Standarddeutsch im 21. Jahrhundert: Theoretische und empirische Ansätze mit einem Fokus auf Österreich 9783737003377, 9783847103370, 9783847003373

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Standarddeutsch im 21. Jahrhundert: Theoretische und empirische Ansätze mit einem Fokus auf Österreich
 9783737003377, 9783847103370, 9783847003373

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Wiener Arbeiten zur Linguistik

Band 1

Herausgegeben von Daniel Büring, Alexandra N. Lenz und Nikolaus Ritt

Advisory Board: Peter Auer, Universität Freiburg, Deutschland Ina Bornkessel-Schlesewsky, Universität Marburg, Deutschland Olga Fischer, Universität Amsterdam, Niederlande Junko Ito, UC Santa Cruz, USA Hans Kamp, Universität Stuttgart, Deutschland Johanna Laakso, Universität Wien, Österreich Michele Loporcaro, Universität Zürich, Schweiz Melanie Malzahn, Universität Wien, Österreich Jim McCloskey, UC Santa Cruz, USA John Nerbonne, Universität Groningen, Niederlande Peter Trudgill, Universität Freiburg, Schweiz

Alexandra N. Lenz / Manfred M. Glauninger (Hg.)

Standarddeutsch im 21. Jahrhundert Theoretische und empirische Ansätze mit einem Fokus auf Österreich

Mit 22 Abbildungen

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0337-0 ISBN 978-3-8470-0337-3 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. © 2015, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: © Ludwig Maximilian Breuer Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Alexandra N. Lenz (Wien) / Manfred M. Glauninger (Wien) Zu diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Manfred M. Glauninger (Wien) (Standard-)Deutsch in Österreich im Kontext des gesamtdeutschen Sprachraums. Perspektiven einer funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Barbara Soukup (Wien) Zum Phänomen ›Speaker Design‹ im österreichischen Deutsch . . . . . .

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Eva Winkler (Salzburg) Intimität in der Öffentlichkeit – Sprachliche Variation als kommunikative Strategie im Radiointerview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sara Hägi (Paderborn) Die standardsprachliche Variation des Deutschen als sprachenpolitisch-didaktisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Joachim Herrgen (Marburg) Entnationalisierung des Standards. Eine perzeptionslinguistische Untersuchung zur deutschen Standardsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Sylvia Moosmüller (Wien) Methodisches zur Bestimmung der Standardaussprache in Österreich . . . . 165 Julia Brandstätter (Wien) / Sylvia Moosmüller (Wien) Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale in der Wiener Standardaussprache – A sound change in progress? . . . . . . . . . . . . 185

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Inhalt

Christa Dürscheid (Zürich) / Stephan Elspaß (Salzburg) / Arne Ziegler (Graz) Variantengrammatik des Standarddeutschen. Konzeption, methodische Fragen, Fallanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Thomas Brooks (Wien) »Diese bedingungslose Liebe zu den Sprachfehlern …« – Sprachgeografische Betrachtungen zur würde-Umschreibung am Beispiel Robert Musil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Alexandra N. Lenz (Wien) / Manfred M. Glauninger (Wien)

Zu diesem Band

Was die Forschung zur deutschen Sprache in Österreich betrifft, ist der Beginn des neuen Jahrtausends durch neue Ansätze gekennzeichnet: An die Seite von Arbeiten in der Tradition der philologischen Dialektologie, der Diskursanalyse im Paradigma der »Wiener Schule« oder auch der »klassisch« korrelativen Soziolinguistik treten zunehmend Untersuchungen auf Basis der sprachdynamisch fundierten Variationslinguistik, der interaktionalen Soziolinguistik sowie der modernen Spracheinstellungs- und -perzeptionsforschung. Der vorliegende Band reflektiert die Dynamik des Forschungsfeldes und zeigt, dass unterschiedlichste Paradigmen einen gemeinsamen Gegenstandsbereich in Komplementarität fruchtbar ausloten können. Im Zentrum der folgenden insgesamt neun Beiträge steht der standardsprachliche Pol des »vertikalen« Varietätenspektrums des Deutschen, dem sich aus theoretischer wie empirischer Perspektive angenähert wird. Der Fokus liegt dabei auf Österreich, dessen standardsprachlicher Varietätenpol im Kontext des gesamten deutschsprachigen Raums betrachtet wird. Am Beginn des Bandes steht der umfangreiche Beitrag von Manfred M. Glauninger, in dem eine Thematisierung der deutschen (Standard-)Sprache in Österreich aus der Perspektive eines originären soziolinguistischen Ansatzes funktionaler Sprachheterogenitäts-Dimensionierung erfolgt. Dabei interpretiert Glauninger Sprachvariation zum einen als eine Form der (»meta(sozio)semiotischen«) Zeichengebung und somit als kommunikative Ressource, zum anderen als einen Mechanismus prozessualer Selbstreferentialität. Sein theoretischer Ansatz, der traditionellen Sichtweisen teilweise diametral entgegensteht, will der Diskussion um die Variation der deutschen Sprache in Österreich aus funktionaler Sicht neue Impulse verleihen. Auf die Funktionalisierung sprachlicher Variation geht auch Barbara Soukup im Rahmen eines ›Speaker-Design‹-Zugangs ein. Auf der Basis von Fernsehdiskussionen analysiert die Autorin die Intra-Sprecher-Variation im österreichischen Deutsch und fokussiert hier insbesondere den bewusst interaktionell

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Alexandra N. Lenz / Manfred M. Glauninger

und rhetorisch eingesetzten Kontrast zwischen österreichischer Standardsprache einerseits und bairisch-österreichischem Dialekt andererseits. Wie Soukup wählt auch Eva Winkler öffentliche Interviews als empirische Basis für ihre Analyse von Codewechsel- und anderen Variationsprozessen und ihren Funktionen in konkreten medial öffentlichen Kommunikationssituationen. Am Beispiel österreichischer Rundfunkmitschnitte zeichnet sie die diskursstrategische Funktionalität sprachlicher Variation im Spannungsfeld von Standard und Non-Standard nach. Auf potentiell sprach(politisch-)didaktische Probleme, die die standardsprachliche Variation des Deutschen mit sich bringen kann, geht Sara Hägi ein. Ihre Analyse von Lehrmitteln aus dem »Deutsch als Zweitsprache«-Unterricht deckt die Problematik in der didaktischen Vermittlung standardsprachlicher Heterogenität des Deutschen sowie das fehlende Bewusstsein für selbige auf und formuliert (am Beispiel des Deutschen) Lösungsvorschläge, wie einem plurizentrischen Ansatz auch im Kontext von Sprachvermittlung Rechnung getragen werden kann. Der Frage, wie es um die Wahrnehmung (intendierter) Standardsprechsprache vonseiten (nicht linguistisch geschulter) »Laien« steht, geht Joachim Herrgen auf der Basis eines Perzeptionstests nach, in dessen Rahmen Hörerurteile aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu Sprachproben aus ebendiesen Ländern erhoben wurden. Als besonders bemerkenswertes Ergebnis stellt sich dabei der länderübergreifend hohe Wert an subjektiver »Standardsprachlichkeit« dar, den gerade die bundesdeutsche Sprachprobe eines geschulten Standardsprachesprechers von Beurteilenden aller drei Länder erhält und der die »Gleichwertigkeit« der Oralisierungsnormen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf Hörerseite in Frage stellt. Die Tatsache, dass sich auch in Österreich die Schulung von Standardsprechsprache vornehmlich an bundesdeutschen Normen ausrichtet, wird im Beitrag von Sylvia Moosmüller kritisch hinterfragt und mit der Forderung konfrontiert, die österreichische Standard(aus)sprache nach Kriterien der Akzeptanz zu definieren. Die Argumentation wird durch perzeptionslinguistische Ergebnisse gestützt. Phonetisch-phonologische Charakteristika des österreichischen Standarddeutsch stehen auch im Mittelpunkt des zweiten Aufsatzes von Sylvia Moosmüller, den sie gemeinsam mit Julia Brandstätter verfasst hat. Auf Basis einer umfangreichen akustisch-phonetischen Analyse bei Wiener »Standard«-Sprecherinnen und -Sprechern weisen die Autorinnen eine zunehmende Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale nach. Während die Beiträge von Herrgen, Moosmüller sowie Moosmüller und Brandstätter primär phonetisch-phonologisch ausgerichtet sind, fokussieren Christa Dürscheid, Stephan Elspaß und Arne Ziegler in ihrem gemeinsamen

Zu diesem Band

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Beitrag Aspekte der Grammatik und damit Phänomene einer bislang in der Forschung zur standardsprachlichen Variation des Deutschen eher vernachlässigten Systemebene. Anhand ausgewählter Analysebeispiele stellen sie das aktuelle Projekt zu einer »Variantengrammatik des Deutschen« dar, das als D-A-CH-Forschungsprojekt die grammatische Variation des standardsprachlichen Pols in Österreich, Deutschland und der Schweiz anvisiert. Einem speziellen grammatischen Phänomen, dessen Standardsprachlichkeit nach wie vor diskutiert wird und das lange insbesondere als Merkmal »österreichischer Umgangssprache« bzw. als (Nonstandard-)»Austriazismus« angesehen wurde, widmet sich Thomas Brooks. Ausgehend von Auseinandersetzungen rund um Text und Edition von Musils Der Mann ohne Eigenschaften diskutiert er Fragen der Sprachnormierung und des Sprachwandels im Kontext des würdeKonjunktivs. Wir danken Timo Ahlers für seine tatkräftige Unterstützung im Zusammenhang mit der Herausgabe des vorliegenden Bandes. Gemeinsam mit einem zweiten aktuellen, von Alexandra N. Lenz, Timo Ahlers und Manfred M. Glauninger herausgegebenen Buch zu »Dimensionen des Deutschen in Österreich – Variation und Varietäten im sozialen Kontext« (in der Reihe »Schriften zur deutschen Sprache in Österreich«) will der vorliegende Band neue Impulse liefern für eine empirisch fundierte und theoretisch multidimensionale Diskussion zum Thema Standardsprache allgemein und zu Standarddeutsch in Österreich im Speziellen.

Manfred M. Glauninger (Wien)

(Standard-)Deutsch in Österreich im Kontext des gesamtdeutschen Sprachraums. Perspektiven einer funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie

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Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit thematisiert die deutsche (Standard-)Sprache in Österreich aus Sicht des originären soziolinguistischen Ansatzes funktionaler Sprachheterogenitäts-Dimensionierung. Abschnitt 1 begründet dieses Vorhaben und umreißt Gegenstandsbereich, Problemstellung und Zielsetzung. Im Anschluss daran erfolgt in Abschnitt 2 – vor dem Hintergrund einer elementar operativ-konstruktivistischen Positionierung – das explanative Aufspannen des theoretischen Rahmens. Dabei wird sprachliche Variation einerseits als spezifische – meta(sozio)semiotische – Zeichengebung (und somit kommunikative Ressource) interpretiert, andererseits als Mechanismus prozessualer Selbstreferentialität (im Sinne autopoietischer Systematizität) identifiziert. Damit ist der Weg frei, um in Abschnitt 3 neue Perspektiven zur Exploration eines entsprechend adaptierten Objekts (Standard-)Deutsch in Österreich auszuloten. Die Abkehr vom essentialistisch-restriktiven Postulat eines österreichischen Deutsch, wie es die methodologisch traditionell fundierte – d. h. philologisch-dialektologische/areallinguistische bzw. korrelativ-soziolinguistische – (Plurizentrizitäts-) Forschung vertritt, zeigt bislang nicht im Bewusstsein der Linguistik stehende Potenziale auf. Resümee und Ausblick schließen als vierter Abschnitt die Untersuchung ab.

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Gegenstand, Problem, Ziel

Die linguistische Forschung zur deutschen Sprache in Österreich steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Einerseits gilt die plurinationale Interpretation der Theorie sprachlicher Plurizentrizität (vgl. Clyne 1992) – nach erheblichen Anlaufschwierigkeiten – inzwischen als Mainstream-Paradigma zur Perspektivierung der Heterogenität des Standarddeutschen, und dessen entsprechend geprägte Modellierung auf Basis je einer spezifischen Nationalvarietät (zumindest)

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Manfred M. Glauninger

für Deutschland, Österreich und die Schweiz hat sich etabliert.1 Andererseits stellt die legislativ und ökonomisch zunehmend supra- bzw. postnational strukturierte Lebensrealität der EU-Bürger(innen) und somit des größten Teils der Bevölkerung innerhalb der – geographisch ohnehin nahtlos zusammenhängenden – deutschsprachigen Länder das Postulat von nationalen Varietäten des (Standard-)Deutschen grundlegend infrage.2 Im Vergleich dazu vollzogen sich die in den1980er und 1990er Jahren innerhalb der – insbesondere österreichischen – germanistischen Linguistik kontrovers verlaufende Frühphase der Rezeption des Paradigmas plurinational interpretierter sprachlicher Plurizentrizität bzw. die in Zusammenhang damit stehenden und von Polemik überschatteten Anfänge der Applikation dieses Modells auf das Deutsche (vgl. Glauninger 2000: 15, Fußnote 9) unter völlig anderen geopolitischen und makroökonomischen Rahmenbedingungen. Gerade dieses Faktum unterstreicht die Bedeutsamkeit der gegenwärtigen Situation. Zusammenfassend genügt ein Hinweis auf die gesetzliche Verankerung der »vier Freiheiten« (für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital) des EU-Binnenmarktes und die damit verbundene Korrosion nationaler Restriktionen auf zentralen Ebenen der »außersprachlichen Wirklichkeit« (vgl. Glauninger 2013). Ob ein nennenswerter Abbau des »Nationalen« auch auf der sozialpsychologischen – und somit sprachbezogen attitudinalen, soziosymbolischen – Ebene bereits eingesetzt hat, kann noch nicht valid beantwortet werden. Zweifellos sind derzeit – Stichwort Renationalisierung – auch Indizien für das Gegenteil zu beobachten (s. dazu, mit Blick auf bislang unbeachtete Aspekte, Abschnitt 4). Unbestritten bildet jedoch ein aufgrund des Potenzials der modernen, insbesondere digitalen Medien in einem noch nie dagewesenen Sinn offener bzw. geweiteter, ja weltumspannender Kommunikationshorizont einen maßgeblichen Faktor für die Beschleunigung bzw. Intensivierung von gesellschaftlichen Veränderungen in historischem 1 Dies verdeutlicht beispielsweise die breite Anerkennung des Variantenwörterbuchs des Deutschen (Ammon [u. a.] 2004), das derzeit – nicht zuletzt aufgrund seiner positiven Aufnahme – im Rahmen eines trinationalen Projekts (vgl. http ://www.variantenwoerter buch.net) eine vollständige Neubearbeitung und Erweiterung erfährt. Auch eine entsprechende Variantengrammatik des Deutschen wird erarbeitet, an Projektstandorten in Österreich und der Schweiz (vgl. http ://www.variantengrammatik.net). Darüber hinaus erfolgt mittlerweile der Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht überwiegend gemäß dem plurinational angelegten »D-A-CH(L)«-Konzept (vgl. http ://www.idvnetz.org/veranstaltungen/dachl-seminar/dachl-prinzip.htm bzw. Bettermann 2010 sowie zur entsprechenden Landeskunde Demmig / Hägi / Schweiger 2013). Maßgeblich beigetragen zur Durchsetzung der plurinationalen Lesart der Plurizentrizität des Deutschen innerhalb der Forschung im deutschsprachigen Raum hat Ammon (1995). 2 Laufend aktualisierte, die Dimensionen dieser Entwicklung veranschaulichende ökonomische Daten finden sich auf der Website der Europäischen Union (http://europa.eu/about-eu/factsfigures/economy/index_de.htm); zur Gesetzgebung vor dem Hintergrund der europäischen Integration vgl. Hummer (2010).

(Standard-)Deutsch in Österreich im Kontext des gesamtdeutschen Sprachraums

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Ausmaß – und stellt zugleich deren dynamischen Output dar. Öffentlich-rechtliche (und zu einem erheblichen Teil private) Radio- und Fernsehanstalten der deutschsprachigen Länder produzieren längst (auch) für ein Publikum in einem die jeweiligen Staatsgrenzen überschreitenden Raum, und ihre Sendungen werden über Satellit (bzw. inzwischen zunehmend im Internet) dementsprechend rezipiert (s. 3.1). Damit ist eine der wesentlichsten Determinanten nationalstaatlicher Oralisierungsnormen (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 61) und somit staatsbezogener Standardsprachlichkeit des Deutschen inzwischen Geschichte (vgl. Herrgen [im vorliegenden Band]). Es scheint deshalb unabdingbar, dass – allein mit Blick auf wissenschaftliche Relevanz- und Adäquatheitsansprüche – die hier offenkundige und kontinuierlich zunehmende Inkongruenz zwischen sprachlicher Phänomenebene, (plurinational-plurizentrischer) linguistischer Theoriebildung und gesellschaftlichem Kontext reflektiert bzw. problematisiert wird. Der vorliegende Beitrag versteht sich nicht zuletzt diesbezüglich als Anstoß. Während jedoch nachhaltige Veränderungen in diesem Zusammenhang erst mittel- bzw. langfristig zu erwarten sind, gibt es auch Indizien dafür, dass Transformationsprozesse innerhalb der Forschungslandschaft zur deutschen Sprache in Österreich bereits eingesetzt haben. Ein Blick auf den Forschungsstand weist den Weg. Für den bei weitem überwiegenden Teil der bislang im Kontext der Plurizentrizitätsforschung bzw. explizit zu einem spezifisch österreichischen (Standard-)Deutsch entstandenen Arbeiten (vgl. etwa als z. T. resümierende Kompilationen Wiesinger 2014, Muhr / Sellner 2005 (bzw. Muhr 2012, Muhr [u. a.] 2013 unter Fokussierung der »Dominanz«-Problematik im wechselseitigen Verhältnis von Nationalvarietäten plurizentrischer Sprachen, so auch des Deutschen) sowie Wodak [u. a.] 2009) gilt: Sie sind wie nahezu der Gesamtbestand an Untersuchungen, die zu unterschiedlichsten Problemen und Fragestellungen im Zusammenhang mit Varietäten oder Variation des Deutschen in Österreich in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht wurden, entweder a) philologisch-dialektologischen/areallinguistischen oder b) korrelativ-soziolinguistischen Ansätzen zuzuordnen, kurzum: theoretisch traditionell/»klassisch« fundiert.3 All diese Studien erfahren aber nun in jüngster Zeit sukzessive 3 Als klassisch soziolinguistisch ist auch die Kritische (Wiener) Diskursanalyse zu qualifizieren und deshalb oben, beispielhaft vertreten durch Wodak [u. a.] (2009), entsprechend eingereiht. Bekanntermaßen werden häufig die beiden unter a) und b) aufgeführten, theoriebezogen traditionellen Strömungen zumindest partiell zusammengeführt. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf Untersuchungen gemäß dem plurinational interpretierten PlurizentrizitätsModell. Abseits aller gegebenen method(olog)ischen Parallelen dieser Forschungsrichtungen müssen deren teils erheblich divergierende ideologische Positionen, respektive Wertungen hinsichtlich Charakteristik, Status und Funktion eines österreichischen (Standard-)Deutsch Berücksichtigung finden.

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Manfred M. Glauninger

Ergänzung durch Arbeiten, die sich von neueren, bislang auf das Deutsche in Österreich kaum oder gar nicht angewandten Theorien leiten lassen und entsprechend innovative Konzeptionen umsetzen. Zu nennen sind hier vor allem Modelle der perzeptionsorientierten und interaktional-sozialkonstruktivistischen Soziolinguistik (vgl. Anders / Hundt / Lasch 2010 bzw. Tannen 2008)4, welche unter anderem die – in einem weit ausgreifenden Sinn – attitudinale Dimension sprachlicher Phänomene bzw. deren (meta-)kommunikatives/diskursrelevantes, kontextualisierendes Potenzial fokussieren, sowie der modernen (sprachdynamisch fundierten) Regionalsprachenforschung (vgl. Schmidt / Herrgen 2011).5 Vor unseren Augen vollzieht sich somit ein Paradigmenwechsel bzw. der Vorgang der Ablösung von Leittheorien – als entscheidender Faktor des eingangs prognostizierten, einschneidenden Wandels. Diese theoriebezogene Dynamik innerhalb des Forschungsfeldes steht in unmittelbarer Wechselwirkung mit Adaptionen und Transformationen des Gegenstandsbereiches »deutsche Sprache in Österreich«. Dessen Konfiguration (unter Fokussierung der Standardebene) auf Basis der Explikation eines neuen, originären – funktional dimensionierten – soziolinguistischen Ansatzes gilt somit als Problemstellung der vorliegenden, explizit theoretisch angelegten Untersuchung. Ziel dabei ist es, dem oben skizzierten Einsetzen eines Wandels weitere Impulse zu verleihen, auf diese Weise den Anschluss der linguistischen Forschung zur deutschen Sprache in Österreich an innovative internationale Strömungen zu festigen bzw. zu beschleunigen und somit letztlich den konstatierten Paradigmenwechsel bzw. das Überwinden einer Theorieschwelle mitzugestalten. Diesen Vorhaben entsprechend werden in vorliegender Arbeit Positionierungen erfolgen, die zum Teil diametral zu Sichtweisen und Postulaten stehen, wie sie die zuvor genannte, in traditionellen Bahnen verlaufende Forschung vertritt. Denn (Standard-)Deutsch in Österreich ist mehr als österreichisches (Standard-)Deutsch.

4 Diese sind keinesfalls gleichzusetzen mit der vorliegend vertretenen, auch methodologisch explizit und stringent konstruktivistischen (vgl. Fußnote 6), funktional dimensionierten (sozio-)linguistischen Konzeption zur Deutung von natürlichsprachlicher Heterogenität/Variation (s. Abschnitt 2). Gleichwohl zeigen sich Übereinstimmungen, zumal sich Letztere als Weiterentwicklung interaktional-sozialkonstruktivistischer Ansätze versteht. 5 Beispiele für entsprechende Forschungsvorhaben bzw. Untersuchungen, die (auch) das Deutsche in Österreich behandeln, stellen Herrgen, Winkler und Soukup [jeweils im vorliegenden Band] bzw. bereits laufende oder im Implementierungsstadium befindliche Projekte dar, z. B. die Dissertationsvorhaben von Andrea Kleene (vgl. https://linggerm.univie. ac.at/personen/doktorandinnen/kleene-andrea/) und Ludwig M. Breuer (vgl. https://ling germ.univie.ac.at/personen/doktorandinnen/breuer-ludwig-maximilian/; http://www.lmbreu er.de). Aus den genannten Projekten gehen zudem laufend begleitende Veröffentlichungen hervor (vgl. etwa Breuer [im Druck]).

(Standard-)Deutsch in Österreich im Kontext des gesamtdeutschen Sprachraums

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Funktionale Dimensionierung sprachlicher Heterogenität/Variation

2.1

Hinführung

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In vorliegender Arbeit wird ein theoretischer Rahmen aufgespannt, dessen Eckpunkte den derzeitigen Status eines – im wissenschaftsevolutionären Sinn in permanenter Optimierung befindlichen – Prozesses der operativ konstruktivistischen6, spezifisch systemtheoretisch potenzierten (sozio-)linguistischen Annäherung an natürlichsprachliche Heterogenität/Variation markieren. Diese funktional dimensionierte Sprachvariationstheorie (vgl. Glauninger 2012 a und 2014) geht von folgender – sich im Namen widerspiegelnden und das Theoriedesign prägenden – elementaren Annahme aus: Soziale Perspektivierungen (der Heterogenität) natürlicher Sprachen, wie etwa Varietäten,7 stellen (auch) Zeichen und somit eine semiotische Ressource dar, deren »Verwertung« in zweierlei Hinsicht funktional interpretierbar ist. Einerseits unmittelbar teleologisch, in Verbindung mit (meta-)kommunikativen (z. B. kontextualisierenden) Effekten, die prinzipiell auf Basis bewährter, entsprechend etablierter pragmalinguistischer (etwa textpragmatischer) Theorien gedeutet und somit als variationspragmatisch (vgl. Glauninger 2012 b) bezeichnet werden können. Andererseits aber, und damit in Zusammenhang stehend, entfaltet diese – ebenso schillernd wie effizient »soziale Bedeutung« kodierende – sprachbasierte Zeichengebung systemtheoretisch Wirksamkeit, und zwar als spezifische Potenzierung von Sprache als dem, im Luhmann’schen Sinn (vgl. vor allem Luhmann 1987 u. Baecker 2009), komplexesten und leistungsfähigsten Medium sozialer Systeme.8 Dieser Steigerung des systemisch-kommunikativen Wirkungsgrades eignet gemäß dem Verständnis von prozessual-selbstreferentieller (autopoietischer) Systematizität eine gleichermaßen determiniert-ergebnishafte wie (re-)determinierende, d. h. rekursiv (selbst-)stimulierende Qualität. 6 Mit diesem Terminus lässt sich im Sinne der soziologischen Systemtheorie die Position des radikalen Konstruktivismus präziser fassen: »Die »klassische« Subjekt/Objekt-Unterscheidung, die die Konstanz der Objekte für unterschiedliche Subjekte voraussetzt, wird in diesem Ansatz durch die Unterscheidung Operation/Beobachtung ersetzt« (Baraldi / Corsi / Esposito 1997: 102); Präzisierendes dazu folgt weiter unten. Noch einmal sei an dieser Stelle mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die etablierte sozialkonstruktivistische (interaktionale) Soziolinguistik keinesfalls konsequent bzw. reflektiert dieser methodologisch bzw. epistemologisch konstruktivistischen Haltung gerecht wird – und damit verbundene systemtheoretische Fragen (s. 2.3) bislang in keiner Weise aufgeworfen hat. 7 Mehr zur sozialen Perspektivierung von Sprache folgt in 2.4.1. 8 Die systemtheoretische Klassifikation von Sprache als Medium, nicht aber System wird in 2.3 vor dem Hintergrund der Erörterung systemtheoretischer Probleme der Linguistik transparent gemacht. Vgl. zu dieser Thematik auch Baraldi / Corsi / Esposito (1997: 180 – 184).

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Manfred M. Glauninger

Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, wie grundlegend sich der funktional dimensionierte Theorieansatz – insbesondere in systembezogener Hinsicht – von bislang unternommenen sprachwissenschaftlichen Modellbildungen unterscheidet. Da die Linguistik bis auf wenige Bereiche in, wie noch gezeigt wird, systemtheoretisch überholten Systematizitätskonzeptionen verharrt, konnte sie bislang natürliche Sprache nur durch methodologische Homogenisierung, d. h. durch (zumindest partielle) Ausblendung ihrer Heterogenität und Dynamik, systematisieren (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 21 – 25)9. Selbst jüngste, innovative Theoriebildungen wie das Sprachdynamik-Paradigma, die dieses Problem klar erkennen und analysieren, begnügen sich im Rahmen ihrer Lösungsansätze letztlich mit einer Modifikation strukturalistischer Systematizitäts-Postulate (vgl. ebd.: 25 – 36), ohne jedoch den entscheidenden Schritt zu setzen, nämlich eine systemtheoretisch relevante Alternative (oder zumindest eine entsprechend hinreichende Weiterentwicklung) zu implementieren. Am pointiertesten zeigt sich dies bei expliziter Bezugnahme auf bzw. Korrelierung mit Funktionalitätsaspekten. Ein lediglich auf Basis des strukturalistischen Systembegriffs justierter Blick vermag diesbezüglich zwar zu erhellen, dass »die Heterogenität natürlicher Sprachen als n o t w e n d i g e [Sperrdruck übernommen, M. M. G.] Vorbedingung ihrer Funktionalität betrachtet […] und in der sozialen Einbettung von Sprache begründet« (Cherubim 1975: 2) wird. Wenn dann aber – bezeichnenderweise sedierend – festgehalten wird, dass »[d]amit […] der Systembegriff [im strukturalistischen Sinn] von Sprache zwar modifiziert, nicht aber aufgehoben [wird]« (ebd.), ist das eigentliche Problem unbewusst bzw. ungewollt auf den Punkt gebracht worden. Kurzum: Der einer solcherart geprägten Konzeption zugehörige Objektbereich kann zwar die (teleologische, eventuell ansatzweise teleonomische) Funktionalität eines strukturalistisch modellierten sprachlichen (Dia-)Systems umfassen. Letztlich wird dabei aber die Sichtweise »Hier: (sprachliche Heterogenität als) System, dort: dessen Funktionalität« nicht überwunden. Die funktional dimensionierte Sprachvariationstheorie hingegen versucht, die Wechselwirkung zwischen kommunikativer und systemischer Funktionalität sprachlicher Heterogenität systemtheoretisch relevant, d. h. prozessual-selbstreferentiell, zu konfigurieren. Es geht dabei also um Funktionalität (sprachlicher Heterogenität) als System, nicht bloß um die (teleologische/teleonomische) Funktionalität eines (linguistisch modellierten) Systems. Damit rückt der Anschluss dieser funktionalen Dimensionierung von Sprachvariation an zeitgemäße systemtheoretische Paradigmen in den Bereich des Vorstellbaren; ein Vorhaben, dessen sukzessive Realisierung mittels selektiver Implementierung der elaboriertesten Theorie sozialer Systeme (repräsentiert durch Luhmann 1987), auf Basis bzw. »Vermittlung« einer Adaption der Peirce’schen 9 S. dazu auch die Ausführungen zum »linguistischen Platonismus« in 2.2.

(Standard-)Deutsch in Österreich im Kontext des gesamtdeutschen Sprachraums

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Semiose-Konzeption, möglich scheint (s. 2.3 und 2.4.2). Folgerichtig wird dabei das Luhmann’sche Paradigma als Supertheorie anerkannt und die Sprachwissenschaft – in einem sehr spezifischen Sinn – ausschließlich soziolinguistisch versteh- und realisierbar (vgl. Glauninger 2012 a: 110 f.).10 Dabei ist »das Determinans Sozio- in Bezug auf das Determinatum Linguistik als ontologisch redundant […] zu qualifizieren [Kursivdruck übernommen, M. M. G.]« (ebd.: 111).11 Konsequent zu Ende gedacht, würde die Sprachwissenschaft schließlich, ab dem Erreichen eines hinreichend epistemologische, respektive methodologische Selbstreflexion aufweisenden Entwicklungsstadiums, aufs Engste interagieren mit einer analog – d. h. grundlegend systemtheoretisch – definierten und fundierten Soziologie als der Wissenschaft der Gesellschaft als dem komplexesten aller sozialen – und somit kommunikationsbasierten – Systeme.12 Dabei hätte die Linguistik – wie jede andere wissenschaftliche Disziplin auch – selbst auszuloten, welcher Grad an De-Ontologisierung für sie möglich und praktikabel ist.13 Dies ist gegenwärtig selbstredend nicht als unmittelbare Zielsetzung zu verstehen, sondern als Abriss eines Desiderats. Im Anschluss werden hingegen die grundlegenden Aspekte des funktional dimensionierten Ansatzes der linguistischen Auseinandersetzung mit sprachlicher Heterogenität im Sinne der Problemstellung und Zielsetzung der vorliegenden Arbeit expliziert und diskutiert. Dabei steht die oben als variationspragmatisch bezeichnete Funktionalitätsdimension eindeutig und bewusst im Fokus. Eine über die Grundlagen bzw. basalen Gesamtzusammenhänge hinausgehende, extensiv erörternde Auseinandersetzung mit den systemtheoretischen Aspekten des funktional dimensionierten Sprachvariationsparadigmas würde dem Zweck der vorliegenden Arbeit nicht entsprechen und darüber hinaus deren Rahmen sprengen. Die Umsetzung dieses Vorhabens bleibt künftigen bzw. in Erarbeitung befindlichen Spezialuntersuchungen vorbehalten. Einen komprimierten Einblick in ausgewählte einschlägige Probleme bietet Glauninger 2014. 10 Als konstruktivistisch-systemtheoretisch basierte linguistische Position formuliert: Es gibt außerhalb sozialer Zusammenhänge (d. h. sozialer Systeme) weder einen Ort für die Sprache noch – und dies erscheint weniger trivial und mehr denn je erwähnungsbedürftig – für die Sprachwissenschaft bzw. die Generierung ihrer Erkenntnisse (s. 2.4.1). 11 Diese Haltung unterstreichen in vorliegender Arbeit die gegebenenfalls umgesetzten Schreibungen (Sozio-)Linguistik/(sozio-)linguistisch. 12 Dass damit keineswegs ein sprachsoziologisches Operieren herkömmlicher Art (das ja nicht zwingend eine systemtheoretisch fundierte Soziologie voraussetzt, vgl. Luhmann 2005: 143 – 172) gemeint ist, steht im Licht des bislang Dargelegten außer Frage. 13 Am Beispiel der Physik lassen sich wissenschaftsevolutionäre Prozesse dieser Art gut nachvollziehen. Von der Etablierung des Newton’schen Paradigmas bis zu dessen komplementärer (!) De-Ontologisierung durch die Relativitätstheorie und die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik dauerte es rund zweihundert Jahre.

18 2.2

Manfred M. Glauninger

Essentialismus als Problemerfahrung14

Die grundlegende epistemologische bzw. method(olog)ische Programmatik des vorliegend vertretenen funktional dimensionierten Ansatzes resultiert in erheblichem Maß aus Problemerfahrungen im Zusammenhang mit unterschiedlichen Ausprägungen des linguistischen Essentialismus. Als (präzisierend: epistemologisch bzw. methodologisch) essentialistisch (vgl. Popper 1987: 23) ist – aus operativ konstruktivistischer Sicht – grundsätzlich jedwede Position zu bezeichnen, die (wissenschaftliche) Erkenntnis auf die Korrespondenz zwischen einem epistemologischen Subjekt und einem vermeintlich vorab existierenden, »im Sinne einer progressiven Enthüllung« (Baraldi / Corsi / Esposito 1997: 100) zu untersuchenden Objekt der externen »Wirklichkeit« zurückführt. Es ist illustrativ und deshalb vorteilhaft, sich den in der Sprachwissenschaft nach wie vor omnipräsenten Ausprägungen dieser Haltung auf indirektem Weg zu nähern. Dazu bedarf es zuallererst der Bewusstmachung einer Art von »linguistischem Platonismus«, der die beiden mächtigsten Theorien der sprachwissenschaftlichen Moderne, den Strukturalismus und den Generativismus, bei aller sonstiger Verschiedenheit eint und hinsichtlich der Herangehensweise an natürlichsprachliche Heterogenität sowie (deren) Dynamik besonders deutlich zutage tritt. Als platonisch lässt sich dabei, in Anspielung an das die abendländische Geistesgeschichte prägende »Höhlengleichnis« Platons, folgendes Postulat bezeichnen: (In räumlicher Metaphorik) »Hinter« (bzw. wertend: »über«) der empirisch zugänglichen, selbstredend heterogenen/dynamischen Ebene der Sprache (strukturalistisch: Parole bzw. generativ: Performanz) stellt eine homogene, statische, nicht empirisch zugängliche bzw. messbare Entität (Langue, respektive Kompetenz) den primären (oder gar ausschließlichen, »eigentlichen«) Gegenstand der Linguistik dar. Es liegt auf der Hand, dass dabei eine jener zahlreichen methodologischen Homogenisierungsstrategien zutage tritt, die innerhalb der Sprachwissenschaft angesichts stark ausgeprägter Objektsheterogenität seit jeher Anwendung finden.15 Von hier aus führt der Weg linear zu essentialistischen Denkmustern in unterschiedlichster Ausprägung, die sich vor dem Hintergrund mehrschichtig ineinander greifender (wissenschafts-)historischer, -soziologischer und -theoretischer Zusammenhänge herausarbeiten lassen. Dabei sei zuerst ein Schlaglicht auf ein die Entwicklung der Sprachwissenschaft durchgehend prägendes Faktum geworfen: Entscheidende linguistische 14 Vgl. zu 2.2 und 2.3 Glauninger 2014. 15 Vgl. zu dieser signifikanten Facette linguistischer Theoriebildung Schmidt / Herrgen (2011: 19), zu »klassisch« generativen Umsetzungen dieser Strategie Moosmüller (1987: 42 – 78).

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Theorie- bzw. Modellbildungen erfolg(t)en stets auf Basis – mehrheitlich unbedarfter – Anleihen aus bzw. Übernahmen von »im jeweiligen historischen Kontext besonders erfolgreichen (und dabei idealiter in der breiten Öffentlichkeit populären) naturwissenschaftlichen Disziplinen« (Glauninger 2014: 22). Von besonderer Unmittelbarkeit, aber auch schwerwiegender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang einerseits der Einfluss des Strukturmodells der Materie der prä-quantentheoretischen Physik und Chemie auf das im Cours (vgl. Bally / Sechehaye 2001) überlieferte, »klassisch« strukturalistische Modell des Sprachsystems (Langue) und andererseits die »anfänglich stark kybernetisch/ informationstechnisch determinierte, später zunehmend und gegenwärtig fast durchgehend pseudo(gen)biologische Charakteristik des Generativismus« (Glauninger 2014: 22). Was den Generativismus anbelangt, so beachte man an dieser Stelle lediglich folgende, unter der unmissverständlichen Überschrift »The study of language in a biological setting« programmatisch niedergelegte Selbsteinordnung: »In this perspective, language is a natural object, a component of the human mind, physically represented in the brain and part of the biological endowment of the species« (Chomsky 2002: 1).16 Im Fall des Strukturalismus wiederum ist es dermaßen augenscheinlich, in welch hohem Maß das präquantentheoretisch fundierte physikalische/chemische Strukturmodell der Materie die Saussure’sche (und in dessen Nachfolge letztlich jedwede) strukturalistische Konfiguration eines Sprachsystems beeinflusst hat, dass an dieser Stelle vorerst nur pointiert auf die Tektonik aus »atomaren« Elementen (Phonem, Morphem, Graphem, …) und entsprechend »molekularen« Verbindungen (Wortformen, Phrasen, Sätze, Texte) rekurriert werden muss sowie auf einschlägig geprägte Bilder, z. B. jenes von den (System-)Schichten bzw. -Ebenen. Systematizität (worauf weiter unten noch explizit einzugehen ist) ergibt sich in diesem Modell auf Basis einer letztlich mengentheoretisch gedeuteten Relationalität, und zwar infolge des – problematischen – Postulats, dass jeder einzelne Teil (jedes Element) innerhalb der Ganzheit (Menge) mit jedem anderen Teil »zusammenhängt«/»verbunden« ist. Als prototypisch holistische Konzeption (vgl. Popper 1987: 61 – 66) läuft dies unweigerlich auf die essentialistische Vorstellung einer Struktur hinaus.17 Das sich im Cours als Vorbild widerspiegelnde Paradigma der (Atom-)Physik der klassischen Moderne war bekanntermaßen bereits in den Jahren seines offensichtlich erheblichen Einflusses auf Saussure18 ins Wanken geraten, ehe es sich schließlich im Verlauf des ersten 16 Weiteres zum Pseudobiologismus des linguistischen Generativismus (mit entsprechenden Literaturhinweisen) bietet Glauninger (2014, insbesondere Fußnote 4). 17 »Man kann den Holismus […] als essentialistischen oder internen Relationalismus bezeichnen« (Farshim 2002: 200). 18 Dieser hat am Beginn seiner akademischen Laufbahn an der Universität Genf zwei Semester lang Chemie und Physik inskribiert (vgl. Bally / Sechehaye 2001: 294).

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Viertels des 20. Jahrhunderts sukzessive grundlegend transformierte. Die dafür verantwortliche Etablierung der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantentheorie – mit epochalen Umwälzungen nicht nur innerhalb der Physik und der Naturwissenschaften als Ganzes, sondern nachhaltigen Folgen für die Wissenschaft und Epistemologie im Allgemeinen (vgl. Heisenberg 1990) – konnte von Saussure nicht (mehr) rezipiert bzw. hinreichend erfasst werden. Als (auch für die vorliegende Kritik maßgebliche) Konsequenz daraus weist seine Sprachtheorie – und im Grunde genommen nicht nur die gesamte strukturalistisch fundierte Linguistik, sondern bis zum heutigen Tag die Sprachwissenschaft im Allgemeinen – essentialistische bzw. naturalistische Züge auf. Das lässt sich, auch abseits tief schürfender Analysen methodologischer Art, mühelos mithilfe einschlägiger Passagen in einführenden sprachwissenschaftlichen Werken und Lehrbüchern belegen, so etwa: »Ziel der Sprachwissenschaft ist es herauszufinden, was Sprache ihrem Wesen nach ist« (Reischer 2002: 24). Oder aber: »Wir fragen: Was ist die Natur der Sprache, oder genauer: Wie ist die Sprache von Natur aus?« (Schnelle 1996: 1). Die dabei zutage tretende, bereits in der griechischen Antike in elaborierter Form ausgeprägte Facette des Essentialismus glaubt, »daß die wissenschaftliche Forschung zum Wesen der Dinge vordringen muß, um sie zu erklären« (Popper 1987: 23). Dabei nähert man sich wissenschaftlichen Problemen häufig in Form von ist-Fragen, wie z. B. Was ist Materie? Was ist Kraft? Was ist Gerechtigkeit? […] Im Gegensatz dazu würden methodologische Nominalisten [d. h. Konstruktivisten, M. M. G.] ihre Probleme so formulieren: Wie verhält sich dieses Stück Materie? Wie bewegt es sich in der Nachbarschaft anderer Körper? Denn nach Ansicht der methodologischen Nominalisten besteht die Aufgabe der Wissenschaft nur in der Beschreibung des Verhaltens der Dinge, […] dadurch, daß man, wo immer es nötig ist, ohne Scheu neue Begriffe einführt oder die alten Termini neu definiert […]. Denn die methodologischen Nominalisten betrachten Worte nur als zur Beschreibung nützliche Instrumente (ebd.).

In der hier kritisierten Haltung offenbart sich der Kern essentialistischen Denkens schlechthin, nämlich das Postulat der (»realen«) Existenz eines (wissenschaftlichen) Objektbereichs, von dem ein epistemisches Subjekt – gewissermaßen aus »archimedischer« Perspektive, dem Objekt(bereich) separiert gegenüberstehend – »intersubjektive« Erkenntnis gewinnen kann. In der modernen Naturwissenschaft, ausgehend von der durch die Relativitäts- und Quantentheorie revolutionär erneuerten Physik als ihrer »exaktesten« und zugleich avantgardistischsten Disziplin, ist eine radikale Abkehr von dieser als Cartesianismus charakterisierbaren Haltung in all ihren Varianten vollzogen und, damit einhergehend, konstruktivistisches Denken seit Jahrzehnten State of the Art. »Die Naturwissenschaft beschreibt und erklärt die Natur nicht einfach so, wie sie »an sich« ist. Sie ist vielmehr Teil eines Wechselspiels zwischen der Natur und uns

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selbst […], dadurch wird eine scharfe Trennung zwischen der Welt und dem Ich unmöglich« (Heisenberg 1990: 60). Die konstruktivistische Erkenntnistheorie bringt es unmissverständlich auf den Punkt: »[The] laws of nature we use do not describe an objective world. Rather they are a reference frame for analysing our experience« (Diettrich 2006: 91). Im Gegensatz dazu gelten hingegen eine cartesianisch betriebenen Linguistik (vgl. Chomsky 2009) bzw. verschiedene Spielarten des mentalistischen Naturalismus (so insbesondere in Form generativer bzw. naturalistischer Facetten kognitiver Paradigmen) innerhalb der Sprachwissenschaft nach wie vor als adäquate Theorieansätze, ja sogar als besonders elaboriert und fortschrittlich (vgl. etwa Isac / Reiss 2013). Noch einmal soll an dieser Stelle der sich in alldem manifestierende, weiter oben als Voraussetzung bzw. Korrelat des Essentialismus identifizierte Platonismus Erwähnung finden: »[This] led to an explicit internalism, where the job of linguistics is […] to understand the internal system that gives rise to the observable phenomena« (Collins 2008: 192). Die Soziolinguistik wiederum lässt auf spezifisch ihr zuzuschreibenden Ebenen ebenfalls ein erhebliches Maß an essentialistisch-naturalistischer Prägung erkennen, etwa im Anspruch, sich explanativ einer Sprachwirklichkeit (vgl. Löffler 2010) anzunähern,19 weiters in der methodischen Auseinandersetzung mit dem Beobachterparadoxon20 oder im Versuch der Konservierung von »Sprachhandlungen, die wissenschaftlichen Gütekriterien wie der Unabhängigkeit vom Untersucher […] genügen« (Schmidt / Herrgen 2011: 70).21 Schließlich ist an dieser Stelle und in Ergänzung zu Fußnote 3 hinzuzufügen, dass sich auch die kritische Diskursanalyse lückenlos in die Reihe der epistemologisch essentialistischen Linguistik-Paradigmen einreiht, denn beispielsweise wird dort »der Diskurs der diskursexternen sozialen Praxis gegenübergestellt« (Teubert 2006: 42), also aus archimedischer Perspektive ein dichotomisch – »hier Sprache, dort Außersprachliches« – modellierter Objektbereich untersucht.

19 Dabei wird unter anderem übersehen, dass »die Gegenstände der Sozialwissenschaften […] theoretische [Kursivierung übernommen, M. M. G.] Konstruktionen« (Popper 1987: 106) sind. »Sehr oft sind wir uns dessen nicht bewußt […] und halten unsere theoretischen Modelle deshalb fälschlich für konkrete Dinge« (ebd.). 20 Da Beobachtung (Messung) per se den Gegenstand verändert (bzw. unabdingbar von Subjektivität beeinflusst sein muss), lässt sich hier methodisch (etwa durch »präzisere«, technisch »verbesserte« Beobachtung/Messung) keinerlei positive Änderung herbeiführen (vgl. Heisenberg 1999: 28 – 40). Der Umgang mit diesem Problem erfordert vielmehr methodologische und metasprachliche Interventionen, wie die Heisenberg’sche Unschärferelation und die entsprechenden mathematischen Aussagen darüber vor Augen führen. 21 »In dieser Weise erinnert uns […] die Quantentheorie daran, daß man […] niemals vergessen darf, daß wir im Schauspiel des Lebens gleichzeitig Zuschauer und Mitspielende sind« (Heisenberg 1990: 40).

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Das der Sprachwissenschaft als Ganzes und somit auch der vorliegend fokussierten Soziolinguistik zuzuschreibende, meist unreflektierte Perpetuieren von essentialistischen bzw. naturalistischen Vorstellungen und Haltungen ist umso erstaunlicher, als ja die semiotische Basis – und somit das Fundament – der Linguistik im Cours durchaus konstruktivistisch konfiguriert ist. Dabei lässt sich zwar konzedieren, dass die diesbezüglich relevante Arbitraritäts- bzw. Konventionalitäts-Konzeption durch die Einbettung in ein ursprünglich binäres, dann zunehmend synthetisches, in jedem Fall aber als statisch interpretierbares (und interpretiertes) Zeichenmodell essentialistischen Auffassungen entgegenkommt. Gerade die semiotische Sphäre des linguistischen Strukturalismus erweist sich als besonders anfällig für essentialistische (Miss-)Deutungen. […] Dies liegt vor allem an der durchgehend adynamischen Justierung, die dem Saussure’schen Ideal des PanchronieVerbots geschuldet ist (cf. Schmidt / Herrgen 2011: 21) und dazu verleitet, das (binär konfigurierte) sprachliche Zeichen – wenngleich als arbiträr und konventionell definiert – per se, gewissermaßen »(in sich) ruhend«, als (mental/kognitiv) »existierend« zu betrachten (Glauninger 2014: 23).

Dessen ungeachtet aber ist festzuhalten, dass beispielsweise Saussures Zeitgenosse Charles S. Peirce im Rahmen seiner – aus heutiger Sicht nicht nur erheblich differenzierter und überzeugender (weil anwendungsbezogen und im Hinblick auf interdisziplinäre Anschlussfähigkeit »leistungsfähiger«) ausgearbeiteten – universalen semiotischen Theorie konsequent (radikal) konstruktivistisch verfährt.22 Damit steht auch außer Frage, dass innerhalb des vorliegend vertretenen soziolinguistischen Theorieansatzes die Peirce’sche und nicht die Saussure’sche Semiotik zu applizieren ist. Mehr noch, das Konzept der Semiose nach Peirce stellt eine Art Missing Link dar zwischen den im engeren Sinn linguistischen Aspekten der funktional dimensionierten Modellierung natürlichsprachlicher Heterogenität auf der einen Seite und den soziologisch-systemtheoretischen Implikationen dieser Theoriebildung auf der anderen. Somit ist an dieser Stelle der Weg frei, um im Anschluss mithilfe eines Blicks auf den – ernüchternden – Status systemtheoretischer Elaboriertheit der Linguistik im Allgemeinen und des linguistischen Strukturalismus im Speziellen einerseits die Auseinandersetzung mit Problemerfahrungen im Kontext des sprachwissenschaftlichen Essentialismus abzurunden und andererseits die Voraussetzungen für nachfolgende systemtheoretische Positionierungen zu schaffen.

22 »But since the interpretant determines a sign’s meaning, it follows that significance is nothing more or less than the way in which a sign is actually interpreted« (Misak 2004: 218). Und, noch elementarer: »The notion of the Peircean sign represents a mediator that functions in order to provide some sort of experiential access to that of which it is a sign. […] The position of the subject in semiotic framework is very similar to that in radical constructivism of Maturana« (Pinter 1997: 39).

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2.3

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Linguistik und System(atizität)

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog sich innerhalb der systemtheoretischen Forschung ein grundlegender Wandel, in dessen Folge es auch zur Bildung einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme kam (vgl. Luhmann 1987: 15 – 29). Der Paradigmenwechsel in der Systemtheorie erfolgte in zwei Etappen, im Wesentlichen basierend auf einer Transformation grundlegender Annahmen bezüglich der (Voraussetzungen von) Systematizität.23 »Im ersten Schub wird die traditionelle Differenz von Ganzem und Teil durch die Differenz von System und Umwelt ersetzt [Kursivierung übernommen, M. M. G.]« (Luhmann 1987: 22). Danach folgt in »überbietender Radikalität« (ebd.: 24) die Umstellung zur Theorie prozessual-selbstreferentieller, d. h. autopoietischer Systeme. Auf die daraus im Rahmen des funktional dimensionierten Ansatzes gezogenen Konsequenzen hinsichtlich der Annäherung an sprachliche Heterogenität/Variation wird in 2.4 eingegangen. Hier soll zunächst die generelle Begründung für diese Vorgehensweise ins Bewusstsein gerückt werden: die – im Licht der angedeuteten Umbrüche innerhalb der Systemtheorie – überholte, zumindest aber problematisch unreflektierte systemtheoretische Basis weiter Bereiche der Linguistik. Die Rezeption moderner allgemein systemtheoretischer Ansätze in einem hinreichenden Ausmaß bzw. eine daraus folgende Applikation erfolgt(e) innerhalb der Sprachwissenschaft bislang lediglich – sporadisch – im Bereich ihrer kybernetisch fundierten (respektive: orientierten) Teildisziplinen (vgl. Schweizer 1979). Die spezifisch soziologische Systemtheorie (vgl. Luhmann 1987) hingegen spielt auf sprachwissenschaftlichem Terrain lediglich innerhalb der Textlinguistik eine nennenswerte Rolle (vgl. Gansel 2008) und ist bezeichnenderweise gerade im Bereich der Sozio- bzw. Variationslinguistik bislang ohne Auswirkung geblieben. Immerhin erfolgte aber im Bereich der Literaturwissenschaft eine entsprechende Theoriebildung, die sich etabliert und beachtliche Erfolge aufzuweisen hat (vgl. Werber 2011). Zusammenfassend ist jedoch festzuhalten, dass die – systemtheoretisch zweifelsohne überholte – Systemkonzeption klassisch strukturalistischer (Saussure’scher) Prägung de facto (im Hinblick auf das zugrunde gelegte Systematizitätskriterium) nach wie vor als Fundament des linguistischen Systembegriffs schlechthin zu bezeichnen ist. Diese auf Basis der Langue-Modellierung im Cours tradierte Vorstellung von System(atizität) entspricht »letztlich der seit der Antike etablierten Vorstellung einer Ganzheit, die aus Teilen besteht« (Glauninger 2014: 23; s. auch weiter oben das Zitat aus Luhmann 1987). Selbst die mengentheoretischen Interpre23 Vgl. dazu als Schlüsselwerke der bedeutendsten Vertreter dieser Entwicklung Bertalanffy (1988) und Maturana / Varela (1980).

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tationen bzw. (Re-)Formulierungen dieser Konzeption (als Menge-ElementBeziehung) korrespondieren in zentralen Punkten unverändert mit dem Postulat Saussures oder, genauer gesagt, eines seiner vergleichsweise in Vergessenheit geratenen Wegbereiters: »Jede Sprache ist ein System, dessen sämtliche Teile organisch zusammenhängen und zusammenwirken. Man ahnt, keiner dieser Teile dürfte fehlen oder anders sein, ohne daß das Ganze verändert würde« (Gabelentz 1901: 481). Daraus resultiert eine Reihe von Problemen, wobei zwei als besonders gravierend hervorzuheben sind: erstens, eine nicht operationalisierbare Komplexität, die zudem im Widerspruch steht zur vermeintlichen Offenheit (mengentheoretisch: potenziellen Unendlichkeit) des Systems, etwa hinsichtlich der Lexik: Die Zahl der abstrakt möglichen Relationen zwischen den Elementen eines Systems nimmt exponentiell mit der Zunahme der Zahl der Elemente zu […]. Wenn in einem System die Zahl der Elemente sehr groß wird, erreicht deshalb die Zahl der Relationen Größenordnungen, die […] nicht unmittelbar kontrolliert werden können. Das impliziert, daß im System nicht alles […] zugleich mit allem anderen verbunden werden kann (Baraldi / Corsi / Esposito 1997: 94).

Und zweitens: die Widersprüchlichkeit eines Kontinuums, das aus diskreten Segmenten besteht, augenscheinlich im Fall des strukturalistischen Diasystems (als entsprechend modelliertes System von Systemen). Innerhalb weiter Bereiche der gegenwärtig etablierten Sozio- bzw. Variationslinguistik stellt das Operieren mit derartig diasystemischen Konfigurationen bekanntermaßen ebenso eine gängige Praxis dar wie im Rahmen der (inzwischen immer seltener praktizierten) philologischen Dialektologie. Paradox ist dabei die Annahme, dass Teilmengen (etwa (Voll-)Varietäten) einer Menge (als (Gesamt-)Sprache) disjunkt sind, aber gleichzeitig mit der Vorstellung des shifting im Einklang stehen (müssen). Wie will man wirklich Sprachebenen, die fließend ineinander übergehen, oder Systeme, die durch ein Regelsystem miteinander verbunden sind, voneinander trennen und entscheiden, wo welches System beginnt und wo welches aufhört? (Moosmüller 1987: 32).

Weitreichender und auch konsequenter, bereits unter Implementierung des Konstrukts der Verdichtungsbereiche (als binnenvarietäre Segmente, d. h. strukturalistisch gewissermaßen: (Semi-)Varietäten von Varietäten), wird das Problem diskutiert u. a. in Lameli (2004: 22 – 26) sowie Lenz (2003). Dass man hier jedoch, analog zum Problem des Beobachterparadoxons (vgl. Fußnote 20), methodisch nie zu einer hinreichend konsistenten (»präzisen«) Lösung gelangen kann, sondern ausschließlich methodologisch, steht außer Frage (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 52 f.). Implizit darauf Bezug nehmend heißt das:

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Homogenität [von per se heterogenen natürlichen Sprachen] wird auch dort methodisch hergestellt, wo an sich ein Bewusstsein für die Differenziertheit einer Gesamtsprache existiert, diese jedoch als Komplex homogener Varietäten aufgefasst wird (ebd.: 19).

Diese Erkenntnis mündet in eine – zwar nicht systemtheoretisch konsistente, respektive reflektierte, jedoch sprachwissenschaftlich innovative – Konzeption eines spezifisch panchronischen Ansatzes, der dem sprachdynamischen Paradigma der Regionalsprachenforschung zugrunde liegt. Es ist bezeichnend, dass selbst im Rahmen dieser Theoriebildung, die zweifelsohne eine der bemerkenswertesten Entwicklungen der jüngsten variationslinguistischen Forschung darstellt, die Methode, auf Basis »einer gewissen Zahl von Teilen und Beziehungen zwischen den Teilen« (Luhmann 1987: 22) Systeme zu konfigurieren (bzw. Systematizität zu definieren), letztlich nicht verworfen oder zumindest infrage gestellt wird. So verdeutlichen, als terminologischer Reflex des diasystemischen Dilemmas, die Begriffe sektorale Varietät und Vollvarietät den mengentheoretischen Rahmen. An dieser Stelle zeigen sich gewisse Parallelen zum Generativismus, dessen nahezu sämtliche Strömungen bis zum heutigen Tag systemtheoretisch auf einer Grundlage operieren, die Teile – wenn auch bis auf »Schnittstellen« als quasiautonome Komponenten/Module konfiguriert – zu einem Ganzen in Bezug setzt. Dies alles erscheint umso verwunderlicher, als gerade die – sowohl im Fall des sprachdynamischen Paradigmas als auch hinsichtlich generativer Ansätze bereits terminologisch indizierte – Schlüsselrolle einer jeweils theorieinhärenten Bewegungs- bzw. Erzeugungsmetaphorik einen Brückenschlag zum modernen prozessualen Systembegriff beinahe »logisch« erscheinen lässt. Dass dieser Anschluss – trotz der zuvor (in Auswahl) reflektierten Probleme im Zusammenhang mit einer fragwürdigen bzw. überholten Systemkonzeption – nicht erfolgt(e), fügt sich als charakteristische Facette ein in ein entsprechendes Gesamtbild der Linguistik. Deren oben diskutierte essentialistische bzw. in unterschiedlicher Ausprägung naturalistische Züge, die ein erhebliches epistemologisches Manko darstellen, erklären sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus dem Verharren vor einer system(atizitäts)bezogenen Theorieschwelle.

2.4

Positionierung

Damit ist der Weg frei, die zentralen epistemologischen bzw. method(olog)ischen, insbesondere auch systemtheoretischen und im engeren Sinn linguistischen Positionen der funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie in

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einem für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit hinreichenden, diese jedoch nicht sprengenden Maß darzulegen. 2.4.1 Operativer Konstruktivismus24 »Jede Erkenntnis ist nur eine Beobachtung und ist relativ zu den Kategorien eines bestimmten Beobachters« (Baraldi / Corsi / Esposito 1997: 101), sie beruht »immer nur auf »Konstruktionen« eines Beobachters« (ebd.: 100). Im Anschluss an das oben in 2.1 (s. insbesondere Fußnote 6) Ausgeführte lässt sich nun die im vorstehenden Zitat auf den Punkt gebrachte operativ konstruktivistische Haltung im Hinblick auf den vorliegenden Untersuchungszusammenhang akzentuieren. Da die Unterscheidung (epistemisches) Subjekt/Objekt (welche Intersubjektivität bzw. Konstanz des Objekts für unterschiedliche Subjekte impliziert) ersetzt wird durch die Unterscheidung Operation (als subjektive Konstruktion)/ Beobachtung (der Operation), d. h. Selbstbeobachtung, bilden etwa linguistisch und extralinguistisch (von »Laien«) perzipierte Sprachdaten keine Opposition objektiv vs. subjektiv. Sie differieren vielmehr lediglich aufgrund ihrer je spezifischen operativen Basis, respektive hinsichtlich des in den Daten repräsentierten Niveaus der Reflexion dieser Tatsache vonseiten des – konstruierenden – Beobachters, d. h. somit des Grades an Selbstreflexion. Dies gilt insbesondere auch für die vorliegend im Brennpunkt stehenden, im Rahmen des funktional dimensionierten Paradigmas als soziale Perspektivierungen bezeichneten, die natürlichsprachliche Heterogenität »ordnenden«, »gliedernden« usw. Konstrukte, wie z. B. Varietäten, Lekte, Sprechlagen, Stile usw. Linguistischen Modellierungen dieser Art kommt gegenüber solchen, die extralinguistisch (von sprachwissenschaftlichen »Laien«) erfolgen, kein Primat zu. Ganz im Gegenteil: Die Zeichenqualität dieser Konstrukte, somit das vorliegend thematisierte spezifische semiotische Potenzial der Sprachvariation, lässt sich in seiner Komplexität nur unter Berücksichtigung bzw. Einbeziehung extralinguistischer Perspektivierungen, d. h. im diffizilen Wechselspiel zwischen diesen und ihren linguistischen Pendants, erfassen. Dass eine entsprechende Relativierung darüber hinaus generell für die linguistische »Aneignung« sprachlicher Phänomene gilt, wird verständlich vor dem Hintergrund folgender Positionierung: Jedwede Wissenschaft, ihr Output (z. B. Theorien) und ihre entsprechend modellierten »Objekte« sind ausnahmslos soziale (auch weil letztlich unausweichlich sprachbasiert konstruierte) Phänomene. Dies gilt nun, verständlicherweise, in höchstem Maß für die Linguistik, nicht zuletzt aufgrund der Amalgamierung von Gegenstand, Beobachtungs- bzw. Beschreibungsinstrumentarium und Reflexionsmedium des (sich selbst bei der Beobachtung beobachtenden) Beobachters in einer letztlich »natürlichsprachlich« basierten Sphäre, d. h. »innerhalb eines semantisch-refe24 Einen allgemeinen Abriss des operativen Konstruktivismus bietet Luhmann (1988).

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rentiell unweigerlich natürlichsprachlich strukturierten/symbolisierten (›Sinn‹)Bereichs mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen« (Glauninger 2012 a: 111)25. Immerhin gilt gerade auch in den Hard Sciences: Jede Art von Verständnis aber, sei es wissenschaftlich oder nichtwissenschaftlich, hängt von unserer Sprache ab […]. Auch jede Beschreibung von […] Versuchen und ihren Ergebnissen beruht auf der Sprache als dem einzigen Mittel zur Verständigung (Heisenberg 1990: 115 f.).

Um an dieser Stelle mit einem sehr bewusst gewählten Beispiel zur Linguistik zurückzukehren: Die generative Grammatiktheorie und der von ihr modellierte Untersuchungsgegenstand beispielsweise stellen selbstredend um nichts weniger soziale Phänomene dar als jede andere linguistische Theoriebildung bzw. deren Objektbereich. Die im vorliegenden Beitrag vertretene Haltung identifiziert jedes linguistische Forschen – in einem epistemologischen, respektive methodologischen Sinn – als soziolinguistisch bzw. lässt dieses Forschen ausschließlich als Soziolinguistik denk- und realisierbar erscheinen (vgl. Fußnote 11 mit dem dazugehörigen Fließtext). Konsequenterweise gilt darüber hinaus und im Anschluss an das zuvor inserierte Heisenberg-Zitat aus dieser Perspektive wissenschaftliches Forschen jedweder Art als sozialwissenschaftlich – was freilich keinesfalls als soziologisch (in herkömmlicher, nicht konstruktivistischer Bedeutung) missverstanden werden darf. 2.4.2 Meta(sozio)semiose Varietäten sind (auch) Zeichen. Die im Folgenden zu diskutierende, prototypisch spezifisch (meta-)kommunikativ (kontextualisierend, rhetorisch/stilistisch, diskurssteuernd u. ä.) Wirksamkeit entfaltende semiotische Qualität eignet zwar, wie bereits weiter oben angedeutet wurde, in gleicher Weise sämtlichen – innerund extralinguistischen – sozialen Perspektivierungen sprachlicher Heterogenität26, an dieser Stelle wird jedoch exemplarisch der linguistisch hinreichend etablierte Begriff Varietät fokussiert. Mithilfe einschlägiger Definitionen desselben lässt sich der vorliegend postulierte Zeichen-Status von Sprachperspektivierungen plausibilisieren (wenngleich dies von den jeweils Definierenden naturgemäß nicht intendiert wurde). »Eine sprachliche Varietät zeichnet sich dadurch aus, dass gewisse Realisierungsformen des Sprachsystems […] mit gewissen sozialen und funktionalen Merkmalen kookkurrieren« (Berruto 2008: 189). An anderer Stelle gilt eine Varietät als »Menge sprachlicher Strukturen […], 25 Zur diesbezüglichen Irrelevanz der Verwendung einer an formalsprachliche Konventionen angenäherten Metasprache s. ebd., Fußnote 1. 26 »Für Laien (»Platt«, »Seemannssprache«) und für die Sprachwissenschaft […] (»Sprechart«, »Schreibart«; heute: »Varietät« […]) war immer klar, dass es sich hierbei um eine geordnete Komplexität handelt« (Schmidt / Herrgen 2011: 49).

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die relativ zu außersprachlichen Faktoren […] in einem Varietätenraum geordnet sind« (Dittmar 1997: 175). In einer weiteren Definition heißt es: We shall first consider five major types of variation [i. e. region, social group, field of discourse, medium, attitude]. Any use of language necessarily involves variation within all five types, although for purposes of analysis we may abstract individual varieties (a related set of variation within one type) (Quirk [u. a.] 1995: 16).

Aus der Perspektive der modernen Regionalsprachenforschung wiederum wird folgendes ausgeführt: Individuell-kognitiv sind Varietäten [Hervorhebung übernommen, M. M. G.] also durch je eigenständige […] Strukturen bestimmte und mit Situationstypen assoziierte Ausschnitte des sprachlichen Wissens. […] Varietäten [sind] immer auch sozial konstituiert […] als partiell systemisch differente Ausschnitte des komplexen Gesamtsystems Einzelsprache, auf deren Grundlage Sprechergruppen in bestimmten Situationen interagieren (Schmidt / Herrgen 2011: 51).

Schließlich sei zitiert, dass man Varietäten »als gebündelte Textexemplare ansehen [kann], deren sprachliche Merkmale […] von Redekonstellationstypen oder sozio-pragmatischen Bedingungen wie Individuum, Gruppe, Gesellschaft, Situation, Milieu oder Funktion« (Löffler 2010: 79) determiniert sind. Es ist nun im Sinne der funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie entscheidend, dass jene, all diesen (und noch einer Vielzahl anderer) Definitionen zugrunde liegende, gleichsam das methodologische Konstituens der korrelativen Soziolinguistik bildende »varietätenspezifische« Verknüpfung von sprachlichen und außersprachlichen/sprachreflexiven27 Phänomenen nichts anderes darstellt als das – im Peirce’schen Sinn (und somit konstruktivistisch prozessual) konfigurierte – (Struktur-)Modell eines Zeichens. Jedwede Varietät entfaltet auf Basis der indexikalischen Basisrelation [varietätenspezifisch »Sprachliches« = Signans ↔ varietätenspezifisch »Außersprachliches/Sprachreflexives« = Signatum] ein schillerndes – prinzipiell in usuell linguistischer Manier semiotisch, semantisch und pragmatisch interpretier- und beschreibbares – Spektrum an Wirksamkeit. Somit ist aber auch verständlich, dass jedes sprachliche Phänomen, vom elementarsten sprechsprachlichen Signal bis zum elaboriertesten konzeptionell schriftlichen Text, ausnahmslos als in diesem Sinn – homogen oder (insbesondere auf der Textebene) heterogen – sozial perspektiviert (im vorliegend exemplarisch gewählten Fall: varietätenspezifisch) gilt. Auch dies reflektiert – gleichwohl nicht exklusiv – die Tatsache, dass Sprache aus27 In herkömmlicher (traditionell korrelativ-soziolinguistischer) Manier wird zwischen einerseits sprachlichen und andererseits außersprachlichen/kontextuellen/sozialen Phänomenen differenziert. Aus dem bisher Dargelegten erhellt, dass eine derartige, einseitige Zuordnung des »Sozialen« nicht der epistemologischen Position des funktional dimensionierten Paradigmas entspricht.

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schließlich als – vollkommen – sozialer Phänomenkomplex zu behandeln ist. Wie weiter oben festgehalten wurde, gelten über diese selbstverständliche Feststellung hinaus, auf Höhe der rezenten Epistemologie und aus Sicht der vorliegend vertretenen funktional dimensionierten Position, auch sämtliche Elemente bzw. Aspekte linguistischer Modellierungen (wie etwa Phoneme, Morpheme etc. im strukturalistischen Sinn oder generative Postulate wie grammatische (Tiefen-)Strukturen u. Ä.), kurzum: sprachliche Phänomene gemäß einem linguistischen »Objekt«-Bereich, als sozial perspektiviert und indizieren dementsprechend soziale Bedeutung. Pointiert ausgedrückt: Auch die strukturalistische Langue oder die generative Inner Language sind, beliebigen Varietäten gleich, soziale Perspektivierungen von Sprache und somit soziopragmatische Wirksamkeit entfaltende Zeichen. Man bedenke in diesem Zusammenhang, welches Spektrum an Kontextualisierungen ein beliebiger linguistischer Begriff indizieren kann. Zieht man den (Konstruktions-)Prozess, der soziale Sprach(heterogenitäts)Perspektivierungen (wie etwa Varietäten) als Zeichen konstituiert, in Betracht und berücksichtigt zudem das in der Linguistik gegebene Höchstmaß an Zusammenfall von epistemischem Subjekt- und Objektbereich (s. 2.4.1), so folgt daraus: Konstruktionsimmanente Selbstreferentialität ist dabei auf allen Ebenen unmittelbar und grundlegend evident. Vollständig sprachlich – bzw. sprachbasiert und sprachbezogen – konstituierte, respektive strukturierte Zeichen (nämlich soziale Perspektivierungen natürlichsprachlicher Heterogenität, z. B. Varietäten) werden als solche, d. h. als sprachliche/sprachbezogene Phänomene, (meta-)sprachlich/kommunikativ funktionalisiert – und treten auf diese Weise, als Zeichen für Zeichen in Zeichen, ein in eine Endlosschleife prozessualselbstreferentieller Rekursivität, (Re-)Konstituierung und (Re-)Funktionalisierung. Dieses schillernde Phänomen (mit seiner Fülle an semiotischen, semantischen und pragmatischen Aspekten) wird innerhalb des funktional dimensionierten Theorieansatzes als Meta(sozio)semiose28 betrachtet. Eine stringente Analyse und Deutung der (meta-)kommunikativen Ressourcen dieser Zeichen(gebung) auf Basis eines Anschlusses an bewährte Modelle der Semiotik einerseits, der linguistischen Semantik und Pragmatik andererseits stellt ein Desiderat und deshalb ein dezidiertes Vorhaben im Rahmen des funktional dimensionierten Paradigmas dar. Dabei sollen keinesfalls die Meriten der interaktional-sozialkonstruktivistischen Soziolinguistik geschmälert oder gar ausgeblendet werden. Es ist unbestritten, dass diese im Verlauf einer inzwischen mehrere Jahrzehnte Wissenschaftsgeschichte umfassenden Entwicklung Schritt für Schritt bestimmte Aspekte des semiotischen Potenzials sprach28 Das in Fußnote 11 bzw. im entsprechenden Fließtext Gesagte gilt analog auch für die Schreibungen Meta(sozio)semiose/meta(sozio)semiotisch.

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licher Heterogenität/Variation transparent gemacht und theoretische Instrumentarien zu deren Exploration und Explikation entwickelt hat.29 Aus heutiger Sicht spricht man in diesem Zusammenhang von einer »dritten Welle« innerhalb der soziolinguistischen Forschung30, die mit der »Entdeckung« und Fokussierung der semiotischen Dimension sprachlicher Variation ausgelöst worden ist: »(1) variation constitutes a robust social semiotic system, expressing the full range of social concerns in a given community; (2) variation does not simply reflect, but constructs, social meaning« (Eckert 2012: 87). Zentrale Bedeutung kommt dabei dem im Anschluss an Cook-Gumperz / Gumperz (1976) entwickelten Kontextualisierungs-Paradigma zu (vgl. Auer / Di Luzio 1992). Vor dessen Hintergrund wird der rhetorische bzw. diskursrelevante Gebrauch varietätenspezifisch markierter sprachlicher Phänomene – also die Zeichengebung im oben genannten Sinn – u. a. auch im Zusammenhang mit Speaker-DesignProzessen (vgl. Schilling-Estes 2013) gedeutet. Man erkennt unschwer, dass die letztgenannte Perspektive auf sprachliche Variation auch eine erhebliche Reihe von Schnittstellen mit der – in ihrer Forschungstradition kontinuierlich bis in die griechisch-römische Antike zurückreichenden – Stilistik (vgl. Fix / Gardt / Knape 2008, 2009) aufweist. Tatsächlich rekurrieren zahlreiche der jüngeren bzw. rezenten Untersuchungen zur entsprechenden Funktion(alisierung) sprachlicher Variation/Heterogenität (wieder) auf den Stil-Begriff, so etwa Auer (2007), worin die entsprechenden Problemstellungen in komprimierter Form wie folgt umrissen werden: [to] focus on heterogeneity in linguistic practice such as the use of more than one language within a conversation by bilingual speakers, the use of different grammatical, phonological or lexical options for realising one linguistic category, within what is generally considered to be one language, or the selection of features from various linguistic systems (such as dialects) which are structurally closely related (ebd.: 1).

Darauf exemplarisch Bezug nehmend lässt sich folgendes verdeutlichen. Zwar hält auch die interaktional-sozialkonstruktivistische bzw. die gesamte, der dritten soziolinguistischen Evolutionsstufe zuordenbare Forschung bislang an einer systemtheoretisch überholten, strukturalistischen Systematizitäts-Konzeption (s. 2.3) fest und postuliert demzufolge in diasystemischer Manier beispielsweise »various linguistic systems (such as dialects) which are structurally closely related« (Auer 2007: 1). Gleichzeitig aber öffnet sie durchaus Zugänge zu einer 29 An dieser Stelle kann auf den Verlauf dieses Prozesses, vor allem auf seine – aus Sicht der interaktional-sozialkonstruktivistischen Soziolinguistik prätheoretische – Frühphase nicht eingegangen werden. Des Weiteren ist in diesem Kontext daran zu erinnern, dass außerhalb explizit soziolinguistischer Zusammenhänge stehende Forschungen zu paraverbalen Phänomenen eine beachtliche Tradition aufweisen. 30 Als Über- und Einblick gleichermaßen willkommen erweist sich in diesem Zusammenhang das in Soukup [im vorliegenden Band] Ausgeführte.

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konstruktivistischen Perspektivierung bzw. de-ontologisierenden (Selbst-)Reflexion, da etwa von Entitäten »generally considered to be one language« (Zitat oben) die Rede ist, somit die essentialistische Konfigurierung von (Einzel-) Sprachen infrage – oder zumindest zur Diskussion – gestellt wird (vgl. auch die einschlägige Superdiversitäts-Diskussion in Blommaert / Rampton / Spotti 2011). An dieser Stelle lassen sich die bislang grundlegend umrissenen Positionen des funktional dimensionierten Ansatzes intentional konkretisieren. So geht es zum einen um die konsistente, generalisierende Weiterentwicklung interaktional-sozialkonstruktivistischer Deutungen des semiotischen Potenzials der Sprachvariation (wie Kontextualisierung, Speaker Design, variationsspezifische Stilistik), zusammengeführt auf Basis einer bislang nicht angedachten, den Peirce’schen Entwürfen verpflichteten Semiotik (extra- und innerlinguistischer) sozialer Perspektivierungen natürlichsprachlicher Heterogenität. Epistemologisch gesehen erfolgt dies in operativ konstruktivistischer Manier, im engeren Sinn methodologisch bewegt man sich dabei, dies sei noch einmal festgehalten, im Rahmen eines Paradigmas. Der Anschluss an die Peirce’sche (Pan-)SemioseTheorie sowie an etablierte Modelle der linguistischen Semantik/Pragmatik bildet die für ein linguistisches (Selbst-)Verständis notwendigen Voraussetzungen. Die auf diese Weise realisierte theoretische Konfiguration ermutigt zu einer konsequenten Ausdehnung des Untersuchungsbereiches auf den vonseiten der soziolinguistischen Sprachvariationsanalyse bislang weniger beachteten Bereich der konzeptionellen Schriftlichkeit (vgl. u. a. Glauninger 2012 a, d sowie Habacher 2013). Mehr noch: Intendiert ist, konzeptionell schriftliche Texte als Problemstellung dezidiert zu priorisieren (s. 3.3). Bei alldem ergibt sich, und dies sowohl aus allgemein systemtheoretischen als auch im engeren Sinn logischen (respektive mengentheoretischen) Prämissen, eine nicht zu neutralisierende Inkompatibilität mit strukturalistischen oder generativen – kurzum: herkömmlich linguistischen – Systemkonzeptionen. Deren weiter oben diskutierte Inadäquatheit und Inkonsistenz (vor allem hinsichtlich einer Parametrisierung variationsspezifischer Disjunktheit/Diskretheit einerseits, Diffusion anderseits) würde durch die Implementierung einer zusätzlichen semiotischen Komponente, die dem in vielfacher, diffiziler Weise (meta-)kommunikativ Wirksamkeit entfaltenden Zeichen-Status von Varietäten u. ä. Perspektivierungen natürlicher Sprache gerecht werden muss, auf ein inakzeptables Maß gesteigert. Das oben skizzierte diasystemische Dilemma wäre dabei unmittelbar und nachhaltig auf die semiotische Ebene zu projizieren. Erneut würden (»innerlich«) diffundierende und zugleich (»nach außen«) kontinuierlich disjunkte (!) Holismen zu gewärtigen sein, die zugleich (diffuse) Teile eines anderen Ganzen sein müssten. Es lässt sich aber auch unabhängig von diesen Indizien defektiver Operabilität unschwer erkennen, dass die Signata der hier zu

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behandelnden metasoziosemiotischen Zeichen, d. h. das gesamte Spektrum an sozioperspektivierungsbezogen akkumulierten sozialen, »außersprachlichen« und »sprachreflexiven« (zu einem erheblichen Anteil attitudinalen, respektive stereotypischen) Erfahrungs- und Wissensbeständen, eine herkömmliche Modellierung in Form von »segmentierbarer« Diskretheit31 wenig überzeugend erscheinen lassen. Dessen ungeachtet sind hingegen die entsprechenden Signantia verständlicherweise diskret – praktikablerweise auch durchaus im herkömmlich strukturalistischen Sinn segmental – konfigurierten Entitäten zuzuschreiben. Eine theoriekonforme Handhabung dieser Problematik verspricht die Applikation der Peirce’schen Annahme von einer Determinations-Relation, und zwar sowohl zwischen (in Peirce’schem Verständnis) Objekt und Zeichen als auch zwischen Zeichen und Interpretant, wobei im Fall der Signata im Rahmen metasoziosemiotischer Prozesse hier vor allem die erstgenannte Relation fokussiert wird. Just as with the sign, not every characteristic of the object is relevant to signification: only certain features of an object enable a sign to signify it. For Peirce, the relationship between the object of a sign and the sign that represents it is one of determination: the object determines the sign. Peirce’s notion of determination is by no means clear and it is open to interpretation, but for our purposes, it is perhaps best understood as the placing of constraints or conditions on succesful signification by the object, rather than the object causing or generating the sign. The idea is that the object imposes certain parameters that a sign must fall within if it is to represent that object. However, only certain characteristics of an object are relevant to this process of determination [Hervorhebung übernommen, M. M. G.] (http://plato.stanford.edu/entries/peirce-semi otics).

In der jeweiligen, situativ gegebenen Aktualisierung einer metasoziosemiotischen Zeichenverwendung sichert dieses als Determination strukturierte Restriktions- bzw. Selektionsverfahren somit hinreichend – weil der Zeichenkonstruktion gewissermaßen als Konstituens implementiert – den erforderlichen Grad an Bedeutungs-»Diskretheit« des Signatums. Hier lässt sich darüber hinaus der oben mehrfach angedeutete – sozusagen durch die Peirce’sche SemioseKonzeption »vermittelte« – intendierte Anschluss an die zeitgemäß autopoietisch (selbstreferentiell-prozessual) konfigurierte soziologische Systemtheorie (vgl. insbesondere Luhmann 1987, Baraldi / Corsi / Esposito 1997) als method(olog)ische Intervention argumentieren. Systematizität gründet dabei auf einem Prozess, der – und dies ist entscheidend – die Konstituierung und den Fortbestand eines Systems gewissermaßen aus sich selbst heraus (durch (re-)produktive 31 Etwa gemäß komponentialsemantischer Verfahren. An dieser Stelle sei festgehalten, dass auf die generellen, beträchtlichen epistemologischen Probleme der linguistischen, insbesondere lexikalischen Semantik im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen werden kann.

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Selbstreferenz) sicherstellt. Das System selbst – und nur dieses – generiert im Rahmen eines je systemspezifischen Operationstyps jene Elemente, welche ebendiese Operationsweise und somit deren Output sowie die Anschlussfähigkeit desselben an weitere Operationszyklen derselben Art sicherstellen – und dies ad infinitum (d. h.: solange das System besteht), in kontinuierlich selbstreferentieller Manier. Kurzum: Systeme sind (als) autopoietische Prozesse (definiert).32 Die Operationen eines sozialen Systems sind Kommunikationen, die sich aufgrund anderer Kommunikationen reproduzieren und damit die Einheit des Systems herstellen […]; außerhalb von sozialen Systemen gibt es keine Kommunikationen (Baraldi / Corsi / Esposito 1997: 29).

Ohne im vorliegenden Rahmen auf den – rein operativen – Luhmann’schen Kommunikations-Begriff näher eingehen zu können (vgl. dazu Baraldi / Corsi / Esposito 1997: 89 – 93), identifiziert das funktional dimensionierte Paradigma jenen, die Peirce’sche Semiose konstituierenden, ebenfalls selbstreferentiellen und sich (im oben definierten Sinn) ad infinitum fortsetzenden Prozess der Zeichenkonstituierung (als Konstruktion) bzw. deren Operationalisierung, d. h. die Infinite Semiosis,33 als das der Metasoziosemiose im Besonderen sowie dem funktional dimensionierte Paradigma im Allgemeinen zugrunde liegende System(atizitäts-Phänomen) (vgl. auch Fußnote 22 mit Fließtext). Dadurch rückt der Anschluss an die Systematizitäts-Konzeption der modernen soziologischen Systemtheorie (s. weiter oben) in den Bereich linguistischer Optionen. Den Bezug bildet dabei eine Sprach-, respektive Kommunikationsdimension, die analytisch zwar in Komplementarität zur entsprechenden »basalen«, herkömmlicherweise als Gegenstand linguistischer (oder auch kommunikationswissenschaftlicher u. a.) Forschung definierten Dimension behandelt wird, realiter aber mit dieser nahtlos »korrespondiert« und dabei kommunikativ omnipräsent ist. Sprachliche bzw. sprachbasierte Kommunikation ohne metasoziosemiotische (Korrespondenz-)Phänomene (veranschaulichend ausgedrückt: metasoziosemiotische »Begleitmusik«), insbesondere etwa in Form von (po32 Im Fall von Organismen (biologischen Systemen), dem primären Bezugsrahmen und wissenschaftsevolutionären Ausgangspunkt der autopoietischen Systemtheorie, ist jede Zelle »das Ergebnis des Netzwerks interner Operationen des Systems, dessen Element sie ist – also nicht das Ergebnis eines externen Eingriffs« (Baraldi / Corsi / Esposito 1997: 29). 33 »This is a consequence of the way Peirce thinks of the elements of signs [und zwar in einer frühen Phase seiner Zeichentheorie, M. M. G.] and seems to stem from his idea that interpretants are to count as further signs, and signs are interpretants of earlier signs. Since any sign must determine an interpretant in order to count as a sign, and interpretants are themselves signs, infinite chains of signs seem to become conceptually necessary« (http:// plato.stanford.edu/entries/peirce-semiotics/#InfSem).

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tenziell sämtliche Aspekte eines Kommunikationsereignisses modifizierenden) Kontextualisierungseffekten, ist ausgeschlossen.34 Wenn diese Phänomene in Relation zu einem situativ konstituierten (und das heißt: konstruierten) Horizont an Erwartungen bzw. Normen »unmarkiert« präsent sind (und somit nicht kontrastiv ins Bewusstsein treten), so entfalten sie dabei dennoch soziopragmatische Funktionalität: Die im Rahmen jedes sprachbasierten Kommunikationsereignisses indizierten Signata sozialer Sprach-Perspektivierungen (wie Varietäten) entsprechen auf diese Weise konfirmativ dem Erwartungs- und Normenhorizont. Dies ermöglicht a) eine ganze Reihe von Rückschlüssen auf das Kommunikationsereignis, im Besonderen aber auf die involvierten Kommunikationsteilnehmer(innen), und blockiert b) Effekte, die vor allem auf der Ebene des Kommunikationsinhaltes im »engeren« – herkömmlich linguistischen – Sinn (bedeutungs-)modifizierend wirken können. Genau das unter b) als blockiert Angeführte wird bei »markiertem« – d. h. als kontrastiv zu einem situativ gegebenen Erwartungs- und Normenhorizont perzipiertem – Auftreten von metasoziosemiotisch indizierten Signata realisiert, häufig in Form einer evaluativen (z. B. ironisierenden oder proxemische Relationen justierenden) Modifikation der gewissermaßen »basiskommunikativen« (Bedeutungs-)Ebene. Wie bereits angedeutet, birgt eine Analyse dieser spezifischen, metasoziosemiotischen Zeichen(gebung) auf Basis einer Zusammenführung von zeitgemäßen systemtheoretischen und etablierten semiotischen Entwürfen sowie bewährten Modellen der linguistischen Semantik und Pragmatik ein erhebliches Generalisierungspotenzial, das die bislang insgesamt noch divergierenden bzw. heterogenen Deutungsansätze soziolinguistischer Kontextualisierungs-, Speaker-Design-, Stil- u. ä. Paradigmen stringent(er) zusammenführen, dadurch aber auch im Sinne einer Komplexitätsreduktion potenzieren kann. Semiotisch lässt sich auf diese Weise beispielsweise die Differenz(ierung) zwischen Virtualität und Aktualität/Aktualisierung der Zeichen(gebung) operationalisieren, was unter anderem der Deutung von jedweder – »alltagskommunikativer«, insbesondere aber auch medialer – Inszenierung von sprachlicher Heterogenität/Variation (natürlich wieder perspektiviert in Form von Varietäten/Lekten/Sprechweisen etc.) zugutekommt. Die in diesem Zusammenhang – bislang vorwiegend aus strukturalistischem bzw. herkömmlich soziolinguistischem Blickwinkel – problematisierte »Authentizität« von Varietäten, respektive entsprechenden sprachlichen Merkmalen (beispielsweise Dialekt in der Literatur, Werbung, Musik oder sekundärer/tertiärer Lekt (vgl. Auer 2003, Androutsopoulos 2011 u. a. m.)) wird auf diese Weise (zusätzlich) zu einem schlussendlich bewährt 34 Dies liegt in der vorliegend mehrfach argumentierten, ausschließlich und vollständig sozial konstituierten (und denkbaren) Existenzform alles Sprachlichen und Sprachbasierten begründet.

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semiotisch operationalisierbaren Phänomen. Direkt im Zusammenhang mit dem Potenzial der Applikation usuell semiotischer Methodik und Kategorien steht des Weiteren die stärkere Einbeziehung von Situativitäts- bzw. (Ko(n)-)Textualitäts-Bezügen metasoziosemiotischer Zeichen. Dabei eröffnet sich, wie zuvor angedeutet, auf Basis der Berücksichtigung semiotischer Basiskategorien wie »Kongruenz« oder »Kontrast« ein Zugang zu einem breiten Spektrum an metasoziosemiotischen Effekten. Schließlich kann auch das Problem der Intentionalität metasoziosemiotischer Zeichen(gebung) vor dem Hintergrund des operativen Konstruktivismus bzw. gemäß der Peirce’schen Pansemiose-Interpretation innerhalb eines etablierten semiotischen Rahmens relativiert werden. Dabei ist vorauszusetzen, that the entire universe – not merely the universe of existents, but all that wider universe, embracing the universe of existents as a part, the universe which we are all accustomed to refer to as ›the truth‹ – that all this universe is perfused with signs, if it is not composed exclusively of signs (Hartshorne / Weiss 1998: CP 448).

Was die semantische Dimension metasoziosemiotischer Zeichen(gebung) anbelangt, lassen das oben Ausgeführte sowie die bisherigen Problemerfahrungen im Rahmen des Kontextualisierungs-Paradigmas einen (spezifisch zu modellierenden) Frame-semantischen Ansatz35 applikabel erscheinen. Für die funktionaldimensionierte Theoriebildung bzw. deren Metasoziosemiose-Konzeption stellen vor allem folgende zwei Aspekte gewichtige Argumente für diese Entscheidung dar: einerseits die in sämtlichen Frame-Entwürfen evokativ und somit (wenngleich nicht explizit und transparent) konstruktivistisch (bzw. im Peirce’schen Sinn (meta-)indexikalisch) vorgenommene Strukturierung von »Bedeutung«; andererseits die nicht lediglich als akzidentiell aufgefasste bzw. resignativ »akzeptierte«, sondern als Prämisse postulierte Indiskretheit, ja Prozessualität (!) von sprachbasierten Signata. Letzteres scheint unabdingbar, wenn man – wie im Fall metasoziosemiotisch relevanter Zeichen(gebung) – diesbezüglich den gesamten sozioperspektivierungs- (also etwa varietäten-)spezifischen »außersprachlichen« sowie – im größtmöglich ausgreifenden Sinn – »sprachreflexiven« Bereich in Betracht zieht. Zweifelsohne kommt in diesem Zusammenhang, wie bereits mehrfach betont, ein nahezu sämtliche Limitationen sprengender (und zusätzlich dynamischer, d. h. sich ständig modifizierender) Komplex an sozialen Akkumulationen, Emotionen, Attitüden, »Welt- und Sprach(gebrauchs)-Wissen« u. a. m. ins Spiel. Allerdings gilt auch hier: Situativität und Aktualisierung, nicht zuletzt aber die alles Sprachliche/Sprachbasierte rigid steuernde Konven35 Einen Überblick über den rezenten Entwicklungsstand bzw. die Potenziale der Frame-Semantik bieten beispielsweise Busse (2012), Gawron (2011) und Ziem (2008). Freilich ist in diesem Zusammenhang der Blick epistemologisch zu weiten, etwa gemäß Scollon (2003), wobei der Terminus Frame beibehalten werden kann.

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tion(alisierung) machen selbst diesen Bestand an (Sprach-)Zeichen nutzbringenden semantischen Analysen zugänglich sowie, was letztlich ungleich entscheidender ist, pragmatisch verwert- und interpretierbar. Erinnert sei an dieser Stelle noch einmal an die in dieser Hinsicht hoch relevante, in der Peirce’schen Zeichenstruktur unmittelbar angelegte »fokussierende« Relation der semiotischen Determination (s. oben). Nur in Ergänzung soll hier explizit festgehalten werden, dass vonseiten des funktional dimensionierten Paradigmas jedwede naturalistische Fundierung bzw. Ausrichtung Frame-semantischer Ansätze als essentialistisch klassifiziert und selbstredend nicht übernommen wird. Es erfolgt somit die Applikation einer – in linguistisch verträglichem Maß – de-ontologisierten Frame-Semantik. Mit Nachdruck noch einmal hervorzuheben ist schließlich ein weiteres Faktum, das unmittelbar aus der operativ konstruktivistischen Positionierung der funktional dimensionierten Annäherung an die Sprachvariation resultiert und auf das bereits oben mehrfach und unmissverständlich hingewiesen wurde: Auch sämtliche wissenschaftlich, nicht zuletzt insbesondere linguistisch fundierten Wissens- und Erfahrungs-Bestände über eine bestimmte soziale Perspektivierung natürlicher Sprache – sei diese nun extralinguistisch oder linguistisch – sind dem Signatum des Zeichens, das diese Perspektivierung repräsentiert, zugeordnet.36 Damit zur pragmatischen Ebene der Metasoziosemiose. »Peirce’s view allows conceiving of semiosis as taking place on the level of pragmatics« (Dressler / Merlini Barbaresi 1994: 9). Die schillernde (pragmatische) Funktionalität der metasoziosemiotischen Zeichen(gebung) ist – freilich unter anderen epistemologischen, methodologischen und terminologischen Vorzeichen und lediglich im Hinblick auf Einzelaspekte – Gegenstand der Kontextualisierungsforschung und anderer Paradigmen der interaktionalen Soziolinguistik bzw. Sprachheterogenitäts/-variations-Stilistik. Als Brennpunkte haben sich dabei unterschiedlichste Effekte der (im engeren Sinn propositionsneutralen) »Bedeutungs«-Modifikation sowie diffizil »rhetorischer«, diskursrelevanter Art (z. B. steuernd, gliedernd) herauskristallisiert. Wie bereits oben postuliert, steht aus funktional dimensioniertem Blickwinkel einem Anschluss an bewährte pragmalinguistische Theoriebildungen nichts im Weg, ganz im Gegenteil: Die metasoziosemiotische Zeichengebung kann (und muss) hinsichtlich ihres sprechakttheoretischen, text(sorten)pragmatischen, konversationstheoretisch relevanten Potenzials ausgelotet werden und dies, wie bereits weiter oben gefordert, insbesondere im Bereich konzeptioneller Schriftlichkeit.

36 Die Linguistik steht, wie oben mehrfach erwähnt, erst am Beginn eines entsprechenden (Selbst-)Reflexionsprozesses. Einen aktuellen Beitrag dazu stellt Barát / Studer / Nekvapil (2013) dar.

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Der somit erfolgte, aus linguistischer Sicht und gemäß der Problemstellung bzw. Zielsetzung vorliegender Arbeit komprimiert vorgenommene Überblick über semiotische, semantische und pragmatische Aspekte metasoziosemiotischer Zeichen(gebung), der zugleich den variationspragmatischen Kernbereich des Paradigmas funktional dimensionierter Sprachvariation definiert, leitet über zur Frage nach der aus diesem theoretischen Ansatz resultierenden Perspektivierung des Deutschen in Österreich, wobei dessen Standardebene im Fokus stehen wird.

3

(Standard-)Deutsch in Österreich

Die oben den Abschnitt 1 abschließende, pointierte Feststellung, dass (Standard-)Deutsch in Österreich mehr als österreichisches (Standard-)Deutsch ist, erfordert eine Präzisierung bzw. Begründung. Beides wird nun im Anschluss erfolgen, und zwar gemäß der Zielsetzung vorliegender Arbeit in Form einer Konfiguration des entsprechenden Objektbereichs basierend auf bzw. im Einklang mit der in Abschnitt 2 vorgenommenen Explikation des Paradigmas der funktionalen Dimensionierung sprachlicher Variation. Dabei erlangen die in diesem Zusammenhang vertretenen epistemologischen bzw. methodologischen Positionen erneut argumentatives Gewicht.

3.1

Selektionshorizont

Den Selektionshorizont für eine Modellierung des Gegenstandes (rezentes) Deutsch in Österreich stellt das Gesamtspektrum der auf österreichischem Staatsgebiet in mündlicher und schriftlicher Form existenten deutschen Sprache dar. Dazu zählt zum einen alles in Österreich – von Personen welcher Herkunft und mit welcher sprachlicher (Primär-)Sozialisation auch immer37 – auf Deutsch Gesprochene und Geschriebene, und zwar unabhängig von dessen variationsspezifischer (und relational dazu: normbezogener) Qualität sowie unter Einbeziehung sämtlicher kontextueller Bezüge bzw. medialer Übermittlungsformen. Damit zum Teil in Übereinstimmung stehend, aber noch darüber hinausreichend zählt zum linguistischen Gegenstandsbereich Deutsch in Österreich jede Form des aufgrund von wirtschaftsbezogener Kommunikation, Handelsbezie37 Dazu zählen natürlich im Besonderen Immigrantinnen und Immigranten. Eine verhältnismäßig große Gruppe bilden jene aus Deutschland, 2012 offiziell knapp 153 000 Personen (vgl. Statistik Austria 2012: 20).

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hungen u. Ä.38 sowie über Verbreitung durch Printmedien, Rundfunk, Fernsehen und (andere) digitale Massenmedien in Österreich präsente Deutsch, wiederum losgelöst von sprecher- oder sonstigen variations- (insbesondere auch arealoder staats-)spezifischen Restriktionen. Man beachte diesbezüglich beispielhaft die nachstehend inserierten Fakten zur Situation im Bereich des Fernsehens: Besonders hoch ist in Österreich […] die [Fernseh-]Senderauswahl – pro TV-Haushalt konnten im 4. Quartal 2012 im Schnitt 100 Sender empfangen werden […], davon 73 in deutscher Sprache. Vor allem in den mittlerweile vollständig digitalisierten Satellitenhaushalten ist das Programmangebot sehr umfangreich: Hier standen im 4. Quartal 2012 durchschnittlich 139 Sender zur Verfügung (davon 96 deutschsprachige Kanäle). Aufgrund der hohen digitalen Satellitenpenetration […] und des großen gemeinsamen Sprachraumes verfügen die Österreicher/innen in Europa über eines der umfangreichsten Programmangebote in der eigenen Landessprache [Hervorhebung durch M. M. G.] (http://mediaresearch.orf.at/index2.htm?fernsehen/fernsehen_ma.htm).39

Aus dem somit, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Realitäten des EU-Binnenmarktes (vgl. Abschnitt 1) in Maximalextension angesetzten Selektionshorizont hinsichtlich eines linguistischen Objektbereichs Deutsch in Österreich folgt für dessen Standardebene, dass darauf – vor allem, aber nicht nur aufgrund ökonomischer Verflechtung bzw. der Übermittlung durch Massenmedien jedweder Art (s. oben und vgl. Burger 2005: 362) – zumindest alle Standardvarietäten des gesamtdeutschen Sprachraums, insbesondere aber jene Deutschlands (bzw. auf allen systemlinguistisch beschreibbaren Ebenen angesiedelte Varianten derselben) präsent sind. Darüber hinaus ist jedoch davon auszugehen, dass in zahlreichen (wenn nicht sämtlichen) Domänen des gesprochenen und geschriebenen Standarddeutschen in Österreich auch Varianten des »bundesdeutschen« Nonstandards Verwendung finden (mehr dazu in 3.2 und 3.3). Unter Ausblendung der Perspektive einer in diesen Verhältnissen angelegten, beträchtlichen kommunikativen Ressource ist im Rahmen des Modells plurinational interpretierter Plurizentrizität – zumindest implizit – negativ wertend von »Asymmetrie« die Rede (vgl. im Anschluss an bzw. unter Verweis auf einschlägige Arbeiten von Michael Clyne u. a. Ammon 1995: 484 – 499). Daraus resultiert 38 Deutschland ist traditionell der mit Abstand wichtigste Handelspartner Österreichs. 2012 lagen die Importe aus diesem Nachbarland bei 37,6 %, die Exporte dorthin bei 30,6 %. Die entsprechenden Werte liegen bei Österreichs zweitwichtigstem Handelspartner, Italien, bereits signifikant niedriger (6,2 bzw. 6,8 %) (vgl. http://www.statistik.gv.at/web_de/services/ wirtschaftsatlas_oesterreich/aussenhandel/index.html). 39 Diesem Bild vom Fernsehkonsum in Österreich ist nichts hinzuzufügen. Datenmaterial von vergleichbarer Validität ist zwar weder hinsichtlich der Internet-Nutzung noch in Bezug auf den Konsum von Printmedien verfügbar (bzw. lässt sich, was das Internet anbelangt, de facto nicht generieren). Ein ähnlicher Grad an Präsenz der deutschen Sprache aus nicht österreichischen Gebieten kann jedoch auch in diesen Domänen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

(Standard-)Deutsch in Österreich im Kontext des gesamtdeutschen Sprachraums

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auf Basis einer vornehmlich sozialpsychologischen Interpretation das Postulat »dominanter« und »nicht dominanter« (National-)Varietäten (vgl. zuletzt Muhr 2012, Muhr [u. a.] 2013). In Verbindung damit werden auch (teils altbekannt puristische) sprachpolitische Interventionen gegen die vermeintliche sprachliche »Dominanz« gefordert (was in Glauninger 2013: 129, Fußnote 14, auf Kritik stößt). Abseits dieser, sich im Rahmen der Plurizentrizitäts-Forschung bewegenden Debatte weist die Auseinandersetzung mit der Präsenz des »(bundes-)deutschen« Deutsch in Österreich eine vom 18. Jahrhundert an kontinuierlich bis in die Gegenwart reichende Tradition auf (vgl. zahlreiche Passagen in Wiesinger 2014 und Ammon 1995: 117 – 227).40 Die einschlägigen Untersuchungen sind Legion und erfahren unvermindert Zuwachs (vgl. zuletzt etwa Wiesinger [im Druck]). Je nach konkreter Fragestellung, häufig aber auch determiniert durch Werturteile wird in Arbeiten dieser Art zum Problem bzw. Phänomenbereich »Existenz/Gebrauch des bundesdeutschen Deutsch in Österreich« Stellung bezogen. Dabei fächert sich der Tenor in einer Palette von nüchtern-konstatierend über kulturpessimistisch bis puristisch auf, während sich der Erkenntniszuwachs in Grenzen hält. Letzteres aber vor allem deshalb, weil funktionale Aspekte des untersuchten Phänomenkomplexes bislang vernachlässigt wurden.41 Gerade an diesem Punkt wird naheliegenderweise im Rahmen des Paradigmas der funktionalen Dimensionierung sprachlicher Variation angesetzt. Dabei erfolgt eine Abkehr sowohl von traditionell bzw. »klassisch« angelegten (s. Fußnote 40) Deutungsmustern als auch vom »Asymmetrie«-Postulat des plurinational interpretierten Plurizentrizitäts-Paradigmas (und selbstredend von sämtlichen damit einhergehenden puristischen Wertungen). Auf Basis dieser theoretischen Voraussetzungen lassen sich die Möglichkeiten variationsbasierter kommunikativer Potenzierung nicht einmal ansatzweise erfassen. Es zeigen sich somit erneut gravierende Differenzen zwischen der funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie auf der einen Seite und der methodologisch traditionell orientierten Forschung auf der anderen. Letztere vermittelt gerade auch aus der Perspektive dieser Gegensätze ein relativ homogenes Bild hinsichtlich der Auffassung über einen linguistischen Gegenstand österreichisches (Standard-) Deutsch42. Dies wird schnell verständlich, wenn man die dahinterliegende und 40 Auch in vorliegendem Beitrag wurde bereits darauf Bezug genommen, und weiteres folgt im Anschluss im Zusammenhang mit dem essentialistischen Verständnis von einem österreichischen Deutsch, wie es in der methodologisch traditionell (philologisch-dialektologisch/ areallinguistisch bzw. korrelativ-soziolinguistisch) fundierten Forschung vorherrscht. 41 Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt Pichler (2013) dar. Näheres zu dieser Arbeit folgt weiter unten. 42 Dabei steht österreichisches (bzw. in Großschreibung als Eigenname Österreichisches) Deutsch praktisch ausschließlich für ›charakteristisch österreichische Standardvarietät

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dafür auschlaggebende, erneut folgenschwer essentialistische Vorstellung berücksichtigt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um den weiter oben diskutierten epistemologischen bzw. im engeren Sinn linguistisch-methodologischen Essentialismus, sondern vielmehr um eine histori(zi)stisch und (sprach-)philosophisch, respektive sprachpolitisch fundierte (und, was Letzteres anbelangt, zuweilen auch entsprechend ausgerichtete) Facette dieser Strömung. Deren Ursprung und Fundament bis zum heutigen Tag bildet the discourse of ›languages‹ as the ›natural‹ reflexes of national identities […]. Collectivities are treated as unique quasi-beings which express their identities through certain features equally unique to them. Among these features, the national (standard) language has a privileged role (Auer 2007: 2).

Im Hinblick auf das Deutsche in Österreich lässt sich dabei Folgendes beobachten: Einerseits wird klar die explizite Variante dieses Essentialismus vertreten, in Form des Postulats einer österreichischen Nationalvarietät des (Standard-)Deutschen, eingebettet in das inzwischen etablierte Paradigma der plurinationalen Plurizentrizitäts-Deutung (nach Clyne, Ammon u. a., s. oben, Abschnitt 1). Man kann in dieser Hinsicht von einem Nationalvarietäten-Essentialismus sprechen.43 Andererseits prägt daneben seit Beginn der Auseinandersetzung mit dem Problem der Konstitution und Stellung eines charakteristisch österreichischen Deutsch innerhalb des gesamtdeutschen Sprachraums eine abgeschwächt oder implizit essentialistische Perspektive die Forschungslandschaft. Die unterschiedlichen Facetten dieser Strömung lassen sich anhand von Wiesinger (2014: 259 – 274) im Überblick nachvollziehen, wobei nicht zuletzt diverse terminologische Reflexe, die im Kontext der Plurizentrizitätsdebatte entstanden sind, erhellend wirken (z. B. österreichisch-neutral, plurizentrisch-neutral, deutsch-integrativ, pluriareal). In all dem nämlich begegnet, vor dem Hintergrund des oben im Zitat aus Auer (2007) Dargelegten, jener angesprochene abgeschwächte oder implizite Essentialismus. Dieser manifestiert sich in der Setzung einer identitätsbildenden oder -stützenden Korrelation zwischen einer – je nach sonstiger Positionierung bzw. dem jeweiligen Blickwinkel qualitativ und quantitativ unterschiedlich definierten – Menge an Merkmalen der deutschen (Standard-)Sprache einerseits und der österreichischen Bevölkerung als unique [plurinational interpretiert: Nationalvarietät] des Deutschen in Österreich‹, vgl. Wiesinger (2014) und Muhr / Sellner (2005) mit Hinweisen auf zahlreiche weitere Publikationen. 43 Eine konsequent radikale Ausprägung dieser Haltung existierte in der Frühphase der Auseinandersetzungen um ein plurinational interpretiertes plurizentrisches Deutsch (s. Abschnitt 1) in Form des Postulats einer (National-)Sprache Österreichisch bzw. der (Forderung nach einer) Verwendung dieser Bezeichnung für die österreichische Standardvarietät des Deutschen (vgl. Muhr 1982 und 1987). Inzwischen scheint man sowohl vom Gebrauch des Terminus Österreichisch in dieser Bedeutung als auch von den damit verbundenen sprachpolitischen Intentionen abgekommen zu sein.

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41

quasi-being (vgl. Auer 2007: 2) andererseits. Diesem in Form der Annahme, menschliche Kollektive »express their identities through certain features equally unique to them« (ebd.), klar als essentialistisch erkennbaren Denken wird im Zusammenhang mit einem österreichischen Deutsch innerhalb der vorliegend als methodologisch traditionell ausgerichtet qualifizierten Forschungstradition ausnahmslos (und offensichtlich weitgehend unreflektiert) entsprochen. Das gilt selbst dort, wo Phänomene wie »Nation« als soziale Konstrukte identifiziert werden, etwa im Fall von Wiesinger (2014: 469 – 507). Die (Wiener) kritische Diskursanalyse wiederum deutet zwar das Verhältnis zwischen österreichischer Identität und österreichischem Deutsch sozialkonstruktivistisch und entsprechend ambivalent (vgl. als frühes Beispiel de Cillia 1995, als jüngere Arbeit Wodak [u. a.] 2009). Eine analog daran anknüpfende, folgerichtig weiterführende Analyse dieses österreichischen Deutsch als Sozialkonstrukt ist bislang jedoch ausgeblieben.

3.2

Soziale Perspektivierungen

Der in 3.1 als größtmöglich ausgreifend angesetzte Selektionshorizont stellt keinen (konstruktivistischen) Selbstzweck dar. Gemäß dem Paradigma funktionaler Sprachvariations-Dimensionierung entspricht er vielmehr jenem Potenzial an Heterogenität der deutschen Sprache in Österreich, das auf Basis sozialer Perspektivierungen als kommunikative Ressource genutzt wird. Ein im Licht dieses methodologischen Selbstverständnisses konfigurierter linguistischer Gegenstandsbereich Deutsch in Österreich steht diametral zum Verständnis von einem österreichischen Deutsch philologisch-dialektologischen/areallinguistischen oder auch korrelativ-soziolinguistischen Zuschnitts, unabhängig von der Einbettung in ein plurinational oder sonst wie interpretiertes Plurizentrizitäts-Paradigma. Jedwedes auf diesen traditionellen theoretischen Grundlagen modellierte Objekt österreichisches Deutsch wird – aus den weiter oben hinreichend vor Augen geführten epistemologischen, method(olog)ischen, sprachphilosophischen, ideologischen u. a. Gründen – letztlich stets definiert sein auf Basis einer (im strukturalistischen Sinn) system-»inhärenten« Differenz44 und/oder bestimmter (anderer) Sprach(gebrauchs)-»Charakteristika« in Relation zu einer inadäquat als österreichisch hypostasierten kollektiven Identität.45 Die funktional dimensionierte Sprachvariationstheorie hingegen analy44 Vgl. dazu etwa Wiesinger (2014: 7), wo von einer »differentia specifica« die Rede ist. 45 »The link between […] linguistic practices and the collective identity appears as self-evident as the link between a standard language and a nation was in the nationalist discourse of the 19th century (and beyond). Again, language – albeit in different forms – is assumed to be determined by the nature of the collectivity to which it belongs« (Auer 2007: 2).

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siert und expliziert, welche sozialen (inner- und extralinguistischen) Perspektivierungen des Gesamtspektrums der in Österreich existenten deutschen Sprache – insbesondere inklusive der omnipräsenten »bundesdeutschen« Varietäten/ Varianten – unter welchen (domänen-, gruppen- und/oder sonst wie spezifisch46) selektiven Bedingungen als metasoziosemiotische Zeichen fungieren, d. h. pointierter gesagt: von wem, auf welche Weise und zu welchem Zweck die Ressource »Heterogenität der deutschen (Gesamt-)Sprache« in Österreich kommunikativ (variationspragmatisch) genutzt wird. Dies lässt sich in intendiertem Ausmaß allerdings erst dann realisieren, wenn die dabei involvierten sozialen Perspektivierungen theorieadäquat identifiziert bzw. modelliert, klassifiziert und operationalisiert worden sind. Dazu bedarf es unter anderem ebenso komplexer wie umfänglicher empirischer Untersuchungen im Rahmen größtmöglich angelegter Enqueten. Die innerhalb metasoziosemiotischer Prozesse relevanten Signata sozialer Perspektivierungen hat man sich hypothetisch als Frames vorzustellen, welche aus Repräsentationen von Sprache (und somit aus einem vielschichtigen Konglomerat von Attitüden bzw. stereotypem Sprach(gebrauchs)wissen) »zusammengesetzt« bzw. amalgamiert sind. Solcherart strukturierte Entitäten lassen sich nur mittels diffiziler perzeptions-, psycho- sowie kognitiv-linguistischer Methodik in hinreichend relevanter Form konfigurieren. Dabei sind in einem ersten Schritt sämtliche linguistischen Perspektivierungen (also auf Basis unterschiedlicher sprachwissenschaftlicher u. a. Theorien sowie unter Einfluss diverser Ideologien vorgenommene und entsprechend differierende Modellierungen bzw. Konzeptualisierungen des Variations- und Varietätenspektrums der in Österreich präsenten deutschen Sprache) auf den Grad ihrer extralinguistischen »Verankerung« (im Bewusstsein der Sprecher(innen)) zu untersuchen und zugleich – basierend auf epistemologischer Reflexion, d. h. insbesondere in einem Verfahren der methoden-, aber auch ideologiekritischen Dekonstruktion – zu justieren. All das ist dringlich in Gang zu setzen. Gerade im Hinblick auf die Verhältnisse im standardsprachlichen Bereich stellt eine umfängliche variationspragmatische Analyse metasoziosemiotischer Prozesse, vorgenommen auf Basis der soeben beschriebenen funktional dimensionierten »Neuvermessung« der Heterogenität des Deutschen in Österreich, ein vorrangig zu behandelndes Desiderat dar. Ausgehend von einem Set einschlägiger Analysen von klar limitiert definierten – d. h. gruppen- und domänenspezifisch (aber nicht hypertroph als »(gesamt-) österreichisch«) klassifizierten – Segmenten standardsprachlichen Kommunizierens könnte ein erster Schritt hin zu einem neuen Verständnis des Stan46 Wobei selbstredend eine essentialistisch-kollektivistisch modellierte Gruppe »Österreicher(innen)« gemäß dem oben Ausgeführten als empirisch inadäquates Korrelat für Sprach(gebrauchs)phänomene ausgeschlossen wird.

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darddeutschen in Österreich gewonnen werden, abseits von einem österreichischen Deutsch als »Nationalvarietät« oder sonstigen (essentialistischen) Wunschbildern. Dass sich gerade dabei Phänomene zeigen werden, die vor dem Hintergrund der im gesamtdeutschen Sprachraum beobachtbaren Kommunikationsverhältnisse als durchaus markant gelten dürfen, ist hypothetisch anzunehmen. Im Folgenden wird dies detaillierter aufgegriffen.

3.3

Metasoziosemiose in Modelltexten

Gemäß interaktional-sozialkonstruktivistischer soziolinguistischer Theoriemodelle erarbeitete Untersuchungen zu Kontextualisierungs- und Speaker-DesignPhänomenen, wie sie Modellsprecher(innen) im österreichischen Rundfunk und Fernsehen mündlich realisieren, verweisen auf eine konventionell verankerte Funktionalisierung von Nonstandard/»Dialekt«-Merkmalen bzw. von Strategien des damit einhergehenden Code-Switching/Shifting/Inserting im Rahmen von standardsprachlich geprägten Kommunikationssphären (vgl. Winkler und Soukup [jeweils im vorliegenden Band])47. Vor dem Hintergrund solcher Ergebnisse, die unzweifelhaft als Beleg metasoziosemiotischer Prozesse gedeutet werden können, sind inzwischen – im Sinn des oben in 2.4.2 Festgehaltenen – erste (teils noch implizit) funktional dimensioniert fundierte empirische »Probebohrungen«, aber auch einschlägige theoretische Arbeiten zur Verwendung von – graphematisch unmarkierter48 – Nonstandard-Lexik in pressesprachlichschriftlichen, in Österreich erscheinenden Modelltexten49 vorgenommen worden (vgl. Habacher 2013, Glauninger 2012 a, d). Die Ergebnisse dieser (noch dezidiert punktuell angelegten) Untersuchungen sind in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Es zeigt sich deutlich, dass die in mündlichen Modelltexten identifizierten, teleologisch – gemäß dem funktional dimensionierten Paradigma: variationspragmatisch – interpretierbaren Aspekte des Gebrauchs von Nonstandard-Merkmalen, insbesondere Diskurssteuerung bzw. -gliederung, vor allem aber auch kontextualisierende Modifikation (s. weiter oben), sich mutatis mutandis auch in den untersuchten schriftlichen Modelltexten belegen lassen. Zur Veranschaulichung: Dies wirft beispielsweise (erneut) ein Schlaglicht auf einen Teil der im Variantenwörterbuch des Deutschen als Austriazismen ver47 Ähnlich interpretierbar sind die Daten in Grzega (2003), wenngleich diese Arbeit method(olog)isch anders gelagert ist. 48 Die entsprechenden Wortformen sind im Druck weder durch Apostrophierung, Kursivierung, Fettdruck o. Ä. hervorgehoben. 49 Zur – trotz aller Spezifika – unzweifelhaft standardsprachlichen Modell-Qualität von (insbesondere »qualitäts«-)pressesprachlichen Texten vgl. Ammon (2005: 33), Pichler (2013: 26).

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zeichneten Lexeme. Ein gewisser Bestand dieser Lexik wurde als dialektal oder umgangssprachlich »dann [ins Wörterbuch] aufgenommen, wenn [die entsprechenden Lexeme] öfter auch in Standardtexten vorkommen und deshalb einen Grenzfall des Standards darstellen« (Ammon [u. a.] 2004: XII). Die spezifische »Leistungsfähigkeit« von Nonstandard-Lexik und der (damit korrelierende) hohe Grad ihrer konventionellen Funktionalisierung in schriftlichen Modelltexten, kurzum: das metasoziosemiotische Potenzial dieser Wörter, zeigt hingegen, dass sie in der Regel keinesfalls als Grenzfälle des Standards zu interpretieren sind. Vielmehr erscheint es schlüssiger, sie als stabile Elemente solcher sozialer Perspektivierungen zu klassifizieren, die (zumindest extralinguistisch) konstant eine Frame-Komponente ›nicht hochdeutsch‹ indizieren. Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich nachvollziehen, dass auf Basis des Inserierens von Lexemen dieser Art in schriftliche Modelltexte jene, in der oben angeführten Literatur herausgearbeiteten, vor allem (text-)pragmatischen und kontextualisierenden Effekte generiert werden können. Die frequente Verwendung von dialektalen und dialektnahen Ausdrücken in bestimmten schriftlichen (standarddeutschen) Texten in Österreich ist somit nicht deshalb möglich, weil diese Wörter sich bereits dem Standard (bzw. dessen »Grenze«) angenähert haben – es liegt vielmehr daran, dass spezifische Formen der metasoziosemiotischen Funktionalisierung ihrer als ›dialektal‹/›nicht hochdeutsch‹ u. ä. amalgamierten sozialen Bedeutungen innerhalb bestimmter Diskursdomänen in Österreich einen hohen Grad an Konventionalität aufweisen. Der letztgenannte Punkt stellt auch eines der gewichtigsten Argumente dafür dar, die dezidierte Einbeziehung von konzeptioneller Schriftlichkeit, d. h. insbesondere standardsprachlichen Modell-Texten in den Gegenstandsbereich der funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie zu forcieren, mehr noch: für unabdingbar zu erachten. Metasoziosemiotische Konventionen fallen, wie »inner«- und »außersprachliche« soziale Konventionen jedweder Art, nicht vom Himmel. Ihre stabile Verankerung auf der Ebene der – im Besonderen: in Modelltexten normgerechten und -prägenden – Schriftlichkeit setzt entsprechend langwierige (sprach-)historische und somit sprachdynamische Prozesse der formalen und funktionalen Transformation des sprachlichen Variationsspektrums – d. h. vor allem der Umformung/Neubewertung von Varietäten, kurz: der Evolution sozialer Perspektivierungen – voraus. Genau dieser Punkt aber verweist auf die in hohem Maß gegebene wechselseitige Anschlussfähigkeit zwischen den Ansätzen der Sprachdynamiktheorie auf der einen Seite und der funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie auf der anderen. Eine Analyse der Konvention(alisierung) metasoziosemiotischer Prozesse, zu der bestimmte Typen schriftlicher Modelltexte (wie beispielsweise im vorliegend fokussierten Fall pressesprachliche) in hohem Maß anregen, bringt jedoch noch einen zusätzlichen, abseits der funktional dimensionierten Sprachvariations-

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theorie vernachlässigten – zumindest nicht explizit fokussierten –, für das Verständnis der involvierten kommunikativen »Biotope« jedoch höchst bedeutsamen Gesichtspunkt zutage. Neben den – auch vorliegend bislang schwerpunktmäßig behandelten – indexikalischen Komponenten der Metasoziosemiose, die ansatzweise, jedoch unter anderen theoretischen und methodischen Voraussetzungen (mit entsprechend differierenden terminologischen und kategorialen Instrumenten), auch vonseiten der interaktional-sozialkonstruktivistischen Soziolinguistik untersucht werden, lassen sich im Zuge metasoziosemiotischer Vorgänge auch (sozio-)symbolische und -ikonische Aspekte identifizieren und entsprechend explizieren. So kann etwa eine entsprechend konventionell verankerte Technik metasoziosemiotischer Funktionalisierung als Gruppenmerkmal, d. h. Soziosymbol, (de-)kodiert werden. Dies vollzieht sich umso markanter, je ausgeprägter die einschlägige »Markiertheit« (kontrastierende Wirkung) (vgl. 2.4.2) in Erscheinung tritt. Auf diese Weise wird etwa die Funktionalisierung von »Dialekt«-Merkmalen durch Personen(gruppen), die dezidiert als Nicht»Dialekt«-Sprecher wahrgenommen werden (wollen), zum Gruppensymbol. Das lässt sich hypothetisch annehmen für eine in Wien konventionelle, meist ironisierende Kontextualisierung auf Basis der subtilen Insertion von »Dialekt«Merkmalen in einen – gesprochen: intendiert – standardsprachlichen Matrixtext. Die entsprechend verfahrenden Personen gehören beispielsweise der (gehobenen) Mittelschicht an bzw. weisen einen als »(links-)liberal-« oder auch »konservativ(-bürgerlich)« etikettierbaren Hintergrund auf. Hier wäre die spezifische Verwendung von – prototypisch basis-/»alltags«-kommunikativ nicht in Gebrauch stehendem, weil stigmatisiertem – »Dialekt« als Soziosymbol, das urbane Weltläufigkeit u. Ä. impliziert, zu deuten (vgl. Glauninger 2012 d). Entsprechendes reflektiert in besonders eindrucksvoller Manier das Vorkommen von (graphematisch nicht hervorgehobenen, s. oben) Nonstandard-Lexemen in österreichischen (und das heißt in der Regel: zumindest redaktionell in Wien angesiedelten) »Qualitäts«-Zeitungen, insbesondere innerhalb des Feuilletons oder in (für Wiener Verhältnisse) ähnlich dialektfernen Kontexten (vgl. Habacher 2013). Analoges, wenn auch vor einem soziodemographisch konträren Hintergrund und mit entsprechend anderem Bedeutungsgehalt, was die involvierten kontextualisierungsbasierten Modifikationen anbelangt, sei für die punktuelle Insertion von »Dialekt«-Merkmalen, bevorzugt auf lexikalischer Ebene, im – nahezu unabhängig von soziodemographischen Faktoren intendiert standardsprachlich (»hochdeutsch«) geprägten – jugendsprachlichen Diskurs in Wien postuliert (vgl. Glauninger 2010, 2012 d). Das in diesem Zusammenhang metasoziosemiotisch generierte Soziosymbol stärkt die gruppenspezifische Expressivität, plakative Nonkonformität, Coolness. Mit all diesen soziosymbolischen Effekten der Metasoziosemiose aufs Engste verknüpft sind schließlich auch ikonische Prozesse: Das mit entsprechender Soziosymbolik einhergehende

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gruppenspezifische (Sprach-)Handeln wird dabei gewissermaßen imitiert. Dieses Phänomen hat die interaktional-sozialkonstruktivistische Soziolinguistik mit den ihr zur Verfügung stehenden method(olog)ischen Mitteln unter den Bezeichnungen Crossing (vgl. Rampton 2005) oder sekundärer/tertiärer Lekt bzw. im Rahmen der soziolinguistischen Stil-Forschung (s. oben 2.4.2) – partiell – problematisiert und expliziert. Im Hinblick auf diese Phänomene lässt sich noch einmal verdeutlichen, warum die funktional dimensionierte Sprachvariationstheorie nicht auf der systemtheoretisch überholten (strukturalistischen) System(atizitäts)konzeption herkömmlicher linguistischer Modellbildungen verharren kann und stattdessen Anschluss sucht an die soziologische Variante moderner, autopoietischer Systementwürfe (s. oben Abschnitt 2, im Besonderen 2.3): Kein mengentheoretisch-essentialistisches (Dia-)System – in welcher Konfiguration auch immer – erlaubt eine auch nur annähernd plausible Operationalisierung derartig komplexer Kaskaden an prozessualer Selbstreferentialität, wie sie im (Re-)Generieren und Perpetuieren metasoziosemiotischer Indexikalität, Symbolizität und Ikonizität zu beobachten sind. Es lässt sich im Licht des oben über die essentialistische Auffassung von einem österreichischen Deutsch Herausgearbeiteten nachvollziehen, dass das funktionale Potenzial (von Varianten) des in Österreich omnipräsenten – und, wertfrei betrachtet, keinesfalls im negativen Sinn dominanten, sondern vielmehr eine beträchtliche kommunikative Ressource darstellenden – »bundesdeutschen« Deutsch vonseiten der philologisch-dialektologisch/areallinguistisch bzw. korrelativ-soziolinguistisch ausgerichteten Forschung de facto »übersehen« wurde und wird (vgl. Glauninger 2013: 130). Gemäß der grundlegenden Annahme des funktional dimensionierten Paradigmas hingegen weisen gerade die in Österreich als ›(bundes-)deutsch‹ perspektivierten sprachlichen Phänomene einen hohen metasoziosemiotischen Gebrauchswert auf. Was die Standardebene anbelangt, ist in diesem Zusammenhang erneut zweierlei zu unterscheiden: a) die als »unmarkiert«/konfirmativ einzustufende Verwendung. Es darf postuliert werden, dass die in Österreich in unterschiedlichsten Diskurssphären, respektive Kommunikationszusammenhängen (vgl. 3.1) beobachtbare, massive Präsenz des »bundesdeutschen« (Standard-)Deutsch50 zu einem nicht unerheblichen Grad dem jeweils situativ gegebenen Erwartungs- und Normenhorizont entspricht, so 50 In diesem Zusammenhang kann die Diskrepanz zwischen unterschiedlichen inner- und extralinguistischen Sprach-Perspektivierungen bzw. damit verbundenen Norm-Konzeptualisierungen anschaulich beobachtet werden. Bestimmte »(bundes-)deutsche« NonstandardElemente gelten in Österreich als standardkonform (vgl. Pichler 2013: iii), was zur »Dominanz«- Konstatierung (s. weiter oben) beiträgt und in einschlägigen Arbeiten entsprechende Beachtung findet (vgl. etwa Ammon 1995: 497 f. und Muhr 1982). Aus Sicht der funktionalen Sprachvariations-Dimensionierung weisen diese Elemente in den entsprechenden Kontexten ein metasoziosemiotisch konfirmatives Profil auf.

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z. B. als Synchronisationsvarietät von nicht deutschsprachigen Kino- und TVProduktionen, in (mündlichen und schriftlichen) Werbetexten für ausgewählte Produkte (z. B. der Autoindustrie) oder in informativen Texten in bestimmten Segmenten des öffentlichen Raumes (etwa bei Ansagen auf Flughäfen). Dabei ist von einer – zweifelsohne zu spezifizierenden – Indizierung von ›Prestige‹/›Seriosität‹/›Qualität‹ etc. auszugehen. Es liegt auf der Hand, dass hier der Übergang von einer konfirmativ metasoziosemiotischen Produktion und Rezeption des ›(Bundes-)Deutschen‹ hin zur völlig »neutralen«, nicht mehr als ›(bundes)deutsch‹ im Bewusstsein stehenden Verwendung fließend ist.51 – b) Die kontrastierende/»markierte« Verwendung. In dieser Hinsicht vermag die, vorliegend als methodologisch traditionell ausgerichtet klassifizierte Forschung zum Deutschen in Österreich – auch aufgrund der ihr inhärenten Werturteile – nur bescheidene Erträge vorzuweisen. Eine umso bemerkenswertere Ausnahme stellt, als umfängliche Analyse des Gebrauchs von »Teutonismen« in der österreichischen Pressesprache, Pichler (2013) dar. Neben einer Fülle an Daten und interpretativen Ergebnissen überzeugt vor allem der phänomenbezogen offene, funktionale Blickwinkel: Im Zuge der Analyse konnten diverse kommunikative Funktionen der Teutonismusverwendung festgestellt werden. Aufgrund der Auffälligkeit der bundesdeutschen Varianten innerhalb eines österreichischen Textes können sie bei der Leserschaft eine [sic!] bestimmte Wirkungen erzielen. Diese sind semantischer, stilistischer, psychologischer oder struktureller Natur. Durch die Kenntnis einer fremden Varietät, eben des Bundesdeutschen, haben österreichische Schreibende die Möglichkeit, fremde und eigene Varianten je nach kommunikativer Intention auszutauschen. Das ermöglich ihnen, besonders feine Bedeutungsnuancen herauszuarbeiten und […] bestimmte Wirkungen oder Eindrücke auszulösen (ebd.: iii).

Mit dieser beachtenswerten Argumentation, die – freilich unbewusst, weil aus einem zur funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie konträr stehenden theoretischen Hintergrund heraus formuliert – zur Beschreibung von variationspragmatischen Effekten metasoziosemiotischer Prozesse52 geraten ist, wird nun übergeleitet zum letzten Abschnitt der vorliegenden Arbeit, in dem ein Resümee gezogen und ein Ausblick geboten werden soll.

51 Dieses Phänomen reflektiert die kontinuierliche, hinsichtlich der einzelnen linguistischen Ebenen qualitativ und quantitativ keinesfalls gleichermaßen intensiv ablaufende Integration von »(bundes-)deutschem« Sprachgut in Österreich – ein Vorgang, der letztlich ein prototypisches Sprachwandel- (bzw. Sprachdynamik-)Szenario indiziert. Vgl. zur rezenten Situation im Bereich der Lexik Wiesinger [im Druck] (mit kulturpessimistisch geprägtem Unterton). 52 Basierend auf der Insertion ›(bundes-)deutsch‹ perspektivierter Elemente in schriftliche Modelltexte, wie sie in Österreich frequent produziert und rezipiert werden.

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Resümee und Ausblick

Einerseits stellt aus Sicht des in vorliegender Arbeit explizierten Paradigmas der funktionalen Sprachvariations-Dimensionierung sprachliche Heterogenität eine Ressource für – im engeren, linguistischen Sinn – kommunikative Potenzierung dar. Die daraus resultierenden, teleologisch konfigurierbaren Funktionswerte vielfältiger Art lassen sich auf Basis bewährter pragmalinguistischer Modelle, d. h. variationspragmatisch, deuten und somit als sprachlicher »Mehrwert« behandeln. Andererseits aber, in einem fundamental sozialwissenschaftlichen Sinn (s. 2.1), stimulieren und (re-)konstituieren gemäß dem genannten, vorliegend vertretenen theoretischen Ansatz natürlichsprachliche Variabilität und die daraus unabdingbar resultierende Variation einen operationalen Mechanismus prozessualer Selbstreferentialität. Dieser lässt sich per analogiam, über die Implementation des Peirce’schen Semiose-Modells, als autopoietisches System interpretieren und optimiert in Form pansemiotischer Mehrdimensionalität die – gemäß dem Luhmann’schen Paradigma – »mediale« Basis der Kommunikation. Letztere gilt dabei als signifikantes Konstituens von Gesellschaft, mehr noch: als das, was Gesellschaft letztlich ist. Den Schlüssel für das Verständnis dieser beiden – interagierenden – Dimensionen des Potenzials sprachlicher Heterogenität bzw. Variation bildet das komplexe Phänomen der Metasoziosemiose. In deren Rahmen entfalten inner- und extralinguistische Perspektivierungen sprachlicher Heterogenität (wie z. B. »Varietäten«) als Zeichen ein schillerndes Spektrum an sozialen Bedeutungen, das im Zusammenhang mit jedwedem Sprach(gebrauchs)phänomen permanent, sei es »unmarkiert«/konfirmativ oder »markiert«/kontrastierend, präsent ist und auf vielfältige Weise Wirksamkeit aufweist. Die dem zugrunde liegende indexikalische Basisstruktur korreliert perspektivierungs-(»varietäten«-)spezifische Merkmale jedweder Art (als Signantia) mit den zu einer Art Frame amalgamierten Beständen des entsprechend varietätenspezifisch (großteils stereotyp bzw. attitudinal) repräsentierten Weltund Sprach(gebrauchs)-»Wissens« (als Signata). Auf Basis dieses (hier aufs Äußerste komprimiert umrissenen) methodologischen und epistemologischen Settings überführt die funktional dimensionierte Sprachvariationstheorie elaborierte Ansätze der »dritten Evolutionsstufe der Soziolinguistik« – z. B. die Kontextualisierungs- und Speaker-Design-Theorie sowie die moderne Soziostilistik – in ein stringent semiotisch fundiertes, einheitliches und generalisierendes Paradigma, das Anschlussfähigkeit in Richtung bewährter und entsprechend etablierter pragmalinguistischer Modelle sichert.53 53 Der – mehrfach erwähnte – Versuch, durch die Interpretation metasoziosemiotisch fundierter Selbstreferentialität im Sinne autopoietischer Systematizität Anschlussfähigkeit in Richtung moderner systemtheoretischer Entwürfe, insbesondere der soziologischen

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Damit wird die gesamte einstellungsbezogene Sprach(gebrauchs)ebene in ihrer ebenso diffizilen wie schillernden kommunikativen Funktionalität – komplementär zur »basiskommunikativen« Dimension von Sprache und ihrem Gebrauch – semiotisch (und dadurch mit bewährten linguistischen Instrumentarien) operationalisierbar. Für eine dergestalt konfigurierte (Sozio-)Linguistik stellt das rezente (Standard-)Deutsch in Österreich in mehrfacher Hinsicht einen ebenso herausfordernden wie lohnenden Gegenstand dar. Zum einen steht die einschlägige Forschung vor einem tiefgreifenden Wandel bzw. Paradigmenwechsel. Die supra-, respektive postnationalen Realitäten des EU-Binnenmarktes vor dem Hintergrund einer global ausgreifenden digitalen Kommunikationsrevolution stellen die Adäquatheit einer plurinational interpretierten Theorie der Plurizentrizität des Deutschen, deren Kern »klassisch« essentialistisch modellierte Nationalvarietäten bilden, erneut und nachhaltig infrage. Zugleich mehren sich in der linguistischen Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache in Österreich – nach Jahrzehnten der philologisch-dialektologischen/areallinguistischen bzw. korrelativ-soziolinguistischen, kurzum: methodologisch traditionellen Ausrichtung – Indizien für einen Anschluss an aktuelle theoretische Strömungen wie die interaktional-sozialkonstruktivistische Soziolinguistik, die Perzeptionslinguistik, die sprachdynamisch fundierte Regionalsprachenforschung sowie das generative Mikrovariations-Paradigma. In diesem, sich nicht zuletzt wissenschaftssoziologisch transformierenden Kontext kann die funktionale Sprachvariations-Dimensionierung dazu beitragen, dass jene Theorieschwelle überschritten wird, die zwischen der – zuletzt Symptome der Stagnation aufweisenden – traditionell orientierten und einer sich erst noch formierenden, von neuen Ansätzen geleiteten Forschung liegt. Im Ausblick kommt auch in dieser Hinsicht dem Entwurf der Metasoziosemiose zentrale Bedeutung zu. Einerseits bedarf dessen empirische Fundierung des massiven Inputs vonseiten der Perzeptionslinguistik, insbesondere im Zusammenhang mit einer »Inventarisierung« hinreichend konventionell verankerter inner- und extralinguistischer Perspektivierungen des Gesamtspektrums an Heterogenität der in Österreich präsenten deutschen Sprache. Andererseits kann nur in Korrelation mit den Ergebnissen breit angelegter sprachdynamischer Analysen geklärt werden, inwieweit und auf welche Weise Prozesse der Herausbildung von Regionalsprachen des Deutschen inner- und außerhalb (!) Österreichs sowie die damit einhergehende formale und funktioSystemtheorie, anzubahnen, ist nicht nur für die durch ihre überholte systemtheoretische Basis erheblich eingeschränkte Linguistik von Interesse. Vice versa würde von einem entsprechenden Anschluss auch die Systemtheorie profitieren, vor allem im Hinblick auf ihr sprachtheoretisches (Selbst-)Verständnis.

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nale Transformation des Variations- bzw. Varietätenspektrums – im Einklang mit den gewichtigsten »außersprachlichen« Faktoren des Sprachwandels – zu einer attitudinal (und somit immer auch kommunikativ bzw. pragmatisch) relevanten Umwertung gerade auch jenes Sprachguts führen, das in Österreich vermeintlich identitätsbildend und -stützend wirkt (vgl. Fußnote 4). Es ist in diesem Zusammenhang hypothetisch anzunehmen, dass ein Abbau von Austriazismen im basis- (»alltags«-)kommunikativen Bereich deren metasoziosemiotische Potenzierung nach sich zieht. Aus all dem wird unweigerlich eine revidierte Sicht des Standarddeutschen in Österreich resultieren. Dieses wird von der methodologisch traditionell fundierten – d. h. bei aller ideologischen Unterschiedlichkeit letztlich: philologischdialektologischen/areallinguistischen bzw. korrelativ-soziolinguistischen – Sprachwissenschaft als österreichisches Deutsch stets restriktiv hinsichtlich des gesamtdeutschen Kontextes modelliert: als Menge spezifischer Sprach(gebrauchs)merkmale in vermeintlich unikaler Korrelation mit einer (nicht validen, essentialistischen) Hypostasierung »(Bevölkerung von) Österreich« als Träger einer »charakteristischen« kollektiven Identität. Dabei wird einerseits das in Österreich gegenwärtig mehr denn je (und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch zukünftig nicht weniger) präsente (Standard-)Deutsch anderer Provenienz ausgeblendet, dessen Varianten in vielfältiger – sowohl »unmarkiert«/konfirmativer als auch »markiert«/kontrastierender – Funktion den (mündlichen und schriftlichen) standarddeutschen Diskurs in Österreich mitkonstituieren und auf diese Weise eine beträchtliche kommunikative Ressource darstellen. Andererseits wird die analoge metasoziosemiotische Funktionalität von ›österreichischen‹ Nonstandard-Varietäten (bzw. ihrer Varianten) häufig als Indiz einer Transformation hin zur generellen Standardkonformität missinterpretiert, was sich am Beispiel mancher Austriazismen und/oder »Grenzfälle des Standards« im Variantenwörterbuch des Deutschen belegen lässt. Die funktional dimensionierte Sprachvariationstheorie hingegen exploriert und expliziert, welche – in validen Dimensionen und auf Basis adäquater Kategorien definierten – sozialen Gruppen in Österreich in welchen Kommunikationszusammenhängen, Domänen und Diskurssphären welche als standardsprachlich (›hochdeutsch‹) perspektivierten Formen/Elemente der deutschen Sprache (unabhängig von ihrer Provenienz) wie und wozu im Zuge von/im Zusammenhang mit welchen metasoziosemiotischen Prozessen verwenden. Ein solches Standarddeutsch in Österreich ist in der Folge, auf Basis eines Vergleichs mit den Ergebnissen entsprechender, funktional dimensionierter Untersuchungen in den anderen deutschsprachigen Ländern, zu beurteilen. Im Kontext des »außersprachlich« vom EU-Binnenmarkt geprägten geschlossenen deutschen Sprachraums des 21. Jahrhunderts und abseits von essentialistischen Wunschbildern nationaler, puristischer oder sonstiger Couleur würde sich dabei

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einmal mehr begründen lassen, warum (Standard-)Deutsch in Österreich mehr als österreichisches (Standard-)Deutsch ist.

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Manfred M. Glauninger

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Barbara Soukup (Wien)

Zum Phänomen ›Speaker Design‹ im österreichischen Deutsch1

It is a truism, but one frequently ignored in research, that how something is said is part of what is said. (Hymes 1972: 59)

1

Einleitung

Im Bereich der angloamerikanisch orientierten Forschung zur Intra-SprecherInnen-Variation ist seit nun bereits mehr als einem Jahrzehnt ein Trend hin zu sogenannten ›Speaker Design Approaches‹ auszumachen (siehe SchillingEstes 2002).2 In traditionelleren Ansätzen wurde die Intra-SprecherInnen-Va1 Dieser Beitrag stützt sich großteils auf eine Studie, die erstmals und in ausführlicherer Form (jedoch in englischer Sprache) in Soukup (2009) präsentiert wurde. 2 Eine Begriffsklärung für die Zwecke des vorliegenden Beitrags erscheint hier notwendig. Im Kontext von ›Speaker Design‹ bezeichnet die angloamerikanische Literatur die vorkommende Variation typischerweise als ›style-shifting‹, was zumeist auf Wechsel zwischen »varieties of a single language« bezogen wird, im Unterschied zu »[s]witching between different languages«, das zumeist unter dem Label ›code-switching‹ beforscht wird (siehe Schilling-Estes 2002: 375). Mittlerweile werden hier die Termini ›style-shifting‹ und ›code-switching‹ aber oftmals auch als auf dasselbe Phänomen bezogen betrachtet, nämlich das Wechseln zwischen jenen sprachlichen Ressourcen (welcher Art auch immer), über die SprecherInnen verfügen können (Milroy / Gordon 2003). Dies vor allem wegen der Schwierigkeit, systemlinguistisch zwischen ›varieties of a single language‹ und ›different languages‹ zu differenzieren (siehe z. B. Hudson 1996). Diesem Usus gegenüber steht in der germanistischen Linguistik eine komplexe Terminologiediskussion, die bezüglich der Begriffe ›Stil‹, ›Varietät‹, ›Sprechlage‹, ›Register‹, ›Stilwechsel‹ und ›Code-switching‹ auf präzise, wenngleich oftmals unterschiedliche, Abgrenzungen setzt, aber in diesem Unterfangen mit dem angloamerikanischen Gebrauch nicht unbedingt konform geht. Um diese Problematik dem Umfang dieses Beitrags (der sich method[olog]isch zentral auf angloamerikanische Traditionen bezieht) entsprechend zu umgehen, kommt hier bevorzugt der möglichst neutral zu verstehende Begriff ›Intra-SprecherInnen-Variation‹ (im Unterschied zur ›Inter-SprecherInnen-Variation‹ oder der Variation zwischen SprecherInnenGruppierungen) zum Einsatz (als Übersetzung aus Schilling-Estes 2002), der sich dann im hier gegebenen Kontext des österreichischen Deutsch auf den Wechsel zwischen den ›Vollvarietäten‹ (siehe z. B. Schmidt / Herrgen 2011) Standard und Dialekt beziehen wird (siehe

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Barbara Soukup

riation zunächst oftmals als Funktion bzw. Korrelat von Faktoren wie Sprechaufmerksamkeit (›attention to speech‹ – siehe Labov 1972) und sehr allgemeiner sozialer Gruppenzugehörigkeit beforscht (z. B. bezüglich des sozioökonomischen Status). Diese Faktoren wurden in späteren Arbeiten immer mehr ausdifferenziert und in Bezug zu lokalen Kontexten gesetzt (siehe z. B. Milroys (1987) Forschung zu ›social networks‹ sowie Bells (1984) ›Audience Design‹Modell, welches sprachliche Variation als Reaktion auf ZuhörerInnenschaft postuliert). Im Einklang mit der Ausbreitung konstruktivistischer epistemologischer Strömungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften allgemein (siehe z. B. Rosenau 1992; Scollon 2003) konzeptualisiert der gegenwärtige SpeakerDesign-Zugang die Intra-SprecherInnen-Variation nunmehr weniger wie bisher als Funktion bzw. Reaktion auf soziale und situationelle Gegebenheiten, sondern (auch und vor allem) als Zeichen und Mittel pro-aktiver kommunikativer Gestaltung und Tätigkeit der SprecherInnen, deren Sprachverwendung somit unter dem Aspekt der Rhetorik (Zielorientiertheit, Sprechstrategie) betrachtet wird. Mit anderen Worten rückt also ins Zentrum des Forschungsinteresses die Art und Weise, wie SprecherInnen die sprachlichen Ressourcen, über die sie verfügen (und welche sich natürlich durchaus in ihrer jeweiligen Biographie und Sozialisierung begründen), in der Interaktion aktiv einsetzen, um gewisse kommunikative Effekte zu erzielen, so wie die Projektion von sozialen Identitäten und lokal-konversationellen Beziehungen (›positionings‹ – van Langenhove / Harré 1999; ›personae‹ – i. a. Coupland 2001; ›alignments‹ – Goffman 1981), die ihrerseits emergent die soziale Lebenswelt (re)produzieren.3 Maßgebliche Speaker-Design-Studien wie zum Beispiel jene, die Schilling-Estes (2004) und Coupland (2007) vorgelegt haben, integrieren dementsprechend eine variationistische und eine interaktionell-diskursanalytische Perspektive. Ein Hauptziel des vorliegenden Beitrags ist es nun, das Phänomen Speaker Design im Fall von Intra-SprecherInnen-Variation im österreichischen Deutsch darzulegen und empirisch aufzuarbeiten. Konkret soll der interaktionellen, rhetorischen Verwendung von österreichischer Standardsprache versus bairisch-österreichischem Dialekt nachgespürt werden.4 Als Ausgangspunkt dient weiter unten). Zur weiterführenden Terminologiediskussion siehe etwa auch Auer (1986), Dittmar (1997), Gilles [et al.] (2010). 3 Siehe auch Eckert (2012), die die entsprechende Entwicklung in der Variationslinguistik in der Form von drei Wellen – »three waves« – beschreibt. 4 Hier wird, ähnlich wie in der gegenwärtigen Deutschland-bezogenen Regionalsprachenforschung, von einem ›Zwei-Kompetenzen-Modell‹ ausgegangen, welches den österreichischen Sprachgebrauch allgemein im Spannungsfeld der Pole ›Dialekt‹ und ›Standard‹ bzw. ›Hochsprache‹ ansiedelt (siehe u. a. Wodak-Leodolter / Dressler 1978; Dressler / Wodak 1982; Moosmüller 1991). Die zumeist im Folgenden unspezifiziert bleibende Verwendung des Begriffs ›Dialekt‹ ist hier allerdings immer nur auf den bairisch-österreichischen Sprachraum zu beziehen. Die merklich

Zum Phänomen ›Speaker Design‹ im österreichischen Deutsch

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ein Ankerbeispiel, das Konversationsdaten einer Fernsehdiskussionssendung des öffentlich-rechtlichen österreichischen Rundfunks (ORF) entnommen ist. Die darauffolgende Analyse und deren empirische Zuarbeiten bewegen sich innerhalb eines interaktionell-diskursanalytischen Bezugsrahmens (›interactional sociolinguistics‹ – siehe z. B. Gumperz 2001; Schiffrin 1996); aus der interdisziplinären Natur des Unterfangens ergeben sich dabei dann auch zentrale Brückenschläge zu solchen Wissenschaftsdiskursen, die gegenwärtig speziell in der germanistischen Standard- und Regionalsprachenforschung Virulenz besitzen, nämlich jenen der sprachlichen Salienz und Abgrenzung bzw., ganz allgemein, der Perzeptionslinguistik (siehe z. B. Anders [et al.] 2010; Schmidt / Herrgen 2011). Die folgende Diskussion soll somit nicht nur dem aktuellen soziolinguistischen Forschungsstand zum österreichischen Deutsch Rechnung tragen, sondern auch auf generellerer Ebene als Katalysator für Fragestellungen dienen, die der Variationslinguistik im 21. Jahrhundert bezüglich Epistemologie und Empirie angetragen sind.

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Speaker Design im österreichischen Deutsch: Ein Beispiel

Wöchentliche Live-Fernsehdiskussionssendungen, in denen sich ein kleiner, heterogener Kreis von ExpertInnen, PolitikerInnen und sonstigen Betroffenen unter ORF-Moderation zu einem aktuellen Thema austauscht, gibt es seit mehreren Jahrzehnten im öffentlich-rechtlichen österreichischen Fernsehen; und obwohl sich die Details des Formats über die Jahre immer wieder geändert haben, besteht es auch heute noch, gegenwärtig (2014) unter dem Titel ›Im Zentrum‹. Im Jahr 2004, aus dem die nun zu präsentierenden Daten stammen, hieß die in Essenz (und auch Sendeplatz – Sonntag abends) gleiche Sendung ›Offen gesagt‹. Die vorliegend herangezogene, wie üblich circa einstündige Ausgabe wurde am 18. Jänner 2004 zum Thema des damals laufenden Präsidentschaftswahlkampfes produziert und ausgestrahlt, und stand demnach unter dem Titel ›Wer soll in die Hofburg?‹. DiskussionsteilnehmerInnen waren jeweils zwei Unterstützende der zwei Präsidentschaftskandidierenden sowie ein politischer Kabarettist und der ORF-Moderator (also sechs Personen insgesamt – davon fünf Männer). Ein guter Teil der Sendung wurde damit bestritten, die Amtseignung der beiden Kandidierenden zu diskutieren, und zwar der Lagerspaltung entsprechend auch sehr hitzig. Im nun vorliegenden Exzerpt ist Diskussionsteilnehmer anders gelagerten soziolinguistischen Gegebenheiten des Alemannischen in Österreich müssen hier leider unberücksichtigt bleiben (aber siehe z. B. Kaiser / Ender 2012 zur Weiterführung).

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AT gerade dabei, seine Einschätzung der Verhaltensweise jener Kandidatin darzulegen, die er selbst eben nicht unterstützt, nämlich der damaligen Außenministerin, und zwar im Kontext der Ereignisse des tumultuösen G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001. Damals wurde eine österreichische AktivistInnenTheatergruppe in Italien verhaftet, was somit in den Zuständigkeitsbereich der Außenministerin fiel, die sich aber, zumindest nach ATs Einschätzung, nur sehr zögerlich um eine Freilassung bemühte: Exzerpt 1, ›Offen gesagt‹, ORF, 18. Jänner 2004 a AT: Das ist sozusagen ein echter Megafettnapf […] b Da geht’s nämlich um nicht mehr c um nicht weniger als dass dort ein paar linke Theaterleute im Zuge d dieser Veranstaltung festgenommen wurden österreichische e Staatsbürger und Staatsbürgerinnen und dass die Frau f Außenminister nichts anderes zu tun hatte als zu sagen najo und g zwar öffentlich nachzulesen auf der Homepage des h Außenministeriums der Text steht fest najo des san kane Guatn i gegen die liegt eh äh sozus- gegen die liegen eh sozusagen j Anzeigen vor im Innenministerium und denen wird scho recht k gschehn (.) das war ihre Ant- das war ihre Reaktion zum Schutz l österreichischer Staatsbürger die im Ausland verhaftet werden […] Wie im Exzerpt anhand der Hervorhebungen ersichtlich, produziert AT in dieser Passage einige Features, die sich der gängigen sprachwissenschaftlichen Literatur nach (siehe u. a. Dressler / Wodak 1982; Moosmüller 1991) ›genetisch‹ dem Dialekt zuordnen lassen: In den Zeilen f und h sind dies die ›Input-Switches‹ [a] ↔ [ɔ] in najo (vs. Std. naja); des Weiteren in Zeile h die Input-Switches [das] ↔ ˚ [deːs], [sind] ↔ [san], [aɛ] ↔ [aː] in »kane« (vs. Std. keine) und [uː] ↔ [ʊɐ] in ˚ ˚ Guatn (vs. Std. Guten). In Zeile i folgen zwei Tokens des dialektalen Diskursmarkers eh, dann ein [ʃoːn] ↔ [ʃɔ˜ː] switch in Zeile j und schließlich eine geReduktion in gˈschehn (vs. Std. geschehen), vor einer kurzen Pause (.). Über den Verlauf der gesamten etwas mehr als einstündigen Sendung erfasst, beträgt ATs Rate an Wörtern mit mindestens einem derart identifizierbaren Dialektfeature 10,8 Prozent (= 480 von 4.426 im Transkript gezählten gesprochenen Wörtern insgesamt). In sehr ähnlicher Weise beträgt die Dialektrate in Exzerpt 1, Zeilen b-l, 10,3 Prozent (= 10 von 97 Wörtern). Betrachtet man nun aber Exzerpt 1 etwas genauer, so scheint die Dialektrate allein nur eine sehr unvollständige Geschichte über die sich darin entfaltenden interaktionellen Geschehnisse zu erzählen. Tatsächlich konzentriert sich ATs Dialektproduktion ja genau auf jene Passage, in der er die Außenministerin angeblich direkt ›zitiert‹, also (mit kurzer Unterbrechung) Zeilen f–k (»dass die Frau Außenminister

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nichts anderes zu tun hatte als zu sagen najo […] des san kane Guatn gegen die liegt eh äh sozus- gegen die liegen eh sozusagen Anzeigen vor im Innenministerium und denen wird scho recht gschehn«). Dies allein legt bereits die Vermutung nahe, dass ATs Dialektgebrauch in Exzerpt 1 nicht ›zufällig‹ oder aus einer gewissen »Grundvariation« (Auer 1986: 119) in Standard-intendierendem Sprachgebrauch erwächst, sondern strategischer (rhetorischer) Natur ist – also einen Fall von Speaker Design darstellt.5 Zudem erscheint es ja auch nahezu unmöglich, dass die Außenministerin selbst die Urheberin des Zitats im von AT gewählten Wortlaut war: Wie in Österreich allseits bekannt, würde auf keiner österreichischen Ministeriumshomepage je eine Verlautbarung des oder der Amtsinhabenden im Dialekt veröffentlicht; und zusätzlich war ein standardsprachliches ›Auftreten‹ der damaligen Außenministerin in der Öffentlichkeit der absolute Regelfall. ATs diesbezügliche Darstellung ist in ihrer Unwahrhaftigkeit also nur allzu transparent – das ›Zitat‹ kann in dieser dialektalen Form nicht wirklich der Realität entsprungen sein. Dies ist wohl ein weiteres Indiz dafür, dass dieses Zitat in der Interaktion nicht nur rein inhaltlich eine Rolle spielt. Was könnte nun aber die rhetorische Funktion von ATs Dialektgebrauch sein? Ist es bloß eine Art Bruch und Markierung des Übergangs in die ›Worte‹ einer anderen Sprecherin, wie schon oftmals im Zusammenhang mit Sprachwechseln konstatiert (siehe z. B. Auer 1995), oder steckt noch mehr dahinter? Immerhin ist in der Diskursanalyse die Ansicht lange etabliert, dass selbst sogenannte ›direkte‹ Zitate in der Interaktion immer einen Akt des ›Reframing‹ darstellen (im Sinne Goffmans 1974), der viel mehr den kommunikativen Motiven des Zitierenden unterworfen ist als jenen des Zitierten: »In the deepest sense, the words have ceased to be those of the speaker to whom they are attributed, having been appropriated by the speaker who is repeating them« (Tannen 1989: 101). Tannen (1989, mit Bezug auf Bakhtin 1981 [1975] und 1986 [1952 – 53]) prä5 N.B.: In Österreich ist die allgemein mit (öffentlichem) Fernsehen verbundene und somit erwartete Sprechweise die Standardsprache (siehe z. B. Steinegger 1998). Tatsächlich manifestieren sich allerdings sowohl in Sprechsituationen, in denen Standardsprechen erwartet wird, als auch bei SprecherInnen, die aufgrund ihres sozialen Hintergrunds (Prestiges) als standardnormgebend angesehen werden könnten (z. B. LehrerInnen, HochschulprofessorInnen, FernsehsprecherInnen) in der Produktion immer wieder Dialektfeatures, sodass mittlerweile in linguistischen Beschreibungen das Österreichisch-Standardsprachliche als durch ein gewisses Level von ›Grundvariation‹ (Integration dialektaler Elemente in überwiegender Hochsprache) charakterisiert dargestellt wird (siehe dazu weiterführend auch die entsprechenden Beiträge im vorliegenden Band). Wie im Folgenden weiter ausgeführt, wird im gegenwärtigen Beitrag zwischen solcher Grundvariation und strategischen Sprachwechseln unterschieden (ähnlich wie in Auer 1986), auf Letztere fokussiert, und in deren Exegese, ausgehend vom bereits erwähnten Zwei-Kompetenzen-Modell, die Abgrenzung von österreichischem Standard und Dialekt als empirisch-perzeptionslinguistisch zu behandelnde Fragestellung betrachtet.

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feriert dementsprechend den Terminus ›constructed dialogue‹ anstatt des für sie missverständlichen ›direct quotation‹, Fairclough (1992) in ähnlicher Weise den Begriff ›represented discourse‹, um auf diese Aneignung und Rekontextualisierung hinzuweisen.6 In diesem Sinne liegt es also nahe, dass AT den Wortlaut, den er der Außenministerin in den Mund legt, irgendwie für interaktionelle Zwecke nutzbar macht, die über ein bloßes Abgrenzungssignal hinaus gehen. Tatsächlich ist in der Erklärung des Phänomens Speaker Design ein wichtiger Bezugspunkt Gumperz’ (1982) Konzept der ›Kontextualisierung‹, welches besagt, dass der Einsatz einer bestimmten Sprechform auch immer deren soziale Bedeutung für die Interpretation des Gesagten indiziert. Variiert nun eine Sprecherin innerhalb einer Interaktion zwischen verschiedenen Sprechformen, ist eines der ausgesendeten Signale die entsprechend gekoppelte Variation sozialer Assoziationen (wie z. B. der jeweiligen Stereotype und Spracheinstellungen). Durch strategisches Spiel mit dieser ›Intertextualität‹ (Kristeva 1986 [1966])7 zwischen Sprachgebrauch und Sprachassoziationen können nun gewisse Konnotationen (kommunikative meta-messages) suggeriert werden. In ATs Fall kommt also die Variation in der sozialen Bedeutung von österreichischer Standardsprache und Dialekt zum Tragen: Wie aus der Literatur zu ersehen, wird der (bairisch-österreichische) Dialekt, obwohl als wichtiger Identifizierungsanker dienlich (de Cillia 1997), von den ÖsterreicherInnen in mancher Hinsicht durchaus viel negativer eingeschätzt als der Standard, vor allem in Bezug auf Bildung, Kultiviertheit und ›Korrektheit‹ (siehe z. B. Moosmüller 1988, 1991; Steinegger 1998). Gemäß den Mechanismen der Kontextualisierung sind dies somit auch Assoziationen, die ATs Dialektgebrauch indiziert. (Dass negative Stereotype hier insbesondere impliziert sind, ergibt sich dabei aus dem unmittelbaren sprachlichen Kontext – schließlich leitet AT seine Geschichte ein mit den Worten »Das ist sozusagen ein echter Megafettnapf« – siehe Exzerpt 1, Zeile a). Allerdings fallen diese Assoziationen nicht auf AT selbst zurück, sondern auf die Ministerin als vorgeschobene ›Urheberin‹ und ›Autorin‹ (›principal‹ und ›author‹ – Goffman 1981), also als ›deictic center‹ (Schiffrin 2002) des ›Zitats‹. Kurz gesagt lässt AT die Ministerin in der ›derben‹, ›ungebildeten‹, ›groberen‹ Form sprechen – und stellt sie somit, in Extension, als ebensolche Person dar. Der kommunikative Effekt des Sprachwechsels ist also augenscheinlich der einer Verkörperung einer negativen Evaluierung der

6 Der Prozess lässt sich typischerweise gut mittels Goffmans (1981) Konzepts des ›production format‹ und der damit verbundenen Ausdifferenzierung von SprecherInnenrollen weiter sezieren (siehe z. B. Tannen 1989; siehe auch weiter unten). 7 Mit Verweis auf Bakhtins (1986 [1952 – 53]) Konzept der ›Dialogizität‹.

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›zitierten‹ Person und somit letztendlich der Ausdruck eines antagonistischen ›alignments‹ zwischen AT und der Ministerin. Es ist zu hoffen, dass die Analyse von ATs Sprachwechsel als strategisches Speaker Design soweit schlüssig erscheint. Allerdings ist in der Argumentation bis dato ein wichtiger Aspekt noch gänzlich zu kurz gekommen, so wie in (wie sich behaupten lässt) den meisten Speaker-Design-Studien, der jedoch ein sine qua non der Bedeutungsgenerierung durch rhetorischen Sprachgebrauch darstellt: die Perspektive des ›Publikums‹. Tatsächlich wird im hier herangezogenen theoretischen Rahmen der interaktionellen Diskursanalyse die Interaktion als dialogischer Prozess aufgefasst, der Sprecher und Hörerin gleichermaßen impliziert. Erickson (1986: 316) fasst dies kurz und prägnant in das Bild: »talking with another person […] is like climbing a tree that climbs back.« Interaktion ist demnach keine ›Einbahnstraße‹, sondern ein verhandelndes ›Hin und Her‹. Dabei lösen sich eigentlich die Sprecher- und Hörerinnen-Rolle ineinander auf: »When constructing my utterance, I try to actively determine [the listener’s] response. Moreover, I try to act in accordance with the response I anticipate, so this anticipated response, in turn, exerts an active influence on my utterance« (Bakhtin 1986 [1952 – 53]: 95). Der Sprecher wird also gleichzeitig zum Hörer im Sinne einer (wenngleich antizipierenden) Reaktion, die Hörerin zur Sprecherin im Sinne einer aktiven Beeinflussung des somit ko-produzierten kommunikativen Geschehens. Gemäß diesem Ansatz beruht nun proaktive, strategische Kontextualisierung (Speaker Design) nicht einfach darauf, dass seitens des oder der Sprechenden ein Sprachwechsel vollzogen wird. Vielmehr ist auch bereits in der Produktion die Perspektive des oder der Hörenden zu berücksichtigen – the apperceptive background of the addressee’s perception […]: the extent to which he [sic!] is familiar with the situation, whether he has special knowledge of the given cultural area of communication, his views and convictions, his prejudices (from [the speaker’s] viewpoint), his sympathies and antipathies – because all this will determine his active responsive understanding of [an] utterance (Bakhtin 1986 [1952 – 53]: 95 – 96).

Soll also ein Sprachwechsel ›Erfolg‹ haben im Sinne eines (inhärent ko-produzierten) kommunikativen Effekts (wie z. B. der Projektion eines gewissen ›alignments‹), müssen auch folgende Kriterien von SprecherInnen-Seite berücksichtigt und vom Publikum erfüllt sein: 1.) Das Publikum muss wahrnehmen, dass der/die Sprechende einen sprachlichen Wechsel vollzogen hat.

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2.) Das Publikum muss die mittels dieses Wechsels implizierten differenzierten sozialen Assoziationen (Stereotype, Spracheinstellungen) aktivieren.8 3.) Der rhetorische, pro-aktive, strategische Charakter des sprachlichen Wechsels muss erkennbar sein. (Dies, im Sinne einer Unterscheidung auch von HörerInnenseite zwischen ›Grundvariation‹ ohne erkennbare Systematik und einem vollfunktionalen ›Wechsel der Gangart‹ – siehe wiederum Auer 1986: 120, der Ersteres als ›Code-Fluktuation‹ und Zweiteres als ›CodeSwitching‹ bezeichnet).9 Kurz gesagt, ein von einem/r Sprechenden eingebrachter rhetorischer Effekt, der vom intendierten Publikum nicht als solcher realisiert wird, kann nicht als erfolgreich (oder wohl überhaupt als erfolgt) bezeichnet werden. Die genannten Kriterien sind dementsprechend auch in einer empirischen Beforschung des Phänomens Speaker Design zu berücksichtigen. Es genügt hier also nicht, die Ausformungen der Sprachproduktion eines Sprechers oder einer Sprecherin zu erfassen und zu beschreiben. Rückschlüsse auf die Funktionalität strategischer Sprachwechsel müssen in gleichem Maße die HörerInnenperspektive einbeziehen, also zusätzlich zentral auf dem beruhen, was man heutzutage oftmals als Agenden der ›Perzeptionslinguistik‹ betrachtet. Im Folgenden soll nun dargelegt werden, wie eine entsprechende Untersuchung methodisch gestaltet werden kann. Dabei werden die oben gelisteten drei Kriterien in ihrer Folge nun einzeln betrachtet und abgehandelt, in Zuarbeit auf eine sowohl von Produktions- als auch Perzeptionsseite adäquate Analyse von Speaker Design im vorangegangenen Ankerbeispiel. 1.)

Das Publikum muss wahrnehmen, dass der/die Sprechende einen sprachlichen Wechsel vollzogen hat. Bis vor Kurzem wurde die Sprachperzeption in der Variationslinguistik sehr stiefmütterlich behandelt (Thomas 2002); dies ist wohl ein Hauptgrund dafür, dass die Methodik speziell zur perzeptionistischen Identifizierung und Abgrenzung von Sprachwechseln in der Intra-SprecherInnen-Variation noch der Entwicklung bedarf. Wohl hat vor allem aufgrund der immer einfacheren Verfügbarkeit der notwendigen technischen Hilfsmittel die Forschung zur perzeptionsbasierten Sprachunterscheidung in der Soziolinguistik in den letzten Jahren einen starken Aufschwung erlebt (siehe z. B. Campbell-Kibler 2010, Drager 8 Siehe hierzu auch Irvines (2001: 22) Postulat, dass Sprachwechsel auf ›systems of distinction‹ basieren, »in which a style contrasts with other possible styles, and the social meaning signified by the style contrasts with other social meanings.« 9 Auer (1986) verweist zum Begriff ›Gangart‹ auf Goffmans Überlegungen zur (Re-)Konstruktion von lokalen interaktionellen Positionen und Beziehungen in seinem Kapitel ›Footings‹ (Goffman 1981).

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2010). Jedoch basiert die Mehrzahl entsprechender Studien auf der (zumeist künstlichen) Manipulation von einzelnen oder wenigen sprachlichen Variablen (z. B. Labov [et al.] 2012). Wie Auer (2007: 12) hingegen moniert, »we do not interpret single variables but a gestalt-like stylistic expression.« Dementsprechend gehört zur Erfassung der perzeptiven Kompetenz aus soziolinguistischer Sicht auch die Frage danach, welche Konstellationen von sprachlichen Features im Ermessen der Benutzer eine Sprechform eigentlich konstituieren bzw. von einer anderen unterscheiden. Dies ist natürlich von besonderer Bedeutung in Bezug auf sprachliche Systeme, die einander in vielerlei Hinsicht überschneiden bzw. schon aus der Produktionsperspektive heraus nur schwer eindeutig abgrenzbar sind – eben wie österreichischer Dialekt und Standard (zum Problem siehe z. B. auch Moosmüller 1991, Reiffenstein 1977, Scheuringer 1997).10 Coupland (1980) scheint der erste zu sein, der sich des Themas der Perzeption interaktioneller sprachlicher Intra-SprecherInnen-Wechsel in ihrer ›Gesamtheit‹ methodisch angenommen hat. Seine InformantInnen wurden gebeten, neun Sprechproben einer englischsprechenden Reisebüroangestellten aus Cardiff mittels eines in Standardenglisch gehaltenen Transkripts bezüglich Sprachwechsel zu markieren und jede halbe Zeile auf einer Skala (von 1 – sehr Standard-nahe bis 5 – am wenigsten Standard) einzuschätzen. Die Ergebnisse dienten Coupland dann zu einer perzeptionistisch unterstützten Analyse der Intra-Sprecherinnen-Variation der Angestellten, welche damals schon das Potential der traditionellen Faktoren ›topic‹ und ›amount of attention paid to speech‹ (aus Labovs Arbeit) für die Erklärung von Sprachwechseln in Zweifel zog und hingegen auf die lokal-interaktionelle Bedeutung solcher Variation hinwies. In Zuarbeit zur Exegese von Speaker Design im österreichischen Deutsch soll hier nun ein Test zur Elizitierung von Sprachperzeptionen (›speech perception elicitation test‹ – Soukup 2011) kurz vorgestellt werden, der, in Anlehnung an Couplands Methodik, entwickelt wurde, um die Abgrenzung von Dialekt und Standard in ganzheitlicher Form auf Basis der Einschätzungen österreichischer HörerInnen festzusetzen. Für diesen Test wurden 42 InformantInnen mit einer Abfolge von 12 Audioexzerpten aus verschiedenen ›Offen gesagt‹-Sendungen konfrontiert und gebeten, in einem schriftsprachlichen Transkript jene Passagen mittels Unterstreichung zu markieren, die ihrer Meinung nach in »Dialekt bzw. Umgangssprache, also nicht Hochsprache« gehalten waren.11 Die Länge der 10 Siehe weiters Purschke (2012) für einen detaillierten Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Perzeptionslinguistik speziell im Kontext der Deutschland-bezogenen Regionalsprachenforschung. Im dort erfassten Methodenkanon wird allerdings dem proaktiven interaktionellen Speaker Design, wie im gegenwärtigen Beitrag beschrieben, kaum (außerhalb Umfragen zur reaktiven Situationsbezogenheit von Sprechlagen) Rechnung getragen. 11 Diese Anweisung ergab sich in Anwendung des ›Zwei-Kompetenzen-Modells‹ sowie auch der

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Audioexzerpte variierte zwischen 35 und 100 Sekunden (Durchschnitt: 72 s); jedes wurde zweimal hintereinander vorgespielt, mit kurzer Zwischenpause. Die InformantInnen rangierten im Alter zwischen 20 und 70 Jahren, wobei 27 in die Altersgruppe 20 – 35 und 15 in die Altersgruppe 50 – 70 fielen. Alle waren aus dem mittelbairisch-österreichischen Sprachraum; etwa die Hälfte hatte einen tertiären Bildungshintergrund. In seiner Konfiguration entsprach dieses Sample ziemlich gut dem Zielpublikum der Sendung ›Offen gesagt‹ (gemäß Daten aus persönlicher Kommunikation mit dem ORF), nachdem in jenem ältere und höher gebildete ZuseherInnen überrepräsentiert sind – somit erscheint eine Anwendung der Testergebnisse auf die Exegese des oben präsentierten Ankerbeispiels besonders gut argumentierbar. Zur Testauswertung wurden dann zunächst alle jene Wörter im Transkript identifiziert, die von den InformantInnen als ›Dialekt/Umgangssprache/nicht Hochsprache‹ markiert worden waren. Tatsächlich traf dies auf 68,6 % aller Wörter im Transkript (1.536 von 2.240) zu. Um nun einen gewissen perzeptuellen Konsens zu ermitteln, der sich den zu erwartenden, ›durchschnittlichen‹, ›typischen‹ Gepflogenheiten eines österreichischen Fernsehpublikums annähert, wurden in der weiteren Analyse schließlich nur jene Wörter berücksichtigt, die von mindestens einem Viertel der InformantInnen (genauer: 11 von 42) unterstrichen worden waren. Diese Grenze wurde vor allem mit Bedacht darauf gesetzt, sowohl den detaillierten Antworten jener InformantInnen, die die Aufgabe am schnellsten und effizientesten erledigten, Rechnung zu tragen, als auch den Klagen vor allem älterer InformantInnen über den Druck der hohen (natürlichen) Sprechgeschwindigkeit in den Audioexzerpten (was aber augenscheinlich nur zu weniger, nicht aber qualitativ anders gearteten Markierungen führte). Die Auswertung bezieht sich daher auf verbleibende 350 Wörter (15,6 %) des Transkripts, die im oben definierten Sinne ›konsensuell‹ von den InformantInnen als nicht standardsprachlich gekennzeichnet worden waren. Um die möglichen Gründe zu eruieren, aus denen diese Wörter als dialektal markiert worden waren, wurden diese dann aus den Audioproben phonetisch transkribiert und mit der gängigen Literatur zum österreichischen Deutsch abgeglichen (insbesondere Dressler / Wodak 1982; Zehetner 1985; Moosmüller 1991; Ammon [et al.] 2004; Wiesinger 2006; Ebner 2008). Es zeigte sich in der Folge, dass die allermeisten unterstrichenen Wörter, nämlich 151 (43,1 %), einen InputSwitch aufweisen, und diese auch durchschnittlich von mehr als der Hälfte der InformantInnen (55 %) markiert wurden (angeführt von einem Token des [daːf] ˚ Tatsache, dass speziell die Termini ›Umgangssprache‹ und ›Dialekt‹ auch laienlinguistisch kaum klar abgrenzbar sind bzw. im Gebrauch kaum klar abgegrenzt werden. Für nähere Details in Bezug auf Test-Design, Durchführung und Auswertung siehe Soukup (2011).

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↔ [dɛɐf] Switches, das zu 100 % unterstrichen worden war). Durchschnittlich ˚ noch häufiger (von über 70 % der InformantInnen) wurden sieben Wörter, die eine ge-Reduktion aufweisen (wie z. B. in [kʃeːn] vs. Std. [geˈʃeːn]),12 markiert, gefolgt von zwölf Wörtern, die lexikalisch dem Dialekt zuzuordnen sind (wie z. B. hatschen) – 62 % der InformantInnen hoben diese hervor. Auf der Liste jener Wörter, die von mehr als einem Viertel der InformantInnen unterstrichen wurden, finden sich des Weiteren solche, die l-Vokalisierungen beinhalten (z. B. in [ˈfɔeʃɛ] vs. Std. [ˈfalʃɛ]), sowie morphosyntaktische Dialektfeatures (z. B. tunPeriphrase), diverse Kontraktionen (z. B. [ˈtskœnen] vs. Std. [tsu ˈkœnen]) und Reduktionen (z. B. [jɛːts] vs. Std. [jɛtst]), Silbenreduktion gemeinsam mit Konsonantenassimilierung und Tilgung wie in [ham̩ ] (vs. Std. [ˈhaːben]), und na˚ türlich auch solche mit Mehrfachkombinationen aus all diesen.13 Im Vergleich dazu kommen die gelisteten Features so gut wie gar nicht in jenen 704 (31 %) Wörtern des Transkripts vor, die von keinem/keiner einzigen der InformantInnen unterstrichen worden waren, trotz vielfacher sprachlicher Möglichkeit des Auftretens (›potential places of occurrence‹) – (nur zwei InputSwitches, zwei Konsonantenassimilierungen mit Tilgung und eine Cluster-Reduktion machen die Ausnahme). Andere Features hingegen kommen sowohl in den vollkommen unmarkierten als auch in den markierten Wörtern vor. So z. B. die Angleichung der Realisierung von Lenis- und Fortisplosiven in bestimmten Kontexten (sodass Dank und Tank zu Homophonen werden: [daŋk]), r-Voka˚ lisierung ([vɪɐd]), und Silbenreduktion gemeinsam mit Konsonantenassimilie˚ rung, aber ohne Tilgung (in [lebm̩ ] vs. Std. [ˈleːben]). Diese Features werden ˚ demnach offensichtlich nicht generell als dialektal perzipiert. 77 % (n = 268) jener 350 Wörter, die von mehr als einem Viertel der InformantInnen unterstrichen wurden, lassen sich wie gezeigt auf Basis der etablierten Literatur zu österreichischem Dialekt und Standard erklären. In den verbleibenden 82 Wörtern finden sich interessanterweise dann noch neun solche, die als ›hesitation particles‹ (ähm, äh, ah) und ›false starts‹ zu identifizieren sind. Dies mag auf eine offensichtliche Tendenz österreichischer HörerInnen hinweisen, auch zögerliche und fehlerhafte Sprache als nicht-standardsprachlich bzw. als dialektal zu kategorisieren, was wiederum mit dem Stereotyp der geringeren sprachlichen ›Korrektheit‹ des Dialekts in Verbindung zu stehen scheint (zur weiterführenden Diskussion siehe Soukup 2013). Unter Abzug dieser verbleiben dann noch 73 Tokens, die zwar häufig unterstrichen wurden, aber in denen sich keines der gelisteten Dialektfeatures identifizieren lässt; ihre Mar12 Als Referenz für die zum Vergleich angegebenen standardsprachlichen Ausspracheformen dient hier das Duden Aussprachewörterbuch (2000) mit Spezifizierungen von Ebner (2008). 13 Zur Bezeichnung der Features hier und im Folgenden siehe vor allem Moosmüller (1991). Diese weist unter anderem auch bereits auf die perzeptionelle Salienz von Input-Switches hin.

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kierung lässt sich wohl noch am ehesten in ihrer physischen Nähe zu deutlich dialektalen Wörtern begründen (siehe Soukup 2009). Aus dieser Analyse kann man insgesamt nun also eine perzeptionsbasierte Liste jener Features ableiten, die mit aller Wahrscheinlichkeit und typischerweise österreichischen HörerInnen als ›Diagnoseinstrumente‹ in der österreichischen Standard-Dialekt-Unterscheidung dienen. Diese Liste kann wiederum auf das Ankerbeispiel weiter oben rückgeführt werden. Dort produzierte Sprecher AT insgesamt sieben Input-Switches, zwei ehs und eine ge-Reduktion im ›Zitat‹ der Ministerin. All diese finden sich unter den eben erstellten Dialekt-diagnostischen Features. Somit lässt sich jetzt auch auf empirischer Basis gut argumentieren, dass ATs Sprachwechsel von einem österreichischen (Fernseh-)Publikum aller Wahrscheinlichkeit nach sehr wohl als solcher wahrgenommen wird, in Erfüllung von Kriterium 1 des Speaker-Design-Prozesses. 2.)

Das Publikum muss die mittels dieses Wechsels implizierten differenzierten sozialen Assoziationen (Stereotype, Spracheinstellungen) aktivieren Der soeben präsentierte ›speech perception elicitation test‹, also die perzeptionslinguistische Methodik zur Identifizierung von Sprachwechseln speziell unter den Umständen natürlicher Interaktion, befindet sich noch in seinen Anfängen und ist durchaus noch weiterzuentwickeln (siehe auch Soukup 2011 für kritische Diskussion). Im Gegensatz dazu kann aber in Bezug auf die Erforschung von sozialen Assoziationen, die Hörende mit gewissen Sprechweisen verbinden, auf einen in der Soziolinguistik lange und gut etablierten empirischen Kanon zurückgegriffen werden, nämlich den der Spracheinstellungsforschung (›language attitude study‹). Speziell die Tradition der SprecherInnenevaluierung mittels der ›matched-guise technique‹ (Lambert [et al.] 1960) ist ja bereits inhärent darauf angelegt, jene sozialen Bedeutungen aufzuzeichnen, die aktiviert werden, wenn eine HörerInnenschaft mit einem Wechsel zwischen zwei Sprechformen konfrontiert ist. Es lässt sich somit durchaus argumentieren, dass die Evaluierungsaufgabe, die InformantInnen im Zuge eines solchen Experiments bewältigen, jener sehr nahe kommt, die sie in diesem Hinblick auch in der Interaktion als HörerInnen zu leisten haben. Allerdings gibt es einige Voraussetzungen dafür zu beachten, dass ein ›matched-guise‹-Experiment auch tatsächlich für die Exegese von Speaker Design in einem gegebenen interaktionellen Kontext herangezogen werden kann. Neben der Verwendung von Sprechproben, die speziell die perzeptionistisch als differenzierend ermittelten Features beinhalten (siehe die vorangegangenen Ausführungen), bezieht sich das auch auf die Notwendigkeit, im experimentellen Design eine ähnliche (parallele) Konfiguration der Sprechsituation herzustellen wie in der zu analysierenden Interaktion. Dieses Erfordernis ergibt sich aus der Tatsache, dass, dem ›state-of-the-art‹ der (diskursiv orientierten) Sozialpsy-

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chologie gemäß, die Elizitierung von (Sprach-)Einstellungen aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus, nämlich als ›evaluative process‹ (z. B. Potter 1998), zu betrachten ist (siehe auch Soukup 2012 a). Da solch ein als kommunikativ zu verstehender Prozess so wie jeder andere (z. B. auch die Konversation) situationsspezifische Ergebnisse liefert, können diese nur dann in der Exegese von Sprechdaten weiterverwendet werden, wenn letztere unter ähnlichen Umständen entstanden sind. Dementsprechend kommt nun in der empirischen Zuarbeit zur Analyse von Speaker Design im gegebenen Ankerbeispiel ein Spracheinstellungsexperiment zur Anwendung, in dessen Design in Bezug auf Faktoren wie u. a. Themenwahl der Sprechproben, InformantInnensample und vorzustellender Sprechsituation möglichst viele Parallelen zum Kontext der Fernsehdiskussionssendung ›Offen gesagt‹ hergestellt wurden. Die InformantInnen waren 123 österreichische Universitätsstudierende (ein Sample, das zwar noch nicht im Alter, aber sehr wohl im hohen Bildungsgrad der typischen ZuseherInnenschaft der Sendung entspricht – siehe weiter oben). Diese wurden gebeten, sechs Sprechproben zum Thema ›genetisch veränderte Lebensmittel‹ (also ein Thema, das durchaus für die Fernsehdiskussion plausibel wäre)14 in einem Fragebogen mittels semantischer Differenzialskalen (Osgood [et al.] 1957) einzuschätzen. Ein der Sendung nahekommender Bezugsrahmen wurde eingeführt, indem die zu beurteilenden SprecherInnen als ›Teilnehmende in einem Kommunikationsseminar‹ vorgestellt wurden, für die Feedback gesammelt werden sollte in Bezug auf den Eindruck, den sie auf ein ›öffentliches Publikum‹ machen würden. Um des Weiteren speziell eine Situation der Intra-SprecherInnen-Variation zu simulieren, wurde dabei eine neue Variante der ›matched-guise technique‹, nämlich die sogenannte ›open-guise technique‹ verwendet, bei der die InformantInnen explizit darauf aufmerksam gemacht wurden, dass sie die gleichen Sprechenden in unmittelbarer Folge in zwei verschiedenen Aufnahmevarianten hören würden. Damit sollte also so wie in der Sendung eine Situation erzeugt werden, in der es für alle ersichtlich ein und der/dieselbe Sprechende ist, der einen Sprachwechsel vornimmt. Aufnahmen von zwei weiblichen Sprecherinnen und einem männlichen (alle aus dem mittelbairisch-österreichischen Sprachraum) wurden für das Experiment verwendet; die SprecherInnen präsentierten denselben Text einmal im Dialekt und einmal in Standardsprache (wobei in den standardsprachlichen Aufnahmen keine der berichteten Dialekt-diagnostischen Features vorkamen).15 14 So wurde z. B. erst am 17. 02. 2013 im Nachfolgeformat eine Sendung zum zeitaktuellen ›Pferdefleischskandal‹ (Pferdefleisch landete in mehreren EU-Ländern als ›Rindfleisch‹ in Fertigprodukten) produziert und ausgestrahlt. 15 Siehe Soukup (2012 b) für weitere Details zur Methode, zu diesem Experiment und zu seinen

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Die Ergebnisse zeigen, dass alle SprecherInnen als signifikant gebildeter, aber auch als arroganter eingeschätzt wurden, wenn sie standardsprachliches österreichisches Deutsch verwendeten. Dagegen klangen sie im Dialekt für die InformantInnen natürlicher, lockerer, ehrlicher und humorvoller, aber auch vergleichsweise derber. Weitere Tendenzen zeigen (allerdings mit geringerer Effektgröße), dass der Dialekt mit mehr Emotionalität, der Standard dafür mit mehr Ernst und Fleiß assoziiert wird. Eine der Sprecherinnen sowie der Sprecher wurden im Standard auch als signifikant intelligenter, kompetenter und schlauer eingeschätzt (wobei die Ergebnisse der zweiten Sprecherin hier unschlüssig, weil generell negativer, sind). Dieses Experiment hat nun zwei Hauptimplikationen für eine Rückführung in die Analyse von Speaker Design, so wie im Ankerbeispiel. Erstens ist es ein empirischer Beleg dafür, dass österreichische HörerInnen selbst im Fall der Intra-SprecherInnen-Variation, also in gewissem Grade in Abstraktion von der sprechenden Person, verschiedene soziale Bedeutungen differenziert mit Standard und Dialekt verknüpfen und in einer Evaluierungssituation aktivieren. Zweitens umfassen diese aktivierten Stereotype auch solche, die konkret Sprecher ATs strategischem Sprachgebrauch dienlich sind, nämlich negative Assoziationen des Dialekts wie Ungebildetheit, Derbheit, und wahrscheinlich auch Inkompetenz und geringere Intelligenz, die ja letztlich auf die Außenministerin als ›deiktisches Zentrum‹ des (wie bereits weiter oben gezeigt perzeptuell salienten) Dialektgebrauchs projiziert werden. Somit ist abermals ein empirisch schlüssiger Beleg für die Mechanismen des Speaker Design gefunden. 3.)

Der rhetorische, pro-aktive, strategische Charakter des sprachlichen Wechsels muss erkennbar sein Wie bereits oben angedeutet, ist aber nicht davon auszugehen, dass jedes einzelne Vorkommnis eines dialektalen Features (selbst wenn zu erwarten ist, dass es als solches perzipiert wird, und selbst wenn es gewisse Assoziationen hervorruft) einen Akt des Speaker Design darstellt. Auer (1986: 119 ff.) verweist diesbezüglich auf die Problematik, zwischen einer gewissen »Grundvariation« (›Code-Fluktuation‹) und dem vollfunktionalen ›Code-Switching‹ (strategischem Sprachwechsel) zu unterscheiden. Aus HörerInnensicht ist es dann ja auch tatsächlich so, dass grundsätzlich viel mehr Information zur Interpretation zur Verfügung steht als bloß jene, die von Sprechenden ›absichtlich‹ (strategisch) ›ausgeschickt‹ wird – in Goffmans Worten (1959: 2): Es ist zu differenzieren zwischen ›information given‹ versus ›information given off‹, wobei nur erstere Ergebnissen bzw. Soukup (2009) für eine ausführliche Diskussion des Designs in Anlehnung an die Fernsehdiskussionssendung, wenn auch im Kontext eines gleich gestalteten anderen Experiments.

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von einer SprecherInnenintention getragen ist (siehe auch Schiffrin 1990 zur weiteren Ausführung). Zur Auflösung sowohl aus HörerInnen- als auch aus AnalystInnensicht lässt sich das von Auer (1986: 114) so genannte »Prinzip der retro/prospektiven Kumulierung von Evidenzen« heranziehen, nach dem zumindest auf Basis einer Häufung von Features aus einer anderen Sprechform als der bisherigen, aber auch aus anderen kontextuellen Gegebenheiten der Interaktion ein gewisses Maß an SprecherInnenintention abgeleitet werden kann. In Bezug auf das gegebene Ankerbeispiel ergibt sich so tatsächlich eine ganze Liste von Indizien, die auf rhetorische Sprachverwendung hinweisen. Auf der Mikro-Ebene des lokalen Interaktionskontextes ist zunächst einmal und sehr zentral ein solches Indiz die emergente Ansammlung von zehn nicht-standardsprachlichen Features in der Äußerung von ATs ›Zitat‹: dass ein intendierter Sprachwechsel vorliegt, ist wohl wahrscheinlicher, wenn sich dieser über eine längere Strecke konzentriert manifestiert. (Zudem wurde ja bereits erwähnt, dass ein interaktionell-funktionaler Charakter des ›Zitats‹ naheliegt.) Aber auch auf der Makro-Ebene des globalen Situationskontextes lässt sich auf die Wahrscheinlichkeit strategischer Sprachverwendung schließen, handelt es sich ja hier um ein ›high performance event‹ (siehe Coupland 2007: 146 f.). Eine Fernsehdiskussion ist im wahrsten Sinne des Wortes eine ›Show‹, in der Faktoren wie die (wenn auch virtuelle) Präsenz eines Publikums, die Möglichkeit, live eine ›Message‹ zu verbreiten, die inhärente Selbstdarstellung und die große Strahlkraft (aber auch das damit verbundene Fehlerrisiko) in vielerlei Hinsicht zu einem erhöht konzentrierten Kommunikationsverhalten beitragen (»communicative focusing« – Coupland 2007: 147). Der rhetorische, strategische Sprachgebrauch ist hier nahezu programmatisch (und dementsprechend sind ›high performances‹ wie mediale oder andere öffentliche Auftritte eine beliebte, weil robuste, Datenquelle für Speaker-DesignAnalysen – siehe v. a. die Studien in Coupland 2007 und Hernández-Campoy / Cutillas-Espinosa 2012). Es ist aber auch denkbar, dass sich weitere Hinweise auf Speaker Design daraus ergeben, dass im allgemeinen Sprachgebrauch ein hoher korrelativer Zusammenhang zwischen einer Sprechform bzw. einem Sprachwechsel und einer bestimmten rhetorischen Funktion besteht, und dass des Weiteren diese Verschränkung schon so weit in der kommunikativen Kompetenz eines Sprach(en)systems ›entrenched‹ ist, dass man sogar von einer beginnenden ›rhetorischen Figur‹ sprechen kann. Oder andersherum formuliert, wenn sich ein Muster nachweisen ließe, nach dem ein Sprachwechsel z. B. im ›Varietätensystem‹ österreichisches Deutsch immer wieder mit einem bestimmten interaktionellen ›move‹ (Goffman 1981 – im Sinne von ›Schachzug‹) zusammenfällt, ist auch dies ein Indiz für seinen strategischen, über ›Grundvariation‹ hinausgehenden Charakter.

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Solch einem Muster soll hier zu guter Letzt noch quantitativ nachgespürt werden, in einer Analyse eines Korpus von acht transkribierten Episoden der Sendung ›Offen gesagt‹ (ausgestrahlt über den Zeitraum 2004 – 2005). Um herauszufinden, ob die Verwendung von Standard-Dialekt-Wechseln wie im Ankerbeispiel insbesondere mit der interaktionellen Projektion von negativen ›alignments‹ koinzidiert, wurden aus diesen Episoden all jene Passagen herausgegriffen, die jeweils die ›voicing zone‹ (Agha 2005) eines direkten ›Zitats‹ darstellten (wobei zu deren Identifikation Indikatoren wie die Präsenz quotativer Verben und die Absenz von Merkmalen der indirekten Rede herangezogen wurden): n = 238. Als nächster Schritt wurden dann die ›voicing zones‹ qualitativ kategorisiert in solche, die ein negatives ›alignment‹ zwischen ›Zitierer‹ und ›zitierter‹ Person (bzw. Inhalt) zum Ausdruck bringen (n = 97, oder 41 %), und andere. Schließlich wurde die durchschnittliche Dialektalitätsrate aller betreffenden Passagen ermittelt (Wörter, die zumindest eines der ›diagnostischen‹ Non-Standard-Features beinhalten).16 Insgesamt weisen die acht Sendungsepisoden eine durchschnittliche Dialektrate von 8,1 % auf (7.939 von 97.970 Wörtern). In den ›voicing zones‹ erhöht sich diese allgemein bereits auf durchschnittlich 11,8 % (327 von 2.779 Wörtern). Pickt man nun aber noch jene Passagen heraus, in denen das ›Zitat‹ mit einem negativen ›alignment‹ einhergeht, so beträgt die durchschnittliche Dialektrate dort stolze 18 % (207 von 1.158 Wörtern), im Gegensatz zu den übrigen ›voicing zones‹ mit 7,4 % (120 von 1.621 Wörtern). Es manifestiert sich im analysierten Datenkorpus also tatsächlich ein Muster, nach dem Dialekt dort verstärkt eingesetzt wird, wo eine negative interaktionelle Beziehung zum Ausdruck kommt.17 Dieses Muster wird von einer Vielzahl verschiedener SprecherInnen in den verschiedenen Sendungen eingesetzt (die TeilnehmerInnengruppen überlappen wenig). Dies reicht hin bis zum anekdotischen Fall der amerikanischen Urenkelin des österreichischen Schriftstellers Arthur Schnitzler, Eingeladene in einer Sendung zum Thema U.S.-Wahlen (nicht im Korpus inkludiert). Besagte Urenkelin bestritt die Sendung auf Standarddeutsch, mit einem überaus starken amerikanischen Akzent; aber die Einstellung mancher amerikanischer WählerInnen, mit der sie selbst nicht übereinstimmte, 16 Es ist natürlich darauf hinzuweisen, dass die Quantifizierung von Diskursdaten viele Caveats mit sich bringt, wie in diesem Fall z. B. eine fehlende Berücksichtigung verschiedener SprecherInnen und deren sprachlicher Gewohnheiten, sowie eine Generalisierung über unterschiedliche lokale Kontexte, aber auch die Zusammenmischung verschiedener Arten von sprachlichen Features. Somit sind die hier angegebenen Zahlen mehr als richtungsweisend denn als exakt zu verstehen. 17 Ein weiteres identifizierbares Muster im Korpus stellen kurze Zwischenrufe oder Kommentare dar – auch hier erhöht sich die Dialektrate gegenüber anderen Äußerungen, und sogar sehr drastisch, wenn die Zwischenrufe/Kommentare eine negative Einstellung zur Bezugsperson darstellen. Siehe Soukup (2009) zur weiterführenden Diskussion.

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repräsentierte sie letztendlich mit dem ›Zitat‹ »Das is eigentlich mir wurscht!« – in somit perfekt österreichischer Manier des Speaker Designs in einem antagonistischen interaktionellen ›move‹ mit Dialektgebrauch. Sprachwechsel von österreichischem Standard in den Dialekt scheinen also zumindest in Bezug auf negative ›alignments‹ im direkten ›Zitat‹ tatsächlich den Status eines Tropus erreicht zu haben. Als solches scheint ihr strategischer Charakter allseits Teil der österreichischen kommunikativen Kompetenz, also wohl auch einem österreichischen Publikum bekannt, zu sein. Allein diese Tatsache wirft aber neue, vor allem auch kognitiv-soziolinguistische Fragen, wie z. B. des Erwerbs, des systemischen Status und der Natur des Phänomens bzw. seiner Einreihung in die Hierarchien und Kategorien der deskriptiven Sprachwissenschaft auf, deren Diskussion den Rahmen des gegenwärtigen Beitrags allerdings sprengen würde. Jedenfalls ist in Summe am Ende dieses Abschnitts aber festzuhalten, dass sich auf verschiedensten Ebenen des sprachlichen, situativen und sozialen Kontextes Indizien dafür kumulieren, dass im Ankerbeispiel Speaker Design auch als solches perzipierbar, identifizierbar und von ›Grundvariation‹ unterscheidbar ist.

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Zusammenfassung und Schlussbemerkung

Unter der Grundannahme, dass eine Exegese von Diskursdaten in Bezug auf Speaker Design, die nur die Produktionsperspektive mit einbezieht, die Prozesse der darin inhärenten Kontextualisierungsmechanismen kaum erfasst, ist mit diesem Beitrag nun eine hoffentlich schlüssige Indizienkette ausgelegt, die nahelegt, dass sich der rhetorische Effekt von ATs Sprachwechsel im Ankerbeispiel auch aus der HörerInnenperspektive nachzeichnen lässt. Bottom-up-Belege für die Erfüllung der für Speaker-Design-Effekte konstitutiven Kriterien der perzeptuellen Abgrenzung und differenzierten Evaluierung von österreichischem Standard und Dialekt sowie für die Erkennbarkeit der Sprechstrategie als solche wurden hier zusammengeführt, sodass das mittels Dialekt-›Zitat‹ projizierte negative ›alignment‹ zwischen AT und der Ministerin post hoc als erfolgreich bzw. überhaupt letztlich im Sinne der inhärent dialogischen Natur menschlicher Interaktion als erfolgt betrachtet werden kann. Gleichzeitig spiegelt das präsentierte empirische Programm, das hoffentlich als Ausgangspunkt für eine Beforschung von Speaker Design auch in anderen (regional)sprachlichen Kontexten dienen kann, die gegenwärtig richtungsweisenden Fragestellungen der variationistischen Perzeptionslinguistik, oder sogar der (Sozio-)Linguistik allgemein, wider: Immer mehr ist zu erkennen, dass das, was genau ein sprachliches System und seine Ausformungsvarianten ausmacht,

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Barbara Soukup

vorrangig aus Sicht der Benutzer zu modellieren ist, um der Erklärung lokalinteraktioneller, also letztlich auch makro-sozialer, Phänomene dienlich zu sein. Was ist Standard? Was ist Dialekt? Diese Frage ist unter einer zeitgemäßen konstruktivistischen Epistemologie von der Sprachwissenschaft an die ›Laien‹ zu stellen, nicht umgekehrt – in Österreich wie anderswo.

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Eva Winkler (Salzburg)

Intimität in der Öffentlichkeit – Sprachliche Variation als kommunikative Strategie im Radiointerview

0

Vorbemerkung

Dieser Beitrag behandelt Codewechsel- und Variationsprozesse und deren Funktion(en) in der konkreten medial-öffentlichen Kommunikationssituation. Wie im alltäglichen Sprachgebrauch impliziert die Verwendung verschiedener Varianten und Varietäten aus sozio-, pragma- und perzeptionslinguistischer Perspektive auch im medialen Kontext stets spezifische Einsatz- und Funktionsräume. Vor allem dialogische und multilogische interaktive auditive oder audiovisuelle Texte sind von abwechslungsreichem, variantenreichem Sprachgebrauch geprägt (vgl. Winkler 2011: 29 f. in Bezug auf Burger 2005: 365 ff.). Die vielseitige(n) und facettenreiche(n) Funktion(en) sprachlicher Variation wird/werden mit dem Blick auf die jeweils konkrete Kommunikationssituation beobachtbar. In diesem Beitrag wird anhand ausgewählter Ausschnitte eines Radiointerviews des österreichischen Rundfunks exemplarisch gezeigt, inwiefern sprachliche Variation diskursstrategisch funktional sein und der Erreichung spezifischer kommunikativer Ziele dienen kann und somit wesentliche gesprächssteuernde Potenziale zur Herstellung einer intimen und persönlichen Gesprächsatmosphäre im medial-öffentlichen Kontext aufweist.

1

Ausgangspunkt

Wie bereits etwa eine Studie von Strassner (1983: 1519) belegt, haben dialektale und umgangssprachliche Varianten längst einen fixen Platz in massenmedialen Kommunikationsprozessen und weisen nicht nur über O-Töne ein verstärktes Vorkommen auf (vgl. Burger 2005: 365), sondern werden auch von geschulten Berufssprechern1 verwendet, sofern es die Kommunikationssituation erfordert 1 Personenbezeichnungen, die nicht geschlechtsneutral formuliert sind, werden im Sinne der

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Eva Winkler

(vgl. Muhr 2007: 31). Vor allem in dialogischen Kommunikationszusammenhängen, wo primär das Gelingen der medial öffentlichen Gespräche mit bestimmten Gesprächspartnern im Vordergrund steht, ist die Anpassung an spezifische und aktuelle Erfordernisse wichtiger als die Erfüllung von Normen. So werden zur Erreichung von Gesprächszielen auch situative, soziale, regionale und individuelle Faktoren berücksichtigt, was häufig ein Abrücken von der vorgegebenen Sprachnorm impliziert (vgl. Muhr 2007: 34 f.). So kann der »geschickte Umgang mit der Palette des Dialekt-Standard-Kontinuums« beispielsweise auch hinsichtlich der Sendungsgestaltung funktional sein und »zusätzliche Möglichkeiten [bieten], die von Anbiederung, sensibler Anpassung über Unterhaltung und Abwechslungseffekte bis hin zur Persiflage reichen können«, so beispielsweise Kaiser (2006: 296) anhand exemplarischer Analysen von Gesprächen aus dem österreichischen Fernsehen. Diese Möglichkeiten stehen im Medium Radio ebenso zur Verfügung, wobei die inhaltliche Komponente eine wesentliche Rolle spielt. Grundlegende Erkenntnisse aus Dialektologie und Variationsforschung besagen, dass sich der Sprachgebrauch in Österreich durch eine tendenziell domänenspezifische Verwendung von Standardsprache in formalen oder öffentlichen Gesprächssituationen einerseits und den Gebrauch von Dialekt und Umgangssprache im privaten und intimen Kontext andererseits auszeichnet und sprachliche Variation unter anderem wesentlich zur Konstitution des Beziehungsgefüges und des Formalitätsgrads in Gesprächen beiträgt (vgl. Wiesinger 2008: 39 ff.). Dieser formal diskrepante Sprachgebrauch im privaten und öffentlichen Kontext gilt ebenso für medial öffentliche Gespräche und gerät in ein besonderes Spannungsverhältnis, wenn in diesen auf der inhaltlichen Ebene intime oder private Gesprächsthemen behandelt werden (sollen). Denn dann muss oder soll die Diskrepanz zwischen Intimität und Öffentlichkeit überwunden werden, um die öffentlich auftretende bekannte Persönlichkeit als Privatmensch mit intimen Gefühlen und persönlichen Denkweisen darzustellen.2 Das kann zur grenzüberschreitenden Handlung werden, denn grundsätzlich hat »[d]er Moderator […] die Privatsphäre des Partners zu respektieren, andernfalls würde er das Image, das Gesicht (face) des anderen bedrohen«, und Privatsphäre bedeutet, »geschützte Zonen zu haben […], die gegenüber jeglicher Art von Öffentlichkeit absolut tabu sind« (Burger 1991: 75). Was allerdings als Grenzüberschreitung gilt, hängt nicht nur von soziokultuEinfachheit und besseren Lesbarkeit nicht in Doppelformen angegeben. Es wird jedoch darauf geachtet, möglichst geschlechtsneutral zu formulieren, sofern Stil und Ausdruck nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. 2 Das Medium Radio stellt in Österreich aufgrund seiner überregional flächendeckenden Verfügbarkeit von Empfangsmöglichkeiten ebenso wie im gesamten deutschen Sprachraum einen öffentlichen Raum dar, der sowohl professionelle Akteure als auch Laien für die Zeit ihres Auftritts zu öffentlichen Personen macht (vgl. Burger 1991: 74).

Intimität in der Öffentlichkeit

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rellen und historischen Faktoren ab, auch die Toleranzgrenze hat sich im Laufe der Jahre verschoben (vgl. Burger 2005: 25) und der voyeuristische Blick in die intime Privatsphäre von bekannten Persönlichkeiten sowie völlig Unbekannten ist bereits fixer Bestandteil der modernen Medienkommunikation und bietet einen interessanten Gestaltungsspielraum mit hohem Unterhaltungswert.3

2

Code-Switching, Code-Shifting und Funktion(en) sprachlicher Variation

Die Funktion sprachlicher Variation beschränkt sich allerdings nicht auf die Konstitution von Nähe und Distanz im Gespräch, sprachliche Variation kann auch nachweislich funktional zu gesprächssteuernden und diskursorganisatorischen Zwecken eingesetzt werden und einen wesentlichen Teil dazu beitragen, Gespräche in eine bestimmte Richtung zu lenken. Selting (vgl. 1983: 46) zeigt beispielsweise anhand der Analyse der Kommunikationsstrategien der Moderatorin einer Hörerkontaktsendung im Westdeutschen Rundfunk, wie die Wahl eines bestimmten Sprechstils, den sie »unmarkierte Umgangssprache« nennt, und die Verschiebung von diesem Sprechstil zu bestimmten gruppen- oder schichtspezifisch markierten Sprechstilen als »funktionale Mittel bei der Durchführung der Organisation der Sendung eingesetzt werden« (Selting 1983: 29). Dabei untersucht sie Stilwechsel und Stilverschiebungen als Phänomene, denen dieselben Prinzipien zugrunde liegen wie dem konversationellen CodeSwitching nach Gumperz (1976) (vgl. Selting 1983: 39), und stellt fest, dass die Moderatorin einen anderen Stil (z. B. eine umgangssprachlichere Form) wählt, um die Kooperationsbereitschaft ihres Gegenübers zu erhöhen, um etwa dem Gesprächspartner Sachverhalte zu entlocken, die dieser eigentlich zu umgehen versucht.4 Ebenso kann sprachliche Variation auch dazu dienen, eine bestimmte Atmosphäre oder Stimmung – etwa Intimität – zu erzeugen. Holly (vgl. 1990: 146 ff.) stellte u. a. fest, dass Politiker sprachliche Variation funktional einsetzen, indem sie etwa dialektalere Sprechweisen verwenden, um größere Nähe zum 3 Die Fernseh-Talkshow ist für solche sog. intimen Formate ein Paradebeispiel, da deren konstitutives Charakteristikum das Gespräch über private Themen mit nicht prominenten Protagonisten ist. Persönliche Belange werden zum öffentlichen Thema, wobei die Gespräche in einem alltagsnahen Kommunikationsstil geführt werden (vgl. Fromm 1999: 29 ff.). 4 Selbstverständlich ist im Hinblick auf Seltings Arbeit zu bedenken, dass ihre Ergebnisse auf Gesprächsmaterial aus Nordrhein-Westfalen basieren und nicht eins zu eins auf die Sprachsituation in Österreich übertragen werden können. Fest steht aber, dass sprachliche Variation nachweislich funktional zu gesprächssteuernden, diskursorganisatorischen und kommunikativen Zwecken eingesetzt werden kann (vgl. Selting 1983: 46).

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Adressaten herzustellen bzw. um eine persönliche Annäherung zu erwirken. Dialektale Varianten sind also Indikatoren und Instrumente für die Herstellung von Vertrautheit, Ungezwungenheit, Kontaktsuche und Emotionalität. In Verbindung mit dem Kontextualisierungskonzept nach Gumperz bedeutet das, dass die Wahl einer bestimmten Varietät/Variante einer konkreten Äußerung zusätzliche Bedeutung verleiht, in der konkreten Gesprächssituation als Kontextualisierungshinweis fungiert, einen möglichen Interpretationsrahmen für die Äußerung definiert und so zur Bedeutungskonstitution beiträgt (vgl. Gumperz 1994: 613) – also etwa dialektale oder umgangssprachliche Varianten Intimität, Nähe und Vertrautheit kontextualisieren und so der Schaffung einer intimen Gesprächsatmosphäre dienen können. Gumperz (vgl. 1994: 623) spricht in diesem Zusammenhang von konversationellem Code-Switching und bezeichnet Operationen, bei denen »der Wechsel die fragliche Einheit hervor[hebt] und ihr besondere interpretative Bedeutsamkeit als mehr oder weniger formell, ernst, emphatisch usw. als das umgebende Sprechen [verleiht]« (ebd.), aber der Aktivitätskomplex derselbe bleibt, d. h. die Kommunikationssituation unverändert bleibt, als metaphorisches Code-Switching.5 Der Begriff Code-Switching bezeichnet in der Variationslinguistik ganz allgemein den »Wechsel von einer sprachlichen Variante in eine andere; wobei die Situation, in der die Kommunikation stattfindet, weitgehend unverändert bleibt« (Unterholzner 2009: 26). Für Varietätenwechsel innerhalb von Umgebungen, die sich varietätenbezogen durch eine Kontinuums-Situation auszeichnen, hat sich auch der Begriff Code-Shifting etabliert. Dieser beschreibt den »allmählichen Übergang zwischen einer standardnäheren zu einer dialektnäheren Varietät« (Auer 1986: 97) und umgekehrt, was sich vor allem zur Beschreibung der fließenden Übergänge innerhalb von Dialekt-Standard-Kontinua eignet. Sprachbenutzern stehen dabei unterschiedliche Zwischen- und Existenzformen (Repertoires) zwischen Dialekt und Standardsprache zur Verfügung, deren Formenvielfalt sie dazu nutzen können, Bedeutungen zu generieren (vgl. ebd.: 97), »was funktional sein kann« (ebd.: 119). Durch nur geringe Verschiebungen in Richtung Dialekt oder Stan5 Gumperz’ Spezifikation »metaphorisch« dient in seiner Definition von Code-Switching der Abgrenzung zu jenem Code-Switching, das er als »situativ« bezeichnet und damit einen Wechsel beschreibt, der mit einer Veränderung des Aktivitätskomplexes, also der Kommunikationssituation, einhergeht (vgl. Gumperz 1994: 623). Auf diese Differenzierung wird in vorliegender Arbeit aus verschiedenen Gründen verzichtet. Zum einen ändert sich die Kommunikationssituation bzw. die Teilnehmerkonstellation im untersuchten Gespräch nicht, zum anderen wird die Situationsdefinition als Unterscheidungskriterium in diesem Zusammenhang beispielsweise von Auer (vgl. 1984: 90 f.) grundsätzlich als nicht haltbar kritisiert, da der Wechsel von einer Sprache zur anderen, wenn er funktional ist, die Kommunikationssituation immer verändert, beeinflusst und damit neu definiert, weshalb er die Annahme eines fließenden Übergangs mit graduellen Abstufungen für sinnvoller hält als eine kategorische Trennung in situatives und metaphorisches Code-Switching.

Intimität in der Öffentlichkeit

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dard können Konversationsteilnehmer subtil Bedeutung produzieren, »indem sie den Kontext der Äußerung, das, ›was abläuft‹, ›wie man miteinander umgeht‹, ›wie man zueinander steht‹, durch das Shifting verändern«, wobei es sich um »quasi atmosphärische, nichtsdestoweniger für den Fortgang der Interaktion aber höchst relevante Schattierungen [handelt]« (ebd.: 113). Auer knüpft dieses diskursfunktionale Code-Shifting an spezifische grammatische und lexikalische Prinzipien und Evidenzen, die erfüllt sein müssen, um einer Äußerung ShiftingStatus attestieren zu können (vgl. dazu ausführlich ebd.: 113 f. oder kurz gefasst Winkler 2011: 26), wovon er jede weitere Variation zwischen standardnäheren und dialektnäheren Formen als unsystematisch und nicht diskursfunktional abgrenzt und »Code-Fluktuation« nennt (vgl. Auer 1986: 114). Die nichtfunktionale Art des Codewechsels wird häufig auch als Code-Mixing6 bezeichnet (vgl. Schwitalla 2006: 55 oder Riehl 2004: 22) und beschreibt den z. B. durch trigger words ausgelösten, vom Sprecher nicht beabsichtigten Wechsel von einer Sprache oder Varietät in eine andere (vgl. Riehl 2004: 25 f.). Ob ein Codewechsel vom Sprecher beabsichtigt war oder nicht, ist im Nachhinein oft schwer zu rekonstruieren (vgl. ebd.: 27 f.). Ebenso ist auch die Unterscheidung zwischen Code-Switching, Code-Shifting und Code-Mixing oft nicht eindeutig und von einer Vielzahl von beteiligten Variablen abhängig (vgl. Auer 1986: 120), weshalb sich bei einer konkreten Analyse derartiger Variationsphänomene oft der allgemein gewählte Terminus »Codewechsel« anbietet und sich gegebenenfalls eine Differenzierung erst im Einzelfall empfiehlt (vgl. Kaiser 2006: 278). Der Terminus »Codewechsel« eignet sich auch für den vorliegenden Beitrag, da dessen Anspruch nicht in der Klassifikation von einschlägigen Phänomenen liegt, sondern deren Funktionen im Zentrum des Interesses stehen. Codewechsel können wichtige diskursorganisatorische und gesprächssteuernde Funktionen haben, wobei es vor allem um den Kontrast zwischen den beiden Varietäten (Codes) geht (vgl. ebd.) und wesentlich ist, »dass gerade im Zusammenhang mit Codewechseln in Dialektumgebungen ebenso häufig der Wechsel des Codes per se Funktionen erfüllt wie die Richtung des Codewechsels, also der gewählte Code selbst« (ebd.: 280). So können Codewechsel in Abhängigkeit von vielen Faktoren wie etwa der konkreten Kommunikationssituation, den beteiligten Sprechern oder dem soziokulturellen Kontext eine Vielzahl von möglichen Funktionen haben. Diese reichen von verschiedenartig motivierter spezifischer Markierung, Personalisierung, Objektivierung, Qualifizierung, Abgrenzung und Paraphrasierung von Äußerungen oder Äußerungsteilen bis hin zu Themeneinführung, Adressatenspezifizierung sowie der Markierung der Interaktionsmodalität und der Gestaltung des Nähe-Distanz-Gefüges (vgl. z. B. 6 Der Terminus Code-Mixing stammt aus dem Bereich Bilingualismus/Multilingualismus (vgl. Riehl 2004: 22).

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Kaiser 2006: 279 f., Unterholzner 2009: 31 ff., Schwitalla 2006: 51 f. sowie die kurze Zusammenschau in Winkler 2011: 28).

3

Sprachliche Variation und das Dialekt-Standard-Kontinuum

Für eine nachvollziehbare Beschreibung des Codewechsel- und Variationsverhaltens von Sprechern in konkreten Kommunikationssituationen ist es trotz grundsätzlicher terminologischer Schwierigkeiten und verschwimmender Grenzen bei der Systematisierung und Kategorisierung sprachlicher Variation (vgl. Ammon 2004: 9, Löffler 2005: 25)7 nötig, klare Begriffe für die Analyse zu definieren. Für das Gebiet Süddeutschland und Österreich wird in der Forschung ein Dialekt-Standard-Kontinuum angenommen8 – ein Modell, das zur Beschreibung einer Sprachwirklichkeit mit fließenden Übergängen und unscharfen Grenzen, die eine systematische Anordnung, Einteilung und Abgrenzung von Varietäten unmöglich oder unscharf machen, sehr gut geeignet ist (vgl. Löffler 2005: 21 f.).9 Ausgehend vom Kontinuums-Modell werden die Begriffe Dialekt und Standardsprache also als sich gegenüberstehende Pole verstanden, wobei Standardsprache als deskriptive Bezeichnung für jene »historisch legitimierte, überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittel- und Oberschicht« steht, die in ihrer Funktion als öffentliches Verständigungsmittel, besonders in den Bereichen Aussprache, Grammatik und Rechtschreibung 7 Sprachliche Variation ist ein komplexes Phänomen, weshalb bislang noch keine zufriedenstellende Gesamtsystematik derselben existiert (vgl. Ammon 2004: 9) und die Binnengliederung der deutschen Sprache ein viel diskutierter Forschungsgegenstand ist (vgl. Löffler 2005: 7 f.). Löffler (ebd.: 25) konstatiert treffend, dass im Endeffekt alle Einteilungsvorschläge und Definitionen zur Binnengliederung der deutschen Sprache Kunstprodukte sind, die bestenfalls aus empirischen Großprojekten hervorgehen, die sich der Beobachtung des »Datensalat[s] der Sprachwirklichkeit« widmen, wo man ein »grenzenloses, nicht abgrenzbares Durcheinander […], einen großen Brei, in den man mit keinem Messer klare Schnitte einbringen oder mit terminologischen Förmchen Figuren ausstechen könnte« vorfindet. »Sobald man ansetzt, fließt sofort alles wieder ineinander. So kommt es, dass jeder an seinem Schreibtisch den Brei etwas anders durchschneidet. Das ist nicht weiter schlimm, solange niemand behauptet, ihm sei es gelungen, klare Schnitte anzubringen und haltbare Figuren auszustechen, die ein allgemein akzeptiertes terminologisches System ergeben.« 8 Es herrscht also keine strikte Zweiteilung zwischen Dialekt und Standard, sondern es existieren vielmehr viele verschiedene Stufen, Übergänge und Mischformen zwischen den Polen Dialekt und Standard, die auch als Umgangssprache(n) bezeichnet werden (vgl. Kaiser 2006: 280 f., Ammon 2003: 166 – 168 bzw. Ammon 1995: 197 ff. oder ausführlich Barbour / Stevenson 1998: 145 – 198). 9 Von der Integration des sprachdynamisch fundierten Regionalsprachenkonzepts nach Schmidt / Herrgen (2011) in den Ansatz wird in der vorliegenden Arbeit bewusst verzichtet, da hinsichtlich der Applikation dieses Paradigmas auf die Sprachsituation in Österreich noch keine Ergebnisse vorliegen, auf die sich eine fallstudienartige Analyse wie die vorliegende stützen könnte.

Intimität in der Öffentlichkeit

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weitgehender Normierung unterliegt, in den öffentlichen Medien und Institutionen, vor allem durch das Bildungssystem, vermittelt und kontrolliert wird und deren Beherrschung als Ziel aller sprachdidaktischen Bemühungen gilt (vgl. Bussmann 2008: 680), während Dialekt das Gegenteil von Standardsprache, also Non-Standard, impliziert und sich durch die Kriterien regionale und örtliche Gebundenheit, Mündlichkeit, keine Standardisierung bzw. Kodifizierung im Sinne offiziell normierter grammatischer und orthografischer Regeln auszeichnet (vgl. Bussmann 2008: 131). Der Bereich dazwischen umfasst den Begriff Umgangssprache, der in der Forschung bereits viel diskutiert wurde10 und nichtsdestoweniger schwierig zu fassen ist. Meist wird darunter »eine Art ›Ausgleichsvarietät‹ zwischen Standardsprache und Dialekt verstanden, die zwar deutliche regionale Färbung, jedoch keine extremen Dialektismen aufweist«, was eine zu simple und problematische Darstellung eines komplexen Sachverhalts ist, da es sich vielmehr um komplizierte Konvergenz- und Divergenzprozesse zwischen Dialekt- und Standardsprache [handelt], die zur Ausbildung eines großen sprachlichen Variationsraumes zwischen ›Grundmundart‹ und normorientierter Standardsprache führen. Innerhalb dieses Bereichs sind keine strikten Kookkurrenz-Regeln zwischen einzelnen Realisierungsformen formulierbar, die den Ansatz einer systematischen Varietät rechtfertigen (Bussmann 2008: 759, gestützt auf Scheutz 1999: 128).

In vorliegendem Beitrag wird der Begriff Umgangssprache – ohne eine Sprachform fixieren zu wollen (!) – ebenso auf der Skala zwischen Dialekt und Standardsprache als Existenzformen und Spielarten angesiedelt und dient der Beschreibung bestimmter Merkmale, die eine Abweichung von der Standardsprache markieren, aber nicht als dialektal bezeichnet werden können. Um den facettenreichen Feinheiten innerhalb des österreichischen Dialekt-StandardKontinuums gerecht zu werden, werden auch geringfügige phonetische Abweichungen von der Standardsprache als dezente Dialektisierung bzw. als Tendenz in Richtung Umgangssprache berücksichtigt. Dazu gehören vor allem die Apokope des [t] nach Frikativen, die Apokope des unbetonten [e4] am Wortende, die Verkürzung und Assimilation von Endsilben sowie Synkopen, Enklisen und abgeschwächte Vokale.11 10 Bereits in den späten 1960er Jahren – noch vor der soziolinguistischen bzw. pragmatischen Wende – wurde die Pluralität des Terminus in verschiedenen Definitionen und Verwendungskontexten umfassend diskutiert – zentrale Kriterien sind jedoch durchwegs der Situationsbezug und der personenbezogene Kontext (vgl. Bichel 1973: 379). 11 Eine ausführlichere Beschreibung der Merkmale mit transkriptbasierten Beispielen befindet sich in Winkler (2011: 34 ff.), wobei es sich nur um eine exemplarische Auflistung phonetischer und morphologischer Phänomene mit keinem Anspruch auf Vollständigkeit handelt – auf lexikalische, syntaktische oder semantische Phänomene wird jeweils nur in konkreten Fällen im Rahmen der Analyse eingegangen.

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Auf weitere terminologische Abstufungen zwischen Dialekt, Umgangssprache und Standardsprache wird verzichtet, da diese auch nicht im Bewusstsein von Sprechern ohne forschungstheoretisches Fachwissen verankert sind (vgl. Steinegger 1998: 33); zur präziseren Beschreibung der fließenden Übergänge zwischen Dialekt, Umgangssprache und Standardsprache werden Formulierungen wie dialekt- oder standardnah bzw. dialekt- oder standardorientiert herangezogen.

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Fragestellung und Material

Aus sozio- und perzeptionslinguistischer Perspektive ist im Hinblick auf die Untersuchung von Phänomenen sprachlicher Variation in medial öffentlichen Kommunikationssituationen vor allem interessant, welche Funktionen Codewechsel- und Variationsprozesse in der konkreten Interaktion haben können und inwiefern diese Funktionalitäten zur diskursorganisatorischen, gesprächssteuernden, inhaltlichen Gestaltung von Gesprächen beitragen können. Im Fokus dieses Beitrags steht die Analyse von Ausschnitten eines Radiointerviewgesprächs aus dem Österreichischen Rundfunk. Konkret handelt es sich um Teile einer Ausgabe eines in Österreich relativ populären Unterhaltungsformats, das mit »Frühstück bei mir – Persönlichkeiten ganz persönlich« betitelt ist.12 Wie bereits der Untertitel vermuten lässt, ist das inhaltliche Ziel der Sendung eine möglichst intime und persönliche Darstellung von bekannten Persönlichkeiten aus Kultur, Sport, Politik etc. im Rahmen eines Interviewgesprächs, das als gemeinsames Sonntagsfrühstück inszeniert wird. Die Sendung ist so konzipiert, dass die Moderatorin Claudia Stöckl in möglichst privater Atmosphäre – meist zu Gast bei den Interviewten – ein Interviewgespräch führt, das aufgezeichnet, geschnitten und gerahmt von einer Studiomoderation und unterbrochen durch Musikpausen über eine Sendezeit von ca. zwei Stunden ausgestrahlt wird.13 Den Rezipienten soll also ein privates gemeinsames Frühstück mit Claudia Stöckl und einer bekannten Persönlichkeit am Sonntagvormittag suggeriert werden.14 Pri12 »Frühstück bei mir« wird seit 1997 wöchentlich von neun Uhr bis elf Uhr am Sonntag Vormittag auf Ö3, einer Frequenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Österreich, überregional ausgestrahlt und in der Regel von Claudia Stöckl moderiert (vgl. http://oe3.orf. at/sendungen/). 13 Genauere Informationen zu Sendung und Sendungskonzept sowie zu Textsorte und Kommunikationssituation befinden sich in Winkler (2011: 41 ff. u. 13 f.), wo dieses Interviewgespräch neben weiteren Ausgaben der Sendung Teil einer umfangreicheren korpusbasierten Untersuchung kommunikativer Strategien zur Erzeugung von Intimität in Radiointerviews ist. 14 Das Medium Radio ist dafür besonders gut geeignet, da es durch seine beiläufige Präsenz als Begleiter von alltäglichen, routinemäßigen, persönlichen Tätigkeiten des Hörers wie morgens

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märes Ziel der Moderatorin ist demzufolge im Sinne einer authentischen Sendungsgestaltung laut Konzept die Führung eines möglichst persönlichen Interviewgesprächs mit einer intimen Gesprächsatmosphäre, die eine ausführliche Thematisierung von privaten Inhalten trotz der medial öffentlichen Kommunikationssituation erlaubt. Der Grenzbereich zwischen Intimität und Öffentlichkeit ist in »Frühstück bei mir« also ein konstitutives Gestaltungsmerkmal, was den Begriff Intimität als entscheidendes inhaltliches Kriterium für die Analyse des Gesprächs ins Zentrum des Interesses rückt. Aufgrund der bereits erwähnten tendenziell domänenspezifischen Verwendung von Dialekt und Standardsprache steht das untersuchte Gespräch aber nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich in einem Spannungsverhältnis zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Gemäß Sendungskonzept soll für das Interviewgespräch zwar eine intime Gesprächsatmosphäre etabliert werden, wofür die Verwendung von dialektalen oder umgangssprachlich artikulierten Varianten sprechen würde, im Hinblick auf die medial öffentliche Kommunikationssituation und die Gewährleistung überregionaler Verständlichkeit für das potentielle Publikum würde hingegen die Verwendung standardsprachlicher Varianten angemessener sein. Davon ausgehend, dass durch die Verwendung von dialektalen und umgangssprachlichen Varianten auch Intimität und Vertrautheit kontextualisiert wird und dialektale und umgangssprachliche Sprechweisen wesentlich dazu beitragen können, eine intime Gesprächsatmosphäre in der medial öffentlichen Kommunikationssituation zu erzeugen, stellt sich die zentrale Frage, inwiefern die Moderatorin sprachliche Variation zwischen Dialekt und Standardsprache zur Herstellung einer intimen und persönlichen Gesprächsatmosphäre einsetzt und inwiefern sprachliche Variation demnach als kommunikative Strategie zur Erzeugung von Intimität in der konkreten Kommunikationssituation vorkommt.

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Methode

Der Fragestellung wird anhand einer empirisch-deskriptiven Analyse dreier vollständig transkribierter Gesprächsabschnitte mit interpretativer Deutung sprachlichen Handelns bei bewusst deduktiver Vorgehensweise auf den Grund gegangen. Auf Basis intimer bzw. persönlicher Gesprächspassagen wird untersucht, welche kommunikativen Strategien der Herstellung einer entsprechenden Gesprächsatmosphäre dienen und inwiefern sprachliche Variation zwischen Dialekt und Standardsprache dabei eine Rolle spielt. Intimität im Gespräch wird aufstehen, Zähne putzen, frühstücken oder Ähnliches eine Art parasoziale Beziehung auf privater Ebene zwischen Hörer und Medium herstellen kann (vgl. Burger 2005: 312).

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immer dann als vorhanden angenommen, wenn ›private‹ Inhalte oder Themen besprochen werden, die im entsprechenden soziokulturellen Kontext als ›persönlich‹ oder ›vertraulich‹ o. ä. charakterisiert werden können, wobei diese Begriffe im Rahmen der Analyse synonym und zutreffend auf das, was man als das Privatleben oder die Intimsphäre einer Person bezeichnet, verwendet werden. Aufgrund der pragmatischen Fragestellung bleibt bei der Analyse stets im Blick, ob und inwiefern auch andere sprachliche Mittel, die in diskursstrategischer Hinsicht der Erzeugung von Intimität dienen können, in Kombination mit sprachlicher Variation auftreten.

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Analyse

Die Gesprächsausschnitte, die im Rahmen dieses Beitrags zur Darstellung strategisch relevanter Funktionen von Phänomenen sprachlicher Variation herangezogen werden, sind der Ausgabe von »Frühstück bei mir« entnommen, die am 6. Jänner 2008 auf Ö3 ausgestrahlt wurde. Sendungsgäste sind der ehemalige österreichische Skispringer Armin Kogler und seine Ehefrau Susanne Kogler. Das Gespräch findet, dem Konzept der Sendung entsprechend, in deren Haus in Tirol bei einem inszenierten gemeinsamen Sonntagsfrühstück statt und wird von Claudia Stöckl geführt. Armin Kogler wurde 1959 in Innsbruck geboren und ist seit 1989, im Anschluss an seine Skisprungkarriere, als Verkehrspilot bei Tyrolean Airways und als Co-Kommentator und Analytiker bei Skisprungübertragungen im Dienst des ORF tätig. Mit Susanne Kogler hat er zwei erwachsene Töchter und ist seit vielen Jahren mit ihr verheiratet. Im Jahr 2007 erkrankte er an Hodenkrebs und konnte geheilt werden. Die Geschichte seiner Krankheit und der Weg zur Genesung stellen im Laufe des Interviewgesprächs einen zentralen Themenkomplex dar und werden mehrmals thematisiert (vgl. Winkler 2011: 75) – so auch in den im Folgenden dargestellten Gesprächsausschnitten. Der erste Gesprächsausschnitt a) ist in der Dramaturgie der Sendung direkt nach einer musikalischen Sequenz positioniert, was in den ersten Sekunden an der Überlappung von Musik und Gesprächssequenz (cross fade) noch zu erkennen ist: Gesprächsausschnitt a)15 01 02

AK: CS:

(-) bitte an kafä(.) jo, .hh ein frühstück heute aus tiROL(--) susanne

15 Die Transkription folgt den Richtlinien des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems nach Selting [u. a.] (1998) in einer leicht adaptierten Version; für genauere Informationen zu den Transkriptionskonventionen s. Winkler (2011: 45 f.).

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03 kogler schenkt gerade einen kaffee nach(-) 04 dankeschön(--) schön aufgedeckt hier(-) ARmin. 05 (-) kommen wir jetz zurück zu JENem:(-) 06 NEUNzehnten februar zweitausendsieben als du nach 07 heathrow geFLOgen bist,= 08 AK: =[mhm] 09 CS: =[ebm] du bist seit dreiundzwanzig jahren 10 berufspilot .h und(.) gr↓oße schmerzen 11 hattest.(-) SCHMERZen im:(.) hodenbereich 12 und(.) nach dem rückflug bist du dann sofort 13 ins spiTAL gefahren. .h was DENKT ma sich da, was 15 kann das !SEIN!?(-) 16 AK: die gedonkhn woan:(-) jo(.) wo ho=wi mi 17 eignlich do vakialt. wie wie KHONN des SEIN 18 dass mir jetz do so da hodn weh duat oder dass 19 i(-) NIERENsteine hätte(.) es woan deamoßn(--) 20 starke schmerzen.(-) i hob eignlich schon: 21 etwas schlimmeres(--) vermutet.(.) (.) a’ do muas 23 iagendwos GRÖwas sein weil(-) die die die 24 schmerzen sin nämlich immer stärker und stärker 25 geworden. vgl. Winkler (2011: 76 f.)

Außer Diskussion steht hier der hohe Grad an Sensibilität und Intimität des gewählten Gesprächsthemas. Die Entwicklung des gesundheitlichen Zustands eines Interviewpartners ist, vor allem dann, wenn besonders intime Körperzonen betroffen sind, im medial öffentlichen Diskurs nicht unbedingt ein einfaches Gesprächsthema. Eine dementsprechend sensible Vorgehensweise der Moderatorin ist daher wichtig. Zwar ist davon auszugehen, dass die Thematisierung der Hodenkrebserkrankung im Rahmen eines Vorgesprächs für das Interview explizit vereinbart wurde16 – dafür spricht auch die rekurrierende Einführung des Themas in Zeile 05 – trotzdem handelt es sich dabei, selbst für vertraute Personen, um ein schwieriges Thema. Es ist davon auszugehen, dass die Thematisierung von Krankheit, Schmerz und der Angst um das eigene Leben in dieser Konstellation von Gesprächsteilnehmern eine Ausnahmesituation darstellt,17 was wohl außerhalb der Gesprächskonstellation dieses Interviews in dieser Intensität nicht stattfinden würde. Es ist anzunehmen, dass eine entsprechend vertraute interpersonelle Beziehung in dieser Runde normalerweise nicht vor16 In der Regel grenzen Interviewer und Sendungsgäste im Rahmen eines Vorgesprächs ein, welche Themenbereiche im Interview besprochen werden können und welche tabu sind (vgl. Troesser 1986: 157 ff.). 17 Darüber hinaus ist die Kommunikationssituation durch die Aufnahmesituation und die Inszeniertheit des Interviewgesprächs ohnehin unnatürlich (vgl. die näheren Erläuterungen dazu in Winkler (2011: 15).

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ausgesetzt werden kann. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich die Gesprächsteilnehmer, d. h. das Ehepaar und die Interviewerin, auf persönlicher Ebene gar nicht kennen. Zunächst fällt zwar auf, dass sich die Gesprächsteilnehmer duzen, was der Schaffung einer persönlicheren Gesprächsatmosphäre zuträglich ist, aber kein Hinweis auf eine persönliche Bekanntschaft oder gar Freundschaft sein muss. Aufgrund der langjährigen beruflichen Tätigkeit Claudia Stöckls und Armin Koglers für den ORF kann jedoch angenommen werden, dass sie sich hier nicht zum ersten Mal als völlig Fremde begegnen. Es ist also durchaus möglich, dass sie bereits öfter miteinander zu tun hatten und das Duzen auf ein rein kollegiales Verhältnis zurückzuführen ist. Zudem ist die informelle Anredeform in der österreichischen Medienlandschaft vor allem in der Sport- und Unterhaltungsbranche durchaus üblich. Auf Basis dieser maximal oberflächlichen Bekanntschaft in einer unnatürlichen inszenierten Gesprächssituation verlangt die Thematisierung dieser heiklen Geschichte, die entgegen allen Regeln für harmonisierende Gesprächsführung18 keine erfreulichen Erinnerungen bei ihrem Gesprächspartner wachruft, eine entsprechend sensible Herangehensweise der Moderatorin. Der Beginn des Gesprächsausschnitts lässt darauf schließen, dass an dieser Stelle auch in der Aufnahmesituation des Interviews eine Unterbrechung stattgefunden hat. Nicht nur deutlich hörbare Hintergrundgeräusche weisen darauf hin, dass für Kaffeenachschub gesorgt wird, auch die verbale Bitte Armin Koglers an seine Frau (s. Zeile 01) ist ein eindeutiger Hinweis. Hierbei fällt gleich auf, dass diese Bitte in einer dialektalen Variante realisiert ist: [iː mɔg* a nu bite4 an kχafɛː jɔ].19 Diese lässt durch die deutlich hörbare Tiroler Artikulation auf die regionale Herkunft Armin Koglers schließen, es ist auch ein Hinweis auf die offenbar normalerweise übliche Gesprächskultur des Ehepaars,20 die dialektal geprägt ist und durch das vertraute Verhältnis zueinander einen Code der Nähe (we code oder ingroup talk) repräsentiert. Dem steht in dieser Gesprächskonstellation nicht nur die Interviewerin im inneren Kommunikationskreis als Vertreterin einer outgroup und eines they code gegenüber, sondern im äußeren Kommu18 Nach den Regeln einer harmonischen Gesprächsführung in unterhaltenden Plaudergesprächen wäre dieses Thema problematisch, da eigentlich immer die Wahrung der Gesprächsharmonie und das Wohlfühlen des Gesprächspartners im Vordergrund stehen sollte (vgl. Troesser 1986: 296). 19 Die phonetische Transkription folgt den Regeln der IPA-Transkriptionskonventionen in einer leicht adaptierten Version, die die Besonderheiten der österreichischen Aussprache, wie zum Beispiel den weichen Vokaleinsatz im Anlaut, die Realisierung stimmloser Lenis-Plosive im An- und Auslaut oder das leicht offene auslautende [e4] berücksichtigt (vgl. Wiesinger 2009: 230). 20 Als Evidenz fehlt hier zwar eine entsprechende Antwort von Susanne Kogler, der Gesamteindruck des Interviewgesprächs macht diese pauschale Annahme aber durchaus plausibel, wie die weiteren transkribierten Gesprächsabschnitte in Winkler 2011 deutlich machen.

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nikationskreis befindet sich auch das disperse Radiopublikum als potentieller Adressat und stiller Gesprächsteilnehmer im Gegensatz zu den tatsächlich anwesenden Gesprächsteilnehmern.21 Genau an diese potentiellen Rezipienten wendet sich nun auch Claudia Stöckl zunächst, wenn sie das Wort ergreift und in Form einer kleinen Anmoderation zwischendurch nicht nur eventuell neu hinzu gekommenen Hörern die nötigsten Informationen zur Orientierung gibt, sondern auch die bisherigen Hörer von der musikalischen Sequenz wieder zurück ins Gespräch holt (»ein frühstück heute aus tirol…«, ab Zeile 02). Diese Situationsbeschreibung ist in Standardsprache artikuliert und dient vor allem dem Ausgleich von Informationsdefiziten des auf den auditiven Kanal beschränkten Publikums. Anschließend wechselt Stöckl vom äußeren zum inneren Kommunikationskreis, indem sie sich per direkter und namentlicher Anrede ihrem Gesprächspartner Armin Kogler zuwendet (s. Zeile 04). Bemerkenswert ist nun vor allem die darauf folgende Einführung des schwierigen Themas der Hodenkrebserkrankung. Die Moderatorin stellt dazu zunächst keine Frage, sondern kündigt den Themenwechsel explizit an und gibt das neue Gesprächsthema konkret vor: »kommen wir jetz zurück zu jenem neunzehnten februar zweitausendsieben als du nach heathrow geflogen bist« (s. Zeile 05 – 07). Auffällig ist dabei nicht nur, dass sie den Zeitpunkt, an dem sie in die Geschichte einsteigen will, exakt präzisiert, sondern auch formal die Pronominalisierung im Plural (wir). Dadurch bezieht die Sprecherin ihr Gegenüber direkt in den Prozess des Themenwechsels mit ein und setzt somit dessen Einverständnis implizit voraus oder suggeriert es zumindest. Zudem ist in dieser Sequenz nun im Gegensatz zur zuvor völlig dialektfrei und publikumsorientiert formulierten Passage durch die Apokope in [jɛʦ] in Zeile 05 eine dezente Wendung zur Umgangssprache erkennbar, die mit der Hinwendung zum Gesprächspartner einhergeht. Dessen dadurch ausgelöstes zustimmendes Hörersignal ist kaum hörbar, denn es erfolgt simultan zur Äußerung der Moderatorin, die bereits weiterspricht (s. Zeile 08 – 09). Seitens der Moderatorin folgt ein publikumsorientierter explikativer Einschub, der im Rahmen eines Zwiegesprächs redundant oder sogar unnötig wäre – Armin Kogler weiß ja, dass er Pilot ist – und demzufolge wiederum nur an das 21 Der innere Kommunikationskreis bezeichnet den direkt stattfindenden Dialog, während der äußere Kommunikationskreis den Pseudodialog mit dem dispersen Publikum darstellt (vgl. Burger 2005: 19 f.). Im inneren Kommunikationskreis nimmt die Interviewerin den Stellenwert der Außenstehenden (outgroup) ein, im äußeren Kommunikationskreis stellen die Gesprächsteilnehmer die ingroup dar und das disperse Radiopublikum die outgroup. Diesen Gruppen entsprechen wiederum die Bezeichnungen we code als Sprache/Varietät der Minderheit und they code als Sprache/Varietät der Mehrheit (vgl. Unterholzner 2009: 28 f. in Bezug auf Gumperz 1982). Das disperse Publikum bestehend aus potenziellen, passiven Gesprächsteilnehmern, d. h. stillen Rezipienten, ist eine schwer definierbare, räumlich und zeitlich zerstreute Vielzahl von Personen, die nichts miteinander verbindet, außer dass sie alleine oder in der Gruppe dasselbe Medium konsumieren (vgl. Burger 2005: 5 f.).

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potentielle Publikum gerichtet sein kann; der Beginn dieses Einschubs ist durch die umgangssprachlich artikulierte Partikel [eːbm] markiert. Anschließend setzt Claudia Stöckl den zuvor begonnenen Satz fort. Sie hat offenbar vor dem Interviewgespräch ausgiebig recherchiert oder schon im Rahmen eines Vorgesprächs detaillierte Informationen eingeholt, denn die Hodenkrebsgeschichte scheint ihr schon gut bekannt zu sein. Sie setzt ihre Einleitung fort und präzisiert den Zeitpunkt zum Einstieg in die Geschichte immer genauer. Direkt nach dieser ausführlichen Einleitung formuliert sie dann gleich drei Fragen hintereinander. Die einleitende Sequenz erfüllt an dieser Stelle also gleich mehrere Funktionen: zum einen eine informative, denn die Geschichte wird für das potentielle Publikum nacherzählt bzw. inhaltlich aufbereitet, zum anderen für die drei darauf folgenden Fragen eine vorbereitend legitimierende. Darüber hinaus erfüllt sie für den Interviewten auch eine aktualisierende Funktion, denn in Armin Kogler wird dadurch die Erinnerung an das schreckliche Erlebnis relativ lebendig und detailreich wachgerufen und somit möglicherweise auch die Emotionen, die mit der damaligen Situation verbunden waren. Zugleich wird er dabei von der Moderatorin aber entlastet, da er nicht alles selbst erzählen muss. Ein Blick auf die sprachliche Realisierung dieser Äußerung zeigt, dass die gesamte einleitende Passage dialektfrei formuliert ist, was mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den publikumsorientierten und beschreibenden Charakter der Äußerung zurückzuführen ist. Umso mehr fällt dann eine leichte Modulation des gewählten Codes in den drei darauf folgenden Fragen auf: [vas vaːn daene4 ge4daŋkn dɑːmaːls vas dɛŋkt ma siç da vas kan das saen], s. Zeile 13 f. Erwähnenswert ist zunächst, dass diese Fragen lauter artikuliert sind als der vorangegangene Rest der Äußerung.22 Was die Wahl des Codes betrifft, so ist die erste Frage »was warn deine gedanken damals« (s. Zeile 13) standardsprachlich orientiert formuliert, wobei eine dezente Synkope des Schwa in [vaːn] zu vernehmen ist. Die zweite Frage »was denkt ma sich da« paraphrasiert die erste in einer umgangssprachlicheren Variante, wobei Possessivpronomen und Substantiv (»deine Gedanken«) durch Verb und unpersönliches Pronomen (»denkt ma«) ersetzt werden. Diese Substitution gestaltet die Frage persönlicher und empathischer und unterstützt die Etablierung einer intimeren Gesprächsebene, wodurch eine intimere und persönlichere Antwort des Interviewten angeregt werden kann. Die dritte Frage »was kann das sein?« (s. Zeile 14 f.) stellt inhaltlich wiederum eine weitere Paraphrasierung der beiden ersten Fragen dar und ist aber schließlich aus der Perspektive des Interviewten in der fraglichen Situation formuliert. Die drei Fragen bewirken also 22 Völlig auszuschließen ist natürlich nicht, dass sich die Moderatorin genau zu diesem Zeitpunkt etwa weiter vorgebeugt hat, deshalb näher am Mikrofon war und die drei Fragen deshalb lauter hörbar sind. Nachdem das Gespräch aber nur in Form akustischer Daten vorliegt, ist dies nicht überprüfbar.

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keine inhaltliche Präzisierung und damit eine Einschränkung des Entgegnungsspielraums des Gesprächspartners,23 sondern stehen in einem paraphrastischen Verhältnis zueinander. Jede einzelne der drei Fragen zielt auf die Gedanken, die Armin Kogler wohl in dieser unglücklichen Situation durch den Kopf gegangen sind. Da jede einzelne der drei Fragen gut hörbar ist, kann hier ausgeschlossen werden, dass die Reformulierung ausschließlich der Verständnissicherung dient, und daher muss von einer tiefer greifenden diskursstrategischen Zweckmäßigkeit ausgegangen werden.24 Mit dem Perspektivenwechsel im Zuge der dritten Frage ist die Moderatorin in ihrem Vorgehen nicht nur sehr empathisch, da sie sich damit in die Gefühls- und Gedankenwelt ihres Gesprächspartners hineinversetzt, sie liefert zudem zugleich schon einen Antwortvorschlag und verstärkt damit ihre Fragestrategie. Es ist hier also in der Vorgehensweise der Moderatorin ganz klar eine Steigerung zu erkennen, wenn sie Stück für Stück immer weiter auf die persönliche Gesprächsebene vordringt und dabei syntaktische Strukturen und sprachliche Variation in Kombination mit weiteren kommunikativen Strategien harmonisch zusammenwirken. Zu nennen sind hier vor allem die persönliche Anrede des Gesprächspartners, die explizite Themenankündigung, der Einsatz des unpersönlichen Pronomens man, die lange vorbereitende Einleitung sowie die einfühlsame empathische Vorgehensweise. Den Erfolg dieser wirkungsvollen Kombination zeigt Armin Koglers Reaktion: [diː ge4dɔŋkʰn`vɔɐn jɔ vo hɔːvi miː aeŋliç dɔ fakχɪɐlt viː kχɔn des saen das mɪɐ jɛʦ dɔ soː da hoːdn̩ vɛː dʊɐd8 ɔdɐ das iː niːɐnʃtaene4 hɛte4] , s. Zeile 17 – 19. Formal zitiert er nun tatsächlich die Gedanken, die ihm in der fraglichen Situation wohl durch den Kopf gegangen sind. Auffällig ist dabei, dass Armin Kogler zum Ausdruck seiner persönlichen Gedanken dialektal orientierte Varianten verwendet und nur den Begriff Nierensteine und das darauf folgende flektierte Verb hätte standardsprachlich artikuliert. Ein Erklärungsansatz dafür ist, dass der Begriff Nierensteine hier den objektiven Stellenwert eines medizinischen Fachterminus hat und deshalb in Abgrenzung zu den persönlichen Gefühlen standardsprachlich realisiert und nicht etwa als [*niːɐnʃtɔɐnɐ] realisiert wird und zugleich einen triggerEffekt auf das darauf folgende Verb hätte ausübt. Nach dem Zitieren seiner eigenen Gedanken geht Armin Kogler zu einer beschreibenden Sequenz seiner 23 Die steuernde Funktion von Paraphrasefragen mit inhaltlicher Präzisierung würde darin liegen, dass der Interviewer ausweichenden Antworten vorbeugen kann und den Interviewten zu Konkretion und Bestimmtheit zwingt, indem dieser durch das Vorschlagen von Antwortalternativen vor die Wahl gestellt wird, zu entscheiden, welche Alternative zutrifft (vgl. Schwitalla 1979: 264). 24 Derartige Fälle funktionaler Wiederholung bzw. Reformulierung von initiierenden Sprechakten werden von Auer auch non-first-firsts genannt, der basierend auf einer Untersuchung in einer bilingualen Kommunikationssituation festgestellt hat, dass die Wiederholung von zuvor nicht erfolgreichen initiierenden Sprechakten mit einem Wechsel der Interaktionsmodalität (Sprache, Tonfall, Lautstärke) einhergeht (vgl. Auer 1984: 95 – 104).

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Schmerzen in der fraglichen Situation über: [ɛs vɔɐn dɛɐmɔsn` ʃtaʁkχe4 ʃmɛʁʦn` iː hɔb8 aeŋliç ʃɔn ɛtvas ʃlimɐʀe4s4 fɐmuːtət soː diː inɐʀe4 ʃtime4 hɔd8 ʃɔ˜ gsɔg*h ˌˀaˈ dɔ mʊɐs ɪɐgənvɔs gʀøːvas saen vael diː diː diː ʃmɛʁʦn` sin nɛmliç ima ʃtɛʁkχɐ un ʃtɛʁkχɐ ge4vɔɐdn], s. Zeile 19 – 25. Erwähnenswert ist in dieser Sequenz, dass der Sprecher mehrmals zwischen standardorientiertem und dialektal orientiertem Sprechen hin und her wechselt. Ein detailgenauer Blick zeigt, dass sich der oben erwähnte thematisch motivierte Codewechsel hier offenbar fortsetzt. So werden Wörter und Syntagmen, die den objektiven Themenbereich Krankheit oder Medizin betreffen, standardsprachlich realisiert (»starke schmerzen« (s. Zeile 20), »etwas schlimmeres« (s. Zeile 21), »die schmerzen sin nämlich immer stärker und stärker geworden« (s. Zeile 23 – 25)), während der Rest der Äußerung dialektal orientiert artikuliert wird. Eine mögliche Interpretationsweise dieses Abgrenzungsphänomens ist die inhaltliche und formale Distanzierung des Sprechers von dem schrecklichen Erlebnis durch die Wahl eines Codes der Distanz, was unter Umständen auch die medial öffentliche Thematisierung der intimen Inhalte erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht. Der zweite Gesprächsausschnitt b) stammt aus demselben Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt und ist in der Sendungsdramaturgie ebenfalls direkt nach einer musikalischen Sequenz positioniert, was wiederum an dem leise ausklingenden Jingle der Sendung zu erkennen ist. Zentrales Gesprächsthema ist auch hier die Hodenkrebserkrankung von Armin Kogler: Gesprächsausschnitt b) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

CS: SK: CS:

AK:

(-) koPIERT(.) aus dem buch krankheit als sprache der seele [mhm] [von] rüdiger (dahlke) (--) .hh da STEHT dass man zum beispiel auf der symptomebene gräps beKO:MMT(.) UNeingestandenes: LEBensproblem bereitet die BAsis heRUMkrebsn(.) im sinn von der EIGenen entwicklungslinie SO weit abkommen(.) dass der KÖRper dem: verGESSenen oder verdrängten THEMA zum !AUS!druck verhelfen muss. .hh .h man: dem nicht ausdruck verleiht. .hh etzan mit DIEser ausoge konn i jetz ned OLLzuviel (--) anfangen.(-) i hob den den oatzt SCHON amoi gefrogt(-) wieso: hods jetzt eignlich mi:(-) erWISCHT, .h und da professor hat geMEINT(.) da’ se hom bei mir(-) gesehen dass ich zweimol:(.) eine bruchoperation gchob

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23 hob .h und sie vermuten dass: bei’ irgendeiner 24 bruchoperation(--) vor langer langer zeit.(.) 25 do woa i zwei JAHRE alt.(--) irgendein HODEN 26 (-) beschädig wordn is. 27 CS: oiso LEIStenbruch(.) damals 28 AK: ja,(.) LEIStenbruch- do IS: der hoden 29 woascheinlich iagendwie valetzt woan(.) u:nd is 30 schlecht durchblutet(--) geWORden und donn is 31 anfoch dieser hoden HEISS gelaufen hod=a 32 gmeint.(-) und des konn mitunter(-) die URsoche 33 gewesen sein.= 34 CS: =mhm; oiso du siehst ebm ich will jetz(.) auch 35 nichts FINden 36 AK: [mhm] 37 CS: [weil] weil DA auch bei hodenkrebs noch mal 38 steht des is FRUCHtbarkeit und greatividät oiso 39 als würd ma zum beispü irgndwas an greativiDÄT 40 nicht ausleben(-) kannst du NICHTS damit 41 anfangen,= 42 AK: =ja i woa kreati/ ma muas ma=jetz amal(.) die 43 suSANne frogn [(i hob gsogt)] vgl. Winkler (2011: 82 f.)

Im Vergleich zum ersten Gesprächsausschnitt dringt die Moderatorin in dieser zweiten Passage des gleichen Interviewgesprächs noch weiter in die Privatsphäre ihres Gegenübers ein. Bereits die medial öffentliche Thematisierung der Hodenkrebserkrankung und der Weg zur Genesung stellt in der Ausführlichkeit, Intensität und Detailgenauigkeit, wie sie in diesem Interviewgespräch stattfindet, eine sehr intime Angelegenheit dar. Noch intimer und persönlicher wird es allerdings, wenn über die medizinischen Fakten und situationsbezogenen Gefühle hinausgegangen wird und sich die Moderatorin an einer laienhaften psychosomatischen Deutung des Krankheitsbildes ihres Gesprächspartners versucht. Auf der Suche nach den tiefenpsychologischen Ursachen der Krebserkrankung ihres Gesprächspartners bewegt sich die Moderatorin zweifellos in einem sehr privaten Bereich ihres Gegenübers, umso interessanter ist es daher aus linguistischer Sicht, wie sie Schritt für Schritt dabei vorgeht. Zunächst fällt auf, dass sie nicht mit der Formulierung einer Frage beginnt, sondern das neue Thema zunächst sachlich und objektiv einführt (s. Zeile 01 – 15). Ganz allgemein erläutert die Moderatorin die Ergebnisse ihrer Recherchearbeit zu den Lehren des Arztes und Autors Rüdiger Dahlke zur psychosomatischen Deutung von Krankheitssymptomen.25 Sie bleibt dabei selbst neutral, indem sie gleich zu Beginn die Quelle nennt, auf die sie sich bezieht, und den gesamten Äußerungs25 Rüdiger Dahlke ist Mediziner und Psychotherapeut und hat sich auf ganzheitliche Psychosomatik unter Einbezug spiritueller Themen spezialisiert und zu diesem Thema schon mehrere Bücher publiziert.

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inhalt somit explizit als Fremdzitat deklariert. Formal verwendet sie dafür eine standardorientierte Variante, streut aber auch umgangssprachliche Elemente ein: das auslautende [e4] von [hab8] in Zeile 01 ist apokopiert und das Lexem Krebs in Zeile 05 ist nicht in der Standard-Lautung [kʀeːps] realisiert, sondern auf ungewöhnliche Weise dialektal lenisiert als [gʀɛb8s] realisiert. Eine mögliche Interpretationsweise dieser auffällig ungewöhnlich dialektisierten Lautung ist die offenbar stark abschwächende Wirkung der Dialektisierung auf das im Kontext dieses Gesprächs bedeutungsschwere und negativ konnotierte Lexem. Zudem wird durch die Wahl des Codes der Nähe eine persönlichere Atmosphäre und eine Art Nähe zwischen den Gesprächsteilnehmern hergestellt. Bemerkenswert ist auch die plötzliche Modulation des Sprechtempos der Moderatorin, die zunächst ohne besondere Auffälligkeiten in ihrem üblichen normalen Sprechtempo spricht, dann aber ganz schnell ausspricht, worauf sie eigentlich hinaus will: »das kapitel gräps« (s. Zeile 04 f.). Daraufhin folgt eine etwas längere Pause, nach hörbar tiefem Einatmen spricht Claudia Stöckl weiter und beginnt schließlich den Inhalt ihrer Lektüre wiederzugeben: [da ʃteːt das man ʦum baeʃpiːl aof dɐ symptoːmeːbe4ne4 gʀɛb8s be4kɔmt] (s. Zeile 05 f.). Auffällig ist hier zunächst die abgeschwächte Darstellung des Inhalts als bloßes Exempel mittels des beigefügten zum Beispiel in Kombination mit dem unpersönlich pronominalisierten Subjekt man. Ob sich diese Formulierung nun aus dem indirekt zitierten Text von Rüdiger Dahlke ergibt oder ausschließlich auf die Moderatorin zurückzuführen ist, ist aus der bloßen Analyse des hier vorliegenden Gesprächs leider nicht zu rekonstruieren – der Originaltext aus dem Buch sowie eventuell vorhandene Recherchenotizen von Claudia Stöckl liegen an dieser Stelle nicht vor. Offensichtlich ist aber die Wirkung dieser Formulierung, denn durch die neutrale Darstellung verschwimmt der persönliche Bezug der Thematik zum Interviewten völlig und die Rede ist plötzlich nur von irgendjemandem, der »zum beispiel auf der symptomebene« (s. Zeile 05 f.) Krebs bekommt – oder eben auch nicht. Auf diese Weise bleibt der Interviewte außen vor, muss sich nicht betroffen fühlen und die Moderatorin kann in aller Ruhe, ausführlich und ganz allgemein auf die näheren Details eingehen (s. Zeile 07 – 11). Dafür wählt sie eine standardsprachlich orientierte Variante, wobei der aus der Umgangssprache entlehnte Begriff [hɛɐʀumgʀɛpsn] in Zeile 08 auffällig heraussticht, aber aufgrund der lexikalischen Nähe zu Krebs sehr passend scheint. Auch an dieser Stelle ist wiederum schwer nachvollziehbar, ob der Begriff nun von Claudia Stöckl oder aus dem Buch stammt, eine Einstufung als Fremdzitat wäre aber naheliegend, da Rüdiger Dahlke in seinen Publikationen zur Psychosomatik generell häufig mit anatomischen Idiomen arbeitet.26 Nachdem die 26 Spiele mit verwandten Wortgruppen kommen in Dahlkes Ansätzen zur psychosomatischen

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Moderatorin ihre Rechercheergebnisse vorgetragen hat, atmet sie nochmals hörbar tief ein und fasst zusammen: [ɛs kliŋt danɑːχ als vyɐd8 ma ɛtvas niçt leːbm` oːdɐ als vyɐdə ɛtvas in saenəm kœɐpɐ soːʦusaːŋ ʦɛɐʃtœɐn` vael man dem niçt aosdʀuk fɐlaet], s. Zeile 12 – 15. Auffällig ist hier zunächst die Veränderung des Sprechtempos. Die Moderatorin spricht in dieser Passage deutlich schneller als zuvor, ganz so als würde sie die Artikulation dieser Informationen möglichst schnell hinter sich bringen wollen, um schließlich auf den Punkt zu kommen. Außerdem streut sie, im Gegensatz zur vorangegangenen Passage, nun einige umgangssprachlich artikulierte Elemente in Form apokopierter Auslaute ein (s. [vyɐd8 ma] in Zeile 12 f.). Darüber hinaus ist hier zu beobachten, dass die Formulierung durch die Konjunktivkonstruktion in Kombination mit der Wendung »es klingt danach« relativ unscharf gehalten ist. In diskursstrategischer Hinsicht ergibt sich hier also ein wirkungsvolles Zusammenspiel von mehreren sprachlichen Mitteln, denn die Moderatorin kombiniert hier eine vage Formulierung, unpersönliche Pronominalisierung und eine leichte Tendenz zur Umgangssprache mit der Modulation ihres Sprechtempos. Gegen Ende der Zeile 14 verlangsamt sie nämlich ihr Sprechtempo wieder, dehnt die Auslaute der Wörter »weil« und »man« auf signifikante Weise in die Länge und atmet zwischendurch hörbar tief ein. Dies kann mit hoher Wahrscheinlichkeit als Strategie zur Zeitgewinnung gedeutet werden, um die ideale Formulierung für die darauffolgende Frage zu entwickeln, die sie nach langer vorbereitender Einleitung schließlich stellt: [aːmin kanst duː damit vas anfaŋe4n] (s. Zeile 15). Zunächst fällt auf, dass sie den Adressaten direkt namentlich anspricht und sich das Sprechtempo wieder normalisiert bzw. schneller wird. Ebenso ist eine Tendenz zur Umgangssprache erkennbar, denn das Lexem etwas wird im Gegensatz zur Verwendung kurz zuvor in Zeile 13 in der verkürzten umgangssprachlichen Variante [vas] realisiert. Dieser Codewechsel geht mit der Hinwendung zu ihrem Gesprächspartner einher und kann in Kombination mit der Formulierung der Frage durchaus als diskursstrategisches Mittel, mit dem Zweck, ihrem Gesprächspartner auf einer persönlicheren Ebene zu begegnen, interpretiert werden. Dadurch erwirkt sie nicht nur eine Legitimation der gewagten Frage, sondern versucht zudem, eine intimere Antwort anzuregen. Armin Koglers Reaktion verläuft jedoch anders, als es sich die Moderatorin vermutlich erwartet oder erhofft hat. Er verneint und lehnt den von der Moderatorin vorgeschlagenen psychosomatischen Erklärungsansatz seiner Krankheit ab, ohne näher darauf einzugehen (s. Zeile 17 f.). Stattdessen liefert er aber einen ausführlichen medizinischen Erklärungsansatz und gibt Einblick in seine Krankengeschichte aus frühester Jugend (s. Zeile Deutung von Krankheitsbildern durchaus des Öfteren vor. Eine typische Dahlke’sche Formulierung passend zu Magenschmerzen wäre bespielsweise etwas schlägt sich auf den Magen oder Ähnliches (vgl. Dahlke 2007: 463).

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17 – 26). Bemerkenswert ist also, dass Armin Kogler durchaus auf der von der Moderatorin anvisierten und etablierten persönlichen Gesprächsebene bleibt und eine absolut erwünschte Antwort mit intimen Details gibt. Diese Sequenz ist dialektal orientiert formuliert, wobei der Sprecher des Öfteren zwischen Dialekt und Standardsprache wechselt. So beispielsweise zunächst in Zeile 18 zu beobachten, wo der Sprecher eigentlich dialektal orientiert spricht, aber das Lexem anfangen plötzlich standardsprachlich realisiert und nicht etwa in einer zu erwartenden dialektalen Form wie beispielsweise [*ãfɔŋɐ] oder [*ɔnfɔŋən]. Naheliegend ist hier ein Rückkoppelungseffekt auf die Frage der Moderatorin, denn Kogler reproduziert schlichtweg die von der Moderatorin realisierte Variante. Alle weiteren Codewechsel innerhalb dieser Passage können weitestgehend als Abgrenzungsphänomene interpretiert werden, da die vorherrschenden dialektal artikulierten Teile der Äußerung durch die persönliche Involviertheit des Sprechers geprägt sind, während standardsprachlich orientierte Elemente stellenweise auftauchen und jeweils objektive Informationen enthalten. Meist handelt es sich dabei um medizinische Details bzw. die Rekapitulation von Gesprächen in der damaligen Situation im Krankenhaus: »da professor hat gemeint« (Zeile 20 f.), »bei mir gesehen dass ich zweimol eine bruchoperation.« (Zeile 21 f.), »sie vermuten dass bei irgendeiner bruchoperation vor langer langer zeit« (Zeile 22 f.). Dieses Abgrenzungsphänomen ist nun aber nicht nur aus inhaltlicher Perspektive interessant. Über die Markierung von persönlichen und objektiven Inhalten hinausgehend, kann sich auch der Sprecher durch die Wahl eines Codes der Distanz vom Inhalt seiner Äußerung bzw. von den schwerwiegenden medizinischen Fakten distanzieren und erleichtert sich auf diese Weise womöglich selbst das Erzählen dieser unangenehmen Erinnerung. Daraufhin meldet sich die Moderatorin mit einem polyfunktionalen Turn zu Wort (s. Zeile 27). Polyfunktional deshalb, weil sie dadurch nicht nur im Interesse des potentiellen Publikums den Begriff Bruchoperation nochmals aufklärt, sondern auch das Gespräch aufrechterhält, indem sie mit ihrer Nachfrage ihren Gesprächspartner zur Präzision anregt und zudem ihr eigenes Interesse an ihrem Gegenüber bekundet, indem sie zeigt, dass sie aufmerksam zugehört hat. Die einleitende Diskurspartikel [ɔʏso] ist in Konvergenz zum Gesprächspartner dialektal realisiert und begünstigt, dass die bestätigungsinitiierende Äußerung den Adressaten auf einer persönlichen Ebene erreicht und die bereits etablierte intime Gesprächsatmosphäre aufrecht erhalten bleibt. Dieser reagiert entsprechend mit der ausweichenden Fortsetzung seiner medizinischen Erläuterungen und lässt die ursprüngliche Frage der Moderatorin schließlich unbeantwortet (s. Zeile 28 – 33). Diese gibt sich damit aber nicht zufrieden und hakt weiter nach: [ˀmhm ɔʏso duː siːst eːbm` iç vil jɛʦ aoχ niçts findn` vael vael da aoχ bae hoːdn`gʀɛb8s nɔχmal ʃteːt des is fʀuχtbaːkaet und8 gʀe.a.d8ivid8eːt ɔʏso als vyɐd ma ʦum baeʃpy ɪɐŋdvɔs an gʀe.a.d8ivid8eːt niçd8 aosleːbm` kanst du niçts damit anfaŋe4n] (s. Zeile 37 – 41).

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Bemerkenswert und strategisch wirkungsvoll ist hier der paraliptische Charakter der Äußerung, denn zunächst stimmt sie ihrem Gesprächspartner zu und gibt vor, dass sie seine Antwort akzeptiert und nicht weiter nachbohren wird, tut aber anschließend aber genau das Gegenteil. Sie insistiert auf ihrem Thema und nimmt dabei eine gewisse Verteidigungshaltung ein (s. Zeile 24 f.). Sie zitiert erneut aus dem erwähnten Buch und stellt schließlich – in leicht veränderter Form – nochmals dieselbe Frage wie zu Beginn: [kanst du niçts damit anfaŋe4n] (s. Zeile 40 f.). Im Vergleich zur vorangegangenen Variante der Frage (s. Zeile 15 f.) liegt hier nun eine negierte Version vor, die außerdem noch verstärkt wird, indem das Lexem was durch nichts ersetzt wird, wobei die Betonung auf nichts liegt. Durch diese verstärkende Negation schwingt nun bei der Reformulierung der Frage zusätzlich auch die Bedeutung von Wendungen wie etwa Tatsächlich? oder Ehrlich nicht? mit. Zugleich fällt in dieser Passage eine plötzliche Häufung von umgangssprachlichen und dialektalen Elementen auf. Neben der zweimaligen Verwendung der dialektalen Partikel [ɔʏso] (s. Zeile 34 u. 38) sind diverse Apokopen – wie [jɛʦ] in Zeile 34, [is] in Zeile 38, [vyɐd] in Zeile 39, [ma] in Zeile 39 – und dialektale Varianten von einzelnen Lexemen – wie [hoːdn`gʀɛb8s] in Zeile 37 und [gʀe.a.d8ivid8eːt] in den Zeilen 38 und 39 sowie [des] in Zeile 38 – zu beobachten. Auch die durch Verkürzung und Assimilation dialektal realisierte Variante [ʦum baeʃpy ɪɐŋdvɔs] in Zeile 39 ist auffällig. Darüber hinaus relativiert die Moderatorin ihre Äußerung durch die abschwächende Formulierung im Konjunktiv und die unpersönliche Pronominalisierung. Wie im ersten Gesprächsausschnitt ist auch hier eine ganze Reihe verschiedener kommunikativer Strategien der Moderatorin zu beobachten, um möglichst weit in die Privatsphäre ihres Gesprächspartners vorzudringen. So kombiniert sie sprachliche Variation zwischen Dialekt, Umgangssprache und Standardsprache mit diversen Abschwächungsmechanismen und Verzögerungsphänomenen sowie verschiedenen Formulierungsverfahren wie der Wahrung ihrer eigenen Neutralität bei der Einführung des Themas und unpersönlicher Pronominalisierung und Konjunktivkonstruktion beim Vorbereiten und Stellen der Frage. Wirft man nun einen Blick auf die Wirkung dieser scheinbar durchkomponierten Fragestrategie, so ist sie zumindest teilweise erfolgreich. Die Moderatorin erreicht damit zwar keine ausführliche Antwort von Armin Kogler, aber er scheint dadurch zunächst wenigstens doch leicht verunsichert zu sein: [ja iː vɔɐ kχʀe.a.ti ma mʊas ɛʦ amaːl diː susane4 fʀɔːŋ iː hɔb8 gsɔkχ] (s. Zeile 42 f.). Die Ablehnung, die beim ersten Anlauf der Moderatorin zu beobachten war, ist offenbar verflogen, denn seine Antwort beginnt zwar mit einem ja, allerdings bricht er, was auch immer er fast gesagt hätte, ab, blockt die Beharrlichkeit der Moderatorin erneut ab und schiebt die unangenehme Frage seiner Frau zu, lenkt damit die Aufmerksamkeit der Moderatorin auf sie und entzieht sich selbst dem Gesprächsthema.

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Die Moderatorin reagiert entsprechend: 01 CS: [susanne soll ich di=jetz auch 02 fragn]= 03 SK: [((lacht ca. 2 sek. lang))] 04 AK: [((lacht kurz))] 05 CS: =[wie siehst du das] nachdem du ja EHER die äh 06 spirituelle= 07 SK: =ja:: [((lacht))] 08 CS: [BIST hier] in diesem haushalt 09 SK: ((räuspert sich)) oiso do sieht ma die 10 gegenpole zwischen armin und MIR aber wie 11 geS↑AGT es: befruchtet unsere(-) beziehung 12 sogar und ich unterSCHREIBE das. (--) 13 CS: [was (rüdiger DAHLke sa/)] 14 SK: [(was rüdiger DAHLke) sagt] .hh ich bin:(.) 15 überZEUGT davon(.) dass krankheit ausdruck 16 etwas UNaufgearbeiteten in unserer seele 17 i:st(.) dass es ausdruck ist(.) von etwas 18 FEHLendem od/ 19 > (-) ((schmatzt)) ein psychisches(.) und ein 20 physisches immunsystem(-) .h und wenn das SEHR 21 gut ist(-) (-)] 24 K: [((lautes Ein- und Ausatmen im Hintergrund, 25 vermutlich von AK))] 26 SK: die wir aber abtöten,(.) !WENN! diese 27 immunsysteme funktionieren das psychische UND 28 das physische. und ich GLAUB die 29 funktionieren(.) .h !WENN! man(-) wie i heut 30 schon a paar moi gsagt hab(-) mit sich im 31 REInen ist(.) wenn man nicht so innerlich äh 32 KÄMpfen muss wenn ma positive gedanken hat .h 33 [(…)] 34 CS: [aber] wie(.) legst du das jetz auf deinen 35 !MANN!(--) um 36 SK: .hh na siehst du des hab i jetz NICHT gewusst 37 hoden f/ ah kreativiTÄ:T jo:, h mhm: .hh WOHL 38 da fällt mir SIEhst du(---) deine fragen sind 39 sehr g↑ut das is ja fast eine therap↑iesitzung 40 CS: ((lacht))[] 41 ((lacht)) 42 SK: [((räuspert sich))] (-) 43 WIRKlich. .h owa weil du des S↑OGST foit ma 44 jetz ein: dass der armin zu mir amoi gsogt hod 45 (-) .h und i 46 hob SO oiso daheim wi/ nachdem i jo berufstätig 47 bin hat hat=da armin früher OFT geKOCHT und 48 ↑DA:: war etwas ((Klirren)) wo i mir DENK des: 49 is: kch’ kochen is etwas ↑IRRsinning 50 kreatives.(.) .h i glaub DA: liegt etwas im

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51 bereich der kreativität das er dann 52 außer acht gelassen hat(-) .h ALLE 53 diese dinge hat er NICHT ausgelebt und des wird 54 mir jetz zum ersten mal richtig bewusst.(.) und 55 SPÄter dann fokussiert auf den beruf der nit’ 56 !KEINE! kreativität (-) ZUlässt. und DAS hat er gelebt. 60 perF↑EKT(-) im sport und im beruf(.) und du 61 !WÄRST! im grunde ein exTREM kreativer mensch,= 62 CS: [( )] 63 SK: =[zum !ERST!ten mal] fällt mir das jetz auf:: 64 = 65 CS: =mhm. = 68 AK: na:: ich glaube behaupten zu können dass bei 69 mir überHAUPT nix auf der streckhe geblieben is 70 sondern ich bin mit meinem leben (--) !SEHR! 71 zufrieden so wias glaufen is vgl. Winkler (2011: 85 ff.)

Susanne Kogler reagiert auf den Vorschlag ihres Mannes sichtlich amüsiert und übertönt mit ihrem Gelächter fast die Frage der Moderatorin: [susane4 sɔl iç diːjɛʦ aoχ fʀaːŋ] in Zeile 01 f. Direkte Anrede, leichte Tendenz zur Umgangssprache in Form einer Apokope und der dialektal orientierten Artikulation in [diːjɛʦ] dienen der Etablierung einer persönlichen Gesprächsebene und kündigen die darauf folgende Frage in Zeile 05 f. an. Die eigentliche Frage »wie siehst du das« ist nun völlig dialektfrei realisiert, aber ein explikativer Einschub legitimiert diese zusätzlich, indem die Moderatorin die jetzige Adressatin bezugnehmend auf einen anderen Teil des Gesprächs (vgl. Winkler 2011: 87) als die geeignetere Gesprächspartnerin für das Thema qualifiziert. Susanne Kogler bestätigt dies zunächst und führt, nachdem die Frage relativ viel Entgegnungsspielraum lässt, eher allgemein ihre eigene Interpretation der Dahlke-Lektüre aus. Sie spricht dabei standardorientiert, auch wenn sie stellenweise umgangssprachliche oder leicht dialektale Elemente einfügt ([ɔʏso dɔ siːt ma] in Zeile 09, [iː glaob8] in Zeile 18, [vae des iːs jɔ mitlɐvaelə] in Zeile 21). Daraufhin hakt die Moderatorin weiter nach: [aːʋɐ viː leːgst du das jɛʦ aof daene4n man um] (s. Zeile 34 f.). Hier fällt auf, dass die Moderatorin – im Gegensatz zu ihrer letzten Äußerung (s. Zeile 34 f.) – nun dezente umgangssprachliche Elemente einstreut: ([jɛʦ] und [aːʋɐ] statt [aːbɐ]). Außerdem häufen sich verzögernde Pausen, weil sie vermutlich noch nach der passenden Formulierung sucht, was der Frage aber auch einen gewissen Nachdruck verleiht und in Verbindung mit den umgangssprachlichen Elementen das Gespräch auf eine intimere Ebene lenken und eine persönlichere Antwort an-

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regen kann. Susanne Kogler reagiert entsprechend und überlegt laut in Konvergenz zu Claudia Stöckl zunächst in einer umgangssprachlichen Variante, dann wieder standardsprachlich orientiert, wie sie diese Information jetzt auf ihren Mann umlegen soll, wobei es sich wohl um einen thematisch motivierten Wechsel handelt. Überraschenderweise schiebt sie dann während des Überlegens einen metakommunikativen Kommentar zur Fragestrategie der Moderatorin ein: »deine fragen sind sehr gut das is ja fast eine therapiesitzung« (s. Zeile 38 f.). Dieser scherzhaft-ironische Kommentar, der die Moderatorin zur Therapeutin und das Interviewgespräch zur Therapiesitzung werden lässt, deutet auf ein erfolgreiches Eindringen der Moderatorin in die Privatsphäre ihrer Gesprächspartnerin hin, denn Vertraulichkeit und Intimität sind wesentliche Parameter einer Therapiesitzung. Die Moderatorin reagiert darauf sichtlich geschmeichelt und befindet sich durch die Annahme des wertenden Kommentars kurz auf derselben Ebene wie Susanne Kogler. Das Dominanzverhältnis verschiebt sich zugunsten eines symmetrischen Gesprächs unter Gleichberechtigten, was sich positiv auf den weiteren Verlauf des Gesprächs auswirkt. Susanne Kogler verleiht dem Vergleich nochmals Nachdruck, atmet anschließend hörbar ein und fährt fort, wo sie sich zuvor selbst unterbrochen hat. Dabei kommt es zu einer Wiederholung der zuvor standardsprachlich artikulierten einleitenden Sequenz »da fällt mir« (s. Zeile 38); allerdings in einer dialektal orientierten Variante: [ɔʋɐ vael duː des sɔg*st fɔʏd8 ma jɛʦ aen] (s. Zeile 43 f.). Das weist auf die Etablierung einer nun noch persönlicheren, intimeren Gesprächsatmosphäre hin und wird durch die direkte persönliche Anrede mit du noch verstärkt. Nun folgt schließlich die von der Moderatorin ursprünglich intendierte – Gesprächsausschnitt b) – ausführliche psychosomatische Auslegung von Armin Koglers Erkrankung in Form einer Beschreibung des Zusammenhangs von Hodenkrebs und Kreativität (s. Zeile 44 – 61), wobei in ein häufiger Wechsel zwischen Dialekt und Standardsprache zu erkennen ist,27 und Susanne Kogler resümiert schließlich: [iː untɐʃʀaeb8 des vɔm dɑːlkə ab8soluːt] (s. Zeile 64). Dies ermuntert die Moderatorin letztendlich, Armin Kogler ein drittes Mal zu diesem Thema zu befragen, obwohl er ihr bereits zweimal ausgewichen ist: [aːmin hast duːsːge4fyːl das ɪɐŋdvas eːbm` aof dɐ ʃtʀɛkə ge4bliːbm` is gʀe.a.tiːfmeːsig*] (s. Zeile 65 – 67). Bemerkenswert ist hier das schnellere Sprechtempo und die direkte Anrede mit dem Vornamen, was grundsätzlich dem gesprächsorganisatorischen Zweck des Adressatenwechsels zugrunde liegt, aber auch mit dem erneuten Aufbau einer persönlicheren Gesprächsebene mit Armin Kogler in Verbindung gebracht werden kann. Das schnellere Sprechtempo dient vermutlich der Vermeidung einer Unterbrechung, da sich die Moderatorin ihres penetranten Nachbohrens vermutlich bewusst ist. 27 Eine genaue Beschreibung und ausführliche Interpretation des Codewechselverhaltens in dieser Sequenz findet sich in Winkler (2011: 89 f.).

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Zudem verwendet sie dabei mehrere umgangssprachliche Elemente ([sːge4fyːl], [is], [ɪɐŋdvas], [gʀe.a.tiːfmeːsig]), um ihren Gesprächspartner eventuell doch noch dazu zu bewegen, auf dieses Thema einzugehen. Dieser blockt jedoch erneut ab, diesmal mit Vehemenz und Nachdruck in Abhebung zu seiner sonstigen Sprechweise in diesem Gespräch betont standardsprachlich. Die Moderatorin kann hier also trotz ihres breiten Repertoires an kommunikativen Strategien nicht zu ihrem Gesprächspartner vordringen, hatte aber zumindest bei seiner Frau Susanne Erfolg.

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Resümee

Alles in allem bestätigt ein zusammenfassender Blick auf die vorliegend fokussierten Ausschnitte des analysierten Interviewgesprächs, dass sprachliche Variation für alle Gesprächsteilnehmer ein wesentliches Mittel darstellt, um im Gespräch das Nähe-Distanz-Verhältnis zu definieren, den Formalitätsgrad zu variieren oder den Wechsel zwischen verschiedenen Gesprächsebenen zu markieren und somit Intimität und Vertrautheit zu kontextualisieren. Auch mit diversen Phänomenen der Abgrenzung, Hervorhebung oder Abschwächung besteht dabei ein enger Zusammenhang. Die Variation im Spektrum des DialektStandard-Kontinuums ist in diesem Interviewgespräch also ein wesentliches Mittel, um bei Bedarf eine möglichst intime Gesprächsatmosphäre herzustellen bzw. eine möglichst detaillierte Thematisierung privater Inhalte zu ermöglichen und dient demzufolge der Verfolgung konkreter kommunikativer Ziele. Zunächst bestätigen und stützen diese Beobachtungen die allgemein bekannten Erkenntnisse der Gesprächs- und Variationsforschung. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Phänomene im untersuchten Gespräch meist in Kombination mit weiteren kommunikativen Strategien auftreten. Die Moderatorin verfügt dabei über ein einschlägiges Repertoire, um eine möglichst intime und private Gesprächsatmosphäre herzustellen. Die Palette ist vielfältig, reicht von diversen Einbettungs- und Formulierungsverfahren über Fragestrategien bis hin zu verschiedenen Verzögerungsphänomenen und dem Partikelgebrauch und deckt sich mit den bisherigen Ergebnissen der Gesprächsforschung.28 Wesentlich ist nun die Erkenntnis, dass die beobachtenden kommunikativen Strategien in der konkreten Interaktion nicht isoliert auftreten, sondern jeweils in sehr »einfühlsam« und fein abgestimmten Kombinationen, die geschickt auf die Kommunikationssituation, den Gesprächspartner und den Äußerungsinhalt zugeschnitten sind. Durch das gezielte Aufeinanderabstimmen der einzelnen Komponenten 28 Ein umfassenderer Blick auf das strategische Repertoire der Moderatorin wird in Form weiterer Analysen und Ergebnisse in Winkler (2011) geboten.

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wird deren Wirkung verstärkt und die Steuerungsdominanz der Moderatorin vergrößert, wodurch die dem Konzept der Sendung entsprechende Zielgerichtetheit des Gesprächs optimiert wird. Ein Blick ins Detail zeigt zudem, dass bereits kleinste Elemente sprachlicher Variation für die Bedeutungskonstitution innerhalb einer Äußerung relevant sind und dazu beitragen können, den Grad der Formalität zu nuancieren. Bereits die geringste phonetische Abweichung kann einen gesamten Äußerungsteil in ein anderes Licht stellen, so wie beispielsweise das auf ungewöhnliche Weise lenisiert artikulierte Lexem Krebs in Gesprächsausschnitt b) die gesamte Äußerung durch die umgangssprachliche Artikulationsweise in einen intimeren und persönlicheren Kontext stellt. Bei raschen und häufigen Wechseln zwischen der persönlichen und der formalen Gesprächsebene geben oft schon geringfügige Schattierungen des Codes darüber Aufschluss, wie ein Äußerungsteil zu interpretieren ist. Schon eine leichte Tendenz zur Umgangssprache kann demzufolge gesprächssteuernde Funktion haben, denn auch kleinste Elemente sprachlicher Variation können für die Bedeutungskonstitution innerhalb einer Äußerung relevant sein und als Kontextualisierungshinweise hinsichtlich der Interpretation der Äußerungen gewertet werden. Durch die fließenden Grenzen in der vorliegenden Kontinuums-Situation ist es jedoch oft schwierig, präzise zu differenzieren, vor allem dann, wenn Varianten auf morphosyntaktischer Ebene sehr ähnlich sind. Es handelt sich dabei oft um geringfügige Schattierungen, die aber schon bedeutungskonstitutiv sein können. In der Systematik nach Auer (vgl. 1986: 119 f.), der aufgrund grammatischer Analyse zwischen bedeutungskonstitutivem Code-Shifting und bedeutungsleerer Code-Fluktuation unterscheidet, würden derartige Phänomene sprachlicher Variation als bedeutungsleere Code-Fluktuation zu interpretieren sein. In den untersuchten Gesprächen ereignen sich die Wechsel von der formalen zur intimen Gesprächsebene jedoch oft so schnell, dass bereits eine geringfügige Schattierung, ein einzelnes Element ausreichen muss, um den Interpretationsrahmen für eine Äußerung zu definieren. Unter Einbezug des sequentiellen Kontexts ist Auer (1986) zufolge dann aber feststellbar, ob eine scheinbar bedeutungsleere Code-Fluktuation nicht doch als sprachliche Variation mit (punktueller) Bedeutung zu interpretieren und demzufolge funktional ist; die Berücksichtigung der inhaltlichen Komponente ist daher wesentlich. Zusammenfassend lässt sich also zeigen, dass sprachliche Variation bereits in geringen Dosen gesprächssteuernde Funktionen hat und im untersuchten Interviewgespräch nicht nur ein interessantes Gestaltungsmittel, sondern auch ein wesentliches Steuerungsmittel darstellt, das in der konkreten Interaktion gezielt als diskursstrategisches Mittel eingesetzt werden kann, um das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken oder das Sendungskonzept bestmöglich umzusetzen. Darüber hinaus kann sprachliche Variation durch eine auf die Kom-

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munikationssituation, den Gesprächspartner und den Äußerungsinhalt abgestimmte Kombination mit weiteren kommunikativen Strategien in ihrem Effekt verstärkt und somit zu einer sehr wirkungsvollen kommunikativen Strategie werden, die nicht auf Interviewgespräche in Radiounterhaltungsformaten beschränkt werden muss, sondern auf jegliche Form des moderierten Gesprächs, Interviews oder von Plaudergesprächen im medialen Kontext – und somit im Rahmen einer grundlegend standardsprachlichen »Matrix« – anwendbar ist.

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Wiesinger, Peter (2009): Die Standardaussprache in Österreich. In: Krech, Eva-Maria / Stock, Eberhard / Hirschfeld, Ursula / Anders, Lutz Christian (Hg.): Deutsches Aussprachewörterbuch. Berlin/New York: de Gruyter, 229 – 258. Winkler, Eva (2011): deine fragen sind sehr gut – das is ja fast eine therapiesitzung. Linguistische Analyse kommunikativer Strategien zur Erzeugung von Intimität in Interviewgesprächen des Österreichischen Rundfunks. Frankfurt am Main: Lang (Schriften zur deutschen Sprache in Österreich, Bd. 40).

Sara Hägi (Paderborn)

Die standardsprachliche Variation des Deutschen als sprachenpolitisch-didaktisches Problem

0

Vorbemerkung

Lassen sich, wie der Titel dieses Beitrags suggeriert, Sprachenpolitik und Didaktik überhaupt in einem Atemzug nennen und handelt es sich dabei – mit Blick auf die standardsprachliche Variation des Deutschen – um ein Problem bzw. ein Problem? Der folgende Beitrag zeigt, inwiefern die beiden Bereiche Sprachenpolitik und Didaktik von der Plurizentrizität betroffen sind und wie sie zusammengehören. Ausgangslage ist die Beobachtung, dass Deutsch als plurizentrische Sprache nach wie vor im Deutschunterricht weltweit eher für Verwirrung sorgt, insofern als damit ganz unterschiedliche Informationen und Ambitionen verbunden werden. Immer wieder tauchen die beiden Fragen auf, wie wichtig die Thematisierung (oder gar Problematisierung) der standardsprachlichen1 Variation sei und wie sie genau im Unterricht erfolgen könne. Grundsätzlich ist der plurizentrische Ansatz als stark von der Auslandsgermanistik geprägtes Konzept (z. B. Riesel 1962, Clyne 1984, 1992, vgl. Ammon 1995: 44 f.) im Bereich Deutsch als Fremdsprache etablierter als im erstsprachlichen Deutschunterricht. In der Außenperspektive erscheint die standardsprachliche Variation des Deutschen als relevantes, gewichtiges Thema: Der Terminus Plurizentrik ist im Kontext Deutsch als Fremdsprache – ganz im Gegensatz zum erstsprachlichen Kontext (vgl. de Cillia / Ransmayr [im Druck]) – durchaus geläufig und findet in Lehr- und Lernmaterialien explizite Verwendung (z. B. Allmayer [u. a.] 2009: 2). Dennoch ist der plurizentrische Ansatz, so wird in diesem Beitrag argumentiert, zum einen für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache in der Umsetzung noch zu konkretisieren und zum anderen, nicht zuletzt unter Rückgriff auf rassismuskritische theoretische Perspektiven (vgl. Rommelspacher 2009), unbedingt auch relevant im Unterrichtskontext Deutsch als Erst- und Zweitsprache. 1 Zur Thematisierung nonstandardsprachlicher Variation im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht vgl. Studer 2002 a.

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Der Aufsatz gibt zunächst einen kurzen Überblick über die derzeitige plurizentrische Umsetzung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache (Kapitel 1) und diskutiert dann die Gründe, die das Thema für den Unterricht so komplex machen (Kapitel 2). In einem weiteren Schritt werden schließlich Lösungsansätze zur Diskussion gestellt (Kapitel 3): Es handelt sich dabei einerseits um Ansätze, die in der DaF-/DaZ-Lehrkräfteausbildung und -fortbildung2 entwickelt wurden, bzw. sich dort bewährt haben, und andererseits um Überlegungen, die darauf warten, vor allem von Akteurinnen und Akteuren (vgl. Christ 2003) aus Deutschland (D), Österreich (A) und der Schweiz (CH) gemeinsam umgesetzt zu werden.

1

Deutsch als Fremdsprache und der plurizentrische Ansatz: Eine Bestandsaufnahme Im Deutschunterricht und daher auch in Lehrwerken und Zusatzmaterialien müssen Informationen über den ganzen deutschsprachigen Raum berücksichtigt werden. (These 5, ABCD-Thesen, 1990: 306 f.) Die Stimmigkeit landeskundlicher Informationen sollte dadurch gewährleistet werden, daß eine Zusammenarbeit mit Experten der jeweils betroffenen Länder oder Regionen gesucht wird. (These 7, ebd.: 307) Die Vielfalt von regionalen Varietäten der deutschen Sprache stellt eine wichtige Brücke zwischen Spracherwerb und Landeskunde dar. Diese Vielfalt darf nicht zugunsten einheitlicher Normen (weder phonologisch, noch lexikalisch, noch morpho-syntaktisch) aufgegeben, sondern soll für die Lernenden am Beispiel geeigneter Texte und Materialien erfaßbar gemacht werden. (These 12, ebd.)

Bis 1990 gab es, etwas zugespitzt formuliert, in DaF-Lehrwerken zwei gängige Szenarien: Deutsch bezog sich landeskundlich und sprachlich entweder auf die BRD oder auf die DDR. Das jeweils andere Deutschland wurde ignoriert, Österreich und die Schweiz allenfalls klischeehaft verzerrt oder in touristischem Kontext berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund waren die ABCD-Thesen (1990) bahnbrechend: Auf Anregung des Internationalen Deutschlehrerverbands (IDV) wurde zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Fachverbände der deutschsprachigen Länder ein Dialog ermöglicht, eine stärkere Kooperation bei der Lehrkräftefortbildung gefordert und es wurden Prinzipien formuliert, »an denen sich der Deutschunterricht und die Lehrwerkproduktion orientieren 2 Bei den Veranstaltungen handelt es sich u. a. um Seminare und Workshops an den Universitäten Bonn, Siegen, Wien, an der Zürcher Fachhochschule für angewandte Linguistik Winterthur und an verschiedenen Goethe- und Österreich-Instituten, die ich seit 2006 regelmäßig zu Deutsch als plurizentrische Sprache durchführe.

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können« (ABCD-Thesen 1990: 306). Teilweise haben in der Folge eine Orientierung an den oben genannten Thesen und damit auch eine Umsetzung des plurizentrischen Ansatzes stattgefunden. DaF etablierte sich in Österreich vornehmlich durch den 1984 gegründeten Österreichischen Verband für Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache (ÖDaF), durch die DaF-Lehrstühle Wien (1993) und Graz (1995), die Gründung von Kultur und Sprache (1993), die Gründung des Österreich Instituts (1997) und die Entwicklung des Österreichischen Sprachdiploms Deutsch (1994). Letzteres wurde als plurizentrische Prüfung konzipiert, wie später auch das Zertifikat Deutsch (1999), die erste trinationale Prüfung: Ein Ziel des Zertifikats Deutsch ist es, den Lernenden und Prüfungsinteressierten in aller Welt die Vielfalt der deutschen Sprache näher zu bringen, um so den gesamten deutschsprachigen Raum mit einzubeziehen. Das bedeutet eine Ausweitung der bisherigen Praxis, in der nur eine Erscheinungsform der deutschen Sprache, nämlich der Sprachgebrauch in Deutschland, die Grundlage für die Vermittlung der deutschen Sprache und daher für die Auswahl von Texten und Hörtexten von Sprechern war. (Zertifikat Deutsch 1999: 24)

Bisher wird der plurizentrische Ansatz aber in nur wenigen Lehrwerken, wie Dimensionen (Jenkins [u. a.] 2002) oder Ja genau! (Böschel / Giersberg / Hägi 2008) konsequent berücksichtigt (ausführlich hierzu Hägi 2006: 123 – 226). Dies geschieht vor allem durch eine klare Variantenmarkierung3 und in der Berücksichtigung des gesamten amtlich deutschsprachigen Raums, was sich in der Themen- und Textauswahl zeigt. Die plurizentrische Umsetzung in den genannten Lehrwerken erlaubt es, Varianten nach Bedarf und Interesse, also abgestimmt auf Lernort und Zielgruppe, im Unterricht zu thematisieren, so dass die Lehrwerke auch in Österreich und der Deutschschweiz eingesetzt werden bzw. im nichtdeutschsprachigen Raum Lernenden gerecht werden können, die sich auch für Österreich und die Deutschschweiz interessieren: Ob es sich beispielsweise bei dem ersten Bild (siehe Abbildung 1) um eine Pfanne (CH) oder einen Topf (A D) handelt, ob die Fonduegabel auf dem zweiten Bild auf der ersten (CH) oder zweiten (A D) Silbe betont wird oder die Sitzgelegenheit auf dem dritten Bild einen Sessel (A) oder einen Stuhl (CH D) darstellt, ist eine Frage des Ortes und der Sprachverwendenden und kann im Unterricht je nach Bedarf behandelt und geklärt werden. 3 Ja genau! ist meines Wissens das bisher erste und einzige Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache, das auch deutschländische Ausdrücke als Varianten ausweist. Dass bei der Variantenmarkierung differenziert werden kann zwischen gemeindeutschen Ausdrücken (Konstanten) und Teutonismen, wurde vor allem mit Erscheinen des Variantenwörterbuchs (Ammon [u. a.] 2004) möglich. (Derzeit wird an den Universitäten Basel, Duisburg-Essen und Wien an einer Neuauflage des Variantenwörterbuchs gearbeitet. Weitere Informationen unter www.variantenwoerterbuch.net.)

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Abbildung 1: Rätselbilder (Jenkins [u. a.] 2002: 14)

Schaut man in andere Lehrwerke, die ebenfalls auf die plurizentrische Prüfung Zertifikat Deutsch vorbereiten wollen, ist schnell ersichtlich (siehe Abbildung 2), dass – auch wenn unterdessen meistens auf der geographischen Karte in der Einbandinnenseite Österreich und die Schweiz mit abgedruckt sind – nach wie vor »Klischees vom Alpenglühen, von Mozartkugeln und Schweizer Käse durch die Lehrwerke [geistern]« (Hackl / Langner / Simon-Pelanda 1998: 8) und bei der tatsächlichen Umsetzung des plurizentrischen Ansatzes häufig Etikettenschwindel betrieben wird:

Abbildung 2: Grüß Gott (Lemcke / Rohrmann / Scherling 2002: 14)

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Auch in neu aufgelegten Lehrwerken (siehe Abbildung 3) werden weiterhin, trotz frühen expliziten Hinweisen auf diesen Missstand (vgl. Muhr 1987, Ammon 1997), standardsprachliche (z. B. Grüezi, Servus, Schlagobers) und nonstandardsprachliche Varianten (z. B. Uf Widerluege, gschwungne Nidel) gemeinsam behandelt. Das hat zur Folge, dass Lernenden nahegelegt wird, das österreichische Standarddeutsch und Schweizer Standarddeutsch tendenziell als regionale und dialektale Varianz einzuschätzen.

Abbildung 3: Deutsch aus acht Regionen (Aufderstraße [u. a.] 2003: 123)

Allen Bemühungen zum Trotz, das österreichische Standarddeutsch und Schweizer Standarddeutsch aus der vermeintlichen Dialekt-Nische herauszuholen, sie als mit dem deutschländischen Deutsch gleichrangig und vor allem standardsprachlich zu etablieren, hält sich auch in Fachkreisen hartnäckig die Vorstellung von dem einen, richtigen Standarddeutsch. Die Thematisierung der Relevanz wird immer noch häufig belächelt oder verzerrt dargestellt, wie folgendes Zitat exemplarisch illustriert: Die österreichische Sprachexpertin Jutta Ransmayr hat vor Kurzem festgestellt: Ihre Sprache hat im Ausland ein Image-Problem. Weil Deutschlehrer außerhalb Österreichs nicht akzeptieren, dass der Teller am Tisch steht. Sollte die österreichische Regierung im Ausland deswegen wirklich Werbung für ihre Sprache machen, wie Ransmayr wünscht? (Walser 2007: Editorial)4 4 In Österreich ist am (aus der Präposition auf mit bestimmtem Artikel der oder das) in Ortsangaben gängig, z. B. in folgenden Verwendungen: am Bau, am Bauernhof, am Kalender, am

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Im Zusammenhang mit der Plurizentrik werden durchaus auch diskriminierende Erfahrungen gemacht (vgl. Christen / Knipf-Komlósi 2002: 15 f.), etwa wenn österreichischen DaF-Lehrenden tatsächlich das Korrigieren von Tests oder das Unterrichten von Phonetikkursen untersagt wird, wenn Schweizer Standarddeutsch nachgeahmt oder gar nachgeäfft wird oder – in einem fachlichen Kontext – statt inhaltlicher Aspekte die sprachliche Herkunft thematisiert wird.5 Inakzeptabel wird es im DaF-Kontext dann, wenn Expertinnen und Experten aus Österreich oder der Deutschschweiz pauschal jegliche Kompetenz abgesprochen wird: Aber vielleicht kann den Lernenden wenigstens reiner Wein eingeschenkt werden, indem man ihnen sagt, daß sie z. B. von einem österreichischen Lehrer eben nicht ›Deutsch‹, sondern eine besondere Variante des Deutschen lernen werden. (Hirschfeld 1997: 186) Die Schüler sind an die Aussprache ihrer Lehrer gewöhnt und wenn sie Lektoren aus Österreich oder der Schweiz bekommen, kennen sie zwar zusätzlich eine deutsche Sprachvarietät, nicht aber die hochsprachliche Norm. (Adamcová 2002: 6)

Sowohl Hirschfeld (Mitautorin von Dimensionen, siehe oben) als auch Adamcová (vgl. 2009: 17 f.) lassen in ihrer Arbeit aber unterdessen eine ausgesprochen plurizentrische Herangehensweise erkennen. Betrachtet man das Gros der Lehrmaterialien, den uneinheitlichen und unsicheren Umgang mit der Thematik unter DaF-Lehrkräften und die nach wie vor aktuellen Diskriminierungen auch in Fachkontexten, stellt sich jedoch die Frage, ob solche Entwicklungen irgendwann tatsächlich zu einer allgemeinen Akzeptanz des plurizentrischen Ansatzes führen oder ob es sich bei dessen Vertretung und Propagierung nicht schlicht um einen Kampf gegen Windmühlen handelt, um ein Konzept, das der Alltagswahrnehmung und Praxistauglichkeit schlicht widerspricht? Festhalten lässt sich ein großes Engagement seitens des Österreichischen Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK6), das sich für die Vermittlung und Verbreitung der österreichischen Standardvarietät im Unterricht Deutsch als Fremdsprache einsetzt, so genannte DACHL-Seminare organisiert und in der DACHL-AG aktiv mitarbeitet. Dieses Engagement für die DACHL-Landeskunde (vgl. Langner 2011) und die Plurizentrizität des Deutschen steht unter der Schirmherrschaft des Internationalen Verbands für Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer (IDV) und wird mitgetragen von deutKonto, am Mond etc.; vgl. hierzu den Eintrag im Variantenwörterbuch (Ammon [u. a.] 2004: s. v.). 5 Es gab keine Fortbildungsgruppe (siehe Fußnote 2), die nicht von entsprechenden Erfahrungen berichtet hätte. 6 Seit dem Ministeriengesetz mit Wirkung 1. 3. 2014: Bundesministerium für Bildung und Frauen (BMBF).

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scher, schweizerischer und liechtensteinischer Seite. DeutschlehrerInnentage weltweit zeigen großes Interesse an der Thematik. Auch bei Studierenden im amtlich deutschsprachigen Raum löst das Thema Interesse, Aha-Erlebnisse, aber auch Unsicherheit aus, sicherlich v. a. deswegen, weil es kaum selbstverständlicher, integraler Bestandteil in den Curricula ist. Die Plurizentrizität des Deutschen ist bislang nur dann in Studiengängen für DaF/DaZ/DaM integriert, wenn es den Studiengangsleitenden ein persönliches Anliegen ist.

2

Die Problemstellung

In irgendeiner Weise betrifft die Plurizentrizität jeden im amtlich deutschsprachigen Raum, unabhängig davon, ob man sich als SprachexpertIn oder Laie damit explizit auseinandersetzt oder implizit der Varianz begegnet: »Die Plurizentrik ist kein Phantom« (Schmidlin 2011: 300). Zum einen »ist eine grosse Selbstverständlichkeit im Gebrauch von Varianten zu beobachten« und zum anderen gibt es schlicht keine Texte ohne Varianten (ebd.). Für den Unterricht heißt das einerseits, dass es sich bei der Plurizentrik um ein im Alltag relevantes Phänomen handelt. Andererseits ist außerhalb linguistischer Fachkreise das Plurizentrizitätsbewusstsein gering (vgl. Schmidlin 2011: 296). Gepaart mit weit verbreitetem Halbwissen und einer z. T. hoch emotionalen und entsprechend nicht unproblematischen Auseinandersetzung und Instrumentalisierung seitens SprachpflegerInnen und SprachpolitikerInnen bleibt die Plurizentrik ein heikles Thema in der Didaktik, wie im Folgenden genauer erläutert wird. Wenn auch die thematisierten Punkte keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben (so wird z. B. das in Bezug auf die Plurizentrizität zentrale Thema der Norm und Normierung nur angedeutet), so geben sie doch einen Eindruck von der gegenwärtig geführten Diskussion.

2.1

Inhomogenität und Verschiedenheit

Die Tatsache einer nicht einheitlichen Standardsprache bedeutet für den Deutschunterricht bereits an sich eine unbequeme Komplexität. Was für die Orthographie gilt, trifft genauso auf die anderen Sprachebenen zu: Gewünscht wird – im Sinne des Buchdruckerdudens etwa oder der Hausregeln im Umgang mit Dubletten bei deutschsprachigen Zeitungen – eine klare Regelung von richtig und falsch und auch nur eine mögliche Antwort: Varianten, die gleichwertig nebeneinanderstehen, würden irritieren, zu viel Freiraum lassen, überfordern. Nichtsdestotrotz ist die deutsche Standardsprache nicht einheitlich.

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Die Inhomogenität und Verschiedenheit in Bezug auf die deutsche Standardsprache bedeutet aber vor allem, dass die Funktion der Standardsprache im amtlich deutschsprachigen Raum nicht einheitlich ist, d. h. Plurizentrik für jedes Zentrum etwas anderes bedeutet. Die Unterschiede ergeben sich einerseits aus der Sprachsituation an sich, die grob umrissen werden kann als (mediale) Diglossie in der Deutschschweiz, Dialekt-Standard-Kontinuum in Österreich und Süd- und Mitteldeutschland und Dialektschwund im Norden Deutschlands. Andererseits unterscheiden sich Deutschland, Österreich und die Schweiz grundlegend in ihrer Geschichte und in ihrem Selbstverständnis hinsichtlich der deutschen Sprache. Das wirkt sich ebenso auf die Sprachverwendung und Textbewertung (vgl. Schmidlin 2011, Peter 2011) aus wie auf die sprachenpolitischen Konzepte. Deutschland dominiert weltweit ganz eindeutig quantitativ die DaF-Szene, vor allem durch die 149 Goethe-Institute und zehn Verbindungsbüros in 93 Ländern (vgl. dazu: 30 österreichische Kulturforen und 9 Österreich-Institute).7 Auch die großen Lehrbuchverlage haben ihren Sitz in Deutschland. Während Deutschland aktiv und gezielt Sprachförderungspolitik im Ausland betreibt (Ammon 2010, 2011), ist diese in Österreich nur Nebenschauplatz der auswärtigen Kulturpolitik und fällt vergleichsmäßig gering aus (vgl. Ortner / von Ruckteschell 2010: 138).8 Zum einen kann das Österreich-Institut als »besonders erfolgreiches und nachhaltiges Instrument österreichischer Außenkulturpolitik« (Krumm 2012: 110) bezeichnet werden, zum anderen wird es aber von anderen österreichischen Akteuren nicht als solches wahrgenommen (vgl. Burka 2012: 258). Die österreichische auswärtige Sprachenpolitik ist durch eine Aufsplittung gekennzeichnet, die eine gewisse organisatorische Inkongruenz nach sich zieht: Von ExpertInnen aus dem Fachbereich wird zu Österreich vielfach festgestellt, dass für eine koordinierte Sprach(en)politik ein Konzept und ein erklärter politischer Wille fehlen. […] Als problematisch wird immer wieder die Vielzahl der zuständigen Entscheidungsträger bezeichnet, da sich in Österreich das Innenministerium9, das Außenministerium [Kulturforen, Österreich-Institute, Österreichbibliotheken – S. H.], das Unterrichtsministerium [pädagogische Verbindungsarbeit, Auslandsschulen, Sprachassistenzen – S. H.] und teilweise das Wissenschaftsministerium [Auslandslektorate – 7 Vgl. www.goethe.de, www.oesterreichinstitut.at bzw. www.bmeia.gv.at/aussenministerium/ aussenpolitik/auslandskultur/kulturforen.html. 8 Die Gründe für die Trennung zwischen Kultur- und Sprachaktivitäten im Ausland sind wesentlich komplexer, als hier angedeutet werden kann. Für eine differenzierte Darstellung siehe Burka (2012: 255 ff.). Das Auslandskulturkonzept (2011) ist einzusehen unter http://www. bmeia.gv.at/aussenministerium/aussenpolitik/auslandskultur/auslandskulturkonzept.html. 9 »Da die Aufenthaltsberechtigung 2001 an eine gewisse Sprachkompetenz gebunden wurde, ist für diese Fragen auch das Innenministerium zuständig, auch in Bezug auf Sprachkurse und -prüfungen.« (Sorger 2012: 111)

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S. H.], außerdem noch einzelne nachgeordnete Einrichtungen die Agenden aufteilen. (Sorger 2012: 111)

Die Schweiz verzichtet ganz auf eine auswärtige Sprachförderung: Die sprachliche Identifikation auch der einzelnen Schweizer und Schweizerinnen geschieht darum kaum mit einer einzelnen der vier Landessprachen, vielmehr mit ihrer Gesamtheit. Es gilt eine Art ›kollektive Mehrsprachigkeit‹, auch wenn die einzelnen Schweizerinnen und Schweizer keineswegs alle mehrsprachig sind. Aus diesem Selbstverständnis heraus betreibt die Schweiz im Gegensatz zu Deutschland und Österreich keine Aussenpolitik oder Imagepflege über die Propagierung der Landessprachen und unterhält auch keine Institutionen im Ausland, die das Erlernen oder die Kenntnis der Kultur in der einen oder anderen Sprache fördern. Es gibt daher von der Schweiz aus keine Entsendungsprogramme für Lektoren und Lektorinnen und keinen allgemeinen Austausch von Studierenden im Sprachbereich. Die Aktivitäten im Bereich DaF im Ausland sind institutionell wenig verankert und stark vom Engagement einzelner Akteure abhängig. (Clalüna 2010: 161)

Diese unterschiedlichen sprachenpolitischen Gewichtungen und Ausrichtungen bzw. Interessen und institutionellen Möglichkeiten in den amtlich deutschsprachigen Ländern führen zu einer sehr komplexen Zusammenarbeit, z. B. in der DACHL-Arbeitsgruppe.

2.2

Mythen

Wenn Österreicher ein bisschen anders sprechen, ist ihr Deutsch bestimmt nicht falsch. Aber für die meisten Deutsch-Lerner ist es vielleicht besser, wenn sie ein StandardDeutsch lernen. (Walser 2007: Editorial)

Diesem Zitat liegen gleich zwei Mythen zu Grunde: Zum einen der Mythos von einem Standard (vgl. Schmidlin 2011: 3), den es wohl auch historisch kaum je gegeben hat und der für die Gegenwart empirisch ganz klar widerlegt ist, und zum anderen der Mythos, Standarddeutsch sei lokalisierbar und in Deutschland beheimatet, genauer im Norden Deutschlands, um Hannover herum (vgl. Schmidlin 2011: 3, König 2011 a). Zu diesen Mythen gesellt sich der Mythos einer homogenen Varietät (vgl. Schmidt 2005: 62 f., Schmidlin 2011: 291). Aus so vielfältigen Gründen wie Stil, Präferenz und Verständlichkeitsprimat, einer Verschiebung des Lebens-, Wohnoder Arbeitsmittelpunkts innerhalb des deutschsprachigen Raumes oder durch intensiven Kontakt mit Sprecherinnen und Sprechern bzw. Medien aus einem

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anderen Zentrum ist in deutschsprachigen Texten eine Kombination verschiedener Varianten gang und gäbe.10 Die Angst vor einem Varietätenmix, die immer wieder geäußert wird, wenn es um die Umsetzung der Plurizentrik im Unterricht Deutsch als Fremdsprache geht (vgl. z. B. Siguan 2005: 346), erscheint vor dem Hintergrund der realen Praxis als unbegründet. Überhaupt scheinen Lehrende bezüglich der Plurizentrik viel größere Befürchtungen und Vorbehalte zu haben, als sich in Bezug auf den Unterricht tatsächlich als gerechtfertigt erweisen (vgl. auch Hägi 2006: 102 – 107): Weder die Angst, die standardsprachliche Variation überfordere die Lernenden, noch die Ansicht, die standardsprachliche Variation interessiere die Lernenden nicht, können nachgewiesen werden. Es handelt sich dabei also um zwei weitere Mythen. Im Gegenteil: Lernende schneiden bei plurizentrischen Prüfungen nicht schlechter ab als bei nicht-plurizentrischen (vgl. Studer 2002 b) und die Anmeldezahlen an einschlägigen Fortbildungsveranstaltungen sowie die Rückmeldungen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern zeigen ein ausgeprägtes Interesse an DACH(L)-Seminaren, zu deren zentralen Ausgangs- und Schwerpunkten immer auch der plurizentrische Ansatz zählt.11 Ein letzter Mythos soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: der Mythos der Gleichwertigkeit von standardsprachlichen Varietäten. Zwar sind Austriazismen und Helvetismen grundsätzlich genauso standardsprachlich wie Teutonismen und ideell gleichwertig. Letztere genießen aber auf Grund der für plurizentrische Sprachen typischen Asymmetrie (vgl. Ammon 1995: 484 ff.) höheres Prestige und eine größere kommunikative Reichweite.12 Innerhalb von Deutschland weist König (2011 b, Kratzer 2012) auf ein entsprechendes NordSüd-Gefälle und eine tendenzielle Diskriminierung gegenüber süddeutschen Aussprachenormen hin. »In Diskursen, Wissensformen und Sprachen, den heteronomen Medien der Subjektkonstituierung werden Menschen machtvoll 10 So findet sich etwa folgender Text auf einer Anleitungstafel an einem Fahrradständer in Winterthur: »1, 2, 3, und ihr Velo ist sicher parkiert! […] Zum Ausparken Velo hinten anheben. Wir wünschen Ihnen viel Spass beim PedalParken.« Die Helvetismen Velo, parkieren, Spass werden also kombiniert mit den für die Schweiz eigentlich untypische Variante (aus-)parken, die im Variantenwörterbuch (Ammon [u. a.] 2004: s.v.) nur für Österreich und Deutschland ausgewiesen sind. 11 So verzeichnete das Goethe-Institut bei dem einzigen DACH-Seminar, das es 2011 durchgeführt hat, die mit Abstand größte Zahl der Anmeldungen unter allen angebotenen Seminaren. Dies trifft auch für das 2012 vom BMUKK durchgeführte Seminar »Endlich durchDACHt« zu. Generell stoßen außerdem die Plurizentrik-Workshops bei den vom BMUKK durchgeführten Seminaren im In- und Ausland auf großes Interesse, was aus den Rückmeldungen ersichtlich ist (Hinweise von Andrea Stangl, Kultur und Sprache, Mail vom 29. 01. 2013). 12 Deswegen handelt es sich bei Übersetzungen ins Deutsche in der Regel um Übersetzungen ins deutschländische Deutsch, und deswegen singt z. B. der gebürtige Österreicher Udo Jürgens »Aber bitte mit Sahne« statt »mit Schlag« oder »Schlagobers« (vgl. Hägi 2007).

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unterschieden« (Broden / Mecheril 2010: 11) – diese Aussage gilt auch in Bezug auf die standardsprachliche Variation des Deutschen.13

2.3

Spannungsfeld zwischen Norm, Identität und Ideologie

»Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat« – der vielzitierte Slogan14, mit dem der damalige Wiener Bürgermeister Dr. Helmut Zilk für einen EU-Beitritt Österreichs warb, belegt die Funktion nationaler Varianten als Nationalsymbole (vgl. Ammon 1995: 201 ff.). Linguistisch gesehen handelt es sich dabei häufig um so genannte Demonstrationszentrismen (ebd. 204), also signalstarke Varianten (vgl. Hägi 2006: 71 ff.), mit denen ganz bewusst auf eine Varietät rekurriert wird. In Österreich ist die Funktion und Funktionalisierung der nationalen Varietät als »Identitätsmanagement« (de Cillia / Wodak 2006: 39) am ausgeprägtesten. Sie zeigt sich z. B. in sprachpolitischen Maßnahmen, wie 1951 in der ersten Auflage des Österreichischen Wörterbuchs, dem »Protokoll Nr. 10 über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union« oder dem »medialen ›Marillenkrieg‹« im Jahr 2003 (ebd. 38 – 43) – Beispiele, die gleichermaßen deutlich machen, »dass die Frage des österreichischen Standarddeutsch offensichtlich eine zentrale Bedeutung für Identitätskonstruktionen hat, die jederzeit mobilisiert werden kann« (ebd. 43), wie auch, dass es sich dabei eher um vereinzelte und episodenhafte Ansätze zur Förderung des österreichischen Deutsch handelt. In Deutschland besteht aufgrund der staatlichen Größe, wirtschaftlichen Stärke und politischen Möglichkeiten keine Notwendigkeit, gegenüber Österreich oder der Schweiz sprachlich Eigenständigkeit zu markieren, und aufgrund der Geschichte überhaupt größte Vorsicht gegenüber Nationalsymbolen. Demonstrationszentrismen gibt es für die nationale Varietät Deutschlands nicht, Schibboleths15, also Varianten, an denen andere eine Sprecherin oder einen 13 Auch wenn in Österreich oder der Deutschschweiz die Eigenvarietät z. B. in staatlichen Rundfunksendern oder allgemein in den Medien in der Regel als die angemessenere gilt, wie u. a. das Beispiel, dass es »am Schweizer Radio DRS in den 80er Jahren Kündigungsdrohungen gegen Sprecher/innen gegeben [hat], die kein spezielles Schweizerhochdeutsch pflegten« (Ammon 1995: 304), eindrücklich belegt, so kann auch in Österreich und der Schweiz für die bundesdeutsche Varietät höheres Prestige nachgewiesen werden (vgl. Scharloth 2006, Schmidlin 2011, Peter 2011). 14 Vgl. auch das gleichnamige Lied von Georg Danzer (http://www.georgdanzer.at/songs/erdaepfelsalat.html). 15 Der soziolinguistische Terminus Schibboleth geht auf das Alte Testament (Richter 12, 5 – 6) zurück, wo besiegte ephraimitische Flüchtlinge ihre Herkunft leugnen, jedoch an ihrer Aussprache »Sibboleth« anstelle von »Schibboleth« (hebräisch ›Strom; Ähre‹) erkannt, überführt und getötet werden (vgl. Ammon 1995: 204).

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Sprecher aus Deutschland sofort erkennen, hingegen schon (vgl. Ammon 1995: 375 ff.). In der Deutschschweiz geschieht die Abgrenzung zu Deutschland sprachlich über die schwyzerdütschen Dialekte, kaum über die Standardvarietät (vgl. Ammon 1995: 301 ff.). Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, warum sich Purismus im amtlich deutschsprachigen Raum z. T. unterschiedlich ausrichtet: In Deutschland zeigt er sich vornehmlich als Sprachpurismus und richtet sich gegen Anglizismen, in Österreich findet man darüber hinaus Varietätspurismus gegenüber der deutschländischen Varietät, während in der Deutschschweiz Dialektpurismus verbreitet ist.16 Da Sprecherinnen und Sprecher u. a. durch ihre Sprache bzw. ihre Varietät ihre Herkunft »outen« (durch Schibboleths) bzw. sich mit ihr bewusst identifizieren (durch Demonstrationszentrismen), können Varietäten durchaus instrumentalisiert und dazu missbraucht werden, andere auszugrenzen und/oder als nicht zugehörig zu markieren (zum Konzept von »Othering« s. ThomasOlalde / Velho 2011, zur Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft s. Broden / Mecheril 2010). Dirim / Eder / Springsits (2013: 127 ff.) benennen in diesem Kontext von Subjektkonstitituierung »inferiorisierende Positionierungsangebote«, die in Bezug auf die Varietäten unterscheiden, und illustrieren das an folgendem Beispiel einer Unterrichtsstunde zum Thema Ernährung, an der ein elfjähriger Wiener Gymnasiast mit deutschem Migrationshintergrund teilnimmt: Die Kinder hatten die Hausaufgabe bekommen, auf einem von der Lehrerin ausgeteilten Arbeitsblatt in einem Worträtsel Bezeichnungen von Nahrungsmitteln zu identifizieren, um diese im Unterricht Nährstoffen zuzuordnen, die sie enthalten. Lars hatte in dem Worträtsel u. a. die Bezeichnung Kartoffel identifiziert, sie in die Tabelle eingetragen, und er äußert sich in der Stunde, in der die Hausaufgabe besprochen wird, im Plenum mit einem Beitrag »Kartoffeln«. Sobald er das Wort ausspricht, wird er von der Lehrerin korrigiert: »Das heißt bei uns nicht Kartoffeln. Das heißt Erdäpfel.« (Dirim / Eder / Springsits 2013: 127)

Kartoffel ist laut Variantenwörterbuch (Ammon [u. a.] 2004: 391) nicht nur gemeindeutsch, es stand auch in Lars’ Unterrichtsunterlagen (Dirim / Eder / Springsits 2013: 127). Das Beispiel der Instrumentalisierung von Varianten reiht sich ein in die bereits von Bourdieu gemachte Feststellung (vgl. 1990: 60, 16 Auf diese Tendenzen wies Ulrich Ammon in seinem Vortrag »Plurizentrik und Landeskunde« hin (DACHL-Tagung, September 2011, Frauenchiemsee). Sie finden sich zahlreich in den Medien dokumentiert, vgl. »Leider wird unsere typisch österreichische Sprache immer mehr eingedeutscht […].« (Leserbrief in gehört. Das Ö1 Clubmagazin 163, 7/2009, zitiert nach Peter 2011: 11) oder »Coop grillt, die Sprachpuristen kochen« (http://www.20min.ch/ schweiz/news/story/Coop-grillt–Sprachpuristen-kochen-25897943 bzw. http://www.youtube.com/watch?v=9uqD8xPurIc).

Die standardsprachliche Variation des Deutschen

123

zitiert nach Dirim / Eder / Springsits 2013: 128), nach der das Glücken von sprachlichen Äußerungen nicht nur von ihrer Korrektheit im engeren sprachlichen Sinne abhängt, sondern auch von sozialen Regeln zur Verwendung von Sprache. Die Korrektur der Lehrerin zeigt, dass es in diesem Fall nicht nur um die pragmatische Angemessenheit von Sprache in einer Kommunikationssituation mit dem Ziel sprachlicher Verständlichkeit und Handlungsfähigkeit ging, sondern auch um eine ideologische Korrektur im Sinne der nationalstaatlichen Reproduktion, an der die Kinder offenbar angehalten sind teilzunehmen. Es ging also nicht nur darum, dass Deutsch gesprochen wird, sondern darum, dass in einer Weise Deutsch gesprochen wird, die als ›österreichisch‹ gilt. (ebd.)

Es ist möglich, dass Kartoffel als Antwort eines autochthon österreichischen Schülers als Variante akzeptiert worden wäre oder aber, hätte Lars von Erdäpfeln gesprochen, auch dies beanstandet worden wäre.17 Solche Fälle zeigen gewisse Parallelen zu dem, was Rommelsbacher (2009) als Alltagsrassismus beschreibt. Auch wenn eine Äußerung nicht rassistisch gemeint ist, kann sie rassistische Effekte zur Folge haben und die betroffenen Menschen beschämen und verletzen. So ist die – durchaus freundlich gemeinte – Frage ›Wo kommen Sie her?‹ ein Beispiel für eine ambivalente, häufig an rassistische Unterscheidungen anschließende und diese bekräftigende Frage: Sie signalisiert zwar einerseits Interesse seitens der fragenden Person gegenüber der als ›fremd‹ wahrgenommenen Person, andererseits beinhaltet die Frage eine subtile Form der Unterscheidung und der Ausgrenzung: ›Wo kommen Sie her?‹ beinhaltet auch die Unterstellung ›Hier gehören Sie nicht hin!‹ oder ›Zu uns gehören Sie aber nicht!‹ (Broden / Mecheril 2010: 13)

Die Plurizentrizität des Deutschen wird bisweilen als Ausgangspunkt für sprachpuristische und nationalistische Anliegen instrumentalisiert. Es ist nachvollziehbar, wenn durch solche heiklen Kontexte und Gratwanderungen die Plurizentrik im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht ausgeklammert wird. Eine Lösung, die der standardsprachlichen Variation des Deutschen gerecht wird, ist es allerdings nicht.

17 Diese Vermutung wird gestützt durch die Erfahrung einer deutschen Kollegin in Wien, die, als sie den Ausdruck Stiege verwendete, darauf aufmerksam gemacht wurde, dass durchaus auch in Österreich Treppe gesagt würde.

124 2.4

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Unsicherheit und Ignoranz

Wird man der Plurizentrik überhaupt erstmal gewahr, stellen sich schnell Fragen wie: Welches Deutsch ist wann, wo richtig? Welches Deutsch soll unterrichtet werden? Wie kann im Unterricht angemessen mit der Plurizentrizität umgegangen werden? Wie wichtig ist sie überhaupt? In Bezug auf solche Fragen zeigt sich eine ausgesprochen große Unsicherheit in Seminaren und Lehrkräftefortbildungen, und zwar gleichermaßen in Deutschland, Österreich, der Deutschschweiz und genauso auch im nichtdeutschsprachigen Raum. Wie kommt es zu dieser Unsicherheit? Warum ist sie auch gegenwärtig so präsent? Ein Argument findet sich sicherlich in der Umsetzung des plurizentrischen Ansatzes in den Lehrmaterialien: In DaF/DaZ-Materialien ist sie, wie bereits erwähnt, nach wie vor marginal, häufig fehlerhaft und kontraproduktiv. Sogar das explizit plurizentrische und innovative Österreichische Sprachdiplom Deutsch (ÖSD) bezieht sich auf einen Lernzielkatalog (Muhr 2000), der auch zur Plurizentrik zahlreiche Mängel aufweist (vgl. Hägi 2006: 149, 158) und dringend überarbeitet werden müsste. In DaM-Materialien wird Plurizentrik kaum explizit behandelt oder bewusst gemacht (vgl. de Cillia / Ransmayr [im Druck]). So wundert es nicht, dass auch in Österreich nicht nur wenig Plurizentrizitätsbewusstsein außerhalb des Fachkreises besteht, sondern auch wenig konkrete Vorstellungen darüber, was das für die Praxis heißt (ebd.). Die Umsetzung ist entsprechend diffus, willkürlich und häufig ohne erkennbares Konzept. Unverständlich ist allerdings, dass das, was es an gutem, zugänglichem Material und an hilfreicher Terminologie gibt, noch wenig bis gar keine Beachtung findet. So wird zum Beispiel von Lehrpersonen der Bedarf an VariantenSammlungen geäußert (»Woher weiß ich denn, ob das ein Austriazismus ist oder nicht? Wie kann ich das rausfinden?«); die Existenz des Variantenwörterbuchs (Ammon [u. a.] 2004) ist in breiten Kreisen unbekannt und sein Einsatz im Unterricht marginal.18 Eine Restunsicherheit wird es klarerweise immer geben, denn auch Sprachexpertinnen und Sprachexperten bleiben bis zu einem gewissen Grad in ihrer Kompetenz begrenzt und Sprachen, auch die Standardsprachen, sind von einem ständigen Wandel gekennzeichnet. Umso wichtiger sind Nachschlagewerke und ihre Verwendung, der kontinuierliche Austausch und eine einheitliche Terminologie, die garantiert, dass man vom Gleichen spricht (vgl. Kapitel 3.2).

18 Das ergab u. a. die Arbeitstagung des BMUKK-Projekts »Lehr- und Lernmaterialien: Österreichisches Deutsch an Schulen« am 22. 01. 2013 in Wien.

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Lösungsansätze

Die oben in ihren einzelnen Aspekten erläuterte Problemstellung führt dazu, dass die Thematisierung der Plurizentrik in Aus- und Fortbildungsveranstaltungen zum einen explizit eingefordert wird und erwünscht ist. Zum anderen handelt es sich aus den erwähnten Gründen um eine Herausforderung, die gleichermaßen Behutsamkeit wie Hartnäckigkeit bedarf. Im Folgenden werden Ansätze und Herangehensweise erläutert und zur Diskussion gestellt, die Nachhaltigkeit versprechen und mit denen in der Praxis bisher gute Erfahrungen gemacht wurden.

3.1

Hinschauen und Hinhören

Literaturbeilage: Mann, mit dir kann man ja würklich nur über das Wetter reden! Wolf Haas: Genau. Mit dir kann man ja wirklich nur über das Wetter reden. (Haas 32010: 55)

Bereits König (1997) und Elspass (2007) plädieren dafür, die standardsprachliche Variation verstärkt als Chance für Lernende zu sehen. Dies betrifft einerseits die Lexik: Bei vielen Austriazismen handelt es sich um Kontaktzentrismen (vgl. Hägi 2006: 60). So erleichtert beispielsweise die Nähe Tschechiens oder Ungarns zu Österreich das Lernen von Austriazismen wie Powidl oder Palatschinke, die den Lernenden ja bereits aus ihrer Erstsprache bekannt sind. Andere Lernende kann eine solche Hintergrundinformation landeskundlich interessieren. Genauso bietet auch die variantenreiche Aussprache Möglichkeiten, den Lernenden entgegenzukommen. Charakteristisch scheint mir diesbezüglich die Episode auf einer Fortbildungsveranstaltung19, bei der ein DaF-Experte aus Nigeria erkannte, dass das r im deutschsprachigen Raum auch standardsprachlich gerollt werden kann.20 Schmidlin stellt in ihrer Untersuchung fest: Je mehr Variantenkenntnis vorhanden ist, desto mehr Toleranz zeigt sich den Varietäten gegenüber (2011: 296). Genaues Hinschauen und Hinhören führen sicherlich dazu, dass die Einheitlichkeit des Standarddeutschen genauso wie die Homogenität nationaler Varietäten als Mythen entlarvt werden können. Gleichzeitig bedeutet mehr 19 Workshop zur Plurizentrik auf dem IDV-Treffen 2011 in Winterthur. 20 Eine österreichische DaF-Expertin und ein Kollege aus Lübeck hatten obigen Dialogauszug von Wolf Haas vorgetragen. Der DaF-Vertreter aus Nigeria bat die beiden Interpreten, nochmals und nochmals zu lesen und fragte dann ganz erstaunt nach, ob das gerollte r der Österreicherin tatsächlich richtig sei. Nach Bejahung seiner Frage schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und meinte, seit 20 Jahren mühe er sich ab, seinen Studierenden das »r hinten« beizubringen, diese Energie hätte er doch auch anderweitig einsetzen können.

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Kenntnis der standardsprachlichen Variation auch mehr Möglichkeiten im Sinne von Hilfestellungen für die Lernenden. Standardsprachliche Variation bedeutet dann eine Chance für die Lernenden, ihre eigene Lernervarietät als eine von vielen zu verstehen und sie nicht nur einem meist unerreichbaren Ideal gegenübergestellt zu sehen.21 Genaues Hinschauen und Hinhören bleibt lebenslang faszinierend, auch für Deutsch-Erstsprachige, auch für Sprachexpertinnen und Sprachexperten: Schon bei Max Frisch hat sich herausgestellt, dass er gemeindeutsche Konstanten für Helvetismen hielt (etwa verschnaufen) und umgekehrt bei Helvetismen von gemeindeutschen Konstanten ausging (etwa allfällig22) (vgl. Schenker 1969, Hägi 2006: 74). Ähnliches passiert dem Schweizer Sachbuchautor Kühnhanss (2003),23 wenn er klönen – der Bedeutung in der Deutschschweiz entsprechend – als »’ne schlechte Angewohnheit« bezeichnet (ebd. 19; vgl. Abbildung 4), die gemeindeutsche Redewendung das geht auf keine Kuhhaut hingegen als Helvetismus verbucht (ebd. 226). Vgl. hierzu das Variantenwörterbuch (Ammon [u. a.] 2004: s. v.):24 klönen sw.V./hat: 1. D-nord; → PLAUSCHEN A D-

südost, → RATSCHEN A D-südost, → SCHWÄTZEN A-west (Vbg.) D-südwest, → SCHWATZEN CH Dmittel, → BABBELN D-mittel/südwest, → QUATSCHEN D-nord/mittel, → SCHNACKEN Dnord ›sich unterhalten, plaudern‹: Meine Interessen: Klönen, Kino, Theater (Freundin 19/1997, 200). 2. CH; → TRENZEN A (ohne west) D-südost, → PLINSEN D-nordost ›weinerlich klagen; jammern‹: Wie sie immer nur klöne und über alles schimpfe, nur andern die Schuld gebe und so weiter (Niederhauser, Erich 254) – Zu 1.: → Klönschnack

Abbildung 4: Klönen (Ammon [u. a.] 2004: s. v.)

21 Fremdsprachenlernende Studierende berichten z. B. in meinen Veranstaltungen regelmäßig, dass es motivierender und einfacher sei, mit SprecherInnen in Kontakt zu treten, deren Sprachen standardsprachliche Variation und nicht nur einen Standard kennen. Angeführt werden dann Erfahrungen mit Englisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch im Unterschied etwa zu Russisch und Französisch. 22 Allfällig ist ein unspezifischer Helvetismus, da auch in Österreich gebräuchlich (s. Variantenwörterbuch, Ammon [u. a.] 2004: s. v.). 23 Christoph Kühnhanss hat lange in Deutschland gelebt. In seinem Ratgeber spielt er explizit mit den Varietäten, seine Zielgruppe sind aber in erster Linie Leserinnen und Leser aus Deutschland, worauf u. a. das »Helvetische Wörterbuch« im Anhang hindeutet (Kühnhanss 2003). 24 Da das geht auf keine Kuhhaut eine gemeindeutsche Redewendung ist, gibt es hierzu im Variantenwörterbuch keinen Eintrag.

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In der Praxis bewährt hat sich ein bewusst machendes »plurizentrisches Arbeits- und Lernheft« (kurz: PAUL)25. Dabei werden folgende vier Bereiche ausgemacht und einander gegenübergestellt:

Abbildung 5: Plurizentrik-Fenster

I) Gleicher Ausdruck, gleiche Bedeutung Beispiele: der Baum, der Tisch, verschnaufen, das geht auf keine Kuhhaut … Mit »gleicher Ausdruck, gleiche Bedeutung« sind Ausdruck und Bedeutung im amtlich gesamtdeutschsprachigen Raum gemeint, also gemeindeutsche Konstanten. Bei aller arealen Varianz in der deutschen Standardsprache sind die Konstanten zahlreicher.26 Beim Thema Plurizentrik ist es wichtig, das Gemeinsame, die gemeinsame Sprache im amtlich deutschsprachigen Raum im Blick zu haben, und nicht nur die Unterschiede zu fokussieren: Es sollen Grenzen weder aufgebaut noch verstärkt werden. II) Unterschiedlicher Ausdruck, gleiche Bedeutung Beispiele: der Kulturbeutel (D), der Erdapfel (A), das Nastuch (CH), pellen (D), strichlieren (A), grillieren (CH), das schleckt keine Geiss weg (CH) … Solche Ausdrücke sind im Unterricht in der Regel unproblematisch, zum einen, weil sie Lernenden als unbekannt auffallen und sie diese nachschlagen oder nachfragen können, und zum anderen, weil sie die Bedeutung durch die Entsprechungen schnell erschließen können. Gelegentlich handelt es sich bei den Beispielen um Ausdrücke, die man, weil sie neu oder ungewohnt sind, amüsant findet.

25 Entwickelt und erstmals ausprobiert habe ich »PAUL« im DAAD-Sommerseminar 2011 in Jerewan, Armenien. 26 Gemeindeutsche Einträge finden sich im Variantenwörterbuch (Ammon [u. a.] 2004) nur, wenn es dazu Varianten gibt, auf die sie verweisen. Ansonsten gilt: Findet man einen standardsprachlichen Ausdruck nicht im Variantenwörterbuch, ist er gemeindeutsch.

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III) Gleicher Ausdruck, unterschiedliche Bedeutung Beispiele: Tschüss, Paprika, Peperoni, Pfanne, Sessel, Käsekuchen, klönen …27 Bei diesen Ausdrücken handelt es sich um so genannte falsche Freunde, also vermeintlich bekannte Ausdrücke, die aber im deutschsprachigen Raum unterschiedlich verwendet werden. Sie sind im Unterricht unbedingt zu thematisieren, um Missverständnisse zu vermeiden. IV) Unterschiedlicher Ausdruck, unterschiedliche Bedeutung Beispiele: Doppelkopf (D), Trafik (A), Heuriger (A), Törggelen (Südtirol), Migros Kulturprozent (CH) …28 Diese Ausdrücke sind ebenfalls eher unproblematisch, da sie unbekannt sind und man die Bedeutung nachfragt oder nachschlägt. Im Unterschied zu den Beispielen aus II) gibt es hier jedoch nur Teilentsprechungen, wenn überhaupt. Häufiger handelt es sich um Sachspezifika (vgl. Ammon 1995: 111), deren Bedeutungen weniger in einem Wörterbuch als vielmehr in einem Lexikon zu finden sind: Es handelt sich hierbei weniger um linguistische Phänomene als um hauptsächlich landeskundliche Inhalte. Ein PAUL lässt sich ganz einfach basteln (siehe Abbildung 6) und leicht in der Tasche bei sich tragen, so dass jederzeit plurizentrische Beobachtungen notiert werden können: Gemeindeutsche Konstanten (I) auf den Außenumschlag und jeweils auf einer Doppelseite Beispiele zu (II), (III) und (IV).

3.2

Fragen statt Antworten

»Sind Fisolen Bohnen?« (vgl. Hägi 2007: 11) – auf solche Fragen können Gewährsleute oder aber das Variantenwörterbuch (Ammon [u. a.] 2004) eindeutige Antworten geben. Es handelt sich dabei um durchaus berechtigte und wichtige Fragen, denn da niemand in allen Varietäten gleichermaßen kompetent ist, sind Strategien, um entsprechende Lücken auszugleichen, wesentlich. 27 Tschüss wird in D als Sie- und Du-Form verwendet, in A und CH (wenn es verwendet wird) nur in der Du-Form; eine Paprika (CH) ist in Österreich und Deutschland eine Peperoni und eine Peperoni (CH) ist in Österreich und Deutschland eine Paprika, ein Schweizer Käsekuchen ist herzhaft, ein deutscher süß (vgl. die entsprechenden Einträge im Variantenwörterbuch, Ammon [u. a.] 2004). 28 Doppelkopf ist ein Kartenspiel, Trafik entspricht ungefähr einem Kiosk (siehe aber Kapitel 3.2), Heuriger bezeichnet den Jungwein in Österreich sowie die Lokalität, in der er ausgeschenkt wird, Törggelen das Konsumieren von Jungwein mit Maroni und Speck in Südtirol, vgl. Variantenwörterbuch (Ammon [u. a.] 2004: s. v.). Das finanzielle Engagement für Kunst und Kultur des Schweizer Einzelhandelunternehmens Migros ist als Sachspezifikum nicht im Variantenwörterbuch verzeichnet, wohl aber auf Wikipedia nachzulesen.

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Abbildung 6: PAUL: Das plurizentrische Arbeits- und Lernheft (Zeichnung Ingo Faulstich)

Der Überblick in Kapitel 2 zeigt aber auch, dass die Plurizentrizität Fragestellungen bereithält, deren Antworten komplexer ausfallen. Das Fragenstellen als Möglichkeit einer intensiven Auseinandersetzung mit der Plurizentrik geht entsprechend über das Sensibilisieren für Varianten hinaus. Gefordert ist eine Auseinandersetzung auch mit der Funktion und der Kontextualisierung von Varietäten (vgl. Kap. 2.3). Um Fragen stellen zu können, bedarf es aber nicht zuletzt einer klaren Ausgangsbasis im Sinne einer einheitlichen Terminologie, einer konkreten Einordnung des linguistischen Konzepts und seiner Problemstellung. Rückmeldungen aus Aus- und Fortbildungsveranstaltungen zeigen, dass eine solche Grundlage einerseits noch nicht vorausgesetzt werden kann und erst erarbeitet werden muss, aber andererseits dankbar aufgenommen wird, da ein diffuses Verständnis vom amtlich deutschsprachigen Raum und seinen standardsprachlichen Varietäten dadurch Konturen annimmt und greifbarer wird. Als hilfreich bewährt haben sich die Unterscheidung von standardsprachlichen und nonstandardsprachlichen Varietäten (beispielsweise in der Unterscheidung zwischen Schweizer Hochdeutsch/Standarddeutsch und Schwyzerdütsch bzw. dem Bewusstmachen, dass der Terminus Schweizerdeutsch beides bedeuten kann und es dadurch häufig zu Verwechslungen und Missverständnissen kommt) sowie die Unterscheidung zwischen Varietät als System und Variante als Element (eine

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Unterscheidung, die zum einen deutlich macht, dass eine Varietät als vollwertiges System auch Konstanten enthält, und zum anderen durch den Terminus Variante der Ausdruck Besonderheit vermieden werden kann). Außerdem hat es sich bewährt, die standardsprachliche Varietät Deutschlands auch als eine nationale Varietät bewusst zu machen, sie vom Gemeindeutschen zu unterscheiden und nicht mit »dem Standarddeutsch« gleichzusetzen. Dass es zu einer solchen Gleichsetzung kommen kann, erklärt sich wiederum aus dem asymmetrischen Verhältnis, in dem Varietäten zueinander stehen. Fragen statt Antworten spielen auch in der Landeskunde als grundlegende Herangehensweise eine wichtige Rolle (vgl. Fischer 2007: 17), sie sind im DACHL-Prinzip29 zentral und wollen nicht zuletzt Klischees und Stereotype hinterfragen. Besonders gewinnbringend hat sich die Methode der Suchfragen (Müller 1994: 77 ff.) erwiesen, mit Hilfe derer zum Beispiel der Unterschied zwischen einer Trafik (A) und einem Kiosk (CH D)30 deutlich gemacht werden kann. Solche Unterschiede sind landeskundlich relevant. Aufgrund der Asymmetrie ist es verständlich, dass, bezogen auf die Varianten, Bedeutungsklärungen vor allem für Helvetismen und Austriazismen hilfreich sind, während Teutonismen grundsätzlich bekannter sind. Die Auseinandersetzung mit den asymmetrischen Verhältnissen wiederum bietet eine geeignete Ausgangslage für die Thematisierung machtpolitischer Diskurse: mehrheitsgesellschaftliche Aspekte können genauso thematisiert werden wie die Unterscheidung von »wir und die anderen«. Die Auseinandersetzung kann sowohl auf der Varietäten- als auch auf der Sprachebene geführt werden. In beiden Fällen bietet sie im Unterricht auch einen Anlass, auch andere Sprachen und Sprachvarietäten, die in der Lebenswelt der Lernenden eine Rolle spielen, zu thematisieren.

29 Das DACHL-Prinzip ist nachzulesen unter www.idvnetz.org/veranstaltungen/dachl-seminar/dachl-prinzip.htm. 30 »Eine […] Wortgleichung sagt gar nichts über die unterschiedliche Funktion, die dem Kiosk bzw. der Trafik etwa in Österreich (ein quasi halböffentlicher Status mit dem Verkauf von Behördenformularen und Stempelmarken zum Beispiel) und in Deutschland (oft auch mit kleinen Speisen und Getränken) zukommt und die gerade für den ausländischen Deutschlernenden besonders wichtig zu erfahren wäre. Auch der Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes hat ja andere Kompetenzen als der Landeshauptmann in Österreich.« (Krumm 1997: 136 f.)

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Fazit: Ökonomie und Ökologie

Die Plurizentrizität im Deutschen fordert Sprachenpolitik wie Didaktik heraus, das Thema sowohl von der ökonomischen wie von der ökologischen Seite her anzugehen (vgl. Coulmas 2002, Mühlhäusler 2005, zitiert nach Schmidlin 2011: 8, 30 ff.): Gerade weil die Funktion von Sprache über das Vermitteln von Informationen hinausgeht, haben sich trotz ökonomischer Sachzwänge, welche die Überwindung der sprachlichen Diversität als kommunikatives Hindernis gebieten würden, und trotz der Beschleunigung und Verbesserung der weiträumigen Kommunikation die Kultursprachen nicht völlig vereinheitlicht. […] Variation ist zwar auf den ersten Blick unökonomisch. Sie ordnet aber die sprachliche Ökologie durch ihr Potenzial zur sprachlichen Identifikation und sozialen Kohäsionsbildung und erweitert das Sprachsystem um zahlreiche Ausdrucksmöglichkeiten. (ebd. 40)

Im Kontext von Deutsch als Fremdsprache nennt Ammon (2008: 10) Gründe, die aus ökonomischer Sicht eine auswärtige Deutschförderung unterstützen und der auswärtigen Deutschförderung, auch wenn nicht explizit so benannt, sicherlich zu Grunde liegen.31 Gleichzeitig weist Ammon aber auch hin auf das mangelnde Bewusstsein in Bezug auf die internationale Stellung der deutschen Sprache sowohl in der deutschsprachigen Bevölkerung als auch unter Sprachexpertinnen und Sprachexperten: Im Hinblick auf entsprechende Maßnahmen sollte die Zusammenarbeit mit anderen Ländern internationaler Sprachen (außer dem Selbstläufer Englisch) angebahnt oder vertieft werden. In diesem Zusammenhang hilft diffuse Schwärmerei für Mehrsprachigkeit wenig, so leicht sich dadurch auch breite Sympathien erhaschen lassen. Nur bei Konzentration auf die verhältnismäßig wenigen internationalen Sprachen haben diese auf Dauer eine Chance des Erhalts ihrer Stellung neben Englisch. (Ammon 2011: 51)

Diese Aussage in Bezug auf Deutsch als Fremdsprache ist unbequem, zum einen, weil sie die ökonomische Motivation offenlegt, die sich hinter idealistischen Motiven sonst eher zurückhält, zum anderen, weil mit ihr auch Hinweise auf zahlreiche Versäumnisse verknüpft sind (ebd.). Selbstverständlich kann man einer auswärtigen Deutschförderpolitik im Sinne des postkolonialen Diskurses kritisch gegenüberstehen – sie entspricht jedoch der derzeitigen Politik sowohl Deutschlands wie Österreichs, und wenn sie nicht einvernehmlich geschehe, sei das Geld dieser Staaten fehlinvestiert, weil ihre Interessen nicht durch gemein31 Die genannten Gründe sind: »1) bessere Wirtschaftskontakte […] 2) Imageaufbesserung […] 3) kommunikative Vorteile […] 4) Verbreitung eigener Werte und Kultur […] 5) Gewinnung von ›Humankapital‹ […] 6) Aufwertung der eigenen Sprache […] 7) Selbstverstärkung der Aufwertung […] 8) Einnahmen aus der ›Sprachindustrie‹ […] 9) Identitätsstärkung […].« (Ammon 2008: 10)

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same Aktion gestärkt würden (ebd.). Damit wird jedoch auch die Sprache Deutsch genutzt, um eine Machtposition aufzubauen und zu reproduzieren. Zu bedenken ist, dass Vertreterinnen und Vertreter des Faches Deutsch als Fremdsprache immer auch Akteurinnen und Akteure und damit unweigerlich Teil von Sprachenpolitik sind: Fremd- und Zweitsprachenunterricht sind mit den Zielen und den Wirkungen der Sprachenpolitik unverbrüchlich verbunden. Sie erscheinen als ihre ausführenden Organe, als Agentur derselben; sie sind allerdings nicht automatisch und unausweichlich willfähriges und neutrales Organ; denn die Agenten nehmen aktiv an der Zielbestimmung, Feststellung, Ausgestaltung und Einschätzung der Wirkungen und Folgen der Sprachenpolitik teil. (Christ 2003: 104)

Ammon liegt mit seiner Vermutung sicherlich richtig, wenn er bei »Fremdsprachenexperten eine eher verhaltene Aufmerksamkeit in diese Richtung« konstatiert und dafür plädiert, »das Weltsprachensystem im Auge [zu] behalten« (2008: 24). All diese Überlegungen tangieren die Plurizentrizität des Deutschen: So besteht eine große Chance darin, zu berücksichtigen, dass Deutsch in mehreren Ländern Amtssprache ist – es wird dadurch unweigerlich »auf dem Markt« attraktiver. Handkehrum besteht bei fehlender Zusammenarbeit die Gefahr, dass genau dieses Potential nicht genutzt wird und eher gegeneinander gearbeitet wird. Zugleich muss berücksichtigt werden, dass ökonomische Stärke auch Macht bedeutet und vor dem Hintergrund der oben angesprochenen geschichtlichen Verhältnisse allein symbolisch heikel angesehen werden muss. Der plurizentrische Ansatz kann gerade in diesem Zusammenhang fruchtbar gemacht werden, um der symbolischen Konstruktion eines einheitlich normierten machtvollen Deutsch entgegenzuwirken. Eine Zusammenarbeit ist zum einen auf der internationalen Ebene erforderlich. Diesbezüglich sind die ABCD-Thesen von 1990 nach wie vor so grundlegend wie aktuell in ihren Forderungen. Die Zusammenarbeit der DACHL-AG unter der Schirmherrschaft des Internationalen Deutschlehrerinnen- und Deutschlehrerverbandes (IDV) ist ein gelungenes Beispiel für den notwendigen und fruchtbaren Austausch (vgl. www.dachl.eu). Darüber hinaus ist zum anderen eine Zusammenarbeit zwischen DaF-, DaZ- und DaM-VertreterInnen unbedingt erforderlich: Die Plurizentrik ist nicht ein Thema, das nur den DaFUnterricht betrifft. Im Gegenteil, DaF-Lehrende aus dem amtlich deutschsprachigen Raum sehen sich mit dem Thema häufig erst vor Ort konfrontiert und dann überrumpelt und überfordert (vgl. Ransmayr 2006) – eine Auseinandersetzung schon in der Schule würde sicherlich zu einem adäquateren Umgang im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache führen. In diesem Sinne ist das vom BMUKK lancierte Projekt »Lehr- und Lernmaterialien: Österreichisches

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Deutsch an Schulen« zu begrüßen: Erste Rückmeldungen der Lehrenden zeigen das große Interesse und den dringenden Bedarf einer solchen Zusammenarbeit (vgl. De Cillia / Ransmayr [im Druck]). Eine gezielte Zusammenarbeit in den genannten Bereichen bewirkt ein ökonomisches Vorgehen (vgl. Coulmas 1992) und garantiert durch die Zusammenarbeit von VertreterInnen aller standardsprachlichen Varietäten eine sprachliche Vielfalt. Wenn Mühlhäusler (zitiert nach Schmidlin 2011: 302) davon ausgeht, dass aus lebenspraktischen und pragmatischen Gesichtspunkten eigentlich gar kein Management nötig sei, so gehört doch eine entsprechende Bewusstmachung des »Öko-Systems deutsche Standardsprache« unbedingt zur Professionalisierung und damit in die DaF-, DaZ- und DaM-Curricula. Und sei es nur, um die Angst vor dem Thema zu nehmen und die Angst, die Lernenden damit zu überfordern. Am Ende ist es gar einfacher als zuerst angenommen? Das zumindest suggeriert folgender Witz, den mir ein Seminarteilnehmer aus Serbien erzählt hat: Drei Männer aus dem ehemaligen Jugoslawien treffen sich auf einen Kaffee. Als der Kellner fragt, was sie trinken möchten, bestellt – der Kroate einen kava, – der Serbe einen kafa und – der Bosniake einen kahva. Der Kellner ruft daraufhin in die Küche: ›Dreimal Espresso, bitte!‹

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Joachim Herrgen (Marburg)

Entnationalisierung des Standards. Eine perzeptionslinguistische Untersuchung zur deutschen Standardsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz

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Standardsprache als Varietät

Nicht nur der Begriff des Standards allgemein, sondern auch die spezifischen sprachlichen Merkmale des Standards im Deutschen werden in der Sprachwissenschaft seit Langem und intensiv und mit teils divergenten Positionen diskutiert (vgl. den Überblick bei Berruto 2004). Nicht zuletzt geht es bei dieser Diskussion auch um die Frage, mit welcher Methode ermittelt wird, welche Merkmale als ›standardsprachlich‹ zu gelten haben. Hier ist nicht der Raum, auf diese Diskussion in extenso einzugehen. Die begriffliche und terminologische Position des Verfassers (vgl. Herrgen 2010, Schmidt / Herrgen 2011: 59 – 63) soll nur in dem Umfang expliziert werden, wie es für die Argumentation im Folgenden wichtig ist. In der Forschung weitgehend konsensuell sind allgemeine Merkmale des Standards wie ›Überdachung vernakulärer Varietäten‹, ›H-Varietät und Schriftlichkeit‹, ›Kodifikation und Elaboration‹ (vgl. z. B. Auer 2005: 8). Wenn dann aber die Frage entschieden werden soll, wo sprachlich die Grenzen zwischen Standard und anderen Varietäten zu ziehen sind, was die weitere Frage impliziert, welches die sprachlichen Eigenschaften des/der Standards sind, so fällt die dann notwendige Operationalisierung der oben genannten sehr allgemein gehaltenen Merkmale je nach Forscherposition sehr unterschiedlich aus. Abgrenzungsfragen werden insbesondere dann virulent, wenn von der liebgewordenen Fiktion einer durch Kodifikation konstanten Standardsprache Abschied genommen wird und die Tatsache akzeptiert wird, dass auch die Standardsprache dynamisch ist. Diese Dynamik war jedoch nicht nur in der Vergangenheit, vor und in der Kodifizierungsphase, zu beobachten, sondern ist auch rezent trotz Kodizes beobachtbar. Einige Beispiele mögen dies illustrieren: – In der Phonetik/Phonologie die rezente Ersetzung des /ɛː/-Phonems durch das /eː/-Phonem (erkl/eː/ren, M/eː/dchen, S/eː/le ›Säle‹) – Lexikalische Innovation, z. B. durch Lexikalisierung von Neologismen, Integration von lexikalischen Entlehnungen, aber auch durch die Lexikalisierung

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von Phraseologismen (googeln, den Ball flach halten, Erkältung (< Verkühlung), Reißverschluss (< Zippverschluss)) – Syntaktische bzw. pragmalinguistische Dynamik zeigt sich z. B. in der Aufspaltung von Präpositionaladverbien im gesprochenen Standard, tendenziell aber auch in der Schrift (Da kann ich mich nicht mit identifizieren.). Ein anderes Beispiel wäre hier die Zunahme von Operator-Skopus-Konstruktionen (Versprochen morgen bekommen Sie Ihr Geld zurück.). Die Kodifikation des Standards bewirkt also nicht Stase, sondern allenfalls Entschleunigung der Veränderung: Auch der Standard ist dynamisch (vgl. schon Mathesius 1932: 17 mit seinem Begriff der ›flexiblen Stabilität‹ der Standardsprache). Insbesondere diese Tatsache der Dynamik des Standards, dann aber auch die Notwendigkeit, den Standard klar von Nonstandardvarietäten abzugrenzen, hat den Verfasser dazu geführt, Standard wie folgt zu definieren: Standardsprache heißt diejenige Vollvarieta¨ t, auf deren Literalisierungsnorm die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft ihre Makrosynchronisierung ausrichten. Die – nationalen – Oralisierungsnormen dieser Vollvarieta¨ t sind durch Freiheit von (kommunikativ) salienten Regionalismen gekennzeichnet (Schmidt / Herrgen 2011: 62).

Wenn Standardsprachen Vollvarieta¨ ten (im Unterschied zu sektoralen Varietäten, z. B. Fachsprachen) sind, so heißt das, dass sie durch eigenständige prosodisch-phonologische und morphosyntaktische Strukturen bestimmte Ausschnitte sprachlichen Wissens sind, auf deren Grundlage Individuen oder Sprechergruppen in bestimmten Situationen interagieren (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 68). Wenn Standardsprachen Gegenstand der Makrosynchronisierung (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 32 – 34) sind, so heißt das, dass der Standard eine Zielnorm darstellt, auf die die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich kommunikativ ausrichten. Wenn gesagt wurde, dass die Oralisierungsnormen der Vollvarieta¨t ›Standard‹ durch Freiheit von kommunikativ salienten Regionalismen gekennzeichnet sind, so ist dies erstens aus dem o. a. Definiens ›Überdachung vernakulärer Varietäten‹ abgeleitet: Standard ist per definitionem überregional. Zweitens aber ist dieses Kriterium auch empirisch abzuleiten: Eine ganze Reihe aktueller empirischer Studien zeigen, dass Gewährspersonen Sprachproben dann als ›standardsprachlich‹ bewerten, wenn sie durch Freiheit von salienten Regionalismen gekennzeichnet sind. So konnte beispielsweise Lameli rezent im Deutschen eine »perzeptive Grenze der Standardsprachlichkeit« (2004: 242) nachweisen, die bei dem sehr geringen Dialektalitätswert von D = 0,2 liegt. Das heißt, dass Sprecher eine Sprachprobe nur dann als ›standardsprachlich‹ einstufen, wenn höchstens in jedem fünften Wort ein regionalsprachliches Merkmal vorkommt (vgl. Figur 1).

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Monozentrik und Plurizentrik des Standards im Deutschen

Sprachliche Heterogenität ist nicht erklärungsbedürftig. Sie resultiert schon aus der Tatsache, dass die Menschen verteilt im Raum siedeln und niemals zu allen anderen Individuen sprachlichen Kontakt haben können. Dagegen ist sprachliche Einheitlichkeit, und sei es auch ›nur‹ die Herausbildung einer Standardsprache mit Überdachungsfunktion innerhalb eines hochdifferenzierten Systems von Varietäten und Sprechlagen einer Sprache, nicht per se vorhanden, sondern meist in einem historischen Prozess entstanden. Dieser Prozess ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Großgruppe von Sprecherinnen und Sprechern ihre Makrosynchronisierungsakte auf eine gemeinsame Norm ausrichtet. Was das Deutsche angeht, so war dieser Prozess bekanntlich von Anfang an polyzentrisch strukturiert – im Unterschied etwa zum Französischen – und er fand zunächst in der Schriftsprache statt. Schreibtraditionen von Kanzleien und Druckereien gingen in landschaftliche Schreibsprachen ein, die in einem langdauernden Ausgleichsprozess vereinheitlicht und am Ende zur neuen Norm wurden (vgl. Wegera / Waldenberger 2012: 75). Dieser Prozess umfasste, zeitlich gestaffelt, unterschiedliche Systemebenen vom Lexikon bis zur Grammatik. Eine Normierung der Oralität auf der Grundlage dieser neuen Norm entstand im Deutschen erst zuletzt (vgl. Siebs 1898: »Bühnenaussprache«). Zuvor hatten Sprachteilhaber auch in ihrer Oralisierung begonnen, sich an der neuen, literalen Norm auszurichten (vgl. hierzu Wiesinger 2000: 1933 f., Schmidt 2005). Auch dieser Prozess verlief polyzentrisch, jedoch im Unterschied zu dem schriftsprachlichen Ausgleichsprozess zunächst nicht mit dem Ergebnis einer einheitlichen Norm der Standard-Oralisierung. Im Gegenteil, »[b]ezogen auf die eine literale Norm der Standardvarietät des Deutschen gab es immer mehrere Oralisierungsnormen […] mit wechselndem Prestige und unterschiedlichen kommunikativen Geltungsbereichen.« (Schmidt / Herrgen 2011: 60) Zu nennen sind hier besonders die ostmitteldeutsche, norddeutsche, österreichische und Schweizer Oralisierungsnorm der Standardsprache (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 60 f.). Vor dem Hintergrund solcher von alters her polyzentrischen Strukturen war es zweifellos richtig, ältere monozentrische Vorstellungen aufzugeben, die hinsichtlich des Standards im Deutschen einen (deutschlandfokussierten) Unizentrismus ansetzen wollten (vgl. Moser 1985). Die weitere Diskussion hat hingegen dazu geführt, ein solches älteres Monozentrismuskonzept durch das von Clyne (1992) angeregte Plurizentrismus-Modell zu ersetzen (vgl. z. B. Ammon 1995, Schmidlin 2011). Allerdings macht auch das PlurizentrismusModell sehr weitreichende Annahmen, bei denen gefragt werden muss, ob sie von der Sprachrealität abgedeckt sind. Dies gilt insbesondere für die Tatsache, dass plurizentrische Strukturen mit Clyne als »national varieties« verstanden

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werden. Scheuringer (1997) hat dagegen gezeigt, dass polyzentrische Strukturen im Deutschen durchaus auch unter Verzicht auf nationale Engführungen beschrieben werden können. Zur Vermeidung nationaler Implikationen schlägt Scheuringer vor, für das Deutsche den Terminus »Pluriarealität« zu verwenden (zustimmend hierzu Glauninger 2013). Die Diskussion wird insbesondere innerhalb der österreichischen Germanistik mit einer gewissen, eher politisch als linguistisch motivierten Verbitterung geführt, was aber angesichts der relativ transparenten sprachlichen Fakten durchaus auch vermeidbar wäre: »Insgesamt scheint es sich angesichts der für Österreich allseits als gültig anerkannten standardsprachlichen Varianten nur um einen Streit um Definitionen zu handeln […]« (Wiesinger 2006: 208). Nationalistische Argumentationen sind in unserem Zusammenhang also völlig fehl am Platz. Nichtsdestoweniger waren die Nationen bei der Herausbildung der Oralisierungsnormen im Deutschen keineswegs irrelevant.1 Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass die entscheidenden Instanzen, die im 20. Jahrhundert für die Ausbreitung der Oralisierungsnormen der Standardsprache maßgeblich wurden, national organisiert waren. Es handelt sich hierbei um die öffentlich-rechtlich verfassten Rundfunk- und Fernsehanstalten. Ein Blick ins 19. Jahrhundert zeigt die entscheidende Differenz: Die Oralisierungskonventionen der literalen Norm im 19. Jahrhundert wurden im Wesentlichen durch die Institutionen Kirche und Schule verbreitet. Die Vermittlungsformen der Oralisierungskonventionen (besonders: Gottesdienst, Schulunterricht) waren jedoch von Face-to-Face-Kommunikation (»Mesosynchronisierung«) bestimmt und daher durch einen sehr begrenzten Verbreitungsradius gekennzeichnet. Zudem waren diese Vermittlungsformen durch eine Vielzahl von Einzelpersonen geprägt, den Lehrern und Pfarrern vor Ort. Diese lokalen ›Oralisierungsagenten‹ waren durch die ihre je eigenen sprachlichen System- und Registerkompetenzen gekennzeichnet und konnten daher keinen wirklich einheitlichen Einfluss auf die Oralisierungskonventionen nehmen. Entsprechend waren die dann entstehenden Oralisierungskonventionen zunächst regional geprägt (»Landschaftliches Hochdeutsch«). Alles dies änderte sich im 20. Jahrhundert. Dafür war weniger die Existenz einer Aussprachenorm ab 1898 (Siebs) verantwortlich. Denn auch diese Norm war ja zunächst ebenfalls noch auf eine Verbreitung in Face-to-Face-Kommunikation angewiesen. Der entscheidende Faktor war die Erfindung und faktische Realisierung der Massenmedien. Ab etwa 1930 ist von einer völlig veränderten Situation auszugehen: Die bald ubiquitären Massenmedien waren technisch prinzipiell in der Lage, ein und dieselbe Oralisierungsnorm in identischer Weise im Gesamtsendegebiet kommunikativ prä1 Dies gilt auch für die Herausbildung der modernen Regionalsprachen des Deutschen, die jedoch hier nicht Thema ist. Vgl. Schmidt / Herrgen (2011: 63 – 67).

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sent zu machen. In Deutschland war dies Siebs’ Bühnenaussprache. Die nun nicht nur auf dem Papier existente, sondern perzeptiv für jedermann verfügbare Oralisierungsnorm der Standardsprache wurde in der Folge auch ohne Face-toFace-Kommunikation zum Maßstab für die je eigene Sprachproduktion der Sprachteilhaber (»Makrosynchronisierung«). Hier kommt nun die Nation ins Spiel: Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war der Kommunikationsradius von Rundfunk und Fernsehen im Wesentlichen mit den nationalen Grenzen identisch. Insofern erfolgte die oben beschriebene Makrosynchronisierung der Oralisierungsnorm(en) dann eben auch national. Dies ist zwar kein primärer Effekt der Nation und hat auch mit nationalistischen Haltungen und Werten wenig zu tun, sondern es ist ein Sekundäreffekt der öffentlich-rechtlichen Struktur von Rundfunk und Fernsehen und auch ein Effekt der technischen Rahmenbedingungen bei terrestrischer Ausstrahlung der Programme. Der sprachliche Effekt war aber der, dass die sich nun in einheitlicher Weise ausbreitenden Oralisierungsnormen des Standards auf die jeweiligen Staatsgebiete beschränkt blieben. (Darin könnte dann eine gewisse Rechtfertigung von Clynes Plurizentrismus-Begriff gesehen werden.) Nach dem bisher Ausgeführten darf als gesichert gelten, dass im Deutschen mehrere Oralisierungsnormen des Standards vorliegen und dass die Geltungsbereiche dieser Oralisierungsnormen nationale Grenzen jedenfalls nicht überschreiten. Im Einklang mit der neueren Forschung liegt dem vorliegenden Wörterbuch die Konzeption des Deutschen als plurizentrische Sprache zugrunde. Von einer plurizentrischen Sprache spricht man dann, wenn diese in mehr als einem Land als nationale oder regionale Amtssprache in Gebrauch ist und wenn sich dadurch standardsprachliche Unterschiede herausgebildet haben. (Ammon 2004: XXXI)

Die Plurizentrik des Deutschen liegt demnach in seiner Verbreitung in den »nationalen Vollzentren« Deutschland, Österreich, Schweiz (auf diese Länder werde ich meine Untersuchung im Folgenden begrenzen) und den »nationalen Halbzentren« Belgien, Liechtenstein, Luxemburg und Südtirol (die hier außer Betracht bleiben) begründet (vgl. ebd.). Auch wenn die Oralisierungsnormen die Grenzen der Nationalstaaten in der Regel nicht überschreiten, so existiert jedoch innerhalb einer Nation mitunter mehr als eine Oralisierungsnorm, und zwar entsprechend großregionaler Gliederungen. Auch hier existieren Makrosynchronisierungsagenturen, etwa in Gestalt der regionalen Rundfunk- und Fernsehsender (z. B. Bayerischer Rundfunk vs. Norddeutscher Rundfunk). Die Tatsache, dass die deutsche Standardsprache – besonders im Bereich ihrer Oralisierung – über areal unterschiedliche Ausprägungen verfügt, heißt noch nicht, dass diese arealen bzw. nationalen Ausprägungen im Detail bekannt und anerkannt wären. Mehr noch: Der Beschreibung dieser areal differenten Aus-

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prägungen stellen sich prinzipielle, methodologisch bedingte Schwierigkeiten in den Weg. Diese liegen in dem Problem begründet, dass es zwar nicht schwierig ist, areal unterschiedlich distribuierte sprachliche Varianten des Deutschen zu erheben. Das Problem liegt aber darin, dass für diese Varianten nicht in jedem Fall klar ist, ob sie der Standardvarietät zuzurechnen sind oder ob es sich um regionalsprachliche Varianten des Deutschen handelt. Das methodologische Problem wird dadurch verschärft, dass an diesem Punkt sehr unterschiedliche wissenschaftliche Positionen erkennbar werden: Was hier als »Regionalstandard« bezeichnet wird und damit als Teil der Standardsprache, gilt dort als »Regionalakzent« und wird damit dem Nonstandard zugordnet (»Regionalsprache«). Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass nur eine Methodenkombination zu sicheren Ergebnissen führt: Es ist 1. notwendig, die areal/ national unterschiedlichen sprachlichen Inventare zu erheben und zu beschreiben. Und es ist 2. notwendig, die so erhobenen sprachlichen Einheiten unabhängig auf ihre Standardsprachlichkeit/Nonstandardsprachlichkeit zu testen. Was den ersten Schritt angeht, so waren derartige Erhebungen über lange Zeit Desiderat. Zuletzt war jedoch eine umfassende Forschungsaktivität zu beobachten, so dass wir nun wesentlich klarer sehen. (Vgl. Ammon 1995 und 2004, Berend 2005, Bürkle 1995, Christen 2010, Ehrlich 2009, Guntern 2009 a und 2009 b, Hove 2002, Kehrein 2012, König 1989, Muhr 2011, Scheuringer 2001, Schmidlin 2011, Spiekermann 2008, Wiesinger 1995, Wiesinger 2006. Außerdem gehören hierher die Projekte REDE, SiN und Deutsch heute mit ihren umfangreichen Datenerhebungen, die zurzeit in Auswertung befindlich sind.) Was den zweiten Schritt angeht, so existieren im Wesentlichen zwei unterschiedliche Verfahren: Die einen definieren Standard produktionslinguistisch, indem sie einen Sprachgebrauch dann als standardsprachlich verstehen, wenn er durch bestimmte Sprecher-/Situationsmerkmale gekennzeichnet ist (z. B. ›gebildete‹ Sprechende; ›öffentliche‹ Sprechsituation). Die Vertreter des anderen Verfahrens weisen darauf hin, dass mit einem solchen produktionslinguistischen Vorgehen zwar bestimmte Sprechlagen gegriffen werden, dass diese jedoch durchaus regionalsprachlich bestimmt sein können und als Standard nicht akzeptiert werden.2 Aus solchen Gründen wird von der anderen Seite dafür plädiert, die produktionslinguistisch ermittelten Varianten einem Perzeptionstest zu unterziehen, der zeigen soll, ob die ermittelten Varianten intendierter Standardsprache durch ›native speakers‹ überhaupt als ›Standard‹ angesehen/ak2 Beispiel: Eine exemplarische Unterrichtsstunde in der Lehrerausbildung in der Pfalz, bei der hospitierende Studienseminaristen den unterrichtenden Lehrer unterbrechen, weil die von ihm gewählte, subjektiv standardsprachliche Sprechlage für die Zuhörer die Verstehbarkeitsgrenze unterschreitet.

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zeptiert werden. Die prinzipielle Problematik von Erhebungen des Sprachgebrauchs ohne Ergänzung durch Perzeptionstests kann sehr knapp an Königs höchst verdienstvollem »Atlas der Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland« (1989) gezeigt werden (vgl. ausführlich Niebaum / Macha 2006, 158 – 161; Schmidt / Herrgen 2011: 266 – 272): In der Intention, ein realistischeres Bild der Aussprache des Standarddeutschen zu gewinnen, als es die kodifizierten Normen (vgl. Siebs 1898 et pass., Krech 1964 et pass., Duden 1969 et pass.) vermitteln und die geschulten, professionellen Sprecherinnen und Sprecher, die sich daran orientieren, erhebt König die standardorientierte ›Vorlesesprache‹ junger Akademiker (Freiburger und Augsburger Studierende beiderlei Geschlechts). Königs Informantenauswahl gewährleistet, dass die individuell je standardnächste Sprechlage erhoben wird: Es ist die höchste Sprachform, die in einem solchen Unternehmen praktisch noch erreicht werden kann, wenn man auf die Masse der Sprecher zielt (die sich der Hochsprache bedienen) und als Beschreibungsobjekt nicht eine kleine Gruppe von ausgebildeten Berufssprechern nimmt. (1989: Bd. 1, 32)

Die Sprachproduktion dieser jungen Akademiker stellt dann das Korpus des o. a. Atlasses dar. (»Gesprochener Standard ist das, was Studierende als Vorlesesprache produzieren.« (Schmidt / Herrgen 2011: 267)) Auf der Grundlage dieses Materials kann König ein in Teilen neues Bild der Oralisierung des Schriftdeutschen in der (alten) Bundesrepublik zeichnen. (So wird z. B. die Variante [ɪk] nun entgegen der kodifizierten Norm als Standardaussprache des Suffixes betrachtet.) So verdienstvoll und absolut bahnbrechend diese Arbeit Königs (vgl. auch Bürkle 1995, Berend 2005) ist, lautet die Frage aber doch, ob diejenigen Vorlesevarianten, die junge Akademiker produzieren, tatsächlich von den Sprachteilhabern insgesamt (oder aber: von welchen Sprachteilhabern, aus welcher Region?) als ›standardsprachlich‹ eingestuft werden. Dies ergibt sich aus Königs Erhebungsmethode keineswegs per se: Lameli (2004: 240 – 242) konnte zeigen, dass es eine perzeptive Grenze der Standardsprachlichkeit gibt, die sich nach dem Grad der phonetischen Normabweichung ergibt und nicht aus der Tatsache, ob Sprechende Standardsprachlichkeit intendieren oder nicht. Ebenso konnte Jochmann (2000: 95 f., 183 – 185) belegen, dass die kodifizierte Standardnorm bei Perzeptionstests hohe Akzeptanz genießt, und zwar völlig unabhängig von der Region, aus der die Beurteiler stammen.

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Figur 1: Die perzeptive Grenze der Standardsprachlichkeit (Lameli 2004: 242)

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Eine perzeptionslinguistische Untersuchung zur Oralisierungsnorm der Standardsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Die zuletzt angedeuteten Probleme eines rein produktionslinguistischen Ansatzes haben den Verfasser dazu geführt, die Frage nach den Oralisierungsnormen des Standards in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit perzeptionslinguistischen Methoden anzugehen. Solche Methoden wurden auch in der Vergangenheit nur vereinzelt angewendet (vgl. Preston 1982, Mattheier 1983, Herrgen / Schmidt 1985, Diercks 1988, Lenz 2003, Lameli 2004), kommen aber besonders in der Gegenwart immer häufiger und systematischer zur Anwendung. (Vgl. Anders 2010, Purschke 2012, Kehrein 2012. Vgl. auch das Kieler Projekt ›Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien. Wahrnehmungsdialektologische Grundlagenforschung und die Rekonstruktion von Laienkonzeptualisierungen zur deutschen Sprache.‹). Sie stellen den Versuch dar, die Aporien einer nur behaupteten Norm – sei sie nun rigider oder weniger rigide – zu vermeiden und zu einem sicheren Fundament für die Entscheidung der Frage zu gelangen, welche sprachlichen Formen bei den Sprachteilhabern normativen Rang genießen und welche nicht. Für die aktuelle Regionalsprachenforschung kann vor dem Hintergrund einer solchen methodologischen Neuausrichtung ein grundlegender Perspektivwechsel diagnostiziert werden: Nicht mehr allein die Emittentenrolle, sondern die bei den Sprachteilhabern zu beobachtende Wahrnehmung und Konzeptualisierung regionalsprachlicher Variation wird Ausgangspunkt der Analyse. In diesem Zusammenhang ist auch von ›Wahrnehmungsdialektologie‹ und ›Perzeptionsgeographie‹ gesprochen worden.

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Auch was die Standardsprache in ihrer arealen und nationalen Differenziertheit angeht, sind schon perzeptionslinguistische Methoden angewendet worden, und zwar in Schmidlin (2011). Schmidlins Arbeit bietet eine umfassende Darstellung zur rezenten Plurizentrik des Deutschen, und zwar zunächst einmal, was den Stand der plurizentrischen Lexikographie angeht. Schmidlin untersucht u. a. die plurizentrische Variation in der Mediensprache, wobei eine aufwändige Reanalyse des Textkorpus’ des Variantenwörterbuchs des Deutschen (Ammon 2004) vorgenommen wird. Darüber hinausgehend legt Schmidlin auch eine aufwändige Analyse subjektiver Daten vor. Grundlage ist hier eine Internetbefragung von 908 Gewährspersonen aus dem gesamten deutschen Sprachgebiet (mit starkem Schwerpunkt auf der Schweiz). Im Zuge dieser Erhebung subjektiver Daten (vgl. Schmidlin 2011: 286 f.) wurden die GP u. a. »gefragt, wo und von wem das beste Hochdeutsch gesprochen und geschrieben werde. Der Norden Deutschlands und Deutschland insgesamt sowie ›Frage unbeantwortbar‹ […] besetzen die drei häufigsten Antworten.« Und weiter: In Bezug auf die gesprochene Standardsprache ist ›Norddeutschland‹ die häufigste Nennung, in Bezug auf die geschriebene Standardsprache ist es ›Frage unbeantwortbar‹. Aber immer noch 25 % aus A, 42 % aus CH und 55 % aus D sehen das beste geschriebene Hochdeutsch in Deutschland, Norddeutschland oder Mitteldeutschland. (ebd.)

Die Verfasserin zeigt sich von den Daten überrascht, widersprechen sie doch dem in der Linguistik seit geraumer Zeit favorisierten plurizentrischen Modell: »Die [bei den GP; JH] am meisten verbreitete Auffassung über die Varietäten des Deutschen entspricht also eindeutig dem monozentrischen Modell […]« (ebd.: 287). Schmidlin weist nun darauf hin, dass die empirischen Daten darauf hindeuten, die Landesgrenzen als starke kognitive Grenzen ernst nehmen zu müssen. (vgl. ebd.: 245) »Die Wichtigkeit der Landesgrenzen als pragmatische und kognitive Grenze darf als bemerkenswerter Befund hervorgehoben werden, welche im Zusammenhang mit den Standardvarietäten des Deutschen erstmals in dieser Deutlichkeit und erstmals auf einer breiten empirischen Basis nachgewiesen werden kann.« (ebd.: 297) Problematisch erscheint dem Verfasser dann allerdings Schmidlins (2011: 296) Interpretation dieser Daten: Die standardsprachliche Geltung der im Fragebogen gewählten, lexikographisch notabene als standardsprachlich akzeptierten Varianten wird allgemein tief eingeschätzt. Besonders Austriazismen und Helvetismen werden von den GP […] in ihrer Standardsprachlichkeit unterschätzt. Anhand der tiefen Einschätzung der Standardsprachlichkeit von Varianten durch die GP zeigt sich, dass die in der Linguistik und Lexikographie akzeptierte Plurizentrik des Deutschen mehrheitlich nicht in die Köpfe der Sprecherinnen und Sprecher vorgedrungen zu sein scheint. Aus der schwachen normativen Akzeptanz plurizentrischer Varianten kann geschlossen werden, dass die Standardideologie und damit ein monozentrisches Standardkonzept immer noch stark verbreitet sind.

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Die Verfasserin akzeptiert mit dieser Argumentation die Informantenurteile nicht etwa als eigenständige Datenklasse, sondern bewertet diese Urteile vom Standpunkt einer vorgängigen Faktengewissheit: Die GP ›unterschätzten‹ die durch die Verfasserin zuvor schon festgestellte Standardsprachlichkeit sprachlicher Formen. Sie zeigten gar falsches Bewusstsein, indem sie einer ›Standardideologie‹ anhingen, die die Linguistik doch überwunden hat. Es ist Schmidlin sehr zu danken, dass sie die Plurizentrik der deutschen Standardsprache so umfangreich aufgearbeitet und sogar perzeptionslinguistische Daten erhoben hat. Es ist jedoch aus der Sicht des Verfassers notwendig, sowohl »objektive« als auch »subjektive« Daten als je eigenständige Datenklassen zu akzeptieren. Die Sprecher-/Hörerkognition stellt eine eigenständige Erkenntnisquelle dar, die von der Forschung unabhängig genutzt und dann auf Produktionsdaten bezogen werden kann. Es hieße, die Erkenntnisquelle Sprecherkognition zu verschenken, wenn sie durch den Forscher als korrekte oder aber ideologische Widerspiegelung der sprachlichen Strukturen gesehen würde. Stattdessen stellt die Sprecherkognition eine eigenständige linguistische Datenebene dar. So gesehen kann zunächst festgehalten werden, dass die von Schmidlin befragten GP durchaus nicht allen in D, A und CH vorhandenen, vorgeblich standardsprachlichen Formen den gleichen Status zuweisen. Die Standardsprachlichkeit von Austriazismen und Helvetismen wird von den GP geringer eingeschätzt als die der bundesdeutschen Varianten. Ob hierin ein überholter Monozentrismus nachwirkt oder ob sich neue, supranationale Bewertungsmuster aufbauen, wird durch die Forschung zu untersuchen sein. Die vorliegende Untersuchung ist konsequent perzeptionslinguistisch angelegt: In Deutschland, Österreich und der Schweiz werden jeweils Hörerurteile von Sprachproben erhoben, die ihrerseits ebenfalls aus Deutschland, Österreich und der Schweiz stammen und sich nach dem Grad ihrer Dialektalität deutlich unterscheiden (von sehr standardnah bis tief dialektal). Die GP der Hörerurteile – Studierende aus Deutschland, Österreich und der Schweiz – beurteilen die auditiv präsentierten Sprachproben nach dem Grad ihrer Standardsprachlichkeit. Es kann mit einem solchen Forschungsdesign festgestellt werden, wie GP aus den in Rede stehenden Ländern Sprachproben hinsichtlich ihrer Standardsprachlichkeit einstufen. Es kann überprüft werden, ob die Tendenz besteht, bestimmte Sprachproben länderübergreifend als besonders standardnah zu beurteilen. Auch kann festgestellt werden, ob sogenannte Näheeffekte auftreten, d. h., dass GP die ihnen räumlich oder national näher stehenden Sprachproben signifikant anders bewerten als solche Sprachproben, die räumlich oder national ferner stehen. Bei Untersuchungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland konnten solche Näheeffekte nicht beobachtet werden: Die Beurteilung der Dialektalität bzw. Standardsprachlichkeit von Sprachproben aus verschiedenen Regionen

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Deutschlands war völlig unabhängig von der regionalen Herkunft der bundesdeutschen Beurteiler (vgl. Figur 2). Dieses Ergebnis entspricht den Vorhersagen der Sprachdynamiktheorie: Theoretisch müssten die […]beurteilungen im gesamten Geltungsbereich einer Oralisierungsnorm identisch sein, da die massenmedialen »Normierungsagenturen« einen im Wesentlichen übereinstimmenden Bezugspunkt für die Makrosynchronisierungen bieten. Empirisch lässt sich zeigen, dass dies tatsächlich der Fall ist: Ob und wie stark eine Sprachprobe von der standardsprachlichen Oralisierungsnorm abweicht, wird von bayerischen, mitteldeutschen und norddeutschen Hörergruppen weitgehend identisch beurteilt. (Schmidt / Herrgen 2011: 62)

Es wird zu prüfen sein, ob eine solche Unabhängigkeit auch dann gilt, wenn nationale Grenzen überschritten werden. Denn nach den Vorhersagen der Sprachdynamiktheorie sollten hier andere Verhältnisse herrschen, da der Makrosynchronisierungsraum überschritten wird.

Figur 2: Hörerurteile: Sprachproben bundesdeutscher Gewährspersonen (Kehrein 2012: 323) [0 = Pol »reines Hochdeutsch«; 6 = Pol »tiefster Dialekt«]

Der hier durchgeführte Hörtest3 bestand darin, 8 Sprachproben (durchschnittliche Dauer pro Sprachprobe: 20,5 Sekunden) aus Deutschland, Österreich und der Schweiz durch GP beurteilen zu lassen (vgl. Tabelle 1). Bei diesen 3 Die Erstellung und Durchführung des Hörtestes war nur möglich, weil eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen mir dabei sehr freundlich geholfen haben. Diese Hilfen bestanden in der Überlassung von Sprachproben, in der Testkonstruktion, in der lokalen Durchführung der Tests und in der Auswertung. Ich danke herzlich Helen Christen, Manuela Guntern, Tim Kallenborn, Matthias Katerbow, Roland Kehrein, Alexandra Lenz, Philipp Spang und Rico Stiel!

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Sprachproben handelte es sich einmal um drei sehr standardnahe Texte geschulter professioneller Sprecher (Nachrichtensprecher D: ARD, A: ORF, CH: DRS). Des Weiteren enthält der Test gesprochene Texte, die als »intendierte Standardsprache« einzustufen sind. Diese Texte junger AkademikerInnen (Herkunftsorte D: Trostberg, A: Feldkirchen, CH: Sattel) sind standardorientiert, weisen jedoch eine Reihe von regionalsprachlichen Merkmalen auf. Zuletzt waren auch noch zwei Dialekttexte Bestandteil des Hörtests. Diese Texte hatten den Zweck der ›Skaleneichung‹, d. h. die Beurteilenden sollten Stimuli aus dem gesamten regionalsprachlichen Spektrum hören. Hätte man ausschließlich Stimuli aus dem standardnahen Bereich präsentiert, so hätte die Gefahr bestanden, dass die GP eine ›Skalenspreizung‹ vornehmen, d. h. schon geringe regionalsprachliche Einflüsse tendenziell in Richtung auf ›dialektal‹ bewerten. Die Sprachproben wurden zunächst IPA-transkribiert und dann einer Dialektalitätsmessung4 nach Herrgen / Schmidt unterzogen. Die IPA-Transkripte befinden sich im Anhang unter 5.2. Die ermittelten D-Werte sind unten in Tabelle 1 eingetragen. Die Spannweite der erhobenen Dialektalitätswerte reichte von 0,15 (Standard geschulter Sprecher) bis zu 2,03 (Basisdialekt). Diese Sprachproben aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden zu Beginn des Jahres 2012 insgesamt 221 GP (Marburg: 84 GP, Wien: 112 GP und Freiburg/Fribourg: 25 GP) auditiv präsentiert. Diese Präsentation erfolgte über Lautsprecher im Rahmen von Lehrveranstaltungen. Die GP wurden gebeten, die jeweilige Sprachprobe hinsichtlich ihrer Nähe oder Abweichung von der Standardnorm zu beurteilen. Dies geschah mittels siebenstufiger Likert-Skalen (vgl. Anhang 5.1). Gemessen wird mit einem solchen Verfahren die sog. HörerurteilDialektalität, d. h. der »Grad, in dem arealsprachliche Merkmale von Sprechern/ Hörern als arealsprachlich von der Standardsprache abweichend eingestuft werden […]« (Herrgen / Schmidt 1985: 21). Die Pole der siebenstufigen Rating-Skalen, die den GP vorgelegt wurden, waren als »reines Hochdeutsch« bzw. »tiefster Dialekt« bezeichnet. Bei den GP handelte es sich um MuttersprachlerInnen des Deutschen, und zwar um Studentinnen und Studenten mit dem Durchschnittsalter 23 Jahre. Diese Hörerurteile wurden in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Marburg, Wien, Freiburg/Fribourg) erhoben, so dass ggf. Beurteilungsspezifika, die die unterschiedlichen Staaten prägen, festgestellt werden können. Die Auswertung geschah zuerst statistisch deskriptiv. Um die Signifikanz/Nicht-Signifikanz von quantitativen Differenzen zwischen Stich-

4 Es kam das Dialektalitätsmessverfahren nach Herrgen / Schmidt (1989) zum Einsatz (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 222 f., bes. auch Fn. 167). Die Messung wurde mittels des automatisierten Programms »Phonetische Abstandsmessung (PAM)« durchgeführt, das durch Björn Lüders entwickelt wurde und kostenfrei im Internet heruntergeladen werden kann (http://www.mpiorn.de/pam/).

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Entnationalisierung des Standards

proben beurteilen zu können, wurde des Weiteren ein t-Test für abhängige Stichproben durchgeführt (Paired-Samples t-Test in SPSS). Sigle

Sprachprobe Sprecher/Sprecherin

S-D

Standard geschulter Sprecher

S-A S-CH IS-D IS-A

Standard geschulter Sprecher Standard geschulter Sprecher Intendierter Standard Intendierter Standard

Herkunftsort

Dialektalitätswert (D-Wert)

ARD-Nachrichtensprecher –

0,15

ORF- Nachrichtensprecher –

0,86

DRS- Nachrichtensprecher –

0,83

Junger Sprecher

Trostberg

1,16

Junge Sprecherin

Feldkirchen (Donau)

0,68

IS-CH

Intendierter Standard

Junge Sprecherin

Sattel (Schwyz) 1,63

Di-D

Dialekt

Ältere Sprecherin

WaldshutTiengen

1,74

Di-CH Dialekt Älterer Sprecher Luzern 2,03 Tabelle 1: Sprachproben und Dialektalitätswerte (Erhebung Herrgen 2012)

Zu den Ergebnissen des Hörtests (Hörerurteil-Dialektalität), wie sie sich in Figur 3 ablesen lassen: Ich betrachte zunächst die Hörerurteile insgesamt, also ohne danach zu unterscheiden, ob die Beurteilenden aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz kommen. Hinsichtlich der Gesamtverteilung ist zunächst zu sagen, dass die Skala fast vollständig ausgenützt wird, d. h., die Beurteilenden rücken eine Sprachprobe (Standard geschulter Sprecher D) mit einem Wert von 0,36 in die Nähe des Pols »reines Hochdeutsch«, zwei Sprachproben (Dialektproben aus D und CH) werden hingegen nahe dem anderen Pol der Skala als »tiefster Dialekt« eingestuft. Die anderen Sprachproben (Standard geschulter Sprecher aus A, CH und intendierter Standard aus D, A, CH) erreichen Zwischenwerte auf der Skala (1,23 – 3,57). Hierbei fällt auf, dass die Skalen ›Hörerurteil‹ (Figur 3) und ›phonetischer Abstand zur Standardsprache‹ (Dialektalitätswert, Tabelle 1) parallel verlaufen. Diese Parallelität entspricht den bisherigen Ergebnissen der Forschung: Kehrein (2012: 330; vgl. auch Lameli 2004: 126) konnte zeigen, dass »[z]wischen der gemessenen phonetischen Dialektalität und der wahrgenommenen Dialektalität der Sprachproben […] eine hohe positive Korrelation […]« besteht. Der zunehmende phonetische Abstand einer Sprachprobe von der Standardsprache (Dialektalitätswert) führt also bei den Beurteilenden dazu,

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diese Sprachproben auch in steigendem Maße als standardabweichend zu bewerten. Die Frage ist aber nun, welchen Sprechlagen bzw. Varietäten die GP bestimmte Sprachproben zuordnen. D. h. es ist zu klären, wie die hier erhobenen, in Figur 3 abgebildeten Hörerurteile zu interpretieren sind. Wir sind nun in der glücklichen Lage, dass unsere Analyse sich auf gesicherte Erkenntnisse der variationslinguistischen Forschung stützen kann: Lenz (2003: 255 – 262) hat sprechlagenbezogene Hörerurteile erhoben, und zwar mit derselben Methode wie der hier verwendeten. Auch Lameli (2004: 124 – 135) hat sprechlagenbezogene Hörerurteile detailliert erhoben und sorgfältig interpretiert. Die Analyse der hier erhobenen Werte im Lichte dieser vorliegenden Forschung ergibt das Folgende: Bemerkenswert ist zunächst, dass die Beurteiler einzig die Sprachprobe des geschulten Standardsprachesprechers aus Deutschland als ›Standardsprache‹ (0,36) bewerten (Figur 3 und Tabelle 2). Die Sprachproben der geschulten Standardsprachesprecher aus Österreich und der Schweiz werden hingegen als ›Regionalakzent‹ (1,23 – 1,26) bewertet. Die intendierte Standardsprache der jungen SprecherInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wird sogar als ›Regionaldialekt‹ (1,68 – 3,57) bewertet.5 Diese sehr rigiden Bewertungen lassen keinesfalls den Schluss zu, dass bei den Sprechenden eine Liberalisierung bzw. Aufweichung der Standardnorm im Gange sei. Im Gegenteil, nur hohe Normnähe wird durch die jungen Beurteilenden als ›Standard‹ akzeptiert. Der beträchtliche Aufwand einer vergleichenden Erhebung der standardbezogenen Hörerurteile in drei Staaten wurde nicht unternommen, um undifferenziert eine Gesamteinschätzung zu erheben. Was uns interessiert, sind gerade mögliche Differenzen der Hörerurteile in den drei untersuchten Staaten. Dies ist besonders deshalb interessant, weil frühere Untersuchungen von Hörerurteilen innerhalb der Regionen ein- und desselben Staates dabei keine regionalspezifisch differenten Hörerurteile (»Näheeffekte«) ergeben hatten (vgl. Kehrein 2012: 323). Um ein erstes wichtiges Ergebnis vorwegzunehmen: Solche Näheeffekte zeigen sich in unserer Studie durchaus! Die Ergebnisse sind in Figur 4 zusammengetragen, wobei nun hier für die Beurteilergruppen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz je unterschiedliche Graphen eingetragen wurden (vgl. auch Tabelle 2 zu den Werten im Einzelnen). Um festzustellen, ob die in D, A und CH auftretenden Hörerurteilsdifferenzen statistisch signifikant sind, wurden Signifikanztests durchgeführt (SPSS: t-Test mit zweiseitiger Signifikanz). Keine signifikanten Differenzen zwischen den drei Subsamples (Beurteilende aus D, A, CH) zeigen sich hinsichtlich der Beurteilung 5 Der Wert für die intendierte Standardsprache der jungen Österreicherin liegt dabei relativ nah am Wert für den Regionalakzent. Die vorliegende Forschung zeigt jedoch, dass es sich hier noch um eine Bewertung als (Regional-)Dialekt handelt (Vgl. Lameli 2004: 131).

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Figur 3: Hörerurteile (gesamt): Sprachproben aus D, A, CH (Erhebung Herrgen 2012) [0 = Pol »reines Hochdeutsch«; 6 = Pol »tiefster Dialekt«]

der dialektalen Proben (Di-D und Di-CH), weshalb diese Proben – die ja ohnehin nur zur ›Skaleneichung‹ in den Test aufgenommen wurden – im Folgenden außer Betracht bleiben sollen. Deutliche Näheeffekte zeigen sich aber bei der Beurteilung der Sprachproben ›intendierte Standardsprache‹ (IS-A, IS-D, IS-CH) durch unterschiedliche Beurteilergruppen. Schon ein Blick auf Figur 4 zeigt hier ein bemerkenswertes »crossover pattern« (Labov 1972: 114 f.): Die Wiener Beurteiler halten die Schweizer Probe für sehr viel dialektaler als die Beurteiler aus Fribourg. Umgekehrt halten die Beurteilenden aus Fribourg die österreichische Probe für sehr viel dialektaler als die Beurteilenden aus Wien. Dem entspricht, dass die Bewertungsdifferenzen der Subgruppen hinsichtlich der österreichischen und der Schweizer Probe auch hochsignifikant sind. In ähnlicher Weise sind auch die Beurteilungen des Standards geschulter Sprecher, der durch die Nachrichtensprecher in Österreich und der Schweiz realisiert wird (S-A, S-CH), je nach Subsample (D, A, CH) stark different (signifikant bis hochsignifikant), worauf schon die deutlich unterschiedlichen Graphen in Figur 4 hinweisen. Festzuhalten ist demnach, dass in der internationalen Studie, über die hier berichtet wird, im Unterschied zu vorliegenden Studien zur Hörerurteil-Dialektalität (Lenz 2003, Lameli 2004, Kehrein 2012) durchaus Näheeffekte zu beobachten sind. Dieses Ergebnis ist jedoch gut er-

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klärbar, wenn man bedenkt, dass die grundsätzliche Anlage der Untersuchungen eben areal eine vollständig andere ist. Handelte es sich zuvor um zwar regional differente, aber ansonsten intra-nationale Studien, so wurden mit der vorliegenden Erhebung bewusst die Grenzen der Nationalstaaten überschritten; die Studie ist inter-national angelegt. Entsprechend der Sprachdynamiktheorie (Schmidt / Herrgen 2011) heißt das, dass die o. a. Vergleichsstudien Hörerurteile innerhalb ein- und desselben ›Makrosynchronisierungsraums‹ erhoben haben, was bedeutet, dass dort eine einheitliche Oralisierungsnorm existiert und insofern Näheeffekte weder zu erwarten waren noch empirisch gezeigt werden konnten. Die vorliegende Studie hat Hörerurteile zu Sprachproben erhoben, die unterschiedlichen ›Makrosynchronisierungsräumen‹ zuzuordnen sind. Das bedeutet, dass unterschiedliche Oralisierungsnormen – nämlich eine deutsche, eine österreichische und eine Schweizer – existieren und deshalb Näheeffekte sowohl zu erwarten waren, als auch empirisch gezeigt werden konnten.

Figur 4: Hörerurteile im Vergleich: Sprachproben aus D, A, CH in der Bewertung von Beurteilenden aus D, A, CH (Erhebung Herrgen 2012) [0 = Pol »reines Hochdeutsch«; 6 = Pol »tiefster Dialekt«]

Sprachprobe D-Wert (phonet. Abstand)

S-D 0,15

S-A 0,86

S-CH 0,83

IS-D 1,16

IS-A 0,68

IS-CH 1,63

Di-D 1,74

Di-CH 2,03

Hörerurteile: Gesamt 0,36 1,23 1,26 2,43 1,68 3,57 5,27 5,58 D (Marburg) 0,30 2,31 1,88 3,14 2,73 4,26 5,34 5,73 CH (Fribourg) 0,29 0,92 1,21 2,46 1,67 1,79 5,21 5,17 A (Wien) 0,42 0,54 0,83 1,91 0,93 3,41 5,21 5,54 Tabelle 2: Sprachproben aus Deutschland, Österreich und der Schweiz: D-Werte und Hörerurteile

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Gerade vor dem Hintergrund dieser Tatsache ist zuletzt aber noch auf das erstaunlichste Ergebnis der vorliegenden Untersuchung einzugehen, das empirisch völlig eindeutig ist, so jedoch nicht erwartet wurde. Es handelt sich um die Beurteilung der Sprachproben der geschulten Sprecher. Zunächst zum Nachrichtensprecher aus Deutschland (S-D). Hier ist zweierlei festzuhalten: Erstens wird diese Probe mit einem Wert von 0,36 mit Abstand am standardnächsten eingeschätzt (vor der österreichischen Probe mit 1,23). Was aber in unserem Zusammenhang noch erstaunlicher ist: Es zeigen sich hinsichtlich dieser bundesdeutschen Probe keinerlei Näheeffekte! Beurteilungsdifferenzen zwischen der Marburger, Wiener und Freiburger Gewährspersonen bestehen zwar (0,30 – 0,29 – 0,42), sie sind aber in keinem Fall signifikant. Mit anderen Worten: Die Beurteiler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sind sich völlig einig, dass die deutsche Probe diejenige ist, die dem standardsprachlichen Pol am nächsten kommt. Es scheint sich in diesem Ergebnis ein Wechsel der Zielnorm sprechsprachlicher Makrosynchronisierung anzudeuten, und zwar in Richtung auf den bundesdeutschen Standard. Die Zielnorm ›gesprochene Standardsprache‹ wird offenbar in den drei verglichenen Ländern materiell durch ein Konzept ›bundesdeutscher Standard‹ ausgefüllt. Bemerkenswert ist dann zum Zweiten die Beurteilung der Sprachprobe S-A, d. h. dem Standard geschulter Sprecher aus Österreich. Die Beurteilenden aus Österreich (im Unterschied zu den Beurteilenden aus D und CH) akzeptieren diese Sprachprobe genau wie die bundesdeutsche Sprachprobe als »reines Hochdeutsch«. Mit anderen Worten: Für Österreich existieren offenbar zwei alternative Oralisierungsnormen, die in gleicher Weise akzeptiert werden: ein österreichischer und ein bundesdeutscher Standard. Anders dann bei der Schweizer Probe: Die Probe wird von allen Beurteilenden auf einem Niveau eingeschätzt, das dem eines Regiolekts entspricht. D. h., die Beurteiler kommen zwar in der Tendenz zu unterschiedlichen Einstufungen, jedoch wird die Probe selbst von den Schweizer Beurteilenden nicht als ›reiner Standard‹ klassifiziert. Offenbar orientiert sich die Oralisierungsnorm des Standards in der Schweiz klar an der bundesdeutschen Norm.

4

Plurizentrik, Monozentrik, Transnationalität

Bemerkenswert an den oben ausgebreiteten Ergebnissen ist insbesondere, in wie hohem Maße die bundesdeutsche Sprachprobe eines geschulten Standardsprachesprechers von allen Beurteilern, ob nun aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz, als ›reines Hochdeutsch‹ akzeptiert wird. Dieses Ergebnis steht nicht allein; auch andere Forscher sind zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen. Ammon (1985: 484 – 499) spricht von »Asymmetrien zwischen den nationalen Sprachzentren«, die darin gesehen werden, dass die bundesdeutschen Varianten

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die anderen dominierten. Muhr (2011: 4) konstatiert beispielsweise eine »Asymmetrie zum Bundesdeutschen als der D(ominierenden) [!] Variante«. Und Schmidlins sorgfältig erhobene Ergebnisse zur Lexik sprechen eine ähnliche Sprache. »Besonders Austriazismen und Helvetismen werden von den GP […] in ihrer Standardsprachlichkeit unterschätzt.« (Schmidlin 2011: 296) In eine ähnliche Richtung deuten Wiesingers aktuelle Erhebungen zu lexikalischen Entwicklungen in Österreich, die von einer zunehmenden Dominanz des bundesdeutschen Wortschatzes geprägt sind. Was die Oralisierungsnorm angeht, so ist die Frage, wie die hier beobachteten Tendenzen weg von einem national fundierten Plurizentrismus zu erklären sind. In der Sprachdynamiktheorie wurde die Tatsache, dass Oralisierungsnormen deckungsgleich mit Staatsgrenzen sind, auf die nationalen Verbreitungsgebiete von Rundfunk und Fernsehen zurückgeführt: Dass hier tatsächlich Staatsgebiete zur relevanten Größe für die Mündlichkeit der Standardvarietät werden konnten, hängt natürlich in erster Linie damit zusammen, dass über Jahrzehnte der Kommunikationsradius der entscheidenden »Normierungsagenturen«, der (halbstaatlichen) Rundfunk- und Fernsehanstalten, in etwa mit den Staatsgrenzen zusammenfiel. In der Mündlichkeit bezieht sich Überregionalität demnach auf den Geltungsbereich der drei nationalen Oralisierungsnormen. (Schmidt / Herrgen 2011: 61)

An diesem Punkt muss die Sprachdynamiktheorie wohl aufgrund der veränderten Medienlandschaft der Gegenwart fortgeschrieben werden. Denn längst operieren die Massenmedien nicht mehr national. Seit Einführung des Satellitenfernsehens Anfang der 1990er Jahre sind die deutschen Fernsehsender in jedem österreichischen Haushalt, in dem ein Fernseher steht, präsent. Damit ist eine neue Sprachkontaktsituation gegeben, die es bis dahin nicht gegeben hat. Das Ergebnis ist ein schleichender Sprachwandel, der ständig zunimmt […] (Muhr 2011).

Tatsächlich ist für die Gegenwart zu beobachten, dass die entscheidenden Massenmedien sich immer stärker entnationalisieren. Kabel-, Satelliten- und Digitales Fernsehen sind nicht mehr auf terrestrische Distributionswege angewiesen und distribuieren ihre Produkte transnational. Die Werbung, das Fernsehen, die Filmindustrie einschließlich der Synchronstudios u. a. verzichten in ihren Produktionen auf nationale Anpassungen. Die ›Neuen Medien‹, insbesondere das Internet, operieren global statt national. Es ist also in Rechnung zu stellen, dass für das Deutsche eine neue Phase der Standardnorm begonnen hat. Entwickelte sich ab 1700 eine literale Norm mit landschaftlichen Oralisierungen, kam es dann ab 1930 zu nationalen Oralisierungsnormen aufgrund der Herausbildung nationaler Rundfunk- und Fernsehmedien, so stehen wir in der Gegenwart, d. h. seit etwa 1990, vor der Entnationalisierung der Massenmedien

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und damit vor einer Entnationalisierung der Oralisierungsnormen. Glauninger (2013) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Sprachwissenschaft gut beraten ist, ihre Augen nicht vor den empirischen Ergebnissen zu verschließen. Die Ablösung einer ideologischen Monozentrismus-Vorstellung durch ein Plurizentrismus-Konzept war in der Mitte des 20. Jahrhunderts deskriptiv adäquat. Das 21. Jahrhundert hingegen ist durch die lingualen Auswirkungen einer neuen Medienrevolution geprägt. Diese resultieren unter anderem in der Ausbildung transnationaler Oralisierungsnormen.

5

Anhang

5.1

Beurteilungsbogen

Liebe(r) Teilnehmer/in, herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft an der vorliegenden sprachwissenschaftlichen Studie teilzunehmen. Ihre Aufgabe besteht aus zwei Teilen: Erstens die Beurteilung von Sprachbeispielen und zweitens die Einschätzung ihres eigenen Sprechens. Ihre Angaben werden anonym weiter verarbeitet und nicht an Dritte weitergegeben. 1. Beurteilung von Sprachproben Bitte beurteilen Sie die folgenden 14 Sprachproben hinsichtlich ihrer Nähe zum »reinen Hochdeutsch« bzw. zum »tiefsten Dialekt«. Kreuzen Sie dazu für jedes Sprachbeispiel ein Kästchen auf den untenstehenden Skalen an, machen Sie kein Kreuz zwischen den Kästchen. Jedes Sprachbeispiel wird einzeln angesagt, zur Beurteilung eines Sprachbeispiels haben Sie 15 Sekunden Zeit. Geben Sie in dieser Zeit bitte auch an, woher nach Ihrer Meinung der/die Sprecher/in stammt (am besten so genau, wie es Ihnen möglich ist, z. B. Ort, Region, Bundesland, etc.). Sprachbeispiel 1 tiefster Dialekt □−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□ reines Hochdeutsch

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Sprecherin/Sprecher stammt aus …………………………………….. […] 2. Angaben zur Person Für die Auswertung des Tests benötigen wir noch folgende Angaben: Alter: _____ Jahre

Geschlecht:

□ männl.

□ weibl.

Beruf: __________________________ Wohnort (Region): __________________________ Wo sind Sie aufgewachsen (Ort/Region)? ________________________ Wo sind Ihre Eltern aufgewachsen (Ort/Region)? Vater: _________________

Mutter: _________________

Sprechen Ihre Eltern Dialekt? Welchen? Vater: □ nein □ ja _________________________ Mutter: □ nein □ ja _________________________ Wie wurden Sie von Ihren Eltern erzogen? □ Hochdeutsch □ Dialekt □ sonstiges: __________________ Beherrschen Sie selbst einen Dialekt? Wenn ja welchen? □ nein □ ja ________________________ Falls ja: Wie gut sprechen Sie diesen Dialekt? sehr gut □−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□ Falls ja: Wie häufig sprechen Sie Dialekt? immer □−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□−−−−□

gar nicht

nie

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5.2

Transkripte der präsentierten Stimuli

5.2.1 Sprachprobe S-D

5.2.2 Sprachprobe S-A

5.2.3 Sprachprobe S-CH

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160 5.2.4 Sprachprobe IS-D

5.2.5 Sprachprobe IS-A

5.2.6 Sprachprobe IS-CH

5.2.7 Sprachprobe Di-D

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5.2.8 Sprachprobe Di-CH

6

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Joachim Herrgen

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Sylvia Moosmüller (Wien)

Methodisches zur Bestimmung der Standardaussprache in Österreich

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Einleitung

Der Anspruch des vorliegenden Beitrags wirkt auf den ersten Blick simpel: Je nachdem, wie Standard(aus)sprache definiert wird, je nachdem, aus welcher funktionalen Perspektive sie betrachtet wird, wird ihre Beschreibung anders aussehen. So simpel diese Aussage auch sein mag, sie umfasst die gesamte Komplexität des Themas. Wird Standard(aus)sprache unter dem Aspekt einer primär nationalen Variante diskutiert (vgl. Reiffenstein 1983, Ammon 1995, 1997) oder unter dem Aspekt grenzübergreifender großräumiger Dialekte (vgl. Scheuringer 2001)? Ersterer Aspekt führt zu einer Beschreibung einer eigenständigen österreichischen Standard(aus)sprache, letzterer sieht sie eher als regionale Variante der deutschen Standard(aus)sprache. Wird Standard(aus) sprache als kodifizierte Norm verstanden, mit nicht kodifizierten und auch nicht näher bestimmbaren Gebrauchsstandards (vgl. Ammon 1995) oder als gesprochener Standard, der auch regionale Standards miteinschließt (vgl. Auer / Spiekermann 2011)? Erstere Position geht in ihrer Beschreibung von Modelltexten und Modellsprecherinnen und -sprechern aus (vgl. Ammon 1997), letztere bezieht sich primär auf gebildete Sprecherinnen und Sprecher (vgl. Brinckmann [et al.] 2008, Auer / Spiekermann 2011, Kleiner / Knöbl 2011). Weiters kann das Sprachverhalten sowohl von Modellsprecherinnen und -sprechern als auch von gebildeten Sprecherinnen und Sprechern unter dem Aspekt von Textsorte und Sprechsituation analysiert werden, wie z. B. in Wiesinger (2009). Auch bezüglich der Sprecherinnen und Sprecher des gesprochenen Standards können verschiedene Ansätze vertreten werden. So bestimmen Auer / Spiekermann (2011), Brinckmann [et al.] 2008 (stellvertretend für die Projektbearbeitung des Projekts »Variation des gesprochenen Deutsch: Standardsprache – Alltagssprache« am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim) sowie auch Wiesinger (2009) und Ehrlich (2009) diese Sprecherinnen und Sprecher eher unspezifisch als »gebildet«, während Moosmüller (1991, 2011) sowohl die

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Sylvia Moosmüller

Bildung und soziale Herkunft der Sprecherinnen und Sprecher sowie eine (dialekt)geographische Bestimmung miteinbezieht. Dittmar (1997) hebt die Funktionen einer Standardsprache hervor: die einigende Funktion (nach innen), die separierende Funktion (nach außen), die Prestigefunktion und die Funktion als normativer Bezugsrahmen. Diese vier Funktionen sind in allen Konzepten von Standard(aus)sprache enthalten, unabhängig davon, wie sie definiert wird. Hinzugefügt werden soll noch, dass die separierende Funktion auch innerhalb der nationalen Gültigkeit einer Standard (aus)sprache wirkt, nämlich als Abgrenzung gegenüber Dialekten und Minderheitensprachen, die auch in den beiden letztgenannten Funktionen ihren Ausdruck findet. Wie kommt es zu einer derartigen Vielfalt der Begriffsbestimmung? Ein wesentlicher Grund liegt in der methodischen Verschiebung, die durch die Kodifizierung der Bühnenaussprache durch Siebs (1898)1 eingeleitet und durch das Aufkommen der elektronischen Medien verfestigt wurde. Die Bestimmung dessen, was als Aussprachestandard zu gelten hat, lag nun nicht mehr bei der kulturellen und politischen Elite, sondern in der Sprachausbildung, nach deren Vorgabe die Sprecherinnen und Sprecher der elektronischen Medien geschult werden.

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Entwicklung der Standardaussprache in Österreich

Die Entwicklung der österreichischen Standard(aus)sprache2 ist eng mit der Entwicklung der deutschen Standard(aus)sprache verknüpft. Für die Herausbildung einer Standardaussprache ist wiederum das Vorhandensein einer Schriftsprache Voraussetzung (vgl. Coulmas 2000), die für das Deutsche als kontinuierlicher Ausgleichsprozess verstanden werden kann (siehe z. B. Besch 2003, wiesinger 1985). Um 1750 veranlasste Maria Theresia, die meißnischobersächsische Form der Schriftsprache als Norm anzuerkennen (vgl. Ebner 1969)3. Wiesinger (1985: 1638) schreibt: Erst die aufklärerische Fortschrittsgesinnung der Gebildeten führte dort um 1750 zur Aufnahme der damals von Gottsched auf Grund seiner poetologischen Autorität nun endgültig als Norm durchgesetzten meißnisch-obersächsischen Form der Schriftsprache und veranlasste die österreichischen Grammatiker, sich auch hinsichtlich der 1 Die erste Ausgabe ist leider an keiner österreichischen Bibliothek zugänglich. Es wird in der Folge die früheste öffentlich zugängliche Ausgabe von 1912 zitiert. 2 Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung der Standardaussprache. 3 Dies, obwohl Johann Sigmund Valentin Popowitsch in offiziellem Auftrag 1754 seine »Einführung in die deutsche Sprache für den Gebrauch an österreichischen Schulen« veröffentlichte (Prestini 1913).

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Ausspracheempfehlungen an den vorbildlichen obersächsischen Gepflogenheiten zu orientieren.

Deutschland, Österreich und die Schweiz einigten sich erst 1901 auf eine gemeinsame deutsche Orthographie. Die gesprochene Standardsprache bildete sich um 1700 heraus und richtete sich nach der Schriftsprache. Da die deutschsprachigen Länder zu dieser Zeit über keine gemeinsame Hauptstadt verfügten, entwickelten sich mehrere regionale Standardaussprachen mit unterschiedlichem Prestige (vgl. Schmidt 2005). Schoppe (1626, zitiert nach Wiesinger 1985: 1637) versucht eine Reihung der regionalen Varianten nach deren Prestige zu erstellen, wobei Meißnisch an erster Stelle gereiht war, Bairisch an letzter. Die Präferenz für das Obersächsische liegt in der kulturellen Bedeutung dieser Region begründet; Leipzig wurde »Klein Paris« genannt und die Leipziger Buchmesse erlangte Vormachtstellung über die Frankfurter Buchmesse (Geißler 1925: 25). Freyer (1999/1722: 8 f.) führt zehn Argumente für das Obersächsische auf, darunter die geographische Mitte, den überregionalen Gebrauch und die überregionale Verständlichkeit. Jedoch waren sich selbst die größten Verfechter der obersächsischen Aussprache, wie z. B. Freyer, Gottsched oder Adelung, gleichzeitig einiger Unzulänglichkeiten derselben bewusst. Diese betrafen in erster Linie die Unterscheidung stimmhafter und stimmloser Plosive, die im Niederdeutschen verbreitet war. Auch Popowitsch (1750: 91) lobt die Sprecher des Niederdeutschen für ihre buchstabengetreue Aussprache. Die Kritik am Obersächsischen geht bis auf Schottel zurück (vgl. Geißler 1925) und deutet möglicherweise bereits auf eine Verschiebung des Prestiges von der obersächsischen Variante zur niederdeutschen Variante hin. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurde einerseits die Bedeutung Österreich-Ungarns für eine Mitbestimmung bezüglich einer standardsprachlichen Kodifizierung marginalisiert, andererseits wurde das Konzept einer Standardsprache als essentiell für die Gründung eines einheitlichen deutschen Staates begriffen (vgl. Ehlich 2001), Sprache wurde primäres Kennzeichen nationaler Identität (vgl. Durrell 2007). Der Wunsch nach einer »reinen« Aussprache entsprechend den ästhetischen Vorstellungen der Zeit wurde laut; zeitgleich erlangte die norddeutsche Variante des gesprochenen Standards hohes Prestige, das sowohl in der hegemonischen Macht Preußens als auch in der buchstabengetreuen Aussprache der Gebildeten begründet ist (vgl. Schmidt / Herrgen 2011). Diese buchstabengetreue Aussprache wiederum liegt in der graduellen Akzeptanz der hochdeutschen Orthographie begründet, die auch ihre Auswirkung auf den oralen Gebrauch der Sprache hatte. Dort wurde nämlich auf Grund politischer, wirtschaftlicher und kultureller Wandlungen zunächst in den landesfürstlichen und dann in den städtischen Kanzleien und

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von da aus schließlich im privaten Schriftverkehr die hochdeutsche Schriftsprache aufgegriffen, was nicht ohne Auswirkung auf den mündlichen Sprachgebrauch bleiben konnte. (Wiesinger 1985: 1639)

Die graduelle Aufnahme der hochdeutschen Orthographie führte zu einer Abwertung des Niederdeutschen, das als »Plattdeutsch« bezeichnet wurde4 : Die sukzessive Aufnahme der hochdeutschen Schriftsprache hatte zur Folge, daß sich die sprachsoziologischen Verhältnisse zu wandeln begannen. So sank das Niederdeutsche allmählich auf das Dialektniveau ab. […] Mündlich wurde das Hochdeutsche zuerst in den Städten aufgegriffen, doch durchaus in sozial und situativ gestufter Weise. (Wiesinger 1985: 1640)

Die Annahme, dass die Orthographie Vorbildcharakter für die Aussprache habe, geht auf die höhere Bewertung des geschriebenen Standards zurück. Daher erlangte die Variante, die den geringsten Abstand zu diesem geschriebenen Standard aufwies, auch das höchste Prestige. Erst Theodor Siebs und die Phonetiker seiner Zeit wiesen darauf hin, dass die geschriebene Sprache nicht Vorbild für die gesprochene Sprache sein könne. Zum Zwecke der Vereinheitlichung der Bühnenaussprache führte Siebs an namhaften Theatern Untersuchungen über den Sprachgebrauch der Schauspielerinnen und Schauspieler durch. Der erste Grundsatz der in der deutschen Bühnenaussprache festgelegten Regelung lautet somit: [E]s sollen nicht etwa neue Aussprachregeln angeordnet, sondern der bestehende Gebrauch soll festgestellt werden; wo sich Unterschiede ergeben, sind sie nach Maßgabe der üblichsten und zweckmäßigsten Aussprache auszugleichen. Die tatsächliche Sprechweise der Bühne aber ist keineswegs dadurch zu gewinnen, daß man den einzelnen Schauspieler nach der Aussprache dieses oder jenes Wortes fragt – solche Fragestellung würde Voreingenommenheit und theoretische Erwägung und damit mancherlei Mißgriffe verursachen; vielmehr dadurch, daß man die Aussprache vieler anerkannter Schauspieler während der Vorstellung in guten Theatern beobachtet und phonetisch aufzeichnet. So liegt auch unseren Arbeiten die unbeeinflußte tatsächliche Bühnenaussprache guter Schauspieler zu Grunde. (Siebs 1912: 10)

Im April 1898 fanden im »Apollosaale des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin die Beratungen über die ausgleichende Regelung der deutschen Bühnenaussprache« statt (Siebs 1912: 7). Österreich wurde von Karl Luick vertreten. Die Ergebnisse dieser Konferenz führten 1898 zur Veröffentlichung der ersten Ausgabe der »deutschen Bühnenaussprache«. Grundlage bildeten hochdeutsche Sprachformen mit den Lautwerten des Niederdeutschen; es sollte also zwischen stimmhaften und stimmlosen Plosiven unterschieden werden, stimmlose Plosive 4 Siehe auch Kleiner / Knöbl (2011) für eine soziolinguistische Interpretation der Verlagerung des Prestiges in den Norden Deutschlands.

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seien zudem behaucht auszusprechen. Keine Einigung konnte jedoch bezüglich schriftsprachlichem erzielt werden, hier stand niederdeutsches [e:] dem obersächsischen [ɛ:] gegenüber. Auch die Aussprache des Suffixes sowie des Frikativs wurde behandelt. Interessanterweise werden dieselben Merkmale nach wie vor diskutiert (vgl. Kleiner / Knöbl 2011). Vor der bahnbrechenden Konferenz zu Berlin wurden bereits von Wilhelm Viëtor (1885) systematische Untersuchungen durchgeführt. Er verteilte Fragebögen unter den gebildeten Schichten verschiedener Regionen. Das Ergebnis seiner Untersuchung kann durchaus als systematische Beschreibung phonologischer Prozesse des Deutschen gewertet werden. Er veröffentlichte auch ein Aussprachewörterbuch, das allerdings nicht als Basis einer Kodifizierung herangezogen wurde. Obwohl Viëtor (1898: VII) im Vorwort zur vierten Auflage seiner »Aussprache des Schriftdeutschen« mit »Genugthuung« darauf hinweist, dass er »fast bis ins einzelne zu denselben Resultaten gelangt ist« wie die Kommission, ist ein wichtiger methodischer Unterschied hervorzuheben: Während die Kommission von 1898 ausschließlich zum Ziel hatte, die Bühnenaussprache zu vereinheitlichen, zeigte Viëtor den Unterschied zwischen Bühnenaussprache und der Aussprache der Gebildeten auf. Auch Karl Luick bezieht sich in seiner 1904 erstmals erschienen »Lautlehre des Deutschen« auf die Aussprache der Gebildeten und weist bereits im Vorwort darauf hin, dass die in Berlin festgesetzten Regelungen für Österreich nur bedingt gelten könnten. Er verfasst auch Empfehlungen für Österreich. Obwohl sowohl Viëtor als auch Luick die Aussprache der Gebildeten als Vorbild für eine Standardaussprache heranziehen, die Korrelation zwischen Standardaussprache und Bildung also noch bestimmend war, sollte in der Folge die von Siebs veröffentlichte Bühnenaussprache als Grundlage für die Bestimmung der deutschen Standardaussprache herangezogen werden. Noch 1899 bei der Versammlung zu Bremen wird bekräftigt, dass die in der Bühnenaussprache festgelegten Regelungen nur für die Bühne Geltung haben können: Die im Jahre 1899 zu Bremen abgehaltene Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner hat unter Mitwirkung von Fachmännern wie Siebs und Sievers geradezu empfohlen, die zu Berlin vereinbarten Regeln nur für die Bühne als verbindlich zu erachten, sie auf den anderen Gebieten des Lebens dagegen nur soweit zu berücksichtigen, als die Kunst überhaupt vorbildlich sein könne für das Leben. (Sütterlin 1916: 165)

Im Vorwort zur 17. Auflage wird hingegen die Ausdehnung der Bühnenaussprache auf die Standardaussprache von den Herausgebern folgendermaßen begründet:

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Das Buch behandelte wirklich die Bühnenaussprache, aus der Bühnenerfahrung gewonnen und für den Gebrauch der Bühne berechnet. Denn hier wurde aus dem Wesen der Sache eine »reine« Aussprache gepflegt, und hier war für das Zusammenspiel eine regelnde Vereinheitlichung geboten. Aber dahinter stand von Anfang an das weitere Ziel, »die schon fast vorhandene Einheit, die in der Kunstaussprache herrscht, für praktische Zwecke zunutze zu machen«; und d. h. die Bühnenaussprache zur Hochsprache zu machen. (Siebs 1958: 2)

Festzustellen ist hier eine methodische Verschiebung bezüglich der Bestimmung der Standardaussprache: Nicht mehr die Aussprache der gebildeten Schichten ist für die Bestimmung der Standardaussprache maßgeblich, sondern die Aussprache eigens ausgebildeter Sprecherinnen und Sprecher. Diese methodische Verschiebung wird in der Folge noch durch das Aufkommen der elektronischen Medien (Hörfunk) verstärkt. In der 17. Auflage wird weiters ausgeführt: Hier fiel der Schule und der Sprachpflege eine entscheidende Rolle zu. Die Forderung nach einer »lautreinen Aussprache«, die für alle Ausbildung der Lehrer erhoben wurde, verlangte eine klärende Darstellung dessen, was »lautrein« war. Und seitdem, durch die rasche Entwicklung des Rundfunks, das gesprochene Wort als sprachliches Vorbild eine ungeahnte Bedeutung für breite Schichten gewonnen hat, ist das Bedürfnis nach einer gültigen Feststellung der »richtigen Aussprache« in weiteste Kreise gedrungen. Dieser Erweiterung von Ziel und Wirkung entspricht es, daß das Buch seit 1922 seinem alten Titel »Bühnenaussprache« den neuen »Hochsprache« hinzugefügt hat. (Siebs 1958: 2 f.)

1922, in der elften Auflage, wurde dem Titel »Deutsche Bühnenaussprache« der Zusatz »Hochsprache« beigefügt; 1957, in der 16. Auflage, wurde die Reihung und somit der Fokus verändert; das Werk hieß nun »Deutsche Hochsprache – Bühnenaussprache«. 1957 erschien auch das vier Seiten umfassende »österreichische Beiblatt zu Siebs »Deutsche Hochsprache – Bühnenaussprache««. Die in der Folge erscheinenden Aussprachewörterbücher wie das Wörterbuch der deutschen Aussprache (1974), das Große Wörterbuch der deutschen Aussprache (1982), das Duden Aussprachewörterbuch (2000), das Deutsche Aussprachewörterbuch (2009) oder auch das österreichische Aussprachewörterbuch (Muhr 2007) haben maßgeblich die Aussprache der elektronischen Medien zur Grundlage. Exemplarisch seien zu diesem Punkt drei Aussprachewörterbücher zitiert: Die für die Kodifizierung erforderliche Untersuchung der Standardaussprache erfaßte, entsprechend einem Grundsatz von Siebs, die Aussprache anerkannt vorbildlicher Sprecher. Allerdings wurde dabei berücksichtigt, daß in der Gegenwart nicht mehr wie zu den Zeiten von Siebs vor allem auf der Bühne vorbildlich gesprochen wird. Gemäß der Bedeutung des Hör- und Fernsehfunks für die Verbreitung und Entwicklung der Standardaussprache mußten vielmehr deren Sendungen den Schwerpunkt des Untersuchungsmaterials bilden; neben Rundfunksprechern aber wurden auch Schauspieler

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und Rezitatoren abgehört, und schließlich war auch die Verwendung der Standardaussprache in den verschiedenen Formen des Gesprächs und der Rede zu untersuchen. (Großes Wörterbuch Der Deutschen Aussprache 1982: 14) Da standardsprachliche Sprachformen stets überregionale bzw. nationale Gültigkeit haben und auf das Engste mit öffentlichen Äußerungsbereichen verbunden sind, lässt sich die Bestimmung der Modellaussprache anhand der kanonischen Sprachformen und der damit verbundenen Textsorten der distanzsprachlichen Äußerungsbereiche (1) und (2) vornehmen. Tabelle (1) zeigt, dass dafür die Sprachformen SF1, SF2 und SF3 für die Bestimmung der Modellaussprache geeignet sind5. (Muhr 2007: 34) Das Ziel, Empfehlungen für eine situativ angemessene Verwendung der Standardaussprache vorzulegen, erforderte zugleich, die Differenzierungen der Standardaussprache in unterschiedlichen Anwendungsbereichen bereits für die Erarbeitung des Untersuchungskorpus systematisch zu berücksichtigen (E.-M. Krech 1996a). Dabei konnte es nicht um die Vielzahl möglicher Anwendungsbereiche gehen. Vielmehr erwies sich eine Beschränkung auf Situationen als sinnvoll, in denen der Gebrauch der Standardaussprache vorzugsweise angestrebt, verwirklicht und erwartet wird. Das betrifft vor allem Äußerungen in öffentlichen Situationen. Als Untersuchungsmaterial boten sich damit nach wie vor Äußerungen in ausgewählten Sendungen der elektronischen Medien an, in denen eine überregionale Akzeptanz angestrebt wurde. Berücksichtigung fanden die beiden stark kontrastierenden Textsorten Nachrichten (im konventionellen Stil) sowie Gespräche (ausgewählte Talkshows). Damit waren eindeutig vorgelesene und frei gesprochene Äußerungen erfasst. (Deutsches Aussprachewörterbuch 2009: 16)

Diese methodische Verschiebung hat nicht nur Konsequenzen für die Konzeption von Standardaussprache allgemein, sondern insbesondere für die Bestimmung der Standardaussprache in Österreich. Es setzt sich generell die Auffassung durch, die Standardaussprache werde von den elektronischen Medien (Hörfunk, Fernsehen) und den Bühnen getragen, deren Sprecherinnen und Sprecher in bestimmter Weise geschult sind (vgl. Ammon 1997). Doch Ammon ist sich durchaus der Zirkularität dieser einschränkenden Auffassung bewusst und beschreibt sie als Rückkoppelung: Man darf sich die Wirkungsrichtung nicht nur einseitig von den Modellsprechern und -schreibern bzw. Modelltexten in Richtung auf den Sprachkodex denken; vielmehr ist außerdem die umgekehrte Wirkungsrichtung anzunehmen. Die Modellsprecher und -schreiber orientieren sich in ihrem Sprachverhalten durchaus auch an dem einmal vorliegenden Kodex; sie bleiben schon in ihrer sprachlichen Ausbildung davon nicht unberührt. Es besteht also ein Rückkoppelungsprozeß zwischen Kodex und Modellsprechern und -schreibern. Entsprechendes trifft auch zu auf die Beziehung zwischen 5 Äußerungsbereich (1): Distanzsprache (öffentlich – sachzugewandt, Fremdgruppe), Äußerungsbereich (2): Distanzierte Nähesprache (öffentlich oder halböffentlich, sach- oder personenzugewandt). SF1 = Mediensprache: Präsentationssprache, SF2 = Mediensprache: Präsentationssprache, Sprache der Institutionen, SF3 = Regionale Mediensprache: personenzugewandte Sprache der Institutionen/Gruppe.

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ihnen und den Sprachnormautoritäten. Nicht nur orientieren sich die Normautoritäten in ihren Korrekturen zum Teil an den Modellsprechern und -schreibern, sondern letztere werden auch von ersteren beeinflußt, insbesondere in ihrer Ausbildung. (Ammon 1997: 185)

Österreicherinnen und Österreicher assoziieren die Standard(aus)sprache durchaus mit den Aussprachevarianten der elektronischen Medien, insbesondere der Nachrichten (vgl. Steinegger 1998, Soukup 2009, Soukup / Moosmüller 2011), auch wird diese Aussprache positiv bewertet (vgl. Moosmüller 1991). Als am standardsprachlichsten wird auch von Österreicherinnen und Österreichern die Aussprache der bundesdeutschen Nachrichtensprecher und -sprecherinnen gewertet (siehe Herrgen [im vorliegenden Band])6. Die Ausbildung der österreichischen Sprecherinnen und Sprecher basiert auf einer Aussprachedatenbank (in Kooperation mit dem deutschen und Schweizer Fernsehen), auf dem Duden Aussprachewörterbuch (2000) sowie auf dem »Siebs« (vgl. Wächter-Kollpacher 1995, Soukup / Moosmüller 2011). Diese spezifische Ausbildung der österreichischen Sprecherinnen und Sprecher der elektronischen Medien führt zu einer Übernahme von deutsch-deutschen Merkmalen, wie z. B. wort-initialem stimmhaftem /z/. Piroth / Skupinski (2011) untersuchen die Realisierung des [ə]7 bei österreichischen und deutschen Nachrichtensprecherinnen und -sprechern in Cə-Sequenzen, wobei sie bei der österreichischen Variante eine Bevorzugung der in Österreich üblichen Variante [e] beobachteten8. Moosmüller (1991: 180) spricht aufgrund ihrer Analysen der Aussprache geschulter Sprecherinnen und Sprecher in den elektronischen Medien in Österreich von einer eigenen Varietät der österreichischen Medien, die sich stark von den anderen von ihr untersuchten Bevölkerungsgruppen unterscheidet.

6 Die Einstufung als »höchste Standardsprachlichkeit« der deutschen Nachrichtensprecherinnen und -sprecher darf aber nicht mit Akzeptanz gleichgesetzt werden. Aufgrund der hohen Orientierung an den deutschen Aussprachenormen in Österreich ist es nicht verwunderlich, dass die deutschen Normen als am standardsprachlichsten eingestuft werden. Das beinhaltet aber nicht, dass diese SprecherInnen in Österreich als österreichische StandardsprecherInnen akzeptiert werden. 7 Es werden hier eckige (phonetische) Klammern verwendet, weil die Verfasserin diesem Laut für das österreichische Deutsch keinen phonemischen Stellenwert zuweist. 8 Die Ergebnisse stützen sich allerdings nur auf eine Sprecherin und einen Sprecher pro Varietät.

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Empfehlungen für die österreichische Standardaussprache

Die Arbeiten Luicks zur Standardaussprache in Österreich wurden in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Vielmehr wurden die Ausspracheregelungen, wie sie in den großen Aussprachewörterbüchern Deutschlands (insbesondere Siebs nebst Beiblatt für Österreich und Duden) festgesetzt sind, für den öffentlichen Sprachgebrauch als verbindlich angesehen (vgl. Soukup / Moosmüller 2011). Im österreichischen Beiblatt wird folgendermaßen argumentiert: […] daß es heute möglich ist, die Sprechweise in den österreichischen Schulen der Hochsprache in ungleich höherem Maße anzunähern, als dies zur Zeit der Fall war, als K. Luick in seiner »Deutschen Lautlehre« die Forderungen und Verbote aufstellte […] (Österreichisches Beiblatt 1957: 1).

Das Deutsche Aussprachewörterbuch (2009) bezieht auch Empfehlungen für Österreich und für die Schweiz ein. Die darin von Wiesinger (2009: 235) verfassten Empfehlungen stützen sich auf eine auditiv-phonetische Analyse von drei verschiedenen SprecherInnengruppen, die er in drei Register zusammenfasst: I. Die gehobene Standardaussprache geschulter Sprecher. Sie folgt weitgehend Siebschen Grundsätzen unter geringer Berücksichtigung der österreichischen Sprechkonvention. II. Die gemäßigte Standardaussprache geschulter Sprecher. Zwar schließt auch sie sich den Siebschen Grundsätzen an, bringt aber in wesentlich stärkerem Umfang die österreichische Sprechkonvention ein. III. Die Standardaussprache der Laien. Als »regionales Hochdeutsch« folgt sie der österreichischen Sprechkonvention auf der Grundlage der verschiedenen großräumigen dialektbedingten Lautungen, Lautdistributionen, Lautkombinationen und Silbenverhältnisse, so dass sie entsprechend regional differenziert ist. Als Materialgrundlage dienen Aufnahmen aus dem österreichischen Rundfunk und Fernsehen, gesprochene Sätze und Einzelwörter gebildeter Laien aus Wien und den Landeshauptstädten, Reden und Interviews von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Vorträge von Universitätsprofessoren, Lesungen österreichischer Schauspieler und Schriftsteller (vgl. ebd.). Obwohl Wiesinger gebildete Laien in die Analyse miteinbezieht, stützt er seine Empfehlungen, die er als eine Orientierungshilfe für die Sprechausbildung, für eine natürliche Leseaussprache, für das Lernen von Deutsch als Zweit- und Fremdsprache und für Berufssprecher versteht (vgl. ebd.: 252), auf einen Kompromiss zwischen Register I und Register II:

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Da die Register I und II als gehobene und gemäßigte Standardaussprache mehr oder minder geschulter Sprecher breite Akzeptanz in ganz Österreich finden, während Register III als »regionales Hochdeutsch« der Laien in seinen Varianten auf Teilräume beschränkt ist, empfiehlt sich als österreichische Standardaussprache ein Kompromiss aus I und II. (ebd.)

Die Ursachen für die Ablehnung von Register III als Grundlage für Ausspracheempfehlungen liegen in einem zu hohen Grad dialektaler Realisierungen der gebildeten Laien: Die Standardaussprache der Laien ist segmental vor allem durch das Lautinventar und die sich auf Vokalquantitäten und Konsonantenintensitäten auswirkenden Kombinationsregeln und Silbenstrukturen der Dialekte bzw. der Umgangssprachen und suprasegmental durch etwas verschiedenartige, aus den Dialekten kommende Intonationen bestimmt, die in unterschiedlichem Ausmaß auf die phonetisch-phonologisch zum Teil anders strukturierte Standardsprache übertragen werden. (ebd.: 234)

Die Problematik liegt einerseits in der sehr unspezifischen Definition der »gebildeten Laien«, die auch regional sehr weit gefasst ist, andererseits aber auch in einer bereits vorgefassten Definition von Standardsprache, anhand derer das Sprachverhalten der Laien gemessen wird. Somit basieren die Empfehlungen Wiesingers auf dem Sprachverhalten geschulter Sprecherinnen und Sprecher, die nach den Siebschen Regeln ausgebildet wurden. In der Folge sollen nun einige Empfehlungen diskutiert werden. Wie bereits Luick (1904) feststellte und wie auch im österreichischen Beiblatt (1957) festgehalten wird, werden die hohen Vokale in Österreich nicht nach ihrer Qualität unterschieden. Dennoch empfiehlt Luick (1904: 72), auch diese Vokalpaare qualitativ zu unterscheiden. Handelt es sich bei Luick noch um eine Empfehlung, so schreibt das österreichische Beiblatt ausdrücklich vor, dass eine qualitative Unterscheidung dieser Vokale auch für Österreich verbindlich sei. Wiesinger (2009: 237) streicht ebenfalls heraus, dass die qualitative Unterscheidung bei den hohen Vokalpaaren in allen drei Registern sehr gering ist. Aus den Empfehlungen Wiesingers geht bedauerlicherweise nicht hervor, ob eine qualitative Unterscheidung der Vokalpaare empfohlen wird oder ob die Unterscheidung lediglich auf die Vokaldauer zu begrenzen ist: Bei den Hochzungenvokalen ist der Unterschied zwischen nur wenig ungespannten Kürzen und gespannten Längen gering, so dass sie als [i] – [u] – [y] und [iː] – [uː] – [yː] qualitativ fast gleichartig sind. (Wiesinger 2009: 253)

Moosmüller (2007) stellt anhand ihrer akustischen Analysen einen Trend zur Neutralisierung der hohen Vokale fest und nimmt daher eine qualitative Unterscheidung der Vokalpaare auf phonemischer Ebene an. Sie stellt aber die Frage, ob es sich bei dieser Beobachtung möglicherweise um einen aktuell

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stattfindenden Lautwandel handelt (siehe auch Brandstätter / Moosmüller [im vorliegenden Band]). Zur Aussprache der Lenisplosive sieht das österreichische Beiblatt eine stimmhafte Aussprache vor, die aber in den Volksschulen noch nicht zu fordern sei. Wiesinger beobachtet die stimmhafte Aussprache nur in Register I, und auch hier nicht durchgängig. Entsprechend empfiehlt er eine stimmlose Realisierung der Lenisplosive. Wie das österreichische Beiblatt empfiehlt auch Wiesinger eine aspirierte Aussprache der Fortisplosive. Die von Wiesinger in manchen Teilen Österreichs bezüglich Register III beobachtete Realisierung der vorderen Fortisplosive als Lenisplosive kann im formellen Lesestil bei Sprecherinnen und Sprechern der gehobenen Bildungsschichten Wiens von Moosmüller / Ringen (2004) und Moosmüller (2011) nicht bestätigt werden. Bereits Luick (1904) weist in seinen Empfehlungen auf die für Österreich paradoxe Situation bezüglich der Aussprache des Suffix hin: »Die Bühnensprache und unsere Dialekte treffen also zufällig zusammen: sie legen uns die Aussprache weniχ nahe, während in unserer Umgangssprache eine Tendenz zu gunsten von wenik vorhanden zu sein scheint« (ebd.: 90). Aus praktischen Gründen sieht er die Aussprache mit Verschlusslaut vor, empfiehlt aber, »das χ nicht zu befehden« (ebd.: 91)9. Das österreichische Beiblatt schreibt die Aussprache mit palatalem Frikativ vor. Wiesinger stellt in Register I und II vornehmlich eine Realisierung mit palatalem Frikativ fest, die teilweise in Register I10 zugunsten der Aussprache mit velarem Plosiv aufgegeben wird (vgl. Wiesinger 2009: 247). Er empfiehlt dennoch, die Siebsche Norm beizubehalten: Das Suffix wird zwar regional und teilweise auch in der gemäßigten Standardaussprache nach der Schreibung als [ig˚ ] realisiert, doch ist in der gehobenen Standardaussprache meist frikativische Realisierung als [iç] üblich. (ebd.: 255)

Anlautendes stimmhaftes /z/ ist in keiner Varietät Österreichs zu beobachten, somit auch nicht in den von Wiesinger untersuchten Registern II und III. In Register I beobachtet er auch die stimmhafte Variante. Empfohlen wird eine stimmlose Lenis oder Halbfortis (vgl. ebd.: 254). Die Analysen Wiesingers zeigen, dass sich die Aussprache der geschulten Sprecherinnen und Sprecher (die NachrichtensprecherInnen, ModeratorInnen, SchauspielerInnen umfassen) vom Sprachgebrauch gebildeter Sprecherinnen und Sprecher unterscheidet, wie auch schon von Moosmüller (1991)11 festge9 Braune (1904) richtet sich gegen die Aussprache mit palatalem Frikativ und wirft Luick Zaghaftigkeit vor (vgl. ebd.: 32). 10 Da Register II eine gemäßigtere Standardsprache repräsentiert als Register I, könnte es sich hier um einen Druckfehler handeln. 11 Moosmüller (1991) untersuchte NachrichtensprecherInnen und verglich diese mit SprecherInnen gehobener sozialer Schichten.

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stellt wurde. Wiesinger hat in Register I und II nicht nur eine Ausrichtung auf die in Siebs und anderen deutschen Aussprachewörterbüchern festgesetzten Ausspracheregelungen festgestellt, sondern zudem eine Variabilität beobachtet, die aus dem Spannungsfeld zwischen deutschen Ausspracheregelungen und gesprochenem österreichischem Standard erwächst. Daher soll eine Ausspracheregelung, die auf dem Sprachverhalten nach Siebschen Grundsätzen geschulter Sprecherinnen und Sprecher beruht, die sich zusätzlich um einen Ausgleich zwischen diesen Grundsätzen und dem gesprochenen österreichischen Standard bemühen, nicht für die Bestimmung einer Standardaussprache in Österreich herangezogen werden, da die oben angeführte Zirkularität in ihrer Gänze zum Tragen kommt.

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Zu einer Bestimmung der Standardaussprache in Österreich: Akzeptanz

Standard(aus)sprache wird als überdachend, für alle Regionen eines Staates verbindlich konzipiert, soll also die verschiedenen Varietäten innerhalb einer Sprachgemeinschaft vereinen (vgl. Dittmar 1997). Die unifizierende Funktion einer Standardvarietät wird häufig im Sinne einer Aussprachevariante, die frei von regionalen Charakteristika ist, missverstanden. Mit Hinblick auf die Produktion ist eine Standardaussprache aber weder von regionalen noch von sozialen Charakteristika frei, die Überregionalität bezieht sich lediglich auf ihre Akzeptanz. Moosmüller (1991) versucht aufgrund von Untersuchungen der Einstellungen von Österreicherinnen und Österreichern aller sozialen Schichten festzustellen, welche SprecherInnengruppen als österreichische StandardsprecherInnen eingestuft werden und wo diese österreichische Standardaussprache geographisch lokalisiert werden kann. Methodisch werden die Einstellungen sowohl mittels Interviews als auch mittels Zuordnungstests erhoben. Die Zuordnungstests umfassen kurze Sprachproben, die die Hörerinnen und Hörer sowohl sozial (anhand von vorgegebenen Berufsgruppen) als auch geographisch (einer der Landeshauptstädte Österreichs oder »für ganz Österreich gültig«) zuordnen sollten. Zusammengefasst ergab sich folgendes Bild: – Geographisch wurden Standardsprecherinnen und -sprecher12 in den großen kulturellen und politischen Zentren lokalisiert.

12 Da sich StandardsprecherInnen der österreichischen Standardsprache auf allen linguistischen Ebenen bedienen, werden diese wie oben definierten SprecherInnen als StandardsprecherInnen bezeichnet.

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– Soziologisch wurden Sprecherinnen und Sprecher der gebildeten sozialen Schichten mit entsprechendem sozialem Hintergrund als StandardsprecherInnen eingestuft. – Aus dialektologischer Sicht wurden nur solche Sprecherinnen und Sprecher als StandardsprecherInnen eingestuft, die sich keiner südbairischen Merkmale bedienten. – Soziolinguistisch wurden nur solche Sprecherinnen und Sprecher als StandardsprecherInnen eingestuft, die keine auffälligen dialektalen Merkmale, insbesondere dialektale Eingabewechsel (vgl. Dressler / Wodak 1982) verwendeten (Beispiele siehe unten). Als Standardsprecherinnen und -sprecher wurden folglich Personen aus den großen kulturellen und politischen Zentren Salzburg und Wien eingestuft, die der gehobenen Bildungsschicht mit gleichem sozialem Hintergrund angehörten. Als interessantes Ergebnis stellte sich heraus, dass Sprecherinnen und Sprecher, die sich keiner dialektalen Merkmale bedienten, entweder der Kategorie »für ganz Österreich gültig« oder der Hauptstadt Wien zugeordnet wurden, und zwar unabhängig von ihrer tatsächlichen regionalen Herkunft. Zwei rezente Untersuchungen zu Einstellungen bezüglich Dialekt und Standardaussprache kommen zu demselben Ergebnis: Soukup (2009) führte ihre Untersuchung in Linz durch, die Linzer Standardsprecherin wurde dabei von 49 % der Linzer Hörerinnen und Hörer als Wienerin wahrgenommen, nur von 16 % als Linzerin. Der Linzer Standardsprecher wurde immerhin von 39 % der Linzer Hörerinnen und Hörer als Linzer erkannt, aber auch von 31 % als Wiener eingestuft. Goldgruber (2011) führte ihre Untersuchung in Graz und in Wien durch. Die Grazer Standardsprecherin wurde immerhin von 61 % der Grazer Hörerinnen und Hörer als Grazerin wahrgenommen und nur von 23 % als Wienerin. Der Grazer Standardsprecher wurde von 47 % der Grazer Hörerinnen und Hörer als Wiener wahrgenommen und nur noch von 30 % als Grazer. Noch drastischer stellten sich die Ergebnisse bei den Wiener Hörerinnen und Hörern dar: Hier wurde die Grazer Standardsprecherin von 41 % als Wienerin wahrgenommen und nur von 4 % als Grazerin. Der Grazer Standardsprecher wurde von 63 % der Wiener Hörerinnen und Hörer als Wiener wahrgenommen und nur von 1 % als Grazer. Es wird also auch das Sprachverhalten von Sprecherinnen und Sprechern gehobener sozialer Schichten aus anderen Landeshauptstädten der Hauptstadt Wien zugeordnet. Das zeigt deutlich, dass die österreichische Standardaussprache von vielen Österreicherinnen und Österreichern mit der Aussprache der gehobenen Bildungsschichten in Wien assoziiert wird.

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Dieses Ergebnis darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass die als standardsprachlich akzeptierte Varietät frei von Regionalismen wäre. Sie ist vielmehr frei von auffälligen dialektalen Eingabewechseln (z. B. [g˚ uɐd] vs. [g˚ uːt] ˚ »gut«) und dialektalen Prozessen (z. B. l-Vokalisierung im Fall von Linz, Diphthongierungen im Fall von Graz), wodurch diese Varietäten mit der in Wien gesprochenen Standardaussprache assoziiert werden.

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Zum Verhältnis von Standardaussprache und Dialekt

W. U. Dressler hat in den 1970er Jahren eine Methode zur Beschreibung von Varietäten im Rahmen der Natürlichen Phonologie entwickelt, die insofern bahnbrechend war, als sie durch Einbeziehung externer Evidenz in der Lage war, phonologische Variation einer Erklärung zuzuführen und den Blickwinkel der zu jener Zeit in der Soziolinguistik üblichen statistischen Korrelationsstudien zu erweitern. Mit Bezug auf das Verhältnis von Standardaussprache und Dialekt hat er gemeinsam mit Ruth Wodak den Begriff des Eingabewechsels (Input-switchrule) geprägt und das Verhältnis nicht, wie üblich, als graduelle Skala von oben nach unten verstanden, sondern als Zwei-Kompetenz-Modell konzipiert (vgl. Dressler / Wodak 1982). Das Konzept des Zwei-Kompetenz-Modells und der Eingabewechsel ermöglicht es, dialektal auffällige Merkmale von natürlichen phonologischen Prozessen zu unterscheiden. Eingabewechsel haben sich im Gegensatz zu natürlichen phonologischen Prozessen historisch unterschiedlich entwickelt, sodass sich zwei Formen gegenüberstehen, die synchron keine phonologische oder phonetische Beziehung aufweisen (z. B. [g˚ uɐd] vs. [g˚ uːt] »gut«, ˚ [liɐb] vs. [liːb] »lieb«, [g˚ lik] vs. [g˚lʏk] »Glück«, für eine detaillierte Darstellung ˚ ˚ siehe Moosmüller 1991, Soukup 2009). Im Gegensatz dazu sind natürliche phonologische Prozesse durch Gradualität und phonetische Motivation gekennzeichnet. Im Rahmen dieses Konzepts wurde von Moosmüller (1991) die österreichische Standardaussprache beschrieben. Es zeigte sich, dass von Sprecherinnen und Sprechern, die in den Einstellungsuntersuchungen als SprecherInnen der österreichischen Standardaussprache eingestuft wurden, dialektale Eingabewechsel vermieden, insbesondere in betonten Positionen. Auch phonologische Prozesse der mittelbairischen Dialekte, wie z. B. die Vokalisierung des Laterals oder die Reduktion der Präfixe werden in der österreichischen Standardaussprache nicht verwendet. Die Wiener Monophthongierung breitet sich zwar auch auf die Standardaussprache aus, jedoch nur in unbetonten Positionen. Die als Standardaussprache akzeptierte Varietät lässt sich somit sehr klar von den Dialekten abgrenzen. Die Gültigkeit des Zwei-Kompetenz-Modells und der Eingabewechsel (Inputswitch-rules) wurde von Soukup (2009) in einer Dialektperzeptionsstudie

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nachgewiesen. In dieser Studie wurden die Hörerinnen und Hörer aufgefordert, in einem vorgespielten Text alle Passagen zu unterstreichen, die ihrer Meinung nach dialektal bzw. nicht hochsprachlich waren. Zusätzlich wurden die Hörerinnen und Hörer gebeten, diese Merkmale auf einer Skala von 1 (= sehr dialektal) bis 5 (= hochsprachlich) zu bewerten. Acht von den zehn am häufigsten unterstrichenen Dialektmerkmalen waren dialektale Eingabewechsel.

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Abgrenzung nach außen

Moosmüller (2007) widmet sich einer akustisch-phonetischen Beschreibung der Vokale der österreichischen Standardaussprache. Die Anzahl der Vokalphoneme für die deutsche Standard(aus)sprache werden zwar je nach theoretischer Provenienz unterschiedlich angegeben, dennoch können die für die deutsche Standardsprache gültigen Verhältnisse nicht unhinterfragt auf die österreichische Standardaussprache übertragen werden. Es ist notwendig, auch für die österreichische Standardaussprache das Inventar der Vokale zu bestimmen. So kann für die österreichische Standardaussprache kein /ə/ phonemisch angenommen werden, da [ə] in der österreichischen Standardaussprache nicht existiert. Die in der deutschen Standardaussprache als [ə] realisierten Vokale werden in der österreichischen Standardaussprache entweder als [e] – z. B. in Präfixen – oder als [ɛ] – z. B. in Suffixen – realisiert (siehe auch Wiesinger 2009). Jessen ([et al.] 1995) kommen in ihrer akustisch-phonetischen Analyse der Vokale der deutschen Standardaussprache zu dem Ergebnis, dass sich die Vokale /a/ und /ɑ/ nicht mehr bezüglich ihrer Qualität, sondern nur noch bezüglich ihrer Quantität unterscheiden. Sie nehmen also /ɑ/ und /ɑː/ an. Für die österreichische Standardaussprache konnten zusätzlich zu den fehlenden qualitativen Unterschieden auch keine Quantitätsunterschiede festgestellt werden, sodass nur noch ein Vokal /ɑ/ phonemisch anzunehmen ist. Im Unterschied zur deutschen Standardaussprache sind somit für die österreichische Standardaussprache 13 Vokalphoneme anzunehmen, die sich bezüglich des Ortes der Konstriktion (prä-palatal, palatal, velar, uvular, pharyngal), des Grades der Konstriktion ([€verengt]) und bezüglich der Labialisierung unterscheiden (vgl. Moosmüller 2007). Da sich Untersuchungen, die die Unterschiede zwischen der österreichischen und der deutschen Standardaussprache beschreiben, hauptsächlich auf den Gebrauch in den elektronischen Medien beschränken (vgl. z. B. Piroth / Skupinski 2011) oder – im Falle einer Untersuchung des gesprochenen Standards – die SprecherInnengruppen sehr unspezifisch als »gebildet« definieren (z. B. im Projekt »Variation des gesprochenen Deutsch: Standardsprache – Alltagssprache« am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim) und dabei in Österreich

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Sylvia Moosmüller

zwangsläufig genuine DialektsprecherInnen in die Analyse miteinbeziehen, muss bezüglich weiterer Unterschiede eine detaillierte Darstellung ausbleiben.

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Diskussion

In diesem Beitrag wurde versucht, herauszuarbeiten, welche Konsequenzen methodisch unterschiedliche Herangehensweisen für die Beschreibung insbesondere der österreichischen Standardaussprache haben. Der Fokus wurde dabei auf die methodische Verschiebung gelegt, die mit dem Aufkommen des Hörfunks einsetzte. Dadurch wurde nicht mehr der Sprachgebrauch gebildeter Sprecher und Sprecherinnen zur Bestimmung der Standardaussprache herangezogen, wie dies z. B. noch bei Luick und Viëtor der Fall war, sondern nach bestimmten präskriptiven Normen ausgebildete Sprecher und Sprecherinnen. In vermehrtem Maße bilden nun die elektronischen Medien die Grundlage für die Beschreibung der Standardaussprache. Somit stehen sich kodifizierte Standardaussprache (= Medien) und nicht kodifizierte gesprochene Standardaussprache gegenüber. In diesem Lichte betrachtet überrascht es nicht, dass Destandardisierungsprozesse und Demotisierungsprozesse (vgl. Mattheier 1997) zu beobachten sind, die letztlich eine Begriffsbestimmung der gesprochenen Standardaussprache erschweren. In Deutschland werden in der Folge regionale Standardaussprachen vermehrt diskutiert und das Konzept einer überregionalen Standardaussprache in Frage gestellt. In Österreich konnte aufgrund von Einstellungsstudien festgestellt werden, dass regionale Standardaussprachen (z. B. SprecherInnen der gehobenen sozialen Schichten Innsbrucks) in weit geringerem Ausmaß als überregionaler Standard akzeptiert werden als dies für insbesondere die Wiener Variante der Standardaussprache der Fall ist, die als überregionale Standardaussprache akzeptiert wird. Überlegenswert ist in diesem Zusammenhang eine breit angelegte Aufklärung über Standardaussprachen (überregional und regional) besonders an den Schulen. Die Auswirkung der methodischen Verschiebung ist in Österreich noch stärker als in Deutschland, da in Österreich die für Deutschland gültige Standardaussprache in die Aussprache der österreichischen Medien übertragen wird. So kommt es zwangsläufig zu einem Spannungsverhältnis zwischen deutschen kodifizierten Aussprachenormen und österreichischen nicht kodifizierten Aussprachenormen, die die geschulten Sprecherinnen und Sprecher durch eine (unsystematische) Variabilität auszugleichen versuchen, indem sie sowohl die deutschen als auch die österreichischen Formen parallel verwenden. Es wird daher nicht empfohlen, die Bestimmung der Standardaussprache in Österreich auf die Aussprache von geschulten Sprecherinnen und Sprechern der elektronischen Medien zu gründen.

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Es wurde dargelegt, dass es mittels Untersuchungen zur Akzeptanz durchaus möglich ist, die österreichische Standardaussprache geographisch und soziologisch zu bestimmen und in der Folge eine Beschreibung der Aussprache dieser Personengruppen in unterschiedlichen Gesprächssituationen und auch bezüglich unterschiedlicher Textsorten darzulegen. Es wird hier vorgeschlagen, auf Grundlage der Aussprache dieser Personengruppen eine Aussprachenorm für die elektronischen Medien in Österreich auszuarbeiten.

Danksagung Der vorliegende Beitrag wurde durch eine Finanzierung des FWF im Rahmen des DACH-Projektes I 536-G20 ermöglicht. Wir danken den GutachterInnen für ihre hilfreichen Kommentare und Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Beitrags.

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Sylvia Moosmüller

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Julia Brandstätter (Wien) / Sylvia Moosmüller (Wien)

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale in der Wiener Standardaussprache – A sound change in progress?

1

Einführung

Luick weist bereits im Vorwort seiner 1904 erschienenen »Deutschen Lautlehre« darauf hin, dass in Österreich die hohen Vokale nicht bezüglich ihrer Qualität unterschieden werden: Was soll es etwa heißen, wenn in phonetischen Abrissen, die für Österreicher bestimmt sind, die deutschen b, d, g ohne jede Einschränkung als stimmhafte Laute und ebenso deutsche ˘ı und u˘ als offene Vokale angeführt werden, während tatsächlich hierzulande jene stimmlos, diese geschlossen sind? (Luick 1904: Vorwort)

Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf den Sprachgebrauch der gebildeten Schichten und nicht auf die Dialekte und arbeitet eine für Österreich gültige Orthoëpie aus, da »für jede deutsche Sprachprovinz eine eigene Phonetik geschrieben werden sollte« (ebd.: Vorwort). Luick, der als österreichischer Vertreter 1898 an der Konferenz zu Berlin1 teilnahm, strebt aufgrund der »großen Mannigfaltigkeit« des deutschen Sprachgebiets eine Erarbeitung regionaler Ausspracheregelungen an. Interessanterweise empfiehlt Luick in seinem orthoëpischen Teil, dass eine qualitative Unterscheidung der hohen Vokale zumindest anzustreben sei: § 133. Die kurzen Vokale, mit Ausnahme des in der Mitte stehenden ɑ und des gleichfalls mehrere Lautungen aufweisenden e, also die kurzen i, o, u, ö, ü, sind bei uns in der Regel geschlossen, in der Bühnensprache wie im Norddeutschen im Durchschnitt offen. In unserer Vortragssprache ist bereits eine Tendenz zu letzterer Qualität zu merken und wir werden gut tun, ihr zu folgen, mindestens all zu starke Geschlossenheit zu meiden. Tun wir dies, so ist die noch übrig bleibende Differenz von keiner so großen

1 Im April 1898 fand eine Orthoëpie-Konferenz in Berlin statt, an der Theaterintendanten und namhafte Germanisten und Phonetiker »Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache« vornahmen. Die Ergebnisse der Konferenz wurden von Theodor Siebs noch im selben Jahr unter dem Titel »Deutsche Bühnenaussprache« veröffentlicht.

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Julia Brandstätter / Sylvia Moosmüller

Bedeutung, so daß sie in der Schule zu gunsten wichtigerer Dinge vernachlässigt werden kann. (Luick 1904: 72)

Die österreichische Standardaussprache sieht sich hier mit der bereits kodifizierten (nord)deutschen Standardaussprache konfrontiert und steht andererseits auf Basis der mittelbairischen Varietäten, die bei hohen Vokalen keine Opposition bezüglich der Vokalqualität aufweisen (vgl. Seidelmann 1971: 159, Wodak-Leodolter / Dressler 1978: 36). Diese Beobachtung Luicks findet jedoch in Beschreibungen zur Aussprache des Deutschen kaum Erwähnung. Eher wird in Analogie zur deutschen Standardvarietät ein qualitativer Kontrast der hohen Vokalpaare in der österreichischen Standardaussprache angenommen (vgl. Wodak-Leodolter / Dressler 1978: 35, Piroth / Skupinski 2011). Erst mehr als 100 Jahre nach Luick erbringt Moosmüller (2007) den akustischen Beweis für eine Neutralisierungstendenz bei hohen Vokalen in der österreichischen Standardaussprache, v. a. in der Spontansprache, bei der eine Annäherung von /ɪ, ʏ, ʊ/ in Richtung /i, y, u/ festgestellt wurde. Auch Wiesinger (2009: 237) betont den geringen qualitativen Unterschied zwischen den hohen Vokalpaaren und empfiehlt für die Beschreibung hoher Vokale die Verwendung nur eines Transkriptionssymbols, nämlich [i, u, y]. Ausgehend von den Ergebnissen in Moosmüller (2007) wird ein so genannter »sound change in progress«, also ein aktuell stattfindender Lautwandel angenommen. Dieser Hypothese zufolge sollte bei jüngeren SprecherInnen eine Neutralisierung bei i-, u- und y-Vokalpaaren ausgeprägter sein als bei einer vergleichbaren älteren SprecherInnengruppe. Eine Kontrastminimierung zwischen verengten2 und nicht-verengten hohen Vokalen bei SprecherInnen der jungen Generation im Vergleich zu SprecherInnen der älteren Generation würde auf einen gerade stattfindenden Lautwandel hinweisen. Aus diesem Grund wurden in der vorliegenden Untersuchung SprecherInnen zweier Altersgruppen untersucht.

2 Da die Termini gespannt und ungespannt missverständlich sind und sich auch durch artikulatorische Studien nicht nachweisen ließen, werden sie durch die Termini »verengt« und »nicht-verengt« ersetzt (für eine Diskussion siehe Mooshammer 1998, Moosmüller 2007).

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

2

Methode

2.1

Versuchspersonen

187

Mit sechzehn StandardsprecherInnen (unterteilt nach Geschlecht und zwei Altersgruppen, siehe Anhang) aus Wien3 wurden Sprachaufnahmen in einer reflexionsarmen Schallkammer durchgeführt. Die Aufnahmen, die innerhalb eines Zeitraums von 2 Jahren entstanden (2011 – 2012), beinhalteten ein semi-strukturiertes Interview, das Vorlesen von Sätzen und das Vorlesen von Logatomen. Die Varietäten in großen Metropolen sind weniger regional denn sozial zu bestimmen: The available evidence indicates that a major metropolis of over a million inhabitants is reasonably uniform within its geographic limits, but highly differentiated by social class, ethnicity, gender, and race. (Labov 2001: 227)

Dies gilt auch für Wien und als soziale Parameter, an denen sich die verschiedenen Varietäten erkennen lassen, sind insbesondere Bildung, soziale Herkunft, Geschlecht sowie ethnische Zugehörigkeit zu nennen. Die Zuordnung als Standardsprecherin bzw. Standardsprecher erfolgt über folgendes Set von Kriterien, das in Moosmüller (1991) ausgearbeitet wurde (siehe auch Moosmüller [im vorliegenden Band]): – Die Sprecherin bzw. der Sprecher ist in Wien geboren und aufgewachsen. – Mindestens ein Elternteil der Sprecherin bzw. des Sprechers ist ebenfalls in Wien geboren und aufgewachsen. Soziologische Kriterien wurden altersabhängig definiert. Für die Versuchspersonen zwischen 18 und 25 Jahren (= jüngere Gruppe) galt: – Mindestens ein Elternteil der Sprecherin bzw. des Sprechers hat eine akademische Ausbildung. – Die Versuchsperson selbst hat Matura oder Studium. Für die Versuchspersonen zwischen 45 und 60 Jahren (= ältere Gruppe) galt: – Beide Eltern haben Matura oder mindestens ein Elternteil hat eine akademische Ausbildung. – Die Versuchsperson selbst hat Matura oder eine akademische Ausbildung. 3 Die Auswahl von SprecherInnen aus Wien erfolgte auf Basis von Einstellungsstudien (Moosmüller 1991, Soukup 2009, Goldgruber 2011), in denen festgestellt wurde, dass die Aussprache von SprecherInnen gehobener sozialer Schichten aus Wien als überregionale Standardaussprache akzeptiert wird. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, die Standardaussprache über externe Kriterien (v. a. Bildungshintergrund, sozio-ökonomische Faktoren) zu bestimmen.

188

Julia Brandstätter / Sylvia Moosmüller

Über das oben beschriebene Set von Kriterien kann die Standardaussprache in Österreich sowohl gegenüber den Dialekten als auch gegenüber der Standardaussprache Deutschlands abgegrenzt werden.

2.2

Material

Für die hier beschriebene Analyse wurde die Aufgabe des Vorlesens von Logatomen herangezogen. Die Logatome bestanden aus dreisilbigen Nichtwörtern, die nach der Struktur /gePVPe/ aufgebaut sind, wobei P = /p, b, k, g, t, d/ und V = ˙ ˙ ˙ /i, ɪ, y, ʏ, e, ɛ, ø, œ, u, ʊ, o, ɔ, ɑ/4. Der plosivische Kontext wurde bezüglich Artikulationsstelle symmetrisch gehalten. Diese Zielwörter wurden in einen Rahmensatz der folgenden Form eingebettet: »Ich habe /gePVPe/ gesagt«. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Logatome, die den Kontrast zwischen /i/ und /ɪ/ elizitieren sollten. Daher besteht das Material der hier beschriebenen akustisch-phonetischen Analyse aus folgenden Stimuli (siehe Tabelle 1): labial gebiebe

alveolar gediede

velar gegiege

gebibbe gebiepe

gedidde gediete

gegigge gegieke

gebippe gepiebe

geditte getiede

gegicke gekiege

gepibbe gepiepe

getidde getiete

gekigge gekieke

gepippe getitte gekicke Tabelle 1: Zielwörter eingebettet in den Rahmensatz »Ich habe … gesagt«.

Einerseits ist das Vorlesen von Nichtwörtern eine sehr formelle und daher recht künstliche Sprechsituation – weswegen in weiterführenden Untersuchungen ebenfalls die Spontansprache untersucht werden soll. Andererseits stellt das Lesen der Logatome sicher, dass die Vokalqualitäten gleichmäßig in den plosivischen Umgebungen verteilt sind und ein konsistentes Betonungsmuster vorliegt.

4 Moosmüller (2007) nimmt für die österreichische Standardaussprache 13 Vokale an: /i, ɪ, y, ʏ, e, ɛ, ø, œ, u, ʊ, o, ɔ, ɑ/. /a/ und /ɑ/ sind neutralisiert. In der österreichischen Standardaussprache, sowie auch in den Dialekten, gibt es keine stimmhaften Lenisplosive, sie werden daher auch phonemisch stimmlos angenommen (siehe Moosmüller / Ringen 2004).

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

189

Die Sequenz von Kurzvokal-Lenis wie in , usw. weist zwar eine niedrige Typefrequenz auf, jedoch eine hohe Tokenfrequenz, wie die häufigen österreichischen Familiennamen, wie z. B. oder zeigen. Zwei Durchgänge wurden randomisiert über einen Bildschirm präsentiert. Für die vorliegende Untersuchung ergaben sich dadurch 48 Stimuli (= 2 Vokalqualitäten * 12 Kontexte * 2 Durchgänge) pro Versuchsperson. Wurden während der Aufnahme von der Aufnahmeleiterin abweichende Stimuli perzipiert, die nicht vom Sprecher bzw. der Sprecherin selbst korrigiert wurden und daher nicht als »Versprecher« klar identifiziert werden konnten, so wurden diese Stimuli markiert und am Ende der beiden Durchgänge noch einmal zusätzlich präsentiert. So kommt es vor, dass es mehr als zwei Tokens eines Types geben kann. Die orthographische Repräsentation der Stimuli wurde an die deutsche Rechtschreibung angepasst, in der /i/ oftmals als dargestellt wird. Alternative Schreibweisen sind , und einfaches . Was jedoch die plosivischen Umgebungen betrifft, so findet man am häufigsten. Ausnahmen sind sehr selten, vergleiche . Für die Darstellung von /ɪ/ wird in der deutschen Orthographie typischerweise der Folgekonsonant verdoppelt mit der Ausnahme von anstelle von . Dementsprechend wurde auch hier bei der Präsentation der Stimuli diese Schreibweise herangezogen. Für einen Vergleich mit der Standardvarietät in Deutschland wurden zusätzlich Aufnahmen von sieben SprecherInnen des Standarddeutschen untersucht.5 Die Leseaufgabe der Logatome war hierbei sehr ähnlich aufgebaut. Unterschiedlich waren die konsonantischen Vokalkontexte, bei denen nur die Fortisplosive /p, t, k/ verwendet wurden. Insgesamt wurden fünf Durchgänge durchgeführt.

2.3

Messungen

Die /i, ɪ/-Vokale (> 700 Phoneme) aus der oben beschriebenen Aufgabe »Lesen von Logatomen« wurden mittels der Signalverarbeitungssoftware STx manuell segmentiert. Für die Bestimmung der Segmentgrenzen wurde dieselbe Methode gewählt, die in Moosmüller (2007: 20) beschrieben wurde: Der Beginn und das Ende eines Vokalphonems sind definiert durch den ersten positiven Nulldurchgang und die letzte vollständige Periode, die ähnlich der vorhergehenden 5 Dieses Material wurde dankenswerterweise vom Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung der LMU München zur Verfügung gestellt.

190

Julia Brandstätter / Sylvia Moosmüller

ist. So wurden – neben der Vokaldauer – die ersten drei Formantfrequenzen (F1, F2, F3) über den gesamten Verlauf des Vokals mittels Linear Prediction Coding (LPC) extrahiert. Gegebenenfalls wurden die Formanten korrigiert. Die Etikettierung der Phoneme erfolgte phonologisch, d. h. ein Logatom wie beispielsweise »gepippe« wurde unabhängig von der tatsächlichen Realisierung mit /ɪ/ annotiert.

2.4

Statistik

Es wurden einseitige t-Tests sowie hierarchische Clusteranalysen basierend auf den Mittelwerten der Formantfrequenzen durchgeführt. Für die Clusteranalysen wurden die Formantwerte nach Lobanov (1971) normalisiert6, um eine durch die Absolutwerte der Formantfrequenzen entstehende unverhältnismäßige Gewichtung von F2 bzw. F3 gegenüber F1 zu vermeiden.

3

Ergebnisse

3.1

Dauer

Abbildung 17 zeigt, dass sich Unterschiede zwischen den Altersgruppen bezüglich der [+verengten] Vokale ergeben. Der Median des Boxplot der jüngere Versuchspersonen liegt mit 90 ms deutlich unter den Werten der älteren Versuchspersonen (120 ms); für die [–verengten] Vokale sind die Mediane beider Altersgruppen gleich. Einseitige t-Tests bestätigen, dass es hochsignifikante Unterschiede (p < 0.01) bezüglich der Dauer der /i/-Vokale zwischen den Altersgruppen gibt. Die Mittelwerte liegen für die jüngeren Versuchspersonen bei 101 ms, bei den älteren Versuchspersonen bei 117 ms. Für die /ɪ/-Vokale lassen sich hingegen keine signifikanten Unterschiede zwischen den Altersgruppen feststellen. Die Mittelwerte liegen für die jüngeren Versuchspersonen bei 63 ms, bei den älteren Versuchspersonen bei 65 ms.

6 Die Normalisierung basiert auf den Mittelwerten (Mi) und Standardabweichungen (σi) der einzelnen Formanten Fi. FiN = (Fi – Mi) / σi. 7 Person p285 wurde hier aufgrund ihrer extremen Dauerwerte von bis zu 600 ms ausgeschlossen.

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

Abbildung 1: Boxplots der Dauern der Vokale /ɪ/ und /i/ beider Altersgruppen. Legende: »-« = [–verengt], »+« = [+verengt]

191

192 3.2

Julia Brandstätter / Sylvia Moosmüller

Formantfrequenzen

Die t-Tests ergaben, dass die Vokale /i/ und /ɪ/ bei allen sechzehn Personen durch alle drei Formanten signifikant voneinander unterschieden werden. Die einzige Ausnahme bildete F1 bei Person p265, wobei der p-Wert hier mit 0.06 nur sehr knapp über der Signifikanzgrenze liegt. Da der t-Test aber keine Abbildung des zeitlichen Verlaufs sowie möglicher Überlappungen zulässt, wurden hierarchische Clusteranalysen (euklidische Distanzen auf den Mittelwerten basierend) für eine aussagekräftige Auswertung herangezogen. Die Clusteranalysen wurden pro Sprecherin bzw. pro Sprecher durchgeführt und die Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt. Falls es eine klare Opposition zwischen /i/ und /ɪ/ aufgrund unterschiedlicher Formantfrequenzwerte bei österreichischen StandardsprecherInnen gibt, so würden bei einer Clusteranalyse, die ähnliche Objekte einer Gruppe, d. h. einem Cluster, zuordnet, alle /i/Vokale in ein erstes Cluster und alle /ɪ/-Vokale in ein zweites Cluster gruppiert. Entgegen den Ergebnissen der deutschen Versuchspersonen, von denen bei fünf SprecherInnen zwei klar separierte Cluster gebildet wurden (je eines für /i/ und eines für /ɪ/), siehe Abbildung 2, kam es bei keiner einzigen der österreichischen Personen zu einer vollkommen reinen Clusterbildung, sondern immer zu Vermischungen. Bei diesen unreinen, vermischten Clustern konnten drei Arten von Mustern beobachtet werden. Muster 1: Der velare Kontext Bei den SprecherInnen p013 (m/A)8, p250 (w/J), p259 (w/J), p300 (m/A) und p305 (m/A) konnte ein reines Cluster nur bezüglich der /ɪ/-Vokale gefunden werden, siehe Abbildung 3. Wie aus Abbildung 3 ersichtlich, wird ein reines /ɪ/-Cluster gebildet. Im /i/Cluster erscheinen acht /ɪ/-Vokale, die ausschließlich einen velaren Kontext aufweisen. Weitere fünf Personen (p251 (m/J), p255 (w/J), p258 (w/J), p269 (w/A), p284 (m/A)) haben ein quasi-reines /ɪ/-Cluster; das bedeutet, dass sich nur ein einziger /i/-Vokal im /ɪ/-Cluster befindet und man hier von einem »Versprecher« bzw. einer Unkonzentriertheit des Sprechers bzw. der Sprecherin ausgehen kann, siehe Abbildung 4. Es bildet sich ein quasi-reines /ɪ/-Cluster mit einem einzigen /i/-Vokal. Im /i/-Cluster ergeben sich sieben /ɪ/-Vokale, wieder ausschließlich in velarem Kontext.

8 »m« und »w« = männlich bzw. weiblich. »A« und »J« bezieht sich auf die ältere bzw. jüngere Altersgruppe.

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

193

Abbildung 2: Hierarchische Clusteranalyse von F1, F2 und F3 (normalisiert) der /i/- und /ɪ/Vokale, Logatome, Sprecher pcka (Standardaussprache Deutschland). »I-« = [–verengt], »i+« = [+verengt].

194

Julia Brandstätter / Sylvia Moosmüller

Abbildung 3: Hierarchische Clusteranalyse von F1, F2 und F3 (normalisiert) der /i/- und /ɪ/Vokale, Logatome, Sprecherin p250 (w/J). »I-« = [–verengt], »i+« = [+verengt].

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

195

Bei diesen zehn Personen kann beobachtet werden, dass das /i/-Cluster zusätzlich ein bis acht /ɪ/-Vokale enthält, die alle in velarem Kontext stehen. Das bedeutet, dass mehr als die Hälfte der SprecherInnen, unabhängig von der Altersgruppe, Logatome mit intendiertem /ɪ/ (wie z. B. »gegigge«) qualitativ als /i/ realisieren. Muster 2: Erweiterung auf alle Kontexte Ein zweites Muster zeigt sich bei den Personen p282 (m/J), p285 (m/A) und p297 (m/A): Die /ɪ/-Vokale im /i/-Cluster sind nicht mehr nur auf die velaren Kontexte beschränkt, sondern auch Vokalphoneme in alveolarer und labialer Umgebung finden sich in diesem Cluster. Phoneme in velarer Umgebung sind aber vorherrschend, siehe Abbildung 5. In Abbildung 5 ist wieder ein reines /ɪ/-Cluster zu beobachten. Wie zu sehen ist, finden sich im /i/-Cluster zehn /ɪ/-Vokale in allen plosivischen Kontexten, jedoch in hauptsächlich velarer Umgebung. Bei p285 (m/A) und p297 (m/A) ist derselbe Trend zu beobachten. Muster 3: Vermischungen in beiden Clustern Anders verhält es sich allerdings bei den restlichen drei SprecherInnen p241 (m/J), p265 (m/J) und p299 (w/A). Hier kommt es auch im /ɪ/-Cluster zu mehr oder weniger starken Vermischungen. So findet man bei Sprecher p265 (m/J), siehe Abbildung 6, elf /ɪ/-Vokale im /i/-Cluster, davon sieben in velarer und vier in alveolarer Umgebung. Im /ɪ/-Cluster gibt es sechs i-Vokale, alle im labialen Kontext. Betrachtet man die Dauern dieser Vokale, so ergibt sich ein relativ geringer Mittelwert von 71 ms. Ein einseitiger t-Test zeigt, dass sich die restlichen /i/-Vokale im labialen Kontext desselben Sprechers mit einer durchschnittlichen Dauer von 88 ms signifikant von jenen im /ɪ/-Cluster unterscheiden (p < 0.05). Hier bietet sich eine koartikulatorische Erklärung an: Durch die zu Beginn stark steigende und am Ende stark fallende Bewegung der F2- und F3-Verläufe kommt es bei kürzeren /i/-Vokalen zu einer Zuordnung zum Cluster der /ɪ/-Vokale. Es gehen also die Transitionen stärker in die Zuordnung ein als die stationären Teile. Methodisch ist dies allerdings nicht unbedingt als Nachteil zu sehen. Obwohl in der Clusteranalyse nur Formantwerte (über den gesamten Verlauf des Vokals) erfasst werden, erschließen sich indirekt auch Erkenntnisse über die Dauer der Vokale. Bei Sprecher p241 (m/J) kann ebenfalls die Koartikulation als Erklärung für die Vermischungen im /ɪ/-Cluster dienen. Hier ist jedoch die Anzahl der /i/Vokale (nämlich: »gebiepe«, »gepiepe« und »getiete«) im labialen Kontext mit zwei Tokens zu gering, um einen t-Test zu rechtfertigen. Zumindest aber ist der Mittelwert der /i/-Vokale im /ɪ/-Cluster geringer (65 ms) als der Mittelwert der restlichen /i/-Vokale in labialer Umgebung (72 ms).

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Abbildung 4: Hierarchische Clusteranalyse von F1, F2 und F3 (normalisiert) der /i/- und /ɪ/Vokale, Logatome, Sprecherin p255 (w/J). »I-« = [–verengt], »i+« = [+verengt].

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

197

Abbildung 5: Hierarchische Clusteranalyse von F1, F2 und F3 (normalisiert) der /i/- und /ɪ/Vokale, Logatome, Sprecher p282 (m/J). »I-« = [–verengt], »i+« = [+verengt].

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Abbildung 6: Hierarchische Clusteranalyse von F1, F2 und F3 (normalisiert) der /i/- und /ɪ/Vokale, Logatome, Sprecher p265 (m/J). »I-« = [–verengt], »i+« = [+verengt].

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

199

Übrig bleibt Sprecherin p299 (w/A), bei der sich 7 /ɪ/-Vokale in ausschließlich velarer Umgebung im /i/-Cluster finden, wie bei den SprecherInnen in Muster 1 beschrieben. Allerdings finden sich ebenso drei /i/-Vokale im /ɪ/-Cluster (»gebiepe«, »gediete«, »getiete«) in labialer und alveolarer Umgebung. Eine geringere Vokaldauer ist hier nicht gegeben. Ob es sich hierbei um eine zufällige Erscheinung handelt oder ob eine Systematik zugrunde liegt, kann erst durch die Analyse weiterer Daten (Spontansprache) geklärt werden. Diese drei Muster zeigen, dass sich die Neutralisierung von /ɪ/ in Richtung /i/ bei zehn SprecherInnen auf die velaren Umgebungen /gɪg, gɪk, kɪg, kɪk/ be˙ ˙ ˙ schränkt, bei den restlichen Versuchspersonen sich der ˙Zusammenfall der iVokale jedoch auch auf die übrigen Kontexte ausbreitet.

4

Zusammenfassung

Die Tendenz zur Neutralisierung geschieht zugunsten der /i/-Vokale, d. h. /ɪ/ nähert sich an /i/ an, v. a. in velarem Kontext. Diejenigen /ɪ/-Vokale, die im /i/Cluster zu finden sind, befinden sich also entweder ausschließlich in velarer Umgebung oder aber, wenn auch Tokens in bilabialem und/oder alveolarem Kontext im /i/-Cluster aufscheinen, dann überwiegen wiederum klar die /ɪ/Vokale in velarer Umgebung. Diese Ergebnisse sind dahingehend zu interpretieren, dass es in der österreichischen Standardaussprache eine Tendenz zur Neutralisierung der i-Vokale gibt. Der velare Kontext ist prädestiniert für eine solche Neutralisierung der Vokalpaare (siehe auch Harrington [et al.] 2012), da die Position der Zunge in der Umgebung von /g, k/ koartikulatorisch mehr Kontakt mit dem Gaumen ˙ aufweist, der Öffnungsgrad ist also geringer und die Länge der Konstriktion größer als in anderen Umgebungen. Die Physiologie dient hier als Motor, von der aus die Opposition von /i/ und /ɪ/ abgeschwächt und auf die restlichen Kontexte generalisiert wird. Diese Generalisierung ist aber nicht bei allen SprecherInnen zu beobachten. Des Weiteren konnten bezüglich der Analyse der Formanten keine eindeutigen generationsspezifischen Tendenzen festgestellt werden. Zwar stammt derjenige Sprecher, der die i-Vokale durch zwei beinahe komplett reine Cluster voneinander trennt (Person p305 mit einem reinen /ɪ/-Cluster und einem quasireinen /i/-Cluster, das einen einzigen /ɪ/-Vokal in velarer Umgebung enthält) aus der älteren Versuchspersonengruppe, siehe Abbildung 7. Jedoch konnte generell betrachtet nicht beobachtet werden, dass die ältere SprecherInnengruppe die /i/Vokale in einem größeren Ausmaß trennte als die jüngere SprecherInnengruppe. So gab es auch in der jüngeren Gruppe zwei Personen (p251, m und p258, w), die

200

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zwei quasi-reine Cluster bildeten, mit jeweils nur einem einzigen Token, das dem anderen Cluster zugeordnet wurde. Generationsspezifische Unterschiede konnten jedoch bezüglich der Dauer insofern beobachtet werden, als /i/ von der jüngeren Gruppe signifikant kürzer realisiert wurde als von der älteren Gruppe. Bei /ɪ/ ergaben sich keine Unterschiede. Entsprechend der Diskussion bezüglich des Zusammenhangs von Vokaldauer und Vokalqualität müsste es demnach bei der jüngeren Gruppe zu einer Neutralisierung zugunsten des Vokals /ɪ/ kommen, da historisch in den germanischen Sprachen kurze Vokale zu »ungespannten« wurden (Fischer-Jørgensen 1990: 108). Dies ist jedoch nicht der Fall; bei der jüngeren Gruppe ist genauso wie bei der älteren Gruppe eine Tendenz der Neutralisierung zugunsten des Vokals /i/ zu beobachten. Die Tendenz zur Neutralisierung findet also unabhängig von der Dauer statt. Dieses Ergebnis zeigt, dass nicht notwendigerweise ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Dauer und Vokalqualität besteht (siehe auch Wood 1982, Moosmüller 2007).

5

Diskussion

Die vorliegende Arbeit ist Teil eines Kooperationsprojektes, das es ermöglicht, einen potentiellen Lautwandel in der österreichischen Standardaussprache auch im Vergleich zur deutschen Standardaussprache zu untersuchen. So wurde bei der akustisch-phonetischen Analyse von sieben StandardsprecherInnen aus Deutschland festgestellt, dass es bei fünf Personen zu einer klaren Trennung von /i/ und /ɪ/ kommt. Gemischte Cluster ergaben sich bei zwei Personen, bei denen nur die /i/-Cluster, nicht aber die /ɪ/-Cluster von Vermischungen – entsprechend den oben beschriebenen Mustern 1 und 2 – betroffen waren. Die Tendenz zur Neutralisierung ist in der österreichischen Standardaussprache eindeutig größer als in der deutschen Standardaussprache und wird im Gegensatz zur Letzteren auf alle plosivischen Umgebungen generalisiert. Auch erste Ergebnisse einer physiologischen Untersuchung mittels der Elektromagnetischen Artikulographie (EMA) aus dem Pool der hier beschriebenen Versuchspersonen zeigen, dass sich in der österreichischen Standardaussprache die Zunge bei der Artikulation von /ɪ/ in allen Kontexten dem Vokal /i/ annähert, während dies in der deutschen Standardaussprache – wenn überhaupt – auf die velare Umgebung beschränkt ist (Harrington [et al.] 2012). Die Resultate der artikulatorischen Untersuchung stimmen mit jenen der hier vorgestellten akustisch-phonetischen Analyse überein. Die physiologischen Ergebnisse zeigen deutlich, dass der Tendenz zur Neutralisierung eine artikulatorische Motivation zugrunde liegt. Sie erklärt aber nicht hinreichend, warum diese Tendenz in der österreichischen Standardaussprache

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

201

Abbildung 7: Hierarchische Cluster-Analyse von F1, F2 und F3 (normalisiert) der /i/- und /ɪ/Vokale, Logatome, Sprecher p305 (m/A). »I-« = [–verengt], »i+« = [+verengt].

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weiter fortgeschritten ist als in der deutschen Standardaussprache. Um zu einer umfassenderen Erklärung zu kommen, ist ein Blick auf die Entwicklung der Standardaussprache in Österreich erforderlich. Bezüglich der standardsprachlichen Aussprache hat sich Österreich seit Maria Theresia an der in deutschen Ländern prestigereichsten Aussprache orientiert (siehe Moosmüller [im vorliegenden Band]). Luick (1904) weist zwar darauf hin, dass in Österreich keine qualitative Unterscheidung der hohen Vokale getroffen wird, empfiehlt aber dennoch, zumindest für bestimmte Textsorten und Sprechsituationen diese Unterscheidung durchzuführen. Ebenso das Österreichische Beiblatt zu Siebs. Aus dieser Perspektive kann bezüglich der letzten 100 Jahre insofern ein vertikaler Lautwandel (Auer 2005, Auer [et al.] 2011) angenommen werden, als die prestigereichere deutsche Variante der Standardaussprache von den gebildeten Schichten Österreichs übernommen wurde und bezüglich der hohen Vokale auch phonemisch implementiert wurde9. Gleichzeitig ist aber auch eine starke Interaktion der österreichischen Standardaussprache mit den Dialekten, die diese Unterscheidung nicht treffen, vorhanden. Diese Interaktion zeigt sich z. B. an der vertikalen Ausbreitung der Wiener Monophthongierung (Moosmüller 1998, Moosmüller / Vollmann 2001) besonders in der Wiener Varietät der österreichischen Standardaussprache. Es wirken auf die österreichische Standardaussprache somit zwei vertikale Kräfte ein: zum einen die Orientierung an der deutschen Standardaussprache, die auch von verschiedenen Aussprachewörterbüchern, die nur geringe Konzessionen an den Sprachgebrauch in Österreich machen, gefordert wird (= vertikale Kraft von »oben« im Sinne von prestigereicher), zum anderen die Interaktion mit den Dialekten (= vertikale Kraft von unten). Unterstützt wird diese Interpretation durch das (noch nicht veröffentlichte) Ergebnis, dass sich bei der Realisierung der Logatome ähnliche Tendenzen bezüglich der Vokale /e/ und /ɛ/ zeigen, die im Kontext der »EVerwirrung« (siehe Moosmüller / Scheutz 2013 für die Stadtdialekte in Salzburg und Wien) interpretiert werden können. Da keine generationsspezifischen Unterschiede festzustellen sind, stellt sich die Frage, ob wirklich ein »sound change in progress« stattfindet oder ob es sich lediglich um ein Ausbalancieren der gegenläufigen Kräfte handelt. Zukünftige Untersuchungen weiterer hoher Vokale /y, ʏ, u, ʊ/ sind in Arbeit. Das untersuchte Material soll sich außerdem nicht auf den formellen Kontext des Vorlesens von Logatomen beschränken, sondern soll auf spontansprachliche Äußerungen aus den semi-strukturierten Interviews des hier beschriebenen Versuchspersonenpools erweitert werden.

9 Zum phonemischen Status der anderen Vokale siehe Moosmüller (2007).

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

203

Danksagung Der vorliegende Beitrag wurde durch eine Finanzierung des FWF im Rahmen des DACH-Projektes I 536-G20 ermöglicht. Wir danken den GutachterInnen für ihre hilfreichen Kommentare und Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Beitrags.

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204

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205

Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale

Anhang Überblick Versuchspersonen Person

Geschlecht

Altersgruppe

p013 p241

m m

A J

Alter zum Zeitpunkt der Aufnahme 51 22

p250 p251

w m

J J

24 22

p255 p258

w w

J J

22 18

p259 p265

w m

J J

19 21

p269 p282

w m

A J

48 20

p284 p285

w m

A A

52 59

p297 p299

w w

A A

53 50

p300 p305

m m

A A

45 48

Christa Dürscheid (Zürich) / Stephan Elspaß (Salzburg) / Arne Ziegler (Graz)

Variantengrammatik des Standarddeutschen. Konzeption, methodische Fragen, Fallanalysen

1

Übersicht

Im vorliegenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie sich grammatische Variation im Standarddeutschen zeigt und welche Möglichkeiten es gibt, wenn man diesen Typus von Variation korpuslinguistisch untersuchen möchte. Zu diesem Zweck werden wir einleitend konzeptionelle und methodische Aspekte diskutieren, die das von uns geleitete D-A-CH-Projekt »Variantengrammatik des Standarddeutschen«1 (im Folgenden: VG-Projekt) betreffen (Abschn. 2). Im Rahmen dieses Projekts sollen die diatopischen Unterschiede in der Grammatik des Standarddeutschen beschrieben und in einem Handbuch dokumentiert werden (siehe unter www.variantengrammatik.net). Im Anschluss daran behandeln wir grundsätzliche Fragen zu den Termini ›plurinationales‹, ›plurizentrisches‹ und ›pluriareales‹ Deutsch, stellen unsere Datenbank grammatischer Standardvarianten vor und problematisieren zwei für unsere Arbeit zentrale Begriffe (›relative‹ und ›absolute‹ Varianz), die uns dazu veranlasst haben, von den Konzepten der ›Plurizentrizität‹ und den ›nationalen Varietäten des Deutschen‹ abzurücken und dem Pluriarealitätskonzept den Vorzug zu geben (Abschn. 3). Als Datenbasis in unserem VG-Projekt dienen Pressetexte, die in Blättern mit regionaler Verbreitung erschienen sind. Zusätzlich zu diesem Großkorpus, das über 640 Millionen Wortformen umfasst, wurde ein Kleinkorpus aus Texten ›kleiner Zeitungen‹ mit stark lokaler Ausrichtung aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol erstellt, das über 1,62 Millionen Wortformen enthält. Dieses Korpus, das in Abschn. 4 präsentiert wird, stellt die Basis für die Diskussion der Fallanalysen in Abschn. 5 dar. Hier behandeln wir ausgewählte grammatische Phänomene des Standarddeutschen, denen unserer Einschätzung 1 Das Projekt »Variantengrammatik des Standarddeutschen« wird durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) [100015 L-134895], die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) [EL 500/3 – 1] und den Austrian Science Fund (FWF) [I 716-G18] gefördert.

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Christa Dürscheid / Stephan Elspaß / Arne Ziegler

nach eine diatopische Variation zugrunde liegt, die aber in der Standardvariations- und der Grammatikforschung bislang nicht oder nur ansatzweise Erwähnung fanden.

2

Von Beobachtungen zum österreichischen Deutsch zur korpuslinguistischen Analyse der Standardvariation Die Schrift- und Standardsprache ist […] keine Einheitssprache, sondern besteht aus Varietäten. […] Die die Varietäten ausmachenden Varianten betreffen in jeweils unterschiedlichem Umfang alle sprachlichen Ebenen: die phonetisch-phonologische […], die morphologische, die syntaktische und die lexikalisch-semantische Ebene einschließlich der Phraseologie. (Wiesinger 2006: 13)

So kommentiert Peter Wiesinger in einem Beitrag zum Thema »Das Deutsche in Österreich« den Status des Deutschen als ›plurizentrische Sprache‹. Bemerkenswert ist, dass Wiesinger hier nicht nur – wie in vielen anderen Arbeiten der Fall – auf Unterschiede in der Aussprache und im Wortschatz hinweist, sondern auch darauf, dass zwischen den Standardvarietäten des Deutschen Unterschiede auf morphologischer und syntaktischer Ebene bestünden. An späterer Stelle nennt er typische »Eigenheiten« des »Deutschen in Österreich« im Bereich der Syntax, von denen es seinen Ausführungen zufolge aber nur wenige gebe (vgl. Wiesinger 2006: 13).2 Er nennt in diesem Zusammenhang – den »zum Teil abweichende[n] oder zusätzliche[n] Gebrauch von Präpositionen«, z. B. er macht eine Prüfung aus Chemie, er hat auf den Geburtstag vergessen, – die Abfolge der verbalen Elemente im Nebensatz, z. B. Eine Stimme, die ich ohne weiteres als eine allererste bezeichnen hätte können (Thomas Bernhard). In den Abschnitten »Zum Formengebrauch« und »Zur Wortbildung« verweist Wiesinger daneben auch auf Unterschiede in – der Genus- und Numerusmarkierung, z. B. das Brezel/die Brezel; die Cremen/ die Cremes, – der Ableitung von Verben auf -ieren, z. B. röntgenisieren/röntgen; strichlieren/ stricheln, und – der Verwendung des Fugen-s in Komposita wie Personsbeschreibung und Aufnahmsprüfung.

2 Ob es tatsächlich nur wenige sind, muss empirisch geprüft werden (siehe dazu weiter unten); Fakt ist, dass es solche Unterschiede gibt, diese bislang aber noch in keiner Grammatik systematisch gegenübergestellt worden sind.

Variantengrammatik des Standarddeutschen

209

Allerdings gibt er für das Vorkommen dieser Varianten keine empirische Evidenz an; der Beitrag will ja auch nur einen knappen Überblick zur »Linguistik des österreichischen Deutsch« geben und hierfür einige Merkmale nennen, die entweder aus der Literatur stammen oder das Ergebnis eigener Beobachtungen sind. Das führt uns aber zu der Frage, auf welche Weise empirisch überprüft werden kann, ob ein Kompositum wie Personsbeschreibung oder eine Verbableitung wie röntgenisieren in der österreichischen Standardvarietät tatsächlich frequenter ist als in den anderen Standardvarietäten des Deutschen. Die Antwort darauf scheint zunächst einfach zu sein. Sie lautet: Man baue ein geeignetes D-A-CH-Korpus aus deutschen, österreichischen und Schweizer Texten auf, man vergleiche das Vorkommen des fraglichen Phänomens (z. B. röntgenisieren) in den drei Subkorpora, man zähle die Treffer aus und setze die Ergebnisse in ein prozentuales Verhältnis zueinander – und kann so im Resultat eine Aussage dazu machen, ob es sich tatsächlich um eine diatopische Variante handelt oder nicht. Doch zeigen sich die damit verbundenen Probleme schnell, wenn man dieses Untersuchungsdesign genauer in den Blick nimmt. Sie liegen u. a. auf der methodischen Ebene und betreffen die folgenden Fragen: a) Welche Quellentexte sind geeignet? b) Wie groß muss das Korpus sein? c) Sind bei dieser Vorgehensweise die grundlegenden Qualitätskriterien empirischen Arbeitens (Reliabilität, Validität) eingehalten? Damit sind schon einige Aspekte genannt, die Variationslinguisten bedenken müssen, wenn sie ihre Aussagen korpusbasiert abstützen wollen. Hinzu kommen aber auch arbeitspraktische Probleme, die oft nur mit der Unterstützung der Computerlinguistik zu bewältigen sind: Will man im Korpus nach dem Vorkommen bestimmter Lexeme (wie z. B. röntgenisieren) suchen, dann mag eine solche Recherche noch relativ leicht durchführbar sein; hier genügt es zu wissen, wie man nach regulären Ausdrücken suchen kann, also über eine RegEx-Abfrage3 beispielsweise auf Anhieb alle Formen des Wortes röntgenisieren findet. Sind die variationslinguistischen Fragen, die man verfolgt, aber komplexer, dann muss man das Korpus zunächst entsprechend aufbereiten. Das sei im Folgenden an einem Beispiel gezeigt. Wenn man überprüfen möchte, in welcher Abfolge das Finitum und die infiniten verbalen Elemente im Nebensatz stehen, ob hier also tatsächlich Unterschiede zwischen den Standardvarietäten bestehen, dann muss das D-A-CHKorpus sowohl nach Wortarten (z. B. finiten und infiniten Verben) und im besten Falle auch nach syntaktischen Strukturen (z. B. Nebensätzen) annotiert sein. Nun gibt es zwar Software-Programme, die solche Annotationen automa3 Details zu regulären Ausdrücken sind zu finden in Lemnitzer / Zinsmeister (2006: 88 – 95).

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Christa Dürscheid / Stephan Elspaß / Arne Ziegler

tisch durchführen (z. B. im Internet frei verfügbare Part-of-Speech-Tagger), doch sind diese Annotationen nie zu 100 % korrekt. Es kann also passieren, dass einzelnen Tokens falsche Wortarten zugewiesen werden oder der Tagger eine bestimmte Wortform (z. B. Pärke) nicht in seiner Wortliste hat und deswegen kein Lemma zuordnen kann. Hat man nun aber gerade das Ziel (wie in unserem Projekt der Fall, s. u.), nach diatopischen Varianten zu suchen (z. B. nach Pärke als besonders für CH angenommene Variante zu Parks), dann stellt sich ein zusätzliches Problem: Es kann nämlich sein, dass die Wortarten auch deshalb falsch annotiert werden, weil die Computerlinguisten, die den Tagger entwickelt haben, diesen nur an bundesdeutschen Zeitungen trainierten. Zwar mag sich das Problem, dass Wörter nicht korrekt annotiert werden, weil der Tagger sie nicht (er-)kennt, auch in anderen Kontexten stellen (z. B. bei der Annotation fachsprachlicher Texte oder bei der Tokenisierung, d. h. Segmentierung in Wortformen), doch geht es bei der Suche nach diatopischen Varianten wie z. B. im Bereich der Pluralbildung (vgl. Pärke) ja gerade darum, dass es diese Wörter sind, die identifiziert werden sollen – und dazu müssen sie zuvor korrekt annotiert sein.4 Daraus folgt also, pointiert gesagt: Nicht nur in der Linguistik, auch in der Computerlinguistik muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es mehrere Standardvarietäten des Deutschen gibt. Halten wir fest: Die diatopische Variation des Standarddeutschen ist ein Faktum. Was die lexikalische (vgl. Abiturient – Maturand) bzw. die lautliche Variation (z. B. stimmhafter oder stimmloser alveolarer Frikativ im Anlaut) betrifft, so sind diese Variationstypen auffällig, in der Grammatik dagegen sind es oft solche Unterschiede, die vom Laien gar nicht wahrgenommen werden (z. B. in der Wortstellung). Die Frage, in welchem Ausmaß dieser Typus von Variation auftritt und inwiefern sich auch grammatische Varianten bestimmten Sprachregionen zuordnen lassen, kann aber nur auf der Basis großer Textkorpora beantwortet werden. Doch stellen sich dabei grundsätzliche Fragen, welche die Beurteilung und die Relevanz empirischer Daten betreffen. Diese werden in der berühmt gewordenen Gegenüberstellung von Armchair- und Korpuslinguistik deutlich angesprochen (vgl. Fillmore 1992).5 Wer sich in der Linguistik für eine korpusgestützte Vorgehensweise entscheidet, muss sich diesen Fragen stellen. 4 Zwar können im VG-Korpus mit einer RegEx-Abfrage alle Formen (auch Komposita) des Substantivs Pärke gefunden werden, jedoch sind von diesen Substantiven nur gut die Hälfte als Plural markiert. Wird diese Information aber für eine syntaktische Abfrage benötigt, stellt sich hier das Problem, dass der Numerus nicht in allen Fällen annotiert ist, eben weil die Wortform Pärke nicht in der vom Tagger verwendeten Wortliste erscheint. – Für diesen Hinweis und weitere Arbeiten im Zusammenhang mit dem vorliegenden Aufsatz sei Simone Ueberwasser herzlich gedankt. 5 Charles Fillmore beschreibt den Armchair-Linguisten folgendermaßen: »He sits in a deep soft comfortable armchair, with his eyes closed and his hands clasped behind his head. Once in a while he opens his eyes, sits up abruptly shouting ›Wow, what a neat fact‹, grabs his pencil, and

Variantengrammatik des Standarddeutschen

3

Grundsätzliche Fragen

3.1

Plurinationales, plurizentrisches oder pluriareales Deutsch?

211

In der gegenwärtigen Diskussion um die Varietäten des Standarddeutschen konkurrieren die Termini ›plurinationales‹, ›plurizentrisches‹ und ›pluriareales‹ Deutsch. Die bisher genannten Beispiele mögen nahelegen, dass wir uns am Konzept eines ›plurinationalen Deutsch‹ mit drei nationalen Standardvarietäten (Deutschschweizer, österreichisches, deutsches Deutsch) orientieren (vgl. zu diesem Ansatz ausführlich von Polenz 1999: 412 – 453). Doch dem ist nicht so: Im VG-Projekt gehen wir vielmehr von einem pluriarealen Ansatz aus, der grundsätzlich die regionalen Unterschiede innerhalb der deutschsprachigen Länder ernst nimmt (vgl. dazu Wolf 1994: 74; Scheuringer 1997: 343 – 344). Gegen den ›Plurinationalitäts‹-Ansatz sprechen vor allem ein sprachpolitisches, ein variationslinguistisches und ein perzeptionslinguistisches Argument: a) Die einem emanzipatorischen Impetus entspringende Motivation, der über lange Zeit (und bei vielen Laien sicher immer noch) vorherrschenden »Binnendeutsch«-Ideologie6 den ›Plurinationalitäts‹-Gedanken entgegenzusetzen, ist zwar vor dem zeit- und wissenschaftshistorischen Hintergrund nachvollziehbar. Wie fragil aber eine Festlegung auf diesen Ansatz – der in gewisser Weise eine neue Ideologie bildete – sein kann, zeigt etwa das Schicksal des ›BRD-Deutsch‹ und ›DDR-Deutsch‹, die in der soziolinguistischen Literatur vor 1990 noch als Kandidaten für nationale Varietäten des Deutschen gehandelt wurden, ab dem 3. Oktober 1990 allerdings wohl oder übel als eine Varietät betrachtet werden mussten, und zwar als ›(BRD-) deutsches Deutsch‹. Das ›DDR-Deutsch‹ hätte sich demnach gewissermaßen über Nacht in Luft aufgelöst (vgl. dazu Elspaß 2005: 299 – 302 mit weiterer Literatur). b) Vermeintlich ›nationale Varianten‹ überschreiten häufig politisch-nationale Grenzen. So ist keineswegs geklärt, ob zwischen norddeutschem und süddeutschem Standarddeutsch eher weniger oder eher mehr sprachliche Unterschiede bestehen als zwischen ›südostdeutschem‹ und ›österreichischem‹ writes something down. Then he paces around for a few hours in the excitement of having come still closer to knowing what language is really like.« – Und zum Korpuslinguisten schreibt er: »He has all of the primary facts that he needs, in the form of a corpus of approximately one zillion running words, and he sees his job as that of deriving secondary facts from his primary facts. At the moment he is busy determining the relative frequencies of the eleven parts of speech as the first word of a sentence versus as the second word of a sentence« (Fillmore 1992: 35). 6 Verschiedene auch in der neueren Forschungsliteratur noch verwendete Formulierungen, wie etwa die oben zitierte Rede vom »zum Teil abweichende[n] oder zusätzliche[n] Gebrauch von Präpositionen«, mag man noch als Reflex dieses »Binnendeutsch«-Gedankens sehen.

212

Christa Dürscheid / Stephan Elspaß / Arne Ziegler

Standarddeutsch oder zwischen ›südwestdeutschem Standarddeutsch‹ und dem in der Deutschschweiz, in Liechtenstein und in Vorarlberg gebrauchten Standarddeutsch. c) Der von Linguisten geschaffene Gegenstand ›nationale Varietät‹ ist in der Wahrnehmung von Laien offenbar (noch) nicht angekommen, wie etwa bei empirischen Untersuchungen zu Einstellungen von Deutschschweizern (vgl. Scharloth 2005) sowie von Deutschen und Österreichern (vgl. Pfrehm 2007) zum Standarddeutschen festgestellt werden konnte. Das heißt, dass weder ›objektive‹ Daten (vgl. b) noch ›subjektive‹ Daten eine eindeutige Evidenz für die Existenz nationaler Varietäten liefern. Im VG-Projekt legen wir uns daher gerade nicht auf (vermeintlich) ›nationale Varianten‹ fest. Unser Korpus besteht aus Zeitungstexten aus allen Gebieten des zusammenhängenden deutschen Sprachgebiets, genauer: Aus den Regionalteilen von 69 Onlinezeitungen wurde ein Großkorpus im Umfang von über 640 Millionen [exakt: 643′502′344] Wortformen erstellt und korpustechnologisch aufbereitet. Die ausgewählten Zeitungen verteilen sich über 15 Sektoren. Die österreichischen Zeitungen etwa sind nach den vier Sektoren ›Westösterreich‹ (Tiroler Tageszeitung, Vorarlberger Nachrichten), ›Mittelösterreich‹ (Oberösterreichische Nachrichten, Salzburger Nachrichten, derStandard.at – Regionalteil Salzburg, Kurier – Regionalteil Oberösterreich, Wirtschaftsblatt Salzburg), ›Ostösterreich‹ (Burgenländische Volkszeitung, Niederösterreichische Nachrichten, Wiener Zeitung, Kurier – Regionalausgaben Burgenland und Wien) und ›Südostösterreich‹ (Kleine Zeitung – Regionalausgaben Steiermark und Kärnten, Kronenzeitung – Regionalausgaben Steiermark und Kärnten) unterschieden.7 Diese Aufteilung, die im Wesentlichen der des VariantenwörterbuchProjekts (vgl. Ammon / Bickel / Ebner [u. a.] 2004) folgt, hat zunächst vorläufigen Charakter, es geht uns dabei vor allem um eine möglichst gleichmäßige Verteilung von Texten über das gesamte Sprachgebiet. Dieses Vorgehen soll erlauben, die Daten aus den Texten der einzelnen Zeitungen als Kerne einzelner Gebiete ›für sich‹ sprechen zu lassen (die nach Bedarf – bzw. wenn es sinnvoll erscheint – zu größeren Gebieten zusammengefasst werden können), anstatt die Ergebnisse von Beginn an nach politisch eingeteilten Gebieten, etwa Staaten, zusammenzufassen. Am Ende sollen auf diese Weise nicht sprachpolitische Festlegungen, sondern empirische Daten die »Grundlage für die Beantwortung der Frage bilden, ob das Deutsche in höherem Maße eine plurinationale oder eine 7 Nota bene: Nur die Regionalteile von Zeitungen gelangten in die Textauswahl. Für dieses Auswahlkriterium spielt es keine Rolle, ob die Zeitungen selbst eine regionale oder überregionale Verbreitung haben. Allerdings ist die ›Ausbeute‹ bei Regionalzeitungen erfahrungsgemäß größer. Agenturmeldungen, die in Regionalteilen ohnehin äußerst selten sind, wurden herausgefiltert.

Variantengrammatik des Standarddeutschen

213

pluriareale Sprache ist« (Ammon 1998: 321). Freilich könnte man statt von »Pluriarealität« auch von »regionaler Plurizentrizität« sprechen (vgl. dazu Reiffenstein 2001: 88; siehe auch Koller 1999: 154). Allerdings tritt in dieser Formulierung der Terminus ›Plurizentrizität‹ auf, und da dieser, wie auch ›Plurizentrismus‹ oder ›plurizentrische Sprache‹, gerade im Kontext des Variantenwörterbuchs stark an das Konzept der ›nationalen Vollzentren‹ gebunden ist, geben wir dem neutraleren Terminus ›pluriareales Deutsch‹ den Vorzug.

3.2

Variation in der Grammatik des Standarddeutschen

Variation in der Standardsprache ist – wie Variation überhaupt – eines der Wesensmerkmale moderner Kultursprachen wie des Deutschen. Auch für die Standardvarietäten gilt die Erkenntnis, dass »nicht das Vorhandensein, sondern das Fehlen von Variation in einer Sprechweise ein Zeichen von ›Dysfunktionalität‹« ist (Barbour / Stevenson 1998: 110). Dass es regionale Unterschiede in der Aussprache und in der Lexik des Standarddeutschen gibt, ist bekannt; in einschlägigen Handbüchern sind diese mittlerweile gut dokumentiert. So ist die Variation im Bereich der Aussprache durch den vielbeachteten »Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen« von König (1989) empirisch belegt. Dieser Atlas, der aus arbeitspraktischen Gründen (es handelte sich um ein Ein-Mann-Projekt) seinerzeit nur die Aussprachevariation in der alten BRD erfassen konnte, findet heute seine Fortsetzung in dem am IDS angesiedelten Projekt »Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards (AADG)«, das mit verschiedenen Erhebungsmethoden den Gebrauchsstandard von Probanden aus dem gesamten deutschsprachigen Gebiet erhebt und anhand von Karten, Texten und Hörproben dokumentiert (vgl. http://prowiki.ids-mannheim.de/bin/view/AADG/WebHome). Auch für die Lexik ist die Standardvariation dokumentiert. Als Referenzwerk hierfür gilt das »Variantenwörterbuch des Deutschen« (Ammon / Bickel / Ebner [u. a.] 2004), das im Untertitel anführt, dass es im Buch um die »Standardsprache« gehe (und nicht um das dialektale Deutsch). Die Arbeit an diesem Werk wird derzeit fortgesetzt, und zwar im Rahmen einer vollständigen Neubearbeitung und Erweiterung der ersten Auflage (s. www.variantenwoerterbuch.net).8 Dagegen gibt noch keine vergleichbare, großangelegte Untersuchung zur arealen Standardvariation in der Grammatik.9 Das heißt natürlich nicht, dass in 8 Zudem wird die areale Standardvariation, besonders im Wortschatz, aber auch in Aussprache und Grammatik, z. T. auch im »Wortatlas der regionalen Umgangssprachen« (WDU 1977 ff.) sowie im digitalen »Atlas zur deutschen Alltagssprache« (AdA 2003 ff.) dargestellt. 9 Allerdings sei hier darauf hingewiesen, dass am IDS derzeit an einem korpuslinguistisch

214

Christa Dürscheid / Stephan Elspaß / Arne Ziegler

diesem Bereich keine Variation auftreten würde (auch wenn sich viele Lehrende und auch manche Forschende vielleicht wünschen würden, dass zumindest die Grammatik von arealer Variation verschont bliebe). In der Grammatikographie fehlte aber bisher – trotz der Fülle von Darstellungen und Untersuchungen zur Grammatik des Standarddeutschen – eine systematische Erfassung und Dokumentation der grammatischen Variation im Standard. Bereits in einem Aufsatz von 1995 hat Ursula Götz auf diesen Mangel hingewiesen. Nach einer Untersuchung von 46 grammatischen Phänomenen konnte sie zeigen, dass »die meisten der […] untersuchten Grammatiken regionale standardsprachliche Varianten gar nicht oder nur in ungenügendem Maße behandeln« (Götz 1995: 238). An dieser Situation hat sich bis heute kaum etwas gebessert (vgl. Dürscheid / Elspaß / Ziegler 2011: 123). Es gibt weder verlässliche noch sprachpolitisch zeitgemäße Angaben dazu, welche Varianten zum Standard gehören und wo sie verwendet werden; es mangelt allein schon an geeigneten Korpora für solche Untersuchungen. Das war der Anlass, in einem grenzüberschreitenden Projekt ein entsprechendes Korpus zu erstellen (vgl. Abschn. 1), um auf dieser Basis die arealen Unterschiede in der Grammatik der deutschen Standardsprache systematisch erforschen und sie später in einem Handbuch dokumentieren zu können. Zur Standardsprache rechnen wir dabei alle Ausdrucksformen, die a) in schriftbasierten Äußerungen vorkommen, b) die nicht im Duktus der konzeptionellen Mündlichkeit verfasst sind10 und die c) nicht als partikuläre Fehler zu klassifizieren sind, da sie d) in einer bestimmten Frequenz vorkommen. Wir werden also gerade nicht solche Texte in den Blick nehmen, in denen verstärkt mit Abweichungen zu rechnen ist (wie z. B. Texte aus Diskussionsforen im Internet, Chaträumen oder Blogs), denn unser Ziel ist es, die Phänomene zusammenzustellen, mit denen man sich »im geschriebenen Standard unauffällig bewegen basierten Projekt »Korpusgrammatik – grammatische Variation im standardsprachlichen und standardnahen Deutsch« gearbeitet wird, das »nationale und großregionale Varietäten des Deutschen in geeigneter quantitativer Relation« in den Blick nehmen will sowie eine »ausgeprägte Textsortenstreuung [anstrebt], um nicht zuletzt auch Texte in den Blick zu bekommen, in denen verstärkt mit Abweichungen vom grammatischen Standard zu rechnen« ist, also offenbar auch grammatische Nonstandardvarianten berücksichtigen wird (vgl. die Projektbeschreibung unter http://www1.ids-mannheim.de/gra/projekte/korpusgrammatik.html). Wo die Grenze zwischen standardsprachlich und standardnah liegt und welche Phänomene der einen, welche der anderen Kategorie zugerechnet werden können, sind dabei offene Fragen. 10 Die Frage stellt sich, wie wir Merkmale der konzeptionellen Mündlichkeit überhaupt aus unserem Korpus herausfiltern können – oder besser: wie wir ihren Anteil im Korpus minimieren können. Das soll zum einen dadurch geschehen, dass wir Leserbriefe und verschriftete Interviews in der Datenerhebung nicht berücksichtigen; zum anderen können wir davon ausgehen, dass konzeptionell mündliche Merkmale (z. B. das Vorkommen von Gesprächspartikeln wie hm oder tja) in einem so großen Zeitungskorpus vernachlässigbar sind.

Variantengrammatik des Standarddeutschen

215

kann« (Eisenberg 2007: 226). So spielen Ellipsen vom Typus Man glaubt, er sei fromm. Ist er nicht, die im Geschriebenen durchaus vorkommen können (z. B. in Chat-Dialogen), im VG-Projekt keine Rolle.11 Deshalb wird es in dem geplanten Handbuch auch keine Kategorie »Grenzfall des Standards« geben – eine Klassifikation, die das Variantenwörterbuch (VWB) für Lemmata wie z. B. labern eingeführt hat, die »dem Dialekt oder der Umgangssprache zuzurechnen sind«, dennoch aber aufgenommen wurden, weil sie »öfter auch in Standardtexten vorkommen« (Ammon / Bickel / Ebner [u. a.] 2004: XII).12 Auf der Basis unserer Textauswahl (Pressetexte) ist ein grammatisches Phänomen entweder Standard (dann wird es in unsere Grammatik aufgenommen) oder es ist NonStandard (dann bleibt es unerwähnt). Nun ließe sich einwenden, dass diatopische Unterschiede im Bereich der Grammatik marginal seien bzw. ohnehin nicht auffallen würden. Tatsächlich sind Varianten in der Lexik salienter: Ob in einem Text ein Wort wie Paradeiser oder Tomate steht, ist augenfällig. Ob dagegen in der Wortbildung ein Fugen-e (vgl. Badezimmer vs. Badzimmer) verwendet wird oder das Verb brauchen in der Satzstruktur mit expletivem es bzw. dem Indefinitpronomen man (vgl. es braucht eine Grammatik/man braucht eine Grammatik) kombiniert wird – das überliest man schnell. Doch ändert das nichts daran, dass auch diese Varianten in theoretischer und praktischer Hinsicht angemessen beschrieben werden müssen. Denn sie gehören – sofern sie in standardsprachlichen Texten in einer bestimmten Häufigkeit vorkommen – als mögliche Konstruktionsalternativen zur Grammatik des Standarddeutschen. Außerdem haben auch diese Varianten, wie die Aussprache und Lexik, eine wichtige sozialsymbolische Funktion. Sie stehen (wenn auch weitaus subtiler) als Indikatoren für einen arealtypischen Sprachgebrauch bzw. können bewusst als Marker für einen solchen eingesetzt werden (wie die oben verwendete brauchen-Konstruktion). Damit kommen wir zu der Frage, welche Variablen überhaupt vorkommen bzw. – vorsichtiger formuliert – bei welchen Phänomenen zu vermuten ist, dass 11 Dieses Beispiel stammt von der Website des IDS-Korpusgrammatik-Projekts (http://www1. ids-mannheim.de/gra/projekte/korpusgrammatik.html). 12 Eine solche Kategorisierung lässt den Benutzer u. E. ratlos zurück: Darf er eine Variante, die als Grenzfall des Standards klassifiziert wurde, nun in einem deutschen, Schweizer oder österreichischen Umfeld verwenden, wenn er sich unauffällig in der Standardsprache bewegen will? Diese Vermutung liegt nahe, da das Wort ja im Variantenwörterbuch aufgenommen wurde. Oder ist das ausgeschlossen, da es sich doch um ein Dialektwort handelt? Dass eine Kategorie Grenzfall des Standards vorgesehen wurde, lässt im Übrigen vermuten, dass das VWB nicht nur ein Wörterbuch des Standarddeutschen sein will, sondern auch des standardnahen Deutsch. Nicht von ungefähr ist der Titel des VWB denn auch »Variantenwörterbuch des Deutschen« (nicht: des Standarddeutschen). Dagegen wird unser Handbuch, obwohl als Pendant zum VWB konzipiert, den Titel »Variantengrammatik des Standarddeutschen« tragen.

216

Christa Dürscheid / Stephan Elspaß / Arne Ziegler

diatopische Variation vorliegt. Um diese Frage zu beantworten, kann man zwei Wege gehen: Man kann entweder eine Liste grammatischer Phänomene erstellen, für die standardsprachliche Varianz bekannt ist oder für die in Grammatiken oder der einschlägigen linguistischen Literatur (z. B. in Bezug auf Österreich Ebner 2009) Varianz angenommen wird. Oder man kann auf der Basis eigener Lektüre von Texten aus verschiedenen Regionen des deutschen Sprachraums ›variationsverdächtige‹ Phänomene sammeln. Allerdings stellt der zweite Weg bei sehr großen Korpora keine Option dar, es ist unmöglich, eine solch große Textmenge wie im VG-Korpus manuell zu bearbeiten. Hier müssen automatisierte Verfahren zum Einsatz kommen (z. B. Musteranalysen zum Auffinden bisher nicht dokumentierter arealtypischer Varianten über n-Gramme). Solche Verfahren haben den Vorteil, dass sie Unterschiede im Gebrauch grammatischer Strukturen aufdecken können, die bei normaler Lektüre nicht ins Auge springen, aber im Abgleich großer Textmengen zutage treten und auch statistisch signifikant auffällig sind. Auf beide Weisen kann man etwa Phänomene wie die folgenden ermitteln (s. dazu ausführlicher Abschn. 2.3). Die Beispiele sollen nur einen kleinen Eindruck von der Variantenvielfalt in der Grammatik des Deutschen geben, sie stehen daher ohne weitere Erläuterungen oder Angaben zur vermuteten regionalen Distribution: – Beiträge für/Beiträge zu/Beiträge an, Tendenz zu/Tendenz nach – über etwas froh sein/um etwas froh sein, besorgt sein um etwas/besorgt sein für etwas – öfters/öfter, durchwegs/durchweg, durchgehends/durchgehend, weiters/des Weiteren – fragte/frug, speiste/spies – Der Mann, welcher/Der Mann, der – in (den) Urlaub fahren, im Urlaub sein/auf Urlaub fahren, auf Urlaub sein – obwohl/obschon/trotzdem (als Subjunktor), als/da (als temporale Konjunktion) – um ein Haar/bei einem Haar – Ich bin froh, bist Du nicht da/Ich bin froh, dass Du nicht da bist – Herr Peter Meier (Briefanschrift)/Herrn Peter Meier (Briefanschrift)

3.3

Die Variantendatenbank

In diesem Abschnitt wird die Variantendatenbank vorgestellt, die im Rahmen unseres Projekts aufgebaut wurde und eine Fülle von Phänomenen umfasst, welche die Basis für Suchabfragen im Korpus bilden werden. Dabei handelt es sich zum einen um solche Einträge, die grammatische Muster beschreiben, wobei diese jeweils mit Beispielen illustriert sind (vgl. Muster 1: Abtrennung von

Variantengrammatik des Standarddeutschen

217

Verbpartikeln, z. B. Das Resultat spiegelt den Spielverlauf wider/widerspiegelt den Spielverlauf nur bedingt, Muster 2: Stellung des Adverbs in Relation zum Adjektiv, z. B. Das Eis ist nicht dick genug/nicht genug dick). Zum anderen sind in der Datenbank Einträge gelistet, die auf konkretes Wortmaterial Bezug nehmen (z. B. der Kader/das Kader; im Voraus/zum Voraus; bis jetzt/bis anhin; etwas gewohnt sein/sich etwas gewohnt sein), die also keine Variablen, sondern Varianten sind. Nun mag man zu bedenken geben, dass eine solche Struktur sehr heterogen ist, da die Einträge auf unterschiedlichen Komplexitätsebenen liegen. Genau das wird aber auch in dem geplanten Handbuch der Fall sein: Hier wird es, wie auch im Zweifelsfälle-Duden (vgl. Duden 2011), zwei Arten von Artikeln geben: Artikel, die von einem Wort bzw. einer Wortkombination ausgehen (z. B. widerspiegeln), und solche, die einen bestimmten Themenbereich darstellen (z. B. die Abtrennung von Verbpartikeln). Nur kurz kann hier der Aufbau der Datenbank beschrieben werden. Auf der obersten Hierarchie-Ebene gibt es die folgenden Ordnungskategorien: Wortbildung, Flexion, Genus, Valenz und Rektion, Wort- und Satzgliedstellung, Gebrauch des Artikels, Phraseologismen/Restfälle, die ihrerseits weiter untergliedert sind. So gehören zur Wortbildung und Flexion die Kategorien Substantiv, Verb, Adjektiv, Pronomen und die große Gruppe der Unflektierbaren (z. B. Wortbildung > Nomina > Fugenelemente; Flexion > Nomina > Pluralbildung). Zu jedem Varianten-›Kandidaten‹ sind die Angaben angeführt, die sich in der einschlägigen Literatur zum jeweiligen Phänomen finden (bzw. eigene Überlegungen dazu), aber auch Angaben zum Vorkommen des Phänomens im Korpus, zur Formulierung der Suchabfrage, zu den Ergebnissen der Abfrage und zu statistischen Berechnungen (z. B. den jeweiligen Signifikanzwerten). Des Weiteren wird zu jedem Eintrag die Quelle genannt, aus welcher der Hinweis auf die Variante stammt. Hierfür wurden bisher 15 einschlägige Arbeiten ausgewertet. Wie die Auswertung zeigte, finden sich darin durchaus auch Hinweise auf regionale Varianten, die in den Bereich der Grammatik fallen. Das geschieht aber jeweils mit anderer Schwerpunktsetzung. So legt das Variantenwörterbuch den Schwerpunkt auf die Lexik, der Zweifelsfälle-Duden erfasst neben der Orthographie (vgl. den Eintrag zu telefonieren) und der Stilistik (vgl. den Eintrag zu kriegen) zwar auch die Grammatik (vgl. den Eintrag zu wegen), aber nur solche Fälle, in denen Unsicherheiten bestehen, ob eine Variante korrekt ist (was bei einer Variante wie Maturand vs. Abiturient außer Frage steht). Andere Arbeiten wiederum haben nur eine Standardvarietät im Blick, also z. B. das österreichische Deutsch (vgl. Wiesinger 2006). Angemerkt sei auch, dass es keine Arbeit gibt, die explizit auf die deutsche Standardvarietät Bezug nimmt, was angesichts der Tatsache, dass das deutsche Deutsch oft mit dem Gemeindeutschen gleichgesetzt wird, nicht verwundert. Die unterschiedlichen Zielsetzungen haben zur Folge, dass einzelne Phänomene nur in einem dieser Werke erwähnt werden (z. B. Ende

218

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Jahr, s. dazu weiter unten), andere zwar in mehreren Arbeiten, aber z. T. mit unterschiedlichen Beurteilungen hinsichtlich ihrer regionalen Distribution und ihrer Akzeptabilität (vgl. die divergierenden Einträge zu trotz). Dennoch stellen sie für uns eine wichtige Grundlage dar, denn sie bieten einen Anhaltspunkt dafür, welche Phänomene überhaupt als diatopisch markiert gelten könnten und deshalb im Korpus überprüft werden sollten. Doch wird die Datenbank nun sukzessive auch um solche Phänomene ergänzt, von denen wir aufgrund eigener Beobachtungen annehmen, dass es sich um Varianten handelt, auf die sich aber in den überprüften Referenzwerken kein Hinweis findet. Ob diese Phänomene tatsächlich als Varianten gelten können, werden die Suchabfragen im Korpus zeigen: Sollte sich kein signifikanter Wert für ihr Vorkommen ergeben, dann wird das Phänomen nicht als diatopische Variante in unserer Grammatik geführt. Einen Eintrag wird es aber dann geben, wenn es sich um ein Phänomen handelt, das noch in keiner Grammatik des Standarddeutschen erfasst wurde, aber so frequent ist, dass man es nicht länger ignorieren kann.

3.4

Zum Problem der relativen und absoluten Varianz im Standarddeutschen

Im HSK-Artikel »Sprachvarietät […]« schreibt Gaetano Berruto (2004: 193), dass »Varietäten nicht nur durch An- oder Abwesenheit von bestimmten Einheiten, Formen, Oppositionen oder Regeln charakterisiert werden, sondern auch durch ihre Frequenz […] charakterisiert werden können.« Berruto weist hier auf einen Aspekt hin, der u. E. in der bisherigen Literatur zur arealen Standardvariation stark vernachlässigt wurde. Buchtitel wie »Wie sagt man in Österreich?« (Ebner 2009) oder »Schweizer Wörterbuch. So sagen wir in der Schweiz« (Meyer 2006) legen nahe, dass die dort aufgeführten Varianten als ›Voll-Austriazismen‹ bzw. ›Voll-Helvetismen‹ in ganz Österreich bzw. in der gesamten Deutschschweiz gelten.13 Dagegen gehen wir davon aus, dass die grammatischen Unterschiede, auf die wir in der Korpusauswertung stoßen werden, in den meisten Fällen nicht absolute, sondern relative Varianten darstellen. Damit ist gemeint, dass die meisten Varianten in einem der deutschsprachigen Länder oder auch nur in einem Gebiet eben nicht ausschließliche Geltung beanspruchen können, sondern wir es in den meisten Fällen mit einem Nebeneinander von Varianten zu tun haben, die eher nach Mehrheits- und Minderheitsvarianten zu unterteilen sind.14 Die folgende Abbildung soll dies schematisch veranschaulichen (vgl. dazu Scherr / Niehaus 2013: 78). 13 Zu einer besonders lebhaften Diskussion hat in diesem Zusammenhang das Erscheinen des »Österreichischen Aussprachewörterbuchs« (Muhr 2007) geführt. 14 Vgl. Farø (2005: 387): »Absolute Varianten sind solche, die nur oder fast nur in einer

Variantengrammatik des Standarddeutschen

219

Areal A Variante x: 70% Variante y: 30% Areal C Areal B

Variante x: 20%

Variante x: 30%

Variante y: 20%

Variante y: 70%

Variante z: 60%

Abb. 1: Relative areale Varianz (schematische Darstellung)

Die Annahme absoluter Varianten mag das Erbe eines Varietätenpurismus sein, der lange in der Dialektologie vorherrschte. Doch auch dort setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass dies die Sprachwirklichkeit nicht adäquat wiedergibt, sondern dass Variation an ein und demselben Ort der Normalfall ist (vgl. Pickl 2013, Pröll 2014). Nur am Rande sei erwähnt, dass die ungeprüfte Annahme absoluter Varianten in den deutschsprachigen Ländern natürlich auch dem Konzept bzw. der Ideologie der ›nationalen Varietäten‹ Vorschub leistet. Ken Farø beklagt in seiner Rezension zum Variantenwörterbuch denn auch zu Recht diese fehlende Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Varianten: »Dies ist schade, denn in einigen Fällen werden sich die als absolut dargestellten Varianten bei genauerer Untersuchung wohl doch als relative herausstellen« (Farø 2005: 387). Nun bestand bei der ersten Auflage des Variantenwörterbuchs freilich das Problem, dass »[m]ehr als die Hälfte aller Belege« aus Internetquellen stammte (Ammon / Bickel / Ebner [u. a.] 2004: 911) und das World Wide Web kein geschlossenes Korpus darstellt, das eine Quantifizierung der Belege zuließe. Wie erwähnt, vermuten wir, dass ein Großteil der im VGKorpus ermittelten Varianten relative sein werden. Da es ein geschlossenes Korpus ist, werden quantitative Vorkommensangaben möglich sein (vgl. auch die Fallanalysen im Abschn. 4).

4

Das Pilotkorpus ›Kleine Zeitungen‹

Gleichzeitig mit dem Aufbau unseres Großkorpus wurde ein Pilotkorpus ›Kleine Zeitungen‹ zusammengestellt, das möglichst frühzeitig erlauben sollte, erste Recherchen zur grammatischen Variation durchzuführen und Hinweise für weitere Abfragen im VG-Großkorpus zu gewinnen. Im Gegensatz zum Großkorpus wurden in das Pilotkorpus ausschließlich regional distribuierte ZeitunSprachgemeinschaft vorkommen, während relative Varianten solche sind, die zwar überfrequent in einer Sprachgemeinschaft vorkommen, dort aber keine Alleinvertretung haben.«

220

Christa Dürscheid / Stephan Elspaß / Arne Ziegler

gen mit geringerer Auflagenstärke aufgenommen. Dabei handelt es sich um Daten aus der Schweiz, aus Österreich sowie in geringerem Ausmaß auch aus Deutschland und Südtirol. Die Details der aktuellen Zusammensetzung des Pilotkorpus bietet die folgende Übersicht: Österreich: Zeitung

Schweiz: Anzahl Artikel

Anzahl Tokens

Echo Salzburg

1'204

Echo Tirol

746

991'883

Regionaut

2'680

519'727

827'728

Woche.at

1'763

332'232

TOTAL

6'393

2'671'570

Südtirol: Zeitung

Anzahl Artikel

Anzahl Tokens

Lorenzner Bote

49

30'467

Bozner 92 Nachrichten

27'470

Montaner Dorfblatt

79

28'604

TOTAL

220

86'541

Zeitung

Anzahl Artikel Anzahl Tokens

Affolter Anzeiger

21

8'195

Anzeiger Luzern

930

10'817

Frutiglaender

140

42'632

Jungfrau Zeitung

5'000

1'768'113

Lokalinfo

71

37'612

Neues Bülacher Blatt 90

53'961

Stadtanzeiger Olten

41

25'613

Trienger Anzeiger

16

7'930

Zürcher Unterländer

163

62'254

Zürichsee Zeitung

282

142'590

TOTAL

9'292

2'159'717

Deutschland: Zeitung

Anzahl Artikel Anzahl Tokens

Die Mark Online

1020

183'864

Elbe-Jeetzel-Zeitung

50

1'6207

inSüdthüringen.de

156

55'042

n-land.de

188

52'535

Pinneberger Tageblatt

209

55'238

Rheiderland

84

25'688

Solinger Tageblatt

134

27'451

Vogtland Anzeiger

4136

1'064'820

TOTAL

5'977

1'480'845

Abb. 2: Zusammensetzung des Pilotkorpus ›Kleine Zeitungen‹

Wie in Abb. 2 zu sehen, sind die Tokenzahlen der einzelnen Teilkorpora unterschiedlich, was im Hinblick auf frequentielle Analysen berücksichtigt werden muss. Um dies zu gewährleisten, ist als zusätzliche Hilfe bei der Auswertung der Resultate eine gewichtete, prozentuale Angabe bezüglich der Resultatverteilung angefügt. Diese ergibt sich aus den relativen Frequenzen pro Land wie folgt: (100/Summe aller relativen Frequenzen)*relative Frequenz des jeweiligen Teilkorpus. Wichtig ist an dieser Stelle noch darauf hinzuweisen, dass

Variantengrammatik des Standarddeutschen

221

das oben gelistete Teilkorpus Südtirol (zur Verfügung gestellt von European Academy of Bozen/Bolzano – EURAC, Korpus Südtirol) zwar auch in Suchabfragen einbezogen wird, die Resultate werden aber nicht bei der Berechnung der normalisierten prozentualen Verteilung der Treffer berücksichtigt, da dieses Subkorpus im Vergleich zu den anderen zu klein ist. Treffer in den Südtiroler Blättern würden im Verhältnis zu den anderen Zeitungen zu stark gewichtet. Darüber hinaus gibt es hier, anders als bei den anderen Subkorpora, keinen Zugriff auf die Quellen, da die Zeitungstexte nicht über das Internet zugänglich sind. Das Pilotkorpus ist – mit Ausnahme des Teilkorpus Südtirol – mit dem TreeTagger annotiert und erlaubt somit kombinierte Suchanfragen nach POSTags (part of speech tags), Lemmata und Lexemen. Da die gesamte Suchsyntax auf regulären Ausdrücken basiert, muss in einer Suchanfrage immer mindestens ein Lemma oder ein Lexem enthalten sein, um zu den beabsichtigten Ergebnissen zu gelangen. Darüber hinaus ist im Pilotkorpus eine definierte KWIC (keyword in context)-Angabe möglich, so dass in Zweifelsfällen auch der Kontext konsultiert werden kann, in dem der gesuchte Ausdruck auftritt. Die Ergebnissätze werden pro Zeitung und Teilkorpus ausgegeben (siehe dazu weiter unten, Abb. 5). Zusätzlich kann gezielt zu einem Ergebnissatz dessen Quelle gesucht werden. Bei der Suche nach der Quelle wird automatisch eine Google-Suche initiiert, die – sofern erfolgreich – direkt auf die entsprechende Seite weiterleitet. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, in den ausgegebenen Resultaten zu suchen, um die Ergebnisse gegebenenfalls zu verfeinern. Trotz dieser Möglichkeiten ist das Pilotkorpus natürlich gegenüber dem VG-Großkorpus nur eingeschränkt verwendbar. Dennoch eröffnet es die Chance, induktiv und deduktiv ermittelte grammatische Varianten bzgl. ihrer regionalen Distribution tendenziell zu überprüfen.

5

Fallanalysen

Nach dieser Übersicht über den Aufbau der Variantendatenbank und des Pilotkorpus betrachten wir nun vier Varianten etwas genauer. Zwei fassen wir in einem Kapitel zusammen (vgl. 5.1), da diese im Unterschied zum dritten und vierten Typus, den selbständig vorkommenden Wobei- und Dies-Sätzen sowie den diskontinuierlichen Richtungsadverbien (vgl. dazu 5.2 und 5.3), in der Variationsforschung noch nicht (n-jährig) oder nur ansatzweise (Ende Jahr) behandelt worden sind, die Analysen also Neuland betreten. Es geht im Folgenden also zunächst um das Adjektiv n-jährig in prädikativer Verwendung (z. B. Er wird dreijährig) und das Vorkommen von engen Appositionen vom Typus Ende Jahr, Anfang Woche.

222 5.1

Christa Dürscheid / Stephan Elspaß / Arne Ziegler

Ende Jahr wird das Kind dreijährig

Aus unserer Sicht ist der in der Überschrift konstruierte Satz Ende Jahr wird das Kind dreijährig für Sprecher der CH-Standardvarietät absolut unauffällig, in anderen Regionen des deutschen Sprachgebiets wird er als stark markiert, wenn nicht gar als ungrammatisch angesehen.15 Bei diesem Satz handelt es sich um eine Kombination zweier Phänomene, die jeweils für sich, so vermuten wir, bereits eine solche Einschätzung hervorrufen können: Ende Jahr und wird dreijährig. Damit ist nicht gesagt, dass es die verwendeten Lexeme selbst sind, die Varianten darstellen. Was das Adjektiv n-jährig betrifft, so wird dieses im gesamten deutschen Sprachraum verwendet (vgl. das dreijährige Kind), und auch die beiden Substantive Ende und Jahr sind gemeindeutsch. Das für Sprecher einer nicht-schweizerischen Varietät Auffällige daran ist die syntaktische Struktur in diesem Satz, genauer: die Kombination von Ende mit einem Substantiv, das nicht als Genitiv-NP markiert ist (vgl. Ende des Jahres), sondern als enge Apposition, sowie die Verwendung des Wortes dreijährig als Prädikativum. In diesem Abschnitt formulieren wir nur einige vorläufige Hypothesen zu beiden Phänomenen; die empirische Überprüfung dieser Annahmen muss in dem annotierten Korpus, das wesentlich größer als unser Pilotkorpus sein wird, geleistet werden. Doch gibt uns das Pilotkorpus bereits erste Anhaltspunkte, ob die Annahmen zutreffen. Allerdings hat das Pilotkorpus bei den nun betrachteten Phänomenen einen großen Nachteil: Alle aus der Suchabfrage resultierenden Treffer müssen manuell nachbearbeitet werden, um die zahlreichen Belege herauszufiltern, die falsch positiv sind. Dass es so viele ›False Positives‹ gibt, hängt damit zusammen, dass die Suche z. B. nicht auf syntaktische Funktionen (z. B. auf das Vorkommen des fraglichen Elements in prädikativer oder attributiver Funktion) eingeschränkt werden kann. Beginnen wir mit dem Adjektiv n-jährig und konsultieren dazu zunächst das Variantenwörterbuch. Hier findet man tatsächlich einen Eintrag, in dem es allerdings nur um die Verwendung des Adjektivs jährig ohne vorangestelltes Zahlwort geht und dazu festgestellt wird, dass dieses Adjektiv in der Schweiz die Bedeutung von einjährig habe (vgl. den Beleg aus dem VWB: Er hinterlässt eine Frau, ein 12-tägiges und ein jähriges Kind). Im Folgenden steht dagegen das Kompositum, d. h. die Verbindung eines Zahlwortes (= Variable n) mit jährig im Fokus bzw. genauer gesagt: Es steht im Fokus, in welcher syntaktischen Funktion dieses Kompositum auftreten kann (d. h. attributiv oder/und prädikativ). Abb. 3 15 So ergab eine Umfrage, die im Wintersemester 2012/13 unter 184 Studierenden an der Universität Kiel durchgeführt wurde (unser Dank geht hierfür an Markus Hundt), dass nur zwei Studierende diesen Satz als grammatisch einstuften. 177 gaben an, der Satz sei ungrammatisch, fünf wollten sich nicht festlegen (»weiß nicht«).

Variantengrammatik des Standarddeutschen

223

gibt ein Beispiel aus dem CH-Subkorpus, im dem das Adjektiv -jährig als Kompositum (80-jährig) prädikativ mit dem Kopulaverb wird auftritt.

Abb. 3: Zeitungsausschnitt (CH)

Unsere Hypothese ist, dass eine solch prädikative Verwendung von n-jährig fast nur im Schweizer Subkorpus vorkommt; in den anderen beiden Subkorpora erwarten wir als Subjektsprädikativum in Bezug auf Menschen stattdessen Formulierungen wie wird 80 Jahre alt oder wird 80. Das heißt nicht, so unsere Annahme, dass das Adjektiv n-jährig im A- und D-Korpus nicht auch auftritt, doch dann ist es flektiert und steht in attributiver Funktion (z. B. das dreijährige Kind). Bevor wir die Suchabfrage nach -jährig kommentieren, sei angemerkt, dass es eine weitere syntaktische Verwendung des Adjektivs n-jährig gibt, die aufgrund der Semantik dieses Adjektivs vermutlich aber selten ist. Ein nicht flektiertes Adjektiv kann auch in Sekundärprädikation zum Subjekt oder Objekt, d. h. in depiktiver Funktion auftreten (vgl. dazu Flösch 2007: 26 – 28) und in diesem Fall einen temporären Zustand bezeichnen, der zum Zeitpunkt des Ereignisses besteht (vgl. Er isst die Suppe fröhlich; Er isst die Suppe heiß). Ein konstruiertes Beispiel, das analog dazu aufgebaut ist und mit n-jährig gebildet wird, ist Sie kam dreijährig in den Kindergarten. Hier wird das aktuelle Alter des Kindes beim Eintritt in den Kindergarten genannt. Treten solche Sätze im Korpus auf, dann zählen sie in unserer Auswertung ebenfalls zu den prädikativen Verwendungen von n-jährig. Das gilt auch für solche Fälle, in denen das nicht flektierte Adjektiv postnominal auftritt. Dabei handelt es sich um Appositionen, die – wie Flösch (2007: 32) feststellt – der prädikativen Verwendungsweise nahe stehen. Im Folgenden werden zwei Beispiele (beide Male aus dem Schweizer Subkorpus) gegeben: Die in (1) und (2) belegten Appositionen stellen syntaktische Strukturen dar, in denen das Kopulaverb fehlt, aber rekonstruiert werden könnte (vgl. Christian ist 19-jährig; der Jüngste war gerade mal 4-jährig).

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(1) Er ist mit der 45-jährigen Ruth verheiratet und hat vier Kinder – Christian (19-jährig), Janine (18-jährig), Stefan (16-jährig) und Larissa (9-jährig). (2) 41 Clubmitglieder, der Jüngste gerade mal 4-jährig, kämpften um jede Hundertstelsekunde, was auf der harten Unterlage nicht so einfach war. Schauen wir uns nun die Ergebnisse der Suchabfrage an: Im Schweizer Subkorpus tritt prädikatives n-jährig 26 Mal auf, im österreichischen 2 Mal, im deutschen Subkorpus gar nicht. Die Durchsicht der Treffer zeigt, dass die österreichischen Belege zu einer anderen Kategorie zählen als die schweizerischen. Im einen Fall geht es nicht um das Alter von Menschen, sondern um einen Zeitraum: Die Ausbildung zum Altenfachbetreuer ist zweijährig, im anderen Fall liegt eine lexikalische Variante zu volljährig vor: Ich war schon großjährig.16 Wie sind diese Zahlen aus quantitativer Sicht zu bewerten? Die Nullwerte deuten zwar auf eine absolute Variante hin, das muss aber wiederum im Großkorpus überprüft werden. Wenn auch in diesem Korpus das Ergebnis hoch signifikant ist (was wir vermuten), dann wird die Konstruktion als diatopische Variante Eingang in unser Handbuch finden. Der Artikel, der hierzu formuliert wird, könnte (in Auszügen) dann wie folgt aussehen: »In CH kann n-jährig attributiv und prädikativ gebraucht werden. In A und D dagegen ist in Bezug auf das Alter von Menschen die prädikative Verwendung von n-jährig in Kombination mit einem Kopulaverb nicht möglich.« Mit dem Zusatz »in Bezug auf das Alter von Menschen« soll hier angedeutet werden, dass auch in nicht-schweizerischen Varietäten eine prädikative Verwendung durchaus möglich ist, wenn es sich bei den Subjektreferenten um Tiere oder Pflanzen handelt. Das lassen zumindest die folgenden Internetbelege auf Webseiten mit der Extension .de vermuten: (3) Die Stute ist 4 jährig (1,76 m Stockmass) und dressurbetont gezogen. (4) Die Pflanze ist 2-jährig. Eine Verwechslung mit dem Habichtskraut ist möglich. Auch dieser Punkt muss noch weiter untersucht werden; interessant ist zudem die grundsätzliche Frage, warum die prädikative Verwendung des Adjektivs in Bezug auf das Alter von Menschen in der österreichischen und deutschen Standardvarietät nicht möglich zu sein scheint, in der Schweizer Varietät aber unauffällig ist. Aus unserer Sicht stellt das ein Kuriosum dar, in dem – sehr

16 Man beachte, dass in dem Kompositum großjährig das Erstglied kein Zahlwort ist. Das hängt mit der RegEx-Suchabfrage jährig\b zusammen. Diese erbringt Treffer zu allen Komposita, in denen das Adjektiv jährig als Endglied steht, also auch zu solchen Komposita, deren Erstglied gar kein Zahlwort ist. Will man das umgehen, muss man die Abfragesyntax wesentlich komplexer gestalten. Darauf wurde hier verzichtet.

225

Variantengrammatik des Standarddeutschen

zugespitzt gesagt – die Schweizer Standardvarietät der Normalfall ist und die anderen Varietäten Abweichungen davon sind.17 Damit kommen wir zur zweiten Fallanalyse, die hier nur kurz angesprochen werden kann: die Alternation zwischen Genitiv-NP und enger Apposition im Nominativ (vgl. Anfang des Jahres/Anfang Jahr). Es sei zunächst wieder ein Beispiel zur Illustration gegeben: Startseite Abo Immo Job Auto Anzeigen Partnersuche

WIRTSCHAFT ZÜRICH

SCHWEIZ

Unternehmen

AUSLAND

Konjunktur

Geld

WIRTSCHAFT

Karriere

Vorbörse

BÖRSE

SPORT

Weiterbildung

KULTUR

PANORAMA

LEB

Bildstrecken

Deutliche Zunahme an Firmenpleiten seit Anfang Jahr Aktualisiert am 10.06.2011

In der Schweiz ist es von Januar bis Mai zu deutlich mehr Konkursfällen gekommen als im Jahr davor. Gemäss Statistik der Wirtschaftsauskunftei Dun & Bradstreet waren es insgesamt 2606.

Abb. 4: Zeitungsausschnitt (CH)

Konsultiert man wieder in einem ersten Schritt das VWB, dann findet man unter dem Eintrag Ende, dass Ende Jahr eine CH-Variante zu Ende des Jahres ist. Das Phänomen ist also erfasst. Es werden zudem auch weitere Beispiele (inkl. Textbelege) genannt (z. B. Ende Monat, Ende Saison, Ende Woche), und es wird ein Verweis auf das Stichwort Anfang gegeben, in dem weitere Beispiele angeführt sind (z. B. Anfang Woche, Anfang Saison, Anfang Jahr). Warum also erwähnen wir diese Konstruktion eigens, wenn sie ja schon im VWB erfasst ist? Wir

17 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass in der Schweizer Standardvarietät nicht nur n-jährig in eine prädikative Konstruktion eingehen kann, sondern auch n-plätzig (vgl. Das Auto ist vierplätzig). Der Unterschied ist jedoch der, dass n-plätzig als Wort eine CHVariante darstellt (vgl. Ammon / Bickel / Ebner [u. a.] 2004: 579), n-jährig dagegen gemeindeutsch ist. Daneben gibt es auch die Adjektive n-fränkig und n-grädig, die in der Schweiz ebenfalls verwendet werden und dem gleichen produktiven Wortbildungsmuster folgen, d. h. eine denominale Ableitung auf -ig darstellen. Allerdings ist von diesen Adjektiven nur n-grädig im VWB erwähnt, nicht n-fränkig (vgl. aber den folgenden Beleg aus unserem CH-Subkorpus: Daher hat wohl ein Zusammenschluss der RBU mit der EKI zukunftsbezogen Sinn, zumal die 8000fränkige Raiffeisenbürgschaft je Anteilschein bei der EKI wegfällt).

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wollen deutlich machen, wo die Unterschiede zwischen einem Eintrag zu Ende im VWB und einem Eintrag zu Ende Jahr in unserem Handbuch liegen. Zunächst aber seien noch die Zahlen aus der Abfrage für Ende Jahr im Pilotkorpus genannt. Diese bestätigen die Angabe im VWB, dass es sich um eine CH-Variante handelt: Im CH-Subkorpus liegen 62 Treffer zu Ende Jahr vor, in den anderen beiden Subkorpora gibt es keine Treffer. Zu Ende Monat sind es im CH-Korpus drei Treffer, zu Ende Woche vier. Eine Konstruktion wie Ende Tag (die theoretisch ja auch möglich wäre, wenn man davon ausgeht, dass das zweite Nomen einen Zeitraum bezeichnet), kommt in keinem der drei Subkorpora vor. Eine andere Konstruktion ist dagegen in allen Korpora möglich: als zweites Substantiv, d. h. als appositiver Nebenkern, kann durchaus in allen Standardvarietäten ein Monatsname oder eine Jahreszahl stehen (vgl. Ende April, Ende 2002). Dieser Typus von enger Apposition (jeweils ohne Artikel) ist gemeindeutsch. Eine CH-Variante liegt also nur dann vor, wenn als Nebenkern das Wort Woche, Monat oder Jahr verwendet wird. Hier muss in den anderen Varietäten eine Genitiv-NP stehen, obwohl Kombinationen wie Ende April durchaus möglich sind.18 Auch in diesem Punkt scheint die CH-Varietät also weniger restriktiv zu sein. Wie lässt sich diese CH-Variante nun grammatisch beschreiben, welche Angaben sollen in unserem geplanten Handbuch stehen? Ein Eintrag unter dem Stichwort ›Apposition‹ könnte (in Auszügen) lauten: Im Gemeindeutschen ist eine Apposition (mit N2 = Zeiteinheit) nur dann möglich, wenn N2 als Monatsname oder als Jahreszahl realisiert wird (vgl. Anfang April, Mitte 2006, Ende Oktober, nicht aber: Ende Monat). Im Schweizer Standarddeutschen tritt eine solche Apposition auch ohne diese Einschränkung auf (vgl. Anfang Jahr, Mitte Woche, Ende Monat), d. h. N2 kann sowohl als Monatsname und Jahreszahl, aber auch als Woche, Monat oder Jahr realisiert werden.

Selbstverständlich wird es in dem Handbuch auch Einträge zu den Wortgruppen selbst geben (also z. B. zu Ende Jahr), in diesen Artikeln soll die Information aber nur kurz gefasst und auf den Artikel zum Thema ›Apposition‹ verwiesen werden.19 18 Wie im VWB erwähnt, gehört zu dieser Gruppe auch das Nomen Saison, das ja ebenfalls einen Zeitraum umfasst. Dieses Wort klammern wir im Folgenden aus der Diskussion aus. 19 Auf eine weitere CH-Variante sei in diesem Zusammenhang nur in einer Fußnote hingewiesen: Es ist die Kombination einer engen Apposition mit der Präposition auf (vgl. den folgenden Beleg aus dem CH-Subkorpus: Der Gemeinderat musste davon Kenntnis nehmen, dass Gottlieb Brunner-Knutti auf Ende Jahr die Kehrichtentsorgung in der Gemeinde Iseltwald aufgeben wird.). Im Gemeindeutschen steht hier das Temporaladverbial ohne Präposition (Ende des Jahres), oder es werden – je nach Semantik – die Präpositionen an oder bis gebraucht. Eine solche Konstruktion wird in der CH-Varietät produktiv verwendet. Sie kommt auch mit dem Wort Anfang vor (auf Anfang Monat) bzw. auch dann, wenn als zweites Substantiv ein Monatsname oder eine Jahreszahl steht (auf Ende Januar, auf Anfang 2003). Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass im österreichischen Subkorpus anstelle von bis,

Variantengrammatik des Standarddeutschen

227

Solche Informationen sollten u. E. Eingang in die gängigen Grammatiken des Deutschen finden. Das ist bislang leider nicht der Fall. So gibt es in der DudenGrammatik zwar ein Kapitel zum Thema »Appositive Nebenkerne« (Duden 2009: 987 – 994), doch werden hier unter dem Stichwort »Determinative Apposition« nur Beispiele wie das Problem Terminfindung, die Villa Müller, die Uni Hamburg, das Bundesland Thüringen u. a. genannt, nicht aber solche, in denen der abhängige Nebenkern, wie in der CH-Variante, einen Zeitraum umfasst. Hinzu kommt, dass in allen Beispielen aus der Duden-Grammatik die Wortverbindungen nicht artikellos sind, gerade dies aber bei den hier zur Diskussion stehenden Konstruktionen der Fall ist (vgl. *der Anfang Jahr). Die Frage stellt sich dann auch, ob das Wort Anfang in diesem Syntagma nicht eine, wie Gallmann (1990: 313) es nennt, »orthographisch verschleierte Präposition« ist, d. h. kein Substantiv mehr darstellt (vgl. dazu auch die – laut VWB nur in der Schweiz mögliche – syntaktisch analoge Konstruktion anfangs Jahr).

5.2

Selbständig vorkommende Wobei- und Dies-Sätze

In diesem Abschnitt besprechen wir zwei Satztypen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ihnen ein Merkmal selbständig vorkommender Sätze fehlt: Zum einen beziehen wir uns auf Sätze, in denen das finite Verb – wie in einem Nebensatz – am Ende steht, zum anderen auf Sätze, in denen gar kein finites Verb vorkommt. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob es sich um diatopische Varianten handelt. Betrachten wir dazu das folgende Beispiel, das aus dem österreichischen Subkorpus stammt: Blechbläser und Musikverein vermittelten anschließend gemütvollen Polkazauber. Wobei das klangweiche Tenorhornregister ein Sonderlob verdient. An dieser Sequenz fällt auf, dass der zweite Satz nicht als Nebensatz auftritt, sondern selbständig vorkommt. Handelt es sich dabei um einen partikulären Zeichensetzungsfehler, der nichts mit Syntax zu tun hat? Dagegen spricht das Vorkommen des Satzschlusszeichens und der darauf folgenden Majuskelschreibung des Relativadverbs wobei. Das lässt darauf schließen, dass die beiden Einheiten als selbständige Sätze aufgefasst werden. Dagegen spricht auch, dass Wobei-Sätze im Korpus ein wiederkehrendes Phänomen darstellen, das einer bestimmten Systematik folgt. Diese Systematik lässt sich wie folgt beschreiben: Verbendsätze, die mit dem Relativadverb wobei eingeleitet werden und dazu dienen, eine vorangehende Aussage zu präzisieren oder in ihrer Gülam oder auch per auch die Präposition mit verwendet werden kann, was wiederum, so unsere Hypothese, eine A-Variante sein könnte (vgl. den folgenden Beleg aus dem A-Subkorpus: Ich werde mit Ende September meine neuen Aufgaben für den Ötztaltourismus wahrnehmen und den Zweig Mountainbike und Radfahren gemeinsam mit Gerhard Gstettner betreuen.).

228

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tigkeit einzuschränken, werden als selbständige syntaktische Einheiten reanalysiert. Sie stellen damit eine Konstruktionsalternative zu eingebetteten wobeiSätzen dar. Wie die Abfrage im Pilotkorpus ergibt, treten Wobei-Sätze dieses Typus in allen drei Varietäten auf, ohne dass es einen Unterschiede gäbe, der in einer statistischen Berechnung als signifikant gelten würde. Doch es ist immerhin erstaunlich, dass im österreichischen Subkorpus prozentual in 34,39 % aller Sätze, in denen ein Verbendsatz mit dem Relativadverb wobei eingeleitet wird (absolut: in 162 von 471 Fällen), dieser Satz selbständig steht. Im deutschen Subkorpus sind diese Zahlen weitaus geringer, sie liegen bei 13 % (zum Vergleich: 31 % im CH-Subkorpus). Die Überprüfung im Großkorpus wird endgültige Klarheit bringen, ob hier nicht doch diatopische Variation vorliegt, da die Zahl der Tokens dort um ein Vielfaches größer als im Pilotkorpus ist. Interessant ist auf jeden Fall, dass dieser Typus von Verbendstellung in keiner der gängigen Grammatiken erwähnt wird, obwohl es sich um ein Muster handelt, das in tendenziell konzeptionell schriftlichen Texten (wie z. B. in Zeitungstexten) vorkommt und auch bei anderen nebensatzeinleitenden Konjunktionen auftritt (vgl. Obwohl das nicht immer gut ankommt).20 Damit kommen wir zu einem zweiten Konstruktionstyp, der in unserem Korpus dokumentiert ist, zum verblosen Dies-Satz (vgl. Dies trotz eines im Vergleich zum Vorjahr massiv höheren Cashflows). Da das Pilotkorpus nicht annotiert ist, lässt sich nicht automatisch danach suchen, wie oft Sätze, die mit dies beginnen, tatsächlich kein finites Verb enthalten; die lexikalische Suche mit der Zeichenkette Dies (in Großschreibung) führt leider zu vielen falschen Treffern (vgl. Dies ist der Grund für die Pächtersuche in Nassereith). Folglich können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine Aussage dazu machen, ob es sich um eine diatopische Variante handelt. Doch für einen Fall ist eine solche Aussage möglich: Steht nach der Proform dies ein Komma (vgl. Dies, weil oder Dies, ob), folgt also ein Nebensatz, dann kann über die RegEx-Abfrage \bDies,\b genau nach dieser Zeichenkette gesucht werden. Die auf diese Weise ermittelten Ergebnisse bringen einen Befund zu Tage, der unsere Vermutung stützt, dass diese Konstruktion eine CH-Variante sein könnte: Der Konstruktionstypus [Dies, …] ist 20 Konsultiert man z. B. die Duden-Grammatik, dann liest man, dass selbständig vorkommende Sätze mit Verbendstellung (V/E) nur als Infinitivphrasen (= »Hauptsatzäquivalente«), vgl. Alle mal herhören, 100 g Zucker einrühren, Bis zur Haltelinie vorfahren, als Fragen und Ausrufe (Wie gut er doch tanzt! Mit welch einer Ausdauer sich alle amüsiert haben! Was du dir jetzt schon wieder denkst!) und als Echo-Varianten von Fragesätzen (Wann kommst Du? – Hä? – Wann du kommen wirst) auftreten (vgl. Duden 2009: 890 – 894). Dagegen wird das Vorkommen von wobei in Kombination mit einem Verbzweitsatz (vgl. Ich komme nicht, wobei: ich würde gerne) in der Duden-Grammatik erwähnt, und zwar im Kapitel zur gesprochenen Sprache (vgl. Duden 2009: 1208).

Variantengrammatik des Standarddeutschen

229

im Schweizer Subkorpus immerhin mit 38 Treffern belegt. Im österreichischen Subkorpus liegen dagegen nur zwei Treffer vor, im deutschen Subkorpus ein Treffer, der aber zusätzlich noch falsch positiv ist. In der Duden-Grammatik wird dieser Typus nicht erwähnt, unter der Überschrift »Satzäquivalente (satzwertige Ausdrücke)« wird aber darauf hingewiesen, dass sich »manche satzwertige Ausdrücke« als Ellipsen auffassen lassen (vgl. Duden 2009: 893). Und um eine solche Ellipse, in der das Prädikat fehlt (vgl. das Duden-Beispiel Wozu das alles?), handelt es sich bei den Dies-Sätzen (und zwar bei beiden Typen, d. h. mit und ohne Einbettung eines Nebensatzes) u. E. auch. Funktional sind die Dies-Konstruktionen gut erklärbar: Sie stellen einen engen Bezug zur Proposition des vorangehenden Satzes her, ohne dass diese noch einmal explizit erwähnt werden müsste. Es ist damit eine gleichermaßen ökonomische wie auch stark kohäsive Ausdrucksweise, die es dem Schreiber zudem ermöglicht, die neue Information (z. B. die Angabe des Grundes) in den Fokus zu stellen. Abschließend sei zur Illustration dieses syntaktischen Phänomens ein Ausschnitt der Treffer für das A- und das CH-Subkorpus gezeigt (Abb. 5):

Abb. 5: Ergebnis der Suchabfrage \bDies,\b im Pilotkorpus (Ausschnitt)

230 5.3

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Diskontinuierliche Richtungsadverbien

Unser letztes Fallbeispiel betrifft ein Phänomen, das in der Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wurde und dabei ganz verschiedene terminologische Etikettierungen sowie definitorische und klassifikatorische Zuordnungen erfahren hat, grundsätzlich aber stets im Zusammenhang mit den trennbaren Adverbien im Deutschen gesehen wurde: Es geht um den diskontinuierlichen Gebrauch von Richtungsadverbien (z. B. hierhin, dahin, dorthin, hierher, daher, dorther, wohin, woher), d. h. um Konstruktionen vom Typus Wo geht es hin?. Formal fallen darunter alle Fälle, in denen ein direktionales Element hin/her mit einem Adverb da, wo, hier und vereinzelt auch mit dort kombiniert wird.21 Dieser diskontinuierliche Gebrauch von Richtungsadverbien wird zumeist den Klammerkonstruktionen zugeordnet. So fasst Weinrich das Phänomen unter den Terminus »Adverbklammer« (Weinrich 2005: 566). Vor allem Adverbklammern in Verbindung mit hin/her werden in der Forschung in engem Zusammenhang mit Partikelverben und der damit im Zusammenhang stehenden Partikelverbklammer gesehen, da die Position des präpositionalen/direktionalen Elements der klammerbildenden Richtungsadverbien der üblichen Position der Verbpartikel entspricht. Für die Elemente hin/her, die auch formal sehr oft Verbpartikeln entsprechen, bedeutet dies natürlich eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich der Zuordnung, was auch in unseren Daten deutlich wird (s. u.). Die Gründe für den diskontinuierlichen Gebrauch der Richtungsadverbien werden in der Forschungsliteratur relativ einheitlich im Zusammenhang mit Fragen der Distribution der Konstruktionstypen gesehen. So ist davon die Rede, dass aus diachroner Perspektive die Adverbklammer als das »Festhalten der Umgangssprache an einem Typ von Klammern« angesehen werden kann, ein Sprachgebrauch, »der von der normativen Grammatik in der modernen Standardsprache nicht mehr zugelassen wird« (Ronneberger-Sibold 1991: 216). Oder die diskontinuierlichen Strukturen werden als dispräferierte Linearisierungsverfahren charakterisiert, die als Klammerkonstruktionen in der gesprochenen Sprache aufgrund ihrer Online-Emergenz die Rezeption erleichtern (vgl. Auer 2005: 3). Erämetsä (1990), der die Zugehörigkeit der direktionalen Komponenten hin/her zu einem Adverb bzw. zum Verb aus diachroner und synchroner Sicht diskutiert, geht seinerseits von einem Einfluss der prosodischen Ebene auf den diskontinuierlichen Gebrauch der Richtungsadverbien aus. Und Weinrich (2005: 889) hält fest: »Die Formen woher und wohin werden mündlich-umgangssprachlich oft diskontinuierlich gebraucht und dann mit 21 Weinrich (2005: 566) spricht von einer Kombination von »Positions-Adverbien« mit »Direktions-Adverbien«, Nübling (2006: 97) von »komplexen Fragewörtern«.

Variantengrammatik des Standarddeutschen

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ihren beiden Teilen auf das Vor- und Mittelfeld der Verbalklammer verteilt«. Ebenso ist im Zweifelsfälle-Duden (2011: 1025)22 die Rede davon, dass statt woher und wohin in Verbindung mit einem Bewegungsverb »heute häufig das Ortsadverb wo gebraucht« wird, wobei »das Bewegungsverb den Verbzusatz her oder hin« erhält: »Diese Ausdrucksweise gehört hauptsächlich der gesprochenen Sprache an: Ich weiß nicht, wo er hingefahren ist. Wo bist du hergekommen? Wo gehst du hin?«. Als Formen der geschriebenen Standardsprache gelten nach dem Zweifelsfälle-Duden in diesen Fällen wohin und woher. Als Zwischenfazit kann also mit Blick auf die vorliegende Literatur festgehalten werden, dass der diskontinuierliche Gebrauch der Richtungsadverbien in der Regel nicht als standardsprachlich erachtet wird, sondern als ein Phänomen der gesprochenen Sprache, das umgangssprachlich und dialektal markiert scheint. Ein Blick in unser Pilotkorpus spricht allerdings – bei aller gebotenen Vorsicht aufgrund der Datenlage – eine andere Sprache. Hier sind sehr wohl Äußerungen in standardsprachlichen Kontexten zu belegen. Einige Beispiele aus dem österreichischen Subkorpus sollen dies belegen: (5) Wo auch immer Wechselberger seine mit Copyright »Quelle FPÖ-Tirol intern« angegebenen Informationen her hat, […] (Echo Tirol v. 1. 10. 2010) (6) Doch wo kommt der Sauerstoff her? (Echo Tirol v. 3. 6. 2010) (7) Dort wollte die fünfköpfige Truppe auch gar nicht hin, […] (Echo Salzburg v. 3. 3. 2010) (8) Wo fahren die Fans der Schirennläufer am liebsten hin? (MeinBezirk.at v. 24. 10. 2011) Wie sind nun aber diese Befunde vor dem Hintergrund der Erläuterungen in der Forschungsliteratur wie auch den existierenden Grammatiken zu interpretieren? Sprechen solche Belege dafür, dass die Mündlichkeit verstärkt einen Einfluss auf die Standardsprache ausübt? Liegt es am dialektalen Einfluss im österreichischen Sprachraum? Auf diese Gedanken könnte man kommen, gerade wenn man sich etwa Feststellungen in Bezug auf die Richtungsadverbien im Bairischen anschaut: Da die deutsche Standardsprache […] andere Orts- und Richtungsadverbien als die bairischen Dialekte kennt bzw. sie […] auf andere Weise bildet, ist hier in den Substandardentwicklungen insbesondere der bairischen Stadtdialekte ein breites Feld der Variabilität zwischen regionalen basis-dialektalen Formen und den standardsprachlichen Zielnormen […] gegeben. (Scheuringer 1990: 357)

Allerdings ist es keinesfalls so, dass wir diesen Gebrauch ausschließlich im österreichischen Subkorpus finden, er ist ebenfalls im Schweizer und deutschen 22 Sie werden auch unter dem Stichwort »Tmesis« behandelt (vgl. Duden 2011: 900).

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Subkorpus, wenn auch offensichtlich weniger frequent, nachzuweisen. Auch dazu einige Beispiele: D-Subkorpus: (9) Angefangen hat alles mit Fragen wo Strom überhaupt her kommt, […] (Vogtland-Anzeiger v. 05. 4. 2012) (10) Und wo kommt Boxer Arthur Abraham her? (Märkische Oberzeitung v. 22. 8. 2011)

CH-Subkorpus: (11) Insgeheim ist wohl allen klar, wo Horaks hin will – nämlich ganz nach oben. (Jungfrau Zeitung v. 28. 09. 2004) (12) Wo wollen wir mit unserem Tourismus hin? (Jungfrau Zeitung v. 01. 12. 2011) Auch wenn diese Befunde als vorläufig zu bewerten sind und noch einer Überprüfung am Großkorpus standhalten müssen, handelt es sich beim diskontinuierlichen Gebrauch der Richtungsadverbien vermutlich um eine relative Variante, die in unterschiedlicher Frequenz für Zeitungstexte in Österreich, in der Schweiz und in Deutschland zu belegen ist – eine Variante, die es allerdings entsprechend den Festlegungen der einschlägigen Literatur im standardsprachlichen Gebrauch eigentlich nicht gibt.

6

Fazit

Im Vorangegangenen haben wir unser Projekt »Variantengrammatik des Standarddeutschen« in Umrissen skizziert. Neben einer Verdeutlichung unserer theoretischen Positionen und einer Diskussion methodischer Fragen war es dabei ein zentrales Anliegen, den Mehrwert unserer korpusbasierten, grammatikographischen Arbeit darzustellen und ausgewählte Fallbeispiele auf dieser Basis zu beschreiben. Während die Fallanalyse zum prädikativen Gebrauch von n-jährig deutlich machen konnte, dass unser Projekt geeignet ist, auf induktivem Wege Phänomene zu erfassen, zeigten die anderen drei Beispiele, dass das VGProjekt gleichermaßen in der Lage ist, in der Literatur vorfindliche Aussagen zu bestimmten grammatischen Phänomenen zu überprüfen und mit empirischen Aussagen zu Distribution, Verwendung und Frequenzen im deutschsprachigen Raum zu verifizieren oder aber auch zu falsifizieren. Abschließend bleibt festzuhalten: Unser Projekt beschreitet in Bezug auf die verschiedenen Standardvarietäten in den deutschsprachigen Ländern und Re-

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gionen einen konsequent deskriptiven Weg. Das bedeutet zwar nicht, dass es auf diese Weise das »Schisma der Varietätenlinguistik zwischen pragmatischer Asymmetrie und wissenschaftlicher (sowie moralisch-politischer) Gleichberechtigung« (Farø 2005: 393) wird abschaffen können, aber es wird vielleicht dazu beitragen, ein klares und empirisch fundiertes Bild der grammatischen Gebrauchsstandards im Deutschen zu liefern.

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Thomas Brooks (Wien)

»Diese bedingungslose Liebe zu den Sprachfehlern …« – Sprachgeografische Betrachtungen zur würde-Umschreibung am Beispiel Robert Musil

1

Einleitung

Im Jahr 1964, mehr als drei Jahrzehnte nachdem der Rowohlt-Verlag den ersten Band von Musils opus magnum veröffentlicht hatte, erschien im selben Verlag ein Buch mit dem Titel Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Sein Verfasser, Wilhelm Bausinger, geht darin hart ins Gericht mit jenem Mann, der, gleichfalls bei Rowohlt, die erste Ausgabe des Romans nach Musils Tod besorgt hatte. Die Rede ist von Adolf Frisé. Diesem wirft Bausinger vor, seinen editorischen Handlungsspielraum übertrieben großzügig ausgelegt zu haben. Frisé hatte nämlich an zahllosen Stellen in die Sprachgestalt des Erstdrucks eingegriffen, ohne dass für Bausinger ersichtlich wäre, was, wenn nicht schulmeisterliche Pedanterie, Frisé bei seinen ›Korrekturen‹ geleitet haben mochte. Erschwerend hinzu kam, dass Frisés Rotstift eine auffällige Tendenz zeigt, bei allem, was die Sprachgestalt des Romans an österreichischen Besonderheiten aufweist, gleichsam automatisch in Aktion zu treten. Da Bausinger sämtliche Abweichungen des Frisé-Texts vom Erstdruck minutiös auflistet, kann man sich leicht davon überzeugen, dass seine Kritik keineswegs aus der Luft gegriffen ist. Auf praktisch allen sprachlichen Ebenen, von der Morphologie über die Wortstellung bis zur Interpunktion, greift Frisé in den Text ein, um ihn dem, was er für den deutschen Standard hält, anzupassen. Einige Beispiele müssen hier genügen, um das Gesagte zu illustrieren.1 Zahllose apokopierte und synkopierte Endungs- bzw. Binnen-es werden von Frisé restituiert: Heißt es etwa im Erstdruck noch im Lauf der Jahre, so wird bei Frisé daraus im Laufe der Jahre; im besondern wird zu im besonderen, stehn zu stehen, ich denk mir zu ich denke mir, Eines Tags zu Eines Tages usw. Kommt der Erzähler im Erstdruck noch auf das Fährnis des Ehebruchs zu sprechen, so bekommt dieses von Frisé eine Genusumwandlung verpasst und heißt nun die Fährnis des Ehebruchs. Aus dem österreichischen Wissenschafter des Erstdrucks 1 Für die Seitenangaben in den jeweiligen Ausgaben vgl. Bausinger (1964: 637 ff.).

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wird ein deutscher Wissenschaftler. Wo 1930 noch die Rede ist von einem Dienstmädchen, das sich verführen hatte lassen, rückt 1952 das Finitum an die Spitze des Verbalkomplexes: das sich hatte verführen lassen. Bezeichnenderweise scheut Frisé selbst dort nicht davor zurück, in die Textgestalt einzugreifen, wo es sich ganz klar um Figurenrede handelt. So sagt General Stumm von Bordwehr im Erstdruck noch: »Ich bin […] nicht schöner wie ein geschälter Pfirsich«. Bei Frisé wird daraus natürlich »schöner als ein geschälter Pfirsich«. Bausingers Kommentar zu dieser Stelle lässt dann an Deutlichkeit auch nichts zu wünschen übrig: »Es ist dem Herausgeber weder geboten noch erlaubt, Austriazismen pedantisch zu beseitigen, zumal in der direkten Rede, wo sie ein ausdrückliches Gestaltungsmittel sind.« (Bausinger 1964: 658) Wird man Frisé also auch gewiss nicht freisprechen können von dem Vorwurf, seine Befugnisse als Herausgeber entschieden überschritten zu haben, so sind doch keineswegs alle der von ihm vorgenommenen Änderungen so schwer nachzuvollziehen wie die bisher angeführten. Für viele von ihnen konnte sich Frisé vielmehr darauf berufen, er habe nichts anderes getan, als Musils letzten Willen zu vollstrecken. Ihm stand nämlich bei seiner Arbeit ein Exemplar der Erstausgabe zur Verfügung, welches sich in Musils Besitz befunden hatte und zahlreiche Korrekturvorschläge von dessen Hand aufweist. Besonders häufig hatte Musil Stellen einfach mit einem ›v‹ markiert, welches von Frisé als Kürzel für ›verte‹, also ›ändere‹ interpretiert wurde. Dieses ›v‹ taucht nun stets neben Passagen auf, die eine oder mehrere würde-Periphrasen enthalten. Frisé konnte also argumentieren, er habe nur in Musils Sinn gehandelt, als er sich daran machte, den Roman von seinen vielen würde-Umschreibungen zu befreien, indem er die analytischen Konjunktive durch synthetische ersetzte, wie dies in den folgenden Beispielen zu beobachten ist: Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sehen würde […], würde wohl niemand dumm sein wollen […]. (Musil 1930: 90) Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sähe […], würde wohl niemand dumm sein wollen […]. (Musil 1952: 60) Wenn jemand beispielsweise entdecken würde, daß die Steine […] zu sprechen vermögen, er würde nur wenige Seiten zur Darstellung und Erklärung einer so umwälzenden Erscheinung brauchen. (Musil 1930: 390) Wenn jemand beispielsweise entdeckte, daß die Steine […] zu sprechen vermögen, er würde nur wenige Seiten zur Darstellung und Erklärung einer so umwälzenden Erscheinung brauchen. (Musil 1952: 252)

Bemerkenswerterweise ging Frisé bei diesen autorisierten Korrekturen relativ zurückhaltend zu Werke: Von den insgesamt 118 von Musil markierten würdeUmschreibungen korrigiert er gerade einmal 61, also nur knapp mehr als die

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Hälfte.2 Bausinger ist freilich schon das viel zu viel: Wo Frisé Zurückhaltung übt, fordert er völlige Enthaltung. Er lehnt jegliche editorische Eingriffe ab, und das selbst in jenen Fällen, wo Musils Handexemplar nicht nur anzeigt, dass zu ändern sei, sondern auch wie zu ändern sei. So heißt es beispielsweise im Erstdruck: Es fehlte nur, daß dieses reizende Uhrwerk nicht aufgezogen war; denn dann wären Equipagen mit hohen Würdenträgern und vornehmen Damen die Auffahrt emporgerollt, Lakaien würden von den Trittbrettern gesprungen sein und Ulrich mißtrauisch gefragt haben: »Guter Mann, wo ist Euer Herr?« (Musil 1930: 29)

Musils Handexemplar weist hier nicht nur ein ›v‹ auf, sondern gibt auch, in Bleistift an den Rand geschrieben, die Alternativen wären und hätten, sodass Frisé sich also durchaus im Recht wähnen durfte, als er folgendermaßen umänderte: »[…] Lakaien wären von den Trittbrettern gesprungen und hätten Ulrich mißtrauisch gefragt […]« (Musil 1952: 21). Genau dieses Recht spricht Bausinger ihm aber ab. »An dieser Stelle«, so Bausinger, wird besonders deutlich, warum ein Herausgeber die von Musil erwogenen Änderungen der umschriebenen Konjunktivformen nicht an seiner Stelle vollziehen darf. […] Der Einfluss der österreichischen Umgangssprache [ist] nicht zu verkennen. Kein Herausgeber darf diese Eigentümlichkeiten verwischen, nachdem sie Musil selbst nicht beseitigt hat […]. (Bausinger 1964: 638)

Hier hätten wir sie also wieder, die österreichische Umgangssprache, mit deren Hilfe diesmal Musils Vorliebe für die würde-Umschreibung erklärt werden soll. Was es mit dieser auf den ersten Blick eher überraschenden sprachgeografischen Zuordnung der Konstruktion für eine Bewandtnis hat, dazu später mehr. Hier sei zunächst festgehalten, dass weder Frisé noch Bausinger wussten, was genau Musil eigentlich zu seinen Korrekturen veranlasst hatte. Dass wir heute mehr wissen, verdanken wir dem Musil-Biographen Karl Corino. Dieser trat in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts an den Schriftsteller Soma Morgenstern mit der Bitte heran, dieser möge doch seine Erinnerungen an Musil, mit dem ihn eine Freundschaft verbunden hatte, in Form einer Serie von Briefen für die Nachwelt bewahren. Morgenstern kam Corinos Ansinnen nur zu gern nach. Im dritten nun, von insgesamt fünf an Corino adressierten Briefen, erzählt Morgenstern die folgende Anekdote. Der erste Band von Der Mann ohne Eigenschaften war eben erst erschienen, da hatte er, Morgenstern, ihn auch schon mit großer Bewunderung gelesen. Ja so 2 Was Frisé im einzelnen bewogen haben mochte, einmal dem Imperativ des ›v‹ zu folgen, dann wieder die inkriminierte Konstruktion stehen zu lassen, ist dabei ebenso unklar wie Musils eigene Vorgangsweise, denn auch der Verfasser von Der Mann ohne Eigenschaften hatte keineswegs alle würde-Konstruktionen mit einem ›v‹ versehen, und unter den für eine Korrektur vorgesehenen Verwendungen finden sich ebenso solche in Haupt- wie in (konditionalen und sonstigen) Nebensätzen.

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groß war seine Bewunderung, dass er auf die Idee verfiel, einem Essay in der Frankfurter Zeitung, der demnächst erscheinen würde, ein Motto aus dem Roman voranzustellen, um so ein wenig die Werbetrommel für ein Buch zu rühren, das bis dahin nicht gerade reißenden Absatz gefunden hatte. Was als simpler Freundschaftsdienst gedacht war, führt jedoch bald zu Komplikationen: Ehe nämlich Morgenstern den Artikel an die Zeitung schickte, las ich das Ganze noch einmal durch […] und […] bemerkte zu meinem Schreck, daß in dem langen Satz, den ich zitiert hatte […] und der mit »wenn« begann, der große Sprachmeister Robert Musil einen Konjunktiv mit »würde« ersetzte. Ich wußte, daß Karl Kraus die F.Z. las, und ich befürchtete, daß er die Gelegenheit nützen könnte, um Musil eins auszuwischen […]. Da ich Musil dieses Vorhaben mitgeteilt und sein Einverständnis erwirkt hatte, sah ich mich genötigt, ihn auf diesen Irrtum aufmerksam zu machen und ihn um die Erlaubnis zu bitten, in dem Satz den Konjunktiv richtigzustellen. (Morgenstern 2001: 556)

Überraschenderweise wird der gut gemeinte Ratschlag jedoch in den Wind geschlagen. Der große Sprachmeister verweigert zunächst einmal seine Erlaubnis. Zu meinem Entsetzen erhielt ich von ihm eine schnelle Antwort, in der er mich von der Höhe seiner Kenntnisse der deutschen Grammatik belehrte, es gäbe keine solche Regel, die in »Wennsätzen« das »würde« verbiete. Er habe in den Wennsätzen immer den Konjunktiv durch »würde« ersetzt und sei entschlossen, das auch weiter zu tun. Zum schlagenden Beweis, daß er recht habe, fragte er mich: »Ist es etwa falsch zu schreiben: ›Wenn gesagt würde‹?« Ich sah ein, daß Musil seinerseits sich in einem Schock befände und erlaubte mir, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß in seinem Beispiel das »würde« durchaus am Platze war, weil es hier kein Ersatz für einen Konjunktiv war, sondern der Konjunktiv passivi. Darauf erhielt ich ein zerknirschtes Geständnis. Er bat mich um Entschuldigung und teilte mir mit, er habe nunmehr in der deutschen Grammatik nachgeforscht und die Regel endlich gefunden, wenn auch, wie er zu seiner Entlastung behauptete: »in verdammt kleinen Buchstaben«. (Morgenstern 2001: 557 f.)

Soweit Morgenstern, für den die Angelegenheit damit erledigt war – ganz im Unterschied zu Musil, der kurze Zeit später daran ging, in seinem Handexemplar über hundert würde-Umschreibungen für eine Korrektur vorzumerken. In einem Tagebucheintrag aus dem Oktober 1932 reflektiert Musil diesen Prozess folgendermaßen: Wenn man grammatisch falsch schreibt, zb. Austriazismen, so verteidigt man das gewöhnlich bis aufs Blut u. entdeckt unerschöpfliche Vorzüge seines Fehlers, z. B. den Beigeschmack des Futurischen im falsch gebrauchten »würde«. Folgt man dann doch eine Weile dem rechten Sprachgebrauch, so ist es, als ob man sich in einem anderen Raum zu leben gewöhnte. Das Unmögliche wird unentbehrlich usw. Ich las gerade Freud, Zur Einführung des Narzißmus, u. da fiel mir der Zusammenhang mit den

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Ichgefühlen auf. Diese bedingungslose Liebe zu den Sprachfehlern […] weist auf den nahen Zusammenhang von Sprache u. Ich hin.3 (Musil 1983: 721 f.)

Dass ein Autor nach mehr als zwanzig Jahren schriftstellerischer Tätigkeit von einem Tag auf den anderen eine Konstruktion als fehlerhaft verwirft, die ihm all die Zeit hindurch für unbedenklich gegolten hatte, wäre schon für sich genommen ein bemerkenswertes Phänomen. Handelt es sich bei dem Autor aber um Musil und bei der aufgegebenen Sprachgewohnheit um die würde-Periphrase, dann erhält die Sache insofern zusätzliche Brisanz, als Musils posthumer Ruhm zu einem nicht geringen Teil auf seiner viel gepriesenen Meisterschaft im Gebrauch des Konjunktivs beruht. So bezeichnet Albrecht Schöne in einem einflussreichen Aufsatz den Der Mann ohne Eigenschaften als »eine Art Zufluchtsstätte des mißliebig gewordenen« (Schöne 1961: 196) Konjunktivs, welchen Schöne, in bester Sprachverfallsprophetentradition, vom Untergang bedroht sieht. »Wie der einzelne Satz«, so Schöne, »wie das Kapitel, so wird der ganze Roman vom Prinzip des Conjunctivus potentialis regiert« (ebd.: 203). Der »Indikativ des Romangeschehens schrumpft zu einem Anhaltspunkt zusammen, um den das Gespinst von Konjunktiven sich legt« (ebd.: 201).4 Wollte man boshaft sein, so könnte man sagen, Schöne zolle Musil eben jenes Kompliment, nach dem dieser in seinem Roman nur allzu offensichtlich fischt. So wird etwa im vierten Kapitel der Held Ulrich als jemand beschrieben, dessen ganze Existenz gleichsam im Zeichen des Konjunktivs stehe. Wenn man, heißt es da, jemandem wie Ulrich »von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein« (Musil 1952: 16) Und ein wenig später erfahren wir von Ulrich, dieser habe »die erste Probe seiner Sinnesart schon […] in einem Schulaufsatz abgelegt« (ebd.: 18), in dem der frühreife Schüler spekuliert hatte, dass »wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche … denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein« (ebd.: 19). Gerade von Musil hätte man sich also eigentlich erwarten dürfen, dass er, konfrontiert mit dem apodiktischen »es-ist-wie-es-ist« der Regel von den würdelosen wenn-Sätzen, mit einem skeptischen »Könnte es nicht ebensogut anders sein?« gekontert hätte, anstatt sich, nach anfänglichem Widerstand, einer Autorität zu beugen, die letztlich doch schwerer gewogen zu haben scheint als des Autors angeblich bedingungslose Liebe zu den Sprachfehlern. Auf die Frage, die Musil zu stellen unterlassen hat – Woher, wenn überhaupt, bezieht diese Regel 3 Musil-Biograph Corinos trockener Kommentar zu diesem Tagebucheintrag: »Damit war dem persönlichen Lapsus eine kritische Maxime für die Allgemeinheit abgewonnen, und alles schien im Lot.« (Corino 2003: 1026 f.) 4 In jüngerer Zeit hat sich Fabricius-Hansen als Bewunderin von »Musils Spiel mit dem Konjunktiv« (1997: 62) deklariert.

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eigentlich ihre Autorität? – wird im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes einzugehen sein. Davor aber soll eine andere Frage erörtert werden, die durch die MusilMorgenstern-Episode aufgeworfen wird, die Frage nämlich:

2

Die würde-Periphrase – ein Austriazismus?

Was Musil dazu veranlasste, in seiner Vorliebe für die würde-Periphrase einen Austriazismus zu vermuten, ist eine Frage, die sich mit einiger Sicherheit beantworten lässt. Musil dürfte seine Meinung schlicht und einfach aus Gustav Wustmanns Allerhand Sprachdummheiten bezogen haben. Überliefert ist (vgl. Corino 2003: 1026), dass er ein Exemplar dieses Sprachratgebers besaß, und so ist es nur mehr als wahrscheinlich, dass er diesen in seinem Streit mit Morgenstern auch zu Rate zog. Im »Wustmann« aber, über den Karl Kraus in der Fackel bemerkte, dieser mache »sich wohl über allerhand Sprachdummheiten Gedanken, aber nicht ohne jene durch diese zu vermehren« (751 – 756, 48), würde Musil das Folgende zur würde-Periphrase gefunden haben: Von Süddeutschland und namentlich von Österreich aus hat sich aus dem fehlerhaften Hochdeutsch der Halbgebildeten immer mehr die Unsitte verbreitet, den Konditional auch in Bedingungs- und Relativsätzen, Vergleichungs- und Wunschsätzen anzuwenden. […] Ein wahres Wunder, daß wir das alte Volkslied: wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flüglein hätt! noch nicht umgestaltet haben zu: wenn ich ein Vöglein sein würde und auch zwei Flüglein haben würde! Denn so müßte es doch eigentlich in dem schönen österreichischen Zeitungshochdeutsch heißen. (Wustmann 41908: 158 ff.)

Wustmann mag nun zwar der erfolgreichste Sprachratgeber seiner Zeit gewesen sein, doch gab es vor, neben und nach ihm noch viele andere, die ähnliche Bücher zu Markte trugen, Bücher mit griffigen Titeln wie Deutscher Antibarbarus oder Ueber Verrottung und Errettung der Deutschen Sprache oder Sprachleben und Sprachschäden. Wo nun in diesen Büchern die würde-Umschreibung behandelt wird, dort wird ihre zunehmende Verbreitung fast ausnahmslos als Symptom von Sprachverfall gedeutet. »Wie schleppend und eintönig,« heißt es beispielsweise in Albert Heintzes Deutschem Sprachhort, [ja] zum Teil unerträglich sind diese ganz unnötigen Umschreibungen mit würde und werden würde und haben würde, welche gleich häßlichen Schlinggewächsen den Stamm unserer Sprache zu überziehen drohen! (Heintze 1900: 64)

Und schon ein halbes Jahrhundert davor hatte Schopenhauer beklagt: Um zu sagen, ›käme er zu mir, so würde ich ihm sagen‹ usw., schreiben neun Zehntel der heutigen Tintenkleckser: ›würde er zu mir kommen, ich sagte ihm‹ usw., welches nicht nur ungeschickt, sondern falsch ist. (Schopenhauer 1963/64: 618)

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Doch nicht nur mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber würde in wenn- und anderen Nebensätzen war Wustmann typisch für seine Epoche; auch die von ihm getroffene sprachgeografische Zuschreibung wurde von vielen seiner Zeitgenossen geteilt. So heißt es beispielsweise bei Cüppers (1903: 297): [Dieser Fehler] erhob sich aus dem angestammten heimischen Bezirk zu einem Feldzug über den Main, eroberte und unterjochte den Norden und säete sich, während die Leute schliefen, als ein böses Unkraut unter unsern Weizen.

Schon in den frühesten Zeugnissen für die Bekämpfung der würde-Umschreibung, in Götzinger (1836) und Heyse (1838),5 wird den »südliche[n] Mundarten« die Schuld an der unheilvollen Ausbreitung der Konstruktion gegeben, eine Ansicht, die dann im Laufe des 19. Jahrhunderts geradezu zu einem Topos der sprachpflegerischen Literatur wird. 1891 (und damit im selben Jahr, in dem die Sprachdummheiten ihre erste von insgesamt vierzehn Auflagen erleben) kommt es in der Zeitschrift für den deutschen Unterricht zu einer kurzen, aber hitzigen Debatte über die würde-Periphrase. Da hatte sich zunächst ein österreichischer Lehrer namens Burghauser in einem Aufsatz dafür ausgesprochen, die würde-Regel aufzugeben. Erstens ließen nämlich die vielen Synkretismen im deutschen Konjunktivparadigma die Wahl einer eindeutigen Ersatzform nur logisch erscheinen; zweitens sei seinen eigenen Bemühungen, die synthetischen Konjunktive im Schulunterricht zu vermitteln, stets der Erfolg verwehrt geblieben. Man möge sich daher, so Burghausers Fazit, doch endlich ins ohnehin Unvermeidliche schicken. Dies ruft nicht nur eine heftige Erwiderung eines elsässischen GymnasialOberlehrers hervor, nein, auch die Redaktion sieht sich bemüßigt, in einer Fußnote klar Stellung gegen Burghauser zu beziehen. Dieser habe vollständig ungenau beobachtet und hält eine lediglich österreichische Spracheigenheit, um nicht zu sagen Sprachunart, für allgemeinen deutschen Sprachgebrauch. […] Seine Ausführungen entbehren […] durchaus der wissenschaftlichen Begründung und die Folgerungen, die er aus seinen unzulänglichen Beobachtungen zieht, sind falsch. (Zeitschrift für den deutschen Unterricht 1891: 268 f.)

Ein Jahr später findet die Kontroverse einen Nachhall in Theodor Matthias’ Sprachleben und Sprachschäden. Der Autor übt darin scharfe Kritik an Oskar Erdmann, weil dieser in seinen Grundzügen der deutschen Syntax gemeint hatte, die würde-Umschreibung könne heutzutage »ohne Anstoß« in konditionalen und konzessiven Nebensätzen verwendet werden. Aber immerhin, so Matthias mit unverhohlenem Sarkasmus, habe Erdmann für diese Ansicht ja einen österreichischen Lehrer auf seiner Seite, wobei das Wort »österreichisch« sowohl gesperrt als auch mit einem Rufzeichen versehen ist (vgl. Matthias 1892: 385), 5 Vgl. Durrell (2007).

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auf dass auch ja kein Zweifel darüber aufkommen möge, was von derlei Beiträgen ausgerechnet von österreichischer Seite und ausgerechnet zum Thema Konjunktiv zu halten sei. Und noch Jahre später mokiert sich der Verfasser des Deutschen Sprachhort über jenen unglückseligen österreichischen Lehrer, dessen Diagnose sich Heintze nicht anzuschließen vermag: Sie kann »höchstens für Österreich gelten, sonst aber trifft sie nicht zu« (Heintze 1900: 65). Doch nicht nur aus deutscher Perspektive scheinen die Österreicher ein Problem mit dem Konjunktiv zu haben; die Selbstwahrnehmung deckt sich diesbezüglich weitgehend mit der Fremdwahrnehmung. So konstatiert etwa Lewi (1875: 12), hierzulande sei »für die Unterscheidung der einfachen und der umschreibenden Form des Konjunktivs kein Gefühl vorhanden«. Wenn Schiller Österreicher gewesen wäre, so Lewi, dann hätte er nicht geschrieben: »Oh, dass sie ewig grünen bliebe, die schöne Zeit der jungen Liebe!« sondern: »Oh, dass sie ewig grünen bleiben würde« usw. Zu beobachten sei ferner, dass man auch von Gebildeten nicht selten die dem österreichischen Dialekt unmittelbar entnommenen Formen: ich sagete, ich bleibete etc. mitten im hochdeutschen Gespräch zu hören bekommt, nicht etwa aus bloßer Nachlässigkeit, sondern weil ihnen die entsprechenden hochdeutschen Formen nicht geläufig sind (ebd.: 12).

Mit dem zuletzt Gesagten berührt Lewi einen ganz wesentlichen Punkt: Die hiesigen Dialekte kennen zwar einen synthetischen Konjunktiv, doch wird dieser anders gebildet als im Standard. Dieser dialektale Konjunktiv war nun bereits früh stigmatisiert gewesen. Zwar bricht noch Mitte des 18. Jahrhunderts der Benediktiner und Anti-Gottschedianer August Dornblüth in seinen Observationes eine Lanze für die süddeutschen Konjunktive und empfiehlt z. B. »begreifeten« zu schreiben statt »begriffen«, »verzieheten« für »verzögen« und »flieheten« statt »flöhen« (Dornblüth 1755: 378 ff.), doch fand er für diesen radikalen Vorschlag weder Mitstreiter noch Nachfolger. Bei weitem repräsentativer für seine Zeit ist da schon Paul Graf Amor von Soria, der in seiner Abhandlung von den Hauptfehlern der österreichischen Mundart auch auf die heimischen Konjunktive eingeht. »Wie niedlich«, spöttelt Soria, »lautet es, wenn man zuweilen höret: Wenn Sie auf die Nacht nicht so viel esseten, so schlafeten Sie besser« (Soria 1772: 231). Was dergestalt im Gesprochenen verurteilt wird, das wird natürlich erst recht im Schriftlichen geahndet. Der standardsprachliche Potentialis aber musste im oberdeutschen Sprachgebiet zum Problem werden, denn wo kein Präteritum – und dieses war im 18. Jahrhundert ja bereits lange dem sog. oberdeutschen Präteritumschwund zum Opfer gefallen – da auch kein Konjunktiv des Präteritums. Was aber tut man, wenn das, was einem geläufig ist, nicht erlaubt, und das, was erlaubt, einem nicht geläufig ist? Die vertrauten einheimischen Formen kamen schriftlich nicht mehr in Frage. Aber auch die zweite dialektale Möglichkeit, den Konjunktiv zu bilden, die Umschreibung mit

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auxiliarem tun nämlich, war schon früh ins Visier der Sprachpfleger geraten und kam somit nicht in Betracht. (Vgl. Langer 2000) Die Umschreibung mit würde schließlich gab und gibt es in den fraglichen Dialekten zwar nicht, doch musste ihre leichte Erlernbarkeit die würde-Umschreibung vielen österreichischen Schreibenden als einen gangbaren Weg aus dem Konjunktiv-Dilemma erscheinen lassen, zumal die sprachpflegerische Bekämpfung der Periphrase erst im 19. Jahrhunderts an Elan gewann. Ob dies in der Folge wirklich dazu geführt hat, dass es im österreichischen Schriftdeutsch zu einem merklich frequenteren Gebrauch der würde-Periphrase kam als in anderen Teilen des deutschen Sprachraums, ist eine Frage, die nur durch eine empirische Untersuchung einer Klärung zugeführt werden kann. Eine solche Untersuchung gibt es aber leider bis heute nicht. Als Fazit können wir daher nur ziehen: Im 19. und 20. Jahrhundert finden sich zahlreiche Zeugnisse für die Wahrnehmung, dass im süddeutsch-österreichischen Raum die würde-Umschreibung merklich weniger restriktiv gehandhabt wird als in der nördlichen Hälfte des deutschen Sprachgebiets. Diese sprachgeografische Zuschreibung erfolgt sowohl von außen als auch von innen und kann insofern Plausibilität für sich beanspruchen, als es im süddeutsch-österreichischen Raum infolge des oberdeutschen Präteritumschwunds zweifellos ein Konjunktivproblem gab, für dessen Lösung sich die würde-Konstruktion geradezu aufdrängte.

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Könnte es nicht ebensogut anders sein?

Wir kommen damit zu der Frage, die Musil an das apodiktische »es-ist-wie-esist« der Regel von den würde-losen wenn-Sätzen zu richten verabsäumt hat: Könnte es nicht ebenso gut anders sein? Denn eigentlich erscheint die Regel doch spätestens auf den zweiten Blick insofern eminent befragenswert, um nicht zu sagen: fragwürdig, als nicht recht einzusehen ist, weshalb der analytische Konjunktiv den synthetischen zwar im Konsequens eines Konditionalgefüges ersetzen darf, nicht aber im Antezedens. Um es an einem Beispiel zu zeigen, das ich von Durrell (2007) übernehme: (1) Wenn das Wetter schön bliebe, gingen wir spazieren. (2) Wenn das Wetter schön bliebe, würden wir spazieren gehen. (3) Wenn das Wetter schön bleiben würde, gingen wir spazieren. Wenn (1) allgemein als korrekt gilt und auch (2) keinerlei Anstoß bei den Sprachpflegern erregt, weshalb soll dann nicht auch (3) akzeptabel sein? Wie ja bereits (1) durch die Formenidentität von Ober- und Untersatz zeigt, liegen im

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Deutschen die Verhältnisse offensichtlich ganz anders als etwa im Englischen6 und Französischen, wo bei hypothetischen Konditionalgefügen prinzipiell jeweils andere Verbformen im Antezedens und im Konsequens Verwendung finden. Synchron betrachtet scheint die Regel somit auf überaus schwachen Füßen zu stehen. Diachron stellt sich die Sachlage freilich anders dar, und eigentlich gibt uns hier die Regel selbst schon einen Fingerzeig. Sprachpflege, wie sie sich in derlei Regeln manifestiert, zielt bekanntlich stets darauf ab, den sprachlichen IstStand zu bewahren, und zwar gerade dort, wo dieser sich besonders rapide in einen War-Stand zu verwandeln droht. Mit anderen Worten: Solche Regeln sind ein deutliches Indiz für Sprachwandel.7 Da nun die Regel würde nur im Konsequens erlaubt, liegt die Vermutung nahe, dass sich die würde-Umschreibung dort bereits fest etabliert haben musste, ehe sie sich langsam auch in konditionalen Nebensätzen zu verbreiten begann. Eine erste Bestätigung für diese Vermutung findet man, wenn man die ältere Forschung zu Rate zieht, welche diesbezüglich ein selten einhelliges8 Bild zeichnet. Ob man nun bei Paul (1920) nachschlägt oder bei Wilmanns (1906) oder bei Behaghel (1924): Überall findet man die Feststellung, die würde-Periphrase sei in Konditionalgefügen zuerst im Obersatz verwendet worden. Der Schönheitsfehler dabei: Nicht nur bleiben die genannten Autoren den empirischen Nachweis für diese Behauptung schuldig; auch die Frage, warum sich würde zuerst im Obersatz etablieren konnte, bleibt unbeantwortet, ja wird nicht einmal gestellt. Nun ist aber in jüngerer Zeit mit dem wachsenden Interesse an Grammatikalisierung auch die würde-Periphrase wieder stärker in den Mittelpunkt des sprachwissenschaftlichen Interesses gerückt, sodass wir heute über einen deutlich besseren Wissensstand verfügen. Eine ganz der würde-Konstruktion und

6 Daraus erklären sich auch die Schwierigkeiten vieler deutscher Muttersprachler mit dem englischen Konditionalgefüge: Einer der häufigsten Fehler besteht hier bekanntlich darin, im if-Satz, also dem Antezedens, would + Infinitiv zu verwenden – ein klassischer Fall von Interferenzfehler. 7 Das sieht bereits Behaghel (1924: 245) so, wenn er bemerkt, »[d]ieses Vordringen [i. e. von würde im Nebensatz] wird bestätigt durch die Bekämpfung, die es erfährt«. 8 Vgl. Smirnova (2006: 326): »In jeder historischen Grammatik des Deutschen findet man die Feststellung, dass würde + Infinitiv sich anfänglich in Hauptsätzen hypothetischer Bedingungsgefüge behauptete.« Es gibt jedoch auch Ausnahmen. Im DWB (Bd. 29, Sp. 257 f.) heißt es etwa, im untergeordneten Satz sei die würde-Konstruktion »einigermaszen geläufig nur im spätmhd. und frühnhd.«; dies allerdings unter Verweis auf Behaghel (1924), wo jedoch das genaue Gegenteil behauptet wird. Bei Szczepaniak (2009: 150) liest man, dass sich der analytische Konjunktiv »zunächst in den irrealen Konditionalsätzen etablierte«, hier unter Verweis auf Smirnova (2006), wo freilich nichts dergleichen konstatiert wird.

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ihrer Geschichte gewidmete Monografie soll im Folgenden kurz referiert werden, da sie Licht auf unser Problem zu werfen vermag.9 Den Ausgangspunkt des Grammatikalisierungspfads, wie er in Smirnova (2006) und Smirnova (2007) rekonstruiert wird, bilden die ingressiven werdenKonstruktionen. In einem ersten Schritt (Phase I) macht nun »das gesamte Paradigma der werden-Fügungen eine einheitliche semantische Entwicklung [durch]: von der ingressiven Semantik zur Markierung einer Folgerelation« (ebd.: 30). Diese durch werden/würde bezeichnete Folgerelation kann in dieser Phase noch unterschiedlichster Art sein. So begegnen entsprechende Konstruktionen in kausalen und konsekutiven Kontexten ebenso wie in konditionalen. In Phase II »kristallisiert sich die konditionale Interpretation der textuellen Folgerelation durch die verstärkte Verwendung in konditionalen Strukturen aus« (ebd.: 35). Wichtig daran für unsere Fragestellung: In diesen konditionalen Strukturen bezeichnet würde weiterhin nur die Folge und steht daher nur im Konsequens, nicht aber im Antezedens. Der Abschluss von Smirnovas Phase II markiert damit genau die Entwicklungsstufe in der Grammatikalisierung von würde + Infinitiv, die die Bekämpfer der Umschreibung konservieren wollen. Diesem Zustand war freilich keine Dauer beschieden, denn die Bedeutungsverengung von würde auf eine konditionale Semantik hatte zur Folge, dass würde von nun an in systematischer Konkurrenz stand mit Formen des Konjunktiv II, was wiederum in einer dritten und letzten Phase dazu führte, dass würde als analytischer Konjunktiv reanalysiert wurde. Smirnovas Rekonstruktion gibt somit nicht nur eine Antwort auf die Frage, warum sich die würde-Periphrase zuerst im Konsequens und dann erst im Antezedens etablieren konnte; sie ermöglicht es uns auch, präzise anzugeben, ab wann sich die Regel von den würde-losen wenn-Sätzen nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Ist nämlich Phase III der Grammatikalisierung einmal abgeschlossen und die würde-Periphrase zum Konjunktiv II-Grammem reanalysiert, dann muss die Periphrase überall dort stehen können, wo Formen des Konjunktiv II vorkommen – auch im konditionalen Nebensatz. Wer danach weiterhin für einen restriktiven Gebrauch der würde-Periphrase plädiert, kann dies einzig und allein unter Berufung auf stilistische Erwägungen tun. Bei Verstößen gegen eine solche Empfehlung von grammatischen Fehlern zu sprechen, verbietet sich hingegen. Fragen wir uns nun, wann genau man sich den Abschluss von Phase III zu denken hat, so gibt Smirnova (2006) hierüber keine Auskunft, da ihre Arbeit zwar korpusgestützt, aber nicht eigentlich korpusbasiert ist. Aufschlussreiche Daten findet man hingegen in der stärker statistisch ausgerichteten Untersu9 Smirnovas Arbeiten haben bereits Eingang in neuere Einführungswerke gefunden; vgl. Szczepaniak (2009), Fleischer (2011).

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chung in Szatzker (2006). Szatzker zählt die Belege für werden/würden + Infinitiv in einem umfangreichen Korpus aus, das den Zeitraum 1650 – 2000 abdeckt. Vergleicht man nun die Werte des Untersuchungszeitraums II (1750 – 1800) mit jenen des Untersuchungszeitraums III (1850 – 1900), so ergibt sich ein verblüffender Befund. Kommt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf 26 würde + Infinitiv-Belege in Hauptsätzen konditionaler und konzessiver Gefüge gerade einmal 1 Beleg in konditionalen und konzessiven Nebensätzen, so beträgt das Verhältnis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur mehr rund 2:1.10 Die Geschwindigkeit, mit der sich dieser Wandel offenbar vollzog, erklärt nun, weshalb die würde-Periphrase ins Visier keines einzigen Grammatikers des 18. Jahrhunderts geraten war: sie wurde einfach deshalb nicht bekämpft, weil sie noch gar nicht zum Problem geworden war.11 Der rapide Vollzug der Smirnova’schen Phase III macht aber umgekehrt auch die Vehemenz verständlich, mit der der analytische Konjunktiv dann im 19. Jahrhundert bekämpft wurde. Aufgeschlossenere Beobachter wie Oskar Erdmann oder Daniel Sanders stimmten freilich nicht in das Klagelied über den Sprachverfall ein, der sich an der Ausbreitung der würde-Periphrase angeblich ablesen ließ.12 So bemerkt Sanders zur Konkurrenz von synthetischem und analytischem Konjunktiv mit wohltuender Nüchternheit: »Wo die einfachern Formen ausreichen, verdienen sie füglich den Vorzug vor den breitern Umschreibungen mit würde; doch liegt kein triftiger Grund vor, sie in dem bedingenden Nebensatz gradezu für falsch zu erklären und sie ausschließlich auf den Hauptsatz zu beschränken.« (Sanders 181888: 335). Dass noch zwei Generationen später im Fall Musil die Regel dennoch die Oberhand behält über des Autors angeblich »bedingungslose Liebe zu den Sprachfehlern«, sollte all jenen zu denken geben, die an der Wirkungsmächtigkeit der konservativen Sprachpflege zweifeln. Gerade im Bereich des Konjunktivgebrauchs hat sich letztere als enorm einflussreich erwiesen. Wie Bausch (1979) in seiner immer noch lesenswerten Studie zum Konjunktiv überzeugend darlegt, hat die sprachpflegerische Agitation gegen die würde-Periphrase bis tief in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag in Grammatiken gefunden, deren deskriptives Selbstverständnis sich damit selbst Lügen strafte. Die Grammatiken, so Bauschs vernichtendes Urteil, wiesen sich als »Instrumente der Sprachpflege aus« (ebd.: 216). Doch nicht nur die Regel von den würde-losen wenn-Sätzen hat sich als erstaunlich zählebig erwiesen. Auch die Wahrnehmung, dass dem österreichischen 10 Vgl. Szatzker (2006: 143). Ich habe Szatzkers Prozentzahlen in Verhältniszahlen umgerechnet. 11 Vgl. Durrell (2007: 246): »The use of the conditional was thus not subject to any kind of prescription until the nineteenth century, when it came to be heavily stigmatised in certain contexts.« 12 Auch Jacob Grimm gehört nicht in der Reihe der würde-Verächter, vgl. Durrell (2007: 246).

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Deutsch eine besondere Affinität zur würde-Periphrase zu eigen ist, scheint sich bis in unsere Tage gehalten zu haben. So erschien noch in jüngster Zeit ein populärwissenschaftlicher Sprachratgeber mit dem Titel Wenn ist nicht würdelos (Sedlaczek 2010). Der Untertitel des Buchs aber lautet: Rot-weiß-rote Markierungen durch das Dickicht der Sprache.

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