge junior (der folgende Interviewausschnitt ist die Fortsetzung der oben angeführten Textstelle): „Ich will also richtig sagen, ich hab was gemacht, also wenn ich hinter mir schau und ich hab ein bisschen was gespart, dann bin ich stolz. Wenn ich hinter mir schaue und ich habe gar nichts und ich stehe immer nur zwischen Punkt null und Punkt eins, dann muss ich nie stolz sein, oder sagen, okay, ich habe acht Stunden täglich gearbeitet ich hab gar nichts rüber gebracht.“ (Herr Bilge jun., Z. 224-228)

Das Transkript lässt hier nur eine indirekte Interpretation zu – zumindest scheint es so, als ob das doppelte Unbehagen, in rechtlicher und in sozialer Hinsicht, sich so weit zu einer Krise verdichtet hat, dass Herr Bilge junior sich zur Ausbildung entschieden hat, die ihm eine bessere Voraussetzung für den beruflichen Erfolg als Selbständiger verspricht. Zunächst wirkt Herr Bilge nicht besonders optimistisch („Es gibt keinen guten Platz in Alpstadt“), dennoch hat er sich entschieden, aktiv zu sein und die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann zu machen, um seine eigene geplante, zukünftige Selbständigkeit mit einem fundierteren Wissen angehen zu können. Oben wurde diese Entscheidung schon als Merkmal für ein Interesse am Spiel ausgelegt. Der Bildungsprozess, den er durchläuft, wurde – in dieser Lesart – durch die wenig erfolgreichen Geschäftstätigkeiten des Vaters bedingt, die Neuorientierung des eigenen Handelns besteht nun im Absolvieren einer Berufsausbildung. Weltverhältnisse Die Veränderung der Selbstverhältnisse von Herrn Bilge senior und besonders von Herrn Bilge junior sind stark mit ihren Weltverhältnissen verbunden und sie sind in Zusammenhang mit Fremdheitserfahrungen zu deuten (Zölch 2014). Schon in der Verwendung des Begriffs des Platzes war das Verhältnis von Herrn Bilge zu seiner Umwelt angesprochen. Dieser Aspekt taucht im Interview auch in anderen Zusammenhängen immer wieder auf, so zum Beispiel in der folgenden Textstelle, in der Herr Bilge junior eine Differenzlinie zwischen einem „wir“ und „normalen Österreichern“ einführt. Sie beginnt mit dem oben schon zitierten Abschnitt, über die Ablehnung des gewünschten Standortes für den Kebab-Stand durch eine Behördenvertreterin. „Herr Bilge jun.: Also ich habe einen Platz gefunden in der Stadt und da habe ich mit ihnen [Behörden, Anm. HB] telefoniert und sie hat gesagt, ja, okay, blablabla, und sie hat, glaube ich die Namen gelesen und dann hat sie gesagt, nein, das geht nicht. I: Sie glauben, ein österreichischer Name ... Herr Bilge sen.: … ja, leichter

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Herr Bilge jun.: … ja, leichter, weil wenn Sie sagen, okay, Sie sind ein Schwarzkopf und Sie haben einen ausländischen Namen und das merkt man sofort, dass Sie das nicht so Rücksicht nimmt, sondern sie tut dich einfach so als zweite, also wie ein B-Klasse, nicht wie ein A-Klasse, behandeln. Und wir wollten eigentlich so behandelt werden, wie normale Österreicher, genau.“ (I, Herr Bilge jun. und sen., Z. 147-155)

Zunächst formuliert der Interviewer die Vermutung, dass womöglich ein österreichischer Name hilfreich bei der Vergabe des Standorts gewesen wäre. Damit spricht er einerseits eine mögliche Diskriminierung an und reproduziert andererseits die Differenzlinie zwischen österreichischem und nicht-österreichischem Namen, greift also auf die Etikettierung einer nationalen Zugehörigkeit zurück. Beide Interviewpartner, der Senior und der Junior, nehmen den Vorschlag an und bestätigen die Vermutung mit „ja, leichter“. Daraufhin benennt Herr Bilge den Gegenpol zu „österreichischer Name“ dezidiert mit „ausländischer Name“ und kontextualisiert ihn mit „Schwarzkopf“, einem körperlichen Stigma, das – so seine Auslegung – die Behördenvertreterin ihm zuweist und mit dem er die schlechtere Behandlung erklärt. Mit Goffmans (1975) Worten: Die virtuale soziale Identität von Herrn Bilge, die ihm von der Behördenvertreterin mitgegeben wird, entspricht nicht seinem Selbstverständnis als Unternehmer, das Bestandteil seiner aktualen sozialen Identität ist. Diese Kluft führt zur Stigmatisierung. Die Fremdzuschreibung – sei es, dass sie auf eine reale oder auf eine fiktive Erfahrung zurückzuführen ist – kann als rassistische Entgleichung (Terkessidis 2004) bezeichnet werden, die im Anschluss auch gleich konkretisiert wird, indem Herr Bilge junior die unterschiedliche Behandlung der „Schwarzköpfe“ als B-Klasse-Behandlung, die der „normalen Österreicher“ dagegen als A-Klasse-Behandlung einstuft. Unterstützt wird die Trennung durch die Nennung der eigenen Gruppe als „wir“, für die er den Wunsch nach einer gleichwertigen Behandlung äußert. Wohlgemerkt äußert Herr Bilge nicht den Wunsch, gleich zu sein, wie normale Österreicher oder überhaupt ein normaler Österreicher zu sein. Es ist ihm genug, gleichwertig behandelt zu werden, ohne seine gewohnte Wir-Gruppe aufzulösen. Einen Hinweis auf diese gewohnte Wir-Gruppe liefert die folgende Passage, in der der Interviewer zunächst die Vermutung äußert, dass es in Zukunft zu weniger Diskriminierungen kommen wird, weil „türkische Läden“ in Alpstadt „normaler“ werden. Der Interviewer sagt: „Für Sie war das noch sehr schwierig, aber ich glaube, dass das immer normaler wird, dass es türkische Läden gibt, und dann irgendwann werden die Behörden das auch verstehen, …“ (I, Z. 130 f.)

Darauf geht Herr Bilge wie folgt ein:

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„Ja, die hätten das schon längst verstehen müssen, weil wir sind schon 30, 40 Jahre schon da. Es gibt so viele Ausländer, die hier geboren sind, aber kriegen trotzdem, die werden so behandelt wie die anderen Ausländer, und das schaut nicht gut aus, von außen her.“ (Herr Bilge jun., Z. 132-134)

Zunächst verleiht er seinem Ärger darüber Ausdruck, dass der angesprochene Normalisierungsprozess nicht schon längst weiter fortgeschritten sei. Er würde es unter Umständen verstehen, wenn jüngst angekommene „Ausländer“ eine benachteiligte Behandlung erführen, aber nach „30, 40 Jahren“, so meint Herr Bilge, lässt sich dies nicht mehr rechtfertigen. Er zählt sich zu den Alteingesessenen, unabhängig davon, ob er nun zu den „Ausländern“ gehört oder nicht. Dass sich Herr Bilge überhaupt zur Gruppe der „Ausländer“ zählt, ist zum Teil dem Umstand geschuldet, dass der Interviewer ihn durch seinen Kommentar einer (fiktiven) Gruppe „türkischer Ladenbesitzer“ zuweist, stärker wiegt aber seine eigene Einschätzung der Behördenvertreterin, die ihm das Etikett stigmatisierend zugewiesen hat. Die nächste Frage-Antwort-Replik thematisiert das Verhältnis zwischen türkischen Geschäftsleuten. Auf die Frage, ob es Austausch unter den Geschäftsleuten gibt, verneint Herr Bilge: „Herr Bilge jun.: Weil jeder hat sein Geheimnis, und jeder will nicht sein Geheimnis verraten … I: Wegen Konkurrenz, dann .. Herr Bilge jun.: Genau, Konkurrenz, genau, ja.“ (Herr Bilge jun., Z. 190)

Der Interviewer will noch einmal genau wissen, ob es denn wirklich keinen Austausch, keine Treffen zwischen Geschäftsleuten gebe. Daraufhin Herr Bilge: „Ja, eh mit niemandem, weil es bringt ja nichts, weil es gibt keinen anderen, da fragt dich keiner, was wie dein Geschäft lauft, oder nicht lauft. Weil wenn es Türken sind, wenn Du ein Wort sagst, das Wort wird weitergegeben, und das taugt keinem. Deswegen, es sind wirklich schlechte Zeiten und da musst du wirklich vorsichtig sein, dass man etwas Schlechtes ausredet.“ (Herr Bilge jun., Z. 206-209)

Wieder trennt Herr Bilge in Türken und Andere und betont die starke Konkurrenz zwischen den türkischen Selbständigen, die für Misstrauen untereinander sorgt. Gleichzeitig bietet er eine Erklärung für diese schwierigen Verhältnisse an: Er führt es ausdrücklich nicht auf eine allgemeine, im Wesen der Marktverhältnisse begründete Konkurrenz zurück, wie sie zwischen Geschäftsleuten üblich ist, sondern darauf, dass „wirklich schwere Zeiten sind“. Durch die wirtschaftlich schwierige Situation wird eine Solidarisierung zwischen den Geschäftsleuten erschwert.

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Die hier aufgelisteten Zugehörigkeitsverhältnisse können mit Goffman analytisch geordnet werden. „Türkisch sein“ gehört, das belegen die diskutierten Interviewzitate, zur Identität von Herrn Bilge junior, allerdings kann nicht klar entschieden werden, inwiefern dieses Merkmal erst durch Fremdzuschreibungen reproduziert und verstärkt wurde. Durch den deutlichen Verweis auf die Behördenvertreterin, die als institutionalisierter Teil einer autochthon-österreichischen Mehrheitsgesellschaft gesehen werden kann, und auf die Herr Bilge immer wieder verweist, kann dieses Merkmal als virtualer Bestandteil seiner sozialen Identität bezeichnet werden, also als ein Identitätsmerkmal, das im Sinne von Goffman von außen auferlegt wird. Es stellt, durch die Abweichung zur Selbsteinschätzung von Herrn Bilge, der wie ein Selbständiger unter Selbständigen behandelt werden will, ein Stigma dar, das durch das körperliche Stigma („Schwarzkopf“) verfestigt wird. Das „Selbständigsein“ ist dann auch das weitere zentrale Identitätsmerkmal, einerseits durch die Fragestellung des Interviews von vornherein festgelegt, andererseits aber Teil des Selbstverständnisses der beiden Interviewpartner: „Also selbständig, 30 Jahre, selbständig sich machen, was also, ich meine jetzt auf gut Deutsch gesagt, wir sind Familie [nennt den Familiennamen, Anm. HB], seit 40, seit 70er Jahre, von den 70er Jahren weg, alle selbständig.“ (Herr Bilge jun., Z. 237 f.)

Ein wichtiger, bisher noch nicht beachteter Umstand zeigt sich im Stellenwert, den der erhoffte Status als Selbständiger birgt, den Herr Bilge zum Ausdruck bringt. Anerkennung nimmt zugleich zwei Formen an, die sich überschneiden. Das eine ist eine graduelle Form, die sich beispielsweise im Anspruch nach mehr Geld äußert, der durch die Selbständigkeit erfüllt werden soll. Die andere Form ist kategorisch. Sie liegt darin begründet, dass sich Herr Bilge junior wünscht, als Selbständiger überhaupt anerkannt zu werden. Er will als Selbständiger in Bezug auf das Verdienst in größerem Maß gesellschaftlich anerkannt werden, gleichzeitig will er aber auch den Status des Selbständigen anerkannt wissen. Herr Bilge spricht ein weiteres Identitätsmerkmal an. Es ist die Familienzugehörigkeit. Diese ist einerseits eng verknüpft mit der gemeinsamen Identität als Selbständige, von denen es in der Familie einige gibt: „Ja, ’84 waren drei selbständig in Alpstadt, das waren mein Vater und zwei Onkels. Er war Kebab-Mann, der andere war Lebensmittel und der andere war so Freizeit, so Spiel, so Minicasino und so ähnlich, so ein Lokal halt“ (Herr Bilge jun., Z. 269)

Andererseits ist es dasjenige Merkmal, bzw. diejenige Zugehörigkeit, die ihm Sicherheit und Rückhalt vermittelt. So ist es auch zu erklären, warum Herr Bilge überhaupt so sehr am Selbständigsein festhält.

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Normative Kriterien für Bildungsprozesse Wendet man die normativen Kriterien für Bildungsprozesse an, die mit Honneth in einem höheren Grad an Autonomie und an Inklusion umrissen werden können, so ist es insgesamt zu bezweifeln, ob dann noch von einem Bildungsprozess gesprochen werden kann. Autonomer wurde Herr Bilge senior nur während der zehn Jahre, in denen er seinen Kebab-Stand betrieb. Nicht jedoch Herr Bilge junior – er ist weder finanziell so erfolgreich, dass er sich autonomer fühlt, noch ist er gegenüber der Familie entscheidungsfreier geworden. Eher schon fühlt er sich verpflichtet, die vergangenen Misserfolge des Vaters wiedergutzumachen und an die alte Zeit des Kebab-Stands anzuknüpfen. Auch der Grad an Inklusion konnte nicht erhöht werden, wenn man Inklusion als gleichwertiges, also diskriminierungsfreies Miteinander definiert (vergleiche etwa Reich 2012). Letztlich ist Herr Bilge senior aber auf dem Weg. Er kämpft nun, indem er die Ausbildung macht und versucht, sich zu professionalisieren und auf diese Weise zu einem guten Platz zu kommen. Einen wesentlichen Schritt dazu – neben der Ausbildung – tut er allein durch die Artikulation des Unrechtsgefühls, das er durch die Stigmatisierung erfährt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Bildungsprozess von Herrn Bilge oder die Wissenspfade beider Interviewpartner auf eine als benachteiligend empfundene berufliche Situation zurückgeführt werden können. Trotz einiger Rückschläge in vergangenen Geschäften kämpfen beide um den beruflichen Erfolg. Herrn Bilge junior gelingt es im Interview, ein Unrechtsempfinden zum Ausdruck zu bringen, das sich darauf bezieht, keinen guten Platz in der Gesellschaft zu haben. Er hat sich außerdem dazu entschieden, zukünftige Selbständigkeiten durch seine Ausbildung auf ein solideres Fundament zu stellen. Dennoch bleibt die Ambivalenz in Sachen virtuale und aktuale soziale Identität. Die Interviewpartner können die Stigmatisierung (hier repräsentiert durch die Entscheidungen der Behördenvertreterin) durch ihre Bemühungen im beruflichen Feld nicht überwinden und sind dadurch immer wieder auf die Sicherheit versprechende familiäre Zugehörigkeit verwiesen. Gerade diese aber verstärkt die berufliche Identität als Selbständige und verhindert so eine autonome Entscheidung von Herrn Bilge junior, was seine zukünftige Berufswahl betrifft. Das Fallbeispiel betont die Bedeutung, die rassistische bzw. stigmatisierende Behandlungen für die Zielgruppe haben. Sie stellen eine Hintergrundfolie dar, die nicht ohne Wirkung auf ihr Handeln bleibt. Im Beispiel wird deutlich, dass der Suche nach einem Platz eine außerordentliche Bedeutung zukommt: Nicht nur der Platz als physischer Raum, hier als guter Standort für den Kebab-Imbiss, sondern auch seine metaphorische Aufladung als guter Platz in der österreichischen Gesellschaft werden mit der Aneignung von

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Raum angestrebt. Gerade die Transformation der Weltverhältnisse macht die große Bedeutung deutlich, die in der Raumaneignung mitschwingt. Selbständigkeit als Prozess der Raumaneignung Wenn in den oben erörterten Interviewpassagen von Raum und der Veränderung räumlicher Verhältnisse die Rede war, so ging es zum einen um den Umgang mit physischem Raum: Es gebe keinen guten Platz für den Kebab-Stand in Alpstadt (Herr Bilge jun. und sen.), eine Halle wurde leer geräumt und als Kfz-Werkstatt umgenutzt (Herr Memiş) oder ein Ladenlokal wurde frei und konnte gemietet werden (Herr Aydın). Diese Nutzung von Raum wurde aus der Perspektive der Interviewpartner_innen nachvollzogen und es konnten Aussagen über ihre Wahrnehmungen und Intentionen getroffen werden. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass den Räumen ein symbolischer Wert beikam, der die jeweilige wahrgenommene Position der Interviewpartner_innen in der Gesellschaft repräsentieren kann. Das Konzept der Raumaneignung (Deinet/Reutlinger 2004; Löw 2016; Braun 2004) beschreibt solche Prozesse unter einer begrifflichen Trennung von physischem und sozialem Raum. Ein Raum bekommt Bedeutung in diesem Sinne erst durch die soziale Ausdeutung seiner Gestalter_innen und durch die Aneignung seiner Nutzer_innen. Unter Aneignung kann tätige Auseinandersetzung eines Raumes verstanden werden, dem von seinen Gestalter_innen schon eine originäre Bedeutung eingeschrieben war und die durch neue, anders geartete Nutzung verändert wird. Sozialer Raum ist daher niemals absolut, er ist vielmehr relational in dem Sinne, dass ihm Bedeutung durch die verschiedenen Tätigkeiten aller an ihm Teilhabenden erst verliehen wird. Deinet und Reutlinger verstehen Aneignungsprozesse als Bildungsprozesse (Deinet/Reutlinger 2004). Dieses Verständnis lässt sich anhand des Beispiels von Herrn Memiş gut nachvollziehen, bei dem jeder Schritt der Raumnahme, der Raumumdeutung und des dauerhaften Einnehmens von Raum mit einem immer ausgeprägteren Selbstverständnis als erfolgreicher Unternehmer einhergeht. Herr Memiş wächst gewissermaßen mit dem Raum, den er sich in immer weitern Kreisen aneignet. Neben diesen individuellen Bildungsprozessen beinhaltet der Begriff der Raumaneignung eine gesellschaftskonstitutive Dimension: „Gesellschaften werden grundlegend über Räume geordnet“ (Löw 2016: o.S.). So mag es kein Zufall sein, dass der Raum, der Herrn Memiş zur Verfügung steht, in einem Hinterhof zu finden ist. Auch die Verweigerung des „guten Platzes“ im Sinne eines guten Kebab-Standortes für Herrn Bilge junior und senior sind ein Beispiel für das Verhältnis von Raumverhältnissen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, mit de-

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nen die Protagonisten konfrontiert sind. Je einzelne Orte entfalten in unterschiedlichen „räumlichen Arrangements“ je unterschiedliche „spezifische Wirkungen“ (ebd.). Das heißt, dass es eine Rolle spielt, wo genau sich beispielsweise die KfzWerkstatt von Herrn Memiş befindet: In der Logik dieser Argumentation hat es Auswirkungen, dass sie in einem Hinterhof angesiedelt ist. Wäre sie an einem exponierteren Ort, so hätte dies Konsequenzen auf den Umgang des sozialen Umfelds mit ihr. Zumindest der Interviewpartner selbst scheint nicht so richtig glücklich damit zu sein, was zum Ausdruck kommt, wenn er sagt: „... ja, das ist, nur es ist bisschen versteckt“ (Herr Memiş, Z. 46.) Die folgende Auswertung des Interviewkorpus nach Fragen der Raumaneignung gliedert sich in die zentralen Kategorien (in Anlehnung an Deinet/Reutlinger 2004; Löw 2016; Braun 2004):    

physischer Raum und sozialer Raum, Raumaneignung als Kampf um den Raum, Hindernisse und Ressourcen, virtueller und transnationaler Raum.

Physischer Raum und sozialer Raum Aneignung von Raum und die Nutzung von physischem Raum sind, wie gezeigt werden konnte, mit Bildungsprozessen verbunden. Außerdem sind sie im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen zu sehen, die bei den hier erörterten Fällen oft mit Fremdheitserfahrungen der Betroffenen zu tun haben. Besonders die Interpretation der Erzählung von Herrn Bilge junior und senior zeigte, dass Fragen der Raumaneignung insofern als Umgang mit Fremdheits- oder Stigmatisierungserfahrungen gelesen werden können, als dass die Akteur_innen damit ihre Position in der Gesellschaft als gefährdet in Verbindung bringen. Die Interviews bezogen sich – neben den Werdegängen – auch auf die aktuelle berufliche Situation der Unternehmer_innen und viele Interviewpartner_innen erzählten so auch von Stigmatisierungserfahrungen, die sie in der Gegenwart machen. Grundlegend kann davon ausgegangen werden, dass Fremdheitserfahrungen ganz unabhängig von der beruflichen Tätigkeit immer wieder zum Thema wurden. Oft hängt dies mit dem Wechsel des Wohnortes – hier meist von der Türkei nach Österreich – zusammen. Allerdings – und das ist wesentlich – liegt die Zuschreibung der Fremdheit nicht bei ihnen selbst, sondern beim Alltagsrassisten oder der Alltagsrassistin, der bzw. die sie zum bzw. zur Fremden macht. Solche Erfahrungen können in der Kindheit stattfinden, wie das Beispiel der Gastronomin Frau Sarı zeigt:

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„Ich habe auch psychisch hat mich das sehr belastet und ich war noch ein Kind. Und weil ich nichts verstanden habe, habe ich immer gedacht, die alle reden über mich. Das war dann irgendwie, was mir psychisch sehr viel Druck gemacht hat.“ (Frau Sarı, Z. 213-215)

Sie sind aber auch für Personen relevant, die erst im Erwachsenenalter immigriert sind. So berichtet der Gastronomiebedarfshändler Herr Ercan: „They are looking to me like this. The other government, all the Amt, all Amt is a problem. I think, they’re thinking, as if I stole some things. It’s not good. It’s not feeling good.“ (Herr Ercan, Z. 545 f.)

Generell unterscheiden sich die räumlichen Charakteristika der verschiedenen Branchen, die sich in Gastronomiebetriebe (Kebab-Imbiss, Lokal), Läden (Mode, Juwelier, Fleischer), Handwerksbetriebe (Änderungsschneidereien, Glaser, Maler, Kfz-Werkstatt) und den Lebensmittelhandel gliedern lassen. Sie alle haben durch die jeweiligen Tätigkeiten und Angebote unterschiedliche Bedürfnisse und Zugänge in Bezug auf den Raum. Die Läden, besonders die Modeläden, sind interessiert an der Gestaltung der Verkaufsräume und an den Auslagen, der Händler dagegen hat überhaupt keinen festen Ort, von dem aus er tätig ist. Er ist vielmehr mit seinem Transporter unterwegs und hat daher viel eher einen Bezug zu einem Raum, der als Netzwerk verstanden werden kann. Grenzüberschreitungen im wörtlichen Sinne stehen hier im Vordergrund. Für die Handwerker wiederum ist der Raum primär funktional. Die Größe ist bestimmt durch das Volumen der Aufträge. Die Schneidereien und die Kfz-Werkstatt verbinden in ihren Räumen die handwerkliche Tätigkeit und das Empfangen von Kund_innen. Raumaneignung als Kampf um den Raum Im Korpus können verschiedene Formen der Raumnahme, der Raumdeutung und -umdeutung gezeigt werden. In einigen von ihnen spiegelt sich das Verhältnis zwischen individueller Raumaneignung und gesellschaftskonstituierendem Moment wider, das mitunter in gesellschaftliche Kämpfe münden kann. Der Juwelier Herr Çoban ging in seinen Entscheidungen über die Situierung seiner Geschäfte stets ökonomisch-rational vor. Er suchte immer aufs Neue günstig gelegene Standorte in größeren Einkaufszentren, in denen ihm Laufkundschaft garantiert ist. Er muss für die Kundschaften gut erreichbar sein, so sagt er, und braucht gute Parkmöglichkeiten für sie. Das war auch ein Grund, die zweite Filiale, die an einer Hauptstraße gelegen ist, aufzugeben und in ein Einkaufszentrum umzuziehen. Diese ökonomisch-rationalen Erwägungen waren schon bei früheren Entscheidungen, im Zuge seiner ersten Selbständigkeit, zentral. Er suchte damals einen geeigneten Standort für einen Laden, in dem er „südländische Früchte und

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südliche Produkte“ (Herr Çoban, Z. 46) anbot. Dabei zeigte er sich räumlich flexibel und der Ort war dem Ziel untergeordnet. „Ich habe mich im ganzen Bundesland informiert, Pongau ist ein Knotenpunkt und es hat einen guten Namen im ganzen Bundesland. Autobahn, Ausfahrt, da kannst du von Zell am See, Kaprun, ... leicht erreichen. Risiko, damals Risiko war null.“ (Herr Çoban, Z. 187-189)

Die Produkte, die er anbot, waren zu dieser Zeit einzigartig, so sagt er: „’95 war die erste Geschäftsübernahme. […] Das war eine goldene Zeit muss ich sagen. Und weil es keine Mitbewerber, nicht so viele Mitbewerber. Im Pongau bin ich, in St. Johann, war ich der einzige mit dem Spezialgeschäft gewesen.“ (Herr Çoban, Z. 179-183)

Herr Güçlü begann neben seiner unselbständigen Stelle im Keller seines Wohnhauses als Glaser zu arbeiten. Später, als er bemerkt hatte, dass sich das Geschäft rentierte, beschloss er, zu kündigen und sich ganz selbständig zu machen. Er mietete eine kleine Werkstatt. Mit der Zeit mietete er eine größere Fläche im selben Haus, bis er schließlich das Gebäude kaufte: „Und ab 2000 habe ich die erste Werkstatt hinten, 16 Quadratmeter waren das, [...] und zwei Meter fünfzig hoch, damals, gell. Und die kleine Werkstatt habe ich damals gemietet. Und ja, dort habe ich damals so dahingearbeitet. Da war damals keine Heizungsmöglichkeit, aber Gott sei Dank, ich habe das ausgehalten damals, und nachher habe ich von dem Eigentümer hinten auch ein bisschen was bekommen, als Lagerstätte. Irgendwann war das so, dass das alles zu wenig war, weil ich habe, mein Sohn hat dann geheiratet, der war dann bei mir auch Lehrling, ne, und ja, jetzt haben wir für ihn Miete gezahlt, für mich, Wohnung, ne, und für die Werkstatt, und das alles hat so in Summe ca. 1500 Euro ausgemacht, ne, die Mieten. Und ich habe mir so, gerechnet, wenn ich zum Beispiel 2000 Euro Raten zahlen kann, dann kann ich mir die Liegenschaft kaufen, nicht. Dann, auf jeden Fall habe ich dann geschaut, dass ich was finde. Lange Zeit habe ich dann gesucht. Aber es war dann so, dass der Eigentümer von dem Haus hier hat dann mir das verkaufen wollen um einen günstigen Preis. Dann habe ich das gekauft. Jetzt sind wir hier praktisch, also, Wohnungen und ja, Betriebsstätte, alles zusammen und ich zahle 1600, 1700 Euro Raten.“ (Herr Güçlü, Z. 242257)

Frau Sarı, die Gastronomin, übernahm einen leerstehenden Raum, in dem sich früher ein Gastronomiebetrieb befunden hatte. „Vor drei Jahren, bevor wir es genommen haben, war da anscheinend ein Restaurant drinnen, aber vor uns, drei Jahre war der leer.“ (Frau Sarı, Z. 19 f.) Dabei setzt sie die Selbständigkeit mit ihrem Traum gleich, der wiederum im Besitz, im Eigentum liegt: „Ein Traum war, ein Restaurant zu besitzen. Also ein eigenes Restaurant zu haben.“ (Frau Sarı, Z. 45) Es ist ihr Raum, sie versteht ihn als ihren Bereich, wo sie auch Gastgeberin ist.

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Das deckt sich auch mit den Beobachtungen zu Merkmalen im Script, in dem bemerkt wurde, dass die Unternehmer_innen die Möglichkeit haben, Regeln alltäglicher Scripts maßgeblich selbst zu gestalten. Dies zeigt sich in der Nennung des Restaurants, das Frau Sarı durch Verwendung des Personalpronomens „mir“ mit ihrer Person in eins setzt: „Also meine Freunde, wie zum Beispiel T. M. habe ich vorher nicht persönlich gekannt. Und er war einmal bei mir und er war sehr zufrieden und jetzt kommen sie vielleicht einmal im Monat zu mir. Auf jeden Fall. Und die machen auch so Gruppenversammlungen bei mir.“ (Frau Sarı, Z. 352-354)

Dass es sich mitunter um ganz reale Umdeutungen handelt, die auch eine manifeste gesellschaftskonstituierende Komponente haben, zeigen die Beispiele der „ersten Unternehmen ihrer Art“ in Alpstadt. Dies ist beim oben vorgestellten Fleischer Herrn Bilge senior der Fall, der den ersten Kebab-Stand in der Stadt eröffnete, oder bei Herrn Çobans erstem Laden für südländische Früchte im Land Mittelösterreich. Auch bei Frau Şen verhält es sich so: Sie betreibt den ersten HijabModeladen in Alpstadt. In beiden Fällen wurden Produkte, die in Zusammenhang mit der Herkunft ihrer Inhaber_innen stehen, zum ersten Mal in der Stadt angeboten6. Dass es sich hier um gesellschaftliche Kämpfe handelt, lässt sich im Fall von Herrn Bilge vermuten, wenn man die oben ausführlicher dargelegte Beschreibung der Reaktion der Behörden bei der Platzvergabe wörtlich nimmt. Frau Şen dagegen befürchtet negative Reaktionen von Passant_innen auf die mit Kopftuch geschmückten Modepuppen in ihren Auslagen. Eine Ausprägung eines solchen Kampfes liegt in den „räumlichen Arrangements“ (…) , die je „spezifische Wirkungen“ (Löw 2016: o.S.) haben: Die Kleiderpuppe mit Kopftuch in der Auslage des Hijab-Modegeschäfts würde eine andere Wirkung entfalten, wenn sie unauffällig im Hinterhof platziert wäre, als sie das im Laden an der Hauptstraße tut. Erst da wird sie zum Objekt der neugierigen Betrachtung von Passant_innen und unter Umständen zum potentiellen Gegenstand eines aggressiven, islamfeindlichen Übergriffs:

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Bei Herrn Bilge sen. wurde der ursprünglich funktionale Aspekt der kulturell geprägten Idee eines Kebab-Standes im Laufe der Zeit – vielleicht begünstigt durch den geschäftlichen Misserfolg und die Ausgrenzungserfahrungen – überformt, so dass das Türkischsein unabhängig von der Geschäftsidee als Identitätsmerkmal verfestigt wurde. Diese Entwicklung lässt sich mit dem Begriff der „surplus-phenomenology-of-identity“ (Bilgrami 1995) bezeichnen. Bei Frau Şen behält die kulturell geprägte Geschäftsidee ihre funktionale Dimension. Das heißt nicht, dass die kulturellen Anteile nicht auch Teile ihrer Identität wären, sie behalten aber den ökonomisch-rationalen Aspekt bei.

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„Es gibt viele Kunden, die vorbeikommen, Fotos machen, oder mit Autos vorbeifahren, Fotos machen. Ich weiß nicht, wieso sie die Fotos machen, ob es ihnen gefällt oder ob sie es lustig finden, oder je nachdem, aber bis jetzt hat es nie was gegeben. Aber das war meine größte Befürchtung, dass es irgendwann einmal wirklich so einen Anschlag geben könnte. Aber ist bis jetzt nie passiert.“ (Frau Şen, Z. 348-352)

Hindernisse und Ressourcen Das letzte Beispiel zeigt zugleich ein Hindernis, das der Anmietung des Ladens potentiell im Weg steht. Bevor Frau Şen auf ihre Befürchtungen eingeht, berichtet sie von den Bedenken ihrer Vermieterin. „Meine, äh, Vermieterin ist, die wohnt oben, die ist wirklich extrem lieb, und äh, die hat auch gesagt, man hat ihr auch ein paarmal so angesprochen, dass die Puppen mit Kopftüchern. Das hat am Anfang manche Leute erschreckt.“ (Frau Şen, Z. 337-339)

Frau Şen hat zur Vermieterin offenbar ein ausgesprochen gutes Verhältnis. Zu bedenken ist allerdings, dass in der vorliegenden Studie nur erfolgreiche Unternehmer_innen interviewt wurden, die ein laufendes Geschäft betreiben. Auf solche Personen, die aus ähnlichen Gründen an der Realisierung ihrer Idee gehindert werden, kann hingegen nicht eingegangen werden. Ein zweites Beispiel im Interviewkorpus – die Schwierigkeiten bei der Platzvergabe, von denen Herr Bilge junior und senior berichteten – wurde schon ausführlich dargelegt. Ein weiteres Hindernis, das im Zusammenhang mit der beruflichen Ausübung und Raum gezeigt werden kann, liegt in der Überschreitung von Grenzen. Herr Ercan fährt wöchentlich über die österreichisch-deutsche Grenze, bei der seit 2015 dauerhafte Kontrollen durchgeführt werden. Mit seinem Lieferwagen wird der dunkelhaarige Mann mit Vollbart immer kontrolliert. „All the times, they say to me: ‚Stop!‘, ‚I must search for some things in your car.‘ The other things, always searching, searching, searching.“ (Herr Ercan, Z. 308 f.) Dafür hat er Verständnis, allerdings fühlt er sich durch die Art, wie mit ihm umgegangen wird, erniedrigt: „It’s a little bit a problem for my, inside of me. They are thinking: ‚Aha, he is‘, ... German people, Austrian people, I can read in their eyes, they are looking to me, like I’m a dangerous man. It’s a little bit a problem inside of myself. Yeah it’s a bit a problem. Because I never was feeling like this.“ (Herr Ercan, Z. 530-532)

Die Ressourcen, die den Interviewpartner_innen im Laufe ihrer Raumaneignungsprozesse zur Verfügung standen, überschneiden sich zum Teil mit den im vorherigen Kapitel „Interesse am Spiel“ genannten. Sie lassen sich in vier Kategorien

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gliedern: (1.) Bildung, Bildungszertifikate und ein berufliches Fundament, (2.) finanzielle Mittel, (3.) persönliche Absicherung, zum Beispiel durch die Familie, und (4.) Netzwerke bzw. institutioneller Rückhalt. Es wurde schon erwähnt, dass alle Interviewparnter_innen zumindest über eine Berufsausbildung verfügen. Der Sohn des Fleischers, Herr Bilge, ist ein Beispiel für den Versuch, institutionalisierte Bildung zu erwerben, indem er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann macht. Herr Çoban studierte Betriebswirtschaftslehre und belegte Kurse des Wirtschaftsförderungsinstituts (WIFI): „Ich habe finanziell kein Problem gehabt, ich habe keine Angst, ich habe eine sichere Politik, ... ich habe 17 Kurse gemacht, bei der Wirtschaftskammer.“ (Herr Çoban, Z. 194 f.)

Für den Maler Herrn Kaya war ein wichtiger Faktor dafür, sich auf das Risiko der Selbständigkeit einlassen zu können, die Sicherheit, die ihm seine Ausbildung vermittelte. Er meinte, unselbständig immer wieder erwerbstätig werden zu können: „Also ich habe das nie als Risiko gesehen, weil ich, als normaler Angestellter, als normaler Arbeiter hätte ich immer die Chance irgendwo zu arbeiten. Die Sicherheit war immer da, also ich bin, also ...“ (Herr Kaya, Z. 312)

In Sachen finanzielle Mittel sind einige Interviewpartner_innen auf Bankkredite angewiesen. So berichtet Herr Çoban: „Ja, ohne Kredit von der Bank hätte ich es nicht geschafft.“ (Herr Çoban, Z 237) Auch Frau Şen musste einen Kredit aufnehmen. Andere Interviewpartner_innen wurden finanziell durch die Familie unterstützt. Diese war aber auch besonders durch ihre persönliche Motivation eine wichtige Ressource für einige der Interviewten. So erzählt beispielsweise die Ladeninhaberin Frau Şen: „Also mein Vater, also, mein größter Unterstützer sind wirklich meine Familie und mein Mann. Also mein ganz größter Unterstützer ist mein Mann. Aber mein Vater hat viel geholfen, meine Mutter hat viel geholfen. Sonst keiner.“ (Frau Şen, Z. 128-130)

Ein Beispiel für institutionellen Rückhalt ist Herr Ercan. Er betont besonders einen Kulturverein, der international tätig ist und von dem er Unterstützung in Österreich erhält. Virtueller und transnationaler Raum Aufgrund seiner Tätigkeit als Händler ist Herr Ercan ständig beruflich unterwegs. Er überschreitet nationale Grenzen – hauptsächlich zwischen Österreich und Deutschland – und hat im Sinn, nach Ungarn zu expandieren. Aber auch im Zuge von Messebesuchen hat er sich ein internationales Netzwerk aufgebaut:

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„Positive, I meet many people. I think, every month, I was in a Messe, every month, I’m going to one Messe, I meet all things, it’s unbelievable.“ (Herr Ercan, Z. 460 f.)

Privat hält er zwar den Kontakt zu seinen Eltern, die in der Türkei leben, jedoch schafft er es nicht, sie zu besuchen – zu weit scheint ihm die Fahrt, zu schwierig ist es, die Strecke mit der neugeborenen Tochter zurückzulegen: „They live in Turkey. I miss, ... yeah, I miss them. Because in Turkey, we were living together. Not in the same house, but in the same city. I’m always, I see them, and I can’t go to Turkey because my girl is, came to the world. And we don’t want to go together because she is very small. Maybe it’s a problem, it’s 2700 km. It’s a little bit much. Sometimes I miss them. I’m sure, they are missing me.“ (Herr Ercan, Z. 359-363)

Auch für Herrn Çoban, der regelmäßig auf internationale Messen fährt, sind Grenzübertritte berufliche Normalität. „Ich fahre nach Deutschland oder in die Schweiz, nach Italien. Ich gehe jedes Jahr einmal die Messen besuchen.“ (Herr Çoban, Z 373 f.) Aber auch die Tochter soll international mobil sein: „Sie will ein bisschen die Welt kennenlernen.“ (Herr Çoban, Z. 307 f.) Fast scheint es so, als ob er ihr seinen transnationalen Persönlichkeitsanteil vererben will, während der Sohn eher im Geschäft in Alpstadt eingebunden ist. Auch Frau Şen und Frau Yeşilçay sind aus beruflichen Gründen mobil. Beide kaufen ihre Ware in Istanbul ein. Frau Şen berichtet: „Das ist, in Istanbul gibt es dann verschiedene Großhändler und da wird, da gehen wir dann einfach runter, dann kaufen wir ein, und das wird das alles dann bei unserem Importeur gesammelt und der macht das Papierkram und schickt uns das. Und das kommt bis zur Tür und dann kann ich auspacken.“ (Frau Şen, Z. 153-155)

Über ein branchenspezifisches berufliches Netzwerk verfügt die Restaurantinhaberin Frau Sarı. Dieses besteht aus verschiedenen Gastronom_innen, die einander immer wieder besuchen. Hier trifft das Interesse am Spiel auf den Raum als Netzwerk: „Auf jeden Fall, und auch jetzt das muss nicht in dieser Umgebung sein, sondern zum Beispiel wenn ich weiß, ein Freund hat von mir eine Gastronomie, dann gehe ich dann hin und sammle ich Tricks, also so kann ich das machen, so kann ich das ändern, so läuft das besser. Und es ist dann genauso auch bei mir geht das. Deswegen Selbständige besuchen sich gerne.“ (Frau Sarı, Z. 414)

Was den virtuellen Raum betrifft, so hatte Herr Güçlü schon früh ein Handy, über das er für die Kundschaft gut erreichbar war. Das machte ihn ein Stück weit unabhängig vom physischen Raum.

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„Und wie ich dann den Meister gemacht habe, habe ich dann halt für mich, mehr oder weniger Werbung gemacht. Ich habe gesagt, ja, jetzt habe ich mein Gewerbe gemeldet und zu Kollegen-, Bekanntenkreis habe ich gesagt, wenn die was brauchen, ne, und damals ist dann gleich einmal das erste Telefon gekommen, das Handytelefon, also Mobiltelefon, ich bin einer von den ersten gewesen, der dann das gekauft hat, weil dann bist du ja für jeden erreichbar. Das sind dann eben, diese gewissen, wie soll ich sagen, Knackpunkte im Leben, wenn man das nützt.“ (Herr Güçlü, Z. 192-198)

Überhaupt ist der Einsatz neuer Medien – sei es zur Bewerbung der geschäftlichen Aktivitäten auf regionaler Ebene, sei es zur Kommunikation über Nationengrenzen hinweg – gang und gäbe unter den Interviewten. Frau Sarı macht über Facebook Werbung für abendliche Tanzveranstaltungen im Restaurant, Frau Yeşilçay bewirbt in der Boutique neu eingetroffene Herrenmode ebenfalls via Facebook und Frau Şen bestellt ihre Ware, die aus Istanbul geliefert wird, per WhatsApp und bezahlt mit Western Union: „Im Sommer fahre ich schon einmal im Monat, aber im Winter ist das ein bisschen komplizierter, da tu ich mit Telefon, also mit WhatsApp.“ (Frau Şen, Z. 173 f.) Fazit In der Analyse der Einzelfälle wurde schon deutlich, dass der Begriff des Platzes häufig metaphorisch im Sinne eines Platzes in der Gesellschaft verwendet wird. Besonders gilt dies, wo dieser Platz gefährdet ist, wo um ihn gekämpft werden muss. Im Hintergrund stehen hierbei Fremdheitserfahrungen und Stigmatisierung, gegen die die Protagonist_innen angehen müssen. Herr Güçlü bringt die metaphorische Bedeutung des Platzes auf den Punkt, wenn er gelungene Integration mit dem Platz in der Gesellschaft gleichsetzt: „Zum Beispiel der, Integration ist ja nach meiner Meinung, dass, wenn eine Person in eine Gesellschaft seinen Platz, die ihm würdig ist, bekommt. Das ist Integration. Wenn er Handwerker ist, als Handwerker. Wenn er, was weiß ich was für einen Beruf hat, auf jeden Fall, ob der Friseur ist, oder sonst was, je nach seiner Fähigkeit, wenn er seinen Platz findet. Und genau dort in diesem, sozusagen Mauerwerk, mehr oder weniger, seinen Platz einnimmt.“ (Herr Güçlü, Z. 296-300)

Auffällig ist, dass Herr Güçlü von Würde („würdig“) im Kontext des Platzes redet, ist es doch gerade die Würde, die Honneth gefährdet sieht, wo es um die Missachtung sozialer Wertschätzung geht. Gleichzeitig konnte gezeigt werden, dass es der Raum ist, um den auch ganz real gekämpft werden muss oder wo die Selbständigen gesellschaftliche Normalität prägen und verändern. Dies zeigte sich eindrücklich in Frau Şens Befürchtung

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eines rassistischen Übergriffs, wenn immer wieder Passant_innen vor ihrem Laden an der Hauptstraße stehen bleiben und Fotos von den Auslagen machen, in denen Schaufensterpuppen mit Kopftüchern ausgestellt sind. Offenbar schafft die Aneignung des (Laden-)Raums neue Konventionen im öffentlichen Raum. Raumaneignung betrifft auch Grenzüberschreitungen. Diese haben wiederum einen alltäglichen, realen Anteil, in dem sich die alltäglichen Kämpfe niederschlagen, wie die Rassismuserfahrungen Herrn Ercans an der Staatengrenze zeigten. Daneben sind sie metaphorisch angereichert. Dies kommt exemplarisch im Zitat von Herrn Güçlü zum Ausdruck, wenn er die geöffnete Tür als Möglichkeit des Statuswechsels bezeichnet: „Der Mensch, der kommt im Leben, sage ich mal ein paar Mal, vielleicht nur einmal, oder vielleicht auch ein paar Mal, je nachdem, nach seiner Fähigkeit, bekommt er ein Tor geöffnet, oder eine Tür geöffnet, für diese Art von Möglichkeiten. Geht er durch diese Tür durch, macht er diese Strapazen mit, dann – oder beziehungsweise, wenn er diesen Mut und diese Motivation hat – geht er durch, dann kommt er zu was. Macht er das nicht, er bleibt hier liegen oder schlafen oder sitzen, dann wird er niemals dorthin kommen. Also die Möglichkeit wird ihm dann wieder verschlossen sein. Darum habe ich gesagt, selbständig sein, selbständig werden. Fertig.“ (Herr Güçlü, Z. 773-780)

Gleichzeitig steht dieses Bild für Bildungsprozesse, indem es den Übertritt in ein neues Leben verkörpert. Die Tür ist in diesem Sinne gleichbedeutend mit dem Einschnitt im Leben, der eine Neuorientierung nahelegt7. Im Kontext der Diskussion um den Raum kann auch ein Topos formuliert werden, der neben die Begrifflichkeit des „Wir und die Anderen“ tritt: Man kann ihn mit „drinnen und draußen“ umschreiben. „Drinnen“ ist der private Raum, der Rückzugsort, gleich einem heterotopen Raum (Terkessidis 2005). Frau Şen sagt dagegen über das „Draußensein“, dass sie dort verstanden werden will und daher eher Deutsch spricht, das dann mit der normalen Sprache – für Frau Şen das Türkische – kontrastiert wird. Dieses ist im Gegenzug dann dem Privaten vorbehalten.

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Oben wurde argumentiert, dass es sich bei Herrn Güçlüs beruflicher Entwicklung um keinen Bildungsprozess handele. Wenn er hier aber von einer Tür spricht, die sich öffnet und die Chance auf etwas Neues bietet, so legt dies nahe, dass doch ein punktuelles Ereignis vorliegt, das eine Neuorientierung nach sich ziehen kann. Dennoch wird die oben angestellte Deutung präferiert, weil er sich immer sehr gut auf die „sich öffnenden Türen“ vorbereitet (hat) und nicht – wie es bei einer Krise der Fall ist – von einer neuen Situation überrascht wird oder wurde. Die „Tür“ ist daher eher eine Metapher für eine Chance oder für neue Optionen, die sich darbieten, weniger für einen Einschnitt.

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„Und wenn wir draußen san, wie gesagt, automatisch, das kommt dann automatisch, ohne dass man’s merkt. Aber es gibt auch Zeiten, wo wir normal Türkisch reden, aber wenn wir mit vielen Leuten unterwegs sind, will ich meistens, dass sie auch verstehen, was wir reden.“ (Frau Şen, Z. 404-406)

Schließlich ist der Laden auch eine Metapher, die über den Raum als Platz in der Gesellschaft hinausgeht. Der Raum – ist er einmal angeeignet – institutionalisiert auch neu errungene gesellschaftliche Verhältnisse und ist dafür geeignet, vererbt zu werden. Das Beispiel von Frau Sarı wurde oben schon, bei der Erörterung der Selbständigkeit als Status, angeführt: „Auf jeden Fall. Also wir werden bis zum Ende kämpfen. Also ich will schon diesen Laden, ..., ich meine sicher, für die Zukunft kann man nie eine Garantie geben, aber wenn man jetzt mich fragt, ich will diesen Laden meinen Kindern übergeben.“ (Frau Sarı, Z. 299-301)

Abschließend können die hier besprochenen Raumaneignungsprozesse als solche gesellschaftlichen Kämpfe bezeichnet werden, bei denen die Interviewten durch ihre Selbständigkeit und die damit verbundene Raumnahme und -umdeutung gegen Fremdheitserfahrungen und Stigmatisierungen vorgehen können. Dies ist meist kein bewusstes Agieren, vielmehr findet es indirekt vermittelt durch die Aneignung des Raumes und die damit verbundene Veränderung gesellschaftlicher Konventionen statt. Ein zentrales Moment dieser Aneignungsprozesse liegt in der gleichzeitig lokalen und globalen Ausrichtung. Lokal ist sie, wo es um die Aneignung konkreter Orte geht, global, wo Vernetzung von Räumen und Grenzüberschreitungen stattfinden. Der Laden oder der Geschäftsraum wird dann zu einem Zwischenraum, gleich einer Transtopie, in dem „weltweite Querverbindungen zusammenlaufen und sich zu Alltagskontexten verdichten“ (Yildiz 2015: 24).

KOSMOPOLITISMUS Ein zentrales Merkmal von Kosmopolitismus ist die Verbindung von lokalem und globalem Handeln. In diesem Punkt hat er eine Überschneidung zum Begriff des sozialen Raums. Mit Kosmopolitismus ist eine bestimmte Art des kommunikativen Umgangs zwischen Menschen gemeint. Bevor diese ausdifferenziert wird, wird ein weiteres Fallbeispiel auf die inhaltlichen Aufladungen der Bildungsprozesse hin interpretiert und es wird gezeigt, welchen Stellenwert die kosmopolitische Haltung der Protagonistin dabei einnimmt.

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„Man plaudert ein bisschen“ Fand bei der Inhaberin der Hijab-Modeboutique, Frau Şen, ein Bildungsprozess statt? Ein Anlass dafür könnte die familiäre Veränderung durch die Geburt der Tochter sein. Zu diesem familiären Einschnitt im Jahr 2011 und der Elternzeit, die ein Jahr lang dauerte, gesellte sich der Umstand einer dequalifizierten Tätigkeit vor der Elternzeit. Frau Şen machte eine Ausbildung als Friseurin und arbeitete dann auch in diesem Beruf, musste aber aufgrund einer Allergie damit aufhören. Sie begann danach als Kontrolleurin in einer Glasfabrik. Das kam für sie nach der Elternzeit nun nicht mehr in Frage. Im Interview sagt sie über die Entscheidung: „bevor ich irgendwo eine Arbeit suche, mache ich meinen eigenen Job.“ (Z. 69 f.). Drei Faktoren trugen schließlich maßgeblich dazu bei, sich selbständig zu machen. Dies war zum einen die Entdeckung einer Marktlücke, derer sie schon vorher gemeinsam mit ihrem Mann gewahr worden war. Eine längere Interviewpassage erläutert, wie es dazu kam: „Es war nicht so die Idee, dass ich das mache, sondern es war, bevor ich das Geschäft aufgemacht habe, so drei, vier Jahre vorher, das war richtiger Winter. Es war extremer Winter in Alpstadt, mit viel Schnee und ich habe, ich trage nur lange Mäntel. Und ich habe keinen langen Mantel gefunden in Alpstadt. Nirgends. Ich wollte es auch, wirklich für 1000 Euro kaufen, sozusagen, aber ich hab’s nicht gefunden. Dann hat mein Mann gesagt, ja fahren wir nach München. Da finden wir sicher was. Sind wir nach München gefahren und da haben wir eben in München gefunden. Und beim Zurückfahren haben wir so einfach, man plaudert ein bisschen, wir haben gesagt: ‚Wieso macht kein einziger Mensch in Alpstadt ein Hijab-Geschäft auf?‘ Es ist wirklich ein Bedarf da. Dann müssen wir nicht nach München oder nach Wien fahren, dann könnten wir in Alpstadt ganz normal einkaufen.“ (Frau Şen, Z. 88)

Die Passage enthält einige Begriffe, die es wert sind, genauer unter die Lupe genommen zu werden: „München“ (die Grenzüberschreitung), „normal“ oder das „plaudern“ werden unten näher besprochen. Zunächst spielt das Moment der räumlichen Überwindung eine Rolle. Die Interviewpartnerin muss, um – so bezeichnet sie es – „normal“ einkaufen zu können, nach München oder Wien fahren. Aus ihrer Erfahrung heraus, nicht die passende Kleidung in Alpstadt finden zu können, macht Frau Şen also zunächst den Bedarf nach einem Hijab-Modegeschäft in der Stadt aus. Später entwickelt sich aus dieser Erkenntnis die Geschäftsidee, mit der sie für die Möglichkeit sorgen will, in Alpstadt normal einkaufen zu können – sie verändert durch die räumliche Situierung eine gesellschaftliche Konvention, die aus ihrer Sicht unnormal ist.

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„Dann war ich in Karenz und wie ich dann in Karenz war, nach der Karenz habe ich, also mein Mann hat dann gesagt: ‚In der xy-Straße [geändert, HB] hat ein Laden zugemacht, Du hast doch immer gesagt, dieser Bedarf ist da, diese Lücke ist da. Du findest in Alpstadt nirgends für Hijab und so.‘ Ich hab auch keine, wie soll ich sagen, Interesse gehabt, einfach irgendwo ein Geschäft zu suchen und zu sagen, da ist ein freier Raum, da möchte ich ein Geschäft machen. Das war so ein Zufall. Das war wirklich richtig so ein, wirklich, mein Mann hat gesagt: ‚Magst Du’s, willst Du’s?‘ Dann habe ich gesagt: ‚Okay.‘ Das war so ein, so richtig, so ein Ruck, und seitdem vier Jahre sind schon vorbei.“ (Frau Şen, Z. 57-63)

Der zweite Faktor, der die Selbständigkeit einleitete, war der Zufall – ein Laden in günstiger Lage hatte geschlossen. Frau Şen hatte nicht aktiv nach einem „freien Raum“ gesucht, anders als Herr Bilge junior und senior und Herr Memiş, die um den „guten Platz“ in Alpstadt kämpfen mussten und müssen. Dem Zufall wurde schließlich durch die offenen Augen ihres Mannes auf die Sprünge geholfen. Diese Unterstützung durch den Ehemann ist auch der dritte ausschlaggebende Faktor, der letztlich für den „Ruck“ gesorgt hat, der Frau Şens Neuorientierung einleitete. Der Einschnitt durch die Geburt der Tochter – hier weniger eine Krise – verbunden mit der anhaltenden missachteten beruflichen Anerkennung in Form der dequalifizierten Tätigkeit löste die berufliche Neuorientierung Frau Şens aus. In diesem Fall ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob eine Neuorientierung notwendig war, denn es bestand kein existenzieller Bedarf nach Veränderung und womöglich hätte sich Frau Şen mit der dequalifizierten Tätigkeit arrangieren können. Erst retrospektiv ist diese Deutung sinnvoll und rückblickend können der Einschnitt und die dequalifizierte Tätigkeit als Anlässe für die Neuorientierung interpretiert werden. Verstärkt wurde das neuartige Handeln durch das Erkennen der Marktlücke, verbunden mit dem Bedürfnis nach der Möglichkeit, in Alpstadt „normal“ einkaufen zu können, durch die Unterstützung der Familie – besonders durch den Ehemann – und durch die gute Gelegenheit. Die abschließende Bezeichnung der Entscheidung als „Ruck“ verstärkt schließlich diese Deutung: Der Ruck markiert eine Zäsur zwischen vorherigem (beruflichem) Leben und der folgenden Selbständigkeit, die Frau Şen dann auch folgerichtig als Abweichung vom Normalen – im Sinne eines Gewohnten – bezeichnet: „Ich bin ausgelernte Friseurin. Und dann habe ich normal auch in einer anderen Firma gearbeitet, aber selbständig war ich bis jetzt nicht.“ (Frau Şen, Z. 47 f.) Auch auf frühere Erfahrungen und auf Vorbilder kann Frau Şen zurückgreifen. Diese unterstützten die Entscheidung, sich selbständig zu machen: Ihr Vater war mit einem Handyladen, in dem Frau Şen selbst auch mitgearbeitet hatte, selbständig tätig und ihr Ehemann war zum Zeitpunkt des Interviews selbständiger Taxifahrer (und war es schon zur Zeit von Frau Şens Entscheidung).

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All diese Umstände in ihrer Kombination und Wechselwirkung führten dann 2011 dazu, dass Frau Şen sich selbständig machte: „Ich habe gesagt: ‚Alpstadt braucht ein Hijab-Geschäft.‘“ (Frau Şen, Z. 100) Differenzlinien und Veränderungen Die Schlüsselworte, die sich in Frau Şens Erzählung immer wieder in verschiedenen Kontexten zeigen, sind solche, die mithilfe von Differenzlinien zwischen den Setzungen „wir“, „anders“ und „normal“ charakterisiert werden können. Frau Şen beschreibt mit diesen Unterscheidungen ihr Handeln und ihre Positionen. Im Folgenden werden Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen dieser rhetorischen Setzungen analysiert. Auffällig ist die Nennung von „normal“ im oben besprochenen Zitat in Bezug auf das Einkaufen in einem Hijab-Geschäft. Für Frau Şen wäre es normal, dass es so eines in Alpstadt gäbe, allein: es gab keines. Bemerkenswert ist, dass Frau Şens Deutung von Normalität sich nicht einem gängigen gesellschaftlichen Diskurs unterwirft, der Hijab-Mode als alles andere als normal diskutiert, in dem vielmehr Kopftücher als das Andere, das Abweichende konstruiert werden. Im folgenden Satz führt Frau Şen eine Differenzlinie zwischen einem „wir“ – das sie selbst und ihren Ehemann umfasst – und „anderen“ ein: „Es gibt viele Türken, die ein Geschäft haben. Aber entweder es ist so Brautkleider, Abendkleider, Juwelier, Handyladen, oder jugendliche Kleidung, so sportliche Kleidung. Aber kein Mensch, entweder, haben wir glaube ich gesagt, trauen sie sich nicht, oder sie wollen nicht. Weil sie denken, es geht hier nicht weg.“ (Frau Şen, Z. 96-99)

Die Differenzlinie, die Frau Şen hier etabliert, liegt in einem „wir“, das die damaligen Eheleute, gegenüber „Türken, die ein Geschäft haben“ umfasst. Das „wir“ kann im Umkehrschluss interpretiert werden als „solche, die kein Geschäft haben“. Diese ersten Setzungen finden in der Vorgeschichte statt, also in der Zeit, bevor sie das Geschäft eröffnete, zu einer Zeit, als sie selbst noch nicht zu dieser Gruppe gehörte. Offenbar sieht sie sich selbst zu diesem Zeitpunkt noch nicht als selbständige Unternehmerin, sondern definiert sich in beruflicher Hinsicht als unselbständig Tätige. Später beschreibt Frau Şen die jahreszeitlichen Veränderungen der HijabMode. In dieser Sequenz zeigt sich ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft anders als oben: „Das ist genauso wie bei normaler Ware, also Kollektion, auch in Alpstadt. Es ändert sich mit jeder Saison. […] Zum Beispiel letztes Jahr, waren eher so lange Tunikas im Vordergrund im Sommer und dieses Jahr sind diese Falten ganz im Vordergrund. Es ändert sich extrem. Ich komme meistens selber nicht mit.“ (Frau Şen, Z. 182-189)

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Um dem Interviewer besser erklären zu können, wie es sich mit HIjab-Mode verhält, greift Frau Şen auf den Vergleich zu „normaler“ Mode zurück. Die HijabMode macht sie dadurch – vielleicht dem Interviewer als vermeintlichem Vertreter der Mehrheitsgesellschaft zuliebe – zum „Nicht-Normalen“. Sie beschreibt ihr Handeln und ihre Position abwechselnd mal als das Normale, mal als das NichtNormale und wechselt dadurch zwischen verschiedenen Wir-Gruppen. Im Ergebnis wägt sie aber ihre Entscheidungen auf eine Weise ab, die sich nicht an einer kontrastierenden Mehrheit bemisst. Eine Wir-Gruppe kann in Frau Şens türkischkultureller Zugehörigkeit verortet werden, die weniger interessegeleitet, eher als Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft beschrieben werden kann. Dies äußert sich beispielsweise in der folgenden Passage, in der sie auf die Frage antwortet, ob sie Hilfe bei der Renovierung und Einrichtung des neuen Ladens gehabt habe: „Man fragt bei uns nicht. Man fragt bei uns nicht. Das ist so bei uns kulturell. Man, äh, wenn zum Beispiel bei uns Freunde, von einem Haus zum andern umziehen, dann geht man einfach hin, oder man ruft an, Du brauchst Du Hilfe. Man sagt ganz selten, Du, hilfst Du mir?“ (Frau Şen, Z. 134 f.)

Die kulturell-nationale Zugehörigkeit erweitert Frau Şen um eine kulturell-religiöse Dimension. Mit dieser erklärt sie, warum sie ärmeren Kund_innen mitunter auch einzelne Stücke schenkt: „Dann gebe ich ihnen einfach ein Stück, oder zwei Stücke. Kopftücher oder Röcke. Weil, bei uns gibt es ein Sprichwort: Von manchen das Geld und von manchen das Gebet. Wenn sie sagen, Gott segne Dich, reicht uns das.“ (Frau Şen, Z. 293-295)

War die beschriebene kulturell-religiöse Expertise in Sachen Hijab-Mode, die aus der Zugehörigkeit zu einer national-kulturellen Gruppe resultierte, eher rationalinteressegeleitet und kam erst durch die Selbständigkeit zum Tragen, so ist die Zugehörigkeit zu einer kulturell-religiösen türkisch-muslimischen Gemeinschaft eher vorgelagert und auf Frau Şens schon zuvor angelegte Ich-Identität bezogen. Sie stellt eine Konstante dar, die über die berufliche Veränderung hinweg im Hintergrund gleich bleibt. Sie dominiert aber keineswegs Frau Şens Handeln und hat auf Entscheidungen auf anderen Ebenen (hier: des Berufs) nur so viel Einfluss, wie sie praktisch nutzbar ist. Damit wird sie in zweierlei Hinsicht zur Ressource: Zum einen ist dieser Identitätsanteil Quelle für geschäftliches Handeln, zum anderen bietet er ihr Rückhalt und Sicherheit, wenn sie sich auf den riskanten Weg in die Selbständigkeit begibt.

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Neue Bekannte, neue Erfahrungen mit alten Bekannten Die Veränderungen der Selbst- und Weltverhältnisse fanden bei Frau Şen deutlicher auf einer interaktiven Ebene, in Bezug auf ihre Verhältnisse zu anderen Menschen statt, als dies bei den vorher betrachteten Fallbeispielen der Fall war. Sie nennt im Interview eine Vielzahl von neuen Bekanntschaften und von neuen Erfahrungen mit alten Bekannten. Schließlich gibt es einige Konstanten – besonders die schon erwähnten Beziehungen zum Ehemann und zu den Eltern sind hier erwähnenswert. Schlüsselworte sind hier wieder die Begriffe „normal“ vs. „anders“, aber auch Personalpronomen, die auf Zugehörigkeiten oder Beziehungen zwischen Einzelnen hinweisen, werden häufig verwendet: „ich“, „wir“, „sie“, „die Anderen“ sind ihre gebräuchlichen Begriffe. Neue Kontakte ergaben sich durch den Handel. Frau Şen fährt mit ihrem Mann regelmäßig nach Istanbul und bestellt dort Ware, die ihr Großhändler dann mit einem Importeur nach Österreich sendet. „Das ist, in Istanbul gibt es dann verschiedene Großhändler und da wird, da gehen wir dann einfach runter, dann kaufen wir ein, und das wird das alles dann bei unserem Importeur gesammelt.“ (Frau Şen, Z. 153 f.)

Negative Veränderungen gab es zu einigen alten Bekannten, die sich als Neiderinnen herausstellten: „Vor zwei Monaten hatte ich eine Kundin, die hat bei mir eingekauft, und dann geht sie durch die Straße und Verwandte von mir, trifft sie und sagt, ja was hast denn Du hier, wo hast denn den her, sieht gut aus. Dann sagt sie ja, von Frau Şen: ‚Aha, okay, meine Tochter kauft beim Onlineshop.‘ Diese Onlineshops sozusagen, ein Name, die ist günstiger, kauf drüben. Das ist für mich dann nicht so schön. Bevor sie sagt: ‚Du sicher, Frau Şen verkauft schöne Sachen, geh lieber rüber, bevor Du irgendwo online bestellst, kannst anziehen, anschauen‘. Sage ich ja, es gibt viele Neider.“ (Frau Şen, Z. 274-280)

Dagegen gab es aber auch Kundinnen, die sich zu Freundinnen entwickelten: „Ich habe viele Kunden, die jetzt als, nicht Kunden, sondern Freunde san. Äh, ich hab, äh, jugoslawische Kunden, die jetzt Freunde sind. Mit denen ich auch normal, über WhatsApp in Kontakt bin.“ (Frau Şen, Z. 262-264)

Wesentlich an diesen neuen oder veränderten Bekanntschaften ist, dass der – auch überregionale und internationale – Austausch dazu beiträgt, Frau Şens Welthorizont zu transformieren. Auf welche Weise sich ihr Leben verändert hat, zeigt folgendes Zitat, das einen Teil ihres Lebens heute im Vergleich zu dem ihrer Mutter früher beschreibt:

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„Ich meine, es war vielleicht früher so, meine Mutter kann auch nicht so perfekt Deutsch wie ich, weil sie als Gastarbeiterin da war und einfach arbeiten gegangen ist und man hat früher kein soziales Leben gehabt, so wie jetzt. Arbeit, Familie, zuhause, fertig. Aber ich gehe jetzt mit meinen Freundinnen fort. Ich kann mit denen Kaffee trinken gehen, Kino. Und es ist ganz anders als wie früher.“ (Frau Şen, Z. 381-385)

Wesentlich erscheint, dass Frau Şen einen fundamentalen Glauben in dem Sinne pflegt, dass sie ihn durch äußere Einflüsse nicht hinterfragt oder relativiert (zum Begriff des Fundamentalen siehe auch Bilgrami 1992). Das hindert sie aber nicht daran, andere Menschen mit anderen Werten zu tolerieren und sich mit ihnen auszutauschen. Sie interessiert sich für ihre Kundinnen: „Also, vorher war zum Beispiel eine Kundin da, die hat nur so ein paar Mal so durchgeschaut. Dann haben wir da, ich glaube so, Dreiviertelstunde haben wir geplaudert.“ (Frau Şen, Z. 298-300)

Neben dem Interesse zeigt sie sich offen gegenüber anderen Menschen. Zu ihrem Kund_innenstamm sagt sie: „Viele, viele. Ich habe viele Kunden, die jetzt als, nicht Kunden, sondern Freunde san. Äh, ich hab, äh, jugoslawische Kunden, die jetzt Freunde sind. […] Ich habe Kunden, die am Anfang wirklich nur Kunden waren, normal eingekauft haben, aber jetzt einmal in der Woche vorbeischauen und mich fragen, wie es mir geht, einen Kaffee trinken. Also man lernt wirklich viele, viele Menschen kennen.“ (Frau Şen, Z. 262-266)

Gleichzeitig freut sie sich darüber, dass sie ihr Wissen weitergeben kann: „Ich habe am Anfang, wie ich das Geschäft aufgemacht habe […] ein Interview in den Alpstadter Nachrichten war das, glaube ich. Und viele Kunden, die das gesehen haben, sind dann reingekommen, auch österreichische Kunden. Die haben gesagt, die haben nicht gewusst, dass es in Alpstadt so was gibt. Die fahren eben auf Iran, Irak oder Arabische Emirate auf Urlaub und sie brauchen so was. Dann sind sie einfach hergekommen.“ (Frau Şen, Z. 590-595)

Diskriminierungserfahrungen Dass Frau Şen in ihrer Umgebung Diskriminierung oder eine rassistische Behandlung befürchtet, führt sie anhand der Auslagen ihres Ladens aus, in denen sie Kleiderpuppen mit Kopftüchern ausstellt: „Meine größte Befürchtung war […], meine, äh, Vermieterin ist, die wohnt oben, die ist wirklich extrem lieb, und äh, die hat auch gesagt, man hat ihr auch ein paarmal so angesprochen, dass die Puppen mit Kopftüchern. Das hat am Anfang manche Leute erschreckt. [I: Ah, ja] Weil es hier in Alpstadt sowas ja noch nie gegeben hat.“ (Frau Şen, Z. 337-341)

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Nicht ganz klar wird, inwiefern die Vermieterin selbst eine Form der Diskriminierung begeht, denn sie ist es, die die Angst in Frau Şen schürt. Immerhin scheinen sie ein gutes persönliches Verhältnis zu haben. Frau Şen fährt in ihrer Erzählung fort: „Und ein paar Kunden, zu mir haben auch gesagt, Respekt, Du traust Dich was. Sage ich, wieso. Ja, dass Du eben Puppen mit Kopftüchern aufstellst. Ich habe am Anfang wirklich die Befürchtung gehabt, dass vielleicht irgendwann einmal wenn ich in der Früh herkomme, dass meine Auslagen also irgendwie eingeschlagen sind.“ (Frau Şen , Z. 341-344)

Nicht nur die Vermieterin weist sie darauf hin, dass die Puppen mit Kopftüchern für „Erschrecken“ sorgten, sondern auch Kunden empfanden die Auslagengestaltung offenbar als extraordinär und mutig. Es scheint so, als haben deren Kommentare Frau Şen erst darauf gebracht, dass sie hier etwas Besonderes, etwas Unnormales, leistet, das auch eine gesellschaftliche Dimension hat und über ein lediglich neues Warenangebot in Alpstadt hinausgeht. Die Aussagen der Kunden reproduzieren auf diese Weise den bestehenden Normalitätsdiskurs und tragen zur Verunsicherung Frau Şens bei – sie ist diskriminierbar, wie Rose (2014) es nennt. Dass ihre Selbstsicht von einem mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs beeinflusst ist, zeigt der folgende Interviewausschnitt. Sie erklärt hier zuerst, dass sie, seit sie „hier“ ist, nie beschimpft wurde. Damit übernimmt sie den Topos, der ihr durch die Vermieterin und die zitierten „paar Kunden“ mitgegeben wurde und reagiert darauf. Schnell stellt sich dann aber heraus, dass sie nicht nur latent diskriminierbar ist, sondern sie schon ganz real „ein paar Mal“ diskriminierenden Situationen ausgeliefert war. „Wie gesagt, ich bin schon seit 28 Jahren hier, und man hat mich auch nie beschimpft, oder ich habe das nie erlebt, dass jemand zu mir sagt, Du mit Deinem Kopftuch, geh woanders hin. Ich kann mich nicht daran erinnern. Man hat schon so Auseinandersetzungen schon gehabt. Weil sie denken, eine Frau mit Kopftuch kann kein Deutsch, die kann ich beschimpfen. Das habe ich schon ein paar Mal erlebt. Und so lange sie sehen, oh, die kann ja Deutsch, und dann ist wieder Ruhe.“ (Frau Şen, Z. 359-364)

Soziale Beziehungen und räumliche Ordnung Die veränderten Beziehungen lassen sich auch auf der Ebene eines räumlichen Netzes beschreiben. Dadurch wird ein besonderer Umstand deutlich, der kennzeichnend für Frau Şens Neuorientierung ist: Sie oszilliert zwischen ihrer alltäglichen Umwelt und einer internationalen Ausrichtung. In der alltäglichen Lebenswelt begegnen ihr auf der einen Seite Missachtung von Anerkennung in beruflicher Hinsicht und Diskriminierung im Privaten und auf der anderen Seite Rückhalt und Sicherheit, besonders durch Freund_innen und Familie, verbunden mit ihrer

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religiös-kulturellen Identität. Durch ihre Selbständigkeit hat sie demgegenüber ihre Weltbezüge international geöffnet. Diese Öffnung äußert sich durch Mobilität in Form von Geschäftsreisen und Reisen zum Bruder, der in Holland lebt. Auch auf lokaler Ebene, in ihrem Laden, zeigt sich eine transnationale Vernetzung durch die internationale Kundschaft, die von alteingesessenen Alpstadter muslimischen Kundinnen über Asylwerber_innen bis hin zu christlichen Österreicher_innen reichen, die in ein muslimisches Land reisen wollen und im Hijab-Modeladen Beratung suchen. Obwohl sie Diskriminierungserfahrungen gemacht hat, obwohl sie sich latent bedroht fühlt und immer wieder darauf verwiesen ist, auf Normalitätserwartungen zu reagieren, zeigt sich Frau Şen weitgehend unbeeindruckt von Fremdzuschreibungen. Anhand des Interviewmaterials kann schwer entschieden werden, ob oder in welchem Maße sie eine Form der Fremdethnisierung (unbewusst) in ihr Selbstkonzept übernommen hat. Ein Hinweis dafür, dass sie darauf angewiesen ist, auf äußere Einschätzungen zu reagieren, ist in einem Erzählabschnitt enthalten, in dem sie beschreibt, wie sie mit ihren Kindern Eis essen geht. Sie legt darin Wert darauf, einer anderen Kundin der Eisdiele zu zeigen, dass sie und ihre Kinder Deutsch – oder besser gesagt: „Alpstadterisch“ – sprechen. Dabei nimmt sie eine ironische Distanz zu Abwertungen aufgrund einer ihr zugewiesenen Zugehörigkeit ein: „Das beste Beispiel war zum Beispiel, da ich mit meiner Kleinen beim Geschäft und meine Kleine wollte grade Eis von der Eisdiele raussuchen und die Dame hat dann so richtige Schicki-Micki mit Hochfrisur und so richtig mit Schminke und so und dann hat sie so die Hand auf der Eisdiele gehabt und meine Tochter wollte ein Eis haben, die ist erst fünf, die kann nicht nachdenken. Die sieht ein Eis, und Eis hurra, und macht man einfach auf und die Dame hat mich schon immer wieder so komisch angeschaut. Aber ich hab’s einfach ignoriert. Und dann wollte meine Tochter einfach die Eisdiele aufmachen und dann habe ich sie gehalten und habe gesagt, auf Deutsch, Schatzi pass bitte auf, schau die Dame hat die Hand da. Dann hat sie mich so angeschaut, hat nichts gesagt, ist weggegangen, einfach zur Kasse, die steht vor uns bei der Kasse und ich rede immer noch mit meiner Tochter. Ich rede mit meinen Kindern draußen Deutsch. Ich will, dass die Leute, die draußen sind, verstehen, was wir reden. Und ich will auch, dass die Kinder Deutsch lernen und sich verständigen können. Dann habe ich mit meiner Tochter immer noch geredet, dann hat sie sich so umgedreht und hat gesagt, Sagen Sie mal, wieso können Sie so gut Alpstadterisch. Und dann war sie weg. Aber nicht so gut Deutsch, sondern so gut Alpstadterisch.“ (Frau Şen, Z. 367379)

Einen Gegenpol zu diesen Diskriminierungen im lokalen Bereich bildet Frau Şens Lebensstil, der sich, wie gezeigt, an einem internationalen Außen orientiert, das wiederum auf ihre unmittelbare Umgebung zurückwirkt. Unterstützt wird sie durch die Sicherheiten der familiären Gemeinschaft und ihrer religiös-kulturelle

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Zugehörigkeit. Da ist zum einen der funktionale Wert, den die Religion für sie innehat, wenn sie religiös konnotierte Mode verkauft. Zum anderen ist ein identitätsstiftender Wert in der kulturell-religiösen Verortung angelegt, wie die Beispiele um die Art und Weise von Hilfeleistungen oder der fürsorgliche Umgang mit armer Kundschaft zeigten. Religion wirkt einerseits – wie ihre Befürchtungen in Hinblick auf Vandalismus zeigten – lokal als Diskriminierungsressource, andererseits als Identitätsmerkmal, das ihr Sicherheit gibt. Global ist die Religion eher ein Medium, das ihr zu sozialen Kontakten und Austausch verhilft und dadurch zur Ressource für die berufliche Entwicklung genutzt werden kann. Sie ist für Frau Şen ein verbindendes Element zwischen lokaler Lebenswelt und internationaler Orientierung. Ihr Handeln ist daher strategisch transnational ausgelegt (Pütz 2009). Das zeigt sich an ihren Reisen (zum Bruder nach Holland, geschäftlich nach Istanbul) und am transkulturellen Netz, das sie auch innerhalb Alpstadts – vermittelt durch den Laden, durch die Selbständigkeit – pflegt. Durch diese Gemengelage führt Frau Şen ein Leben zwischen erlebtem Anerkennungsdefizit (frühere Dequalifizierung, Diskriminierungserfahrungen, Gefühl der Bedrohung) und kosmopolitischem Selbstbewusstsein (das sich in ihren Beziehungen zu alten Bekannten und neuen Kund_innen und Freund_innen, also in ihrem Interesse und ihrer Offenheit gegenüber anderen, äußert). Mit diesem kann sie sich ein Stück weit von den Missachtungen befreien, ohne sie direkt bekämpfen zu müssen. Sie konfrontiert sich nicht direkt mit den eingrenzenden Fremdheitszuschreibungen, sondern weicht ihnen aus und konstruiert stattdessen eine eigene, einerseits zur Familie, andererseits zur Welt hin gerichtete, Identität. Die besondere Form der Haltung und der kommunikativen Positionierung zwischen Lokalität und Globalität ist der Rahmen, der die folgende Analyse des Korpus formt. Selbständigkeit und Kosmopolitismus Die Diskussion des Fallbeispiels von Frau Şen zeigte, dass es Differenzlinien gibt, mit denen die Selbständigen konfrontiert werden und die sie pauschal einer fiktiven, wenngleich sozial wirksamen Gruppe „Ausländer“ zuweisen. Diese Differenzkonstrukte kommen einer – wenn auch mitunter nicht intendierten – Fremdethnisierung gleich. Die folgende Frage des Interviewers macht dies deutlich, denn er selbst ist es hier, der eine solche Differenzlinie zieht. Der Interviewpartner reagiert darauf mit einer Irritation, indem er nicht auf den Inhalt der Frage eingeht, sondern die Differenzlinie aufhebt und die aus seiner Sicht offenbar falsche Annahme des Interviewers richtigstellt.

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„Interviewer: … und nochmal zur Herkunft, wenn ich fragen darf, also ist das was, hat das einen Einfluss auf die Kundschaft, dass Sie aus der Türkei stammen? Wäre das anders, wenn Sie aus Österreich stammen würden?“ „Herr Çoban: Ich bin Weltbürger.“ (Interviewer und Herr Çoban, Z. 394-398)

In einer späteren Passage kommt diese Selbstbezeichnung als Weltbürger noch einmal zur Sprache. „I: Haben Sie schon einmal selber Diskriminierung erfahren?“ „Herr Çoban: Also heute, wenn ich mir ein Schulbuch anschaue, brauchen Sie mich nicht fragen, das steckt drin. Aber ich habe gesagt, ich bin ein Weltbürger. Ich lebe in Alpstadt, fast die Hälfte meines Lebens in Alpstadt. […] Aber auf der Straße, meine Hautfarbe, die Leute denken, ich bin Ausländer, aber ich bin Weltbürger. Ich bin kein Ausländer.“ (I und Herr Çoban, Z. 438-444)

Herr Çoban unterscheidet in diesem Abschnitt zwischen „Ausländer“ und „Weltbürger“. Während „Ausländer“ aus seiner Sicht ein unzulässiges, begrenztes Etikett darstellt, das Menschen von anderen auferlegt bekommen („die Leute denken, ich bin Ausländer“), so definiert er „Weltbürger“ aus seiner eigenen Perspektive. Im weiteren Gesprächsverlauf konkretisiert er dann seinen Begriff des Weltbürgers. „Weltweit 7,2 Mrd. Menschen, da gibt es keine Ausländer. Sicher jede zweite Generation, eine fremde Kultur, nicht. Und Österreich auch, wenn Sie das österreichisch-ungarische Reich anschauen, da gibt es keine Inländer. Einer stammt aus Ungarn oder Slowakei oder Italien oder Bayern oder von der Schweiz. Wenn einer geboren aus Österreich, hat den österreichischen Pass: mich interessiert nicht. Mich interessiert am wichtigsten, was für eine Weltanschauung, was für einen Blick, ... Ich habe nicht das Papier, aber ich bin mehr Österreicher, weil ich weiß, was Leistung, Talent oder Wirtschaft oder Bildungsbereich ist.“ (Herr Çoban, Z. 450-456)

Herr Çoban objektiviert „Weltbürger“ zunächst, indem er die Zahl der Weltbevölkerung nennt und damit klarlegt, dass diese hohe Zahl es ohnehin schon nahelege, auf den Begriff des „Ausländers“ überhaupt zu verzichten. Anschließend verweist er auf die Geschichte Österreichs und betont, dass das Land schon seit langem aus einer multinationalen Mischung bestehe, in der es strenggenommen keine „Inländer“ gibt – er relativiert dadurch das „Ausländersein“ und wendet es auf alle in Österreich Lebenden an. Abschließend bringt er zum Ausdruck, dass der Pass einer Person – also das formale Zeichen der nationalen Zugehörigkeit – nur bedingt geeignet ist, nationale Zugehörigkeit überhaupt zu erklären. Vielmehr sind für ihn kapitalistische Tugenden („Leistung, Talent“) und Kenntnisse über gesellschaftliche Teilsysteme Österreichs („Wirtschaft“ und „Bildungsbereich“) dazu mindestens genauso gut geeignet. Dass er als Geschäftsmann Leistung, Talent und

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Wirtschaft anführt, ist nicht überraschend. Sie sind Merkmale seiner Tätigkeit und ermöglichen ihm, ein kosmopolitisches Leben zu führen: „Im beruflichen Bereich, ich kenne in unserer Branche in Alpstadt fast 44 Juweliere. Und österreichweit fast 100 Großhändler, ich bin ein reisender Typ, ich fahre nach Deutschland oder in die Schweiz, nach Italien. Ich gehe jedes Jahr einmal die Messen besuchen.“ (Herr Çoban, Z. 372-374)

Aber auch „Bildung“ ist für ihn ein Kapital: Er verfügt über einen Bachelorabschluss in Betriebswirtschaftslehre und verschiedene Zertifikate der Wirtschaftskammer, die seine berufliche Entwicklung förderten. Auch in Hinblick auf den Werdegang seiner Tochter ist ihm (eine humanistische) Bildung wichtig. Sie will Lehrerin werden und er sagt über sie: „Sie will ein bisschen die Welt kennenlernen. Also sie hat studiert, Romanistik, also Sprache, hat sie Spanisch studiert. Literaturgeschichte und Kunstgeschichte.“ (Herr Çoban, Z. 311 f.) Wirtschaft und Bildung sind aus Herrn Çobans Sicht offenbar geeignete Felder, in denen sich ein kosmopolitisches Leben realisieren lässt. Herr Çoban bringt Charakteristika auf den Punkt, die schon bei der Fallbesprechung von Frau Şen zur Sprache kamen. Es sind dies Weltoffenheit und Austausch über Grenzen hinweg. Weltoffenheit als Gegenposition zu rassistischer Ausgrenzung Immer wieder konnte in der Auswertung des Interviewkorpus festgestellt werden, dass es für einige Befragte zu rassistischen Erlebnissen in ihrem Lebensalltag kam. Zum Teil kommen diese Erfahrungen in ihrem beruflichen Leben vor, teils finden sie in anderen Kontexten statt. Das, was bei der Analyse von Frau Şens Erzählung als Offenheit und Toleranz gegenüber anderen herausgestellt wurde, kann in gewisser Hinsicht als das Gegenteil solcher rassistischer vorurteilsvoller Zuschreibungen bezeichnet werden und wird dadurch zur Gegenfolie eines rassistischen Diskurses, dem sich – dies zeigte die Betrachtung der Erzählung von Frau Şen – Akteur_innen entziehen können, ohne eine direkte Konfrontation zu wählen. In diesem Sinne agieren sie gegen Fremdzuschreibungen, ohne dabei direkt darauf zu reagieren8.

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In den Interviews waren keine rassistischen Äußerungen enthalten, sehr wohl aber kommen Verallgemeinerungen oder klischeehafte Vorurteile auch in einzelnen Äußerungen der interviewten Personen vor, wie das folgende Beispiel aus dem Interview mit Herr Güçlü zeigt. Denkbar wäre außerdem, dass der Rückzug in eine national-religiös-kulturelle Gruppe mitsamt einer Abschottung gegen die Mehrheitsgesellschaft als berufliche Strategie dienen kann – aber auch hier gilt: Im Korpus konnte kein einziger solcher

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Ein Erzählabschnitt aus dem Interview mit dem Glaser Herr Güçlü verdeutlicht diese Haltung, die im Zusammenhang mit beruflicher Selbständigkeit zur Strategie werden kann. Die folgende längere Passage, die eine alltägliche kommunikative Situation aus Herrn Güçlüs Leben zusammenfasst, soll daher näher erörtert werden. Herr Güçlü erzählt von seinem Engagement in verschiedenen Vereinen. Er war in Kultur- und Sportvereinen – beim Judo und beim Tauchen – aktiv. Auf die Frage, ob er sich auch außerhalb des sportlichen Geschehens mit anderen Vereinsmitgliedern trifft, folgt seine Schilderung. „Herr Güçlü: Ja, früher bin ich hin und da hingegangen. Aber es ist so, Sie wissen ja, wenn die Leute ein bisschen was trinken, dann sind sie ziemlich lustig drauf und das hat mir nicht ganz gepasst, muss ich sagen. Weil meistens wird dann über diejenigen hergezogen, der hier ein bisschen anders ist. Und das hat natürlich, also das hat mich natürlich nicht begeistert. Und deswegen habe ich das natürlich sozusagen mit Abstand... I: ... und wer ist das, ‚der ein bisschen anders ist‘? Herr Güçlü: Hm? I: Wer ist das? Herr Güçlü: Das bin ich immer, ne, eh klar. I: Warum ist das, mir kommen Sie nicht sehr anders vor? Herr Güçlü: (lacht) Ich meine, das ist so. Die Kollegen oder beziehungsweise Freunde, die sind ja auch alle, zum Beispiel wenn sie, normalerweise, also wenn sie nüchtern sind, die reden ja auch sehr angenehm und ganz normal, und wenn sie aber betrunken sind: ‚Du, Ali9, wie ist denn das jetzt im Islam?‘ Ne, da fangen sie an, und dann, und ja, die versuchen sich mehr oder weniger über deine Religion oder deine Herkunft lustig zu machen. Und warum soll ich der Watschenmann sein. Wenn Sie zum Beispiel als Deutscher, Sie sind ja Deutscher, einen österreichischen Freundeskreis haben, bei einer Feierlichkeit werden Sie das auch zu spüren bekommen, nehme ich an. I: Sicher. Herr Güçlü: ‚Die Scheißpreußen‘ und so, die schimpfen ja gleich so, das wissen wir ja, wie das ist. Also, Alpstadter mögen die Wiener nicht, Wiener mögen die Alpstadter nicht, und Tamsweger schon gar nicht. Die Tiroler mögen alle nicht. Aber wenn sie untereinander sitzen, dann schimpfen sie lieber über die Deutschen oder über die Türken. Warum sollen sie untereinander sich beschimpfen?“ (I und Herr Güçlü, Z. 670-699)

In der Passage lassen sich zwei Erzählebenen analytisch trennen:

Fall gefunden werden, gerade auch nicht unter denjenigen Unternehmer_innen, deren Produkte national-religiös-kulturell geformt sind. Im Gegenteil ist es gerade die HijabModeverkäuferin Frau Şen, die im Interview eine ausgesprochen weltoffene Haltung vertrat. 9

Herr Güçlü heißt nicht „Ali“. Ali ist hier ein generischer Überbegriff für eine vermeintliche Gruppe, die als muslimisch und türkisch gelabelt wird.

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1. 2.

die Ebene des vergangenen erzählten Geschehens, also der Situation im Verein, die Ebene der aktuellen Interviewsituation selbst. Die Beziehung zwischen Interviewer und Interviewpartner/in ist immer auf irgendeine Weise wirksamer Bestandteil einer Interviewsituation, in diesem Fall integriert sie der Interviewpartner dezidiert in seine Erzählung.

In der Beschreibung der Begegnung zwischen Herrn Güçlü und seinen „Vereinsfreunden“ finden sich vielzählige Merkmale von Stigmatisierung und Alltagsrassismus. Verweisung und Entantwortung im Sinne Terkessidis’, finden offenbar statt, wenn Herr Güçlü von den angetrunkenen Gesprächspartnern nicht länger als Individuum gesehen, sondern zum Vertreter einer vermeintlichen Gruppe verallgemeinert wird. Er wird zu „Ali“ gemacht, entsubjektivierter Stellvertreter des „Islam“, der nun das Objekt ist, das für eine vermeintliche Gruppe Anderer steht. Von Entgleichung kann ab da die Rede sein, wo der Betroffene abgewertet wird. Diese Abwertung wird für Herrn Güçlü an der Stelle wirksam, wo sich die Vereinsmitglieder über seine Religion und seine Herkunft „lustig machen“. Er bringt diese Wahrnehmung des Abgewertetwerdens mit dem Begriff des „Watschenmanns“ zum Ausdruck. Um ein Stigma in Goffmans Verständnis handelt es sich, weil es zur Diskrepanz zwischen aktualer und virtualer sozialer Identität kommt. Herr Güçlü versteht sich selbst als Vereinsmitglied und überdies als gestandener, erfolgreicher Unternehmer. Behandelt wird er aber als „Watschenmann“, mit Terkessidis: Seine Gegenüber entgleichen ihn. Er trägt in der Begegnung am Stammtisch das Stigma des „Ali“ mitsamt der damit verbundenen muslimischen Religion und der türkischen Herkunft. Der Vorgang kann auch als Labeling im Kontext von Ethnisierung gewertet werden, wie Bukow und Llaryora (1988) es beschreiben. Die Passage ist bis dorthin aussagekräftig und die verschiedenen Formen rassistischer Zuschreibungen lassen sich prägnant illustrieren. Sie endet aber nicht damit, sondern Herr Güçlü setzt seinen Gesprächsschritt fort, indem er sich direkt an den Interviewer wendet und ihn darauf anspricht, dass dieser wahrscheinlich schon ganz ähnliche Erfahrungen gemacht habe. Er sagt: „Wenn Sie zum Beispiel als Deutscher, Sie sind ja Deutscher, einen österreichischen Freundeskreis haben, bei einer Feierlichkeit werden Sie das auch zu spüren bekommen, nehme ich an.“ In der Interviewsituation wird in diesem Moment deutlich, dass sich Herr Güçlü nicht wohl fühlt. Indem er von der diskriminierenden Begegnung erzählt, degradiert er sich selbst ein Stück weit. Er scheint nun durch die Übertragung des Erlebens auf den Interviewer zu versuchen, Verständnis für diese demütigende Erfahrung zu erlangen. Durch die Konstruktion einer geteilten Erfahrung kann er ein „Wir“ kreieren, das ihn selbst und den Interviewer in einer Gruppe zusammenfasst, die sich dann gegen eine Gruppe der „Österreicher“ positioniert. Dazu verwendet er die

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starke Bezeichnung „Scheißpreuße“ – wohlgemerkt nennt er den Interviewer nicht direkt so. Vielmehr lässt er vermeintliche „Österreicher“ diesen Begriff aussprechen, denn „die schimpfen ja gleich so, das wissen wir ja“. Erst durch die Degradierung des Interviewers selbst kann Herr Güçlü das Gleichgewicht in der kommunikativen Situation wieder herstellen. Er gestaltet hier die Regeln des Scripts und ermöglicht dadurch die Fortsetzung des Interviews „auf Augenhöhe“, die für einen Moment gefährdet war. Gleichzeitig richtet er sich gegen das engstirnige Denken der Vereinsmitglieder und betont seine eigene Weltoffenheit, die er durch die Auflistung möglicher immer kleinteiligerer Ausgrenzungen unterstreicht, gegen die er sich dezidiert wenden will, die ihm geradezu kleingeistig erscheinen. Gerade dieser weltoffene Anteil ermöglicht es ihm, einen Gegendiskurs zu seiner Erfahrung zu initiieren. Ein weiteres Beispiel für rassistische Behandlungen, denen der Interviewpartner mit einer möglichst großen Offenheit zu begegnen versucht, stellen Herrn Ercans Erlebnisse an der österreichisch-deutschen Grenze dar, an der zum Zeitpunkt des Interviews permanente Kontrollen stattfinden. Herr Ercan erzählt am Ende des Interviews auf die offene Frage, ob er noch etwas für ihn Wichtiges erzählen wolle, von dem Gefühl, in Österreich auf eine bestimmte Weise betrachtet zu werden (die Zitatstelle wurde schon in einem anderen Kontext besprochen): „Yeah I want to, say, 50 percent of the people, I’m working with, is Turkish people, but, not about my job, but in my life, something different, …, outside, …, not all people, but too much people look at me as if I was a dangerous man. It’s a little bit a problem for me, inside of me. They are thinking, aha, he is, …, German people, Austrian people, …, I can read in their eyes, they are looking to me, like I’m a dangerous man. It’s a little bit a problem inside of myself. Yeah it’s a bit a problem. Because I never was feeling like this.“ (Herr Ercan, Z. 528-532)

Herr Ercan ist erst vor einem Jahr nach Österreich umgezogen und erlebt nun offenbar zum ersten Mal eine rassistische Behandlung. Auch in diesem Beispiel kann die Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und Zuschreibungen von außen als Prozess der Stigmatisierung interpretiert werden. Herr Ercan nimmt sich selbst als beruflich erfolgreich und als gebildet wahr: In der Türkei führte er zwei Läden und er hat ein Studium absolviert. Jetzt fühlt er sich als „gefährlich“, als „dangerous man“, wahrgenommen. Diese Wahrnehmung wird unterstützt durch seine Erlebnisse mit Behörden. Besonders deutlich wird dies durch seine geschäftlichen Reisen nach Deutschland, bei denen er regelmäßig über die österreichischdeutsche Grenze fährt, um Ware zu kaufen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist eine permanente Grenzkontrolle eingerichtet und dafür, dass er immer kontrolliert wird, zeigt er Verständnis. Es ist eher die Art, wie er taxiert wird, die ihm Unbehagen verschafft. So hatte er schon vorher im Interview über die Grenzkontrolle

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berichtet: „I am a black man. I’m, they understand, I’m not German“ (Herr Ercan, Z. 317) Die folgende Passage bringt das Unwohlsein noch einmal auf den Punkt. „I’m feeling these things, and like the police people, the Finanzamt-people, they are looking to me, I’m sure: ‚Aha, you are a Turkish man. I’m sure, you stole some things.‘ Yeah, it’s not good, because, all my things are legal, I show this, but they are looking to me like this. The other, government, …, all the Amt, all Amt is a problem. I think, they’re thinking, as if I stole some things. It’s not good. It’s not feeling good. Then it’s a problem, but, positive things, my job, when they’re talking, when they understand me, I think, they change their idea.“ (Herr Ercan, Z. 543)

Herr Ercan erzählt von ständigen diskriminierenden Benachteiligungen und versucht dem – zumindest innerhalb dauerhafter Kontakte, die im Zuge seiner Tätigkeit entstehen – mit Offenheit und Freundlichkeit entgegenzuwirken: Wenn man ihn erst einmal kenne, so werde man seine Meinung über ihn schon ändern, so hofft er. Im Folgenden werden solche Merkmale kosmopolitischen Handelns zusammengefasst, die sich in den Erzählungen der Interviewpartner_innen finden lassen und die als Strategie im Kontext der Selbständigkeit gelten können. Die Merkmale und ihre Gliederung lehnen sich an Kwame Anthony Appiahs „Kosmopolit“ (2009) an und werden an den Gegenstand dieser Studie angepasst:    

überlappende Zugehörigkeiten, lokale und globale Orientierung, Werte, Weltoffenheit als Wert, Selbständigkeit als Quelle des Kosmopolitismus.

Überlappende Zugehörigkeiten, lokale und globale Orientierung Bei der Besprechung von Raumaneignung wurde schon deutlich, dass bei vielen der Interviewten lokale Orientierung und globale Ausrichtung parallel stattfinden. Dabei kann die globale Orientierung aber nicht nur im strengen Sinne nach außen hin gerichtet sein, z.B. indem internationale Messen besucht werden oder Produkte in der Türkei eingekauft werden, sie kann auch nach innen wirken, wenn beispielsweise verschiedene Kund_innen in einem Laden zusammen kommen und ihre jeweiligen Wertvorstellungen im Gespräch thematisiert werden. Bei Frau Şen ist diese Verhandlung allein durch ihr kulturell-religiös konnotiertes Produkt gegeben, das im Gespräch mit Kund_innen zum Thema wird. Auch bei Herrn Ercan ist dies der Fall, der Lokale in Süddeutschland und in Österreich mit Baklava und anderen türkischen Spezialitäten beliefert. Dass „sich überlappende Zugehörigkeiten“ (Appiah 2009: 17) bei den interviewten Selbständigen häufig Normalität sind, kann anhand ihres alltäglichen

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Umgangs mit Sprachen illustriert werden. Einige sprechen zwei Sprachen ganz selbstverständlich parallel. Hauptsächlich in Bezug auf ihre Kinder wird dies zum Thema: So sagt Frau Şen beispielsweise, dass sie zuhause mit ihren Kindern Türkisch rede, wenn sie ausgeht dagegen Deutsch: „Ich rede mit meinen Kindern draußen Deutsch. Ich will, dass die Leute, die draußen sind, verstehen, was wir reden. Und ich will auch, dass die Kinder Deutsch lernen und sich verständigen können.“ (Frau Şen, Z. 375-377)

Damit verbindet Frau Şen ganz bewusst die Strategie eines möglichst gelingenden Spracherwerbs, und zwar beider Sprachen: des Türkischen und des Deutschen. „Es ist wirklich, wenn die Kinder ihre Muttersprache besser können, lernen sie schneller Deutsch. Weil sie wissen, wie sie es dann umdrehen sollen. Sie lernen auch schneller.“ (Frau Şen, Z. 438)

Auch Frau Yeşilçay, die selbst in Österreich aufgewachsen ist, sprach die ersten drei Lebensjahre ihres Sohnes zuhause Türkisch, erst als er in den Kindergarten kam, brachte sie ihm einige deutsche Sätze bei. Der Grund, den sie für dieses Vorgehen nennt, ist derselbe wie bei Frau Şen. Dabei schöpft sie aus ihren eigenen guten Erfahrungen – sie berichtet, dass sie selbst gut mit beiden Sprachen klargekommen und eine gute Schülerin gewesen sei. „Also ich hab, also mit drei ist er in den Kindergarten gekommen. Davor habe ich nur Türkisch mit ihm gesprochen. Er hat kein einziges Wort Deutsch gekonnt. Weil ich wollte, dass er zuerst seine Muttersprache lernt. Und kurz davor, zum Kindergartenanfang, wie bei mir damals war, habe ich ihm beigebracht: ‚Wie heißt du? Wie alt bist Du?‘.“ (Frau Yeşilçay, Z. 329-333)

Ganz ähnlich verhält es sich bei Herrn Memiş, dem Inhaber der Kfz-Werkstatt: „Sie [die Kinder, Anm. HB] sprechen immer Türkisch zuhause und Deutsch sie lernen in der Schule. Ja, draußen auf der Straße und in der Schule sprechen sie Deutsch. Zuhause wird Türkisch gesprochen. Nur ab und zu haben wir das Problem, dass wir Türkisch und Deutsch mischen. Halb Deutsch, halb Türkisch und da haben wir das Problem, wenn wir im Urlaub sind, dann werden wir ein bisschen ausgelacht.“ (Herr Memiş, Z. 589)

Das Pendeln zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten, so kann angenommen werden, ist den meisten Interviewpartner_innen geläufig. Dies betrifft nicht nur unterschiedliche Sprach- oder Herkunftsgruppen, auch der Umstand, dass sie von einer unselbständigen in die selbständige berufliche Tätigkeit wechselten, stellt einen Wechsel der Zugehörigkeit dar. Damit erfüllen sie – neben einer Orientierung, die einmal lokal, einmal global ausgerichtet ist – ein weiteres Merkmal von

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Kosmopolit_innen. Wesentlich für die kosmopolitische Ausrichtung sind außerdem neue, auch internationale Kontakte, die – im hier diskutierten Fall – im Kontext der Selbständigkeit entstehen oder für die selbständige Tätigkeit relevant sind. Im Zuge der Tätigkeit als Selbständige eigneten sich die meisten der Interviewpartner_innen neue Kontakte an. Dies können Kund_innen, Gäste oder Geschäftspartner_innen sein. Herr Ercan, so konnte schon gezeigt werden, lernt immer wieder neue Menschen durch seine Arbeit als Händler kennen. Auch Frau Şen wurde in diesem Zusammenhang schon erwähnt. Durch ihren Laden lernt sie immer wieder Kundinnen kennen, mit denen sie dann auch private Bekanntschaften pflegt. Frau Sarıs neue Freundschaften sind ein weiteres Beispiel: „Also meine Freunde, wie zum Beispiel R.M. [geändert, Anm. HB] habe ich vorher nicht persönlich gekannt. Und er war einmal bei mir und er war sehr zufrieden und jetzt kommen sie vielleicht einmal im Monat zu mir. Auf jeden Fall. Und die machen auch so Gruppenversammlungen bei mir. Und also, ehrlich gesagt, also wenn ich sage, meine Freunde, die haben mich immer unterstützt. Immer wenn ich sie gebraucht habe, die waren für mich da.“ (Frau Sarı, Z. 352-356)

Auch Herrn Güçlü sind Kontakte zu anderen wichtig. Dies können Bekanntschaften in Vereinen sein (nicht alle Begegnungen in Vereinen stellten sich so negativ aufgeladen dar, wie in dem bereits beschriebenen Beispiel). „Ja, ich bin damals, äh, bevor ich mich selbständig gemacht habe, war ich schon bei mehreren Vereinen, zum Beispiel beim Judoverein war ich aktiv, beim Taucherverein, beim Taucherclub war ich aktiv. Natürlich von dort habe ich mehrere Bekannte gehabt, Freunde, […]. Von türkischen Vereinen, natürlich auch.“ (Herr Güçlü, Z. 445-448)

Diese Bekanntschaften waren dann auch hilfreich bei der Kund_innenakquise. „Ja und, wie ich dann mich selbständig gemacht habe, jeder der ein bisschen was gebraucht hat, Glas, der ist dann gekommen, ne.“ (Herr Güçlü, Z. 448)

Aber auch neue Medien sind ihm wichtig, um Freundschaften zu pflegen. So berichtet er über seine „über 400 Freunde“ (Herr Güçlü, Z. 19), die er bei Facebook hat. Über dieses Medium tauscht er auch politisch-kritische Beiträge aus, die die aktuelle Situation in der Türkei betreffen. Das globale soziale Netzwerk ist dafür besonders gut geeignet, weil hier ohne Zensur kritisch Stellung bezogen werden kann. Kontakte, die über neue soziale Medien stattfinden, sind häufig international. Einige der Interviewpartner_innen nutzen Facebook, um Kund_innenanfragen bearbeiten zu können. Frau Şen nutzt das Mittel, auch Frau Yeşilçay ist auf diese Weise aktiv.

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Neben dieser virtuellen Form der Kontaktpflege finden bei den Interviewten auch internationale Reisen statt. Alle Interviewpartner_innen reisen regelmäßig in die Türkei oder wünschen sich dies zumindest, wenn es die momentanen Umstände nicht zulassen. So berichtet Herr Ercan: „They live in Turkey. I miss, ... yeah, I miss them. Because in Turkey we were living together. Not in the same house, but in the same city. I’m always, I see them, and I can’t go to Turkey, because my girl is, she came to the world. And we don’t want to go together because she is very klein, she is small. Maybe it’s a problem, it’s 2700 km.“ (Herr Ercan, Z. 359)

Private Reisen gehen auch in andere Länder, so haben zwei der Interviewpartner_innen Verwandte in Holland (Herr Aydın, Frau Şen). Auch Geschäftsreisen, zum Beispiel um Ware einzukaufen, kommen bei einigen der Interviewten vor. Hauptziel ist wieder die Türkei: Frau Şens Einkaufstätigkeiten in Istanbul wurden schon beispielhaft erwähnt, auch die Herrenboutique-Inhaberin Frau Yeşilçay ist ein Beispiel dafür. Geschäftsreisen finden aber auch in andere Richtungen statt: Herr Çoban, Herr Ercan oder Herr Kaya etwa besuchen regelmäßig internationale Messen. Werte Beim Kosmopolitismus geht es um Werte und um den Austausch verschiedener Vorstellungen von Werten (Appiah 2009). Die Interviewsituationen selbst lassen sich als Setting interpretieren, in dem die Alpstadter Unternehmer_innen mit Migrationserfahrung dem Interviewer Werte zur Verfügung stellen, die ihnen besonders wichtig erscheinen. Dass die Unternehmer_innen immer wieder solche Werte nennen, die mit ihrer Selbständigkeit in Verbindung stehen, verwundert nicht, da dieses Thema der Aufhänger für die Interviews war. Sie berichten aber auch, hauptsächlich im letzten, offenen Teil der Interviews, immer wieder von Weltvorstellungen, die sie unabhängig von ihrer beruflichen Tätigkeit vertreten. Werte, die im Kontext der Selbständigkeit genannt werden, können zusammengefasst werden als       

Sicherheit durch die Selbständigkeit, Fleiß, Disziplin und Perfektionismus, Durchhaltevermögen, Willenskraft und Mut, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit, Berufserfahrung, Wissen, Eigentum und Geld, Individualität.

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Zum Thema Sicherheit meint der Schneider Herr Deniz, dass es die wichtigste Änderung in seinem Leben sei, die durch die Selbständigkeit bewirkt wurde: „Was ist die wichtigste Änderung. Weiß ich eigentlich nicht. Aber ich denke, dass ich wenigsten jetzt eine sichere Arbeitsstelle, als woanders. Ich habe viel, mein Ziel erreicht. Darüber freue ich mich.“ (Herr Deniz, Z. 484-486)

Dasselbe Motiv verfolgte der Maler Herr Kaya. „Meine Hoffnung war es, ein gesichertes Leben zu haben, also das war dann meine hauptsächliche, dass dann meine Familie keine finanziellen Schwierigkeiten in Zukunft bekommt.“ (Herr Kaya, Z. 284)

Fleiß war für Herrn Güçlü schon als Kind ein wichtiger Wert, der vor allem durch die Migration an Bedeutung gewann. „Das hat mich schon damals angetrieben, sozusagen, ne. Natürlich, der Weg dorthin, habe ich gewusst, führt Fleißigkeit. Also wenn ich fleißig bin, wenn ich viel arbeite, dann erreiche ich was. Das war halt meine erste Gedanke schon als Kind, ne.“ (Herr Güçlü, Z. 508-511) „Also nach Österreich kommen war schon das Erste diesbezüglich und fleißig lernen immer natürlich, klar, auch in der Schule und Berufsschule habe ich immer fleißig gelernt, ja mehr als jeder andere, weil ich habe zwei Mal lernen müssen, weil ich die Sprache auch noch nicht so beherrscht habe. Und während die anderen zum Beispiel Samstag, Sonntag spazieren gegangen sind, ich habe dann im Internat gelernt, ne.“ (Herr Güçlü, Z. 512-516)

Der Änderungsschneider Herr Deniz meint über Jugendliche, die aus seiner Sicht zu wenig Bereitschaft haben, „sich durchzukämpfen“: „Viele möchten Matura machen, okay, gerne, wenn sie das so gut finden, dass du noch mehr was lernen kannst, aber das ist auch schwierig. Früher habe ich auch Putzarbeit gemacht. Da war Arbeit, eine Junge, der hat gemeint: ‚Ja, okay, er hätte Matura gemacht und so.‘ Der war so stolz. Das nutzt dir nichts. Du putzt auch, wie ich, das Klo.“ (Herr Deniz, Z. 394-397)

Um das Geschäft gut führen zu können, sind Disziplin und Perfektionismus nötig, so Frau Sarı, die diese Eigenschaften besonders bei ihrem Vater, ihrem Vorbild, schätzt. „Mein Vater ist mein sehr großes Vorbild. Er hat Disziplin in der Arbeit. Obwohl er so ein kleines Kebab-Standl gehabt hat, er hat wirklich Disziplin gehabt. Also noch meiner Meinung, hat er perfekt gemacht.“ (Frau Sarı, Z. 276)

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Aber auch Durchhaltevermögen und Willenskraft sind nötig, um beruflich bestehen zu können, so Herr Güçlü: „Man braucht nur eine Portion Mut dazu und Willen dazu und Biss dazu. Und wenn man diese Dinge hat, natürlich auch Fähigkeit dazu, klar.“ (Herr Güçlü, Z. 522 f.)

Über berufliche Erfahrung und Wissen sagt der Schneider Herr Deniz, dass sie ihm bei seinen Bewerber_innen fehlen. Gerne hätte er eine zusätzliche Kraft eingestellt, aber bisher konnte er noch niemanden finden, der das Handwerk gut genug beherrscht: „Die haben, wo sie früher gearbeitet haben, nur, vielleicht monatelang nur eine Naht von der Hose oder der Jacke oder von irgendwas genäht. Mit mehr als das kennen sie sich nicht aus. Aber das genügt mir nicht.“ (Herr Deniz, Z. 313-315)

Zuverlässigkeit ist eine weitere Tugend, die als persönlicher Wert betont wird. So sagt Herr Güçlü: „Ja, und dann, auf jeden Fall, mit der Firmenleitung habe ich mich verabschiedet und wir sind sehr im Guten auseinandergegangen. Ich habe dann natürlich selber gekündigt. Ich habe keine Abfindung, sonst nichts, bekommen für die zehn Jahre. Allerdings, die haben dann gesagt, dass sie in meine Akten eintragen werden, dass ich, falls was ist, jederzeit zurückkommen kann.“ (Herr Güçlü, Z. 215-219)

Geld – auch als Wert für sich – ist für einige der Interviewten wichtig. Dies kommt gerade da zum Ausdruck, wo finanzielle Not herrscht, aber dennoch nicht auf Hilfe zurückgegriffen wird. Im folgenden Beispiel sagt der Maler Herr Kaya, dass er vom AMS lieber kein Geld empfangen will. Hier kommt auch sein Stolz ins Spiel, der ihn daran hindert, arbeitslos zu werden: „Nein, es war kein Risiko, nein, ich war nicht arbeitslos. In, seit 25 Jahren war ich nur drei, vier Monate arbeitslos.“ (Herr Kaya, Z. 193 f.)

Alle diese Werte stehen in direkter Verbindung zur Selbständigkeit. Sie verkörpern eine Art unternehmerischen Kodex, dem sich die Interviewten in weiten Teilen verbunden fühlen und der ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe der Selbständigen vermittelt. Aber auch Begriffe wie Würde, Religiosität oder Familie, die mal mehr, mal weniger im Kontext der Selbständigkeit relevant sind, fallen. Auch politisches Bewusstsein wird genannt (beide Male ein sozialistisches Verständnis von Politik). Herr Ercan, der sich selbst als Sozialisten bezeichnet, meint über die politische Situation in der Türkei:

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„Now in Turkey it is a little bit, political problems, yeah, it’s, sometimes I think: Oh, Gott sei Dank! We were coming here, because in Turkey now it’s not so good. It is a little bit dark.“ (Herr Ercan, Z. 123-126)

Herr Memiş, dessen Erzählung schon ausführlich besprochen wurde, und der großen Wert auf türkische Kultur und muslimischen Glauben legt, meint über seine Tochter: „Sie ist, äh, sie ist mehr gläubig als ich in ihrem Alter. Ich habe nicht viel an Glauben in ihrem Alter gedacht, aber sie ist da viel mehr wie ich. Mit 16, 17 war ich eigentlich, vielleicht weil ich ein Junge war, ganz woanders, und sie ist halt viel mehr, befasst sich mit unserem Glauben.“ (Herr Memiş, Z. 644-646)

Bei Herrn Güçlü kommt eine religiös-kulturelle Ausrichtung zum Ausdruck, wenn er über „Kismet“, die türkisch-muslimische Bezeichnung für Schicksal, spricht. Auffällig ist, dass Herr Güçlü hier seine Religiosität mit seinem beruflichen Werdegang und die – aus seiner Sicht – dafür erforderlichen Tugenden in Verbindung bringt. „Genauso hat der Mohammed das gesagt, jemand der Risiko liebt, der hat Aussicht zum Erfolg. Das sind seine Worte. Und er hat auch gesagt, zum Beispiel, Kismet, wissen Sie, was Kismet ist? Kismet ist, das was Gott dem Menschen gutgeschrieben hat.“ (Herr Güçlü, Z. 746-748)

Frau Şens Religiosität wurde schon angesprochen. Sie ist gleichzeitig das Fundament für ihr Gefühl der Verpflichtung gegenüber bedürftigen Mitmenschen. Wenn sie Kund_innen, die nicht genügend Geld haben, etwas schenkt, dann begründet sie dies mit ihrem Glauben: „Weil, bei uns gibt es ein Sprichwort: Von manchen das Geld und von manchen das Gebet. Wenn sie sagen, Gott segne Dich, reicht uns das.“ (Frau Şen, Z. 294 f.)

Diejenigen Interviewpartner_innen, die sich religiös zeigen, bringen ihre Religiosität oft mit dem unternehmerischen Handeln in Einklang. Darüber hinaus lassen sie andere Positionen gelten. Religiosität – in den Beispielen ausgedrückt durch die große Bedeutung von Kismet oder durch die Unterstützung von Bedürftigen – stellt dann eher einen Rahmen für das eigene Handeln dar, der aber nicht über das Handeln anderer gelegt wird. In diesem Sinne ist Religiosität hier ein fundamentaler Wert, der aber nicht auf eine Weise fundamental ist, die Menschen mit anderen Wertvorstellungen ablehnt (Bilgrami 1992).

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Immer wieder wird die Familie als eigenständiger Wert genannt. Herr Kaya beispielsweise sagt, dass er das Lkw-Fahren aufgegeben hat, weil der Beruf nicht zu seiner Vorstellung von Familie passt: „Ja, da habe ich geheiratet. Ich war noch unverheiratet, als ich älter geworden bin und bin ich mit meiner Frau, jetziger Frau, habe ich dort aufgehört, weil Lkw-Fahren ist nach meiner Meinung kein Familienjob.“ (Herr Kaya, Z. 202-204)

Ihr Gastronomiebetrieb bedeutet Frau Sarı nicht nur die Realisierung ihres persönlichen Traums. Sie erhofft auch eine Konstante, vielleicht einen Status, den sie an ihre Kinder vererben kann: „Auf jeden Fall. Also wir werden bis zum Ende kämpfen. Also ich will schon diesen Laden, ..., ich meine sicher, für die Zukunft kann man nie eine Garantie geben, aber wenn man jetzt mich fragt, ich will diesen Laden meinen Kindern übergeben.“ (Frau Sarı, Z. 299-301)

Auch bei der Familie gilt, dass sie zum Teil eine Ressource ist, die den Gang in die Selbständigkeit erleichtert, zum Teil ist sie Selbstzweck, Identitätsmerkmal und ein Wert, für den sich die berufliche Anstrengung lohnt, auf sich genommen zu werden. Weltoffenheit als Wert Weltoffenheit ist ein zentraler Bestandteil des Kosmopolitismus. Sie umfasst mehrere Bestandteile, die sich folgendermaßen unterteilen lassen (Appiah 2009):     

Interesse an Anderen, Toleranz gegenüber anderen Werten, Verpflichtung gegenüber anderen Kontamination, Vermischung von Kultur, Austausch über Werte von anderen, mit anderen.

Diese Punkte können einerseits als Merkmale von Kosmopolitismus begriffen werden, sie stellen andererseits auch eigenständige Werte dar, die einige der Unternehmer_innen direkt oder indirekt im Interview nennen. Dabei ist wesentlich, dass Weltoffenheit im Leben mancher von ihnen als Ressource vorhanden war, die den Weg in die Selbständigkeit erleichterte. Herr Güçlü ist so ein Fall, der durch seine Offenheit gegenüber Anderen, zum Beispiel durch aktive Vereinsmitgliedschaften, leichter zu Kund_innen kam. Herr Ercan hatte durch die Mitgliedschaft in einem international auftretenden türkischen Kulturverein von Anfang an Rückhalt und Unterstützung. Die Alpstadter Dependance des Vereins war gleich zu Beginn seiner Immigration eine Anlaufstelle für ihn. Gleichzeitig ist seine

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Freude am Umgang mit anderen Menschen eine Ressource, die er als Persönlichkeitsmal innehat und die seine Selbständigkeit fördert. Überhaupt bezeichnet er sich selbst als kommunikativen Typ. „I must communicate all the people, I must think of this, because if I live here, I must work, I must know new men, new woman, new people. Then I started this job. I think, I was a little bit lucky about this, then ...“ (Herr Ercan, Z. 190-192)

Bei anderen führte die Selbständigkeit erst dazu, sich weltoffen zu orientieren. Frau Sarı berichtet in diesem Kontext von ihrer berufsbedingten Neugierde: „Das ist auch, wenn in dieser Umgebung, sag ich einmal, irgendeine Freundin oder irgendeine Bekannte, die ich einmal kenne, ein Restaurant aufmacht, man geht dorthin. Um die Leute, weil man neugierig ist, was ist da drinnen, man isst was oder wie läuft das?“ (Frau Sarı, Z. 408)

Auf einen Nenner gebracht lässt sich sagen, dass geschäftlicher Pragmatismus Toleranz fördert. Dies betrifft zum Beispiel die Einstellung der Unternehmer_innen gegenüber ihren Kund_innen: „Touristen, oder eben jetzt heutzutage eben diese Asylanten, die kommen auch. Die sind auch interessiert. Also für mich ist jeder ein Kunde, der was hier reinkommt. Kunde ist Kunde. Und berate ich genauso. Wie die anderen.“ (Frau Yeşilçay, Z. 239-241)

Frau Şen, das wurde schon gezeigt, fühlt sich verpflichtet gegenüber ärmeren Kund_innen. Dasselbe trifft auf die Inhaberin der Herrenmode-Boutique, Frau Yeşilçay, zu: „Manche wollen gleich Diskont, also einen Rabatt. Und dann sage ich, ich habe welche, die was reduziert sind, schlage ich vor. Und sonst sage ich, okay, dann gebe ich noch ein Rabatt an der Kasse, also ein bisschen Rabatt und dann freuen sie sich einfach und dann kaufen sie.“ (Frau Yeşilçay, Z. 246)

Für den Glaser Herrn Güçlü ist der Wohlstand, der es ihm ermöglicht, sich für andere einzusetzen, sogar ein Motiv für die Entscheidung zur Selbständigkeit: „Und dann, wenn irgendwo für eine soziale Tätigkeit, ein gewisses Engagement gefragt ist, so wie das letzte Mal, bei uns, da hat die Gemeinde so ein Flüchtlingsbegrüßungs-Dings organisiert, Veranstaltung, dann habe ich gesagt, okay, Tee und Kaffee von mir, ne. Und meine Frau hat dann Kuchen gebacken und so weiter. Jetzt wenn du das rechnest, da sind gleich einmal ein paar hundert Euro. Und, das zahlst du ungeschaut. Aber als Arbeiter musst du das gleich zweimal überlegen: ‚Kann ich das?‘“ (Herr Güçlü, Z. 717)

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Zur Vermischung von Werten oder kulturellen Manifestationen kommt es immer wieder. Das kann dort sein, wo sich Produkte aus verschiedenen kulturellen Kontexten zu einem Neuen mischen oder wo die Produktpalette gemischt ist. Herr Bilge junior und senior bewerben in ihrer Fleischerei beispielsweise Fleisch vom Bauernhof. Damit wollen sie explizit eine österreichische Kundschaft ansprechen. Herr Ercan handelt mit verschiedenen Produkten aus dem Lebensmittelbereich, sei es Gastronomiebedarf oder Baklava, über das er sagt: „Baklava is a, normaly it’s a Turkish speciality, but Greek people know what is this. Yeah, they have the speciality, it’s the same […] Yeah, yeah, it’s good, it’s a famous Essen. Not just in Turkey. All people know, was ist das.“ (Herr Ercan, Z. 260-266)

Frau Şen verkauft verschiedene Hijab-Artikel, je nachdem ob die Kundin die Kleidung in Österreich oder in einem südlichen, wärmeren Land tragen will. Sie unterscheidet dann zwischen verschiedenen Materialien, die jeweils geeigneter sind, oder nach der Anwendung. Manchmal ist eine Kopfbedeckung mit Reißverschluss praktischer, manchmal ist eine traditionellere angemessener. Lediglich bei den Handwerkern ist die Vermischung wenig relevant: Für die Reparatur eines Autos oder die Malerarbeiten bei der Innenraumgestaltung eines Büros spielen kulturelle Ausprägungen und Mischungen keine Rolle. Aber auch bei ihnen fördert das Geschäft den Austausch und den Kontakt zu Personengruppen, die sie sonst nicht treffen würden, so berichtet der Glaser Herr Güçlü beispielsweise über seine Kundschaft: „Quer durch. Weil jeder, der ein zerbrochenes Glas hat, ob der jetzt Richter ist oder Rechtsanwalt ist oder ob er einfacher Bürger ist, Tischler oder Schlosser, kommen alle.“ (Herr Güçlü, Z. 604 f.)

Besonders wichtig, im Sinne von Kosmopolitismus, ist der Austausch über Haltungen gegenüber verschiedenen Werten. Appiah nennt diese Praxis die „Sprache der Werte“ (Appiah 2009). Nicht alle der interviewten Unternehmer_innen stellen diesen Aspekt nach vorn, doch für einige ist der offene Austausch über verschiedene Lebensvorstellungen erwähnenswert, sei es in ihrer Freizeit, sei es als Bestandteil ihrer beruflichen Tätigkeit. Der Maler Herr Kaya begleitet in seiner Freizeit österreichische Bekannte nach Istanbul, um ihnen die Stadt zu zeigen, und er gibt im Kulturverein einen Türkischkurs für Österreicher_innen. Im Geschäft selbst ist Frau Şen das Plaudern besonders wichtig: „Also, vorher war zum Beispiel eine Kundin da, die hat nur so ein paar Mal so durchgeschaut. Dann haben wir da, ich glaube so, Dreiviertelstunde haben wir geplaudert.“ (Frau Şen, Z. 298-300)

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Das Plaudern ist für sie ein Medium, mit dem sie Kundinnen kennenlernt und mit dem sie ihr Interesse an ihnen zum Ausdruck bringt. Die oben erwähnten Besuche von anderen Lokalen durch die Gastronomin Frau Sarı können in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt werden. Die Besuche dienen dem Austausch und Frau Sarı kann die Gepflogenheiten der Konkurrenz in Erfahrung bringen, um sich gegebenenfalls etwas davon abzuschauen. Für den Händler Herrn Ercan ist der Austausch mit anderen Menschen zentraler Punkt seiner Persönlichkeit, wie der sagt: „I must communicate all the people, I must think of this, because if I live here, I must work, I must know new men, new woman, new people. Then I started this job. I think, I was a little bit lucky about this.“ (Herr Ercan, Z. 190-192) „When I’m meeting people, talking to people, I’m feeling good.“ (Herr Ercan, Z. 485)

Seine Tätigkeit als selbständiger Händler dient ihm dazu, mit anderen Personen in Austausch zu kommen. Wieder gilt auch bei diesem Aspekt des Kosmopolitismus, dass er zum Teil als Persönlichkeitsmerkmal schon vor der Entscheidung zur selbständigen Berufstätigkeit vorhanden war und dadurch als Ressource diente, zum Teil wurde er erst durch die Tätigkeit zum wichtigen Selbstanteil oder er wurde überhaupt erst geweckt. Selbständigkeit als Quelle des Kosmopolitismus Die Beispiele zeigten, dass einige der Interviewpartner_innen gerne mit Menschen zu tun haben, sich für andere interessieren und eine gewisse Toleranz gegenüber anderen haben. Diese Werte stellen Ressourcen dar, die das Unternehmertum erleichtern. Gleichzeitig wird die Weltoffenheit durch die selbständige Tätigkeit gefördert. Dies kann durch den Besuch von Messen geschehen oder durch den Kontakt zu Kund_innen oder Gästen. Strenggenommen ist die Behauptung, dass die Interviewpartner_innen aufgrund ihrer Selbständigkeit in ihrem Kosmopolitismus gefördert werden, allerdings falsch, oder doch zumindest widersprüchlich. Kosmopolit_innen sind dem Begriff nach zunächst Kosmopolit_innen, weil sie Bürger_innen, also politische Wesen sind. Genau das aber ist kein Merkmal der Selbständigkeit. Die Merkmale schließen einander nicht aus, aber die Definitionen finden auf unterschiedlichen Ebenen statt. Damit ist aber wieder ein Grundproblem angesprochen, das schon bei der Frage nach der Selbständigkeit als besondere Form des Kampfes um Anerkennung aufkam: Die Interviewten handeln nicht intendiert politisch, aber sie bewirken dennoch eine gesellschaftliche Veränderung. Dies trifft auf diese Weise nicht auf autochthone Selbständige zu, so es gerade die Unternehmer_innen mit

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Migrationserfahrung sind, die in diesem Sinne eine gesellschaftliche Veränderung vorantreiben. Wesentlich erscheint außerdem, dass Kosmopolitismus hier zweierlei Ebenen einnimmt: Er ist gleichermaßen Form und Inhalt. Er stellt zum einen eine Strategie im Umgang mit beengenden Ethnisierungen und Fremdzuschreibungen dar. Die Betroffenen können, indem sie sich kosmopolitisch verhalten, Missachtungen und Entwürdigungen entgehen, ohne sich direkt mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Sie schaffen vielmehr eine eigene Sphäre, die es ihnen erlaubt, sich zu entfalten, ohne auf die negativen Anrufungen reagieren zu müssen. Der kosmopolitisch geprägte Raum weist daher auch Merkmale eines heterotopen Raums auf (Terkessidis 2005). Zum anderen ist Kosmopolitismus selbst eine Form von Bildung, wie sie hier in Anlehnung an Dewey verstanden wird, weil er selbst einen Wert und ein Handeln verkörpert, das dem offenen Austausch mit anderen verpflichtet ist und das voneinander und miteinander Lernen fördert. Gerade dadurch führt Kosmopolitismus zur Erweiterung von Welthorizonten, wie sie mit Stojanov beschrieben wurden.

ZWISCHENFAZIT In Kapitel 5 konnten verschiedene Motive und Anlässe herausgearbeitet werden, die die heute Selbständigen dazu veranlassten, sich beruflich neu zu orientieren. Viele dieser Motive können als krisenhafte Einschnitte bezeichnet werden, die die Voraussetzung für daraufhin einsetzende Bildungsprozesse darstellen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es auch wirklich zu Bildungsprozessen kam. Einige der Motive wiederum konnten als Formen missachteter Anerkennung gedeutet werden, in dem Sinne, dass sie (1.) kollektiv auftreten, weil sie in Verbindung zu strukturellen Benachteiligungen stehen, die Arbeitnehmer_innen aus der Türkei betreffen oder aber Personen, die als „türkisch“ gelabelt bezeichnet werden können. Dies ist vor allem da der Fall, wo es um rassistisch diskriminierende Benachteiligungen geht. (2.) Ein weiteres Merkmal liegt im Unbehagen oder im Gefühl ungerecht behandelt zu werden. Latentes Unbehagen konnte anhand der Äußerungen, die die Motive beschreiben, nachvollzogen werden, hauptsächlich da, wo die Betroffenen von Dequalifizierung oder Arbeitslosigkeit reden. Auch das Gefühl der ungerechten Behandlung zeigte sich, allerdings wurde in keinem Fall direkt ein Missstand verbalisiert. Dies wirft die Frage auf, ob es sich überhaupt um Anerkennungskämpfe handeln kann, sind diese doch üblicherweise kollektiv und intendiert gestaltet, so dass die Artikulation des Missstands an ihrem Anfang stehen

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muss. An dieser Stelle fiel die Entscheidung, den Gedanken an Anerkennungskämpfe noch nicht vorschnell aufzugeben, sondern dem Phänomen weiter auf die Spur zu gehen, weil die Unternehmer_innen ohne Zweifel Strategien entwickelt haben, die geeignet sind, mit der beruflichen Misere umzugehen. Diese sollten detaillierter beschrieben werden. Kapitel 6 ging daher zwei leitenden Fragen nach: 1. 2.

Handelte es sich bei den beruflichen Entwicklungen um Bildungsprozesse und wie gestalteten sich diese aus? Handelt es sich bei den Aktivitäten und Strategien der Selbständigen um Anerkennungskämpfe?

Zunächst wurden solche Fälle gezeigt, bei denen sich keine Bildungsprozesse nachweisen lassen. Dies ist zum Beispiel da der Fall, wo es weder eine berufliche Krise gab noch die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen interpretativ nachvollzogen werden kann. Zwei Fälle – Herr Kaya und Herr Güçlü – zeigten dagegen einen eher schrittweisen Verlauf. Es gab keine punktuell auftretende Krise, sondern die Beteiligten starteten und vergrößerten ihre Unternehmen nach und nach. Ob sich ihre Selbst-/Weltverhältnisse dabei veränderten, kann schwer ermittelt werden. Bei beiden führte aber der Wechsel des gesellschaftlichen Status, der mit ihrer unternehmerischen Tätigkeit einherging, zu einer eher deutlicher wahrgenommenen Stigmatisierung. Aus dem Status leiten sie entsprechende Ansprüche nach Anerkennung ab, die ihnen aber vielfach nicht gewährt werden. Bei Herrn Güçlü zeigte sich das in der Diskriminierung durch Vereinsmitglieder, die ihn in einer geschilderten Situation nicht als erfolgreichen Unternehmer eines Handwerksbetriebs behandelten, sondern ihn als „Ali“ und als „typischen“ Vertreter des Islam entsubjektivieren. Herr Kaya berichtet davon, wie er sich in der Schule diskriminiert fühlt, wo es um den Übertritt seines Sohnes von der vierten in die fünfte Klasse geht. Er beschreibt sich in den Verhandlungen mit der Schuldirektorin als sehr selbstbewusst, fühlt sich aber dennoch nicht als Person mit hohem gesellschaftlichem Wert angesprochen. Diese Beispiele machen die Trennung, der nun folgenden Argumentation nötig. Einerseits gibt es offenbar Fälle missachteter Anerkennung, die keine Bildungsprozesse nach sich ziehen, die sich womöglich erst durch die Selbständigkeit verdeutlichen. Andererseits müssen nicht alle Bildungsprozesse Reaktionen auf kollektive Formen missachteter Anerkennung sein, sie können auch auf individuelle Krisen zurückzuführen sein. In den folgenden Kapiteln wurden dann solche Erzählungen einer genaueren Betrachtung unterzogen, die Bildungsprozesse aufwiesen und bei denen es sich ursächlich um Formen missachteter Anerkennung handelte. Anhand der

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textanalytischen Auswertung von vier Fallbeispielen in Kapitel 6 konnten solche Anerkennungsdefizite gezeigt werden, die nicht nur auf der sozialen und rechtlichen Ebene liegen, sondern auch auf Ebene der Persönlichkeit bzw. der Identität der Befragten. Sie können als alltagsrassistische (Terkessidis), stigmatisierende (Goffman) oder ethnisierende (Bukow/Llaryora) Erfahrungen beschrieben werden. Honneth definiert drei Dimensionen der Anerkennung – Liebe, Recht und soziale Wertschätzung – und so könnte man davon ausgehen, dass diese freigelegten Missachtungen auf der ersten, der persönlichen Ebene anzusiedeln seien. Dies wäre naheliegend, handelt es sich doch um Formen der Einflüsse, die die Selbstidentität der Interviewpartner_innen betreffen. Diese Zuweisung erscheint aber vorschnell, da – mit Goffman, Terkessidis oder Bukow und Llaryora argumentiert – Selbstidentität stets in Zusammenhang mit sozialer und persönlicher Identität zu betrachten ist, also die gesellschaftliche Ebene und ihre Einflussnahme nicht wegzudenken ist. Es konnte schon gezeigt werden, dass sich verweigerte Anerkennung oft vorkognitiv darstellt oder zumindest nicht zu einem so großen Unrechtsbewusstsein führt, dass von den Interviewten eine gezielte Artikulation gegen das Unrecht formuliert würde. Zu Beginn der Forschung wurde angenommen, dass es zur Empörung über die beruflichen Benachteiligungen unter den Interviewpartner_innen kommen müsse. Nun konnte durchaus gesagt werden, dass es zu Unbehagen und einem Unrechtsgefühl kam, nur wurde es eben nicht so artikuliert, dass eine Ursache damit in Verbindung gebracht worden wäre, gegen die sich die Betroffenen hätten richten wollen. Honneth selbst ist in diesem Punkt nicht ganz entschieden, so spricht er in Hinblick auf die weite Not in breiten Teilen der Bevölkerung, die Bourdieu in „Das Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997) konstatiert, davon, dass jede „dieser Notlagen [..] mit einer Reihe von anstrengenden, erbitterten Aktivitäten einher[geht], für die der Begriff des ‚sozialen Kampfes‘ durchaus angemessen wäre; stets werden solche Verelendungstendenzen von den Betroffenen nämlich mit Formen der Gegenwehr bekämpft, die von der Auseinandersetzung mit staatlichen Behörden über den verzweifelten Versuch der Bewahrung psychischer und familialer Integrität bis zur Mobilisierung von Hilfeleistungen durch Verwandtschaft oder Freundschaftsbeziehungen reichen“ (Honneth/Fraser 2003: 141).

Die hier beschriebenen Fälle sind nicht weit weg von der Dramatik, die Honneth mit Bourdieu zum Ausdruck bringt. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass hier die erfolgreichen Fälle von Selbständigkeit besprochen wurden, also jene

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Fälle, bei denen die Beteiligten über genügend Ressourcen, wie familiären Rückhalt oder Berufsausbildungen verfügen. Auch die Mittel, die Honneth nennt, erinnern an die Strategien und Ressourcen, die den hier Interviewten zur Verfügung stehen. Allein: Honneth spricht im Zitat von „sozialem Kampf“, nicht von Kämpfen um Anerkennung. Dies muss er, weil in Bourdieus Fallbeispielen das Merkmal der (öffentlichen) Artikulation fehlt. Möglich wäre es daher, in Bourdieus Fällen wie auch in den hier diskutierten von einer frühen Stufe oder einer Vorstufe eines Kampfes um Anerkennung zu reden. Ein Grund für die mangelnde Artikulation von Missständen könnte aber auch darin liegen, dass die interviewten Unternehmer_innen handelten, bevor es zur Empörung hätte kommen können. Durch ihre Neuorientierung waren sie in der Lage, Nachteilen handelnd zu begegnen. Sie waren daher ihrem Nachteil und ihrem Unbehagen nicht hilflos ausgeliefert. Gerade das Handeln selbst verhinderte dann die Empörung und stellte gleichzeitig eine besondere Form der (nonverbalen) Artikulation dar. Dafür spricht, dass Gefühle nicht unabhängig vom Handeln stattfinden, sondern stets „nur in positiver oder negativer Abhängigkeit von Handlungsvollzügen auftreten.“ (Honneth 1994: 221) Honneth argumentiert hier mit Dewey. Demzufolge stellt sich ein positives Gefühl dann ein, wenn eine Handlung geglückt ist. Glückt sie nicht, so ist das Gefühl negativ. Insofern kann der Mangel an Empörung als Hinweis darauf gedeutet werden, dass das Handeln der interviewten Selbständigen von ihnen selbst als geglückt wahrgenommen wird. Berücksichtigt man, dass Reden eine besondere Form des Handelns ist (Searle 1983), so ließe sich auch umgekehrt argumentieren und man könnte sagen, dass die verbale Artikulation von Missständen eine Sonderform der Reaktion unter mehreren möglichen darstellt und ein Kampf um Anerkennung auch andere Formen – eben nonverbale – annehmen kann. Dass es nicht zum kollektiven Kampf kommt, liegt sicher auch daran, dass es sich strenggenommen um kein Kollektiv handelt, selbst wenn sich die Betroffenen via Fremdzuschreibung in einer „türkischen“ Gruppe wiederfinden. Das verbindende Merkmal „Selbständigkeit“ jedenfalls genügt nicht, eine Interessensgruppe zu formieren, die für gemeinsame Ansprüche eintritt – zumindest ist dies in Alpstadt nicht der Fall. Hier gab es zwar früher einen türkischen Unternehmerverband, dieser hat sich aber schon vor Jahren aufgelöst. Weitere gemeinsame Merkmale, die alle hier interviewten Unternehmer_innen verbinden, gibt es nicht. Einige sind durch die Glaubensgemeinschaft auf der Ebene religiöser Praxis institutionell miteinander verbunden, andere sind Mitglieder eines türkischen Kulturvereins, der sich wiederum dezidiert von einer religiösen Ausrichtung abhebt. Wieder andere sind weder in der einen noch in der anderen Form institutionell engagiert.

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Ein weiterer Grund dafür, dass es nicht zur Empörung kommt, könnte darin liegen, dass die Beteiligten die Ursache für die Benachteiligung nicht als stigmatisierende oder ethnisierende Missachtung, sondern als natürlich angesehen haben. Sie verfügten zum Zeitpunkt ihrer Entscheidungen zur Selbständigkeit womöglich über gar kein Bewusstsein erlittener Benachteiligung. Dieser Umstand könnte dadurch verstärkt werden, dass ihnen kein Subjekt zur Verfügung steht, gegen das sie ihren Unmut richten könnten. Im Gegenteil: Viele berichten von besonders fairen oder toleranten früheren Vorgesetzten und Arbeitgebern. Strukturelle Benachteiligungen wirken sich mitunter offenbar nicht spürbar als solche auf der individuellen Ebene aus. Für diese Begründung spricht, dass sich die Interviewpartner_innen in Erzählepisoden, in denen sie sich als weniger handlungsfähig beschreiben, sehr wohl empören und ihr Unrechtsempfinden verbal zum Ausdruck bringen. Dies ist umso mehr dort der Fall, wo sie ein diskriminierendes Subjekt verorten. Alle in den Interviews genannten Beispiele für erlittene Diskriminierungen oder rassistische Abwertungen fanden aber erst mit der Selbständigkeit statt. Diese Gründe führten dazu, in einem zweiten Auswertungsschritt die Bedeutungsaufladungen der Bildungsprozesse, die auf die beruflichen Krisenerfahrungen erfolgten, näher in Augenschein zu nehmen. Das Ziel dieses Auswertungsschritts lag zum einen darin, individuelle Bildungsprozesse nachzuzeichnen und zu systematisieren, und zum anderen in der Frage, ob es sich bei den Entscheidungen hin zur Selbständigkeit um eine besondere Form der Kämpfe um Anerkennung handelt. Aus dem Interviewkorpus wurden vier Interviews ausgewählt und in Form von Fallanalysen einer detaillierteren Interpretation unterzogen. Es konnte gezeigt werden, dass drei Dimensionen die Prozesse formten. Diese konnten als „Interesse am Spiel“ (Bourdieu 1998), „Aneignung von Raum“ (Deinet/Reutlinger 2004, Braun 2004, Löw 2016) und „Kosmopolitismus“ (Appiah 2009) betitelt werden. Jeweils im Anschluss an die detaillierte Interpretation der Fallbeispiele erfolgte die Durchsuchung des gesamten Korpus auf die spezifischen Merkmale dieser Strategien hin. Damit sollten die Ergebnisse der Einzelfälle zu allgemeinen Hypothesen verdichtet werden. Freilich gestalten sich die individuellen Lebensläufe in Hinblick auf diese Dimensionen nicht alle gleich. Sie lassen sich auch nicht in dem Sinne systematisieren, dass einzelne, klar unterscheidbare „Bildungstypen“ herausgestellt werden können. Die drei Dimensionen können vielmehr als Rahmenwerk genutzt werden, innerhalb dessen die Bildungsprozesse der Unternehmer_innen beschrieben werden können. Dieses Rahmenwerk ist nicht für Bildungsprozesse im Allgemeinen anwendbar, sondern es ist spezifisch: Gerade für Selbständige ist das Interesse am beruflichen Feld und an der Aneignung von Raum relevant. Gerade für Selbständige mit Migrationserfahrungen ist der Raum eine relevante Kategorie, wenn es

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um ihre Positionierung in einer potentiell eingrenzenden Mehrheitsgesellschaft geht. Dasselbe gilt für das offene und interessierte Miteinander zwischen Unternehmer_innen und ihren Kund_innen. Schnell stellte sich aber heraus, dass die Dimensionen dieses dreigliedrigen Rahmens gleichzeitig Handlungsstrategien sind, die die sozialen Kämpfe der Protagonist_innen differenziert beschreiben können. In der Chronologie der beruflichen Werdegänge ging die Argumentation nun einen Schritt weiter. Lag vorher der Schwerpunkt der Diskussion auf der Frage, ob es sich bei den Unternehmensgründungen um Schritte im Zuge eines Anerkennungskampfes handelte, so verlagert sich die Betrachtung nun auf die Zeit danach: Die Folgen der Selbständigkeit rücken ins Zentrum der Erörterung und die Frage lautet demnach: Ist die Selbständigkeit ein Mittel des sozialen Kampfes? Alle drei Strategien – Interesse am berufliches Feld, Aneignung von Raum und kosmopolitisches Miteinander – sind ineinander verwoben und sie haben ein gemeinsames Charakteristikum: Sie verbinden Lokales mit Globalem. In Bezug auf Raum beispielsweise findet die konkrete Aneignung eines Orts auf lokaler Ebene statt. Gleichzeitig sind die Selbständigen in unterschiedlicher Weise global verbunden, sei es durch berufliche Reisen, sei es durch virtuelle soziale Kontakte. In Sachen Kosmopolitismus lassen sich Handeln und kommunikativer Austausch auf lokaler Ebene in Form von alltäglichen Kontakten zu Kund_innen oder Kolleg_innen zeigen. Daneben pflegen viele der Interviewten Beziehungen zu weit entfernten Personen. Wesentlich für das kosmopolitische Handeln im Sinne Appiahs ist der Austausch von Werten, der verbunden ist mit Interesse an und Toleranz gegenüber anderen Personen mit anderen Werten. Diese Haltung wird durch die selbständige Tätigkeit, besonders wo es um Kund_innenkontakte geht, gefördert. Auch hier gilt wieder, dass diese Pole – lokal und global – analytischen Wert haben und sich keinesfalls bei allen Interviewten gleich ausgestalten. Eine zentrale Erkenntnis liegt darin, dass es gerade das kosmopolitische Handeln ist, das es den Akteur_innen erlaubt, alltäglichen Ausgrenzungserfahrungen zu entgehen, ohne direkt auf sie reagieren zu müssen. Dies ist umso wichtiger, als dass die Betroffenen, wenn sie direkt auf Diskriminierung reagieren, nicht umhinkommen, auf den diskriminierenden Diskurs an sich einzugehen. Dadurch müssen sie sich aber der Fremdzuweisung, die inkrementeller Bestandteil von Diskriminierung ist, stellen. Das kosmopolitische Handeln ist daher eine Möglichkeit, Diskriminierungen aktiv zu entgehen, ohne auf ihre Grundmechanismen eingehen zu müssen. Die Bedingung für das Gelingen dieser Strategie ist ein Hintergrund, der für eine gewisse Sicherheit sorgt. Diese sind der angeeignete Raum, in dem die kom-

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munikativen Regeln, also die Scripts im Sinne Bukows und Llaryoras, selbst gestaltet werden können, und die berufliche Expertise bzw. der Erfolg in der selbständigen Tätigkeit. Deutlich wird wieder, dass die drei Strategien ineinanderwirken und einander verstärken. Auf gewisse Weise handelt es sich hier also um nonverbal geführte Anerkennungskämpfe, die doch in Teilen paradox10 sind. Zieht man zur Beurteilung von Anerkennungskämpfen die Gelingensbedingungen individuelle Autonomie und Inklusion heran, so liegt es auf der Hand, im Falle von erfolgreicher beruflicher Selbständigkeit gerade das erste Kriterium unhinterfragt anzuwenden: Individuelle Autonomie in einer kapitalistischen Gesellschaft wird durch gelingende selbständige Erwerbstätigkeit gefördert. Anders aber verhält es sich mit dem Kriterium der Inklusion. Hier kehren sich die Akteur_innen zunächst von gesellschaftlichen Verbänden – den Organisationen, in denen sie früher ihrer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgingen – ab, um sich alleine auf den Weg zu machen. Zu einem höheren Grad an Inklusion kommt es demnach nicht. Dennoch findet Inklusion nun in einem anderen Kontext, im sozialräumlichen Kontext und auf einer gesellschaftlichen Makroebene statt. Die Selbständigen können nun gleichberechtigter – durch die Schaffung eigener Räume mit den eigenen Regeln alltäglicher Scripts – Werte verhandeln. Eine zweite normative Paradoxie liegt jedoch genau in diesem Umweg über die Selbständigkeit, sind es doch gerade die gesellschaftlich Benachteiligten, für die der Staat hier keine Unterstützung anbietet. Genau solche Unterstützungen in Form von öffentlichen Förderungen wären aber ein Merkmal gesellschaftlicher Inklusion (Reich 2012). Im hier erörterten Beispiel der Alpstadter Unternehmer_innen sind es aber sie selbst, die ohne Absicherung den unsicheren Weg der Selbständigkeit einschlagen müssen, um so zu einem höheren Grad an gesellschaftlicher Inklusion beizutragen. Die Ressourcen, die ihnen dabei zur Verfügung stehen, sind häufig die Familie oder enge Freund_innen, ersparte finanzielle Mittel oder Kredite und Bildungs-

10 Der Begriff wird hier im Sinne einer normativen Paradoxie in Anlehnung an Honneth und Sutterlüty (2011) geführt. Die Autoren führen vier Spielarten solcher normativen Paradoxien an. Die hier angeführten Beispiele können am besten mit dem sogenannten „paradoxalen Umschlag“ beschrieben werden. Dieser besagt, „dass die einer gesellschaftlichen Entwicklung zugrundeliegende normative Idee selbst pervertiert wird. Die Norm verschleißt sich durch die Reibung an den gesellschaftlichen Realitäten ihres Geltungsbereichs auf eine Weise, dass ihr Gehalt verzerrt oder vollständig auf den Kopf gestellt wird.“ (Ebd.: 79)

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zertifikate (in erster Linie sind dies Ausbildungen, Meistertitel oder Weiterbildungen bei einschlägigen Wirtschaftsinstitutionen). Auch Deutschkurse und in einem Fall ein betriebswirtschaftliches Studium werden in den Interviews genannt. Wenn die Frage danach gestellt wird, ob es sich beim Handeln der Akteur_innen um Anerkennungskämpfe, womöglich sogar um erfolgreiche Kämpfe um Anerkennung handelt, genügt es wie gesagt nicht, spezifische gesellschaftliche Benachteiligungen kombiniert mit einem Unbehagen der Betroffenen als alleiniges Kriterium heranzuziehen. Wenn überhaupt von Anerkennungskämpfen ausgegangen werden soll, liegt die Nagelprobe letzten Endes in der Frage: Hat sich die gesellschaftliche Struktur geändert? Mit Bourdieu argumentiert hieße das: Hat sich die Logik der Felder, in denen die hier interviewten Unternehmer_innen aktiv sind, geändert? Zunächst muss klargestellt werden, dass die meisten der Interviewten nicht ihr angestammtes berufliches Feld verlassen haben, sondern vielmehr innerhalb ihres Feldes aufgestiegen sind. Ein Beispiel soll dies erläutern11. Herr Aydın machte in der Türkei eine Ausbildung zum Schneider, arbeitete nach seiner Flucht nach Österreich schwarz in einer Änderungsschneiderei und machte sich später selbständig. Er versuchte, gemeinsam mit seiner Frau, eine zweite Niederlassung zu öffnen. Er verließ also nicht seinen beruflichen Bereich, sondern stieg innerhalb der Hierarchie seines Feldes auf. Trägt er zur Veränderung des Feldes bei? Wenn diese Frage bejaht werden kann, so ist eine Bedingung für einen erfolgreichen Kampf um Anerkennung erfüllt. Oben wurde schon argumentiert, dass zwischen einer Milieu- und einer Feldlogik unterschieden werden soll, die das Handeln bestimmen. In Bourdieus Verständnis ist jeder Mensch Teil von zumindest einem Feld und gleichzeitig von einer sozialen Klasse. Durch den Aufstieg im Feld schaffen es die Unternehmer_innen, die alltäglichen Scripts im kommunikativen Umgang zwischen Teilnehmenden am Feld – seien dies Kolleg_innen, Konkurrent_innen, Kund_innen oder Gäste – zu dominieren. Waren sie vorher als Angestellte den vorherrschenden Scripts mehr oder weniger ausgeliefert, so sind es nun sie, die im eigenen Geschäft maßgeblichen Einfluss auf die Regeln der Scripts nehmen. Dadurch können sie Merkmale, die Bestandteil eines Milieus sind, auf die im Feld gängigen Scripts übertragen – welchem Milieu auch immer sie (vielleicht: unter anderen) angehören. Dies hat zur Folge, dass im eigenen Unternehmen Alltagsrassismus unterlaufen werden kann. So argumentiert lässt sich behaupten, dass die Unternehmer_innen die Felder – also Teile der gesellschaftlichen Struktur – verändern. Die Veränderung von Feldern ist, folgt man Bourdieu,

11 Da es sich um das beispielhafte Durchbuchstabieren des Werdegangs von Klein-, höchstens mittleren Unternehmer_innen handelt, wird auf eine weitere Differenzierung verzichtet. Diese wäre nötig, wenn größere Betriebe berücksichtigt würden.

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an sich nichts Ungewöhnliches, denn das „Feld ist ein Ort von Kräfte- und nicht nur von Sinnverhältnissen und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse, und folglich ein Ort des permanenten Wandels“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 134 f.). Hier steht eher die Frage im Mittelpunkt, wie sich die Felder durch die Teilhabe der Unternehmer_innen mit Migrationserfahrungen verändern. Diese Frage kann so beantwortet werden, dass sie, allein durch ihre Teilhabe und der Wertschätzung, die ihnen als Unternehmer_innen entgegengebracht wird, zu einer größeren gesellschaftlichen Ausdifferenzierung beitragen. Dass dies nicht immer gelingt, zeigen Beispiele alltagsrassistischer Erfahrungen, von denen einzelne Interviewpartner_innen berichten. Diese lassen sich unterscheiden in solche Erfahrungen, die im Beruf stattfinden, und in solche, die in einem anderen Bereich auftreten. In den Erzählungen der Interviewpartner_innen ist besonders auffällig, dass diejenigen Rassismuserfahrungen überwiegen, die sie in anderen Bereichen machen: in der lebensweltlichen Umgebung, in der Schule des Kindes, im Verein. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sprechen nicht dafür, dass sich die Erfolge im beruflichen Feld auf andere Sphären übertragen ließen. Einige sprechen auch von Diskriminierungserfahrungen im beruflichen Alltag als Selbständige (Herr Aydın, der vom unangemessenen Verhalten von österreichischen Kundinnen berichtet; Herr Bilge, der von der Behörde keine Genehmigung für einen guten Platz des Kebab-Standes bekam; Herr Ercan, der an der Grenze nach Deutschland ständig von den Beamten kontrolliert und abschätzig behandelt wird). Bei Frau Şen, die ihre Hijab-Mode in der Auslage an einer Alpstadter Hauptstraße ausstellt, führt sogar erst die berufliche Tätigkeit zu Situationen, die die Gefahr des rassistischen Übergriffs herbeiführen. Nun ist dies für die Betroffenen natürlich keineswegs angenehm, immerhin lässt es aber eine Interpretation zu, nach der gerade die Gefahr der rassistischen Behandlung, der sich die Betroffene aussetzt, eine Wirkung auf die gesellschaftliche Struktur hat. Auch in diesem Fall kann also ihre Handlung als Kampf um Anerkennung bezeichnet werden. Wie schon bei Herrn Güçlü und Herrn Kaya, die sich als Selbständige in nicht-beruflichen Bereichen nicht wertgeschätzt fühlten, kommt in den Beispielen von Herrn Bilge junior/senior, Herrn Ercan und Frau Şen wieder zum Tragen, dass es gerade die Selbständigkeit ist, die erst den Mangel an Anerkennung verstärkt. Konstatiert wurde also, dass die Kämpfe (zum Teil) erfolgreich waren, weil die Kämpfer_innen Dominanz über die alltäglichen kommunikativen Regelwerke – die Scripts – erhielten. Bekommen sie aber auch Anerkennung? Oder: Bekommen sie mehr Anerkennung? Diese Unterscheidung in eine kategoriale Antwort (Anerkennung ja oder nein) und in eine graduelle Antwort (mehr Anerkennung) macht Appiah (2011: 29-36 und 233 f.), wenn er zwischen zwei Formen von Anerkennung unterscheidet: Die eine nennt er Wertschätzungsrespekt, die andere

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Anerkennungsrespekt. Wertschätzungsrespekt wird aufgrund einer Leistung zugebilligt und fällt – je nach Leistung – unterschiedlich hoch aus. Grundlage bildet demzufolge ein hierarchisches System und die Beteiligten werden in die Hierarchie eingeordnet. Ein Beispiel stellen sportliche Wettkämpfe dar, bei denen die Goldmedaillengewinnerin mehr Wertschätzung erfährt als der Silbermedaillengewinner. Demgegenüber kennt Anerkennungsrespekt keine graduelle Abstufung. Er wird, gleich der Würde, zugebilligt oder nicht zugebilligt. Kriterium dafür ist die Teilhabe an einer gesellschaftlichen Gruppe, die innerhalb eines gesellschaftlichen Normensystems als respektvoll erachtet wird. Ein Beispiel, das Appiah nennt, sind englische Gentlemen. Ein Mann, der dieser Gruppe angehört und sich so regelkonform verhält, dass er Teil der Gruppe bleibt, erfährt Anerkennungsrespekt. Das gruppenspezifische Verhalten selbst muss dabei keinesfalls würdevoll sein. Wesentlich ist, dass Anerkennungsrespekt innerhalb der Gruppe zwischen den Mitgliedern unhinterfragt gewährt wird (solange sie sich regelkonform verhalten) und dass die Gruppe gesellschaftlich anerkannt ist. Wird die Anerkennung von außen hinterfragt, so steht der Anerkennungsrespekt aller Gruppenmitglieder auf dem Spiel. In Appiahs Beispiel ist es das Duell als gruppenspezifische Handlungsform, die von außen kritisiert wird und irgendwann die ganze Gruppe in ihrer Ehrenhaftigkeit so sehr bedroht, dass sie sich gegen das Ritual entscheidet, um weiterhin gesellschaftlichen Anerkennungsrespekt gezollt zu bekommen. Folgt man Appiahs Unterscheidung in Wertschätzungsrespekt und Anerkennungsrespekt, so fällt im modernen, meritokratischen, kapitalistischen System die Leistung im Beruf in den Bereich des Wertschätzungsrespekts. Das korrespondiert mit Honneths Anerkennungsdimension der sozialen Wertschätzung, bei der es letztlich auch darum geht, wie Leistung entgolten wird. Viele der Interviewpartner_innen sagen, dass sie für ihre Leistung mehr Geld erwarteten und dies ein Grund (unter anderen) war, sich für die Selbständigkeit zu entscheiden (Herr Aydın, Herr Bilge junior und senior, Herr Çoban). Für andere war Sicherheit ein zentrales Motiv (Herr Deniz, Herr Güçlü, Herr Kaya). Auf dieser individuellen Ebene kann sicher bei allen Interviewpartner_innen gesagt werden, dass die graduelle Form von Anerkennung relevant ist, entweder weil sie in der Selbständigkeit mehr Geld für gleiche Leistung bekommen oder weil sie nun über einen höheren Grad an beruflicher Sicherheit verfügen. Aber auch wenn sie nicht erfolgreich in ihrem Streben waren (Herr Bilge junior und senior), so sind die Bewertungsmaßstäbe doch dieselben. Herr Bilge junior verspürt wenig Wertschätzungsrespekt, weil er weniger Geld verdient, als er erhoffte. Anders stellt sich die Lage dort dar, wo es um Anerkennungsrespekt geht. In Honneths Systematisierung wäre dieser in erster Linie in der Anerkennungsdimension des Rechts zu finden. Hier erfährt der/die Einzelne durch seine bzw. ihre

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Zugehörigkeit zu einem rechtlichen Geltungsbereich (z.B. einem Staat) Anerkennung. Sie gilt unabhängig von der Person oder ihrer Leistung und sie gilt für alle gleich. Für diejenigen, die nicht Teil des Geltungsbereichs sind, gilt sie dagegen nicht (dies gilt auch für einzelne Rechte innerhalb eines Geltungsbereichs, z.B. das Recht zu wählen). Hier soll diese Form des Respektes nun aber auf die Anerkennungsdimension sozialer Wertschätzung übertragen werden. Die Selbständigen erwarten – manchmal explizit, manchmal implizit –, dass sie als Selbständige gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Dafür, dass sie sich als Mitglieder einer solchen Statusgruppe erleben, spricht der Kanon an Werten, den sie teilen (Risikobereitschaft, Leistung, Verantwortung usw.), und die Solidarität, die es zwischen einzelnen Branchenteilnehmer_innen gibt (wechselseitige Besuche von Gastronom_innen, Frau Sarı; Austauschen seltener Glassorten, Herr Güçlü). Der Status scheint innerhalb der Gruppe der Selbständigen auch nicht hinterfragt zu werden. Kein Interviewpartner, keine Interviewpartnerin berichtet darüber, dass er oder sie als „türkischer Selbständiger“ bzw. „türkische Selbständige“ unter der Gesamtgruppe der Selbständigen keine Anerkennung erfahre, wie auch ihre Erzählungen über Begegnungen mit anderen Selbständigen, beispielsweise bei Messebesuchen oder bei gegenseitigen Besuchen von Gastronomen, illustrieren. Aber fast alle haben die Erwartung, auch in anderen, nicht beruflich gerahmten Kontexten die Hochachtung oder den Anerkennungsrespekt zu erfahren, den sie als erfolgreiche Geschäftsleute als legitim erachten. Hier wirken mitunter aber ethnisierende Labels stigmatisierend, wie die Erzählungen über Diskriminierungserfahrungen im Alltag zeigen, die außerhalb der ökonomischen Sphäre liegen. Sie erfahren nun aber trotzdem oder gerade weil sie sich in die Selbständigkeit begaben (Stichwort Hijab-Mode in der Auslage) keine Anerkennung. In Bezug auf die Anerkennungstheorie, wie Honneth sie in „Kampf um Anerkennung“ beschreibt, ergibt sich nun aber eine zentrale Veränderung. Honneth unterscheidet ebenfalls zwischen kategorialer und gradueller Anerkennung. Die kategoriale Form kommt, wie bereits erwähnt, im Bereich des Rechts zum Tragen. Im Bereich sozialer Wertschätzung ist es die graduelle Form. „Von der Anerkennung der Person als solcher unterscheidet sich nun die Wertschätzung eines Menschen vor allem dadurch, daß es in ihr nicht um die empirische Anwendung allgemeiner, intuitiv gewußter Normen geht, sondern um die graduelle Bewertung konkreter Eigenschaften und Fähigkeiten; daher setzt sie auch stets […] ein evaluatives Bezugssystem voraus, das über den Wert solcher Persönlichkeitszüge auf einer Skala von Mehr oder Weniger, von Besser oder Schlechter informiert.“ (Honneth 1994: 183)

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Historisch leitet Honneth dies mit dem Übergang von der Ständegesellschaft zu einer modernen ausdifferenzierten Gesellschaft her. In der Ständegesellschaft war Anerkennung in ein kategoriales System eingebunden, ähnlich wie in Appiahs Beispiel der Gentlemen. Ehre und Würde wurden in der Form und in dem Maß zugemessen, wie sie dem Anspruch der ganzen Standesgruppe entsprachen: „innerhalb der Statusgruppen können sich die Subjekte wechselseitig als Personen wertschätzen, die aufgrund der gemeinsamen Soziallage Eigenschaften und Fähigkeiten teilen, denen auf der gesellschaftlichen Werteskala ein bestimmtes Maß an sozialem Ansehen zukommt; zwischen den Statusgruppen bestehen Beziehungen hierarchisch gestaffelter Wertschätzung, die es den Gesellschaftsmitgliedern untereinander erlauben, am jeweils standesfremden Subjekt Eigenschaften und Fähigkeiten zu schätzen, die in einem kulturell vorbestimmten Maß zur Verwirklichung gemeinsam geteilter Werte beitragen.“ (Ebd.: 200)

Diese Formen „kollektiver Ehre“ (ebd.: 208) gingen mit „symmetrischer Wertschätzung“ (ebd.) einher, deren Grundlage darin liegt, dass die Mitglieder einer Gruppe sich allein durch ihre Zugehörigkeit alle in gleichem Maße wertgeschätzt wissen. Individualisiert und abgestuft wurde die Verleihung von Würde schließlich mit den neuen Verhältnissen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Damit einher ging der Verlust fest umrissener Statusgruppen. „In diesen historischen Zusammenhang fällt der Prozeß, in dem sich der Begriff der sozialen Ehre allmählich zu dem des sozialen Prestiges ausdünnt.“ (Ebd.: 203) Die Kehrseite der Selbstwahrnehmung der Unternehmer_innen als Zugehörige einer Statusgruppe zeigt sich dann in den Beispielen verletzter Würde, die in diskriminierenden Erlebnissen zum Tragen kommt. Sie wirken für die Betroffenen gerade aufgrund ihres Selbstverständnisses als erfolgreiche Geschäftsleute oder als selbständige Handwerker stigmatisierend, da sie sich in ihrer aktualen sozialen Identität als Selbständige durch ihr Gegenüber ausgegrenzt fühlen. Man könnte sagen, dass hier ein ständischer Mechanismus zur Anwendung kommt, der aber in alltäglichen Begegnungen – außerhalb der ökonomischen Sphäre – nicht aufgeht.

7 Sozialer Kampf, Status und Stigma

Das folgende Kapitel fasst die einzelnen Schritte der Studie und ihre zentralen Ergebnisse zusammen. Die Fragestellungen, denen die Arbeit folgte, betreffen Bildungsprozesse von Unternehmer_innen türkischer Herkunft. Waren die beruflichen Neuorientierungen von ehemals unselbständig Erwerbstätigen, die sich dann für die Selbständigkeit entschieden, begleitet von Transformationen ihrer Selbst- und Weltverhältnisse, lautete eine zentrale Frage. Diese Transformationen sollten als eingebettet in gesellschaftliche Bedingungen verstanden werden und so lautete eine weitere Frage, auf welche Weise individuelle und gesellschaftliche Veränderungen wechselwirken. Schließlich sollte ein normativer Rahmen genannt werden, der es erlaubt, die Prozesse danach zu bewerten, ob sie – auf individueller Ebene – zu einem gelingenderen Selbst und – auf gesellschaftlicher Ebene – zu einer integrierteren Gesellschaft beitragen. Der Blickwinkel folgte dabei dem Paradigma einer postmigrantischen Gesellschaft, dessen Anspruch es ist, tradierte, vereinfachende, oft stereotypisierende Vorstellungen von gesellschaftlichen Verhältnissen aufzulösen. In Kapitel 2 wurden zunächst Daten und Studien zu den Themen Arbeitsmarkt und Selbständigkeit ausgewertet, die die Gruppe der in Mittelösterreich lebenden und in der Türkei geborenen Personen betreffen. Dabei konnte gezeigt werden, dass eine große Kluft zwischen dem mittelösterreichischen Durchschnitt und der betroffenen Personengruppe herrscht. Diese kann historisch aus der spezifischen Wanderungsgeschichte erklärt werden, in der heutigen Situation aber liegen die Hauptursachen in einer anhaltenden strukturellen Benachteiligung und mitunter in Diskriminierung. Diese Ergebnisse stellten eine Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit der Fragestellung dar, da sie den strukturellen Hintergrund für missachtete Anerkennung bilden. Im Anschluss wurden in einer Literaturanalyse Studien ausgewertet, die sich mit migrantischem Unternehmertum befassen. Von diesen Studien gibt es einige, was dem Umstand zugeschrieben werden kann, dass

262 | Status und Stigma

es immer mehr migrantische Unternehmen gibt und sie eine zunehmende Bedeutung für den Arbeitsmarkt bekommen. Was den Begriff des migrantischen Unternehmertums betrifft, so scheint dieser ein Stück weit rassistisch aufgeladen, weil er die Selbständigen immer wieder auf ihre ethnisch-nationalen oder kulturell-religiösen Eigenschaften zurückwirft. Einige Studien stellen diese Merkmale dagegen als Labels heraus, die von einer Mehrheitsgesellschaft etabliert werden und damit zur rassistischen Ausgrenzung führen. In diesem Sinne wurde in der vorliegenden Arbeit die Entscheidung getroffen, von „Alpstadter Unternehmer_innen“ zu reden und dann zu klären, ob es andere Gemeinsamkeiten außer dem beruflichen Status gibt – sei es ein gemeinsames kulturelles Verständnis, sei es die gemeinsame Erfahrung, von einer dominierenden Gruppe rassistisch ausgegrenzt zu werden. Ein weiterer Kritikpunkt an weiten Teilen der Literatur zum Thema liegt in der wenig fundierten Unterscheidung zweier Hauptmotive, die zur Selbständigkeit von Migrant_innen führen. Diese sind mit den Schlagworten „Ökonomie der Not“ und „Unternehmertyp“ beschrieben worden. In Kapitel 3 konnte anhand der gewählten Bildungstheorien eine Unterscheidung getroffen werden, die die beiden Typen auf unterschiedlichen Ebenen ansiedelt. Die Ökonomie der Not ergibt sich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen. Der Unternehmertyp betrifft das Individuum, ist allerdings nicht angeboren, wie es in der angeführten Literatur oft heißt, sondern das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses.

BILDUNG UND GESELLSCHAFT In Kapitel 3 wurde die theoretische Fassung der Arbeit ausgebreitet. Sie stützt sich auf drei Eckpfeiler: 1. 2. 3.

Bildungstheorie in Anlehnung an Dewey (in Oelkers 2011), Anerkennungstheorie nach Honneth (1994) als Theorie gesellschaftlicher Entwicklung, Fragen der Zugehörigkeiten und Identitäten (Emcke 2010, Goffman 1975, Terkessidis 2004 und Bukow/Llaroyra 1988).

Die Hauptleistung stellte dann die Verknüpfung der auf individuelle Entwicklungen abzielenden Bildungstheorie mit einer Theorie gesellschaftlicher Entwicklung dar, die es erlauben sollte, die beiden Ebenen aufeinander zu beziehen. Mit Deweys Erfahrungslernen, angereichert und aktualisiert um einige jüngere bildungstheoretische Ansätze, liegt ein Bildungsbegriff vor, der die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen im Alltag der Menschen ansiedelt. Erfahrung, die sich in der aktiven Anpassung an immer wieder neue äußere Anlässe gestaltet, ist

Sozialer Kampf, Status und Stigma | 263

es, die immer wieder neue Selbstverhältnisse hervorbringt. In der Begegnung zwischen Einzelnen und sozialen Gruppen liegt dann die Erneuerung von Welthorizonten, die gleichzeitig – durch das sich immer offener gestaltende Miteinander – eine demokratische Entwicklung voranbringt. Damit ist ein Ansatz gegeben, der demokratische Entwicklung normativ als ergebnisoffen begreift und der sein normatives Ziel in die Ermöglichung immer weiterer Kreise der Begegnung unterschiedlicher Gruppen legt. Die Grundlagen der Anerkennungstheorie ähneln diesem Rahmen und passen damit ideal zum Dewey’schen Bildungsverständnis. Die Perspektive der Verhandlung von Veränderung bei Honneth ist allerdings die moderne liberaldemokratische Gesellschaft. Honneth beschreibt gesellschaftliche Entwicklung ausgehend von drei grundlegenden Formen der Anerkennung – Liebe, Recht und soziale Wertschätzung –, um deren Gewährung die Individuen idealerweise bestrebt sind zu kämpfen. Honneths Verständnis von Entwicklung ist daher ebenfalls nicht direktiv, sondern angesiedelt im permanenten Streben nach Anerkennung, das die moderne Gesellschaft ununterbrochen begleitet. Der Bewertungsmaßstab liegt im Grad an sozialer Integration, deren zwei Bestandteile individuelle Autonomie und Inklusion sind. Durch die Verknüpfung der beiden Perspektiven – Individuum und Gesellschaft – können Bildungsprozesse und gesellschaftliche Entwicklung als ineinander verschränkt betrachtet werden. Da beide Ansätze die Dynamiken der Gruppengenese und der Ausprägung von Gruppen mit Merkmalen nicht genügend mitdenken, wurde hier eine weitere Perspektive eingebracht. Gruppen wurden als teils rational zusammengesetzt verstanden – aufbauend auf Interessen ihrer Mitglieder –, teilweise sind sie angeboren, teilweise haben aber auch Fremdzuweisungen und Fremdzuschreibungen einen wesentlichen Einfluss auf die Generierung von Gruppen oder auf ihre Ausgestaltung. Dieser Punkt ist gerade im Kontext einer Migrationsgesellschaft wichtig, weil hier Minderheitengruppen permanent Labelingprozessen unterliegen, die selbst eine Form missachteter Anerkennung darstellen können. Kapitel 4 schließlich diente der Darlegung und Fundierung des empirischen Forschungsteils. Hier wurden die Begriffe Biografie und bildungstheoretische Biografieforschung diskutiert. Eine Auswertungsmethode wurde erarbeitet, die es erlaubte, Biografien auf Bildungsprozesse hin zu interpretieren. Hier floss die Analyse von rhetorischen Figuren, von Differenzlinien und von Dynamiken, die der Interviewsituation selbst zugrunde liegen, ein.

264 | Status und Stigma

TRANSFORMATION VON SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSEN In Kapitel 5 wurden zunächst die zwölf Interviewpartner_innen vorgestellt. Anschließend erfolgte eine zusammenfassende Inhaltsanalyse, die die Motive für die Entscheidungen zur Selbständigkeit ermitteln sollte. In einer Überblickstabelle konnten diese Motive aufgelistet werden. Auch in der empirischen Untersuchung wurde nun deutlich, dass Motive, die einer Not entspringen und intrinsische Motive, die in der Literatur häufig mit „Unternehmertyp“ umschrieben werden, einander nicht ausschließen. Vielmehr kommen bei fast allen Interviewpartner_innen Nöte – beispielsweise Arbeitslosigkeit, Dequalifizierung, wirtschaftliche oder rechtliche Unsicherheit – vor, die aber stets von intrinsischen Motiven begleitet waren: Die gute Geschäftsidee oder der Ehrgeiz, sich beruflich zu entwickeln, gesellen sich zur guten Gelegenheit oder zu einem Umfeld, das die Umsetzung motivierend unterstützt. Die Nöte sind häufig gleichzeitig kollektive Formen von missachteter Anerkennung, denn sie betreffen, wie schon in Kapitel 2 gezeigt werden konnte, türkisch codierte Personen in besonderem Maße. Diese Personengruppe ist überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit oder Dequalifizierung betroffen und sie erleidet besonders häufig Diskriminierung im Bereich der Erwerbstätigkeit. Zwei Ergebnisse sind besonders relevant: (1.) Es konnte gezeigt werden, dass viele Motive als Formen missachteter Anerkennung bezeichnet werden können, eben weil sie kollektiven Nöten entspringen, aber auch weil sich latent ein Unrechtsgefühl oder ein Unbehagen bei den Betroffenen zeigte. Die Betroffenen artikulierten in keinem Fall explizit die Not, sie empörten sich nicht darüber oder gaben an, mit ihrer Selbständigkeit intendiert dagegen vorgehen zu wollen. Daher sollte im Folgenden davon ausgegangen werden, dass es sich um eine (noch genauer zu beschreibende) Art des sozialen Kampfes handelt, der – mangels Artikulation – nur bedingt als Anerkennungskampf bezeichnet werden kann. (2.) Die Bildungsprozesse endeten keineswegs mit dem Eintritt in die Selbständigkeit. Diese kann lediglich als Abschnitt im Bildungsprozess bezeichnet werden. Die folgenden Erfahrungen prägen aber weiterhin das Handeln der Protagonist_innen. Das heißt für die folgende Analyse, dass die unmittelbare Bewältigung einer Krise durch den Gang in die Selbständigkeit eine Etappe des sozialen Kampfs darstellt. Dieser tritt danach, aufgrund der neuen Erfahrungen der nun Selbständigen, in seine nächste Phase (Abbildung 11). Diese Ergebnisse bildeten die Grundlage für die weiteren Auswertungsschritte in Kapitel 6. Dort wurden zunächst solche Erählungen vorgestellt, bei denen es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass Bildungsprozesse vorliegen. Das schließt

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aber nicht aus, dass die Motive, die zur Selbständigkeit geführt haben, nicht doch gleichzeitig Anerkennungsdefizite sind. Dies war der Anknüpfungspunkt für die weitere Untersuchung. Einerseits kann es im Zuge der Entscheidungen zur Selbständigkeit per definitionem keine sozialen Kämpfe im Sinne der Anerkennungstheorie geben, da diese die Artikulation voraussetzen, andererseits sollte aber noch nicht vorschnell die Idee aufgegeben werden, dass es sich bei den Handlungen und Strategien der Interviewpartner_innen nicht doch um irgendeine Form des sozialen Kampfes handelt. Die weiteren Fallbeispiele, die einer detaillierteren Interpretation unterzogen wurden, waren dann solche, in denen sich Bildungsprozesse nachzeichnen lassen. Diese wurden auf ihre inhaltlichen Ausgestaltungen und auf ihren potentiellen Gehalt eines Kampfes um Anerkennung hin untersucht. Abbildung 11: Berufliche Entwicklung und Bildungsprozesse. Eigene Darstellung. (Krisenhafter) Einschnitt Zunehmende Empörung über Diskriminierungserfahrungen (neue) Diskriminierungserfahrungen

Unselbständige Erwerbstätigkeit

Selbständigkeit

Analytisch ist dabei zu trennen in 

 

die Transformation von Selbstverhältnissen und die Transformation von Weltverhältnissen, die sich auf die erste Forschungsfrage nach Bildungsprozessen beziehen, Wechselwirkungen der Bildungsprozesse mit gesellschaftlicher Veränderung, die die zweite Forschungsfrage betreffen, und den Bildungsverlauf während der Selbständigkeit bis zur aktuellen Situation der Unternehmer_innen, der die Ergebnisse der ersten beiden Prozesse zusammenfasst.

Was die Transformation von Selbstverhältnissen betrifft, so lässt sich schwerlich eine verallgemeinernde Aussage treffen, zu individuell gestalten sich die Werdegänge der einzelnen Interviewten. Anhand des Beispiels des Schneiders Herrn

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Aydın konnte die große Bedeutung der beruflichen Entwicklung auf sein „Positivwerden“ nachvollzogen werden. Im Falle des Kfz-Werkstattinhabers Herr Memiş und den Fleischern Herrn Bilge junior und senior verliefen die Bildungsprozesse näher an Prozessen der Raumaneignung. Der Raum ist hier häufig eine Metapher für den Platz der Akteur_innen in der Gesellschaft und ihr Gefühl des Integriertseins orientiert sich am Raum, der ihnen zur Verfügung steht. Gerade das Beispiel um den Kfz-Werkstattbesitzer Herrn Memiş zeigte, wie sich höheres Selbstvertrauen und größere Selbstzufriedenheit entlang immer weiterer Kreise der Raumnahme und Raum(um)deutung entwickelten. Im Fall der Boutiquebetreiberin Frau Şen verliefen sie dagegen eher im Rahmen ihrer Beziehungen zu anderen Personen. In allen Fällen betrafen diese Transformationen der Selbstverhältnisse auch die Weltverhältnisse der Protagonist_innen. Gerade die kosmopolitische Haltung ist dezidiert auf die Weltverhältnisse bezogen, da sie den Austausch mit anderen und das Interesse an anderen Lebensentwürfen fördert. Obwohl sich also keine pauschalisierenden Aussagen über die individuellen Ausgestaltungen der Selbst- und Weltverhältnisse anstellen lassen, so konnte aus den Erkenntnissen doch ein Rahmen abgeleitet werden, innerhalb dessen die Bildungsprozesse verliefen. Im Korpus konnten drei Dimensionen ausgemacht werden, die die beruflichen Veränderungen prägten: 1. 2. 3.

Interesse am Spiel (Bourdieu), Aneignung von Raum (Löw, Deinet, Braun), kosmopolitisches Handeln (Appiah).

VERÄNDERUNG GESELLSCHAFTLICHER VERHÄLTNISSE Hiermit fand gleichzeitig eine Veränderung der Perspektive hin zu den gesellschaftlichen Verhältnissen statt. Stellen auf der einen Ebene die drei Dimensionen ein Rahmenwerk dar, innerhalb dessen sich die Bildungsprozesse der Selbständigen beschreiben lassen, so handelt es sich auf Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse gleichzeitig um Strategien, die die sozialen Kämpfe gegen die Missachtung von Anerkennung ausgestalten. Die erste Strategie ist das Interesse an der beruflichen Weiterentwicklung und am beruflichen Feld. Die Konzentration auf den Kontext des beruflichen Feldes ermöglicht es den Protagonist_innen, zumindest zum Teil, Stigmatisierung, Rassismus und Ethnisierung entgegenzuwirken, denen sie in ihrem Alltag begegnen. Die zweite Strategie liegt in der Aneignung von Raum. Gemeint ist hier Raum als sozialer Raum, d.h. die Einnahme und Gestaltung eines physischen Raums, z.B.

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eines Ladenraums oder einer Werkstatt. Dies bedeutet auch gleichzeitig die Schaffung eines Raums, dessen Sinn von den Inhaber_innen selbst gedeutet werden kann, der ihnen die Deutungshoheit über das soziale Miteinander im Raum bis zu einem gewissen Grad garantiert. Die dritte Strategie schließlich ist ein weltoffener, kosmopolitischer Umgang mit Anderen. Durch ihre inter- oder transnationalen Erfahrungen bringen alle interviewten Selbständigen eine Voraussetzung für eine kosmopolitische Orientierung mit und sie können sich Stigmatisierungen entziehen, ohne sich direkt auf einen passenden, das Stigma begründenden Diskurs einzulassen. Alle drei Strategien wurden theoretisch fundiert und der Interviewkorpus wurde daraufhin ausgewertet. Das Interesse am Spiel stellt die Motivation, sich beruflich weiterzuentwickeln, ins Zentrum. Im Kern bedeutet dies, dass Menschen über eine Art natürliche Motivation verfügen – Bourdieu verwendet dafür den Begriff Libido –, die das Interesse, am Spiel teilzuhaben, ausmacht. Mit Interesse ist nicht ein rationales, bewusstes, zielgerichtetes Streben gemeint, sondern das Gegenteil von Indifferenz. Es ist verinnerlicht, mit Bourdieus Begrifflichkeit: habitualisiert und orientiert sich an den Regeln des jeweiligen Felds, in dem das „Spiel“ angelegt ist. Die Interviewpartner_innen bringen alle dieses Interesse mit. Sie haben oft Vorbilder in ihrer Familie, häufig die Eltern, die selbst selbständig tätig oder im selben Beruf tätig sind oder waren. Dadurch kennen sich die heutigen Unternehmer_innen in ihren Branchen oder mit der Selbständigkeit aus. Die meisten Interviewten verfügen zudem über Berufsausbildungen oder über höhere Abschlüsse, seien es Meistertitel oder akademische Ausbildungen. Damit ist das Sample an Interviewpartner_innen ganz und gar nicht repräsentativ, denn der Durchschnitt der Erwerbstätigen und der Selbständigen im Land Mittelösterreich verfügt über deutlich niedrigere Bildungsabschlüsse, häufig nur über einen Pflichtschulabschluss 1. Ein weiteres wesentliches Ergebnis ist, dass die Interviewten qua Interesse am Spiel sich eine eigene Sphäre schaffen können, in der sie über die kommunikative Hoheit verfügen, so dass sie dadurch ein Stück weit Diskriminierungen im – hier: eigenen – Raum und im Bereich ihrer ihnen eigenen beruflichen Expertise selbstbewusst begegnen können. Dieser Umstand verweist auf die Transformation der Weltverhältnisse, die in der Begegnung mit anderen Menschen angelegt ist. Hier sind dies Gäste, Kund_innen, andere Selbständige usw.

1

Dies kann auch daran liegen, dass Ausbildungen, die im Ausland absolviert wurden, in Österreich nicht anerkannt werden und daher als höchster Abschluss der Pflichtschulabschluss gilt.

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Die zweite Strategie ist die Aneignung sozialen Raums. Sie ist geprägt von der Raumnahme, der Ausgestaltung und Umgestaltung des Raums und der eigenen Deutung. Sie ist gleichzeitig der konkrete Austragungsort sozialer Kämpfe, was auch auf ihr Potential für Bildungsprozesse – besonders in Bezug auf die Transformationen von Weltverhältnissen – verweist. Besonders der Standort des Unternehmens in der Stadt spielt eine Rolle, denn soziale Kämpfe scheinen besonders da auf, wo neue Ideen oder neue Produkte exponiert werden. Dies zeigte der Kampf um den guten Platz für den Kebab-Stand von Herrn Bilge senior. Anderen gelang es leichter, sich einen Platz zu verschaffen, der in einer guten Lage öffentliche Aufmerksamkeit bekommt. Dort kommt es dann aber mitunter zur Furcht vor rassistischen Übergriffen, wie beim Beispiel der Inhaberin des Hijab-Modeladens. Andere Räume, wie die Kfz-Werkstatt von Herrn Memiş, liegen eher verdeckt, im Hinterhof, so dass es kaum zu dieser manifesten Form eines sozialen Kampfes kommen kann. Eine weitere Dimension des Platzes ist die metaphorische Aufladung des Begriffs, der dann den Stellenwert eines guten Platzes in der Gesellschaft einnimmt. Gerade diese Deutung macht das Ausmaß, das im sozialen Kampf um Raumnahme und -deutung liegt, sichtbar. Neben dem konkreten Ort, um dessen Gestaltung und Ausdeutung gerungen wird, ist in Sachen Sozialraum die Vernetzung von Raum relevant. In diesem Punkt zeigen sich die Interviewpartner_innen zum Teil inter- bzw. transnational. Sie haben Kontakte, die weit über den regionalen Umkreis hinausreichen, zuallererst natürlich in die Türkei, aber auch in andere Länder, in denen sie geschäftlich tätig sind oder in denen Verwandte leben. Bei dem Händler Herrn Ercan kommt dieses Phänomen besonders deutlich zum Tragen. Auch hier wird wieder sichtbar, wie sich Raumnahme – dieses Mal in Form der Grenzüberschreitung – als Hintergrund für rassistische Behandlungen gestalten kann. Für Herrn Ercan ist es nicht die Tatsache, dass er an der österreichisch-deutschen Grenze immer kontrolliert wird, die ihn verunsichert, sondern die Art, wie er behandelt wird. Er hat den Eindruck, man halte ihn für einen „dangerous man“. Die dritte Strategie steht in direktem Zusammenhang mit diesen Grenzüberschreitungen. Es ist eine kosmopolitische Haltung und ein kosmopolitisches Handeln. Diese sind geprägt von Offenheit und Toleranz gegenüber Menschen mit deren eigenen Werthaltungen. Zentral ist der Austausch und das Interesse an anderen, ohne dabei Wertekompromisse suchen zu müssen. Das Aushandeln von Werten kann in einem offenen, interessierten Austausch liegen, es kann – dies ist allerdings keine Bedingung – auch die Synthese von nun gemeinsamen Werten bewirken. Hier schließt sich auch der Kreis zur Bildung als Transformation von Weltverhältnissen. Gerade beim Kosmopolitismus wird deutlich, dass die berufliche Entwicklung direkt mit Bildung verkuppelt ist, denn gerade diese Strategie

Sozialer Kampf, Status und Stigma | 269

zeigt, inwiefern sich die Selbständigen in der offenen, interessierten Auseinandersetzung mit anderen Personen – sei es mit der Kundschaft, mit Geschäftspartner_innen oder anderen Selbständigen – nicht nur einen Geschäftsvorteil verschaffen, sondern auch ihre Welthorizonte erweitern. Gleichzeitig stellt eine kosmopolitische Orientierung eine besondere Art des Bildungsprozesses dar, weil hier Form und Inhalt des Prozesses zusammenfallen: Als Wesensmerkmal eines Bildungsprozesses wurde in Kapitel 3 ausgewiesen, dass es das Miteinander verschiedener sozialer Gruppen fördert. Genau dies ist durch eine stärkere Hinwendung zu einer kosmopolitischen Haltung gegeben. Gleichzeitig stellt sie eine Strategie wider die Stigmatisierung dar, indem sich die Akteur_innen nicht gegen begrenzende Zuschreibungen wenden, sondern sich ihnen strategisch entziehen. Die Voraussetzungen für ein gelingendes kosmopolitisches Handeln stellen die beiden zuvor genannten Strategien dar: Ohne die erfolgreiche Beteiligung am ökonomischen Feld und ohne gelungene Raumaneignung lässt sich eine kosmopolitische Haltung kaum in die Tat umsetzen. So lässt sich auch zusammenfassend sagen, dass die drei Strategien aufeinander aufbauen. Voraussetzung und gleichzeitig Medium für Raumnahme ist das ausgeprägte Interesse am Spiel, ohne das die berufliche Entwicklung gar nicht denkbar wäre. Raumaneignung ist dann derjenige Teil des Kampfes, bei dem die Grundlage für den gleichwertigen Austausch mit Vertreter_innen der gesellschaftlichen Mehrheit geschaffen wird. Hier kann über die Regeln der Scripts verhandelt werden. Die kosmopolitische Haltung, die sich im eigenen Raum realisieren lässt, ist dann eine mögliche Lösung für den Umgang mit diskriminierenden Erfahrungen. Gleichzeitig haben alle drei Strategien lokale und globale Bezüge. Beim Raum wird dies besonders deutlich, denn er ist immer an die Aneignung eines konkreten Ortes gebunden, gleichzeitig ist jeder konkrete Ort Teil eines Netzwerks, das über Grenzen hinausreicht, seien es städtische, regionale oder nationale. Auch im kosmopolitischen Umgang mit Menschen gibt es einen lokalen Bezug – dies ist der Ort, an dem sich Menschen austauschen – und einen globalen Rahmen – dies sind die Erfahrungen, die unterschiedliche Menschen in ihre Begegnungen einbringen. Aus postmigrantischer Perspektive lässt sich die Verbindung von Lokalem und Globalen folgendermaßen zusammenfassen: „Die Öffnung des Lokalen zur Welt lässt traditionelle kulturelle Zugehörigkeiten fraglich erscheinen, ermöglicht potentiell hybride Kombinationen in allen Teilen der Welt und lässt neuen Differenzen und marginalisierte Wissensarten zu Tage treten.“ (Yildiz 2011b: 140)

In der Argumentation um das Pro und Contra von sozialen Kämpfen ergab sich nun freilich eine Verschiebung: Nun waren nicht mehr allein die Begleitumstände

270 | Status und Stigma

bei der Unternehmensgründung relevant, sondern auch die Erfahrungen, die danach, während der Selbständigkeit, erfolgten. Alle drei Strategien sprechen dafür, dass man von einer Art von sozialem Kampf oder von einem Kampf um Anerkennung reden kann, geht es dabei doch um die Überwindung von erlittenen Missachtungen von Anerkennung. Allerdings verdichtet sich der Kampf im Laufe der Selbständigkeit, denn erst hier werden den Betroffenen Ausgrenzungserfahrungen deutlicher bewusst oder sie machen sie überhaupt erst anlässlich der Selbständigkeit. Zu einem kollektiven Einsetzen gegen diese Erfahrungen kommt es allerdings noch immer nicht. Dies kann damit erklärt werden, dass sich die Protagonist_innen selbst nicht als Kollektiv verstehen. Einige sind institutionell an ein muslimisch-religiöses Leben angeschlossen, einige sind in einem dezidiert nichtreligiös orientieren, türkischen Kulturverein aktiv, wieder andere haben keinen institutionalisierten Anschluss an irgendwelche Verbände. Einen türkischen Unternehmerverband, der ein kollektives Vorgehen gegen Diskriminierung koordinieren könnte, gibt es nicht in Alpstadt2.

AKTUELLE SITUATION Dennoch zeigen die Einzelkämpfe eine strukturelle Auswirkung. Im Verständnis der Anerkennungstheorie sind die Bewertungsmaßstäbe für gelungene Anerkennungskämpfe eine erweiterte individuelle Autonomie und ein höherer Grad an gesellschaftlicher Inklusion. Der erste Punkt ist – im Falle, dass die Geschäfte gut laufen – ohne Zweifel gegeben. Die meisten Beteiligten berichten davon, dass sie mit ihrer Situation zufrieden seien. Dies liegt daran, dass sie über mehr Geld verfügen, dass ihnen die neue berufliche Situation sicherer erscheint als die frühere oder, ganz allgemein, dass sie sich mit ihrem Status als Selbständige „positiv“ fühlen. Aber auch Inklusion wird durch die Abfolge der drei Handlungsstrategien, die in kosmopolitischem Handeln gipfeln, gefördert. Dies gilt besonders deshalb,

2

In Wien gibt es den „Verband österreichischer und türkischer Unternehmer und Industrieller“ (ATIS), allerdings verfügt seine Satzung über keinen Passus, der sich gegen die Diskriminierung seiner Mitglieder richten würde. Dagegen zeigt er sich in § 2 (5) ausgesprochen kosmopolitisch, wo es heißt: „Pflege und Förderung der internationalen Beziehungen zwischen österreichisch-türkischen Unternehmern und Unternehmer anderer Nationalitäten im Sinne des Erfahrungsaustausches und der Völkerverständigung mit dem Ziel, ein positives Zusammenwirken aller geistigen Kräfte zu erreichen.“ Vgl. http://www.atis-austria.com/de/atis/statuten [25.04.2016].

Sozialer Kampf, Status und Stigma | 271

weil die Selbständigen in ihren eigenen Räumen, vor dem Hintergrund ihrer ausgeprägten beruflichen Expertise die Hoheit über die Scrips alltäglicher Kommunikation haben und so gleichzeitig wider eine rassistische Behandlung agieren können. Man könnte zum Schluss kommen: Es gibt keine offen artikulierten Anerkennungskämpfe, aber diese haben Erfolg. Eine mögliche Erklärung für solche gesellschaftlichen Dynamiken, bei denen Menschen etwas bewirken, obwohl sie sich nicht kollektiv organisieren und obwohl sie Absichten verfolgen, die mit den Resultaten wenig zu tun haben, liefert Schimank (2007). Er redet da von Transintentionalität, wo es „um Akteurkonstellationen [geht], in denen keiner der Beteiligten mit seinem Handeln strukturbezogene Gestaltungsabsichten verbindet. Dass das handelnde Zusammenwirken der Akteure bestimmte soziale Strukturen aufbaut, aufrechterhält oder verändert, sind vielmehr Neben- und Fernwirkungen. Insofern liegt Transintentionalität der Struktureffekte ganz einfach deshalb vor, weil die Intentionen der Akteure auf Anderes, für sie jeweils näheres gerichtet waren.“ (Schimank 2007: 185)

Ganz hinreichend ist aber auch diese Erklärung nicht, denn – das zeigen die nuancierten Ergebnisse der Auswertung von Bildungsprozessen – die Motivationen der Selbständigen speisen sich eben auch aus einem latenten Unrechtsempfinden gegenüber strukturellen Benachteiligungen und ihr Agieren ist genau darauf ausgerichtet, diesen beizukommen. Nun ist die Beobachtung, dass es zu Veränderungen zugunsten einer weniger rassistischen Gesellschaft kommt, wünschenswert, wenn man mit der Anerkennungstheorie als normativem Rahmen argumentiert. Eine Paradoxie liegt allerdings darin, dass es gerade die strukturell Benachteiligten und von Diskriminierung Betroffenen selbst sind, die sich auf den risikoreichen Weg in die Selbständigkeit machen müssen und dadurch für einen höheren gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen. Sie verhelfen der Gesellschaft also zu einem höheren Grad an Inklusion, obwohl und gerade weil sie selbst Betroffene von Exklusion sind. Dass darin eine Paradoxie liegt, wird umso deutlicher, wenn man Inklusion nicht als analytischen Rahmen heranzieht, sondern als Inklusionsprojekt, bei dem die Gesellschaft genau denjenigen, die exklusionsgefährdet sind, Ressourcen und Unterstützung zukommen lassen muss, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern (Reich 2012). Eine zweite Paradoxie liegt in der Beobachtung, dass es gerade im Falle eines erfolgreichen Kampfes zu neuen Formen der Missachtung kommt. (1.) Zum einen

272 | Status und Stigma

gibt es neue Formen der Diskriminierung, die gerade aus der Selbständigkeit resultieren. Dies mag der Fall sein, weil die Geschäftsleute von Autochthonen nun eher als Konkurrenz wahrgenommen werden (vgl. Sutterlüty 2010). Diese Form der Paradoxie nennen Honneth und Sutterlüty „Paradox ethnischer Gleichheit“ (Honnet/Sutterlüty 2011: 79). (2.) Die Selbständigen erleben sich selbst in einem neuen, gesellschaftlich höheren Status. Dieser Status hat zwei Qualitäten. Zum einen folgt er einer graduellen Einstufung (mehr Geld, mehr Sicherheit), zum anderen wird er als kategorisch wahrgenommen (Unternehmersein als Statusgruppe). Genau dieser Status in seiner kategorischen Form aber wird – wiewohl unter den Unternehmer_innen selbst durchaus – in anderen Bereichen alltäglichen Miteinanders nicht immer geachtet. Im Falle von diskriminierenden Behandlungen im alltäglichen, nicht-beruflichen Bereich verstärkt sich das Gefühl der Missachtung sogar, da sich Stigmatisierungen nun auf beruflich erfolgreiche Unternehmer_innen beziehen, die solche Ausgrenzungserfahrungen nun umso deutlicher wahrnehmen. Durch diese Wechselwirkung von Status und Stigma kann man von einer Ausprägung der Anerkennungsdimension von sozialer Wertschätzung reden, die einer längst überwundenen ständischen Logik folgt: Die Unternehmer_innen fühlen sich einer Statusgruppe von Selbständigen zugehörig, erfahren aber in anderen gesellschaftlichen Sphären weiterhin dieselben Formen von Diskriminierung wie vorher. Sie sind sich dieser nun aber umso deutlicher bewusst.

8 Quellen

INTERVIEWPARTNER_INNEN Um ihre Anonymität zu gewährleisten, werden alle Interviewpartner_innen mit Aliassen (Herr Aydın, Frau Yeşilçay etc.) genannt und zitiert. Alle weiteren Eigennamen und Ortsangaben, die einen Rückschluss auf die Identität der Interviewpartner_innen zulassen, wurden ebenfalls geändert.

Herr Aydın

Geschlecht

Geboren

Branche

Selbständig seit

m

1983

Änderungsschneiderei

2008

erste Selbständigkeit

2013

verschiedene selbständige Tätigkeiten in Alpstadt ab 1985, derzeit geringfügig angestellt im „Familienbetrieb“

Herr Bilge sen.

m

1956

Fleischerei, sen.

Herr Bilge jun.

m

1982

Fleischerei, jun.

Herr Çoban

m

Bemerkungen zur Selbständigkeit

angestellt im „Familienbetrieb“

1966

Juwelier

2004

1995-2000: Lebensmittelgeschäft im Land Mittelösterreich

2012

erste Selbständigkeit

Herr Deniz

m

1974

Änderungsschneiderei

Herr Ercan

m

1985

Vertrieb von Lebensmitteln und Gastronomiebedarf

2015

frühere Selbständigkeit in Ankara (Computer-, Handyladen)

Herr Güçlü

m

1962

Glaser

2000

erste Selbständigkeit, ab 1993: parallel zur unselbständigen Erwerbstätigkeit selbständig als Glaser

Herr Kaya

m

Herr Memiş

m

1976

Kfz-Werkstatt

2009

davor: selbständiger Kfz-Aufbereiter

Frau Sarı

w

ca. 1983

Restaurant

2012

erste Selbständigkeit

Frau Şen

w

1976

Hijab-Modeboutique

2012

erste Selbständigkeit

Frau Yeşilçay

w

ca. 1990

Herrenboutique

2015

erste Selbständigkeit

1975

Maler

2009

früher: Internetversand, parallel zur unselbständigen Erwerbstätigkeit

274 | Status und Stigma

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Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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