Staatssozialismen im Vergleich: Staatspartei – Sozialpolitik – Opposition [1 ed.] 9783666370779, 9783525370773

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Staatssozialismen im Vergleich: Staatspartei – Sozialpolitik – Opposition [1 ed.]
 9783666370779, 9783525370773

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Uwe Backes / Günther Heydemann / Clemens Vollnhals (Hg.)

Staatssozialismen im Vergleich Staatspartei – Sozialpolitik – Opposition

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Thomas Lindenberger und Clemens Vollnhals Band 64

Staatssozialismen im Vergleich Staatspartei – Sozialpolitik – Opposition

Herausgegeben von Uwe Backes, Günther Heydemann und Clemens Vollnhals

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Flaggen der sozialistischen Länder Europas Gestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen ­ Satz: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0971 ISBN 978-3-666-37077-9



Inhalt Einleitung

9

I. Sowjetunion

27

Helmut Altrichter Die Chimäre vom Rätestaat

29

Stefan Plaggenborg Sozialpolitik in der Sowjetunion 1975–1991: Ein Beitrag zum Untergang

45

Alexej Makarov Die Dissidentenbewegung in der Sowjetunion. Strategien und Praxis

61

II. Polen

85

Tytus Jaskułowski Das politische System der Volksrepublik Polen in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens

87

Patryk Wasiak „Sozialwirtschaftliche Entwicklung“ in der Zeit der Krise. Die volkspolnische Sozialpolitik in den 1980er-Jahren

99

Klaus Ziemer Opposition und Widerstand im kommunistischen Polen III. Tschechoslowakei

113 133

Stanislav Balík Die Staatspartei der Tschechoslowakei

135

Jakub Rákosnik Sozialpolitik und das Ende der sozialistischen Diktatur in der Tschechoslowakei

151

6

Inhalt

Jan Holzer Opposition und Widerstand gegen kommunistische Regime: Der Fall Tschechoslowakei IV. Ungarn

169 189

Andreas Schmidt-Schweizer Die Staatspartei in Ungarn (1944–1989). Vom Vasallen Moskaus zum Vorreiter der Systemtransformation

191

Tibor Valuch Staatssozialismus – Sozialpolitik – Legitimation. Ungarn im mittelosteuropäischen Vergleich 1945 bis 1989

209

Krisztián Ungváry Opposition und Widerstand in Ungarn

225

V. DDR

245

Andreas Malycha Der „Konsumsozialismus“ Honeckers. Kontroversen um die Wirtschaftsstrategie im SED-Politbüro in den 1970er- und 1980er-Jahren

247

Manfred G. Schmidt Legitimitätsprobleme im Sozialismus. Die Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik

261

Ehrhart Neubert Opposition und Widerstand in der DDR

283

VI. Rumänien Thomas Kunze Die Rumänische Kommunistische Partei und ihre Führer Gheorghe Gheorghiu-Dej und Nicolae Ceauşescu

307

309

Inhalt

7

Alexandru-Murad Mironov Wirtschafts- und Sozialpolitik in Rumänien

327

Anneli Ute Gabanyi Politische Opposition im kommunistischen Rumänien (1944–1989)

347

VII. Bulgarien

377

Michail Gruev Organisationsentwicklung, Ideenprozesse und innere Kämpfe in der Bulgarischen Kommunistischen Partei während der 1970er- und 1980er-Jahre

379

Alexander Vezenkov Sozialpolitik im kommunistischen Bulgarien

389

Dimitrina Petrova Widerspruch und Opposition im kommunistischen Bulgarien

409

VIII. Albanien Michael Schmidt-Neke Das politische System Albaniens 1944–1991 IX. Jugoslawien Wolfgang Höpken Jugoslawien 1970–1989: „Pfadbesonderheiten“ und allgemeine Krise des Sozialismus X. Anhang Abkürzungsverzeichnis Personenverzeichnis Autorenverzeichnis

445 447 467

469 525 527 531 539

Einleitung Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme scheint es an der Zeit, den bereits vor 1989 gelegentlich unternommenen Versuch1 eines systematischen Vergleichs ihrer Entwicklungsbedingungen, Strukturen und Funktions­ mechanismen erneut zu unternehmen. Die schon in der Endphase im Zeichen von Glasnost in der Sowjetunion begonnene „Archivrevolution“ hat die Wissens­basis dafür erheblich erweitert,2 auch wenn der Daten- und Quellenzugang in manchen Ländern zumindest zeitweise schwieriger war als in der ehemaligen DDR; die Arbeitsbedingungen für Historiker und Sozialwissenschaftler sind in Putins Russland inzwischen vielerorts wieder schlechter als am Ende der Regierungszeit Gorbatschows. Zudem standen nicht überall (wie im westlichen Deutschland) Heerscharen gut ausgebildeter Historiker und Sozialwissenschaftler bereit, die nur darauf warteten, auf Entdeckungsreise zu gehen und ungehobene Schätze zu bergen. Dennoch liegt inzwischen eine Vielzahl quellengesättigter Studien zu unterschiedlichen Bereichen der realsozialistischen Systeme vor, die einer komparativen Sichtung und Durchdringung harren. Um vergleichende Forschungen anzuregen und zu ermutigen, lud das Hannah-Arendt-Institut vom 29. September bis 1. Oktober 2016 Wissenschaftler aus zehn Ländern zu Vorträgen und Diskussionsrunden nach Dresden ein. Die in diesem Band versammelten Beiträge bauen darauf auf. Sie umfassen alle europäischen Staatssozialismen einschließlich der Sowjetunion, Jugoslawiens und Albaniens. Es handelt sich um Länderstudien, doch folgen alle einheitlichen Fragestellungen und bemühen sich um eine vergleichende Einordnung der Fälle. Drei für die Stabilität politischer Systeme zentrale Funktionsbereiche stehen jeweils im Zentrum der Betrachtung: 1) die Staatsparteien

1

2

Vgl. vor allem Klaus von Beyme, Ökonomie und Politik im Sozialismus, 2. Auflage München 1977; Peter Ferdinand, Communist Regimes in Comparative Perspective. The Evolution of the Soviet, Chinese, and Yugoslav Models, Hertfordshire 1991; Jürgen Hartmann, Politik und Gesellschaft in Osteuropa. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1983. Eine wichtige Basis für Vergleiche boten systematische Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Realsozialismus seit 1945, etwa Joseph Rothschild, Return to Diversity. A Political History of East Central Europe since World War II, Oxford 1989. Vgl. Stéphane Courtois, Kommunismus im Zeitalter des Totalitarismus – eine Jahrhundertbilanz. In: Uwe Backes/ders. (Hg.), „Ein Gespenst geht um in Europa“. Das Erbe kommunistischer Ideologien, Köln 2002, S. 17–58, hier 32–37.

10

Einleitung

als monopolistische Herrschaftsträger, 2) die von ihnen praktizierte Sozialpolitik als wichtigstes Mittel der Herrschaftslegitimierung und Loyalitätsgewinnung sowie 3) die in den einzelnen Staaten unterschiedlichen Spielräume für abweichendes politisches Verhalten, Dissidenz, Opposition und Widerstand. Sektorale Vergleiche sollen dadurch angeregt werden, dass auf den drei Feldern Besonderheiten der jeweiligen Fälle (Abweichungen gegenüber anderen realsozialistischen Ländern) erfasst und eingeordnet werden. Die zu berücksichtigende Chronologie erfasst den Gesamtzeitraum der Existenz der Staats­ sozialismen, legt aber den Schwerpunkt auf das letzte Jahrzehnt vor ihrem Untergang. Folgende Fragen wurden den Referenten und Autoren gestellt: 1) Staatsparteien: Erfolgte ihre Konstituierung und Etablierung eher „endogen“ oder „exogen“ (externer Druck)? Wie legitimierte sich die Staatspartei und wie erfolgreich war sie dabei? Wie entwickelte sich das Mitgliederpotenzial? Wo lagen die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit? Welche innerparteilichen Konflikte traten auf? Kam es im letzten Jahrzehnt zur Konfrontation zwischen Hardlinern und Softlinern? Wie entwickelte sich das Verhältnis der Partei zu den Sicherheitsdiensten und zum Militär? Welche Rolle spielten die Massenorganisationen? Gab es Blockparteien und inwieweit wurden diese domestiziert und instrumentalisiert? Wie stark war der sowjetische Einfluss? 2) Sozialpolitik: Welche sozialpolitischen Leistungen konnte die Staatspartei (insbesondere auf den Gebieten der Güterversorgung, des Wohnungsbaus, des Gesundheitswesens und der Altersversorgung) erbringen? Inwieweit wurde dadurch Loyalität und Systemstabilisierung erzielt? Wo lagen ihre Grenzen? Welche Konsequenzen hatte dies für die Systemlegitimierung? 3) Dissidenz, Opposition, Widerstand: Wie entwickelten sich Artikulationsmöglichkeiten für abweichendes politisches Verhalten? In welchen sozialen Segmenten etablierten sich Dissidenz und oppositionelle Strukturen? Welche Stärke besaßen oppositionelle Gruppen? Korrelierten Phasen nachlassender Repression mit einem Erstarken von Dissidenz und Widerstand? Gab es Formen gewaltsamen Widerstands? Welche Unterstützung wurde oppositionellen Gruppierungen von außen zuteil? Der folgende Überblick sichtet die Befunde der Autoren auf diesen drei Feldern. Er löst sich daher von der Gliederung des Bandes, die aufgrund des Länderprinzips naturgemäß der politischen Geografie folgt.

Staatsparteien Alle realsozialistischen Staaten waren Einparteiregime, bei denen die politische Macht in den Händen einer Staatspartei gebündelt war. Soweit sie ihre Existenz dem Sieg der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges und der so entstandenen Hegemonie Moskaus im östlichen Europa verdankten, entsprachen sie zumindest anfänglich weitgehend dem sowjetischen Modell, wie es sich un-

Einleitung

11

ter Lenin und Stalin herausgebildet hatte.3 Ihre zentrale Legitimationsidee war die „Diktatur des Proletariats“, der Anspruch einer „revolutionären Avantgarde“, Herrschaft im Interesse der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit für eine Übergangszeit „despotisch“ auszuüben, um den historischen Durchbruch einer neuen Ordnung mit emanzipatorischen Zielen (Sozialismus/Kommunismus) zu ermöglichen. In den Verfassungen nach 1945 war meist in weicherer Diktion von der „führenden Rolle“ der Partei die Rede, deren monopolistischer Machtanspruch dem Gedanken einer institutionellen Gewaltenkontrolle widersprach. Stattdessen waren Staats- und Parteiämter eng verbunden, auf Dauer gesichert durch die systematische Besetzung aller Leitungsfunktionen mit bewährten Parteikadern („Nomenklatura“). In ihrem Inneren folgten die Staats­ parteien den Prinzipien des „demokratischen Zentralismus“. Dies bedeutete in der Theorie für alle verbindliche Beschlüsse nach vorheriger Diskussion, in der Praxis strikt hierarchische Entscheidungsprozesse, bei denen die obersten Partei­gremien (in der Regel das „Politbüro“ und der „Generalsekretär“) bestimmenden Einfluss ausübten. Die Herrschaft des Politbüros erstreckte sich nicht nur auf die Institutionen des Staates, sondern auch auf weite Teile der Gesellschaft, insbesondere die zentral verwaltete, von staatlichem Eigentum an Produktionsmitteln geprägte Wirtschaft. Wie sich dieses sowjetische Modell herausbildete und wie es nach rund sieben Jahrzehnte umfassender Geltung sein Ende fand, legt der Erlangener Osteuropahistoriker Helmut Altrichter dar. Anders als der Name suggerierte, entstand nach der Oktoberrevolution 1917 kein Rätestaat, sondern das politische System der von Lenin entworfenen „straff organisierten Kaderpartei“,4 auch wenn sie in den Verfassungsurkunden der Sowjetunion erst überhaupt nicht und lange Zeit nur am Rande (Stalins Verfassung von 1936) Erwähnung fand. Die Breschnew-Verfassung von 1977 würdigte erstmals an zentraler Stelle die „führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft“ als „Kern ihres politischen Systems, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen“.5 Zehn Jahre später schien deren Schlüsselposition zunehmend infrage gestellt, wie Altrichter in seiner Skizze des Transformationsprozesses ausführt. Im Zeichen von Glasnost und Perestroika war eine kritische Öffentlichkeit entstanden, hatte sich das Zentralkomitee zu einem Ort politischer Grundsatzdiskussionen von großer Tragweite entwickelt. Die nun in Gang gesetzten Parteireformen brachen mit den bis dahin geltenden Prinzipien, indem sie die „Befugnisse der Sowjets der Volksdeputierten“ stärkten und den Parteikomitees verboten, „Beschlüsse zu fassen, die ‚direkte Anweisungen für Staats- und Wirtschaftsorgane und gesellschaftliche Organisationen‘ enthielten“.6 Damit wurde das Ende des Einparteiregimes eingeläutet. 3 4 5 6

Vgl. zusammenfassend Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009, S. 155–158. Helmut Altrichter, Die Chimäre vom Rätestaat, S. 36. Zitat nach ebd., S. 36 f. Ebd., S. 38.

12

Einleitung

Die nach 1945 in Ostmitteleuropa entstandenen Satellitenstaaten der Sow­ jetunion folgten anfänglich mehr oder weniger dem aus Moskau vorgegebenen Muster, wichen aber in den folgenden Jahrzehnten teils beträchtlich von ihm ab. Die stärksten Abweichungen entwickelten sich in Polen, Ungarn und Rumänien, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und in verschiedene Richtungen. Der polnische Politikwissenschaftler Tytus Jaskułowski führt Ergebnisse einer Umfrage unter Mitgliedern der offiziell atheistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei aus dem Jahr 1988 an, wonach sich 60 Prozent der Befragten als gläubig bekannten und das höchste institutionelle Vertrauen dem Primas der Katholischen Kirche Polens entgegenbrachten.7 Auch dies erklärt die gesellschaftliche Sonderstellung, die sich die Katholische Kirche mit ihrem Millionenheer an Gläubigen und ihrer historischen Rolle als Verkörperung einer lange Zeit staatslosen Nation nach einer anfänglichen Phase heftigster Repression ertrotzt hatte. Allerdings fiel die erwähnte Umfrage in eine Zeit, in der sich die Macht (nach der Ernennung des Generals Jaruzelski zum Minis­ terpräsidenten im Februar 1981 und der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981) bereits von der Staatspartei auf das (mit ihr allerdings eng verflochtene) Militär verlagert hatte. Wenige Mitglieder der Topelite um den General Jaruzelski besaßen das Entscheidungsmonopol; „Partei und Staats­ apparat wurden einfach ignoriert“.8 Das war in Ungarn anders, das ansonsten mit Polen zu den Ländern zählte, die im Laufe der Zeit beträchtlich vom sowjetischen Modell abwichen. Die Staatspartei leitete selbst die Transformation ein, da sich in ihr ein starker Reformflügel hatte entwickeln können, der in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, ermutigt durch den Wandel in Moskau, entscheidenden Einfluss gewann. Jedoch hatte Ungarn, wie kein anderes Land innerhalb des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), eine eigene Reformtradition, deren Ursprünge und Entwicklung der Ungarnexperte Andreas Schmidt-Schweizer in seinem Beitrag nachzeichnet. Sie erstreckte sich unter Parteichef Kádár nach der blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes von 1956 zunächst vor allem auf das Gebiet der Wirtschaft (u. a. Erweiterung der Selbstständigkeit von Staatsunternehmen und Genossenschaften und großzügigere Zulassung privatwirtschaftlicher Aktivitäten), da die bis dahin verfolgte „ideologiezentrierte Politik und rigorose Machtpraxis“9 in die Sackgasse geraten waren. Diese Entwicklung wurde in den Jahren 1973 bis 1977 durch Druck aus Moskau von einer Periode der „Reideolo­ gisierung und Reformrückschritte“ unterbrochen, setzte sich jedoch danach verstärkt fort und erfasste erstmals auch die politisch-institutionelle Sphäre, wie

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Tytus Jaskułowski, Das politische System der Volksrepublik Polen in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens, S. 90. Ebd., S. 96. Andreas Schmidt-Schweizer, Die Staatspartei in Ungarn (1944–1989). Vom Vasallen Moskaus zum Vorreiter der Systemtransformation, S. 198.

Einleitung

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die Wahlrechtsreform von 1983 („obligatorische Doppelkandidatur bei den Parlaments- und Kommunalwahlen“10) bewies. Marktwirtschaftlich orien­tierte Parteiökonomen übernahmen 1987 schließlich die Macht und trugen mit der Grenzöffnung vom September 1989 (vorangegangen waren seit dem Frühjahr 1989 Abbaumaßnahmen an der Grenze) entscheidend zum Ende des „realen Sozialismus“ bei. Ungarn und Polen hatten mit Rumänien die schwache soziale Verankerung der kommunistischen Parteien in den zu Beginn stark agrarisch geprägten Ländern gemeinsam. Doch blieb die 1965 von dem neu gewählten Parteichef Nicolae Ceauşescu eingeleitete Liberalisierung von kurzer Dauer, wie der Zeithistoriker und Ostexperte Thomas Kunze in seinem Beitrag zeigt. Der von Ceauşescu fortgeführte Nationalkommunismus mit seiner ostentativen Distanz zu Moskau bediente „antisowjetische bzw. antirussische Ressentiments“, war aber sorgfältig bemüht, „die ‚rote Linie‘ gegenüber dem Kreml niemals“11 zu übertreten. Neben dem Nationalismus als Integrationsideologie setzte Ceauşescu ab Mitte der 1970er-Jahre zunehmend auf Repression, gestützt vor allem auf den expandierenden Apparat der „Securitate“, deren bewaffnete Einheiten 1989 wesentlich zum blutigen Verlauf des Systemwechsels beitrugen. Stärker als in allen anderen „Ostblock“-Staaten wurde die Partei von einer klientelistisch-korrupten Führungsclique mit quasidynastischen Zügen dominiert. Wo sonst gab es neben den obligatorischen vielbändigen Redensammlungen der „großen Vorsitzenden“ eine „Anthologie des Kriechertums“ mit 151 pathetisch-huldvollen Gedichten auf Ceauşescu, der sein Land mit Prachtbauten und bombastischen Großprojekten in den wirtschaftlichen Ruin trieb? Anders als Rumänien blieb Bulgarien über die Jahrzehnte ein treuer Vasall Moskaus, wie der Sofioter Historiker Michail Gruev in seinem Beitrag ausführt. Die Staatspartei griff in ihren Legitimierungsbemühungen zwar ebenfalls auf traditionellen Nationalismus (und Feindbildpflege vor allem gegen die muslimische Minderheit) zurück, nahm dabei aber niemals eine „antisowjetische Färbung“12 an. Die Mehrheit der Bulgaren war seit dem 19. Jahrhundert russophil, da man Russland zunächst als Befreier von osmanischer Herrschaft und später als Bündnispartner gegen die Türkei (und Griechenland) schätzte. Die enge Anbindung an Moskau war eine der Voraussetzungen der erstaunlichen Führungskontinuität innerhalb der Staatspartei, deren in Ungnade gefallene Mitglieder stets durch komfortable „Sinekuren“ abgefunden wurden. Am Ende (1989) lag das Durchschnittsalter des Politbüros bei 65,5 Jahren – übertroffen nur durch die Parteispitze der SED (68 Jahre).13

10 Ebd., S. 201. 11 Thomas Kunze, Die Rumänische Kommunistische Partei und ihre Führer Gheorghe Gheorghiu-Dej und Nicolae Ceauşescu, S. 318. 12 Michail Gruev, Organisationsentwicklung, Ideenprozesse und innere Kämpfe in der Bulgarischen Kommunistischen Partei während der 1970er- und 1980er-Jahre, S. 383. 13 Vgl. ebd., S. 386.

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Einleitung

Anders als in Bulgarien gab es in den beiden Ländern, die ebenfalls nah am sowjetischen Vorbild orientiert blieben, Phasen gradueller Liberalisierung: In der DDR in Gestalt technokratischer Reformversuche Mitte der 1960er-Jahre unter Ulbricht, in der Tschechoslowakei viel weitgehender während des „Prager Frühlings“ 1968. Sie blieben aber Episode. In der Tschechoslowakei folgte die Endphase „posttotalitärer Entpolitisierung“,14 in der das Regime Wohlstandsversprechen mit der Forderung nach politischer Passivität verknüpfte. Am Ende war jene Staatspartei „gesellschaftlich isoliert“,15 die als einzige im „Ostblock“ als Massenpartei mit breiter Volksunterstützung begonnen hatte. Die tschechoslowakische Staatspartei, die bereits in den 1920er-Jahren eine bedeutende Stellung im Parteiensystem eingenommen hatte, erfasste zumindest in den industriell hoch entwickelten Regionen Böhmen und Mähren zu Beginn ihrer Herrschaft einen größeren Anteil der erwachsenen Bevölkerung (Bevölkerungsanteil der Parteimitglieder 1950: 25,3 Prozent) als gegen Ende (1985: 12,5 Prozent). Dies zeigt der Brünner Politikwissenschaftler Stanislav Balík in einer vergleichenden Betrachtung auf.16 Bei der SED war es umgekehrt: Obwohl auch sie in den Arbeiterregionen Sachsens und Thüringens über eine gewachsene Klientel verfügte, betrug der Bevölkerungsanteil der Parteimitglieder 1950 lediglich 9,2 Prozent (was allerdings im Vergleich zu Polen, Ungarn und der Sowjetunion ein hoher Wert war). Dagegen lag er 1985 bei 14,0 Prozent. Gegen Ende ihrer Herrschaft war sie die formell am stärksten verankerte Parteiorganisation der staatssozialistischen Länder, auch wenn der Glaube an die Verheißungen des Sozialismus selbst unter „Genossen“ arg gelitten hatte. Im Politbüro sahen viele die Notwendigkeit tiefgreifender Wirtschaftsreformen, wie Andreas Malycha in seinem Beitrag zeigt. Aber das Risiko, damit auch das Herrschaftsgefüge in seinen zentralen Bauelementen zu erschüttern, erschien vielen Spitzenfunktionären zu hoch: „Der ‚Prager Frühling‘ […] hatte gezeigt, auf welche Weise eine Debatte um Wirtschaftsreformen in eine gesamtgesellschaftliche Diskussion einmünden kann, die vor dem politischen System nicht Halt macht.“17 Im politisch isolierten Albanien, dem einzigen kommunistischen Regime in Europa, das bis zum Systemwechsel am Stalinkult festhielt, erreichte der Bevölkerungsanteil der Staatspartei dem Albanologen Michael Schmidt-Neke zufolge bis 1986 lediglich 7,5 Prozent. Das war keineswegs das Resultat eines zurückgenommenen totalitären Anspruchs, sondern entsprang der Leitidee, „Avantgardepartei, nicht Massenpartei zu sein“.18 Auf Jugoslawien wiederum traf dies keinesfalls zu, auch wenn sich generalisierende Aussagen zur Verankerung der kommunistischen Parteien hier aufgrund der föderalen Struktur

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Stanislav Balík, Die Staatspartei der Tschechoslowakei, S. 142. Ebd., S. 149. Vgl. ebd., S. 137. Andreas Malycha, Der „Konsumsozialismus“ Honeckers. Kontroversen um die Wirtschaftsstrategie im SED-Politbüro in den 1970er- und 1980er-Jahren, S. 252. 18 Michael Schmidt-Neke, Das politische System Albaniens 1944–1991, S. 451.

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verbieten. Wie der Leipziger Südosteuropaexperte Wolfgang Höpken ausführt, unterschied sich der Bund der Kommunisten Jugoslawiens von Anfang an von den anderen mittelosteuropäischen Staatsparteien durch seinen auch in der Theorie zurückgenommenen Anspruch auf eine „allumfassende ‚Durchherrschung‘ der Gesellschaft“.19 Allerdings wechselten sich Phasen der Liberalisierung (wie die durch marktwirtschaftliche Reformen gekennzeichnete zweite Hälfte der 1960er-Jahre) und der „Entliberalisierung des politischen und gesellschaftlichen Alltags“20 mit Repressionswellen und innerparteilichen „Säuberungen“ (wie zu Beginn der 1970er-Jahre besonders in Kroatien) ab. Dies war verbunden mit einer im Vergleich zur Sowjetunion und ihren Satelliten geringeren Elitenstabilität, besonders in den 1970er-Jahren, als die „alte Partisanengeneration“ von einer neuen, konservativeren „Führungsgarnitur“ abgelöst wurde, der die „Innovationsfähigkeit fehlte, um die sich in den 1980er-Jahren auftürmenden Krisen zu bewältigen“.21

Sozialpolitik Mangelnde Innovationsfähigkeit war im politischen Prozess das Resultat der Zerstörung des Pluralismus, im ökonomischen Bereich der Zurückdrängung freien Unternehmertums und der Aushebelung der Marktkonkurrenz. Selbst in Jugoslawien, das keine zentralistische Planwirtschaft kannte, untergrub eine „hochgradig atomisierte, zugleich jedoch bürokratisierte betriebliche Selbstverwaltung“ die „ökonomische Effizienz in eklatanter Weise“22 – mit gravierenden sozialen Folgen. Noch in den 1960er-Jahren waren die Führer der Sowjetunion – wie anderer kommunistischer Staatsparteien – überzeugt, „Sozialismus benötige keine Sozialpolitik, weil Sozialismus die Erfüllung sozialpolitischer Errungenschaften sei“. Sozialpolitik kennzeichne vielmehr den Kapitalismus, der aufgrund seiner tristen sozialen Folgen „permanente Reparaturarbeiten“23 erfordere. Wie der Bochumer Osteuropahistoriker Stefan Plaggenborg betont, fiel die Entdeckung der Sozialpolitik als eines Mittels zur Systemstabilisierung in die Zeit der Entstalinisierung: „Durch Sozialpolitik, die anfangs noch nicht so genannt werden durfte, sollte die Bevölkerung nach den Verheerungen des Stalinismus und des Zweiten Weltkrieges für das Regime wiedergewonnen werden.“24 Der

19 Wolfgang Höpken, Jugoslawien 1970–1989: „Pfadbesonderheiten“ und ­allgemeine ­Krise des Sozialismus, S. 473. 20 Ebd., S. 474. 21 Ebd., S. 470. 22 Ebd., S. 472. 23 Stefan Plaggenborg, Sozialpolitik in der Sowjetunion 1975–1991. Ein Beitrag zum Untergang, S. 45. 24 Ebd., S. 46.

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Einleitung

­ talinismus hatte „unter Beibehaltung der bestehenden zusätzliche sozialistiS sche Armut in riesen Ausmaßen verursacht, sichtbar nicht zuletzt an den Bettlern in den Straßen besonders der Städte“. Nur Brot, Kartoffeln und Teigwaren fanden die Menschen zu Beginn der 1950er-Jahre stets „in ausreichender Menge vor“.25 Und erst „vier Jahrzehnte nach der Revolution begann der erste sozialistische Staat der Welt, seine Alten, die den Sozialismus aufgebaut hatten, zu versorgen“.26 Die wichtigsten Elemente sozialistischer Sozialpolitik hat der Heidelberger Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt für das SED-Regime „sechs Kreisen“ zugeordnet: eine „autoritäre Arbeitsverfassung mit einer größtenteils partei- und staatsgesteuerten Lohnpolitik, das ‚Recht auf Arbeit‘, den Sozialschutz der Sozialversicherungen, die betriebliche Sozialpolitik, Sozialprogramme für den Reproduktionsbereich und schließlich privilegierende Zusatz- und Sonderversorgungssysteme für politisch besonders umworbene Gruppen“.27 Besonders im Bereich der – in Deutschland traditionsreichen – Sozialversicherung trugen diese sechs Kreise in der DDR landesspezifische Züge, doch galten sie in weiten Teilen auch in den anderen Staatssozialismen. Dies traf vor allem auf die autoritäre Arbeitsverfassung mit Staatsgewerkschaften als gigantischen Kontroll- und Betreuungsapparaten zu, wie sie die Sowjetunion hervorgebracht hatte. Neben der Lohnpolitik bestimmten sie über die Vergabe vieler begehrter Dienstleistungen wie Urlaubsreisen und Ferienwohnanlagen – und nutzten sie auch als Mittel zur Belohnung und Bestrafung loyalen/illoyalen Verhaltens der Beschäftigten. Im zweiten Kreis nahm die DDR eine Spitzenstellung ein. Bei den Erwerbsquoten übertraf sie nach den ILO-Statistiken „die übrigen sozialistischen Länder um Längen“28 – hier wie dort allerdings um den Preis der „Überlagerung wirtschaftlicher Rationalität durch wirtschaftsfremde Regulierungen“,29 die den Betrieben eine sehr großzügige Beschäftigung von Arbeitskräften ermöglichten. Dieses System wurde dort stärker durchbrochen, wo der Anteil der nicht-kollektivierten Betriebe höher war (wie in der polnischen Landwirtschaft) und privatwirtschaftliche Aktivitäten von Kleinunternehmern wie im ungarischen „Gulaschkommunismus“ einen bedeutenderen Umfang erlangten. Das Gegenmodell bildete Jugoslawien, wo der Staat keine Arbeitsplatzgarantie gewährte. 1984 waren eine Million Arbeitssuchende registriert, davon 60 Prozent Jugendliche.30 Das in anderen Staatssozialismen fehlende Ventil war hier die Suche nach Arbeit im Ausland. Dabei entwickelten sich die Gastarbeitertransferzah-

25 Ebd., S. 47. 26 Ebd., S. 48. 27 Manfred G. Schmidt, Legitimitätsprobleme im Sozialismus. Die Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 267. 28 Ebd., S. 268. 29 Ebd., S. 269. 30 Vgl. Höpken, Jugoslawien, S. 498.

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lung zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor – und trugen so indirekt zur Finanzierung der Sozialpolitik bei. Im dritten Kreis, Alterssicherung und Gesundheitswesen, standen internatio­ nal respektable Erfolge neben dunklen Schattenzonen. Erfolge wurden vor allem im Gesundheitswesen verzeichnet, wo viele Staaten in der Basisversorgung ein international beachtliches Niveau erreichten. Doch wirkte sich auch hier die mangelnde Effizienz der Ökonomie aus, die einen Rückfall in der technischen Ausstattung der Krankenhäuser zur Folge hatte. In Rumänien hatte das besonders schwerwiegende Folgen: Hier stieg die Kindersterblichkeit nach kontinuierlichem Rückgang in den Jahrzehnten zuvor seit Mitte der 1980er-Jahre wieder an.31 Im Bereich der Alterssicherung schnitten die realsozialistischen Systeme im internationalen Vergleich ungünstiger ab als im Gesundheitswesen. Der Substitutionsanteil der Renten im Verhältnis zum Einkommen vor dem Eintritt in den Ruhestand war in Ungarn (1982) mit 52 Prozent besonders hoch. In der Tschechoslowakei lag er bei 45 Prozent, in der DDR lediglich bei 30 Prozent.32 Im vierten Kreis, dem „Reproduktionsbereich“, ist zunächst der Wohnungsbau zu nennen. Seit den späten 1960er-Jahren schossen in den Vorstädten überall die Hochhaus-Plattensiedlungen aus dem Boden. Sie reduzierten die Wohnungsknappheit und boten vergleichsweise komfortablen Wohnraum. Wie Alexander Vezenkov vom Centre for Advanced Study in Sofia zeigt, unterschieden sich die Staatssozialismen allerdings im Staatsanteil erheblich: Während in der DDR, der Sowjetunion und Rumänien die große Mehrheit der Stadtbevölkerung in Staatswohnungen lebte, wurden in Bulgarien, Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen viele Wohnungen privatisiert.33 Dies milderte den Verfall der Altbausubstanz, wie er die Stadtkerne der DDR kennzeichnete. Im internationalen Vergleich lagen die Leistungen im Bereich der Geburtenförderung teilweise an der Weltspitze. Neben der DDR galt dies vor allem für die Tschechoslowakei. 1968 war sie das Land mit dem „weltweit längsten Mutterschaftsurlaub“ und hohem Lohnausgleich.34 Allerdings traf dies keineswegs auf alle Staatssozialismen zu. Auch im von Preisstützungen geprägten Konsumbereich war die Kluft zwischen den am weitesten entwickelten Ländern und denen am unteren Ende riesig. Während die Grundversorgung in den letzten Jahren vor dem Ende des Staatssozialismus in Ländern wie der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei auch aufgrund hoher Staatsverschuldung kein wirkliches Problem darstellte, lebten große Teile der Bevölkerung im nahezu schuldenfreien Rumänien in bitterer Armut. Wie der Bukarester Sozialhistoriker Alex­andru-Murad Mironov zeigt, bestand kein Mangel an Geld, sondern

31 Alexandru-Murad Mironov, Sozialpolitik in Rumänien, S. 330. 32 Vgl. Tibor Valuch, Staatssozialismus – Sozialpolitik – Legitimation. Ungarn im mittel­ europäischen Vergleich 1949–1989, S. 220. 33 Alexander Vezenkov, Sozialpolitik im kommunistischen Bulgarien, S. 393. 34 Jakub Rákosnik, Sozialpolitik und das Ende der sozialistischen Diktatur in der Tschechoslowakei, S. 154.

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„Mangel an Gütern“: „Lebensmittel konnte man nicht kaufen, da sie nicht vorhanden waren.“35 In dieser Hinsicht war die Lage in den 1980er-Jahren noch schwieriger als im „asketischen Mangel-Sozialismus“36 Albaniens. Aber auch in den vergleichsweise gut funktionierenden Systemen gab es Bevölkerungsgruppen, die sich selbst als arm empfanden. In der Tschechoslowakei zählten dazu besonders häufig „Hausfrauen, Menschen mit geringer Bildung, Bewohner von Kleinstädten und Rentner“.37 Für weite Teile der Bevölkerung gab es indes weder in der Tschechoslowakei noch in der DDR ernste Mängel im Bereich der Grundversorgung. Allerdings blieben sie weit vom zeitweiligen Konsum-Schlaraffenland Jugoslawien entfernt, wo aufgrund der Qualität der Agrar- und Verbrauchsgüter, der Automobilisierung, des Tourismus, der offenen Grenzen, der Überweisungen der Gastarbeiter in Westeuropa und der Intensität der internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen von den 1960er-Jahren an eine „sozialistische Konsumgesellschaft“38 entstand, in der die andernorts auftretenden Versorgungsengpässe unbekannt waren. Die „sozialistische Konsumkultur“ Jugoslawiens stand ökonomisch indes nicht weniger auf tönernen Füßen als die der anderen Staatssozialismen. Dies zeigt sich Mitte der 1980er-Jahre, als das hoch verschuldete Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geriet. Nun gab es zu einer strengen Austeritätspolitik keine Alternative mehr. Die Folge waren „Importrestriktionen, Devisenbeschränkungen und Preislockerungen bei gleichzeitigen Lohnbeschränkungen […]. Aus der jugoslawischen Konsumgesellschaft wurde eine Schwarzmarkt- und Tauschgesellschaft.“39 Hält die Mitte der 1980er-Jahre von dem Politikwissenschaftler George Breslauer vertretene These vom „ungeschriebenen Sozialvertrag“, den die poststalinistischen Regime mit ihren Bevölkerungen zwecks Systemstabilisierung geschlossen hätten,40 einer empirischen Prüfung stand? Für die Sowjetunion zeigen die Quellen eines Bochumer Forschungsprojekts (Briefe „von unten“ und Verlautbarungen „von oben“), dass es eine solche stillschweigende Übereinkunft zumindest zeitweise und in Teilen der Bevölkerung gab. Unzweifelhaft habe die „sowjetische Führung über das Instrument der Sozialpolitik wieder einen Draht zur Masse der Bevölkerung“41 bekommen. Wo die Weber’schen Quellen der Legitimität (Tradition, Charisma, rational-legale Herrschaft) versiegten, musste dies, wie Manfred G. Schmidt für die DDR zeigt, durch ­soziale

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Alexandru-Murad Mironov, Sozialpolitik in Rumänien, S. 338. Höpken, Jugoslawien, S. 494. Rákosnik, Sozialpolitik, S. 164. Höpken, Jugoslawien, S. 490. Ebd., S. 498. Vgl. George W. Breslauer, On the Adaptability of Soviet Welfare-State Authoritarianism. In: Erik P. Hoffmann/Robbin F. Laird (Hg.), The Soviet Polity in the Modern Era, New York 1984, S. 219–245. 41 Plaggenborg, Sozialpolitik, S. 49.

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Leistungen kompensiert werden. Dazu passt, was der Potsdamer SED-Forscher Andreas Malycha über die Denkweise des SED-Generalsekretärs Erich Honecker schreibt. Dieser „war in weitaus stärkerem Maße als die der anderen SED-Funktionäre von dem Glauben geprägt, durch Sozialpolitik Loyalität in der Bevölkerung und damit politische Stabilität des Systems erzeugen zu können“.42 Sein ökonomisches Wissen war demgegenüber bescheiden. Indes war einigen seiner Berater klar, dass der DDR-Sozialismus ökonomisch vor kaum zu bewältigenden Herausforderungen stand. Wo die Staatssozialismen dem Markt größere Spielräume einräumten, klaffte die Einkommensschere auseinander. Der ungarische „Gulaschkommunismus“ ist dafür ein gutes Beispiel. Hier grassierte nicht zufällig auch die Korruption, konnte man sich bessere Leistungen bei der Wohnungszuteilung oder im Gesundheitswesen erkaufen.43 Wo aber die Marktkonkurrenz weitgehend ausgeschaltet blieb, fehlten die Erträge, um die sozialistischen Wohlstandsversprechen langfristig auf hohem Niveau zu erfüllen. In der Sowjetunion fiel der entscheidende Dominostein im realsozialistischen Machtgefüge. Die „von Stalin ererbte Wirtschaftsstruktur“44 war am Ende, ein tief greifender Umbau („Perestroika“) des ökonomischen Systems zur Effizienzsteigerung alternativlos. Als die Sowjetführung 1985 begann, strukturelle Reformen einzuleiten, hatte sie indes schon „ihr sozial- und wirtschaftspolitisches Pulver verschossen“. Gorbatschows Strategie, „Sozialpolitik durch politische Rechte zu ersetzen, in der Hoffnung, die politische Liberalisierung werde über den realen Niedergang der Lebensverhältnisse hinweghelfen“, ging im „Sozialprotektorat Sowjetunion“45 nicht auf. In Polen, dem zweiten Dominostein, waren die 1980er-Jahre von enormen Preissteigerungen geprägt, da die Regierung nicht in der Lage war, die hohe Subventionierung der Grundnahrungsmittelpreise aufrechtzuerhalten. 1982 sank die Kaufkraft der Bevölkerung trotz Gehaltserhöhungen um ein Viertel.46 In der Tschechoslowakei war die Lage in den 1980er-Jahren weniger dramatisch. Aber auch hier stieß der hoch entwickelte Wohlstandsstaat an seine Grenzen. Doch anders als in Polen gelang es der politischen Führung, „einen Lebensstand zu wahren, der nicht zu Unstimmigkeiten führte, die in Massenprotesten der Bürger gegen das Regime hätte enden können“.47 Erst als mehrere Dominosteine gefallen waren, begann in Prag die „samtene Revolution“.

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Malycha, Der „Konsumsozialismus“ Honeckers, S. 253. Vgl. Valuch, Staatssozialismus – Sozialpolitik – Legitimation, S. 219. Plaggenborg, Sozialpolitik, S. 54. Ebd., S. 56. Patryk Wasiak, „Sozialwirtschaftliche Entwicklung“ in der Zeit der Krise. Die volkspolnische Sozialpolitik in den 1980er-Jahren, S. 105. 47 Rákosnik, Sozialpolitik, S. 153.

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Opposition und Widerstand Was in Prag im November/Dezember 1989 geschah, wäre nur zum Teil richtig beschrieben, wenn man behauptete, die Opposition habe nun die Macht übernommen. Dies vermittelte von der Tschechoslowakei mit ihrer besonderen Tradition der „nicht-politischen Politik“ ein schiefes Bild.48 Der Brünner Politik­ wissenschaftler Jan Holzer zeigt in seinem Beitrag, welche Konsequenzen diese prominent von Václav Havel vertretene Haltung in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre hatte.49 Die „samtene Revolution“ war ebenso wenig geplant wie die in anderen realsozialistischen Ländern. Da es in keinem von ihnen (auch nicht in Jugoslawien) ein Recht auf Opposition gab und die Spielräume für politisch abweichendes Verhalten auch in der Endphase vielerorts eng waren, verstanden sich die meist kleinen regimekritischen Gruppen überwiegend als moralische, menschenrechtlich orientierte Alternative auf dem Weg zu einem besseren Sozialismus. Es mag daher angebracht erscheinen, mit Leonard Schapiro zwischen „Dissidenz“ und „Opposition“ zu unterscheiden.50 Naturgemäß zeigten sich Dissidenz, Opposition und Widerstand in besonderem Maße in der Etablierungs- und Verfallsphase der realsozialistischen Regime. Wo die Staatsparteien bei der Machteroberung auf ein stärkeres endogenes Unterstützerpotenzial setzten konnten (wichtigstes Beispiel: Tschechoslowakei), verlief der Prozess der Regimeetablierung oft weniger blutig als dort, wo die Herrschaft gegen weite Teile der Gesellschaft ertrotzt werden musste. In Rumänien beispielsweise war der Kommunismus „ein politisches Nullum“51 und seine Errichtung mit einem „beispiellosen Terrorregime“ verbunden. Politische Gegner wurden zu Tausenden im rumänischen „Archipel Gulag“ interniert. Der rumäniendeutschen Politikwissenschaftlerin Anneli Ute Gabanyi zufolge befand sich noch 1964 eine halbe Million Personen „in Gefängnissen, Arbeitslagern und im Zwangsaufenthalt“.52 Jedoch musste auch in solchen Ländern, wo die Staatsparteien über breitere soziale Unterstützung verfügten, nicht selten der zähe Widerstand bedeutender sozialer Gruppen gebrochen werden. Wie die bulgarische Menschenrechtsaktivistin Dimitrina Petrova in ihrer Analyse zeigt, neigt die Bulgarienforschung angesichts des stärker endogenen Charakters des bulgarischen Kommunismus zur Unterschätzung von Dissidenz, Opposition und Widerstand. Doch existierten auch hier in der Etablierungsphase Straflager für politische Kontrahenten und

48 Dirk Mathias Dalberg, Die nichtpolitische Politik. Eine tschechische Strategie und Politik­ vorstellung, Stuttgart 2013. 49 Jan Holzer, Opposition und Widerstand gegen kommunistische Regime: Der Fall Tschechoslowakei, S. 181. 50 Vgl. den Hinweis bei Holzer, Opposition, S. 187 f. 51 Zit. nach Anneli Ute Gabanyi, Politische Opposition im kommunistischen Rumänien (1944–1989), S. 348. 52 Ebd., S. 350.

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es gab einen heftigen Kampf zur Entmachtung der Kirchen. Die Repressions­ politik des sich konsolidierenden Regimes war janusköpfig: Während es „zu brutaler Gewalt gegenüber Dissidenten mit geringerem sozialem Status fähig war, verfügte es über eine ausgefeilte Strategie der Tolerierung, Verführung, Manipulation und gezielten Repression, wenn es um prominente Intellektuelle ging, wobei man sich äußerste Mühe gab, keine Märtyrer zu produzieren“.53 Mit die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen des Schiwkow-Regimes ereignete sich in den 1980er-Jahren, und zwar auf eine für die poststalinistischen staatssozialistischen Länder untypische Weise: Während der Kampagne zur Zwangsassimilation der türkischen Minderheit 1984/85 wurden 850 000 ethnische Türken gezwungen, bulgarische Namen anzunehmen. „Knüppel und Panzer“ kamen zum Einsatz. Bis März 1985 „war die türkische Minderheit in Bulgarien ‚verschwunden‘“.54 Von einer stalinistischen „ethnischen Säuberung“ unterschieden sich die demütigenden Vorgänge allerdings dadurch, dass die Diskriminierten ihre Heimat und teilweise ihren Besitz, nicht aber ihr Leben verloren. Allerdings gab es im bulgarischen Staatssozialismus mit seiner vergleichsweise großen Unterstützerbasis vor 1989 anders als in der DDR, Polen und Ungarn keine Volksaufstände gegen das kommunistische Regime. Als Gründe dafür nennt Dimitrina Petrova „die strikte Repression sowie die physische und moralische Vernichtung der demokratischen Opposition ab September 1944“.55 Die stärkere Legitimität des bulgarischen Kommunismus erzeugte ihr zufolge sogar „ein größeres Potenzial zur Unterdrückung von Dissidenz“.56 Auch dort, wo sich die kommunistische Herrschaft wie in Jugoslawien in vergleichsweise liberalen Formen entfaltete, musste sie zunächst in einem „Furor repressiver Gewalt“57 etabliert und jegliche ordnungspolitische Alternative unterbunden werden. Wo eine Tradition des Parteienwettbewerbs existierte und der Machtübernahme eine Liberalisierungsperiode vorausging, in der sich Parteien bilden konnten, mussten die kommunistischen Parteien ihre Kontrahenten aus dem Weg räumen oder einbinden. So entstanden in der DDR, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien ­„Blockparteien“, die einerseits politischen Pluralismus vortäuschten und andererseits als „Transmissions­riemen“ der Staatspartei in Bevölkerungsgruppen dienten, die nicht zu deren klassischer Klientel zählten. Blockparteien fehlten in der Sow­ jetunion mit ihrer kriegerischen und mörderischen Etablierungsphase nach 1917 – ebenso wie in Albanien, wo es „nur Erfahrungen mit autoritären Systemen“ gab und sich vor der Machtübernahme der Staatspartei „kein Parteien­ pluralismus ausbilden konnte“.58

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Dimitrina Petrova, Widerspruch und Opposition im kommunistischen Bulgarien, S. 419. Petrova, Widerspruch, S. 422. Ebd., S. 437. Ebd., S. 438. Höpken, Jugoslawien, S. 500. Schmidt-Neke, Das politische System Albaniens, S. 448.

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Wo Blockparteien existierten, wurden diese nach einer Übergangsperiode politisch meist nahezu bedeutungslos. Eine Ausnahme war die vorwiegend linksgerichtete ungarische Kleinlandwirtepartei, die bei den Wahlen von 1945 57 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Sie konnte noch eine Zeit lang als semi­ legale Opposition wirken, allerdings unter massivem Konformitätsdruck und strengster Beobachtung durch die Staatssicherheit. Welche begrenzten Freiräume daraus resultierten, erläutert der ungarische Historiker Krisztián Ungváry am Beispiel von József Antall senior und junior, dem Vater des ersten ungarischen Ministerpräsidenten nach dem Systemwechsel und dessen Sohn, der als Gymnasiallehrer „mehrmals strafversetzt und 32 Jahr lang permanent observiert wurde“. Doch drei Jahre nach dem Ungarnaufstand musste die Kleinlandwirtepartei ihr Büros endgültig schließen; Antall junior verlor die Lehrbefugnis, mied fortan jede illegale politische Betätigung, erreichte aber mithilfe noch intakter Netzwerke seines Vaters immerhin, dass er 1974 „zunächst Beauftragter und ab 1985 ordentlicher Direktor eines kleinen Museums werden konnte“.59 Die Dissidenten und Oppositionellen der realsozialistischen Länder bildeten keine Einheit, sondern waren strategisch wie politisch heterogen. Befürworter eines gewaltsamen Umsturzes bildeten im Allgemeinen eine kleine Minderheit. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch paramilitärische Widerstandsaktivitäten – wie in Polen, wo entsprechende Formationen aus der Heimatarmee hervorgegangen waren.60 Die Aktivitäten gewaltorientierter Gruppen regten vielfach nicht zur Nachahmung an, zumal sie mit strengster Repression zu rechnen hatten. Der in seinen Motiven nie ganz aufgeklärte Versuch einer Flugzeugentführung durch ausreisewillige jüdische Aktivisten in Leningrad 1970 stieß in Dissidentenkreise überwiegend auf Ablehnung. Alexander Solschenizyn erteilte der Legitimität von Gewalt als Mittel politischer Veränderung 1974 eine klare Absage.61 Gingen die Forderungen der Dissidenten über moralische Anliegen (Gerechtigkeit) oder Fragen des Friedens und des Umweltschutzes hinaus und verdichteten sich zu einer in Ansätzen politischen Programmatik, so bildeten die Verfechter einer Reform des Sozialismus die Mehrheit. Allerdings konnte Kritik am Status quo am ehesten auf Duldung hoffen, wenn sie sich in das Gewand innersozialistischen Reformstrebens hüllte. Ganz andere politische Ziele verfolgten Befreiungsnationalisten in Ländern, wo stark entwickelte ethnische/ nationale Kulturtraditionen überdauert hatten. Die Wiedererlangung der Unabhängigkeit war in Armenien, Georgien und im Baltikum ein zentrales Thema der Dissidenten. Wie der Moskauer Memorial-Mitarbeiter Alexej Makarov in seinem Beitrag zeigt, hatte sich in Litauen die „Bewegung der ‚Waldbrüder‘ bis

59 Krisztián Ungváry, Opposition und Widerstand in Ungarn, S. 234. 60 Vgl. Klaus Ziemer, Opposition und Widerstand im kommunistischen Polen, S. 114. 61 Vgl. Alexej Makarov, Die Dissidentenbewegung in der Sowjetunion. Strategien und Praxis, S. 72.

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Mitte der 1950er-Jahre halten“62 können. Die Bürgeraktivitäten genossen dort in den 1970er-Jahren die Unterstützung der Katholischen Kirche, obwohl sie sich teilweise mit einer xenophob-antirussischen Haltung verbanden. Auch in der Dissidentenszene der Ukraine spielte das Motiv der erzwungenen Russifizierung eine bedeutende Rolle. In Bulgarien hatte eine „sehr kleine Fraktion der Dissidenten […] ihre ideologischen Wurzeln in der radikalnationalistischen, NS-orientierten Legionärsbewegung der vorkommunistischen Zeit“.63 Die Dissidentenszene der DDR wich in ihrem Erscheinungsbild in einigen Punkten vom Gesamtbild der realsozialistischen Staaten ab. Alle diese Länder waren Opfer „des von Deutschland ausgegangenen Krieges geworden“. Wie einer der besten Kenner der DDR-Opposition, Ehrhart Neubert, in seinem Beitrag erläutert, konnte es aus diesem Grunde in der DDR „kein ungebrochenes Nationalbewusstsein“ geben.64 Die Reflexion der Frage der Schuld, die der offizielle Antifaschismus als Produkt des Kapitalismus elegant dem Westen zuschob, hatte für viele Gruppen hohe Bedeutung. Hinzu kam die in Ostmittel­ europa einzigartige Situation der deutschen Teilung. Überdies war die DDR das einzige protestantisch geprägte Land, sodass die protestantische Ethik eine größere Rolle spielte. Die DDR-Friedensgruppen waren nicht selten von einem radikalen Pazifismus beseelt, thematisierten Umweltprobleme im Sinne der Bewahrung der Schöpfung und argumentierten vielfach auf der Grundlage eines christlichen Sozialismus. Der Schutzraum, den die Kirchen den zunächst kleinen Gruppen von Dissidenten geboten hatten, erklärt ihre hervorgehobene Rolle in der Transitionsphase 1989/90. Die Kirchen wurden in den meisten Ländern als politischer Machtfaktor bereits in der Etablierungsphase ausgeschaltet oder eingebunden. In Ungarn ging der Papst 1962 auf das Angebot der ungarischen Regierung ein, Bischöfe nur aus dem Kreis der von ihr vorgeschlagenen zu ernennen. „Da die ungarische Regierung nur inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit für diese Ämter vorschlug, war dieser Schritt mit der Aufgabe der Selbstständigkeit der Kirchen gleichbedeutend.“65 Polen war in dieser Hinsicht das schroffe Gegenteil: Der Versuch des Regimes zu Beginn seiner Herrschaft, die Macht der Kirche mit brachialen Methoden zu brechen (auf dem Höhepunkt der Verfolgung 1953 wurde Kardinal Wyszyński, Primas der Kirche, interniert), scheiterte. Die Kirche behielt so eine bedeutende Machtstellung und konnte einen „bescheidenen Pluralismus im kulturellen Bereich“ aufbauen, „etwa durch katholische Wochen- bzw. Monatszeitschriften […] sowie durch die an einer Hand abzuzählenden ‚Klubs der katholischen Intelligenz‘“.66 Wie der Politikwissenschaftler

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Ebd., S. 64. Petrova, Widerspruch, S. 428. Ehrhart Neubert, Opposition und Widerstand in der DDR, S. 284. Ungváry, Opposition, S. 235. Ziemer, Opposition, S. 118.

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und Polenkenner Klaus Ziemer in seinem Beitrag darlegt, rekrutierten sich aus diesen Intellektuellenzirkeln die 1957 erstmals zugelassenen Sejmabgeordneten der katholischen Laienorganisation Znak („Zeichen“), die vom Episkopat unterstützt wurde. Akademisch Gebildete waren in den Dissidentenszenen überrepräsentiert. Eine polnische Besonderheit war in den Jahren 1976/77 die „enge Zusammenarbeit zwischen Intellektuellen und Arbeitern“.67 Die dort gebildeten „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR) bedienten sich einer für Arbeiter verständlichen Sprache und genossen hohe Akzeptanz. In Polen verlagerte sich die Macht in den Jahren vor der Transition auf das Militär. Daher spielte die Opposition aus der Staatspartei heraus dort eine geringere Rolle als in Ungarn. Doch hatten sich viele Staatsparteien in den Jahren vor ihrem Machtverlust im Inneren repluralisiert. Die stalinistische Tradition der „Säuberungen“ zur Gewährleistung innerer Einheit, meist verbunden mit „ideologischen Brandmarkungen (Trotzkismus, Nationalismus, Opportunismus, Titoismus, Revisionismus)“68 und der Konstruktion von Feindbildern und Verschwörungen von außen (Emigranten, der Westen), blieb nur in Albanien originalgetreu erhalten. Der Prager Frühling bedeutete faktisch Opposition gegen den Kommunismus, auch wenn sich einige führende Repräsentanten erst später bewusst wurden, dass sie sich in eine Art Oppositionshaltung begeben hatten; eine Reihe von ihnen blieb „bei ihrem Glauben an das kommunistische Ideal, und ihr Widerstand richtete sich einzig gegen die Methoden, mit deren Hilfe dieses Ideal im Verlaufe der 1970er- und 1980er-Jahre verwirklicht werden sollte“.69 In Polen traten bis zum Herbst 1981 eine Million Parteimitglieder der Gewerkschaft Solidarność bei.70 Am stärksten war der Einfluss der ungarischen Staatspartei auf den Systemwandel: „Nach der Weisung des ZK arbeiteten ab Herbst 1988 mindestens drei verschiedene Arbeitsgruppen an der Konzeption der Transformation.“ Die sich beschleunigenden Transformationsereignisse machten die Planungen aber zu großen Teilen obsolet, und die Mobilisierung auf den Straßen „spiegelte die zunehmende Machtlosigkeit der Partei wider“.71 Auch in Rumänien, dem Land mit der blutigsten Transition Ende 1989, wurde der System­wechsel von Reformern aus der Staatspartei geprägt. Ion Iliescu hatte „sich 1987 in einem Aufsatz als Anhänger der Perestroika zu erkennen gegeben“.72 Allerdings gab es bis zur Entmachtung (und Hinrichtung) Ceauşescus in einer von militärischen Aus­einandersetzungen geprägten kurzen Transitionsphase innerhalb der rumänischen Staatspartei keinen starken Reformflügel, der den regierender Familienklan hätte in die Schranken weisen können. 67 68 69 70 71 72

Ebd., S. 122. Schmidt-Neke, Das politische System Albaniens, S. 463. Holzer, Opposition, S. 179. Ziemer, Opposition, S. 124. Ungváry, Opposition, S. 242. Gabanyi, Opposition, S. 364.

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Zwischen den Dissidentenszenen der staatssozialistischen Länder gab es vielfältige Kontakte und Wechselbeziehungen, insbesondere auf der Grundlage gemeinsamer Anschauungen. Die Entwicklung in Polen mit der Streikbewegung und der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność wirkte „unmittelbar über Kontakte in die DDR“73 hinein. Liberale westliche Politik- und Menschenrechtskonzepte gewannen mit der Helsinki-Schlussakte von 1975 an Bedeutung. Hinzu kam eine unorthodoxe Linke wie die Frankfurter Schule und die „Plattformen neuer sozialer Bewegungen einschließlich der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, der Menschenrechtsbewegung und des Feminismus“. Was Dimitrina Petrova für die bulgarische Seminarkultur der 1980er-Jahre konstatiert, dürfte auch in den Dissidentenszenen der DDR und der Tschechoslowakei bedeutsam gewesen sein: Die „reinen Doktrinen“ waren von einer „postmodernen Hybridisierung der kulturellen Kommunikation“ verdrängt worden.74 Die Stärke der Opposition in den realsozialistischen Systemen stand in engem Wechselverhältnis zum Erfolg der Legitimierungsbemühungen der Staatsparteien wie auch zu deren Bereitschaft, an der Repressionsschraube zu drehen. Letztlich war es aber ein externer Faktor, der ihrer Herrschaft die Grundlage entzog und die Wirkungsmöglichkeiten oppositioneller Gruppierungen unverhofft erweiterte: die Bereitschaft der Sowjetunion, notfalls militärisch zu intervenieren, um „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Die Preisgabe der Breschnew-Doktrin durch Generalsekretär Gorbatschow hatte gravierende Auswirkungen auf die staatssozialistischen Systeme und wirkte indirekt auch auf jene Länder (wie Jugoslawien und Albanien) ein, die nicht zu den Satelliten der Sowjetunion zählten.

*** Unser herzlicher Dank gilt allen Referentinnen und Referenten, die ihre Vorträge für die Drucklegung erheblich erweitert haben. Ebenso sei den zahlreichen Mitarbeitern gedankt, die meist hinter den Kulissen die Konferenz organisatorisch vorbereitet, begleitet und zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Für redaktionelle Mithilfe und Lektorat danken wir Manja Preissler, Sebastian Rab und Ute Terletzki; Satz und Layout übernahmen in bewährter Weise Ilona Görke und Kristin Luthardt. Last but not least sei dem Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden gedankt, dessen historischer Lesesaal der Konferenz einen repräsentativen Rahmen bot. Dresden, im August 2018

73 Neubert, Opposition, S. 297. 74 Petrova, Widerspruch, S. 435.

Uwe Backes, Günther Heydemann, Clemens Vollnhals

I. Sowjetunion

Die Chimäre vom Rätestaat Helmut Altrichter Zweifellos stand die Kommunistische Partei1 im Zentrum des politischen Systems der Sowjetunion. Wie die historisch-politische Meistererzählung dies begründete, wird in einem ersten Abschnitt kurz umrissen. Die merkwürdige Stellung der Partei im angeblichen Rätestaat lässt sich nur historisch erklären. Dies soll, in aller gebotenen Kürze, im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts stehen. Aufgebrochen wurde dieses Verhältnis erst durch die Entstehung und das Erstarken einer kritischen Öffentlichkeit, in einer Interaktion von „oben“ und „unten“. Ein zentrales Datum war dafür die 19. Parteikonferenz im Sommer 1988. Ihr gilt der dritte Abschnitt. Seit der Wahl des Volksdeputiertenkongresses (1989) trieb diese kritische Öffentlichkeit die Führung vor sich her und trug damit nicht nur zum „Systemwechsel“, sondern auch zum Zerfall der Sowjetunion (1991) bei. Darauf wird in einem vierten Abschnitt noch kurz eingegangen.

Die legitimatorische politische „Meistererzählung“ Im Mai 1985 feierte die Sowjetunion den 40. Jahrestag ihres „Sieges über den Hitlerfaschismus“. Die Feiern vollzogen sich nach einem seit Jahrzehnten eingeübten Ritual. Zu den Höhepunkten gehörte der Empfang von hochdekorierten Veteranen durch das Zentralkomitee der KPdSU am 5. Mai, die Kranzniederlegung am Leninmausoleum und am Grabmal des unbekannten Soldaten am 8. Mai, die zentrale „eigentliche“ Fest- und Gedenkveranstaltung im Großen Kremlpalast am Abend des gleichen Tages und eine Militärparade auf dem Roten Platz am 9. Mai. An der ­Militärparade nahmen neben aktiven Soldaten der 1

Sie war – nach der Spaltung auf dem 2. Parteitag 1903 – aus dem linken, bolschewistischen Flügel der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (russ. Abkürzung RSDRP) hervorgegangen. Um die Selbstständigkeit der Organisation hervorzuheben, führte sie 1912 den Zusatz Bolschewiki hinter dem Parteinamen (RSDRP/b). Auf dem 7. Parteitag im März 1918 benannte sie sich in Russische Kommunistische Partei/Bolschewiki (RKP/b) um und ersetzte die Bezeichnung auf dem 14. Parteitag (nach Gründung der Sowjetunion) durch Allunionistische Kommunistische Partei/Bolschewiki (­VKP/b). Auf dem 19. Parteitag im Oktober 1952 nahm sie schließlich jene Bezeichnung an, die sie bis zum Ende der Sowjetunion führte: Kommunistische Partei der Sow­jetunion (­KPdSU, russ. Abkürzung: KPSS). Resolutionen, Statuten und Programme in: Kommunističeskaja partija Sovetskogo Sojuza v rezoljucijach i rešenijach s“ezdov, konferencij i plenumov CK, 1898–1988, 15 Bände, 9. Auflage Moskau 1983 ff.

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Helmut Altrichter

sowjetischen Streitkräfte auch Rotarmisten mit schwerem Gerät aus dem Zweiten Weltkrieg teil, die schon beim legendären Siegesdefilee im Mai 1945 an Stalin vorbeimarschiert waren.2 Die Aufmerksamkeit, mit der das In- und Ausland die Moskauer Vorgänge verfolgten, galt nicht nur dem Geschehen selbst; sie galt genauso dem neuen Generalsekretär, der seit acht Wochen an der Spitze der KPdSU stand und die Geschicke des Staates nun lenkte: Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Auch bei den Siegesfeierlichkeiten war der Neue stets der Hauptredner, und er benutzte diese Plattform, um mit Bedacht den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen sich die geplanten Reformen bewegen sollten. Ihr Rahmen war ein Bekenntnis zum sowjetischen Erbe, ihre Leitlinie in der Erinnerung an jenen Überlebenskampf enthalten, in dessen Verlauf Staat und Gesellschaft sich behauptet, Patriotismus und Sozialismus zueinandergefunden hatten. Das folgende Zitat stammt aus seiner Festrede im Großen Kremlpalast am Abend des 8. Mai: „Der vergangene Krieg ist in die Geschichte unserer Heimat als Großer Vaterländischer Krieg eingegangen […]. Die tödliche Gefahr, die über dem Vaterland schwebte, und die gewaltige Kraft des Patriotismus mobilisierten das Land zu einem das ganze Volk erfassenden, zu einem heiligen Krieg.“ Seine siegreiche Beendigung habe die „grandiosen sozialen Umgestaltungen“ bestätigt, die der junge Sowjetstaat vollzogen hatte, und wurde „zu einem Ereignis von umwälzender, welthistorischer Bedeutung, das der geretteten Menschheit neue Wege des sozialen Fortschritts und die Perspektive eines gerechten und dauerhaften Friedens auf der Erde eröffnete“. Hatte Gorbatschow beim Treffen mit den Kriegsveteranen am 5. Mai den Streitkräften schon vorab gedankt, so schloss er nun in diesen Dank „die heldenhaften Leistungen und die außerordentliche Standhaftigkeit des Hinterlandes“ mit ein und vergaß auch nicht, den Zusammenhalt, die „brüderliche Einheit“ der sowjetischen Nationen und Völkerschaften zu erwähnen, in der „die Weisheit und Weitsichtigkeit der Lenin’schen Nationalitätenpolitik mit aller Kraft zutage“ getreten sei. Nicht zuletzt erinnerte Gorbatschow daran, von wem „die gigantische Arbeit an der Front und im Hinterland“ organisiert und koordiniert wurde: von der „Kommunistischen Partei, ihrem Zentralkomitee und dem Staatlichen Verteidigungskomitee unter der Leitung des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Josef Wissarionowitsch Stalin – Ausführungen, die die Festversammlung mit „lang anhaltendem Beifall“ quittierte.3 2

3

Festkalender nach der Berichterstattung in der „Prawda“. Vgl. Helmut Altrichter, Der Große Vaterländische Krieg. Zur Entstehung und Entsakralisierung eines Mythos. In: ders./Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg 2004, S. 471–493 (mit zahlreichen Bildern und Literaturhinweisen). Michail Gorbatschow, Unsterbliche Heldentat des sowjetischen Volkes. Rede auf der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag des Sieges über den Faschismus, 8. Mai 1985. In: ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin 1988, Band 2, S. 207–229, hier 214. Der Hinweis auf den „lang anhaltenden Beifall“ in der ein Jahr zuvor erschienenen russischen Ausgabe (M. Gorbačev, Izbrannye reči i stat’i, Moskau 1987, Band 2, S. 192) findet sich in der deutschen Ausgabe des Dietz Verlages nicht mehr.

Die Chimäre vom Rätestaat

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So war die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zugleich ein Bekenntnis zu Lenin und zur Revolution, zur Führungsrolle der Partei und ihren Aufbauleistungen, zur Politik der forcierten Industrialisierung und zur entstandenen Kolchosordnung, die das Land auf den richtigen Weg gewiesen, sich bewährt und im Überlebenskampf des Weltkrieges „überzeugend ihre Vorzüge unter Beweis“ gestellt hätten. Gorbatschow unterstrich damit die Bedeutung des Weltkrieges als einigender Kollektiverfahrung und die Notwendigkeit, die Erinnerung daran – über die Generationen hinweg – lebendig zu halten. Was Gorbatschow hier beschwor, war der Mythos vom „Großen Vaterländischen Krieg“, eine „fundierende Erzählung“, die der politischen Gemeinschaft Sinn und Identität gab, die Gegenwart mit der Vergangenheit verband und darüber hinaus ein Versprechen für die Zukunft abgab. Bezogen auf die Partei lautete dieses „Meisternarrativ“ etwa so: ohne die Bolschewiki keine Oktoberrevolution; ohne die Oktoberrevolution kein sozialistischer Aufbau, keine Kollektivierung und keine forcierte Industrialisierung; ohne Kollektivierung und forcierte Industrialisierung kein Sieg im Zweiten Weltkrieg; ohne Sieg im Zweiten Weltkrieg kein Aufstieg zur Weltmacht.

Die Rolle der Partei im Rätestaat So logisch, konsequent, ja zwingend die Entwicklung in dieser Perspektive ex post zu sein schien, war sie in Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil: Sie war – bei näherer Betrachtung – voller Widersprüche. Die Bolschewiki hatten eine marxis­tische Revolution in einem Land begonnen, das – die Urväter beim Wort genommen – dafür gar nicht „reif“ gewesen war. Sie hatten in der Revolution außerdem einen Rätestaat gefordert, demokratischer als der westliche Parlamentarismus, der niemals zuvor auf ihrer Agenda gestanden hatte; bei einem Parteiführer (Lenin), der dem Spontanismus der Arbeiterschaft ausgesprochen kritisch gegenüberstand; einen Rätestaat, in dem buchstäblich „alle Macht“ bei den Sowjets, den Interessenvertretungen der Arbeiter, Bauern und Soldaten lag; einen Rätestaat, der die Fabriken der Kontrolle der Arbeiter unterstellte; den Bauern den Boden gab, den sie mit ihrer Hände Arbeit bebauten; den Soldaten den Frieden brachte und die Landesverteidigung künftig einer Territorialmiliz übertrug; einen demokratischen Sowjetstaat, der zum Vorbild für den Westen werden sollte, sodass der revolutionäre Funke überspringen und eine proletarische „Weltrevolution“ auslösen würde. In diesen „Forderungen des Oktober“ kam die bolschewistische Partei gar nicht vor.4

4

Zum Gesamtkomplex mit Hinweisen auf weiterführende Literatur: Helmut Altrichter, Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, 2. Auflage Paderborn 2017; ders., Eine Partei neuen Typs. Alle Macht den Bolschewiki. In: 1917. Revolutionäres Russland, Darmstadt 2016, S. 75–86.

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Die daraus folgenden Verwerfungen sollen nicht im Einzelnen geschildert werden, sondern nur einige Bemerkungen zu ihren weitreichenden Folgen. Wenn es Ansätze zur Entwicklung eines Rätestaates gab, überlebten sie den Bürgerkrieg nicht. An der Spitze zog die Regierung, der von Lenin geführte Rat der Volkskommissare, alle Kompetenzen an sich, ohne sich viel um seine Rechenschaftspflicht gegenüber dem Rätekongress und dem Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee zu scheren. Wo die vorhandenen Organe nicht auszureichen schienen, schuf man neue, „außerordentliche“ Organe – in der Militärverwaltung, im Transportwesen, bei den Versorgungsorganen und in der Geheimpolizei, die sich ihren eigenen Apparat aufbauten, neben den Räten, die sie in ihren Funktionen ersetzten, sie in ihren Rechten verdrängten und sie überflüssig machten. Am Ende des Bürgerkrieges existierte die Räteorganisation als lokale Selbstverwaltung bestenfalls noch in Relikten, kaum irgendwo nahm sie ihre revolutionäre Tradition ungebrochen mit hinüber in die 1920er-Jahre. Ihre nun verfügte Neugründung etablierte sie als nachgeordnete Verwaltungsorgane. Die Bolschewiki schienen während der Revolutionsmonate bereit, ihr Konzept einer straff organisierten „Kaderpartei von Berufsrevolutionären“ über Bord zu werfen. Das Revolutionsjahr bescherte ihnen regen Zulauf. Schon im April 1917 behauptete man, inzwischen mehr als 45 000, nach anderen Angaben sogar an die 80 000 Mitglieder aufweisen zu können, bis zum Oktober soll ihre Zahl auf 400 000 angestiegen sein. Doch so genau wusste das offenkundig niemand. Jakow Swerdlow, der es als ZK-Sekretär eigentlich am besten wissen musste und dem Zentralkomitee im Herbst die Zahl von 400 000 Mitgliedern genannt hatte, bezifferte sie auf dem 7. Parteitag im März 1918 auf 300 000, was im krassen Widerspruch zu seiner gleichzeitigen Behauptung stand, der Zulauf zur Partei habe auch nach dem Oktober unvermindert angehalten. Seine Angabe passte wiederum nicht zu den Berechnungen der Statistischen Abteilung des Zentralkomitees, die für den Januar 1918 eine Mitgliedschaft von 115 000 ermittelt hatte.5 Gründe für die Differenzen lassen sich benennen: Die Partei nahm seit dem Frühjahr 1917 jeden auf. Für wie lange und in welchem Ausmaß er sich engagierte, stand dahin. Eine zentrale Erfassung der Mitgliedschaft gab es nicht, und außerdem standen vorerst wichtigere Aufgaben an, als sie ins Werk zu setzen. Sich auf die Angaben von Regionalvertretern zu verlassen, war problematisch; sie neigten dazu, die Bedeutung der eigenen Klientel zu übertreiben, schon um mehr Delegierte, als ihnen zustanden, in die oberen Parteigremien schicken zu können. Dass es seit der bolschewistischen Machtübernahme viele zusätzliche Gründe gab, der Partei beizutreten, für alle, die bei der Neuverteilung der Positionen und Privilegien nicht hintanstehen und in den Sowjet- und Ge-

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Thomas H. Rigby, Communist Party Membership in the U.S.S.R. 1917–1967, Princeton, N. J. 1968, S. 59 ff.

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werkschaftsorganen Karriere machen wollten, lag auf der Hand. Die Problematik dieses Tatbestands war der Führung durchaus bewusst. Selbst wenn sie die rasch wachsende Mitgliederzahl gern als Ausweis „massenhafter“ Zustimmung und Sympathie wertete sowie neue „zuverlässige Kader“ dringend gebraucht wurden, wusste sie zugleich, dass bei vielen, die ihr da zuliefen, von „Zuverlässigkeit“ nicht die Rede sein konnte, dass mit und auf diesem Flugsand der Revolution buchstäblich kein Staat aufzubauen war.6 Die Entwicklung zu steuern, dem revolutionären Wildwuchs Einhalt zu gebieten, Karteileichen, Alkoholiker, korrupte Funktionäre, Karrieristen, die das Parteiticket nur als Passepartout zum persönlichen Vorteil benutzten, rauszuschmeißen, ließ sich leicht fordern. Weit schwieriger war es, die Forderung umzusetzen. Die Organisationsstrukturen der Partei, die mit dem Mitgliederzuwachs nicht Schritt gehalten hatten, wurden nach dem Oktober weiter geschwächt, weil sich die aktiven Mitglieder in den vielfältigen Sowjet- und Gewerkschaftsgremien, in den Fabrik- und Soldatenkomitees, in den neuen außerordentlichen Organen engagierten, öffentliche Ämter übernahmen – und darin aufgingen (schließlich war die Parole „Alle Macht den Räten“ ausgegeben worden). Sie betrieben dort „bolschewistische Politik“ (oder was sie dafür hielten), für Partei­ arbeit im engeren Sinne, Sitzungen der zuständigen Parteigremien (wo sie denn existierten), blieb da kaum noch Zeit; sie verkümmerten auf allen Ebenen. Das galt selbst für das Zentralkomitee an der Spitze, das 1918 immer seltener tagte, und sein Sekretariat, das sich mit seinen wenigen Mitarbeiterinnen nicht einmal in der Lage sah, die zahlreichen Anfragen aus der Provinz zu beantworten. Stattdessen empfahl man, die „Prawda“ zu lesen und sich in Spezialfragen an die entsprechenden staatlichen Institutionen zu wenden. Dass die Parteiführung nicht bereit war, tatsächlich alle Macht den Räten zu übertragen und die eigene Partei aufzulösen, sie diese vielmehr über die Räte stellte, hatte sich schon im Mai 1918 abgezeichnet, als das ZK alle Mitglieder und Parteigliederungen in einem Rundbrief dazu aufrief, sich verstärkt um die eigene Organisation zu kümmern. Dass in der Zeit der Eroberung und Festigung der politischen Macht verantwortungsbewusste Parteimitglieder „massenhaft“ in die Räte gingen, Parteiarbeit zur Arbeit in den Räten wurde, der Partei gleichzeitig „breite Massen“ neuer Mitglieder zuströmten, habe deren innere Einheit und Ordnung gründlich durcheinandergebracht. Ohne eine geschlossene, „wie ein Mann“ handelnde Partei seien die großen bevorstehenden Aufgaben – der eigenen wie der sozialistischen Weltrevolution – nicht zu bewältigen.7 Beide Themen nahm der 8. Parteitag Ende März 1919 auf – mit einem Auftrag zur

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Robert Service, The Bolshevik Party in Revolution 1917–1923. A Study in Organisational Change, London 1979; Helmut Altrichter, Staat und Revolution in Sowjetrussland 1917–1922/23, 2. Auflage Darmstadt 1996, S. 97 ff., 190 ff. Abgedruckt nach dem Text der „Prawda“ vom 22.5.1918. In: KPSS v rezoljucijach, Band 2, S. 62 ff.

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Neuregistrierung aller Mitglieder, vor allem jener, die nach dem Oktober beigetreten waren; zum Ausbau der zentralen und schriftlichen ­Rechenschaftspflicht der unteren Parteiorgane. Für das Verhältnis zwischen Räten und Partei fand der 8. Parteitag die Formel: Die Räte seien die staatlichen Organisationen der Arbeiterklasse und der ärmsten Schichten der Bauernschaft, die Partei sei eine Organisation, die die Avantgarde des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft in ihren Reihen vereine und danach strebe, das kommunistische Programm zu verwirklichen. Die Partei wolle die Tätigkeit der Räte leiten, sie nicht ersetzen. „Striktester Zentralismus“ und „strengste Disziplin“ seien in der Partei „absolut unerlässlich“. Und alle Entscheidungen der obersten Instanzen seien für die untersten „absolut obligatorisch“. Zur Wahrnehmung seiner Führungsaufgaben sollte das ZK Instrukteure bereithalten, vor allem aber sollte sein Apparat beträchtlich ausgebaut werden. Neben den regulären Sitzungen des Zentralkomitees (mit seinen 19 Mitgliedern und acht Kandidaten, die zumindest zweimal im Monat zusammenkommen sollten) wurden drei neue Gremien geschaffen: ein „Politisches Büro“ (bestehend aus fünf Mitgliedern des ZK, das alle Fragen beriet, die keinen Aufschub erlaubten); ein „Organisationsbüro“ (das ebenfalls aus fünf ZK-Mitgliedern bestand, nicht weniger als dreimal die Woche tagte und für die Parteiorganisation zuständig war); und ein „Sekretariat“, das einem „verantwortlichen Sekretär“ unterstand (der zugleich dem Organisationsbüro angehörte, dem Plenum des ZK Bericht erstattete und von fünf „technischen Sekretären“ unterstützt wurde); das Sekretariat sollte darüber hinaus eine Reihe von Fachabteilungen bilden.8 Bis zum Sommer 1919 wurde die vom Parteitag angeordnete Neuregistrierung der Mitglieder vorgenommen, die zur großen „Säuberung“ wurde. So fiel die Zahl der Mitglieder zwischen Frühjahr und Herbst 1919 von 350 000 auf 150 000. Anschließende Werbekampagnen sollten diese Lücken wieder füllen, im März 1920 hatte die Partei (nach Angaben des Sekretariats) über 600 000 Mitglieder, im Frühjahr 1921 fast eine Dreiviertelmillion.9 Selbst wenn die Zahlen nur als Annäherungen zu nehmen sind, sagen sie doch einiges über die Partei­entwicklung im Bürgerkrieg aus. Die Partei war nicht von unten gewachsen, ihre Entwicklung war von oben ins Werk gesetzt. Mit den Säuberungen und Neuaufnahmen wurden diejenigen, die schon vor dem Oktober dazugehört hatten, zur Minderheit; nach internen Erhebungen machten sie nur noch ein Fünftel der Mitglieder aus. Was die Neuen vom „Marxismus“ wussten, war – wie ebenfalls nachträgliche Stichproben zeigten – dürftig. Aber sie sollten ja auch keine Abhandlungen schreiben und die alte Streitkultur pflegen, sondern vor Ort eine Politik, einen Kurs mittragen, den die Parteiführung vorgab. Um ihn zu erklären, schickte sie Instrukteure und – wo es ihr besonders wichtig war – auch gleich den neuen Funktionsträger mit, der die Führung der Partei8 9

KPSS v rezoljucijach, Band 2, S. 103 ff. Rigby, Party Membership, S. 74, 77 ff.

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organisation übernahm. Das Wahlprinzip war zwar nicht abgeschafft, aber aus Sicht der Führung nachrangig, hier wie dort eher etwas für ruhigere, idyllische Zeiten. Es gab zwar Stimmen, die das nicht so gut fanden, statt „demokratischer“ herrsche „bürokratischer Zentralismus“. Doch solange der Bürgerkrieg tobte, hatten derartige Überlegungen keine Chance – und danach auch nicht. Zwar propagierte die Führung nach dem Ende des Bürgerkrieges die Rückkehr zur Sowjetverfassung, zur Normalität. Doch was hieß schon Normalität? Normalität hatte es seit Ausbruch der Revolution nicht mehr gegeben. Es ist evident, dass die bolschewistische Führung nicht in die Zeit davor zurück wollte, ebenso wenig zu ihren libertären Versprechungen des Revolutionsjahrs: „Alle Macht den Räten“, „Den Arbeitern die Kontrolle in den Fabriken“, „Ein Staat ohne Berufsbeamtentum und Polizei“, „Miliz statt stehendes Heer“. Die Führungsrolle der Partei (gegenüber den Räten) wurde nicht zur Disposition gestellt. Obwohl sie als Organisation in der Verfassung gar nicht vorkam, umfasste sie mittlerweile Hunderttausende von Mitgliedern, und während ihre Zentralverwaltung Anfang 1918 noch in zwei, drei Hotelzimmern Platz gefunden hatte, war sie Anfang der 1920er-Jahre zu einer gewaltigen Behörde angewachsen. Zugleich war sein Sekretariat dabei, neben den Räten, Fachabteilungen mit einer eigenen Bürokratie aufzubauen. Seit 1920 residierte sie, wenige Häuserblocks vom Kreml entfernt, in einem großen Gebäude in klassizistischem Stil; als Adelssitz Ende des 18. Jahrhunderts erbaut, war es Mitte des 19. Jahrhunderts vom Finanzministerium erworben und unter Aufstockung der Seitenflügel zum dreigeschossigen Amtsgebäude umgebaut worden. Ein amerikanischer Anarchist, der es 1920/21 besuchte, beschrieb es als Taubenschlag, wo Parteifunktio­näre aus allen Teilen des Landes mit dicken Aktenbündeln unter dem Arm ein und aus gingen, um Bericht zu erstatten oder die Zentrale um die Lösung eines Problems zu bitten. Fast 83 000 Besucher verzeichnete man 1920, 1921 wurden über 254 000 Besucherpässe ausgegeben (fast 700 Besucher pro Tag inklusive Wochenenden und Feiertagen).10 Die Größe der Behörde war noch kein Garant, dass sie auch funktionierte, angesichts der zahlreichen Aufgaben, die sie zu bewältigen hatte. Schließlich ging es längst nicht mehr nur um die zuverlässige Führung einer Mitgliederkartei. Sie sollte die Organisation von Karrieristen, Alkoholikern und korrupten Funktionären befreien, bei Neuanwerbungen auf eine entsprechende Selektion, auch nach Klassenkriterien, achten, die Autorität der Leitungsorgane durchsetzen, die Organisationsstrukturen stärken, die innerparteilichen Querelen, lokalistische Selbstherrlichkeiten und Rivalitäten draußen im Lande abstellen, wozu

10 Izvestija CK No 3 (März 1922), S. 55; Alexander Berkman, Der bolschewistische Mythos. Tagebuch aus der russischen Revolution, 1920–1922, Frankfurt a. M. 2004, S. 50 f.; James Harris, Stalin as General Secretary. The appointments process and the nature of Stalin’s power. In: Sarah Davies/James Harris (Hg.), Stalin. A New History, Cambridge 2005, S. 63 ff.; Stephan Kotkin, Stalin, Band 1: Paradoxes of Power 1878– 1928, New York 2014, S. 424 ff.

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Information und Kontrolle, Beantwortung entsprechender Bitten aus der Provinz und Entsendung passender Instrukteure gleichermaßen ­gehörten. ­Damit nicht genug: Nach Ende des Bürgerkrieges waren die demobilisierten Funktionäre wieder in Lohn und Brot zu bringen, es war generell dafür zu sorgen, dass die wichtigsten Stellen im Staat, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, beim Militär, auch draußen in der Provinz, „adäquat“ besetzt wurden, es waren buchstäblich Tausende von Stellen, und es war darüber Buch zu führen (ein System, das später „Nomenklatura“ genannt wurde). Die Klagen über den Zustand der Partei hielten an. Auf dem 11. Parteitag im März 1922 stand der Zustand der Partei erneut in der Kritik, heftiger Kritik, und es war Lenin, der wenige Tage später im ZK vorschlug, Stalin mit der Leitung des Sekretariats zu beauftragen, unter dem neuen Titel eines „Generalsekretärs“. Die Folgen waren schwerwiegend und weitreichend: Partei- und Staatsführung hielten nominell an der Räteverfassung fest; die Anmutungen des Nicht-Westlichen, des Libertären, des Revolutionären waren erwünscht. Doch bei der Partei kehrte man zum Konzept der straff organisierten Kaderpartei zurück, und die Partei hatte das Sagen. Verfassung und Verfassungswirklichkeit klafften hier weit auseinander, über Jahrzehnte, bis weit in die Zeit der Perestroika. So kam die Partei in der Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) vom 10. Juli 1918 nicht vor. Auch im Vertrag für die Bildung der Sowjetunion vom 22. Dezember 1922 suchte man sie vergebens. Erst in der Stalinverfassung von 1936 wurde sie erwähnt, freilich an abgelegener Stelle, in Artikel 126, wo diese vom Recht der Staatsbürger sprach, sich zu gesellschaftlichen Organisationen zusammenzuschließen. Nachdem von „Gewerkschaften, genossenschaftlichen Vereinigungen, Jugendorganisationen, Sport- und Wehrorganisationen, Kulturvereinigungen, technischen und wissenschaftlichen Gesellschaften“ die Rede war, hieß es: „Die aktivsten und zielbewusstesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklasse und anderen Schichten der Werktätigen aber vereinigen sich in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (der Bolschewiki), die der Vortrupp der Werktätigen in ihrem Kampf für die Festlegung und Entwicklung des sozialistischen Systems ist und den führenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen wie der staatlichen, darstellt.“11 Das dazugehörige Wahlgesetz sprach den „Organisatio­ nen und Gesellschaften der Werktätigen“ das Recht zur Aufstellung der Wahlkreiskandidaten für die Wahlen zum „Obersten Sowjet“ zu und nannte dabei explizit die Parteiorganisationen, die Gewerkschaften, die Genossenschaftsorganisationen, die Jugendorganisationen und die kulturellen Gesellschaften.

11 Text der Verfassung (Stalin-Verfassung) vom 5.12.1936 mit Kommentar von Diet­mar Neutatz (http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument= 0021_ver&object=abstract&st=&l=de; 28.10.2018).

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Es war die Breschnew-Verfassung vom 7. Oktober 1977, die die Partei erstmals in Kapitel 1 Artikel 6 als „führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft“, als „Kern ihres politischen Systems, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen“ beschrieb. Sie lege die „allgemeine Perspektive der Entwicklung der Gesellschaft, die Linie der Innen- und Außenpolitik der UdSSR fest“, leite „die große schöpferische Tätigkeit des Sowjetvolkes“ und verleihe „seinem Kampf für den Sieg des Kommunismus planmäßigen, wissenschaftlich begründeten Charakter“.12

Die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit Erst die 1980er-Jahre stellten dieses Verhältnis von Partei und Staat grundsätzlich zur Disposition, in einem Wechselspiel von „unten“ und „oben“. Die neue politische Führung hatte erkannt, dass die angepeilten wirtschaftlichen Reformziele ohne größere Offenheit und höhere Beteiligung von unten nicht zu erreichen waren. Die neue Offenheit löste eine Generaldebatte über Gegenwart und Vergangenheit aus, die auch die Fundamente des oben geschilderten Geschichtsbildes erschütterten, das Bild von der Revolution und den 1920er-Jahren, von den stalinistischen 1930er-Jahren und vom Zweiten Weltkrieg. Es fügte dem heroischen Bild der Errungenschaften die Kostenrechnung hinzu; Millionen von Hunger- und Terroropfern und das Bild einer konsequenten, alternativlosen Parteipolitik mit der Liste ihrer Fehlentscheidungen und ihres Versagens. Auf die anfänglichen Maßnahmen zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums schlossen sich nun Pläne zur notwendigen Reform des politischen Systems an, die auf der 19. Parteikonferenz im Sommer 1988 zur Diskussion13 gestellt wurden. Das ZK hatte dazu vorab „Thesen“ verfasst und veröffentlicht. Sie sprachen die Deformationen der Parteiherrschaft offen an: Das Verkümmern der innerparteilichen Diskussion und Demokratie in der Nach-Lenin-Zeit, mit Folgen, die bis in die „Jahre der Stagnation“ (also bis in die Gegenwart) den politischen Alltag bestimmten; mit Wahlen, die ihre Funktion der natürlichen Erneuerung verloren hatten, und Führungskadern, die immer älter wurden; mit Funktionären, die ihre Position als lebenslang gesichert und sich selbst als unfehlbar ansahen, was dem Missbrauch der Macht Tür und Tor öffnete; und mit Parteiorganen, die sich in alles und jedes einmischten, die Leitung der Wirtschaft und

12 Verfassung (Grundgesetz) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 7.10.1977 (Breschnew-Verfassung) mit Kommentar von Otto Luchterhand (http:// www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0042_ver& object=context&l=de#top; 28.10.2018). 13 Offene Worte. Gorbatschow, Ligatschow, Jelzin und 4 991 Delegierte diskutieren über den richtigen Weg. Sämtliche Beiträge und Reden der 19. Gesamtsowjetischen Kon­ ferenz der KPdSU in Moskau, Nördlingen 1988.

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der Verwaltung an sich zogen, die angestammten, verfassungsmäßigen Träger der Macht, die Räte in Stadt und Land (die sovety, eingedeutscht: Sowjets) politisch bedeutungslos machten.14 Sicher, die Einsicht in die Überalterung der Kader, in die Zähigkeit, mit der sie an ihren Positionen hingen, war keine neue Erkenntnis, und der neue Generalsekretär hatte schon in den ersten beiden Jahren nach seiner Wahl neuen Schwung in den ererbten, behäbigen, sich selbst genügenden Apparat zu bringen versucht. So war binnen kurzer Zeit ein Großteil der Mitglieder des Sekretariats und der Abteilungsleiter des Zentralkomitees der Partei (der KPdSU) ausgetauscht worden; im März 1987 waren nur noch 16 Prozent der Sekretäre und etwas über 10 Prozent der Abteilungsleiter aus der Breschnew-Zeit im Amt. Bei den Neuwahlen zum Zentralkomitee (auf dem 27. Parteitag im Februar 1986) zogen 125 Neue in das höchste Gremium zwischen den Parteitagen ein, was einer Rate von 40 Prozent gleichkam. Und auch von den Provinzchefs der Partei, den 159 Sekretären der Gebiete und Kreise, musste ein Großteil gehen: Bis Ende 1986 waren – verglichen mit dem Bestand bei Breschnews Tod (im November 1982) – über 100 Neue im Amt. Auf der Regierungsebene setzte sich das Personalrevirement fort; schon in Gorbatschows ersten beiden Amtsjahren wurden 11 der 14 Mitglieder des Präsidiums des Ministerrates (87,6 Prozent), darunter auch der Ministerpräsident, und 73 der 116 Regierungsmitglieder (62,9 Prozent) ausgetauscht.15 Völlig neu am Vorstoß der Parteiführung im Sommer 1988 war indes, dass er das Problem nun grundsätzlich anging und Organisationsprinzipien vorschlug, um den Missständen den Nährboden zu entziehen, künftigen Fehlentwicklungen vorzubeugen und den Erneuerungsprozess bis hinunter an die Basis durchzusetzen versuchte. Zu diesen neuen Organisationsprinzipien sollte, so die Thesen des Zentralkomitees, gehören, dass Wahlen zu Parteigremien grundsätzlich in geheimer Abstimmung erfolgten und mehr Kandidaten aufgestellt wurden, als Mandate zu vergeben waren; dass kein Wahlamt länger als zwei Amtszeiten (von je fünf Jahren) wahrgenommen werden konnte, eine ausnahmsweise gewährte dritte Amtszeit die Zustimmung von drei Vierteln der Wahlberechtigten notwendig machte; dass die strikte Unterstellung und Rechenschaftspflicht des Apparates gegenüber den gewählten Parteiorganen ernst genommen wurde; und speziell für das Zentralkomitee sollte gelten, dass seine personelle Zusammensetzung auch in den Zeiträumen zwischen den Parteitagen durch entsprechende Beschlüsse (qualifizierter Mehrheiten in geheimer Abstimmung) verändert werden konnte und „die Prinzipien der kollektiven Führung in seiner Arbeit auf jede erdenkliche Weise“ auszubauen und zu festigen seien.16

14 KPSS v rezoljucijach, Band 15, S. 595 ff., hier 603 ff.; Beschlüsse ebd., S. 617 ff. 15 Helmut Altrichter, Kleine Geschichte der Sowjetunion, 3. Auflage München 2007, S. 175 f. 16 Die 10 Thesen des Zentralkomitees vom 13.5.1988. In: KPSS v rezoljucijach, Band 15, S. 595–616, Zitat S. 606.

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Für die Funktionsweise des politischen Systems mindestens ebenso wichtig war, dass den Parteikomitees verboten werden sollte, Beschlüsse zu fassen, die „direkte Anweisungen für Staats- und Wirtschaftsorgane und gesellschaftliche Organisationen“ enthielten. Partei- und Staatsfunktionen, so kündigten die Thesen des Zentralkomitees an, waren künftig zu trennen und den Sowjets die ihnen zustehenden Machtbefugnisse zurückzugeben; es sei „ausnahmslos“ ihre Aufgabe, „alle konkreten Fragen des staatlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens zu erörtern und zu entscheiden“. Um sie dabei zu unterstützen, sollte die materielle und finanzielle Basis der örtlichen Sowjets durch Zuwendungen gestärkt, die Effektivität der Sowjets durch eine längere Dauer der Sessionen gefördert und ein Teil der Deputierten für die gesamte Wahlperiode oder zumindest zeitweise von ihrer beruflichen Tätigkeit freigestellt werden. Für die Parteiführung war die „völlige Wiederherstellung der Rolle und der Befugnisse der Sowjets der Volksdeputierten“ als „mit allen Machtbefugnissen ausgestatteten Organen der Volksvertretung“ zugleich das Kernstück ihrer Partizipations- und Demokratisierungsstrategie. Erfolgversprechend war das nur, wenn auch bei den Sowjets Wahlen wieder zu wirklichen Wahlen wurden, mit mehr Kandidaten als Ämter und Mandate zu vergeben waren, bei strikter Wahrung des Wahlgeheimnisses: Genau dies forderten die Thesen des Zentralkomitees und schlugen zusätzlich (wie bei der Partei) die Begrenzung des Wahlamtes auf zwei Wahlperioden (mit einer Amtsdauer von insgesamt zehn Jahren) vor, wobei auch hier die Zulassung zu einer weiteren Amtsperiode die Zustimmung von drei Vierteln der Deputierten zur Voraussetzung haben sollte.17 Manche Erweiterungen der politischen Reformen waren in den Thesen angedeutet: Dass gesellschaftliche Organisationen, freiwillige Vereinigungen und Initiativ­gruppen künftig im politischen System eine größere Rolle spielen würden und eine neue Rechtsgrundlage dafür auszuarbeiten war; dass im Rahmen der Umgestaltung des politischen Systems auch Maßnahmen zur „weiteren Entwicklung der sowjetischen Föderation“, die auf dem „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ beruhte, erörtert und beschlossen werden sollten; dass die Vollendung des Demokratisierungsprozesses in der Schaffung eines „sozialistischen Rechtsstaates“ zu suchen sei, in dem nicht nur die Bürger gegenüber dem Staat Verantwortung tragen, sondern der Staat die Rechte und Freiheiten seiner Bürger zu garantieren habe; schließlich sei die Perestroika zu einem Faktor der internationalen Beziehungen geworden, in deren Folge die „Perspektive der Zügelung des Wettrüstens mit all ihren Folgen, einschließlich der Reduzierung der Last der Rüstungsausgaben“, realer geworden sei und die internationale Stellung des eigenen Landes sich „merklich verbessert“ habe, und zwar „nicht durch Aufstockung der Kräfte, sondern durch Erhöhung des Vertrauens in unser Land“.18

17 Thesen 5 und 6. In: KPSS v rezoljucijach, Band 15, S. 603–610, Zitate S. 604, 607. 18 Thesen 7–10, ebd., S. 610 ff.

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Zweifellos lag der Kern des politischen Reformprogramms, wie es den Thesen des Zentralkomitees zu entnehmen war, in der Neujustierung der Machtverhältnisse zwischen Wahlvolk und Staatsorganen, zwischen einfachen Mitgliedern und Parteigremien, zwischen Partei- und Sowjetorganen. Selbst wenn manche Forderungen nur wiederholten, was so oder so ähnlich in der Verfassung und in zahllosen Resolutionen stand, die politische Praxis sah, wie jedermann wusste, anders aus, und gemessen an ihr waren die Forderungen tiefgreifend. ­Entsprechend lebhaft war bereits das Echo gewesen, das die Veröffentlichung der Thesen des Zentralkomitees ausgelöst hatte. Schließlich stellten sie nicht nur eingespielte Praktiken und sich dahinter verbergende Interessen zur Disposition. Unklar war auch, wie die Partei künftig ihre „Führungsrolle“ im Staat noch wahrnehmen konnte und sollte, zumal in den Thesen auch von einer Abkehr vom „formalen Nomenklaturadenken bei der Auswahl und beim Einsatz der Kader“ die Rede war. Was nur heißen konnte, dass auch die Praxis, die der Partei bei der Besetzung aller wichtigen Posten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft stets ein entscheidendes Wort einräumte, neu zu überdenken war.19 Zusätzlich zu alldem wartete Gorbatschow auf der 19. Parteikonferenz mit einem neuen Projekt auf, das so nicht in den Thesen des ZK gestanden hatte: Der Wahl eines Volksdeputiertenkongresses, aus dem ein „ständig tagender“ neuer „Oberster Sowjet“ hervorgehen sollte, der seinerseits einen Vorsitzenden wählte, der mit „ziemlich breiten Vollmachten“ ausgestattet sein sollte. Im Kern lief das auf die Schaffung eines parlamentarischen Systems mit präsidialer Spitze hinaus.20 Schon am 5. Juni 1988 hatte ein Teil der „informellen Gruppen“ (neformal’nye gruppy) auf einer Versammlung in Moskau gegen die Thesen des Zentral­komitees protestiert. Sie seien „widersprüchlich“ und offenkundig ein „Kompromiss“. Es sei der Zeitpunkt gekommen, an dem sich die Führung des Landes entscheiden müsse, mit wem sie in einem Boot sitzen wolle: „Mit jenen, die die Perestroika als soziale Revolution gegen das Erbe des Stalinismus und die totalitäre, bürokratische Macht der Nomenklatura, gegen die allgemeine Lüge und die soziale Stagnation unterstützten, oder mit jenen, die sie als ‚Schönheitsreparatur‘ bzw. als technokratische Reform unter Bedingungen einer Krise der bürokratischen Selbstherrschaft auffassten.“ Es folgten 46 Einzelforderungen, die sicher auch ein „Kompromiss“ waren, in vielen Punkten aber mit den Forderungen des ZK übereinstimmten oder in die späteren Reformgesetze und -maßnahmen mit aufgenommen wurden, etwa: „Die gesamte Macht ist auf die Sowjets zu übertragen“, „Das Wahlsystem ist einem radikalen

19 Zur „Führungsrolle“ der Partei, an der festgehalten werden sollte, zu ihrer Kaderpolitik und dem aufzugebenden „formalen Nomenklaturadenken“ vgl. KPSS v rezoljucijach, Band 15, S. 603, Zitat S. 606. 20 Sowjetunion, Sommer 1988. Offene Worte. Gorbatschow, Ligatschow, Jelzin und 4991 Delegierte diskutieren über den richtigen Weg. Sämtliche Beiträge und Reden der 19. Gesamtsowjetischen Parteikonferenz der KPdSU in Moskau, Nördlingen 1988, hier S. 54 ff.

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Wandel zu unterziehen“, „Die Kandidaten für die Wahlen können von Arbeitskollektiven, gesellschaftlichen Organisationen oder Einwohnern eines Wahlbezirks aufgestellt werden“ usw.21 Der hier formulierte Forderungskatalog an die 19. Parteikonferenz gehörte zu den neuen gesellschaftlichen Aktivitäten und Initiativen, die sich dem neuen Geist von Glasnost und Perestroika verpflichtet fühlten, zumindest den von ihnen geschaffenen Freiraum nutzten, um – im Bunde mit Gleichgesinnten  – eigenen Anliegen nachzugehen. Aus Sicht von Partei und Staat waren dies „informelle Gruppen“, weil sie – um die restriktiven Regelungen der Vereinsgesetzgebung aus dem Jahre 1932 oder den Auflagen für die Gründung von gesellschaftlichen Massenorganisationen nach Art. 51 der Verfassung zu umgehen – sich nicht registrieren ließen. In dieser Hinsicht waren sie eine Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegung und der subversiven Jugendkultur, die sich schon in der Zeit davor gegen die Allmacht und Allgegenwart des Staates zur Wehr gesetzt und sich seinem unmittelbaren Zugriff entzogen hatten. Doch zu den alten Themen waren viele neue gekommen: Protest richtete sich gegen den Raubbau an der Natur, gegen die enorme Luftverschmutzung und die rücksichtslose Umweltzerstörung, kulminierend in den aberwitzigen Plänen, elf sibirische Ströme nach Mittelasien umzuleiten, um dort die Baumwollfelder zu bewässern. Jede Region, jede Stadt hatte ihre eigenen Probleme: einen bei ungünstiger Wetterlage in vielen Industriestädten unerträglichen Smog; eine aus den Fugen geratene Natur am Mittellauf der aufgestauten Wolga; vom Atomunfall Ende der 1950er-Jahre kontaminierte Landstriche im Ural nahe ­Tscheljabinsk; Industriestaub, der die nordsibirische Tundra um Norilsk mit einem weißen Schleier bedeckte; das Atomtestgelände von Semipalatinsk in Kasachstan; einen vom Bau eines Zellulosewerks bedrohten Baikalsee; schließlich Tschernobyl mit all seinen Folgen. Die neuen Gruppen engagierten sich ebenso für den Erhalt verfallener Kulturdenkmäler, sie nahmen sich – weit weniger spektakulär  – sozialer Probleme an, suchten nach alternativen Lebensformen, bildeten Debattier- und Lesezirkel, Musik-, Kunst-, Literatur- und Theatergruppen. Nur eines waren sie nicht: unpolitisch, selbst wenn sie es zu sein behaupteten. Denn sich nicht in die etablierten sowjetischen Organisationen einzubringen, war per se ein Politikum, sich gleichsam „auf eigene Faust“ mit Problemen der Geschichte, der Umwelt, sozialen Fragen, alternativen Lebensentwürfen, inoffizie­ller Musik und Kunst, Breakdance, Rock, Heavy Metal zu befassen, erst recht.22

21 Russischer und deutscher Text des „Gesellschaftlichen Auftrags“ an die 19. Parteikon­ ferenz der KPSS (http://1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument= 0018_auf&st=gesellschaftlicher%20Auftrag&I=de; 28.10.2018). 22 Zum Gesamtzusammenhang (mit Einzelbelegen und Literaturhinweisen) vgl. Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009.

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War die Zahl dieser neuen „informellen Gruppen“ 1988 landesweit auf 30 000 geschätzt worden, lag sie Anfang 1989 nach Schätzungen der „Prawda“ schon bei über 60 000.23 Die Gesellschaft war in Bewegung geraten, es war ein „Pluralismus der Meinungen“ entstanden, wie man ihn seit den 1920er-Jahren nicht mehr erlebt hatte. Was sich hier manifestierte, war die Entstehung einer unabhängigen, kritischen Öffentlichkeit, die ihre eigenen Interessen einbrachte, seit dem Frühjahr 1988 Demonstrationen und Massenversammlungen organisierte, sich im Winter 1988/89 an Kandidatenaufstellungen für den Volksdeputiertenkongress beteiligte und schließlich die Führung vor sich hertrieb.

Von der Systemkrise zum Systemwandel Die Staats- und Parteiführung hatte versucht, die wachsende Kritik für ihr Reformvorhaben zu nutzen und die Kritiker einzubinden: durch Lockerung der Zensur und Erweiterung der politischen Partizipation. Für das Erste stand das Schlagwort der Transparenz (Glasnost), für das Zweite der Umbau (Perestroi­ ka) des politischen Systems, zu deren Inbegriff der mehr oder minder frei gewählte Volksdeputiertenkongress wurde. Die Kandidatenaufstellung blieb nicht wie bisher der Partei vorbehalten, an ihr konnte sich die Bevölkerung (in ­„Arbeitskollektiven“ und auf Wählerversammlungen) beteiligen. So wurde die Kandidatenaufstellung tatsächlich zu einem Wahlkampf, an dem auch die erwähnten „informellen Gruppen“ teilnahmen. Der Volksdeputiertenkongress, aus dem ein neuer „Oberster Sowjet“ hervorgehen sollte, sollte künftig die wichtigsten konstitutionellen, politischen und sozialökonomischen Fragen beraten und entscheiden. Im Frühjahr 1989 erstmals gewählt und Ende Mai 1989 zusammengetreten, tat er genau dies, in Hunderten von Reden und Diskussionsbeiträgen. Da sie in Funk und Fernsehen direkt übertragen wurden und die Regierungszeitung „Iswestia“ sie nachdruckte, vermittelten sie einem Millionenpublikum ein schonungsloses Bild der Lage, in der sich das Land wirklich befand – von der Versorgungskrise, den riesigen Umweltproblemen, den Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Gruppen, dem wachsenden Verfall der Staatsautorität, der steigenden Kriminalität und den Folgen des Afghanistankrieges. Dies geschah nachdrücklicher als alle Publikationen zusammengenommen, die in der Zeit von Glasnost und Perestroika erschienen waren. So hat es der Physiker und Menschenrechtler Andrej Sacharow, selbst Abgeordneter des Kongresses, beschrieben.24

23 Prawda vom 10.2.1989; Hinweis Radio Liberty, Report, Vol. 1, Nr. 7, S. 38 f. 24 Andrej Sacharow, Mein Leben, 2. Auflage München 1991, S. 855.

Die Chimäre vom Rätestaat

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Obwohl 85 Prozent der Abgeordneten noch immer Mitglieder der KPdSU waren, hinderte sie dies nicht, offen über die Probleme ihrer Stadt, ihrer ­Region, ihrer Bevölkerungsgruppe zu sprechen, nicht zuletzt, weil es ihre Wähler verlangten und darauf drangen. Es kam zu langen Schlangen an den Mikrofonen, zu hitzigen Diskussionen, zu tumultartigen Szenen. Sie zeigten nicht nur, wie weit die Ansichten inzwischen auch in der Kommunistischen Partei auseinandergingen; mehr noch: Sie demonstrierten, dass die Partei keine Lösung für sie anbieten konnte und aufgehört hatte, eine handlungsfähige Einheit zu sein. Insofern bereitete sich hier vor, was im Februar 1990 Gesetzeskraft erhielt: die Streichung des Machtmonopols aus Artikel 6 der Verfassung, bei gleichzeitiger Erweiterung der präsidialen Kompetenzen.25 Doch mittlerweile ging es nicht mehr nur um die Verfassung, sondern um den Bestand des Staates: Alle 15 Unionsrepubliken erklärten 1990 souverän zu sein, was sie nach der Sowjetverfassung zwar waren, aber nun offensichtlich wirklich sein wollten. Die baltischen Staaten gingen dabei voran und begründeten ihren Anspruch historisch, im Nachklang zur historischen Debatte: Sie seien nur gezwungenermaßen nach dem Hitler-Stalin-Pakt Mitglieder der Union geworden und hätten deshalb auch das Recht, sie wieder zu verlassen, ein Recht, das nun auch Moldawien und Geor­gien für sich reklamierten. Der missglückte Putsch im August 1991, der die alten Machtverhältnisse wieder herzustellen versuchte, machte den Weg dafür frei. Er führte im Dezember zur Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und zum Rücktritt Gorbatschows als Präsident eines Staates, den seine Mitglieder für aufgelöst erklärten.

25 Helmut Altrichter, Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1985–1991. In: Stefan Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Stuttgart 2002, Band 5, S. 552 ff., 561 ff., 571 ff.

Sozialpolitik in der Sowjetunion 1975–1991: Ein Beitrag zum Untergang Stefan Plaggenborg Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit einem Thema, für das es in der politischen Sprache der Sowjetunion lange Zeit keinen Ausdruck gab. Die kommunistische Führung meinte bis Ende der 1960er-Jahre, Sozialismus benötige keine Sozialpolitik, weil Sozialismus die Erfüllung sozialpolitischer Errungenschaften sei; als permanente Reparaturarbeiten an den sozialen Folgen des Kapitalismus sei Sozialpolitik hingegen ein notwendiges Merkmal des gegnerischen Systems. Diese Einstellung übersah jedoch, dass man nicht im Kapitalismus leben musste, um den Risiken des Lebens ausgesetzt zu sein. Arbeitsunfälle gab es auch im Sozialismus, auch in der sozialistischen Sowjetunion wurden Menschen krank, alterten und bedurften der Hilfe und Unterstützung. Viele Jahre sah der Sowjet­ staat es nicht als seine Aufgabe an, in diesen sowie in vielen anderen Fällen, in denen Menschen auf Geld oder Dienstleistungen Dritter angewiesen waren, den Bedürftigen hilfreich unter die Arme zu greifen. In diesem Beitrag wird versucht, die Problematik der sowjetischen Sozial­ politik in der Zeit zwischen 1975 und dem Zusammenbruch 1991 darzustellen. Allerdings versteht man diese Zeit nur vor dem Hintergrund der vorangegangenen Jahre. Die angemessene Beurteilung ergibt sich aus der Bedeutung der erst 1956 einsetzenden Politik der sozialen Sicherung und Fürsorge. Dieser Beitrag behandelt folglich die letzte Periode der sozialpolitischen Phase des Sowjetstaates. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihren Höhepunkt bereits überschritten, sodass sich die allgemeine wirtschaftliche Krise dieser Jahre auch auf diesem Gebiet beobachten ließ. Ob die Sowjetunion in der Zeit zwischen 1956 und 1985, das heißt bis zum Beginn der Perestroika mit ihren auch sozial umstürzenden Folgen, ein Wohlfahrtsstaat war, soll hier nicht diskutiert werden. Vorgreifend darf man schon an dieser Stelle sagen: Sie war es ganz gewiss nicht zwischen 1985 und 1991. ­Lukas Mücke hat die Frage des sozialistischen Wohlfahrtsstaates vor nicht allzu langer Zeit grundlegend erörtert.1 An seinen Befunden ist bisher nicht gerüttelt worden, und es dürfte schwierig werden, seine auf Archivalien und eine abwägende Theorie- und Vergleichsdiskussion bauende Analyse zu modifizieren. 1

Lukas Mücke, Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR 1956–1972, Stutt­ gart 2013, bes. S. 485–516.

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Stefan Plaggenborg

An dieser Stelle soll vielmehr den Fragen nachgegangen werden, welche die Organisatoren der Tagung dem Referenten gestellt haben: War Sozialpolitik in der Lage, die Bevölkerung an das Regime zu binden und Loyalität zu erzeugen? Welche Rolle spielte die Sozialpolitik beim Untergang der Sowjetunion? Um darauf eine Antwort geben zu können, gehe ich in folgenden Schritten vor: Zunächst wird die Sozialpolitik zwischen 1956 und dem Beginn der 1970erJahre in ihren wichtigsten Elementen knapp skizziert; in dem Zusammenhang ist auf die These vom ungeschriebenen Sozialvertrag einzugehen, die sich in der Forschung zur sowjetischen Sozialpolitik immer wieder findet und die auch in der oben genannten Fragestellung der Tagungsorganisatoren implizit enthalten ist; danach wird das Problem der sozialpolitischen Überdehnung des Sowjetregimes diskutiert, um abschließend eine aus der Analyse resultierende zentrale Frage anzuschneiden und einen Forschungsvorschlag zu unterbreiten.2

Abriss der Sozialpolitik 1956 bis Mitte der 1970er-Jahre Die folgende Tatsache muss man sich in aller Deutlichkeit vor Augen führen: Sozialpolitik begann nicht einfach in den 1950er-Jahren, sie war ein Kernbestandteil der Entstalinisierung, mindestens so sehr wie das „Tauwetter“, in der praktischen Politik sogar weitaus dauerhafter als die Liberalisierung in der Kultur; sie betraf auch viel mehr Menschen. Durch Sozialpolitik, die anfangs noch nicht so genannt werden durfte, sollte die Bevölkerung nach den Verheerungen des Stalinismus und des Zweiten Weltkrieges für das Regime wiedergewonnen werden. Stalinismus bedeutete nicht nur Terror und Gewalt, sondern zu seinen Kennzeichen gehört – von der Forschung mit ihrer Konzentration auf die Gewaltphänomene häufig übersehen – das flächendeckende soziale Elend. Die Historiker des Stalinismus sollten sich angewöhnen, diesen Sachverhalt nicht zu unterschätzen. Ein Beispiel: 1940, das heißt am Vorabend des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, gab das Regime 1,8 Prozent aller Staatsausgaben für Soziales aus.3 Um diese Zahl einschätzen zu können, müssen zwar die hochtourig laufende Rüstungsindustrie und die Kriegsvorbereitungen zusätz2

3

Für diesen Beitrag kann ich auf die Ergebnisse eines an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführten Forschungsprojektes zur sowjetischen Sozialpolitik und den daraus entstandenen Publikationen zurückgreifen: Mücke, Altersrentenversorgung; Galina M. Ivanova/Stefan Plaggenborg, Entstalinisierung als Wohlfahrt. Sozialpolitik in der Sowjetunion 1953–1970, Frankfurt a.  M. 2015. Außerdem Stefan Plaggenborg, „Entwickelter Sozialismus“ und Supermacht 1964–1985. In: ders. (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands. Band 5 (Teilband 1): 1945–1991 – Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Stuttgart 2003, S. 319–517; Stefan Plaggenborg, Lebensverhältnisse und Alltagsprobleme. In: ders. (Hg.), Handbuch Band 5 (Teilband 2), S. 787–848. Auf diese Publikationen werde ich im Folgenden immer wieder zurückgreifen, ohne sie jedes Mal zu nennen, außer wenn es sich um Zitate handelt. Die Leser finden dort auch einschlägige Literaturhinweise. Das Folgende nach Ivanova/Plaggenborg, Entstalinisierung, die Zahlen S. 29, 47, 51 ff., 55.

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lich zu den Schwerpunkten der stalinistischen Industrialisierung im Bereich der Schwer­industrie in Rechnung gestellt werden, aber sie stellt trotz dieser Rücksicht eine Quantité négligeable dar. Unter diesen Umständen erscheint es nicht verwunderlich, dass 1953, dem Todesjahr Stalins, knapp 43 Prozent aller Arbeiter und Angestellten ein Einkommen unter dem Existenzminimum bezogen. Hinzuzufügen ist, dass dieses Existenzminimum nicht von den Ökonomen des beim Klassenfeind angesiedelten CIA errechnet worden war (der seinerseits Wirtschaftsdaten der UdSSR sammelte und verarbeitete), sondern von sowjetischen Behörden, denen gewiss nicht unterstellt werden darf, sie hätten ein Interesse an hohen Armutsziffern. Das niederschmetternde soziale Erbe des Stalinismus war für alle Bewohner des Landes, auf allen Ebenen der Partei und der staatlichen Verwaltung, in allen Regionen und allen sozialen Gruppen zu spüren. Die einzige Ausnahme bildete die relative Privilegierung der Nomenklatura. Der Stalinismus hatte unter Beibehaltung der bestehenden zusätzliche sozialistische Armut in riesigem Ausmaß verursacht, sichtbar nicht zuletzt an den Bettlern auf den Straßen besonders der Städte. Stalinismus bedeutete aber nicht nur Armut, sondern auch Konsumverzicht für diejenigen, die nicht unterhalb der Armutsgrenze lebten. Drei Beispiele können das verdeutlichen: 1953 besaß jeder Sowjetbürger im Durchschnitt 1,3 Paar Lederschuhe; die staatlich festgelegte Norm betrug 3,2. Der Lebensmittelkonsum lag außer bei Brot, Kartoffeln und Teigwaren deutlich unter der staatlich festgelegten, keineswegs luxuriösen Ernährungsnorm, genauer: für Milch bei 32,4 Prozent, für Fleisch bei 43 Prozent. Andersherum gesagt: Die Menschen fanden nur die drei genannten Lebensmittel ständig und in ausreichender Menge vor, alles andere war teilweise extrem knapp. Arbeitslosigkeit, die Geißel des Kapitalismus, durfte zwar laut der Sowjetverfassung von 1936 nicht existieren, sie gab es aber trotzdem; nach dem Zweiten Weltkrieg führten Entlassungen zu einem Sturm auf die Personalabteilungen der Betriebe; Mitte der 1950er-Jahre lagen monatlich zwischen 2 000 und 3 500 Briefe im Postkasten des Obersten Sowjets, abgeschickt von besorgten Bürgern, die um Hilfe bei der Arbeitssuche baten; das Verfassungsrecht auf Arbeit erwies sich als deklamatorisch. Zu erwähnen sind an dieser Stelle auch die Wohnungsnot, die die deutschen Truppen, soweit sie das Gebiet der UdSSR okkupiert hatten, zusätzlich zur schon bestehenden Wohnraumknappheit hinterlassen hatten, die miserable medizinische Versorgung, die kriegsbedingt hohe Zahl der Invaliden und die ungelöste Frage der Altersversorgung. Unter diesen Bedingungen durfte es niemanden unter den gestandenen Stalinisten nach Stalins Tod wundern, wenn die „lebendige Verbindung mit den Massen“ verloren gegangen war und wiederhergestellt werden musste.4 Das Volk maulte, und gelegentlich ging es auf die Barrikaden.5 Die Regierung ließ 4 5

Hans-Henning Schröder, „Lebendige Verbindung mit den Massen“. Sowjetische Gesell­ schaftspolitik in der Ära Chruščev. In: VfZ, 34 (1986), S. 523–560. Vladimir A. Kozlov, Massovye bezporjadki v SSSR pri Chruščeve i Brenževe (1953 – načalo 1980-ch gg.), Nowosibirsk 1999.

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Aufstände militärisch niederschlagen. Nowotscherkassk 1962 war sicherlich der blutigste Fall, aber nicht der einzige. In der südrussischen Stadt revoltierten die Bürger gegen Mangelwirtschaft und Preiserhöhungen bei Lebensmitteln. Das Regime entschied sich, Truppen zu schicken, aber es hatte auch seine Lektion gelernt.6 Massenweise schrieben Sowjetbürger Briefe an Institutionen und hochgestellte Persönlichkeiten des politischen Lebens, in denen sie Fürsorge für ihr Dasein forderten. Die Parteiführer waren nicht blind und lasen die Briefe, sie waren nicht taub und hörten die Klagen. 1956 setzten die Maßnahmen ein, die sich unter dem Begriff Sozialpolitik subsumieren lassen, angefangen mit der spektakulären erstmaligen Einführung der allgemeinen Altersrente für Arbeiter und Angestellte.7 Man muss sich die Bedeutung dieser Maßnahme klarmachen: Fast vier Jahrzehnte nach der Revolution begann der erste sozialistische Staat der Welt, seine Alten, die den Sozialismus aufgebaut hatten, zu versorgen. Die Kolchozniki (Kolchosbauern) kamen erst seit 1964 in den Genuss der staatlichen Altersrente, das heißt diejenigen, die die Kollektivierung und alle nachfolgenden Terrorwellen überlebt hatten und im Durchschnitt weitaus schlechtere Lebensbedingungen als in den Städten vorfanden. Den Umbruch Mitte der 1950er-Jahre kann man sich in sozialpolitischer Hinsicht nicht groß genug vorstellen. Die Frage lautet: Hat das Kalkül, die „lebendige Verbindung mit den Massen“ wiederherzustellen, geklappt? Ist es dem Regime gelungen, Loyalität durch Sozialpolitik zu erzeugen, das heißt, die Bevölkerung durch Sozialpolitik für seine Ziele einzukaufen und die Stabilisierung und Konsolidierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Staates auf diese Weise herzustellen? Das führt unweigerlich zum Problem des sogenannten Sozialvertrags.

Die Idee des ungeschriebenen Sozialvertrags Die Idee des ungeschriebenen Sozialvertrags definiert den Zusammenhang von Loyalität der Bevölkerung, Konsolidierung des poststalinistischen Regimes, Stabilität, aber auch Niedergang des Systems. Diese Vorstellung hat der Politologe George Breslauer in seinem Aufsatz über „welfare-state authoritarianism“ von 1984 pointiert vorgetragen.8 Er meinte, im Unterschied zum terroristischen Stalinismus habe die physische Sicherheit der Sowjetbürger und die Garantie der sozialen Fürsorge einen ungeschriebenen Kontrakt zwischen dem Regime und der Bevölkerung entstehen lassen. Vordergründig existierten starke Anzeichen für die These vom ungeschriebenen Sozialvertrag, weil es zahlreiche Initiativen „von unten“ in Form von Briefen und Petitionen für die Einrichtung und den 6 7 8

Samuel H. Baron, Bloody Saturday in the Soviet Union. Novocherkassk 1962, Stanford 2001. Mücke, Altersrentenversorgung. George W. Breslauer, On the Adaptability of Soviet Welfare-State Authoritarianism. In: Erik P. Hoffman/Robbin F. Laird (Hg.), The Soviet Polity in the Modern Era, New York 1984, S. 219–245.

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Ausbau sozialpolitischer Maßnahmen gab. Das Bochumer Forschungsprojekt hat diese Quellen offengelegt, sodass es aussieht, als sei die These Breslauers und anderer vor und nach ihm bestätigt. Vergröbernd formuliert, lässt sich der Sozialvertrag aus der Perspektive der Bevölkerung auf die Formel bringen: Gebt uns Sicherheit vor Lebensrisiken und versorgt uns im Alter, dann arbeiten wir besser. Im Grunde kamen hier zwei Tendenzen zusammen: Zum einen die entstalinisierende Politik „von oben“ mit der Sozialpolitik als ihrem Kernbestandteil, die wiederum die Antwort auf die Folgen des Krieges und des Stalinismus bildete, zum anderen die nachdrücklichen Forderungen „von unten“, nachweisbar in Tausenden von Briefen. Bis in die Wortwahl hinein stimmten die Verlautbarungen „von oben“ und die Forderungen „von unten“ überein. Wer hier wen kopierte, lässt sich schwerlich herausfinden, zumal Sozialpolitik und die Art, welche Maßnahmen sie enthalten sollte und vor allem, wie sie zu finanzieren sei, Streit in der sowjetischen Führung auslöste, der sich mit Machtkämpfen verband, sodass es ein Leichtes war, die Forderungen der Bevölkerung in diesem Zusammenhang zu instrumentalisieren. Unübersehbar ist jedoch die Tatsache, dass die sowjetische Führung über das Instrument der Sozialpolitik wieder einen Draht zur Masse der Bevölkerung bekam. Die wiederum legte eine deutliche Erwartungshaltung an den Tag. Auf diese Weise scheint die Idee des ungeschriebenen Sozialvertrags keineswegs abwegig, wenngleich sie empirisch nicht belegbar ist – was bei einem virtuellen Kontrakt aber auch schwierig sein dürfte. Die Kritiker der Sozialvertragsthese haben daher diesen Punkt hervorgehoben und gemeint, ein hypothetischer Vertrag sei keiner, außerdem sei es um die Freiwilligkeit der Bevölkerung bei „Vertragsabschluss“ nicht gut bestellt gewesen.9 Aber diese Einwände überzeugen nicht, weil die Erfinder der Sozialvertragsthese lediglich eine Denkfigur beschrieben, mit der die wechselseitige Beziehung zwischen dem autoritären Regime und der Bevölkerung nicht im totalitarismustheoretischen Sinn als Top-down-Angelegenheit aufgefasst werden kann, sondern deutlich machten, dass auch autoritäre Politik die Gesellschaft auf ihre Seite ziehen kann, und zwar mit dem modernen Mittel der Sozialpolitik, für deren Einrichtung es im Übrigen genügend konkrete Anlässe, ja Notwendigkeit gab. Insofern war die These vom Sozialvertrag zum Zeitpunkt ihres Erscheinens nicht nur gegen die ideologie- und machtfixierte Sowjetologie gerichtet, sondern sie nahm die realen Probleme der Sowjetgesellschaft zum Anlass, über die Politik des Regimes eine Aussage zu treffen, welche die Bevölkerung nicht als Objekt betrachtete und dieser eine informelle Beeinflussung der Entwicklung des Landes zuschrieb. Darüber hinaus hat die Forschung die Frage der Freiwilligkeit hinreichend geklärt, und zwar ausweislich der vielen Briefe an die obersten Institutionen des Staates. Es gibt keinen Anlass zu glauben, die Briefschreiber hätten im Auftrag staatlicher oder Parteistellen gehandelt und lediglich Floskeln vorgebracht, wenn sie von der Wechselseitigkeit des Verhältnisses schrieben. 9

Vgl. Mücke, Altersrentenversorgung, S. 357–367.

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Lukas Mücke steht der These vom Sozialvertrag ebenfalls skeptisch gegenüber. Er hat die Diskussion detailliert beschrieben. Seine Schlussfolgerung lautet, es habe sich in der Sowjetunion um ein Reziprozitätsverhältnis zwischen Bevölkerung und Regime gehandelt.10 So richtig diese Überlegung ist, so macht sie doch gerade den Kern des Sozialvertrags aus, und das Dilemma des Begriffs löst sich nach der Lektüre der Diskussion bei Mücke auf, wenn man „Sozialvertrag“ nicht wörtlich nimmt, sondern als Metapher für das, was „Reziprozitätsverhältnis“ als analytischer Begriff zu fassen sucht. Zur Idee des Sozialvertrags gehört auch die These, dass bei Nachlassen der Sozialpolitik seit spätestens Ende der 1970er-Jahre die Grundlage der Loyalität der Bevölkerung erodierte. Das Problem ist, dass diese These ebenso wenig mit Zahlen zu belegen ist wie die vom Aufbau der Loyalität durch Sozialpolitik. Sie ist sogar noch viel weniger belegbar, denn immerhin hat die Forschung mit den schon erwähnten Briefen genügend Quellen, um zumindest die Denkfigur eines ungeschriebenen Sozialvertrags konstruieren zu können. Für die späte Phase der Sowjetunion, das heißt die Periode der abnehmenden Sozialfürsorge und der unterstellten reziprok dazu stehenden nachlassenden Loyalität der Bevölkerung, lassen sich – soweit bisher bekannt – keine Briefe finden, in denen Arbeiter und Angestellte ihre Loyalität expressis verbis aufkündigten. Den Umkehrschluss zur Reziprozitätsformel – „Gebt uns Sicherheit vor den Lebensrisiken und versorgt uns im Alter und wir arbeiten besser“ – müsste lauten: „Wenn ihr meine Rente nicht sichert, arbeite ich schlechter.“ Es gab in der Sowjetunion Gründe, solche Aussagen zu vermeiden. Dennoch liegen auch in diesem Fall starke empirische Voraussetzungen vor, die These nicht von vornherein abzutun. Sozialpolitik hatte seit 1956 im Laufe von rund 20 Jahren im Großen und Ganzen eine Grundsicherung gegen die Lebensrisiken erreicht, wobei große soziale und regionale Disproportionen und solche entsprechend der Beschäftigung nach Branchen herrschten. Aber trotz aller Mängel und des allgemein niedrigen Niveaus wurde sie von der Sowjet­ bevölkerung angenommen, nicht dankend, sondern als Gegenleistung für die erbrachte Arbeit. Insofern war der Niedergang der sozialpolitischen Leistungen, der etwa Mitte der 1970er-Jahre zeitgleich mit wirtschaftlichen Abschwungsphänomenen einsetzte, sehr wohl dazu geeignet, die Loyalität der Bevölkerung zumindest auf eine harte Probe zu stellen. Es ging dabei nicht nur um die Geldund Dienstleistungen einer Sozialpolitik im engeren Sinne wie etwa Mutterschutz, Fürsorge bei Krankheit, Invalidität, Altersversorgung usw., sondern um weitere Elemente der sowjetischen Sozialpolitik. Anders als die Sozialsysteme kapitalistischer Wirtschaften und Gesellschaften deckte die sowjetische Sozial­ politik Bereiche ab, welche im Kapitalismus nicht dazu zählten, die Sowjetunion jedoch sehr wohl darunter fasste und für die sie gigantische Summen ausgab. So flossen riesige Subventionen, um die Preise für Güter des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und Kleidung stabil zu halten. Preissteigerungen waren ein Politi10 Ebd., S. 367–398.

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kum; die Erfahrungen der Preisrevolte von Nowotscherkassk wollte das Regime nicht wiederholen. Die Bevölkerung wiederum erwartete vom Staat dauerhaft niedrige Preise und verabscheute Preissteigerungen. Ob diese Politik volkswirtschaftlich sinnvoll war, darf bezweifelt werden. Während zum Beispiel die Sowjetbürger für bestimmte Lebensmittel nicht einmal den Selbstkostenpreis zahlten, führten die stetigen, bis Mitte der 1970er-Jahre beträchtlichen Realeinkommenssteigerungen zu einem Kaufkraftüberhang, der mangels ­Waren nicht abgebaut werden konnte. So trugen die Menschen ihr Geld nicht ins Kaufhaus, sondern zur Sparkasse, der einzigen – selbstverständlich staatlichen – Institution, wo Sowjetbürger ihr Erspartes horten konnten, wenn sie es nicht unters Kopfkissen legen wollten. Darauf ist zurückzukommen. Nach diesen Ausführungen lässt sich eine erste Antwort auf die eingangs genannten Tagungsfragen geben: Ja, 1956 sollte Sozialpolitik, die erst seit den späten 1960er-Jahre auch diesen Namen trug, die Loyalität der Bevölkerung „einkaufen“; dieses Kalkül ist für die erste Phase aufgegangen, was man allein daran erkennen kann, dass es nach Nowotscherkassk keine weiteren „Massenunruhen“, das heißt nach sowjetischen Kriterien Aktionen mit mindestens 300 Personen, mehr gegeben hat.11 Die Lage besserte sich, die Bevölkerung wurde ruhiger. Diese Entwicklungen allein auf Sozialpolitik zurückzuführen, würde die Gesamtsituation verzerren, aber ihren Anteil sollte man zur Kenntnis nehmen. Wenn Franz-Xaver Kaufmann für die Bundesrepublik behauptet hat, die Stabilität des westdeutschen Systems nach 1949 sei durch Sozialpolitik erreicht worden,12 so lässt sich für den sowjetischen Fall von einer erstaunlichen Konvergenz sprechen. Auch hier erlauben alle Anzeichen, von einer Stabilisierung und Konsolidierung des sowjetischen Systems und damit auch der Partei und der Staatsinstitutionen zu sprechen, wofür der relative Erfolg der Sozialpolitik in den Jahren 1956 bis Anfang der 1970er-Jahre verantwortlich zu machen ist. Diese Tatsache ist im historischen Kontext der sowjetischen Zeitgeschichte noch nicht hinreichend zu Bewusstsein gekommen. Führt man sich diese Gegebenheit nämlich vor Augen, dann können Historiker besser verstehen, warum im postsowjetischen Russland bei der Masse der Bevölkerung nicht Menschenrechte als Antwort auf jahrzehntelange Unterdrückung sowie Diktaturerfahrung im Vordergrund standen, sondern der Wunsch nach Lebenssicherung zu einer Zeit der erodierenden sozialen Errungenschaften, warum die Menschen nicht die brotlose Freiheit als das höchste Gut ansahen, sondern nach Jahrzehnten größter Entbehrungen den Erhalt des erreichten Lebensstandards. Von daher erklärt sich zu einem guten Teil das Erstaunen westlicher Beobachter, die nicht verstehen konnten, warum den Bewohnern der ehemaligen Russischen Sozia­ listischen Sowjetrepublik – anders als in den meisten anderen Sowjetrepubliken – die Durchsetzung der Demokratie nicht als höchstes Ziel galt, sondern die Sicherung ihres Lebensunterhalts. Zugespitzt lässt sich sagen: Nicht der Terror, 11 Kozlov, Massovye bezporjadki. 12 Franz-Xaver Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt a. M. 2003.

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sondern die Armut war die prägende historische Erfahrung. Menschenrechte und Freiheit waren die Ziele der Intelligenzija, die diese öffentlich prominent zum Ausdruck brachten und von Zeitgenossen und Historikern vor allem wahrgenommen wurde; fälschlicherweise betrachtete man sie als allgemeine Ziele, wohingegen Armutsvermeidung und Fürsorge diejenigen der breiten Bevölkerung ohne Resonanzverstärker bildeten.

Bereiche der Sozialpolitik und ihr Abschwung Einige zentrale Bereiche der Sozialpolitik sollen im Folgenden kurz erläutert werden. Dabei fällt sofort auf, dass der Begriff hier im sowjetischen Sinne weit gesteckt ist, sich also nicht auf die üblichen Bereiche der Lebensrisikosicherung beschränkt. Außerdem wird versucht, anhand weniger Angaben, den Abschwung seit etwa Mitte der 1970er-Jahre im Vergleich zur Wachstumsperiode der Phase 1956 bis etwa 1975 zu charakterisieren. Die Einkommensentwicklung spiegelt die Problematik deutlich wider.13 Zwischen 1961 und 1985 stiegen die Realeinkommen der Arbeiter und Angestellten um das 2,6-Fache. Das bedeutete ein fühlbares Ergebnis durch Anschwellen des Geldbeutels der Werktätigen. Teilt man die späte Periode in Phasen, wird der Abschwung seit Mitte der 1970er-Jahre deutlich. 1971 bis 1985 lag das durchschnittliche Wachstum der Realeinkommen pro Kopf und Jahr bei 4,4 Prozent; für die Periode 1976 bis 1980 betrug es 3,4 Prozent und für 1981 bis 1985 nur noch 2,1 Prozent. Dieses Wachstum stammte zumeist aus den Lohnfonds, zum Teil aber auch aus Weiterbildung, Qualifikation und zu einem geringen Teil auch aus individueller Arbeitsproduktivitätssteigerung. Große Unterschiede existierten 1) sozial: Zum Beispiel verdienten Lehrerinnen und Lehrer – der untere Bildungsbereich war stark feminisiert – durchschnittlich weniger als Arbeiter, Frauen generell weniger als Männer; 2) regional: In der Russischen Sozialistischen Förderativen Sowjetrepublik (RSFSR) lagen die Einkommen durchschnittlich deutlich über denen in der Peripherie, Mittelasien wies die geringsten Einkommen im Durchschnitt auf, das Stadt-Land-Gefälle war unübersehbar; 3) nach Branche: Arbeiter in Rohstoffindustrien verdienten mehr als in der Konsumgüterindustrie. Das bedeutete, dass das große Ziel der Sozialpolitik seit den 1960er-Jahren verfehlt worden war: Von der Angleichung der Einkommensverhältnisse, die durch eine politisch induzierte Nivellierung der Einkommen erreicht werden sollte, waren die Verhältnisse weit entfernt. Dazu musste man nicht einmal auf die besonders privilegierte Nomenklatura schauen, deren Sonderstatus alle anderen übertraf. Die Altersversorgung zeugt ebenfalls von einem einmal erreichten Niveau, das schwer zu halten war. Nach Erlass des ersten Gesetzes zur allgemeinen Altersversorgung 1956, welches für Arbeiter und Angestellte galt, wurden allein 13 Die folgenden Daten siehe Plaggenborg, Lebensverhältnisse.

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in den folgenden beiden Jahren 6,2 Millionen Rentner finanziert.14 Bis Mitte der 1960er-Jahre stieg die Zahl der Altersrentner dieser Gruppe auf zehn Mil­lionen. Daneben gab es noch andere Rentenarten. Kolchozniki kamen erstmals seit dem entsprechenden Rentengesetz 1964 in den Genuss von allerdings sehr geringen Staatsrenten.15 Das bedeutete, bis Mitte der 1970er-Jahre waren immerhin 14 Millionen ländliche Rentner zu finanzieren, die zu den schon genannten Zahlen hinzukamen. Welches System stemmt die Finanzierung solcher Rentnerzahlen innerhalb weniger Jahre? Versucht man sich die Antwort auch vor dem Hintergrund sozialdemokratischer Rentensysteme des Westens vorzustellen, so bleibt das Rentenwunder der Sowjetunion ein beeindruckendes Beispiel einer Sozialpolitik, die aus dem Stand so viel wie möglich zu erreichen suchte und selbstverständlich dabei weit von Maximalleistungen entfernt blieb und lediglich eine Basisversorgung mehr schlecht als recht sicherzustellen in der Lage war. Bedenkt man weiterhin, dass Frauen mit 55 Jahren in Rente gingen und Männer mit 60, wobei die vergleichsweise geringe Lebenserwartung berücksichtigt werden muss, so ist der große Sprung nach vorn nicht zu übersehen. Wenn aber 1990 circa 60 Millionen Rentner16 vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft (außer Mittelasien) versorgt werden mussten, so sah sich die Regierung vor enorme sozialpolitische Probleme gestellt. Einige Sozialleistungen seien nur skizziert. Bis 1979 stieg die Zahl der Kinder in Kinderkrippen und Kindergärten auf 14 Millionen, 12 Millionen Mütter erhielten Kindergeld.17 Die medizinische Versorgung wurde zunehmend besser. Krankenhäuser fand man nun auch in der Provinz. Es gelang, verbreitete Krankheiten wie Diphtherie, Tuberkulose und Scharlach weitgehend auszurotten. Wie sehr aber diese Errungenschaften Episode blieben, zeigt der Rückschlag in den letzten Jahren der Sowjetunion, als 53 Prozent aller Schulkinder vorübergehend krankgemeldet waren und Hepatitis sowie die schon fast vollständig bekämpfte Diph­ therie wieder aufkamen.18 Im Bereich des Wohnungsbaus ließen groß angelegte Programme die immer noch existierenden Schlafstädte und ­Wohnsilos in Plattenbauweise entstehen.19 Schön war das auch damals nicht, aber nach s­ owjetischen Maßstäben modern. Junge Familien erhielten dadurch die Chance auf eine eigene 14 Mücke, Altersrentenversorgung, S. 82–111; Ivanova/Plaggenborg, Entstalinisierung, S. 96. 15 Mücke, Altersrentenversorgung, S. 179–226; Ivanova/Plaggenborg, Entstalinisierung, S. 106. 16 Plaggenborg, Lebensverhältnisse, S. 802. 17 V. G. Veretennikov/L. S. Ržanicyna, Obščestvennye fondy potreblenija i social’noe plani­ rovanie, Moskau 1981, S. 28. 18 Michael Kaser, Health Care in the Soviet Union and Eastern Europe, London 1976, S. 51 f.; Murray Feshbach/Ann Rubin, Health Care in the USSR. In: Jan Adam (Hg.), Economic Reforms and Welfare Systems in the USSR, Poland and Hungary. Social Contract in Transformation, Houndsmills 1991, S. 68–84. 19 Albrecht Martiny, Bauen und Wohnen in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Bauarbeiterschaft, Architektur und Wohnverhältnisse im sozialen Wandel, Berlin 1983; Mark B. Smith, Khrushchev’s promise to eliminate the urban housing shortage: rights, rationality and the communist future. In: Melanie Ilic/Jeremy Smith (Hg.), Soviet State and Society under Nikita Khrushchev, London 2009, S. 26–45.

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Wohnung, für die sie eine nur symbolische Miete zahlten. Den hohen staatlichen Investitionen, Unterhalts- und Verbrauchskosten standen daher keine kostendeckenden Einnahmen gegenüber. Wie die meisten Bereiche des alltäglichen Lebens war auch das Wohnen Teil eines gigantischen Subventionssystems. Ebenso groß wie das Ausmaß der Bezuschussung waren die Probleme, die es hervorrief. Man darf sich nicht vom Triumphalstil der sowjetischen Erhebungen täuschen lassen, die Zahlen vor Qualität stellten und Mängel verschwiegen. Letztere existierten in allen Bereichen. Die Armut verschwand nicht. Ein Großteil der Rentner lebte unter oder knapp über dem Existenzminimum. Die Krankenhäuser waren schlecht ausgestattet usw. Andererseits gab es bizarre Erfolge zu vermelden. Die Sowjetbürger waren auf ihre Weise reich, was man an den oben schon erwähnten Sparkasseneinlagen sehen konnte. Sie stiegen 1965 bis 1975 um das 32-Fache, das heißt, in der Phase des hohen Wachstums der Realeinkommen trugen die Sowjetbürger ihr Geld aufs Sparkonto.20 Grund war der Kaufkraftüberhang. Die Geldeinkommen überstiegen das Warenangebot bei Weitem. Trotz gravierender Probleme in einzelnen Bereichen blieb jedoch das Hauptproblem erhalten, das sich seit der Mitte der 1970er-Jahre nicht beheben ließ: Das System war sozial überdehnt. Bevor diese Frage erörtert wird, muss der Zusammenhang von Sozialpolitik, Wirtschaft und Bevölkerung zumindest kurz erläutert werden. Das Grundproblem bestand darin, dass die von Stalin ererbte Wirtschaftsstruktur unfähig war, die sozialpolitischen Maßnahmen langfristig zu sichern. Die Sozialpolitik verlangte rasch ins Unermessliche steigende Investitionen und riesige Subventionen bei gleichzeitig sehr hohen Rüstungsausgaben. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die immer wiederkehrende Debatte über die grundsätzliche Ausrichtung der Planindustrie, das heißt, ob der Produktionsmittelsektor und die Rüstung vor der Konsumgüterindustrie zu fördern seien. Wie immer die Regierung sowie die Wirtschafts- und Planbehörden die Frage drehten und wendeten, das Problem der Effizienzsteigerung blieb bestehen. Die wiederum war dringend geboten, wenn die Sozialpolitik finanzierbar bleiben sollte. Die sowjetischen Arbeiter mussten besser arbeiten, lautete die Erkenntnis. Wenn gleichzeitig aber das politische Kalkül darin bestand, mithilfe der Sozialpolitik die Loyalität der Bevölkerung zu erkaufen, so ergab sich ein Teufelskreis. Die Forderung der Regierung nach Leistungssteigerungen bei der Arbeit sollten die Produktivität erhöhen, damit das Sozialsystem gesichert werde; die Steigerungen wiederum sollten von den sozialpolitisch erwartungsvollen Werktätigen erbracht werden, die auf sozialpolitische Kompensationen für die bereits geleistete Arbeit warteten. Aus diesem Kreis gab es kein Entrinnen. Während sich an diesem Dilemma bis zu Breschnews Tod 1982 kaum etwas änderte, kam sie unter seinem Nachfolger Andropow auf die politische Tagesordnung. Auf die entstehende Krise reagierte der Staat mit einem in früheren Jahrzehnten bewährten Mittel, das – dies bewies die Geschichte seit Jahrzehnten – 20 K. I. Mikul’skij et al., Social’naja politika KPSS, Moskau 1987, S. 166–200; E. B. Nikitaeva, Izčezajuščaja derevnja (1960-seredina 80-ch godov). In: Sud’by rossijskogo krest’janstva, Moskau 1996, S. 436–462.

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seine Wirkung bestenfalls vorübergehend entfaltete. Er erhöhte den Druck auf die Produzenten, was in der Sowjetunion als die „Verbesserung des menschlichen Faktors“ bezeichnet wurde. Als zentral erwies sich der Rückgang des Arbeitsproduktivitätswachstums. Wenn nämlich oben von individuellen Steigerungen die Rede war, die zu Lohnerhöhungen führen konnten, so beobachteten die sowjetischen Statistiker im Durchschnitt eine umgekehrte Richtung. Wie aber war das Problem am besten zu lösen? Der ehemalige KGB-Vorsitzende und neue Generalsekretär der KPdSU entschied sich nicht für Anreize, wie dies ausnahmsweise während der sogenannten Kosygin-Reformen in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre der Fall gewesen war, sondern für Repressionen. Verschärfte Arbeitsdisziplin und verstärkte Kontrollen sollten die Arbeiter zu mehr Leistung treiben und gleichzeitig Schlendrian, Faulenzen, Blaumachen und Trunkenheit in den Betrieben verhindern. Die Disziplinarstrafen zielten auf den Verlust von Sozialleistungen bis hin zur Entlassung vom Arbeitsplatz. Während der Operation „Schleppnetz“ schwärmten Spitzel aus, um beim Friseur oder vor Kinokassen nach Personen zu fahnden, die sich eigentlich am Arbeitsplatz hätten befinden müssen. Das Regime rief die Bevölkerung zur Wachsamkeit auf – eine aus dem Stalinismus bekannte Parole. Das Ziel, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, um damit die Grundlage für eine erhöhte Wirtschaftsleistung zu legen, die wiederum die Sozialleistungen hätte unterstützen können, konnte dadurch nicht erreicht werden. Es wäre wohl auch nicht erreicht worden, wenn Andropow seine Spitzel hätte arbeiten lassen, statt sie machtpolitisch konsumtiv zu beschäftigen.21 Polizeistaatliche Repression lautete also die Antwort des Regimes. Sie betraf den „menschlichen Faktor“, der sich wiederum in Tausenden von Briefen über diese Praxis beschwerte. Vor allem aber führte dieses Vorgehen nicht zum Erfolg. Gravierend scheint, dass die Regierung die zahlreichen Probleme der Wirtschaft und Politik auf hauptsächlich eins reduzierte, nämlich den „menschlichen Faktor“, während sie auf die anderen keine Antwort fand. Sie lassen sich in sieben miteinander verbundenen Punkten aufzählen: 1. Der steigende Finanzbedarf der Sozialpolitik; 2. das abgeflachte Wirtschaftswachstum seit Mitte der 1970er-Jahre; 3. das rückläufige Arbeitsproduktivitätswachstum; 4. die Schrumpfung des Arbeitskräftereservoirs besonders in den industriellen Zentren; 5. der notwendige Übergang von der extensiven Ressource Arbeit zur Intensivierung durch Ausbildung, Technisierung und Effizienzsteigerung; 6. der dafür notwendige hohe Kapitaleinsatz, der in der Sozialpolitik Löcher riss; 7. die Unfähigkeit, den Faktor Arbeit hinreichend durch den Faktor Kapital zu ersetzen; ökonomisch ausgedrückt bestand in der Substitutionsinelastizität ein Kernproblem des sowjetischen Wirtschaftens. 21 Il’ja Zemcov, Krach ėpochi. Band 1: Andropov, Černenko, Gorbačev … poslednie kommunisty v Kremle, Moskau 1999, S. 9–150; John W. Parker, Kremlin in Transition. Band 1: From Brezhnev to Chernenko, 1978 to 1985, Boston 1991, S. 179–323; Robert Sharlet, Soviet Constitutional Crisis. From De-Stalinisation to Disintegration, Armonk 1992.

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Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es 1985 zu „Umbau“ (Perestroika), Rationalisierung, Dynamisierung und Effizienzsteigerung keine Alternative gab, sie gleichzeitig aber von starken Kräften behindert wurden.

Soziale Überdehnung und die Erosion der Sozialpolitik Als die Perestroika begann, hatte die Regierung ihr sozial- und wirtschaftspolitisches Pulver verschossen. Das zuvor skizzierte Dilemma überwand auch die neue Führung trotz aller gut gemeinten Versuche nicht. Es blieb den Reformern um Gorbatschow nichts anderes übrig, als Sozialpolitik durch politische Rechte zu ersetzen, in der Hoffnung, die politische Liberalisierung werde über den realen Niedergang der Lebensverhältnisse hinweghelfen. Glasnost (Öffentlichkeit) ersetzte die Steigerung der Realeinkommen. Aber die Strategie, die Leute über alles reden zu lassen, damit sie ihre sozialen Probleme nicht bemerken, ging im Sozialprotektorat Sowjetunion nicht auf. Im Grunde kündigte die Regierung den ungeschriebenen Sozialvertrag, indem sie indirekt zugab, nicht länger die per Gesetz verankerten Leistungen bereitstellen zu können. Ungeschriebene Verträge werden ungeschrieben gekündigt. Sie lancierte aber zugleich eine Vertragsvariante, da sie bereit war, kompensatorische Liberalisierung zu gestatten. Zusätzlich sollte die ökonomische Liberalisierung Druck von den durch Beschäftigtenüberzahl aufgeblähten betrieblichen Lohnfonds nehmen. Die erstmals seit vielen Jahrzehnten erlaubten privatwirtschaftlichen Kooperativen eröffneten neue Möglichkeiten, die staatliche Arbeitsstellensicherung und die Betriebe von „unternehmerisch“ tätigen Personen zu entlasten, während diese gleichzeitig wirtschaftliche Initiative entfalten und von der Planwirtschaft traditionell unterversorgte Sektoren bedienen sollten. Schließlich muss man die während der Perestroika äußerst lebhaft geführten Geschichtsdebatten, insbesondere die Aufarbeitung der Verbrechen während des Stalinismus, in ihren kompensatorischen Funktionen für die Verschlechterung der Lebensverhältnisse sehen.22 Während die Erbauer des Sozialismus in den poststalinistischen 1950er-Jahren für ihre Aufbauarbeit im Alter versorgt werden wollten, erfuhren sie nun statt Lohn- und Rentenerhöhungen die bittere Wahrheit über die Epoche, der sie ihr Leben gewidmet hatten. Quantitativ machte sich der Niedergang deutlich bemerkbar. Das können folgende Angaben summarisch belegen.23 Zwischen 1965 und 1980 war ein Anstieg der Sozialleistungen pro Kopf und Jahr zu verzeichnen. Danach sackten die Raten ab. Auch die Subventionierung von Gütern des täglichen Bedarfs 22 Überblick zu den Maßnahmen während der Perestroika vgl. Helmut Altrichter, Der Zusammenbruch der Sowjetunion. In: Plaggenborg (Hg.), Handbuch (Teilband 1), S. 519–593. 23 E. V. Dunaeva, Social’naja politika sovetskogo gosudarstva, Moskau 1991; Janet G. Chapman, Drastic Changes in the Soviet Social Contract. In: Adam (Hg.), Reforms, S. 26–52.

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blieb zunächst auf einem hohen Niveau. 1981 lag sie mit 195 Rubeln pro Kopf und Jahr höher als der Durchschnittslohn. Manche Einzelhandelspreise, zum Beispiel für Brot, blieben über 30 Jahre fast unverändert; ohnehin handelte es sich um symbolische Preise. 1981 entsprach die Höhe der Nahrungsmittelsubventionen über einem Viertel der landwirtschaftlichen Bruttoproduktion.24 Während der Perestroika gerieten die Preise in Fahrt, wenngleich zunächst verhalten. Auf die Kluft zwischen den Kosten für den Wohnungsbau, Unterhalt und Betriebskosten einerseits und den Einnahmen aus „Mieten“ andererseits wurde bereits hingewiesen. Wenn zum Beispiel die Lohnsteigerungen der Kolchozniki die Erträge aus dem Agrarsektor überstiegen, dann ist fraglich, ob hier der eine Statistiker nichts von dem anderen wusste oder ob wirtschaftliche Disproportionen entstanden waren, die im Räderwerk der unüberschaubaren Planwirtschaft nicht mehr zur Kenntnis genommen und nach dem Prinzip „rechte Tasche – linke Tasche“ behandelt wurden. Dienst- und Geldleistungen kamen in großem Ausmaß hinzu; berechnen lassen sie sich nicht. Finanzierbar aber wurde dieses absurde System immer weniger. Schließlich ruinierte die Regierung die institutio­nellen Grundlagen des bisherigen Sozialsystems, indem sie die Wirtschaftsverwaltung dezentralisierte, woraufhin die Betriebe immer weniger an die staatlichen Sozialfonds abführten und ihr Geld an Ort und Stelle behielten. Während sich auf diese Weise die staatlichen Zuschüsse dramatisch erhöhten, erhielt der staatliche Sozialfonds immer weniger Geld. Die Betriebe wiederum zahlten ihre betrieblichen Sozialfonds nicht gänzlich an die Beschäftigten aus. Auf diese Weise sammelten sich allein in der Perestroika circa 100 Milliarden Rubel an nicht ausgezahlten Sozialgeldern in den Betrieben an.25 Über den Verbleib dieser riesigen Summe, die von den Beschäftigten erarbeitet wurde, im Zuge der wilden Privatisierung während der 1990er-Jahre, darf spekuliert werden. Festzuhalten ist, dass alle Bereiche der Sozialpolitik nach 1985 schwere Einbußen erlitten. Während der Perestroika stellte sich vor diesem Hintergrund die dramatische Alternative, entweder wirtschaftlichen Erfolg und ein stabilisiertes Sozial­systems zu schaffen, oder die fortschreitende Zerrüttung der Produktion würde den sozialen Absturz der Bevölkerung zur Folge haben. Letzteres trat ein. 1990 lebten nach Angaben der UNO 25 Prozent der Einkommensbezieher in der Sowjetunion unterhalb der Armutsgrenze. Das war ein Fortschritt, denn – siehe oben – bei Stalins Tod 1953 lebten knapp 43 Prozent der Arbeiter und Angestellten unter dem Existenzminimum. Der Niedergang fand allgemein beschleunigt, aber nach sozialen Gruppen unterschiedlich intensiv statt. Besonders betroffen waren Intellektuelle und Künstler, die auf staatliche Alimentierung angewiesen waren bzw. in ihren Institutionen respektive

24 David Gale Johnson/Karen McConnell Brooks, Prospects for Soviet Agriculture in the 1980s, Bloomington 1983, S. 13, 202. 25 O. M. Markova, Denežnye vyplaty naseleniju iz obščestvennych fondov potreblenija (voprosy teorii i praktiki. Avtoref. Diss. Moskau 1991.

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­ erbänden bisher ein soziales Sicherungssystem besaßen, das nun vollkomV men ­zusammenbrach. ­Arbeiter verloren jegliches Interesse an „guter“ Arbeit, weil ungekannte Preissteigerungen ihnen den Lohn aus der Tüte zauberten. Außerdem schöpfte die Politik während der Perestroika die Ersparnisse in den staatlichen Sparkassen durch zunehmende Inflation ab. Wenn sich der Kaufkraftverfall des Rubels fühlbar beschleunigte, warum sollten die Werktätigen dem ungeschriebenen Sozialvertrag noch anhängen? Man muss sich aber auch vor Augen führen, dass die Perestroika zwar einen klaren wirtschaftlichen und sozialen Niedergang für große Bevölkerungsteile hervorbrachte, jedoch erst die postsozialistische Wirtschaftspolitik während der Präsidentschaft Boris Nikolajewitsch Jelzins ganze Bevölkerungsteile in die Armut abstürzen ließ. Die Ersparnisse verflüchtigten sich durch Inflation in kürzester Zeit und die sogenannte Privatisierung ließ das Volksvermögen einschließlich der oben erwähnten betrieblichen Sozialfonds in mafiös organisierten Staat-Oligarchen-Vernetzungen versickern. Dass der Kapitalismus in Russland nach 1991 alle Propaganda des Sowjetstaates wie milde Untertreibungen aussehen ließ, hatten die Werktätigen nicht erwartet. Nach 1991 waren sie zuhauf unzufrieden. Hätten sie es besser wissen können?

Und die Produzenten? Noch einmal ist auf den „menschlichen Faktor“ zurückzukommen. War die Erkenntnis Andropows wirklich so falsch, wenngleich seine Methoden es gewiss waren? Wenn es mit der Wirtschaft und dem Niveau der Sozialleistungen nicht vorwärtsging, dann lag die Ursache doch nicht nur bei schwerwiegenden strukturellen Problemen, wie sie oben aufgezählt wurden, sondern offensichtlich auch bei den Produzenten. Sie haben die Sozialleistungen und die Reallohnsteigerungen gern angenommen, sie aber höchstens rhetorisch als Anreiz für Arbeitsproduktivitätswachstum aufgefasst. Der sowjetische Spruch: „Warum soll ich mich für 220 Rubel abrackern, wenn ich für 200 nichts tun muss?“, entbehrte nicht einer gewissen Wahrheit. Das Versprechen besser zu arbeiten, in Tausenden von Briefen gegeben, haben die Arbeiter in der Summe nicht gehalten. Es gab gute Gründe, so zu handeln. Die meisten wurden hier genannt. Dennoch bleibt ein weißer Fleck auf der Landkarte der sowjetischen Zeitgeschichte, der sich nur durch eine erneuerte Arbeitergeschichte tilgen lässt, welche die Arbeiter nicht zu Objekten der staatlichen disziplinierenden Interventionen macht, sondern ihren Eigensinn26 und ihr Handeln herauspräpariert. Sie waren nicht nur Objekte einer ohne sie ablaufenden Geschichte, sondern auch Subjekte einer Geschichte, an der sie nicht nur passiv teilnahmen, wie ein auf

26 Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993.

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Performanz verengter Kulturanthropologen-Blick nahelegt (was übrigens methodisch in der Disziplin eigentlich ausgeschlossen sein müsste).27 Haben die Produzenten nicht verstanden, dass sie selbst den Schlüssel zu ihrem sozialen ­Sicherungssystem in den Händen hielten? Haben sie den Zusammenhang von Arbeit, Wirtschaftswachstum und Sozialpolitik nicht gesehen? Oder haben sie ihn sabotiert? Die Fragen lassen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten. Wie immer die Antwort ausfällt, sie macht die Werktätigen der Sowjetunion wieder zu Gestaltern der Geschichte, nicht das „System“ oder nur die Mächtigen. Vom Ergebnis her lässt sich vorläufig eine ziemlich nüchterne Bilanz ziehen: Die Arbeiter selbst haben das Sozialprotektorat zerstört, das sie nach 1991 nostalgisch zurücksehnten.

27 Alexei Yurchak, Everything was forever, until it was no more. The last Soviet generation, Princeton 2006; Kritik siehe Stefan Plaggenborg, Soviet History after 1953. Stalinism under Repair. In: Thomas M. Bohn/Rayk Einax/Michael Abeßer (Hg.), De-Stalinisa­ tion Reconsidered. Persistence and Change in the Soviet Union, Frankfurt a. M. 2014, S. 43–64, hier 60–62.

Die Dissidentenbewegung in der Sowjetunion. Strategien und Praxis Alexej Makarov* Nach den relativ groß angelegten Petitionskampagnen von 1966 bis 1968 (an denen sich nach Berechnungen des Dissidenten Andrej Amalrik mindestens 700 Menschen beteiligt hatten1) sowie der Gründung eines eigenen Informations­ bulletins („Chronika tekuščich sobytij“/„Chronik der laufenden Ereignisse“) 1968 und der ersten Bürgerrechtsvereinigung (Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR) 1969 wurde Ende der 1960er-Jahre deutlich, dass in der Sowjetunion eine Bewegung in Gang gekommen war. Ausländische Journalisten schrieben von einer Opposition, doch politische Kräfte als solche, die ihre Forderungen erhoben hätten, gab es nicht. Natürlich existierten von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre im Untergrund Arbeitskreise und Gruppen, doch diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts traditionelle Form des politischen Kampfes war mehr auf regionaler Ebene vorzufinden und hatte infolge ihrer Spezifik fast keine Wirkung auf die gesellschaftliche Bewegung: Die Konspiration verhinderte, dass die Teilnehmer des einen oder anderen Arbeitskreises mit ihrer Tätigkeit einen größeren Personenkreis erreichen konnten. Um Politik zu betreiben, fehlten jegliche Voraussetzungen: Einzelne Versuche, eine Partei oder eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen, endeten zum Ausgang der 1970er-Jahre mit strafrechtlicher Verfolgung. Nahezu alle Dissidenten (außer Personen wie Wladimir Bukowski und Andrej Sacharow) vertraten die Meinung, dass sie keine Politik betrieben, denn sie stellten sich nicht die Aufgabe, die bestehende Ordnung zu beseitigen, und glaubten auch nicht, dass das bestehende politische Regime aufhören könne zu existieren. Eine Ausnahme bildete Andrej Amalrik, der Autor des prophetischen Essays „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ ist. 1968 entstand – von Pawel Litwinow und Andrej Amalrik hervorgebracht – der Terminus „demokratische Bewegung“.2 Dieser Begriff wurde von Wiktor Krasin aufgegriffen (der zur Unterstreichung der Bedeutsamkeit beide Wörter mit Großbuchstaben schrieb), doch vielen seiner Mitstreiter gefiel das Pathos

* 1 2

Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi. Vgl. Andrej Amal’rik, SSSR i Zapad v odnoj lodke, London 1978, S. 194. Zit. nach http://vtoraya-literatura.com/publ_2434.html; 24.3.2018. Vgl. ebd., S. 192 f.

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nicht. Sie mieden die Politik in Reinform und ihnen missfielen jegliche Versuche, eine Anti-KPdSU zu schaffen. Anfang der 1970er-Jahre brachten westliche Journalisten den Begriff „Dissidenten“ (lat. dissent – nicht übereinstimmend) auf. Außerdem wurde von Aktivisten einzelner nationaler und religiöser Strömungen gesprochen. Eine Umfrage, die Alexander Daniel Anfang der 1970er-Jahre durchführte, zeigte, dass sich der Begriff „Dissidenten“ als Selbstidentifikation nicht durchgesetzt hatte. Auf die Frage „Halten Sie sich für einen Dissidenten?“ antworteten Sergej Kowaljow, Larisa Bogoras und andere bekannte Personen, die von Wissenschaftlern zu den Dissidenten gezählt werden, mit „Nein“.3 In einem der wichtigsten Dokumente der im Folgenden mangels eines besseren Begriffs weiterhin sogenannten Dissidentenbewegung – dem Schreiben von Anatoli Jakobson über eine Demonstration auf dem Roten Platz am 25. August 1968, in dem er den Sinn der Demonstration erläuterte –, heißt es: „Die Demonstration des 25. August ist kein Phänomen des politischen Kampfes (für diesen fehlen, nebenbei gesagt, die Bedingungen), sondern ein Phänomen des moralischen Kampfes.“4 Diesen Aspekt der Dissidentenbewegung beschreibt Philip Boobbyer in seinem Buch „Conscience, Dissent and Reform in Soviet Russia“.5 Zur Dissidentenbewegung zählt man Menschen, welche die Prinzipien der Transparenz (Glasnost) und Gewaltlosigkeit einhielten und von allgemeinen ethischen Richtlinien ausgingen. Die allgemeinen ethischen Prinzipien waren allerdings nicht doktrinär, und jeder entschied selbst, mit wem er Umgang pflegen und woran er sich beteiligen wollte. Genau diese horizontale Struktur, bei der jeder das tat, was er für notwendig hielt, war es, die der Dissidentenbewegung unter den sowjetischen Bedingungen half. Natürlich gab es einen „Sacharow-Kreis“ und einen „Solschenizyn-­ Kreis“, eine Redaktion des Bulletins „Chronik der laufenden Ereignisse“ sowie Verwalter des Hilfsfonds für politische Gefangene und deren Familien, doch die Annahme des KGB, dass es Führungspersonen gebe und bei deren Festnahme die Dissidentenbewegung ihren Niedergang erleben würde, bestätigte sich im Wesentlichen nicht. Eine Ausnahme war das Gerichtsverfahren gegen Pjotr Jakir und Wiktor Krasin 1972/73, nach dem viele ihre aktive Dissidententätigkeit aufgaben. Lässt sich sagen, dass es eine einheitliche Dissidentenbewegung mit einem mehr oder weniger gleichen Spektrum von Strategien und Praktiken gab, oder müssen verschiedene Strömungen getrennt voneinander betrachtet werden?

3 4 5

Mündliche Auskunft von Alexander Daniel an den Verfasser. Schreiben von Anatoli Jakobson. In: Natal’ja Gorbanevskaja, Polden, Moskau 2017, S. 328 f.; http://www.antho.net/library/yacobson/in-light-of/prisvete5.html; 24.3.2018. Philip Boobbyer, Conscience, Dissent and Reform in Soviet Russia, London 2005.

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Die Vertreter der einzelnen politischen, nationalen, religiösen und Emigrationsbewegungen sowie die Samisdat-Autoren und Bürgerrechtler, die auf den Seiten der „Chronik der laufenden Ereignisse“ zusammenkamen, wurden von zeitgenössischen Wissenschaftlern verallgemeinert als Dissidentenbewegung (oder Dissidenten) bezeichnet. Im realen Leben hatten sie jedoch durchaus nicht immer Kontakt. Beispielsweise galt es bei einem Teil der jüdischen nationalen Bewegung als gefährlich, Kontakt zu Bürgerrechtlern aufzunehmen, weil dies die Chancen für ein Ausreise verringerte oder weil sie der Meinung waren, man solle in der Sowjetunion überhaupt nichts tun, da dies ja nicht ihr Land sei.6 Andererseits lässt sich ein Einfluss bestimmter Strömungen auf andere feststellen. So folgten ukrainische, litauische, armenische und georgische Bürgerrechtler dem Moskauer Beispiel, eine Helsinki-Unterstützungsgruppe zu gründen, wobei wohl die Moskauer Erfahrungen und die Bezeichnung von den Georgiern einfach kopiert wurden. Vor der georgischen Helsinki-Gruppe hatte es eine Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in Georgien gegeben, welcher derselbe Personenkreis angehört hatte. Die engsten und stabilsten Verbindungen entstanden in den politischen Lagern und Gefängnissen. Nicht selten wies der KGB in dieselbe Zelle Vertreter unterschiedlicher politischer Strömungen ein, damit sie sich entzweien sollten, doch häufig führte dies zum umgekehrten Ergebnis, da die Menschen durch den gemeinsamen Kampf gegen das totalitäre Regime miteinander verbunden waren. So lernte etwa die Moskauer Intelligenzija nach 1965 Vertreter der ukrainischen Bewegung kennen, als bei Larisa Bogoras (der Ehefrau des politischen Häftlings Juli Daniel) in Moskau Frauen ukrainischer Polithäftlinge eine Zwischenstation einlegten, bevor sie zu Treffen mit ihren Angehörigen in mordwinische Lager7 weiterfuhren. Im vorliegenden Aufsatz soll nicht nur auf die Bürgerrechtler/das Moskauer/ das liberale Milieu eingegangen werden (häufig werden diese Begriffe unberechtigterweise synonym verwendet), sondern auf die Dissidentenbewegungen der UdSSR in ihrer Gesamtheit. Dabei werden diese Bewegungen über ihre Strategien und Praktiken beschrieben. Strategien: 1. Versuche einer politischen Tätigkeit, 2. Aufrufe zu Reformen und gesellschaftlicher Druck, 3. Einhaltung formaler Rahmenbedingungen, Arbeit innerhalb dieses Rahmens und 4. Aufruf an die Machtausübenden, innerhalb dieses Rahmens zu bleiben sowie 5. Appelle an den Westen. 6 7

Vgl. Ljudmila Alekseeva, Istorija inakomyslija v SSSR, Moskau 2006, S. 132. Mordwinien war eine autonome sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion und ist heute eine Republik der Russischen Föderation (Anmerkung der Redaktion).

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Praktiken: 1. Gewaltanwendung, 2. Durchsetzung von Rechten und Freiheiten durch öffentliche Präsenz und/ oder Untergrundtätigkeit, 3. Abkehr von der sowjetischen Realität und Anwendung von Überlebenspraktiken. Im Baltikum waren die Erinnerungen an die Unabhängigkeit wach, und selbst nach der Niederlage des bewaffneten Untergrunds strebte man danach, diese wiederzuerlangen. Als Beispiel soll Litauen betrachtet werden, wo sich die Bewegung der „Waldbrüder“ bis Mitte der 1950er-Jahre halten konnte und die Bürgeraktivität in den 1970er-Jahre unter den baltischen Republiken am höchsten war (vielfach dank der katholischen Kirche). Hier äußerte sich der Widerstand sowohl in der Ablehnung sowjetischer Symbole und sowjetischer Erinnerungskultur als auch der Aktualisierung der Symbole aus der Zeit der Unabhängigkeit bzw. des Kampfes für sie. So wurden etwa sowjetische Fahnen abgerissen (in der Regel durch Jugendliche) und nationale aufgehängt oder ein Lenindenkmal mit Baldrian übergossen. Leider war die litauische Nationalbewegung nicht frei von Stereotypen und hatte ein Feindbild geschaffen. Die nationale Identität ging davon aus, dass alle Russen schlecht seien und die Litauer beispielsweise zum Trinken verleiten würden (darüber wurde im litauischen Samisdat viel geschrieben). Neben den Russen wurde die Schuld für alles Negative mitunter den Juden, die man den Kommunisten gleichstellte, zugewiesen. Die Entwicklung dieser Linie lässt sich am Beispiel des Samisdat-Briefwechsels zwischen Tomas Venclova8 und A. Žuvintas (dieses Pseudonym konnte nie entschlüsselt werden) Mitte der 1970er-Jahre beobachten. Erst jetzt beginnt man damit, sich der Bedeutung der Juden in der litauischen Geschichte bewusst zu werden und die dunklen Seiten in der Vergangenheit des Landes anzuerkennen. Ein wichtiges Merkmal der litauischen Dissidentenbewegung in den 1980er-Jahren bestand darin, dass die litauischen Wehrdienstpflichtigen den Krieg in Afghanistan strikt ablehnten. Die Dissidentenbewegung in Georgien richtete ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Erhaltung alter Denkmäler und die Pflege des Gedenkens an das unabhängige Georgien: Die Unabhängigkeit war 1783 nach dem Abschluss des Vertrags von Georgijewsk verloren, 1918 wiedererlangt und 1922 nach dem Sturz der Menschewiki erneut verloren gegangen. Schlüsselereignis war eine Massendemonstration im Zusammenhang mit der Verabschiedung der neuen Verfassung im April 1978. Für die georgische Gesellschaft war es wichtig, dass die georgische Sprache den Status einer Staatssprache behalten sollte. Im Ergebnis des begonnenen Dialogs zwischen Staatsmacht und Gesellschaft blieb

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Litauischer Dichter, Schriftsteller und Übersetzer.

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sie es auch. Wie sich Beteiligte erinnerten, hatte der georgische Innenminister damals in sein Megafon geschrien: „Glaubt mir wenigstens einmal im Leben!“ Seitdem waren Massendemonstrationen zu den wichtigsten Fragen üblich, aufgrund des Drucks durch die georgische Gesellschaft konnte die örtliche Staatsmacht sie weder auflösen noch die Teilnehmer einsperren lassen.9 Der Führer der georgischen Dissidenten, Swiad Gamsachurdia, wurde 1991 Präsident Georgiens; danach entfachte er jedoch einen Bürgerkrieg und verspielte seine Autorität. Die genannten Bewegungen waren mit aller Kraft bestrebt, in eine idealisierte Vergangenheit zurückzukehren oder ihre nationale und religiöse Identität zu bewahren. Die ukrainische Dissidentenbewegung war weniger politisch orientiert, sondern mehr eine Bewegung im Sinne der „Schestidesjatniki“10 bzw. später auch der Bürgerrechtler. Großen Raum in der ukrainischen Samisdat-Publizistik nahm jedoch die Frage der gewaltsamen Russifizierung ein. Die Selbstidentifikation, bei der man sich als Opfer des Imperiums Russland/UdSSR empfindet, war und bleibt ein wichtiges Merkmal der ukrainischen Gesellschaft. Andererseits wurde es in den 1990er-Jahren für einen Teil der ukrainischen Gesellschaft wichtig, über den Widerstand gegen das sowjetische Regime zu sprechen. Einige setzten diesen „Krieg“ fort. So wurde der ehemalige politische Häftling Anatoli Lupinys Führer der rechtsradikalen Organisation UNA-UNSO (Ukraïnska Nacio­nal’na Asambleja – Ukraïnska Narodna Samooborona/Ukrainische Nationalversammlung – Ukrainische Nationale Selbstverteidigung), deren Mitglieder in Tschetschenien aufseiten der Separatisten kämpften. Die ukrainischen Dissidenten brachten zwei wichtige politische Persönlichkeiten der 1990er-Jahre hervor: Wjatscheslaw Tschornowil, der sich 1991 sogar um das Amt des Staatspräsidenten bewarb (er kam 1999 ums Leben), und Lewko Lukjanenko, Ideologe des Ukrainischen Arbeiter- und Bauernbundes, Mitglied einer Untergrundgruppe, die 1961 versucht hatte, die Abtrennung der Ukraine von der UdSSR zu erreichen. Er wurde Anfang der 1990er-Jahre Abgeordneter des ukrainischen Parlaments und erhielt 2005 sogar den Ehrentitel „Held der Ukraine“. In Armenien war fast die gesamte Dissidentenbewegung im Umfeld der 1966 gegründeten Nationalen Vereinigten Partei Armeniens konzentriert. Ihr Ziel war die Abspaltung Armeniens von der UdSSR mittels eines Referendums. In den 1990er- und 2000er-Jahren bekleideten viele ihrer Aktivisten Regierungsämter in Armenien.

    9 Vgl. Ljudmila Alekseeva, Pokolenie ottepeli, Moskau 2006, S. 90 f. 10 Die „Schestidesjatniki“ (dt. „Sechziger“) sind Vertreter einer progressiven Richtung unter sowjetischen Intellektuellen und Kunstschaffenden der 1960er-Jahre (vor allem Dichter, Schriftsteller und Regisseure), die sich im Zuge der „Tauwetterperiode“ herausgebildet hatten. Sie protestierten gegen die herrschende Atmosphäre und traten für eine Erneuerung der damaligen Gesellschaft ein (Anmerkung der Übersetzerin).

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Nach 1991 übernahmen zahlreiche Dissidenten in den postsowjetischen Staaten – im Unterschied zu Russland – Ämter in der Politik und der Staatsmacht. Für sie war dies ein naturgemäßer Schritt. In Russland hingegen hatte sich die Meinung verfestigt, dass die Politik eine „schmutzige Angelegenheit“ sei. Sergej Kowaljow wurde der erste Menschenrechtsbevollmächtigte, und einige Dissidenten zogen als Abgeordnete in das russische Parlament ein. Es ist allerdings unvorstellbar, dass jemand wie etwa Bukowski die Führung eines Geheimdienstes hätte übernehmen können. In Litauen jedoch leitete Balys Gajauskas (ein politischer Häftling, der von 1948 bis 1973 und von 1977 bis 1987 inhaftiert war) 1991/92 die litauische Staatssicherheitsbehörde. Die meisten Moskauer Dissidenten stellten sich nicht die Aufgabe, das politische Regime zu besiegen. Die Hauptaufgabe in der zweiten Hälfte der 1960er-­ Jahre bestand darin, eine Wiederkehr des Jahres 1937 zu verhindern, als Gesetzlosigkeit und Gewalt triumphierten. Der Moskauer Intelligenzija war politischer Kampf fremd. Alexander Daniel sagte in einem Interview: „Ich erinnere mich gut an einen Satz, den meine Mutter [Larisa Bogoras] immer zu sagen pflegte: ,Die Politik ist ein verpesteter Bereich der menschlichen Tätigkeit und man darf sich ihm nicht zu sehr nähern.‘“11 Als Vertreter von Amnesty International in einem Gespräch Andrej Twerdochlebow rieten, sich „wirkungsvolleren Aktivitäten zu widmen als einer sowjetischen Gruppe von Amnesty, ‚wenn Sie dieses System stürzen wollen‘“, rief der ebenfalls anwesende Juri Orlow für alle Fälle einfach ins Zimmer hinein: „Ein solches Ziel haben wir uns gar nicht gesetzt.“12 Bis zu Beginn der 1970er-Jahre versuchte die Intelligenzija verschiedentlich, auf die Sowjetmacht Einfluss zu nehmen und mit ihr in Dialog zu treten. Dieses Ziel verfolgten die Petitionskampagnen der Jahre 1965 bis 1968, die außer eine Verteidigung für konkrete Polithäftlinge auch die Ablehnung der neuen Artikel des Strafgesetzbuches (Artikel 190-1, 190-2, 190-3)13 forderten. Es kam zu Diskussio­nen, weshalb diese Petitionen notwendig seien. Andrej Amalrik argumentierte, dass man mit der Sowjetmacht nur ein formaljuristisches Gespräch führen könne, da es mit Menschen, die jemanden wegen seiner Ideen ins Gefängnis sperrten, nicht anders möglich sei. Viele Dissidenten (u. a. Larisa Bogoras) waren der Meinung, dass solche Gespräche der Staatsmacht zwar mehr Legitimität verschafften, andererseits aber auch die Möglichkeit boten, gehört zu werden, vor allem von der Gesellschaft.

11 Gleb Morev, Dissidenty. Moskau 2017, S. 387; elektronische Fassung des Interviews mit Alexander Daniel, http://www.colta.ru/articles/dissidents/6426; 24.3.2018. 12 Jurij Orlow, Ein russisches Leben, München 1992, S. 213. 13 Die Artikel beziehen sich auf folgende Strafbestände: Artikel 190-1 „Verbreitung offenkundig falscher Anschuldigungen, die der Verleumdung der sowjetischen Staatsund Gesellschaftsordnung dienen“, Artikel 190-2  „Herabwürdigung von Staatsflagge und Staatswappen der UdSSR“, Artikel 190-3  „Störung der öffentlichen Ordnung“ (Anmerkung der Übersetzerin).

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In ihren Memoiren schrieb Ljudmila Aleksejewa: „Unser Wunsch, der Staatsmacht das zu sagen, was wir dachten, war nicht einfach ein Gefühlsausbruch. Wir waren uns bewusst, dass reale Veränderungen ohne Mitwirkung der Staatsmacht unmöglich waren. Die politische Macht lag in ihren Händen. Wir hatten nicht die Absicht, ihre Posten einzunehmen. Wir wollten keine Waffen in die Hand nehmen und Untergrundzellen organisieren. Wir luden die Macht zum Dialog ein. Um einen Dialog zu beginnen, mussten wir ihnen über uns berichten – wer wir waren und was wir wollten.“14

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings erreichte die Zahl der von ihrer Arbeitsstelle Entlassenen, aus Hochschulen Exmatrikulierten und aus der Partei Ausgeschlossenen mehrere Hundert Personen, und es wurde deutlich, dass Druck durch Dialog keinen Sinn hatte. Zu Beginn der 1970er-Jahre schlug das „Petitionspendel“ nach der anderen Seite aus. Es wurde diesmal von der Staatsmacht genutzt, häufig ohne die Menschen zu fragen. Man glaubte, der hohe offizielle Rang eines Menschen gebe der Staatsmacht das Recht, über dessen Unterschrift zu verfügen. Und so fanden sich unter den Unterzeichnern von Schreiben gegen Sacharow und Solschenizyn auch Personen, die bislang dissidente Schriftstücke unterzeichnet hatten, wie etwa das Akademiemitglied Mstislaw Keldysch, der zur Verteidigung von Schores Medwedew eingetreten war, der Chemiker Alexander Nesmejanow, dessen persönliches Schreiben, in dem er die Niederschlagung des Prager Frühlings hart verurteilt hatte, als Samisdat-Ausgabe zirkulierte, oder Wladimir Engelhardt, der einen kollektiven Brief gegen den Strafrechtsparagrafen 190-1 unterschrieben hatte. Die Petitionen wurden durch seriöse publizistische Texte abgelöst. 1970 verfassten Andrej Sacharow, Roj Medwedew (ein führender Kopf der Sozialdemokraten unter den Dissidenten) und Walentin Turtschin einen Brief an die sowjetische Regierung, in dem sie dazu aufriefen, das politische Regime wesentlich zu erneuern, und bekundeten, dass sie „eine positive und konstruktive Herangehensweise anstreben, die für die Partei- und Staatsführung des Landes akzeptabel ist“.15 Die Intellektuellen der 1970er-Jahre lassen sich einteilen in Westler (Anhänger einer demokratischen Ordnung nach westlichem Muster) und Potschwenniki,16 die konservativer waren und die Meinung vertraten, im Erneuerungsprozess müsse man die positiven vorrevolutionären Erfahrungen berücksichtigen. In diesem Stil ist Alexander Solschenizyns „Brief an die Führer der Sowjetunion“ (1974) gehalten, in dem lediglich zwei Probleme der UdSSR genannt werden: die Gefahr eines Krieges gegen China und die Gefahr, zusammen mit der westlichen Zivilisation zu „verfaulen“.

14 Alekseeva, Pokolenie ottepeli, S. 187. 15 Ebd., S. 248. 16 Etwa „Verfechter einer Rückkehr zum Erdboden, Bodenverbundene“ (russ. potschwa = Erdboden), ursprünglich eine Strömung innerhalb der russischen SlawophilenBewegung des 19. Jahrhunderts (Anmerkung der Übersetzerin).

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1973 stellte der spätere Begründer der Moskauer Helsinki-Gruppe Juri Orlow „Dreizehn Fragen an Breschnew“: „Die grundlegende These meines Briefes war, dass die blinde Befolgung einer Ideologie, die weder Selbstbestimmung noch die freie Meinungsäußerung als unveränderliche Menschenrechte zu betrachten bereit ist, nicht nur zu einem feudalistischen Verhältnis zwischen Bürger und Staat, sondern auch zum wissenschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Verfall der Sowjetunion geführt hatte. Ich schlug vor, die Pressezensur aufzuheben und freien Austausch der Meinungen und Glasnost zu ermöglichen. Meine Überlegungen zur Wirtschaftspolitik liefen darauf hinaus, grundsätzlich am Staatseigentum festzuhalten, aber den Westen zu imitieren durch Anreize zu groß angelegter wirtschaftlicher Entwicklung, beispielsweise durch die Einrichtung von Bereichen, in denen Betriebsführer freie Hand haben und am Gewinn beteiligt werden sollten.“17

Überlegungen stellten die Dissidenten auch zum Wesen der bestehenden Ordnung an. Große Popularität genoss Milovan Ðilas’ Buch „Die neue Klasse“, in dem er am Beispiel Jugoslawiens überzeugend darlegte, dass in den Ländern des sozialistischen Blocks eine kommunistische Staatsbürokratie an die Macht gekommen war, während aus ökonomischer Sicht Staatskapitalismus herrschte. Gegen Mitte der 1970er-Jahre begann in das Dissidentenmilieu die Konzeption eines totalitären Regimes einzudringen (dabei ist zu beachten, dass es bei den sowjetischen Menschen eine starke ideologische Blockade hinsichtlich eines Vergleichs der Sowjetunion mit dem nationalsozialistischen Deutschland gab). Unter den publizistischen Samisdat-Texten seien Juri Orlows „Ist ein nichttotalitärer Sozialismus möglich?“ und Boris Schragins „Trägheit der Furcht“ genannt. Eine der wichtigsten im Samisdat erschienenen Arbeiten ist Andrej Sacharows „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“, wo insbesondere zwei totalitäre Regime – der Faschismus in Deutschland und der Stalinismus in der Sowjetunion – verglichen werden: „Neben sehr vielen gemeinsamen Merkmalen gibt es auch bestimmte Unterschiede. Der Stalinismus zeigte eine raffiniertere Art von Heuchelei und Demagogie, er stützte sich nicht auf eine offene Vernichtungspolitik wie Hitler, sondern auf eine fortschrittliche wissenschaftliche und unter Werktätigen populäre sozialistische Ideologie, die sich als bequeme Abschirmung beim Betrug der Arbeiterschicht, für die Einschläferung der Wachsamkeit der Intelligenz und der Rivalen im Kampf um die Macht gezeigt hat.“18 Den Entwicklungsweg der UdSSR sah Sacharow in der Konvergenz, einer Kombination des kapitalistischen und des sozialistischen Systems. Mit ihrer Ablehnung des politischen Kampfes und ihren Vorschlägen zur Reformierung des sowjetischen Systems forderten die Dissidenten die Einhaltung der bestehenden formalen Rechtsbestimmungen. Wenn man die Verfassung schon nicht ändern konnte, so konnte man sie zumindest einhalten. Mit der For-

17 Orlow, Ein russisches Leben, S. 199. 18 Andrej Sacharow, Wie ich mir die Zukunft vorstelle. Gedanken über Fortschritt, fried­ liche Koexistenz und geistige Freiheit, Frankfurt a. M. 1968, S. 40.

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derung „Achtet die eigene Verfassung!“ begann eine Bürgerrechtsbewegung. Die Berufung auf sowjetische Gesetze, wie sie Alexander Jessenin-Wolpin vorschlug, stieß anfangs auf Befremden unter der Intelligenzija, setzte sich jedoch dann in der Dissidentengemeinschaft durch. Jessenin-Wolpin erklärte: „Wenn die Bolschewiki ihre guten Deklarationen umzusetzen beginnen, hören sie auf, Bolschewiki zu sein.“19 Die Dissidenten versuchten nicht nur die deklarierte Versammlungsfreiheit zu nutzen, sondern auch die Vereinigungsfreiheit. So bemühte sich die sowjetische Sektion von Amnesty International redlich, sich registrieren zu lassen, jedoch ohne Erfolg. Nicht selten unternahmen Dissidenten den Versuch, ihre Rechte vor Gericht einzuklagen. Diese Tradition eröffnete Jessenin-Wolpin, der 1963 eine Klage gegen den bekannten sowjetischen Publizisten Ilja Schatunowski wegen Verleumdung einreichte. Das Gericht wies jedoch die Klage unter einem erfundenen Vorwand zurück. Erfolg hatten manchmal Versuche von Dissidenten, die ihre Arbeit verloren hatten, wieder eingestellt zu werden. So konnten auf Gerichtsbeschluss 1968 Juri Eichenwald, der wegen der Unterzeichnung eines offenen Briefes, und 1980 Juri Schichanowitsch, der wegen „Stellenkürzung“ entlassen worden war, ihre Arbeit wieder aufnehmen. Es gab auch Versuche von Aktivisten der jüdischen Emigrationsbewegung, nach Artikel 74 Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) („Verstoß gegen die Gleichberechtigung der Bürger hinsichtlich ihrer Rasse, Nationalität oder Konfession“) einen Prozess anzustrengen, nachdem antisemitische Artikel in der sowjetischen Presse erschienen waren. Leider war diesem Versuch kein Erfolg beschieden, vielmehr wurde dieser Artikel des Strafgesetzbuches mitunter sogar unberechtigterweise gegen die Dissidenten selbst angewendet. Die Dissidenten forderten nicht nur die formale Einhaltung der sowjetischen Gesetze, sondern versuchten auch, deren Verschlechterung zu verhindern (Kampf gegen die Artikel 190-1, 190-2, 190-3 im Jahre 1967). Mitte der 1960er-Jahre begann die Staatsmacht, die Spielregeln zu ändern, indem sie neue politische Artikel in das bestehende Strafgesetzbuch aufnahm und eine neue Verfassung verabschiedete. Hinsichtlich der Verfassung hatten die Dissidenten einen gewissen Vorsprung. Bereits 1968 hatte der Dissident Boris Jefremow zwei Varianten einer neuen Verfassung der UdSSR ausgearbeitet. 1977 veröffentlichte die Sowjetmacht ihren Verfassungsentwurf und stellte ihn zur Diskussion. Natürlich war die Diskussion lediglich eine Formalität, wenngleich eine für die Sowjetmacht sehr wichtige, da sie dieses Dokument legitimieren sollte, indem der Anschein erweckt wurde, es sei vom Volk angenommen worden. Die Dissidenten reagierten darauf mit fünf Ausgaben des im Samisdat erscheinenden Bulletins „Rund um den Entwurf der Verfassung der UdSSR“, in dem über diesen Entwurf „diskutiert, gestritten und Kritik geübt“ wurde.

19 Zit. nach http://pandia.ru/text/78/603/8952.php; 24.3.2018.

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Die Bürgerrechtler strebten auch an, dass sich die UdSSR aktiver an die internationalen Vereinbarungen im Bereich der Menschenrechte binden sollte. Große Bedeutung hatte Ende der 1960er-Jahre der Kampf für eine Ratifizierung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte durch die UdSSR (die Ratifizierung erfolgte 1973). Für Menschen, die in der Sowjetzeit aufwuchsen, war es schwierig, sich von der Vorstellung zu lösen, ihr Land lebe umringt von Feinden. Deshalb begannen die Dissidenten nicht sofort, innere Schwierigkeiten im Ausland publik zu machen. Außerdem gab es bis Ende der 1960er-Jahre praktisch keine Kontakte zu ausländischen Korrespondenten. Die Bürgerrechtler wandten sich an die sowjetischen Staats- und Parteiorgane, an die kommunistischen Parteien der sozialistischen Länder (ab 1968) und etwas später auch an westliche Kommunisten. Diese Besonderheit erwähnte der Dissident und Liedermacher Juli Č. Kim in einem seiner Lieder: „Vorerst riefen wir heimlich in der englischen Zeitung ‚Morning Star‘ an.“ Der Humor dieser Zeile besteht darin, dass es sich beim „Morning Star“ um die Zeitung der Kommunistischen Partei Großbritanniens handelte. Im Januar 1968 verfassten Larisa Bogoras und Pawel Litwinow einen Appell „An die Weltöffentlichkeit“, der den Beginn einer neuen, für den Westen offeneren Phase der Dissidentenbewegung darstellte. Allmählich entwickelte sich das Bewusstsein, dass die Menschenrechte keine innere Angelegenheit des Staates waren. Eine wesentliche Rolle dabei spielte Andrej Sacharow, der die Menschenrechte in einen klaren Zusammenhang mit dem Thema Sicherheit brachte. Ab 1969 wandten sich die Bürgerrechtler an internationale Instanzen, vor allem an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Die Verletzung der Menschenrechte wurde vom Westen natürlich zur Druckausübung auf die UdSSR genutzt. Ein Schlüsselpunkt war das Bestreben, die freie Ausreise der Juden aus der UdSSR zu erreichen. 1974 beschlossen die USA das Jackson-­ Vanik-Amendment als Ergänzung zum Handelsgesetz, das den freien Handel mit Ländern einschränkte, die eine freie Ausreise behinderten. Es wurde erst 2012 aufgehoben. Einige amerikanische Senatoren, welche die UdSSR besuchten, trafen sich mit Aktivisten der jüdischen Ausreisebewegung. 1976 wurde die Moskauer Helsinki-Gruppe gegründet, die an die 35 Regierungen der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) Berichte sandte, wie „Korb III“ der KSZE-Schlussakte (das heißt menschenrechtliche Anliegen) in der UdSSR eingehalten (genauer gesagt: verletzt) wurde. Ab Mitte der 1970er-Jahre konnten die russischen Emigranten (der dritten Welle) selbst ständigen Druck auf westliche Regierungen und die öffentliche Meinung sicherstellen, indem sie über Verstöße gegen die Menschenrechte in der UdSSR berichteten. Zu den größten Erfolgen gehörte der Austritt der ­UdSSR (um dem Ausschluss zuvorzukommen) aus dem Weltverband der Psychia­trie im Jahre 1983 wegen der ständigen Vorwürfe, sie missbrauche die Psychiatrie zu politischen Zwecken. Keine geringe Rolle spielte auch Ljudmila Aleksejewa, die 1977 emigrierte und Repräsentantin der Moskauer Helsinki-­

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Gruppe im Ausland wurde. 1978 wurde die amerikanische Helsinki-Gruppe (heute Human Rights Watch) gegründet. Schlüsselfrage eines möglichen politischen Kampfes war die nach der Anwendung von Gewalt, was eng mit der Untergrundtätigkeit im Zusammenhang stand. Ein weiteres Diskussionsthema war die Form des Widerstands (Untergrundkreis, Partei oder etwas anderes). Über Gewalt war schon ein Jahrhundert lang diskutiert worden. Auch die Jugend-Untergrundkreise von Mitte der 1940er-/Anfang der 1950er-Jahre hatten darüber gestritten. Obwohl sie fast alle aufgedeckt und ihre Mitglieder festgenommen worden waren, hatten ihre Erfahrungen wesentlichen Einfluss auf die Dissidentenbewegung. Etliche Moskauer Dissidenten verfügten über einen „stalinschen Background“ (Pjotr Jakir, Wiktor Krasin, die Frau von Anatoli Jakobson – Maja Ulanowskaja). Die erste Dissidentenvereinigung nannte sich nicht Komitee, sondern „Initiativgruppe“, um ihre Mitglieder nicht zu gefährden (was jedoch trotz allem nicht gelang), wenngleich sich bei der Diskussion ein Teil der Dissidenten rigoros gegen die Gründung jedweder Organisation ausgesprochen hatte.20 Am Übergang der 1950er- zu den 1960er-Jahren war die Frage, ob Gewalt­ anwendung zulässig sei, noch nicht gelöst. So wurden 1961 die Teilnehmer an nichtoffiziellen Dichterlesungen auf dem Majakowski-Platz Anatoli Iwanow, Ilja Bokstejn, Wladimir Osipow (in späterer Zeit Leitfigur der russischen nationalen Bewegung) und Eduard Kusnezow (später wegen des Versuchs, ein Flugzeug für seine Ausreise zu entführen, verurteilt) unter dem Vorwurf, einen Anschlag auf Chruschtschow vorbereitet zu haben, verhaftet.21 1969 gründete Sergej Soldatow in Tallinn die Untergrundgruppe „Demokratische Bewegung der Sowjetunion“ und verfasste ihr Programm sowie die Grundlagen ihrer Taktik, in denen es u. a. heißt: „Die legalen Formen der Bewegung haben ihre historische Rolle erfüllt und sind ausgeschöpft“ und „von den Geheimnissen der demokratischen Bewegung dürfen selbst die nächsten Angehörigen – Ehefrau, Ehemann, Kinder, Eltern, Freunde – nichts wissen.“22 1970 nahm die „Chronik der laufenden Ereignisse“ Abstand von ihrer Regel, die angeführten Texte nicht zu kommentieren, und schrieb zu den „Taktischen Grundlagen der Demokratischen Bewegung der Sowjetunion“: „Mögen die Leser selbst historische Analogien zu alledem suchen. Die einzige allgemeine Bemerkung, die wir uns zu den ‚Grundlagen‘ erlauben, ist die, dass erwachsene Menschen, die in die Politik gegangen sind, verstehen müssen, dass sie, wenn sie das Erwünschte als Realität ausgeben, die Jugend falsch, das heißt unheilbringend orientieren.“23

20 Vgl. http://www.antho.net/library/yacobson/about/pavel-litvinov.html; 24.3.2018. 21 Vgl. Zaključitel’noe obvinenie. In: Ljudmila Polikovskaja, „My predčuvstvie, predteča“. Ploščad’ Majakovskogo. 1858–1965, Moskau 1996, S. 240–246. 22 Chronika tekuščich sobytij. Vypuski 1–15, vypusk 14, Amsterdam 1979, S. 453 f. 23 Ebd., S. 454.

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Ebenfalls 1970 kam es zur bekanntesten Aktion der jüdischen Aktivisten – dem Versuch, ein Flugzeug mit zwölf Sitzen zu entführen (Operation „Hochzeit“). Die an dieser Aktion Beteiligten wurden des Vaterlandverrats (dieser Punkt wurde später bei einer Revision des Verfahrens in den 1990er-Jahren fallen gelassen), antisowjetischer Agitation und der Teilnahme an einer antisowjetischen Organisation angeklagt. Sie hatten eine Startpistole, einen Schlagring und ausziehbare Schlagstöcke bei sich gehabt, allerdings eher zur Abschreckung. Aus ihren letzten Worten vor Gericht und ihren Memoiren geht hervor, dass sie keine Gewalt gegen den Piloten anwenden wollten.24 Zwei Beteiligte (Mark Dymschitz und Eduard Kusnezow) wurden zum Tode verurteilt. Dies rief unter den Dissidenten und im Westen Empörung hervor, woraufhin das Urteil geändert wurde. Andrej Sacharow, der sich für eine mildere Strafe für die Flugzeugentführer einsetzte und diesen Vorfall für eine Folge der sowjetischen Emigrationspolitik hielt, schrieb dennoch in seinen Memoiren: „Zweifellos war dieser ganze Plan abenteuerlich und verstieß gegen das Gesetz, wofür die Beteiligten strafrechtlich belangt werden mussten.“25 Im Übrigen gibt es auch heute noch Diskussio­ nen darüber, ob es sich bei diesem Vorfall um eine Verzweiflungstat handelte oder ob die Beschuldigten das Flugzeug tatsächlich entführen wollten. Einen Strich unter die Diskussionen, ob Gewalt als Methode des Widerstands zulässig sei, zog 1974 Alexander Solschenizyn: „All die andern verhängnisvollen Wege, die in der bitteren russischen Geschichte des letzten Jahrhunderts erprobt wurden, passen noch weniger zu uns, und zu Recht, so ist es nicht nötig!“26 Gewalt wurde nicht nur von der Moskauer „liberalen“ Intelligenzija konsequent und rigoros abgelehnt, sondern auch von Menschen, die sie noch kurz zuvor angewendet hatten – von Beteiligten an den nationalen Bewegungen im Baltikum und in der Westukraine. Dennoch kam es zu einzelnen Exzessen. Pjotr Grigorenko erinnert sich: „Ein Krimtatare wurde hinterrücks umgebracht. Die Ursache für diesen Mord schien klar zu sein. Er war geheimer Informant des KGB gewesen. Seine Landsleute hatten das aufgedeckt. Man hatte ihm ins Gewissen geredet, ihm Vorwürfe gemacht, ihn beschimpft – wie könne man nur die eigenen Leute ‚verkaufen‘. Einer von denen, die ihn beschimpft hatten, hatte u. a. gesagt: ‚Dich dafür umzubringen ist noch viel zu wenig.‘“27 Bekannt und signifikant ist die Reaktion von Dissidenten auf die Explosion in der Moskauer Metro im Januar 1977. Die Staatsmacht schob die Verantwortung dafür sofort den Dissidenten zu. Am 14. Januar antworteten Moskauer, ukrainische und georgische Bürgerrechtsorganisationen mit einer gemeinsamen Erklärung (wobei sie anmerkten, dass es nicht gelungen sei, mit Vertretern aller nationalen und religiösen Gruppen Kontakt aufzunehmen), in der es hieß:

24 Vgl. Chronika tekuščich sobytij. Vypuski 16–27, vypusk 17, Amsterdam 1979, S. 51. 25 Andrej Sacharov, Vospominanija. V 3-ch tomach, Band 1, Moskau 2006, S. 701. 26 Alexander Solschenizyn, Offener Brief an die sowjetische Führung (September 1973). Lebt nicht mit der Lüge (Februar 1974), Darmstadt 1974, S. 60. 27 Pëtr Grigorenko, V podpol’e možno vstretit‘ tol‘ko krys …, Moskau 1997, S. 475 f.

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„Die Bezeichnung ‚Dissidenten‘ hat sich in der Sowjetunion eingebürgert für Teilnehmer an der Menschenrechtsbewegung. Die Dissidenten haben unterschiedliche politische, religiöse und philosophische Ansichten, aber allen ist gemeinsam, dass sie bei ihrem Kampf um die Durchsetzung der grundlegenden Menschenrechte Gewaltanwendung oder Aufrufe zur Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele vollständig ablehnen. Die Dissidenten empfinden gegenüber Terror Empörung und Abscheu.“28

Natürlich kann man nicht sagen, dass es in der Sowjetzeit keine Terrorakte gegeben hätte. Sie wurden jedoch von Einzeltätern verübt, die sich nicht als Dissidenten identifizierten und von den Dissidenten nicht zu ihrem Kreis gezählt wurden. In welchem Raum sich die Dissidenten bewegen konnten, hing vor allem davon ab, wie der Staat reagierte, dennoch hatte Amalrik in vielem recht, als er schrieb, dass die Dissidenten „etwas genial Einfaches taten – sie begannen, sich in einem unfreien Land wie freie Menschen zu verhalten und damit die moralische Atmosphäre sowie die das Land lenkende Tradition zu verändern“.29 Alexander Ginsburg veröffentlichte 1959 die erste Ausgabe eines Almanachs mit dem Titel „Sintaksis“, auf dessen Cover er seinen Namen angab.30 Fünf Jahre später reichte er ein Exemplar seines „Weißbuches in Sachen Sinjawski-Daniel“31 beim KGB ein. Aus diesem gelang es den Ermittlern später, ihm nur zwei Texte zur Last zu legen – man konnte ihn ja schließlich nicht wegen des bloßen Sammelns von öffentlichen Schriftstücken und offiziellen Gerichtsaufzeichnungen hinter Gitter bringen.32 In ihrer fünften Ausgabe (31. Dezember 1968) veröffentlichte die „Chronik der laufenden Ereignisse“ folgende Mitteilung: „Die ‚Chronik‘ ist in keiner Weise eine illegale Publikation, aber ihre Arbeitsbedingungen sind durch merkwürdige Deutungen der Begriffe Legalität und Freiheit von Informationen eingeschränkt, wie sie sich über lange Jahre in einigen sowjetischen Organen herausgebildet haben. Deshalb kann die ‚Chronik‘ nicht, wie jede andere Zeitschrift, auf der letzten Seite ihre Adresse nennen.“33 Am 4. November 1970 wurde das Komitee für Menschenrechte gegründet. Einer seiner Gründer, Waleri Tschalidse, sagte in einem Interview: „Sie wollen, dass wir eine Revolution vollziehen? Das sind Dummheiten. Wir werden uns lediglich damit auseinandersetzen, welche Rechte den Menschen von den sowjetischen Gesetzen garantiert werden.“34

28 Dokumenty MchG, Moskau 2001, S. 174. 29 Alekseeva, Pokolenie ottepeli, S. 205. 30 Es war die erste inoffizielle Zeitschrift, die mit vollem Namen und der Adresse des Her­ aus­gebers erschien (Anmerkung der Übersetzerin). 31 Eine Dokumentation über den Gerichtsprozess gegen die Schriftsteller Andrej Sinjaw­ ski und Juli Daniel. Ginsburg kündigte an, die Dokumentation zu veröffentlichen, wenn die Urteile nicht aufgehoben würden (Anmerkung der Übersetzerin). 32 Vgl. https://www.svoboda.org/a/25332227.html; 24.3.2018. 33 Chronika tekuščich sobytij. Vypuski 1–15, vypusk 5, Amsterdam 1979, S. 102. 34 Ėdvard Klajn, Moskovskij komitet prav čeloveka, Moskau 2004, S. 9.

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Experten des Menschenrechtskomitees – Alexander Jessenin-Wolpin, Boris Zukerman, Waleri Tschalidse – verfassten seriöse analytische Beiträge und gaben im Samisdat die Zeitschrift „Gesellschaftliche Probleme“ heraus, von der insgesamt 16 Ausgaben erschienen. Unter den Publikationen gab es beispielsweise solche wie „Pflicht und Schuldigkeit“ (über die Erziehung von Kindern im Geiste des Kommunismus) oder „Über die Zwangseinweisung in psychiatrische Krankenhäuser“. Die Experten des Komitees befassten sich nicht nur mit der Theorie, sondern auch mit der juristischen Praxis, indem sie gegen die Entscheidungen der örtlichen Staatsmacht protestierten, wie beispielsweise gegen die wegen „Rowdytums“ verhängte Ordnungshaft für jüdische Refuseniks, das heißt Ausreisewillige, denen die Ausreise verweigert worden war und die eine Demonstration in Riga organisiert hatten. Starke Beachtung in den Publikationen fanden ausländische Dokumente zu Rechtsfragen. Dass das Menschenrechtskomitee mehrere Jahre wohlbehalten überstand, ist in vielem dem Umstand zu verdanken, dass es den Status einer „schöpferischen Assoziation“ besaß, die zu gründen erlaubt war; Nongovernmental Organisations (NGOs) durfte es zur Sowjetzeit nicht geben. Ein Urteil darüber, ob in der UdSSR die Existenz von Bürgerrechtsorganisationen möglich war, kann man sich bilden, wenn man die Geschichte der sow­jetischen Sektion von Amnesty International betrachtet, die 1973 gegründet wurde. 1975 hieß es in einem Bericht des KGB an das Zentralkomitee (ZK) der KPdSU über die Verhaftung des Sekretärs der sowjetischen Sektion, Andrej Twerdochlebow, diese Gruppe sei mit dem Ziel gegründet worden, „die antisow­jetische Tätigkeit einer Gruppe von Abtrünnigen in unserem Land zu legalisieren und nach Möglichkeit nicht strafbar zu machen“.35 Dabei wird eine Liste von „Abtrünnigen“ angeführt, bestehend aus einem korrespondierenden Mitglied sowie regulären und ehemaligen Mitgliedern des Schriftstellerverbandes. In seinem Bericht verschwieg der KGB ein wichtiges Detail: Um Objektivität zu gewährleisten, befasste sich jede Sektion von Amnesty International mit den Problemen politischer Häftlinge anderer Länder, nicht des eigenen (die sowjetische Sektion befasste sich mit Spanien, Jugoslawien und Sri-Lanka). Zugleich bestätigt der Gründer der sowjetischen Sektion von Amnesty International Walentin Turtschin: „Die Tätigkeit von Andrej Twerdochlebow und Sergej Kowaljow zur Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte in der UdSSR und in der ganzen Welt entbehrte nicht nur völlig jeglicher Elemente von Gewalt oder Aufrufen zu Gewalt, sondern hielt sich gänzlich im Rahmen jener strengen Gesetze, die in der UdSSR existieren. Ihre Verhaftung und die ihnen drohenden Haftstrafen unter den äußerst schweren Bedingungen des sowjetischen Strafsystems sind eine Folge der erweiterten Auslegung der Gesetze, bei der jedes Wort einer für die Staatsmacht unangenehmen Wahrheit zur Verleumdung erklärt wird.“36 35 Vlast’ i dissidenty. Iz dokumentov KGB i CK KPSS, Moskau 2006, S. 41–43 (http:// www.bukovsky-archives.net/pdfs/dis70/kgb75-7.pdf; 24.3.2018). 36 Chronika tekuščich sobytij. Vypusk 38, New York 1975, S. 13 f.

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1975 unterzeichneten 35 Staaten, darunter auch die UdSSR, die Schlussakte von Helsinki. Im Mai 1976 wurde auf Initiative von Juri Orlow die Moskauer Helsinki-Gruppe gegründet, deren Ziel es war, der sowjetischen Regierung Unterstützung bei der Umsetzung der Schlussakte zu leisten. Es muss gesagt werden, dass dies nicht allen Mitgliedern der Moskauer Helsinki-Gruppe gefiel. So äußerte Malwa Landa ihre Empörung über die bloße Idee, der Sowjetmacht bei irgendetwas „Unterstützung zu leisten“, wurde jedoch Mitglied der Gruppe, um Verstöße gegen die Menschenrechte noch effektiver offenlegen zu können.37 Die Beteiligung an der Tätigkeit einer solchen Organisation hielt sich im Rahmen der sowjetischen Gesetze, die Staatsmacht war jedoch der Meinung, die Dissidenten würden sich „hinter den Menschenrechten verstecken“, in Wirklichkeit handle es sich um eine Opposition, die vom Westen inspiriert sei und das Ziel verfolge, „die Aufrichtigkeit der Bemühungen der UdSSR hinsichtlich der Erfüllung der Bestimmungen der KSZE-Schlussakte in Zweifel zu ziehen“.38 Als gute Illustration dessen, wie unterschiedlich eine Tätigkeit im Rahmen der Gesetze verstanden werden konnte, kann das letzte Wort vor Gericht des Mitglieds der Moskauer Helsinki-Gruppe Alexander Lawut dienen, der erklärte: „In der Rede des Staatsanwalts hat mir sein erster Satz sehr gefallen: ‚Man muss die sowjetischen Gesetze einhalten.‘ Wenn sie eingehalten würden, wären wir heute nicht hier.“39 Es hatte sich somit ein Paradoxon ergeben, das die Machtorgane selbst nicht spürten: Sie verfolgten diejenigen, denen sie vorwarfen, sie würden „zu Unrecht“ behaupten, in der UdSSR gebe es politische Verfolgung. Die Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem waren nicht klar gezogen. Beispielsweise existierte keine Liste verbotener Texte, lediglich der Zoll hatte eine Liste von Büchern, die nicht in die UdSSR eingeführt werden durften. Ein und derselbe Text, der bei einer Durchsuchung eingezogen wurde, konnte jemandem zur Last gelegt werden oder auch nicht – je nach Ermessen des KGB-Untersuchungsführers, der den jeweiligen Fall zu bearbeiten hatte. Die Liste der Handlungen, an denen die Geheimdienste oder die Parteiorgane etwas zu beanstanden hatten, war sehr lang – sie reichte vom Kirchgang bis zum Umgang mit Ausländern. Etwa eine halbe Million Menschen wurde von 1960 bis 1989 prophylaktisch bearbeitet, das heißt, mit ihnen wurden Gespräche geführt, in denen man sie warnte, ihr Verhalten verstoße gegen die sowjetischen Normen. Natürlich waren die Dissidenten bestrebt, sich gegen eine Verfolgung abzusichern. Beispielsweise galt als Maxime, keinerlei Umgang mit Kriminellen zu haben und sich an die Gesetze zu halten. Wie die bekannte Bürgerrechtlerin Tatjana Welikanowa sagte: „Die Straße muss man immer bei Grün überqueren.“ Außerdem hielten die Dissidenten Vorlesungen im Kreise der Aktivisten,

37 K istorii Moskovskoj Chel‘sinkskoj gruppy, Moskau 2001, S. 74. 38 Vladimir Bredichin (Hg.), Lubjanka – Staraja ploščad’, Moskau 2005 (http://www.­ bukovsky-archives.net/pdfs/dis70/kgb76-3.pdf; 24.3.2018). 39 Zit. nach Alekseeva, Pokolenie ottepeli, S. 212.

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nutzten inoffizielle Konsultationen von Rechtsanwälten (Sofia Kallistratowa und Dina Kaminskaja) und verfassten mehrere Merkblätter, so beispielsweise „Wie man sich bei einer Vernehmung verhält“ (Alexander Jessenin-Wolpin), „Wie man sich bei einer Durchsuchung verhält“ (Wladimir Albrecht) oder „Wie man Zeuge ist“ (Wladimir Albrecht), die unter den Dissidenten große Popularität genossen. Die Dissidenten nutzten gezwungenermaßen auch gewisse Sicherheitsvorkehrungen. Ljudmila Aleksejewa erinnerte sich: „Es hatten sich bestimmte Verhaltensregeln herausgebildet. Wenn du keine Hilfe brauchst, dann erzählst du niemandem, womit du dich gerade beschäftigst. […] Samisdat-Publikationen im Haus eines Kameraden aus dem Kreis der Dissidenten zu lassen, galt als unmoralisch.“40 Eine gute Beschreibung dieses schmalen Grats zwischen offenem Auftreten und Konspiration findet man bei Pawel Litwinow: „Alles, was wir taten, taten wir offen, doch manchmal wollten wir, dass sie etwas erst im Nachhinein erfahren sollten, nicht im Vorfeld. Man kann nicht sagen, dass wir dabei konsequent waren, aber wenn wir eine Vereinbarung über etwas treffen wollten, wie etwa über die Gründung einer Gruppe oder eine Demonstration, waren wir bemüht, zusammenzukommen, ohne dass uns jemand belauschte. Und dann lässt sich das als Konspiration bezeichnen, aber im Prinzip war es keine, weil wir es sowieso öffentlich bekanntgeben wollten. Wir wollten einfach unsere Absprachen und Diskussionen abschließen, bevor der KGB genau wusste, was wir planten.“41

Die Verfassung von 1936 wurde von der Sowjetmacht demagogisch als „die demokratischste Verfassung der Welt“ bezeichnet, es war jedoch nicht vorgesehen, dass die Freiheiten, die in Artikel 125 verkündet wurden, von den „Werktätigen“ tatsächlich genutzt werden durften, noch dazu, wenn die Staatsmacht sie nicht sanktioniert hatte. Sobald sich die Dissidenten bei ihrem Vorgehen auf die Verfassung bezogen, beispielsweise auf das Versammlungsrecht, mussten sich die Machtorgane Umgehungsmanöver ausdenken. Im Herbst 1966 wurden neue Artikel des Strafgesetzbuches der RSFSR eingeführt – „Verbreitung offenkundig falscher Anschuldigungen, die der Verleumdung der sowjetischen Staats- und Gesellschaftsordnung dienen“ und „Organisation von oder aktive Beteiligung an Gruppenhandlungen, welche die öffentliche Ordnung stören“ (im Prinzip ein Artikel gemünzt auf Kundgebungen). Jessenin-­Wolpin, einer der Haupttheoretiker der Bürgerrechtsbewegung, war der Meinung, dass diese Artikel nicht verfassungswidrig seien. Wladimir Bukowski, der eine Protestdemonstra­tion durchführen wollte, widersprach ihm und entgegnete, man müsse ein „juristisches Experiment“ durchführen – wenn die Artikel nicht verfassungswidrig seien, werde niemand festgenommen. Im Ergebnis wurden Bukowski und mehrere Teilnehmer der Demonstration festgenommen und zu unterschiedlichen Freiheitsstrafen verurteilt.42

40 Ebd., S. 252 f. 41 Zit. nach http://www.antho.net/library/yacobson/about/pavel-litvinov.html; 24.3.2018. 42 Vgl. Vladimir Bukovskij, „I vozvraščaetsja veter …“, Moskau 2007, S. 227.

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Die UdSSR als totalitäres Regime verhängte Strafen nicht nur wegen der Verletzung üblicher Normen, sondern auch wegen der Nichteinhaltung offizieller Rituale. So kam man zu den Dissidenten, die nicht zu Wahlen gingen, mit der Wahlurne nach Hause und bat oder zwang sie, dort ihr Votum abzugeben. Auch die Trauerrituale bei verstorbenen Staatsführern mussten eingehalten werden. 1982 wollte man den Studenten Lew Siman von der geologischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität exmatrikulieren, weil er sich auf der Trauerversammlung anlässlich des Todes von Leonid Breschnew geweigert hatte, sich von seinem Platz zu erheben.43 Für viele Dissidenten und dissidentennahe Kreise war es wichtig, die sowjetischen ideologischen Realien nicht zu akzeptieren und sich von ihnen abzukehren. Es war wohl gerade dieses Bestreben, das der Popularität des Tourismus und auch der Liedermacherbewegung zugrunde lag, die sich fast außerhalb der Reichweite der Zensur befand, und kam auch in der Grauzone von Wandzeitungen und Hauskonzerten zum Ausdruck. Die Bewegung der Liedermacherklubs (Kluby samodejatel’noj pesni – KSP), die Tausende von Zusammenkünften organisiert hatte, nahm 1974 der Staat unter seine Fittiche. Einerseits erhielten die Klubs Hilfe vom Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband, andererseits wurde ihre Tätigkeit nunmehr kontrolliert. 1981, nach einer weiten Verbreitung von Fotokopien einer Wandzeitung des Moskauer KSP, die dem Gedenken an Wladimir Wyssozki, einem bekannten Liedermacher, gewidmet war, wurde die Kontrolle wieder verstärkt und die Klubs gingen in einen halblegalen Status über.44 Eine alternative Kultur setzte voraus, dass eine Kulturnorm vorhanden war. Mit dieser verhielt es sich allerdings nicht einfach. Unter dem Pseudonym Abram Terz stellte Andrej Sinjawski Ende der 1950er-Jahre die Frage „Was ist sozialistischer Realismus?“, doch mit der Formulierung einer Antwort tat man sich schwer. Alexander Daniel schrieb: „Man kann natürlich sagen, dass unter dissidente Kunst alles das fällt, was kein sozialistischer Realismus ist, aber dann müssen wir anerkennen, dass der Terminus ‚sozialistischer Realismus‘ einen gewissen Inhalt in sich trägt.“45 Wie Daniel feststellte, waren Künstler (die Gruppe von Lianosow) die ersten, die in eine „Grauzone“ eindrangen, welche die Auslegungsmöglichkeiten erweiterte. Ein analoger Versuch in der Literatur – das berühmte Almanach „Sintaksis“ von Alexander Ginsburg – endete mit der Verhaftung des Herausgebers. Der Anfang war jedoch gemacht. Daniel ist der Ansicht, dass es gerade die

43 Vgl. Chronika tekuščich sobytij. Vypusk 65 (Archiv Meždunarodnogo Memoriala, F. 198). 44 Vgl. http://arzamas.academy/materials/1149; 24.3.2018. 45 Aleksandr Daniėl’, Dissidenty i tvorčestvo. Chudožestvennyj andergraund na fone literaturnogo inakomyslija. In: Raznomyslie v SSSR i Rossii (1945–2008), Sankt Peters­ burg 2010, S. 299.

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Künstler des Untergrunds waren, von denen die Bürgerrechtler (über Andrej Amalrik) mehrere wichtige Mechanismen und Verhaltensmuster übernahmen.46 Die alternative Literatur erhielt zusätzlich ein politisches Gewicht: Russland ist ein literaturorientiertes Land, und wenn etwas nicht in einem Manifest veröffentlicht werden konnte, wurde es eben in einem Gedicht zum Ausdruck gebracht. Deshalb wurde die von Frida Wigdorowa angefertigte Mitschrift des Gerichtsprozesses gegen Joseph Brodsky nicht nur als dokumentarisches Zeugnis, sondern auch als literarisches Produkt angesehen und gelesen. 1973 schrieb der Gründer des Klub-81, Boris Iwanow, über die Aufgaben der inoffiziellen Kultur: „Die Befreiung des Individuums vom autoritären Denk­ typus und von hierarchisch organisierten Beziehungen, das Sichbewusstmachen des eigenen Platzes im Schicksal der Menschheit, die Bestimmung der eigenen Position, die für einen nicht-reglementierten Inhalt offen ist, weil sie ihn für ihr Recht und den Beginn ihrer eigenen Ethik hält.“47 Im Dezember 1977 wurde in Leningrad in der Privatwohnung von Wadim Netschajew und Marina Nedrobowa eine inoffizielle Konferenz mit dem Titel „Die moralische Bedeutung der inoffiziellen Kultur“ durchgeführt, der 1979 eine zweite Konferenz zum selben Thema folgte. Samisdat und offizielle Literatur durchlebten in ihren Wechselbeziehungen mehrere Etappen und befanden sich nicht immer an entgegengesetzten Polen. Ein und dasselbe Werk konnte zwischen offiziellen Veröffentlichungen und Samisdat „wandern“. So begann etwa die Novelle Solschenizyns „ŠČ-854“ ihren Weg aus der Redaktion der Zeitschrift „Novyj mir“ in den Samisdat. Einige Monate später, im November 1962, wurde sie offiziell veröffentlicht (unter dem Titel „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“) und mehrfach nachgedruckt. Im Archiv von Memorial International befindet sich eine Schreibmaschinenkopie der Ausgabe von 1963, die offiziell in einer Auflage von 100 000 Exemplaren erschien. In der Folge von Solschenizyns Verbannung waren alle seine Bücher aus den Bibliotheken entfernt worden. Nach „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ nahm das Interesse an Lagerliteratur stark zu, und Autoren wie Solschenizyn, Jewgenia Ginsburg und einige andere bereiteten ihre Bücher für eine offizielle Veröffentlichung vor, indem sie dem Inhalt einiges an Schärfe nahmen. Nach Chruschtschows Absetzung gab es jedoch keine Hoffnung mehr auf eine Veröffentlichung, und diese Werke füllten nunmehr die Reihen des Samisdat. Das alternative Leben schloss sowohl eine Veröffentlichung im Samisdat als auch das Verfassen von Werken unmittelbar für den Samisdat (dann auch für den Tamisdat) ein. 1978 wurde der nichtoffizielle Andrej-Belyj-Literaturpreis geschaffen, der bis heute verliehen wird. Dabei wurden für die Samisdat-Werke Rezensionen verfasst, man diskutierte über sie, das heißt, es lief ein normaler

46 Ebd., S. 305. 47 Boris Roginskij, Posleslovie. In: Boris Ivanov, Istorija Kluba-81, Sankt Petersburg 2015, S. 488.

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Literaturprozess ab, der lediglich nicht in Bezug zum Staat stand. Hauptzentrum eines solchen Lebens war Leningrad. Die Staatsmacht versuchte, derartige nichtoffizielle Aktivitäten zu kontrollieren. So entstand 1981 in Leningrad der „Klub-81“, der 1985 den Sammelband „Krug“ (Kreis) herausgab. Jede Seite hielt das für ihren Sieg: Für die Schriftsteller war es eine gewisse Anerkennung und die Möglichkeit zur Veröffentlichung ihrer Werke (aber auch ein Schutz gegenüber Vorwürfen, sie seien arbeitsscheu), und für den KGB war es eine bequeme Form, die schöpferische Intelligenzija unter Kontrolle zu halten. Interessant sind die Diskussionen um die Satzung des Klubs. So wurde aus diesem Dokument letztendlich der Punkt entfernt, in dem es hieß, dass man sich an den sozialistischen Realismus als Methode zu halten habe; dafür jedoch war es den Schriftstellern untersagt, offizielle Kanäle zu umgehen, um im Ausland zu publizieren.48 1981 konnten auch die Musiker eine ähnliche Vereinbarung mit dem KGB erreichen, und es entstand der Leningrader Rock-Klub. Wie im Falle der Literaten glaubte auch hier jede Seite, sie habe die andere ausgespielt. Erwähnt werden muss schließlich eine weitere alternative Realität der 1960er- bis 1980er-Jahre – das religiöse Leben. Anfang der 1960er-Jahre erhob die Staatsmacht sehr strenge Forderungen, die eingehalten werden mussten, damit eine religiöse Gemeinschaft registriert werden und funktionieren konnte. Ein Großteil der Protestanten weigerte sich, die Spielregeln anzunehmen und sich registrieren zu lassen. Ljudmila Aleksejewa beschreibt, wie sich „sowjetische“ Protestanten zu verhalten hatten: „Es war verboten, Kinder unter 18 Jahren taufen zu lassen, und oberhalb dieser Altersgrenze war dies erst nach einer strengen zwei- bis dreijährigen Probezeit möglich. Das ‚Neue Reglement‘49 verbot, außerhalb der eigenen Gemeinde zu predigen, und die Gemeinde durfte dies nur in einem Bethaus tun. Es war verboten, Gottesdiensten in anderen Gemeinden beizuwohnen, d. h. die ausgedehnte Kommunikation mit Glaubensbrüdern und -schwestern, durch die sich die Baptisten auszeichneten, war gestört; gestört waren auch die traditionellen Formen dieser Kommunikation – gemeinsame Spaziergänge im Grünen, die Durchführung häuslicher Rituale unter Beteiligung einer großen Anzahl von Glaubensgenossen, häufige Besuche bei anderen usw. Das im ‚Neuen Reglement‘ enthaltene Verbot für die Gemeindemitglieder, gegenseitige Hilfe zu leisten, überließ die Familien verhafteter und wegen der Ausübung religiöser Rituale bestrafter Glaubensbrüder und -schwestern ihrem Schicksal. Das ‚Neue Reglement‘ reglementierte sogar den Ablauf der Gottesdienste, da es zahlreiche Arten von Musikinstrumenten (z. B. Gitarren), die Einladung eines Chores aus der Nachbargemeinde oder den Gottesdienst außerhalb des Gebetshauses verbot.“50

48 Samizdat Leningrada, Moskau 2003, S. 411. 49 Das „Neue Reglement des Allunionsrates evangelischer Christen und Baptisten“, das 1960 verabschiedet wurde, hatte zum Hauptziel, den Proselytismus unter den Erwachsenen und die Taufe von Kindern zu untersagen. Dieses Dokument rief unter den Baptisten kritische Diskussionen hervor, die zur Schaffung unabhängiger BaptistenGemeinden führten. 50 Alekseeva, Istorija inakomyslija, S. 151.

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Ein Hauptproblem war der Mangel an religiöser Literatur, da diese von der Sowjetmacht praktisch nicht herausgegeben wurde. Baptisten und Adventisten richteten zur Vervielfältigung ihrer Literatur Untergrunddruckereien ein, Orthodoxe nutzten seit Anfang der 1980er-Jahre in verstärktem Umfang Kopierer. Der Mangel an religiöser Literatur führte dazu, dass die Gläubigen Texte verwendeten, die von unterschiedlichen christlichen Konfessionen und Glaubensbekenntnissen veröffentlicht wurden. Für das (inoffiziell) wiedererstehende Judentum gründeten die Juden Arbeitskreise zum Studium der heiligen Texte und der hebräischen Sprache, doch die Staatsmacht behinderte die Versuche der Hebräischlehrer, sich als Lehrkräfte registrieren zu lassen. Eine Aufgabe der Dissidentengemeinschaft war es, bei den Menschen ein alternatives Weltbild zu formieren. Wie sich Juri Awruzki, Aktivist einer Samisdat-Bibliothek, erinnerte, wollte man mithilfe von Büchern eine neue, freie Generation von Menschen erziehen. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig, der Frage nachzugehen, wie der intellektuelle Raum aussah, den die Dissidenten „erobern“ konnten (dazu gibt es de facto noch keine Untersuchungen). Die meisten Studien über die Dekabristen wurden von Autoren verfasst, die wie Dissidenten dachten; das Gleiche lässt sich über die Buchreihe „Glühende Revolutionäre“ sagen. Viele Aufsätze des offiziellen „Kleinen philosophischen Wörterbuchs“ wurden nicht von orthodoxen Marxisten verfasst, sondern von Intellektuellen wie Grigori Pomeranz. Eine weitere Form der Abkehr von der sowjetischen Wirklichkeit war die bewusste Wahl eines Berufs, der keinen Bezug zur Ideologie hatte. Dieses Phänomen erhielt die Bezeichnung „Generation der Hausmeister und der Wächter“. So nahmen Dissidenten, denen die Freiheit teurer war als Geld, die am wenigsten angesehenen (und am schlechtesten bezahlten) Arbeiten an. Die intellektuelle Folklore brachte sogar eine Anekdote hervor, in welcher der großartige Schriftsteller Andrej Platonow als Hausmeister in Erscheinung trat (in Wirklichkeit war er das nie). In Leningrad war die Arbeit in einem Kesselhaus am verbreitetsten. 1988 erschien im Leningrader Samisdat sogar ein Almanach mit dem Titel „Topka“ (Feuerraum),51 bei dem alle Autoren einer Arbeit in Kesselhäusern nachgingen. Viele Dissidenten waren aus dem allgemein üblichen sozialen System ausgeschlossen: Sie wurden von der Arbeit entlassen, aus Hochschulen exmatrikuliert, konnten nicht mehr wissenschaftlich tätig sein oder publizieren. Auf irgendeine Weise mussten sie jedoch überleben. Ihre Rettung bestand darin, dass es einen relativ großen Personenkreis gab, der, ohne sich in direkter Opposition zum Regime zu befinden, den Dissidenten auf verschiedene Art half und sie unterstützte. Entlassene Wissenschaftler, denen eine Fortsetzung ihrer

51 Auch Akronym aus den Anfangsbuchstaben von „Tvorčeskoe Ob-edinenie Preslovutych Kotel’nych Avtorov“ (Kreative Vereinigung berüchtigter Autoren aus Kesselhäusern; Anmerkung der Übersetzerin).

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Forschungen versagt war, gründeten Hausseminare, die während der gesamten 1970er- und 1980er-Jahre existierten. Einige von ihnen wurden auch von westlichen Forschern besucht, für die es zum guten Ton gehörte, wenn sie in Moskau an einer offiziellen Konferenz teilnahmen, auch bei inoffiziellen Seminaren vorbeizuschauen. In Moskau gab es vier Seminare: ein Physikseminar von Alexander Woronel, Mark Asbel und Wiktor Brailowski mit dem Titel „Kollektive Phänomene“ (1972–1987), ein Kybernetikseminar von Alexander Lerner (1972–1981), ein Ingenieurseminar von Juli Koscharowski (1974–1976) und ein medizinisch-biologisches Seminar von Igor und Inna Uspenski (1983–1989). Trotz ihrer Politik­ ferne standen die Seminare unter Druck seitens des KGB. 1974 schrieb Juri Orlow über das Seminar von Woronel: „Dieses Seminar ist streng wissenschaftlich. Beschuldigungen, es würde etwas – was auch immer – entfachen, haben keinen Bezug zur Sache, wenngleich sie typisch für die Denkweise der Beschuldigenden sind.“52 Für Juden, die wegen des bestehenden Antisemitismus nicht in mathematisch und physikalisch orientierte Hochschulen aufgenommen wurden, organisierte man Anfang der 1980er-Jahre die Volksuniversität für mathematische Kenntnisse. Diese Universität durchliefen einige Hundert Studierende; einige der Organisatoren gründeten 1992 die Unabhängige Universität, die bis heute existiert. Viele Dissidenten hatten nach ihrer Entlassung mit materiellen Problemen zu kämpfen und waren außerdem gezwungen, sich irgendeine Arbeit zu suchen, da man nach sowjetischen Gesetzen maximal ein halbes Jahr ohne Arbeit sein durfte. Nicht selten erpresste der KGB die Menschen, indem er ihnen versprach, hinsichtlich der Arbeit zu helfen, wenn sie ihre Aktivitäten als Bürgerrechtler einstellen würden. In der Sowjetunion war es verboten, jemanden mit Hochschulbildung für gering qualifizierte Arbeiten einzustellen. Dies schuf zusätzliche Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche. Dennoch fanden sich Organisationen (staatliche, denn private gab es nicht), die keine Angst hatten, Dissidenten einzustellen. Für entlassene Dissidenten sammelten die Kollegen nicht selten materielle Unterstützung oder fanden Privatstunden. Bekannte stellten sie als ihre Sekretäre ein (so war beispielsweise Alexander Ginsburg eine Zeitlang Sekretär von Sacharow), „verliehen“ ihre Namen an sie (wie etwa Okudschawa an Lew Kopelew für dessen Aufsatz über Doktor Haass) oder bestellten literarische Texte bei ihnen. Diese Texte wurden unter dem eigenen Namen veröffentlicht, während der Dissident den Text schrieb und das Geld dafür erhielt. So schrieb beispielsweise Garik Guberman ein Buch für die Reihe „Glühende Revolutionäre“.53

52 Zit. nach https://topos.memo.ru/nauchnye-seminary-otkaznikov-1972-1989-gody; 24.3.2018. 53 Vgl. https://echo.msk.ru/programs/razbor_poleta/2077250-echo/; 24.3.2018.

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Materielle Hilfe benötigten nicht nur entlassene, sondern auch verhaftete Dissidenten und deren Familien. Um 1968 wurde ein Hilfsfonds gebildet, über den Ljudmila Aleksejewa berichtet: „Der Fonds setzte sich aus kleineren monatlichen Einzahlungen zusammen (1 bis 5 Rubel pro Person). Das Geld wurde im Bekannten- oder Kollegenkreis gesammelt und dann – unmittelbar oder in einer festgelegten Reihenfolge – an Einsammler weitergegeben, die sich mit der Zeit herauskristallisiert hatten. Solche Einsammler gab es im Schriftstellermilieu, in Forschungsinstituten, in Hochschulen usw. Auf diese Weise kamen recht bedeutende Summen zusammen, die ergänzt wurden durch unregelmäßige, aber größere Spenden sympathisierender Schriftsteller, Wissenschaftler, Schauspieler u. Ä. Es kam auch vor, dass für politische Häftlinge Geld aus einer Erbschaft übergeben wurde – nicht über ein offizielles Testament, sondern über Vertrauenspersonen.“54

1974 gründete Solschenizyn einen Hilfsfonds für politische Häftlinge und ihre Familien, dessen Verwalter Alexander Ginsburg, nach dessen Tod Malwa Landa, Tatjana Chodorowitsch und Kronid Ljubarski, danach Sergej Chodorowitsch waren. Die Verwalter des Fonds mussten im Untergrund arbeiten. In einer Situa­tion, in der man nichts Heikles schreiben oder in einem Telefongespräch sagen durfte, gab es Dissidentenfamilien, die einen bestimmten Tag der Woche zum öffentlichen Gäste-Empfangstag in ihrer Wohnung erklärten.55 Die von den Dissidenten erarbeiteten konkreten Vorgehensweisen hatten im Rahmen der oben beschriebenen Strategie und Praxis einen recht starken Einfluss auf die heutige Bürgerrechtsbewegung. Mit Beginn der Perestroika begannen sich einige Bürgerrechtler auch politisch zu betätigen: Andrej Sacharow und Gleb Jakunin beispielsweise wurden Abgeordnete des Obersten Sowjets der UdSSR. Ebenfalls Volksabgeordnete wurden auch Personen, die bis dahin eher zu einer Abkehr von der sowjetischen Wirklichkeit geneigt hatten, wie etwa der Philologe Sergej Awerinzew. Später ging – indem er einer Bitte von Sacharow nachkam – Sergej Kowaljow in die Politik und wurde nicht nur der erste Ombudsmann, sondern auch ein aktives Mitglied der Partei „Jabloko“. Heutzutage sind einige Bürgerrechtler gleichzeitig politische Aktivisten; die Arbeit von Bürgerrechts-NGOs vollzieht sich jedoch im Zeichen des Gesetzes „Über ausländische Agenten“, mit dem die Staatsmacht so gut wie alles als politische Tätigkeit ansieht. Viele Teilnehmer der Bürgerrechtsbewegung waren in den 1990er- und 2000er-Jahren aktiv, indem sie Gesetze sowie gesellschaftliche Mechanismen schufen und vervollkommneten (eines der deutlichsten Beispiele ist die Zulassung von „gesellschaftlichen Beobachtern“, die Zutritt zu den Gefängnissen haben). Dissidenten wie Sergej Kowaljow und Kronid Ljubarski beteiligten sich

54 Alekseeva, Istorija inakomyslija v SSSR, S. 228. 55 Vgl. Morev, Dissidenty, S. 258 f.; elektronische Fassung des Interviews mit S. Chodorovič (http://www.colta.ru/articles/dissidents/6247; 24.3.2018).

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aktiv an der Ausarbeitung der Verfassung von 1993, insbesondere des Kapitels 2, das den Rechten und Freiheiten des Menschen gewidmet ist. Anders verlaufen ist hingegen die Biografie einer der bekanntesten Bürgerrechtlerinnen – Tatjana Welikanowa. Sie ging nach 1991 in die Schule, um Mathematik zu unterrichten. Großen Einfluss hatte die Dissidentenbewegung auch auf die professionellen Arbeitsnormen der heutigen russischen Bürgerrechtler. So zum Beispiel im Medienprojekt OVD-Info,56 das Menschen hilft, die bei Demonstrationen festgenommen wurden. Andererseits gibt es in vielen Fällen keine Kontinuität, und die heutigen Aktivisten „erfinden das Fahrrad neu“, wie im Fall der Hilfe für politische Häftlinge.

56 Vgl. https://ovdinfo.org; 24.3.2018. OVD-Info ist ein unabhängiges bürgerrechtliches Medienprojekt in Russland über politische Verfolgungen in diesem Land (Anmerkung der Übersetzerin).

II. Polen

Das politische System der Volksrepublik Polen in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens Tytus Jaskułowski Seit dem Ende der Friedlichen Revolution 1989 wurde die publizistische Debatte der aktiven und ehemaligen Dissidenten, Politiker, Publizisten und Wissenschaftler von der Frage nach dem Zustand des politischen Systems der Volksrepublik Polen geprägt. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand die Funk­ tionsfähigkeit dieses Systems, insbesondere in den letzten Dekaden seines Bestehens.1 Besonders brisant aber waren nicht die dort gemachten Behauptungen, sondern die Tatsache, dass die meisten Antworten oder aufgestellten Thesen mit den politischen Einstellungen, Verdiensten oder Lebenswegen der Diskutanten wenig vereinbar waren. Am kritischsten bewerteten die Funktionsfähigkeit des Systems jene, die es geschaffen, gemanagt bzw. im Jahr 1989 friedlich mit umgebaut hatten, nämlich die höchsten polnischen Geheimdienstler. In den Gesprächen mit ihren osteuropäischen Pendants begannen sie, insbesondere ab 1980, die Situation innerhalb der Staatspartei, der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), vor allem in den ländlichen Regionen sehr kritisch zu bewerten. Die Partei verfüge über keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung und den Betrieben. Und die Berichte über ihre vermeintliche Wiederbelebung seien reine Propaganda. Darüber hinaus verbreitere sich auch die Kluft zwischen der Bevölkerung und dem Sicherheitsapparat.2 Auch das polnische Militär bewertete die Lage kritisch und war der Ansicht, die PVAP bräuchte nach der Einführung des Kriegsrechts mindestens sechs Jahre, um wieder an Bedeutung zu gewinnen.3 Fast genauso bewertete die Lage, allerdings post factum, der frühere US-Politiker, Wissenschaftler und Berater amerikanischer Präsidenten, Prof. Zbig­niew Brzeziński. In seiner Studie aus dem Jahr 1989, in der er qualitativ und quantitativ die Krisensituationen in den kommunistischen Staaten analysierte, bekam Polen die schlechteste Gesamtnote.4 Von 30 möglichen Punkten aus zehn 1 2 3 4

Vgl. Wiesław Władyka, Czym była PRL? Niedokończona debata. In: Polityka vom 15.7.2014. Vgl. Gespräch von Markus Wolf mit dem Direktor des I. Departments, Oberst Fabian Dmowski, im April 1982 (BStU/ZA/MfS HA II/10, Nr. 280, Band 2, S. 304). Notiz aus dem Gespräch mit der Leitung der politischen Hauptverwaltung der polni­ schen Streitkräfte vom 17.–18.2.1982 (BStU/ZA/MfS HA II/10, Nr. 263, S. 103). Zit. nach Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Grundwissen Politik, Bonn 1997, S. 275. Studie von Zbigniew Brzeziński, The Grand Failure. The Birth and Death of Communism in the Twentieth Century, New York 1989.

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Bereichen, wobei die Skala von drei „stimmt zu 100 %“ bis null „stimmt nicht“ reichte, hat die Volksrepublik satte 27 erhalten – die höchste Punktzahl aller sozialistischen Staaten. Bereits 19 Punkte hätten eine sehr schwere Krise bedeutet. Die Drei „verdiente“, wie man sich vorstellen kann, vor allem das politische System als Ganzes. Wenn man nun annimmt, dass diese Thesen der Wahrheit entsprachen, wie wären sie dann zu verbinden mit den anderen Behauptungen, die sowohl vor als auch nach 1989 publiziert wurden? Die PVAP wurde in den neuesten Forschungen nicht nur plakativ als „Maschinerie der Macht“ oder sogar als „Kern des bestehenden politischen Systems“ bezeichnet, sondern auch als „sehr intaktes Nervensystem des ganzen Landes“.5 Den polnischen Geheimdienst hingegen bewertete man im Jahr 2012 als letztes lebendiges Nervensystem der ganzen Volksrepublik. Und die letzte Regierungstruppe, wörtlich die „Equipe“, womit die Generäle Jaruzelski (Parteichef) und Kiszczak (Chef des Innenministeriums) gemeint sind, bezeichnete schon 1988 eine der polnischen oppositionellen und in Frankreich herausgegebenen Zeitschriften gar als „ab und zu ordinär frech, aber immerhin die schlauste [Equipe] in der Gesamtgeschichte der Volksrepublik“.6 Die Autoren jener Formulierungen, also die Wissenschaftler und Politiker, waren ausschließlich mit den oppositionellen Kreisen in Polen verbunden. Wie lässt sich also die gerade dargelegte Diskrepanz erklären? Entspricht sie nur den unterschiedlichen Weltwahrnehmungen der Protagonisten? Entspricht sie der allgemeinen und in Polen enorm präsenten Philosophie, den politischen Gegner entweder zu unter- oder zu überschätzen? Oder belegt sie nur die Behauptung des amerikanischen Polenforschers Prof. Padraic Kenney, der faktisch alle bisherigen theoretischen Bewertungen der Lage Volkspolens infrage stellt? Im Jahr 2015 behauptete er, dass etwa die Arbeiter nicht gegen die Macht des Staates in Polen hätten protestieren können, wenn man sich an jene politischen Theorien halten würde.7 Der Versuch, jene Diskrepanz näher zu beleuchten, steht im Mittelpunkt des nachfolgenden Beitrages. Sein Verfasser vertritt dabei eine These, die im Grunde genommen ebenso paradox zu sein scheint wie die bereits zitierten Meinungen. Nach seiner Einschätzung war das politische System Volkspolens gleichzeitig sowohl fähig als auch unfähig, reibungslos zu funktionieren. Und das, was mit dem System passierte, ließ sich nicht immer mit den Erwartungen der polnischen Machthaber verbinden. Insofern kann man auch danach fragen, ob in der Volksrepublik Polen (VRP) überhaupt ein politisches System vorhanden war. Die Behauptung, dass das politische System scheinbar gegensätzliche Elemente beinhaltete, lässt sich qualitativ schnell belegen. Einerseits hatte die polnische Staatspartei in den 1970er-Jahren fast zehn Prozent der Gesamtbevölke5 6 7

Dariusz Stola/Krzysztof Persak (Hg.), PZPR jako machina władzy, Warszawa 2012, S. 7. Paweł Kowal, Koniec systemu władzy. Polityka ekipy Wojciecha Jaruzelskiego w latach 1986–1989, Warszawa 2012, S. 140. Padraic Kenney, Budowanie Polski Ludowej. Robotnicy a komuniści 1945–1950, War­ szawa 2015, S. 157.

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rung aktiv oder passiv hinter sich.8 Vier Millionen registrierte Parteimitglieder und ihre Familien, das heißt insgesamt acht bis zehn Millionen Personen, die direkt oder indirekt Verbindungen mit der Partei hatten bzw. gewisse ­Privilegien genießen durften, etwa wegen der Parteimitgliedschaft von Verwandten. Auf der anderen Seite stand ab 1980 die Solidarność mit elf Millionen Mitgliedern, von denen ein Drittel auch Parteimitglieder waren.9 Soziopsychologisch gesehen Grund genug, um eine unberechenbare Gestaltung des politischen Systems zu erwarten oder seine Existenz sogar infrage stellen zu können, insbesondere wenn sich innerhalb vieler Familien Parteimitglieder und Sicherheitsbeamte mit Oppositionellen am Sonntagstisch getroffen haben, was übrigens der Verfasser aus eigener Erfahrung belegen kann. Um weitere Analysen plakativer zu machen, ist es notwendig, zuerst eine kompakte Definition des politischen Systems vorzunehmen. Darunter werden die wichtigsten Strukturen der Staatsgewalt sowie die wichtigsten Institutionen eines Staates verstanden,10 also die Staatspartei und das Innenministerium, das die Funktionen des Geheimdienstes sowie der politischen Polizei in sich vereinte. Warum wurden andere Elemente wie das Parlament, die sogenannten befreundeten Parteien bzw. die Regierungsverwaltung nicht einbezogen? Aus theo­retischen und praktischen Gründen: Aus Sicht des politischen Regimes zählten in den sozialistischen Systemen ausschließlich jene Subjekte, die die wahren Entscheidungen treffen und ausführen konnten und gleichzeitig die reale Macht hatten, sich dabei durchzusetzen, notfalls mit Gewalt.11 Diese Kriterien konnten nur die Gremien innerhalb der Staatspartei erfüllen, z. B. das Politbüro und das Innenministerium. Jene Theorie kann auch praktisch belegt werden. Ohne Zweifel konnte etwa das Parlament in der ganzen volkspolnischen Geschichte bemerkenswerte Schritte unternehmen,12 z. B. als mutige christliche Abgeordnete der ZNAK-Gruppe13 gegen Änderungen des Grundgesetzes stimmten, sich für die Rechte der politisch Verfolgten oder gegen die Solidarność-Delegalisierung einsetzten. Allerdings waren jene Schritte genauso symbolisch mutig wie realpolitisch irrelevant, denn das Parlament machte einfach das, was die Partei wollte, zumindest in den wichtigsten Momenten der Geschichte.14     8 Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 350.     9 Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009, S. 576. 10 Janusz Wrona, System polityczny w Polsce w latach 1944–1948. In: Pamięć i Spra­wied­ liwość, 2 (2005), S. 51–70, hier 51; Marcin Trojecki, Legitymizacja ekonomiczna władzy PZPR w dekadzie lat siedemdziesiątych XX wieku. Studium przypadku Zakładów Włókien Chemiczych „Stilon“ w Gorzowie Wlkp., Poznań 2012, S. 3. 11 Ebd. 12 Andrzej Friszke/Maria Skowronek, Koło posłów „Znak“ w Sejmie PRL 1957–1976, Warszawa 2002, S. 143. 13 Zur ZNAK-Gruppe gehörten die Klubs der katholischen Intelligenz, die Zeitschriften „Tygodnik Powszechny“, „Znak“ und „Wieź“, das Verlagsinstitut Znak und der Abgeordnetenzirkel ZNAK. Agnieszka Zagańczyk-Neufeld, Die geglückte Revolution. Das Politische und der Umbruch in Polen 1976–1997, Paderborn 2014, S. 64. 14 Lech Poznański/Emil Utrata, Trzeba się zastanowić. Sejm PRL: Głosy i dokumenty ilustrujące fasadowy charakter „najwyższej“ władzy w Państwie, München 1980, S. 48.

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Außerdem waren die im Parlament vertretenen befreundeten Parteien klein und wurden relativ gut kontrolliert, sowohl durch die PVAP als auch durch den Geheimdienst, und waren, zumindest was die Bauernpartei angeht,15 sehr geizig, was das Anbieten von Privilegien betraf. Erst 34 Jahre nach der Gründung der Partei etwa durften ihre Vertreter die Funktion des Agrarministers übernehmen. Insofern muss man sich auf die zwei realen und nicht die fiktiven Bestandteile des politischen Systems konzentrieren, um dieses verantwortungsbewusst zu analysieren.

Die PVAP und ihre Schwächen Es konnte nicht anders sein, als dass die kommunistische Staatspartei im Mittelpunkt des politischen Lebens Volkspolens stand. Diese durchaus banale und theoretisch richtige Feststellung erklärt aber nicht, warum sich 60 Prozent der Mitglieder der PVAP, die offiziell atheistisch war, 1988 in internen Umfragen als Gläubige deklarierten. Die Person, der alle Parteimitglieder am meisten zutrauten, war der Primas, also das Oberhaupt der Katholischen Kirche Polens. Und 1989 plädierten sogar 71 Prozent der Parteimitglieder für die Einführung des freien Arbeitsmarktes, die offizielle Zulassung und Tolerierung von Arbeitslosigkeit sowie die Streichung der staatlichen Zuschüsse für unrentable Betriebe.16 Insofern ergibt sich die durchaus berechtigte Frage, was für eine Partei die PVAP in den 1980er-Jahren eigentlich war. Die erste Antwort lautet: Sie war einfach fremd. Sowohl für die Gesellschaft als auch als Bestandteil des politischen Systems. Insofern musste sie sich mit jenem Fremdsein auseinandersetzen. Künstlich gegründet, legitimiert zuerst nur mithilfe der Stärke der sowjetischen Truppen,17 zwangsvereinigt mit den traditionsreichen polnischen Sozialisten, hatte die PVAP von Anfang an keine Chance, eine eigene Identität zu etablieren. Zumal die erste Gründungsphase damit verbunden war, die bestehenden politischen Identitäten,18 etwa der anderen Parteien, vergessen zu machen. Auf diese Weise konnte man keine eigene Tradition schaffen, da einfach die Glaubwürdigkeit fehlte.19 Obendrein nahm man in der Partei die meisten gesellschaftlichen Traditionen an, die man zumindest theoretisch bekämpfen wollte, etwa die geduldete Religiosität. Um eine unerreichbare Glaubwürdigkeit zu erreichen, wandelte sich die Partei also von einer ideologischen Organisation zu einer zynischen Regierungsmaschine15 Dieter Bingen/Krzysztof Ruchniewicz (Hg.), Länderbericht Polen, Bonn 2009, S. 93. 16 Tytus Jaskułowski, Die friedliche Revolution in der DDR und Polen 1989–1990. System­ umbrüche im Vergleich. In: Orbis Linguarum, 33 (2008), S. 193–211, hier 200. 17 Jarosław Pałka/Jerzy Pokosiński, Michał Żymierski 1980–1989, Warszawa 2015, S. 243. 18 Krystyna Kersten, The Establishment of Communist Rule in Poland, 1943–1948, Berkeley 1991, S. 285. 19 Paul Lewis, Political Authority and Party Secretaries in Poland, 1975–1986, Cambridge 1989, S. 14.

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rie, deren eigene Mitglieder zwar daran gewöhnt waren, parteikonforme Feste und Bräuche zu pflegen, allerdings nur, um die eigene soziale Position zu bewahren. Parteizugehörigkeit bedeutete in Polen also nie Gehorsam,20 auch weil die soziale Struktur maßgeblich durch den Zweiten Weltkrieg geprägt wurde. Erstens überlebten bestimmte soziale Schichten, etwa die Intelligenz, die Besatzungszeit nicht.21 Diejenigen, die überlebt hatten, waren entweder extrem zynisch und wollten um jeden Preis einen guten Lebensstandard erreichen, oder sie sind aus überidealistischen Gründen in die Partei eingetreten, weil sie glaubten, eine neue, gerechte Welt aufbauen zu können. Die Partei bot Chancen für den sozialen Aufstieg, der aber trug dazu bei, die Tatsache zu verstehen, dass es keine neue, gerechte Welt geben konnte, was 1956 zur ersten großen Wende in Polen führte. Aus marxistischer Sicht war die PVAP für das politische System also verloren. Bis 1956 galt sie ohne Zweifel als stalinistisch, obwohl die ersten Streiks und Arbeiterproteste am Ende der 1940er-Jahre in Łodź ihre Schwäche deutlich gezeigt hatten und bewiesen, dass die noch existierenden Sozialisten (Polska Partia Socjalistyczna – Polnische Sozialistische Partei, kurz PPS) und Kommunisten (Polska Partia Robotnicza – Polnische Arbeiterpartei, kurz PPR), wie 1947 in Breslau, zusammen Lynchjustiz üben konnten, weil sich in einigen Fabriken die parteikonforme Direktion entschieden hatte, religiöse Bilder entfernen zu lassen, die die Belegschaften aus eigenen Mitteln finanziert hatten.22 Die bereits erwähnte politische Wende des Jahres 1956 hätte dazu beitragen können, die Partei von unten zu demokratisieren, was wiederum dazu hätte führen können, ihre demokratische, also marxistisch gesehen kaum akzeptable Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Dies wollte aber die im Zuge der Revolte neu gegründete Parteiführung selbstverständlich nicht,23 was schließlich zu weiteren Umbrüchen in den Jahren 1968 und 1970 führte. Ab 1970 wollte die PVAP technokratisch sein und setzte dabei auf die nach dem Krieg geborene Mitgliedergeneration, die einfach gut verdienen und leben wollte. Fehler in der Wirtschaftspolitik haben jedoch dazu geführt, dass wieder die Partei zum Sündenbock erklärt und ab 1980 faktisch als vorhandenes, aber wenig plausibles Karrieremittel24 wahrgenommen wurde. Der einzige Vorteil der bereits

20 Vgl. Protokoll über die Besprechung über die Lage in Polen am 24.10.1980. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1980, München 2011, Band 2, S. 1556. 21 Łukasz Kamiński, Intelektualiści polscy wobec władzy 1945–1948. In: Wojciech Wrzesiński (Hg.), Wrocławskie studia z historii najnowszej, Wrocław 2001, Band 8, S. 189–195, hier 191. 22 Kenney, Budowanie, S. 245. 23 Bogdan Szajkowski, Marxist Governments: A World Survey, Volume 3: Mozambique – Yugoslavia, Cardiff 1981, S. 560. 24 Piotr Brzeziński, Agonia „przewodniej siły“. Kryzys PZPR w latach osiemdziesiątych na przykładzie Gdańska i Gdyni. In: Pamięć i Sprawiedliwość, 2 (2011), S. 103–127, hier 106.

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­erwähnten Entwicklung bestand darin, dass die vollständig desillusionierte und ständig alternde Partei, wenn auch nicht die ganze Gesellschaft, alles hinnehmen musste, um finanziell zu überleben. Auch die Demokratisierung, die Einführung der freien kapitalistischen Wirtschaft sowie Kompromisse mit der Opposition Anfang 1989 wurden hingenommen. Im Jahr 1987 war das typische Parteimitglied bereits 47 Jahre alt.25 Die zweite Antwort erschließt sich aus der extremen institutionellen Schwäche der PVAP. Selbstverständlich hatte sie ca. 20 000 hauptamtliche Funktionäre. Ebenso richtig ist, dass die meisten Ämter ohne Parteigenehmigung nicht zu besetzen waren. Die PVAP entschied selbst, wie viele Zuschüsse sie vom Staat bekommen durfte. Andererseits haben jene Funktionäre im Jahr 1987 nur 106 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verdient. Dazu kam die Tatsache, dass im Haushaltsjahr 1981 die Mitgliedsbeiträge nur ein Drittel des eigenen Etats decken konnten. Im Jahr 1988 waren es gerade einmal 10 Prozent. Außerdem gingen bis zum Ende des Jahres 1986 mehr als 25 Prozent der hauptamtlichen Parteimitarbeiter in Rente.26 Konnten so schlecht bezahlte oder bereits desillusionierte Mitglieder27 also zu überzeugten Parteiarbeitern werden? Eher nicht. Vor allem im Jahr 1989 konnte man dies im Ausland beobachten. Externe Wahlkreise – in den Botschaften, aber auch in den VEBs, in denen polnische Werktätige arbeiteten, auch im Nahen Osten, und wo die Parteitreue bzw. inoffi­zielle Mitarbeit mit Sicherheit vorausgesetzt wurde, um die gut und in Devisen dotierte Stelle zu bekommen – registrierten die vollständige Niederlage der PVAP in den ersten halbfreien Wahlen, die in einigen Fällen sogar größer war als in Polen selbst.28 Die dritte Antwort lautet, dass die PVAP intern alles andere als stabil war. Genau das Gegenteil der uniformen ostdeutschen sozialistischen Einheitspartei. Kein einziger der sieben Ersten Sekretäre schaffte es, bis zum Ende seiner ersten Amtsperiode zu regieren,29 was die Kohärenz des ganzen Systems faktisch unmöglich machte. Diese Kohärenz wurde zusätzlich von den üblichen Säuberungen innerhalb der Parteiverwaltung nach der Einführung des neuen Parteichefs negativ beeinflusst. Etwa 56 Prozent der Mitglieder des Parteiapparates auf dem Land, ausgewechselt nach dem Ende des Kriegsrechts 1983, waren

25 Ośrodek Badania Opinii Publicznej (Hg.), Pamięć po PZPR. W pięćdziesiątą rocznicę powstania Polskiej Zjednoczonej Partii Robotniczej, Warszawa 1998, S. 2. 26 Marcin Żukowski, Wybrane aspekty dotyczące PZPR w latach 1948–1990 (liczebność, skład społeczny, dewizowe składki członkowskie i nomenklatura kadr). In: Komunizm: system-ludzie-dokumentacja, 2 (2013), S. 126. 27 Jacqueline Hayden, The Collapse of Communist Power in Poland: Strategic Misper­ ceptions and Unanticipated Outcomes, London 2006, S. 3. 28 Was die im Jahr 2014 veröffentlichten Dokumente des polnischen Außenministeriums belegen (https://www.msz.gov.pl/pl/ministerstwo/historia/wydarzenia/wybory_1989; 13.12.2016). 29 Jerzy Eisler, Siedmiu wspaniałych. Portrety pierwszych sekretarzy KC PZPR, Warszawa 2014, S. 21.

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nicht länger als fünf Jahre in der Partei. Nur die Hälfte durfte eine Parteischule besuchen.30 Das Ganze führte dazu, dass der Gehorsam gegenüber der Zentrale zurückging, genauso wie die relativ große Zahl der Parteiausschlüsse, die z. B. im Jahr 1982 bei 25 000 lag.31 Eine weitere Folge war, dass auch aus Sicht der Mitglieder jene Zentrale zum Feind geworden war, und zwar in jeder Hinsicht. Die Arbeiterschaft hatte jahrelange Erfahrung mit dem Arbeitskampf gegen die „Kapitalisten“. In der Volksrepublik hatte die Partei ihre Rolle übernommen und konnte deswegen keinesfalls den Bund zwischen sich selbst und den Arbeitern verwirklichen. Verkörpert durch das Politbüro war sie zum Gegner geworden, auch für Parteimitglieder, was vor allem aus Sicht einiger Erster Sekretäre, wie Jaruzelski, ganz bequem war: Die Partei konnte schlecht sein, musste es ab und zu auch. Er hingegen stellte sich als der gute und gleichzeitig strenge General/Parteisekretär dar, was natürlich bedeutete, dass keine Stabilität erreicht werden konnte, ohne das System abzuschaffen. Und in der Tat lautete einer der internen Aufträge Jaruzelskis an die Geheimdienstanalytiker in den 1980er-Jahre, zu überlegen, ob die Auflösung der PVAP Sinn hätte,32 vor allem weil die unzufriedenen Parteimassen bescheidene, aber immerhin vorhandene Profite von ihrer Mitgliedschaft erwarteten. Sie wollten aber gern jene Profite behalten, auch nach der Parteiauflösung, was de facto erst durch die wirtschaftliche Transformation des Jahres 1989 und nach dem Ende der PVAP Wirklichkeit wurde.33 Der Erfolg des Systems war also im Grunde genommen gleichbedeutend mit dessen Ende. Letzten Endes war die Parteigeschichte mindestens seit 1956 eine Geschichte der liberalen und konservativen Fraktionskämpfe, die die Mitglieder und Gremien der PVAP zusätzlich beeinflussten bzw. schwächten,34 aber auch dazu beitrugen, ein gewisses Demokratie- und Politikverständnis zu entwickeln, das bis heute in der bipolaren Trennung der polnischen Politik zu beobachten ist. Die vierte Antwort unterstellt der PVAP Naivität, die in dem Versuch mündete, parallele Welten dauerhaft zu verbinden. Dieser Begriff, benutzt von Prof. Andrzej Friszke, wird mit einem Zitat von Parteichef Edward Gierek belegt. In den 1970er-Jahren sagte Letzterer offen während einer Versammlung: „Bitte verlangen Sie nicht die gleiche Demokratie für sich und für ihre Feinde.“35 Doch das war faktisch der Fall. Die Privatwirtschaft war klein, aber sie funktionierte. Die Opposition und die Kirche wurden verfolgt, doch sie existierten. Wenn

30 Stola/Persak (Hg.), PZPR, S. 97. 31 Bartłomiej Gąsiorowski, Kształtowanie się składu ilościowego i składu klasowowarstwowego PZPR w latach 1948–1985. Analiza tendencji, Warszawa 1987, S. 155. 32 Andrzej Garlicki, Karuzela. Rzecz o Okrągłym Stole, Warszawa 2004, S. 37. 33 Herbert Kitschelt, Post-Communist Party Systems: Competition, Representation, and Inter-Party Cooperation, Cambridge 1999, S. 98. 34 Piotr Gajdziński, Gierek. Człowiek z węgla, Poznań 2014, S. 135 ff. 35 Andrzej Friszke, Polska. Losy Państwa i Narodu 1939–1989, Iskry, Warszawa 2003, S. 313.

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man das funktionsfähige Monopolsystem der Partei behalten wollte, trugen jene Doppelwelten dazu bei, die Partei aus dem politischen Leben zu eliminieren, auch weil die prinzipiell vorhandene Reisefreiheit sowie das Westfernsehen in der DDR eine reale Alternative zeigten. Die PVAP hatte also der Gesellschaft, aber auch ihren eigenen Mitgliedern ab 1980 faktisch immer weniger anzubieten, nicht nur was die Profite angeht, sondern auch und vor allem in puncto Macht und Geld. Und wenn die Staatspartei nicht die wahre Macht und vor allem kein Geld anbieten konnte, verlor sie ihre Existenzgrundlage. Alle bereits erwähnten Antworten und Indizien hätten theoretisch zumindest im Jahr 1980 die vollständige Niederlage der Partei sowie des ganzen Systems bedeuten können. Der Staat jedoch, konfrontiert mit der großen Solidarność, wurde, zumindest rein politisch gesehen, nicht geschlagen. Mehr noch, die Einführung des Kriegsrechts im Jahr 1981 hat die Opposition und die Gesellschaft für Jahre paralysiert.36 Dies war ein Effekt der zweiten, intakten Seite des politischen Systems, die nicht nur die „bewaffneten Organe“ vertraten.

Geheimdienst, Militär und ihre Stärken Die erste Frage, die bei der Analyse des polnischen Sicherheitsapparates gestellt werden kann, ist die, ob es überhaupt möglich ist, ihn als intakte Einheit zu beschreiben. Wie bei der Parteimitgliedschaft wurden die materiellen Vorteile37 im polnischen Geheimdienst betont, und zwar sowohl seitens der Bewerber als auch seitens der Werbungsoffiziere,38 die sie als Grund dafür nannten, dort gedient zu haben. Außerdem waren die polnischen Geheimdienste personell und logistisch kaum vergleichbar mit den anderen osteuropäischen Diensten, etwa mit dem MfS. Auch nicht mit ihrem ideologischen Feind, etwa der Solidarność oder der Opposition insgesamt, weder qualitativ noch quantitativ. In der Geschichte der VRP leiteten insgesamt neun verschiedene Personen das Innenministerium (Ministerstwo Spraw Wewnętrznych – Ministerium des Innern, kurz MSW). Stets handelte es sich dabei um aktive Politiker, die im Mittelpunkt der wichtigsten innenpolitischen und innerparteilichen Turbulenzen standen,39 sei es als Gewinner oder Verlierer. Grundsätzlich bedeutete jede Änderung an der Staats- und Parteispitze gleichzeitig einen Wechsel an der Spitze der Geheimdienste, sehr oft mit mehr oder weniger präparierten Säuberungen

36 Natalia Pych/Dominika Szczęsna/Martyna Wrona, Ballada o stanie wojennym, War­ szawa 2012, S. 189. 37 Antoni Dudek, Reglamentowana rewolucja. Rozkład dyktatury komunistycznej w Polsce 1988–1990, Kraków 2005, S. 285. 38 Barbara Stanisławczyk/Dariusz Wilczak, Pajęczyna. Syndrom bezpieki, Poznań 2010, S. 62. 39 Konrad Rokicki/Robert Spałek, Władza w PRL. Ludzie i mechanizmy, Warszawa 2011, S. 293.

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und Prozessen gegen ehemalige Offiziere. Eine ähnliche Situation lässt sich in der 40-jährigen Geschichte der DDR nur dreimal verzeichnen. In der VRP hingegen wiederholte sie sich beinahe alle sechs Jahre, und zwar als Folge der ebenso regelmäßig stattfindenden gesellschaftlichen Proteste. In den 1970er- und 1980er-Jahren erschütterten das MSW Finanzskandale, die für interne personelle Machtkämpfe genutzt wurden.40 Die dienstliche Loyalität war nicht ausgeprägt und wurde ausschließlich unter dem Blickwinkel persönlicher Interessen betrachtet. Der Anteil der Parteimitglieder im Innenministerium ging bereits seit 1957 kontinuierlich zurück: in den Bezirksverwaltungen bis zum Jahr 1986 von 92 auf 78 Prozent, in der gleichen Periode auf zentraler MSW-Ebene von 73 auf 65 Prozent.41 Ideologie wurde „im Dienst“, wie in der Partei, zu einem Ritual, und zwar ohne jegliche inhaltliche Bedeutung außerhalb von Propagandazwecken, es sei denn, dass die Parteizugehörigkeit die Voraussetzung für eine aus finanziellen Gründen lukrative Auslandsreise darstellte. In den 1970er- und 1980er-Jahren machten viele Funktionäre vor allem in der Provinz große illegale Finanzgeschäfte.42 Zudem arbeiteten einige Offiziere des Sicherheitsdienstes mit der demokratischen Opposition zusammen.43 Des Weiteren lebte und diente die Mehrheit der Aufklärungsoffiziere lange genug im „kapitalistischen Ausland“, um zu wissen, dass Polen, wenn es wirtschaftlich auf diese Weise geführt wird, keine Chance hat, langfristig zu überleben. Die Stärken des Geheimdienstes und Militärapparates lagen vor allem in der Arbeitsphilosophie. Die Hauptaufgabe des volkspolnischen Geheimdienstes bestand darin, zu überleben und möglichst viel zu kontrollieren. Niemand aber erhob Ansprüche, in der VRP ein dem MfS ähnliches Ministerium aufzubauen; nicht nur, weil seine Ziele hier kaum durchsetzbar, sondern auch, weil sie finanziell nicht zu realisieren waren. Zweitens, je schwerer die Krisen waren und je öfter sie vorkamen, desto besser funktionierten die Geheimdienste. So wurde 1980 im Innenministerium unter Leitung des neuen Ministers Kiszczak eine Reform des Informationssystems umgesetzt, pathologisches Verhalten beschränkt, etwa Einstellungen innerhalb von Familienclans, und eine Personalkonsolidierung durchgeführt. Das Wichtigste aber war, dass alle bereits erwähnten Schritte im Rahmen eines spezifischen Outsourcing-Prozesses realisiert wurden. Was heißt eigentlich Outsourcing? Ab 1980 bildeten Militärs die neue Staatsspitze, die zwar Parteimitglieder waren, aber aus Sicht der Partei- und Geheimdienstverwaltung Fremde darstellten. Diese beseitigten alle aus Sicht der ­Staatspartei bekannten Schwächen auf dem ­militärisch-sicherheitspolitischen

40 Jerzy Morawski, Złota afera, Warszawa 2007, S. 30; Piotr Gontarczyk, Raport z działalności Komisji powołanej do wyjaśnienia charakteru operacji kryptonim „Żelazo“. In: Glaukopis, 7 (2006), S. 233–271, hier 233. 41 Kamiński/Persak/Gieseke, Handbuch, S. 284. 42 Sylwester Latkowski, Polska mafia, Warszawa 2011, S. 157. 43 Katarzyna Skrzydłowska-Kalukin, Gajka i Jacek Kuroniowie, Warszawa 2011, S. 92.

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Gebiet. Allerdings blieben bürokratische Probleme bestehen, wie etwa die ­unklaren Kompetenzen der Parteispitze und der Regierung. Aber ab 1980 waren faktisch nur drei bis vier Personen in der Lage, Entscheidungen zu treffen.44 Partei und Staatsapparat wurden einfach ignoriert – seit Oktober 1981 auch ganz formell, dank der sogenannten militärischen Operationsgruppen, die das ganze politische System kontrollieren konnten. Zwar wuchs die Parteibürokratie auch weiterhin, aber sie war machtlos,45 ebenso wie alle Flügel und Gruppierungen in der Partei. Wie im Militär zählte ab 1980 nur Gehorsam. Im Grunde genommen war er einer der Hauptgründe dafür, dass in Polen 1981 das Kriegsrecht eingeführt wurde. Die Partei und das politische System insgesamt waren geschwächt. Man musste also durch eine gewaltvolle, aber auch perfekt organisierte Taktik der Gesellschaft beweisen, dass der Staat nach wie vor intakt war. Man wollte auch deutlich zeigen, dass die Annahme, dass in Polen alle Postulate durch Proteste oder Streiks zu erreichen seien, falsch war. Genau das wurde erreicht, und zwar dank der homogenen und loyalen Truppen des Militärs, die ab 1980 die wichtigsten Ämter zugesprochen bekamen. Sie und die Sicherheitsleute kämpften inzwischen um ihre eigene Welt, die kaum etwas mit der Solidarność zu tun hatte. Deshalb waren sie so erfolgreich. Aber auch, weil sie mit ihrer Entschlossenheit de facto eine Alternative vorgestellt hatten, die die sehr aufgeregte und nicht immer kühl agierende Solidarność-Spitze nicht schlagen konnte. Immerhin behaupteten in einer geheimen Umfrage aus dem Jahr 1984 über 55 Prozent der Befragten, dass die Einführung des Kriegsrechts die richtige Entscheidung war. Im Jahr 2001 teilten immer noch 51 Prozent der Befragten jene Meinung.46 Es wäre falsch, die Machtübernahme durch die Generäle Jaruzelski und Kisz­ czak automatisch als Beginn einer Diktatur zu bezeichnen. Vielmehr handelte es sich um eine aufgeklärte Diktatur. Militärs schätzten die Rolle der Aufklärung und verlangten eine offene und desillusionierte Berichterstattung über die Lage im Lande sowie die Stimmung in der Gesellschaft, was etwa Edward Gierek, also einer der Vorgänger Jaruzelskis, rundheraus abgelehnt hatte. Der größte Verdienst seiner Politik, vor allem ab 1985, war die zur Kenntnisnahme, dass ihre früheren Ideen irrelevant wurden und dass eine grundlegende Demokratisierung nötig ist, auch wenn sie zuerst nur als Experiment vorgesehen war.47 Mehr noch, er akzeptierte keine Claqueure in seinem Beraterkreis, was im Sozialismus untypisch war. Ebenso untypisch wie die Empfehlungen des Geheimdienstes,

44 Mirosław Szumiło, Kierownictwo Polskiej Zjednoczonej Partii Robotniczej w latach 1986–1990. Szkic do portretu. In: Pamięć i Sprawiedliwość, 2 (2011), S. 129–149, hier 130. 45 Vgl. Gespräch des Bundesminister Genscher mit dem polnischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Rakowski am 30.12.1981. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1981, München 2012, Band 3, S. 2091. 46 Vgl. http://www.newsweek.pl/polska/sondaz--wiekszosc-polakow-za-stanem-wojennym, 85559,1,1.html; 13.12.2016. 47 Kowal, Koniec systemu, S. 103.

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der vorschlug, nicht nur das Land zu öffnen und mit der Solidarność zu sprechen, sondern auch eng mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten.48 Die Verbindung der schwachen Partei mit dem funktionierenden Sicherheitsapparat und mit der pragmatischen Führung trug dazu bei, die tatsächliche Lage zu verstehen und Reformprojekte zu beschleunigen. In den letzten zehn Jahren der Volksrepublik Polen wollte man also das reparieren, was seit 1944 de facto nicht funktionierte. Dies gelang, weil man Gespräche am Runden Tisch vorschlug, die nicht nur in den oppositionellen Kreisen als politische Lösung infrage kamen, sondern auch von den analytischen Gruppen innerhalb der Regierung bzw. des Geheimdienstes in Erwägung gezogen wurden. Diese Gespräche waren einerseits das Ergebnis langer inoffizieller Vorverhandlungen und andererseits eine Folge der konkreten gesellschaftlichen und parteiinternen Stimmung. Sie wurde bereits angesprochen. Trotzdem sollte man weitere Informationen hinzufügen, die aus den von Jaruzelski immer gern gelesenen geheimen soziologischen Umfragen stammten: Im Jahr 1986 vertraten nur 28 Prozent der Parteimitglieder die Meinung, dass sich die Staatspartei um die Arbeiterklasse kümmerte. Aber gleichzeitig schenkten auch 40 Prozent der befragten Bürger der Opposition kein Vertrauen. Und der Grad des sozialen Optimismus erreichte im Jahr 1987 lediglich 40 Prozent. Dazu muss man wissen, dass damals nach Meinung der Soziologen Werte unter 20 Prozent einen gesellschaftlichen Umbruch, wenn nicht gar eine Revolution bedeuteten.49 Im gleichen Jahr schlugen parteinahe Wissenschaftler Jaruzelski sogar eine künstliche Gründung neuer christlicher Parteien vor,50 um die Solidarność zu zersplittern, was an der PVAP-Spitze verständlicherweise Empörung hervorrief. Das Ganze war ein Beleg dafür, dass das politische System Volkspolens im Grunde genommen nichts anderes war als das Spielfeld des Parteivorsitzenden. Das Ziel des Spiels lag damals nicht darin, Politik zu betreiben, sondern Bedürfnisse zu befriedigen. Bedürfnisse der bereits 1970 privatisierten und wenig hoffnungsvollen Staatspartei sowie Bedürfnisse der Gesellschaft. Doch das System konnte dieser Aufgabe bis 1989 nicht gerecht werden. Deswegen musste es abgeschafft werden, was der polnische Innenminister selbst ziemlich genau vorhersah. Während eines Gespräches mit Erich Mielke – unmittelbar nach der Einführung des Kriegsrechts – unterstrich er, dass man Polen auf lange Sicht nicht durch Waffengewalt regieren könne. Daher benötige man zwei bis drei Jahre, um eine Stabilisierung der Wirtschaft zu erlangen. Diese und grundlegende personelle Veränderungen würden einen bis zum Ende der 1980er-Jahre wieder an ­Glaubwürdigkeit g­ ewinnen lassen und eine Demokratisierung des Landes sichern.51

48 Zbigniew Siemiątkowski, Wywiad a władza. Wywiad cywilny w systemie sprawowania władzy politycznej PRL, Warszawa 2010, S. 323. 49 Friszke, Polska, S. 441. 50 Kowal, Koniec systemu, S. 117. 51 Tytus Jaskułowski, Przyjaźń, której nie było. Ministerstwo Bezpieczeństwa Państwowego NRD wobec MSW 1974–1990, Warszawa 2014, S. 142.

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Darf man also das politische System Polens nur als reine Fiktion beschreiben? Bedeutet die Haltung Jaruzelskis, dass die Gespräche am Runden Tisch ein glatter Erfolg für die Partei waren? Sicherlich nicht.52 Aber auf der anderen Seite war das 1989 neu gewählte halbdemokratische Parlament eine der besten Legislativen in der polnischen Geschichte und bekommt von allen Parlamenten im freien Polen die besten Noten. Es bereitete im Rekordtempo kompetente und richtige Gesetze vor, die eine Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der polnischen Reformen der 1990er-Jahre waren. Die alte Parteiverwaltung versagte zwar komplett, was einer der Gründe dafür war, dass General Kiszczak nach den Gesprächen am Runden Tisch keine Regierung bilden konnte. Dieselbe Verwaltung führte aber auch die einzigartige Wirtschaftsreform von Ministerpräsident Balcerowicz durch und musste in Bezug auf die außenpolitischen Herausforderungen Polens in der Zeit der Wende, etwa beim deutschen Wiedervereinigungsprozess, die Interessen der Republik Polen vertreten und verteidigen. Bis 1998 bestanden über 70 Prozent der Wirtschafts- und Finanz­ eliten aus Personen, die in der Wirtschaft des alten Systems leitende Funktio­ nen innegehabt hatten.53 Die Regierung Mazowieckis, obwohl nicht völlig demokratisch, wird als beste Regierung der polnischen Zeitgeschichte bewertet.54 Dazu hat auch, obgleich unbewusst und teilweise auch ungewollt, das politische System Volkspolens beigetragen.55 Ebenso ist es dafür verantwortlich, dass die schwache politische Kultur auch nach 1989 und das instabile Parteiensystem der Dritten Republik fortbestand.

52 Vgl. Atsushi Ogushi, The Demise of the Soviet Communist Party, London 2007, S. 152. 53 Maria Jarosz, Macht, Privilegien, Korruption. Die polnische Gesellschaft 15 Jahre nach der Wende, Wiesbaden 2005, S. 31. 54 Janina Paradowska, Urodzeni 4 lipca. In: Polityka vom 3.7.1999, S. 4. 55 Tytus Jaskułowski, Polen: Erfolge und Misserfolge der ersten osteuropäischen Trans­ formation 1989. In: Clemens Vollnhals (Hg.), Jahre des Umbruchs. Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa, Göttingen 2011, S. 47–61, hier 57.

„Sozialwirtschaftliche Entwicklung“ in der Zeit der Krise. Die volkspolnische Sozialpolitik in den 1980er-Jahren Patryk Wasiak* Im Folgenden sollen die wichtigsten Voraussetzungen der polnischen Sozialpolitik der 1970er- und 1980er-Jahre dargestellt sowie ihre praktische Implementierung untersucht werden. Besonders relevant ist dabei die Analyse des Einflusses jener Politik auf das soziale Leben in der Volksrepublik und die wirtschaftlichen Probleme des Landes in den 1980er-Jahren, vor allem im Zusammenhang mit dem Lebensstandard der Bürger. Nur wenn man die sozialpolitischen Voraussetzungen mit den tatsächlichen sozialökonomischen Prozessen innerhalb der Volksrepublik Polen (VRP) vergleicht, kann man besser verstehen, wo der staatliche Apparat im Staatssozialismus bei den Bemühungen, die geplanten sozialpolitischen Ziele zu erreichen, an seine Grenzen stieß. In allen sozialistischen Staaten war das hoch entwickelte System der Sozial­ politik eines der wichtigsten Instrumente, um gesellschaftliche Loyalität zu gewährleisten und einen symbolischen Gesellschaftsvertrag herzustellen.1 Die Staatsmacht erwartete, zumindest theoretisch, aktives bürgerliches Engagement im sozialistischen Politikprojekt. Als Gegenleistung bot sie die Gewähr, eine ebenso theoretisch bestimmte Lebensqualität genießen zu dürfen und Bedürfnisse befriedigen zu können. Dies wurde am deutlichsten in der Propagandasprache der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), wo etwa „Arbeit und Teilnahme der Bürger am sozialpolitischen Leben des Landes“ verlangt wurde. Allerdings genügten der Partei schon Aktivitäten in den politischen Ritualen. Wenn man außerdem sieht, welche sozialpolitischen Postulate in den 1980er-Jahren öffentlich präsentiert wurden und wie die Politik in der Zeit der politischen Krise und nach der ersten Solidarność-Revolution der Jahre 1980/81 * 1

Übersetzt aus dem Polnischen von Tytus Jaskułowski. Dorottya Szikra und Béla Tomka beschreiben in ihrem Werk den historischen Abriss der Sozialpolitik Mitteleuropas: dies., Social Policy in East Central Europe: Major Trends in the Twentieth Century. In: Alfio Cerami/Pieter Vanhuysse (Hg.), Post-Communist Welfare Pathways. Theorizing Social Policy Transformations in Central and Eastern Europe, New York 2009, S. 17–34. Leider ist die Sozialpolitik der sozialistischen Staaten sehr selten ein separates Thema wissenschaftlicher Abhandlungen. Die wichtigste Arbeit über den Sozialismus als ein „Welfare-State“-Projekt ist das Buch von Manfred G. Schmidt und Gerhard A. Ritter, The Rise and Fall of a Socialist Welfare State. The German Democratic Republic (1949–1990) and German Unification (1989–1994), Berlin 2013.

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umgesetzt wurde, weiß man, dass der bereits erwähnte Gesellschaftsvertrag wegen der oben genannten Umstände nicht mehr funktionierte.2 Als Sozialpolitik definiert man ein durch die öffentliche Gewalt realisiertes Bündel von langfristigen Maßnahmen, die dazu beitragen, soziale Bedürfnisse zu befriedigen und gesellschaftliche Probleme zu lösen. Insofern war eines der Schlüsselelemente des Staatssozialismus die Voraussetzung, dass die bereits erwähnte Gewalt die Pflicht hat und die notwendigen Mittel besitzen muss, eine entsprechende Sozialpolitik zu betreiben, die die Gesellschaft komplett bedient. Seit dem Ende der Stalinismus-Ära spielten in den sozialistischen Staaten also die „wirtschaftssozialen“ Ziele eine immer größere Rolle. So zumindest wurden sie in der polnischen Parteipropaganda bezeichnet. Sie besagten, dass neben der Absicht, allgemein hohe Wachstumsraten der ökonomischen Entwicklung zu erreichen sowie die entsprechenden Länder zu industrialisieren, auch Schritte seitens des Staatsapparates unternommen wurden, etwa durch die ständige Erstellung von Plänen und Instrumenten, um die Lebensqualität der Gesellschaft zu verbessern. Die praktische Dimension der oben genannten Absichten zeigt am besten die Sprache der damaligen staatlichen Experten für Sozialpolitik: „Die Hauptaufgabe der Sozialpolitik in unserem Lande ist es, die wichtigen und breit wahrgenommenen Bedürfnisse der Werktätigen zu befriedigen und dadurch die zwischenmenschlichen Beziehungen zu gestalten.“3 Jene Gestaltung hatte jedoch faktisch das Ziel, eine egalitäre sozialistische Gesellschaft aufzubauen, in welcher der Staat die Bedürfnisse aller Werktätigen auf gleiche Weise befriedigt. Dadurch sollte, wie bereits gesagt, auch die kommunistische Macht legitimiert und gesellschaftliche Loyalität erreicht werden. In dieser Hinsicht ist es auch notwendig, die vor der Solidarność-Zeit formulierten Postulate zu erwähnen, die in den Kreisen der Experten vorgestellt wurden. Es wurde beispielsweise gesagt, dass das Schlüsselziel des sozialistischen Staates und seiner Sozialpolitik darin bestehe, die Lebensqualität der Bürger zu erhöhen: „Alle anderen Ziele, auch die rein wirtschaftlichen, müssen dazu beitragen, das Schlüsselziel zu erreichen. Mehr noch, es muss auch in allen Bereichen des sozialwirtschaftlichen Le-

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Zur polnischen Geschichte der damaligen Zeit vgl. Andrzej Paczkowski, The Spring Will Be Ours. Poland and the Poles from Occupation to Freedom, University Park 2003. Das Bild der polnischen Gesellschaft der 1980er-Jahre und vor allem die fehlende Funktionsfähigkeit der Politik der Bedürfnisbefriedigung der Bürger präsentiert hin­ gegen Małgorzata Mazurek, Społeczeństwo kolejki. O doświadczeniach niedoboru 1945–1989, Warszawa 2010; dies., Antropologia niedoboru w NRD I PRL 1971–1989, Wrocław 2010. Eine Beschreibung der ökonomischen und sozialen Probleme dieser Dekade findet man bei Waldemar Kuczyński, Agonia systemu. Szkice z niedawnej przeszłości, Warszawa 1996; Jacek Tittenbrun, Upadek socjalizmu realnego w Polsce, Poznań 1992. Zbigniew Tyszka, Rodzina jako przedmiot polityki społecznej. In: Polityka Społeczna, (Juni 1980), S. 1–3, hier 1. Der Verfasser war einer der wichtigsten polnischen sozialpolitischen Forscher der damaligen Zeit.

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bens verwirklicht werden. Die Folge ist also, dass es keine klare Grenze zwischen der Sozialpolitik und den anderen Politiken gibt. Jede Tätigkeit des Staates, ob die wirtschaftliche, juristische oder eine andere, hatte also soziale Folgen.“4 In der Tat kann dieses Zitat nur als eine Art Vorstellung wahrgenommen werden, die realisiert werden musste, genauso wie das Gebot des Vorrangs der Sozialpolitik. Vor dem Hintergrund jener Vorstellung wird in diesem Beitrag erörtert, wie die staatlichen Institutionen in den 1980er-Jahren konkrete sozialpolitische Schritte konzipierten und realisierten. Die Entstehung der Solidarność und die Krise der Jahre 1980/81 sind dabei sehr relevant, jedoch nicht wegen der demokratiepolitischen Tätigkeit der freien Gewerkschaften. Sie haben vor allem gezeigt, dass im sozialistischen Staat nicht nur eine Bewegung entstehen kann, die die Legitimation der Macht infrage stellt. Dies hatten sie vor allem getan, weil die Gewerkschaftler bzw. Werktätigen die Meinung vertraten, dass die Sozialpolitik Volkspolens versagt hat. Insofern muss in diesem Beitrag auch eine weitere Frage beantwortet werden, nämlich die, wie die staatlichen Institutionen versucht haben, die von den Streikenden erwartete Wiederherstellung der Lebensqualität zu erreichen. Als Maßstab dienten ihnen die Periode der 1970er-Jahre, die Periode des größten sozialen Wohlstands in der Geschichte der VRP, sowie die Tatsache, dass die Zeit ab 1980 mit der stärksten wirtschaftlichen Krise Polens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbunden war, was folglich auch tiefgreifende und schmerzliche Reformen bedeuten musste. Es werden in diesem Beitrag verschiedene Quellen zusammengestellt und vergleichend ausgewertet: die bereits angesprochenen postulativen Materialien – Regierungsdokumente, Expertenbeiträge und Propagandaschriften – sowie Literatur, die die praktische zielbezogene Implementierung der Sozialpolitik zeigt. Chronologisch gesehen wird zuerst die Periode der 1970er-Jahre eruiert, unter Hervorhebung der sozialpolitischen Instrumente und Ziele. Nur so kann die nachfolgende Dekade richtig eingeordnet werden, in deren Mittelpunkt die immer größeren sozialen Ungleichheiten stehen. Sie waren der Hauptbeleg für das Versagen der staatlichen Politik. Abschließend wird das wichtigste Instrument der sozialen Aktivitäten des Staates in den 1980er-Jahren erörtert, nämlich Kredite für junge Ehepaare. Am Rande wird auch auf andere sozialpolitische Herausforderungen der VRP hingewiesen, die große Spannungen und Kontroversen hervorriefen. Dies soll dazu beitragen, den Lesern zu verdeutlichen, wie die Sozialpolitik des polnischen Spätsozialismus versuchte, das politische System zu legitimieren, und wie beschränkt die Möglichkeiten des Staatsapparates waren. Beides beschleunigte die Unfähigkeit, in der Volksrepublik Polen eine egalitäre Gesellschaft aufzubauen, und dadurch auch den Legitimationsverlust des Sozialismus als System, das soziale Bedürfnisse egalitär befriedigt.

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Michał Winiewski, Polityka społeczna w Polsce. Doświadczenia i perspektywy: In: Poli­ tyka Społeczna, (1987) August, S. 1–4, hier 1.

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Die 1970er-Jahre – Die Zeit der „nationalsozialen Wirtschaftsentwicklung“ In den ersten Jahren des Bestehens des sozialistischen Volkspolens, also in der Zeit des Stalinismus sowie in den Regierungsjahren von Parteisekretär Władysław Gomułka (1956–1970), hatte der Staatsapparat die Absicht, die wirtschaftliche Entwicklung durch eine äußerst kostspielige Industrialisierung und, als Folge, die Erhöhung der industriellen Produktion zu gewährleisten. Die Umsetzung dieser Ziele wurde vor allem in den Fünfjahrplänen festgelegt, die auch formell als „Pläne der wirtschaftlichen Entwicklung“ bezeichnet wurden. Erst nach dem Ende der Periode des Stalinismus haben, allerdings schrittweise, erste sozialpolitische Ziele und damit verbundene Aktivitäten an Bedeutung gewonnen, vor allem in der Ära Gomułka. Dies waren jedoch erste Anzeichen dessen, was ab 1970 passierte, als Parteisekretär Edward Gierek an die Macht kam. Seine Amtsperiode bedeutete vor allem, dass die sozialen Ziele der Politik als Schlüsselziele der Macht definiert wurden. Entsprechend der neudefinierten Reihenfolge wurde auch der Name der Fünfjahrpläne geändert. Ab jetzt hießen sie „Nationalsozialer Wirtschaftsplan“ (NSWP).5 Hinzu kam die propaganda­ politische Dimension. Gierek hatte in seiner Rede während der VII. Tagung des ZK der PVAP 1971 darauf hingewiesen, dass die Schlüsselziele der Partei darin bestehen, die Produktionsentwicklung und die Arbeitsproduktivität zu gewährleisten und dadurch die soziale Lage und das Lebensniveau der Werktätigen zu verbessern.6 Die wichtigsten Filmchroniken, also die meist gesehenen Medien der damaligen Zeit, die vor Filmvorführungen gezeigt wurden, verkündeten die gleiche Botschaft. So auch jene, die direkt vor dem VII. Parteitag 1975 ausgestrahlt wurde und den Titel „Arbeit, Gesundheit, Erholung“ trug. Sie informierte den Zuschauer, dass nach dem letzten, dem VI. Parteitag, die PVAP als Priorität „die Einheit der Produktions- und Existenzprobleme“ festgelegt hatte, das heißt die Gleichheit der sozialen und wirtschaftlichen Ziele.7 In der Tat wird die Dekade der 1970er-Jahre in Polen – die sogenannten Gierek-­Jahre  – sehr oft als Belle Époque der VRP bezeichnet. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung gilt diese Periode als die Zeit, in der die Polen faktisch spürbar eine Verbesserung der Lebensqualität erfuhren, und zwar dank der groß angelegten staatlich organisierten sozialpolitischen Maßnahmen.8 Wie kann man die wichtigsten diesbezüglichen Elemente der Politik Giereks zusammenfassen? Das Wichtigste war die Entscheidung, die Produkionsprofile der

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Beschluss des Sejms der Volksrepublik Polen vom 8.6.1972 über den fünfjährigen nationalsozialen Wirtschaftsplan der Landesentwicklung zwischen 1971–1975. In: Gesetzblatt der VRP, 1972, Nr. 22, Position 157, S. 197; http://isap.sejm.gov.pl/index. jsp; 16.8.2018. Polska lat 70. In: Życie Gospodarcze vom 10.2.1980, S. 4. „Vor der VII. Tagung der PVAP. Arbeit. Gesundheit. Erholung“. Polnische Filmkronik, Nr. 75/50A, 1975 (http://www.kronikarp.pl/szukaj,32022,strona-5; 16.8.2018). Zu dieser Dekade vgl. Paczkowski, The Spring, S. 351–410.

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staatlichen Betriebe zu ändern. Statt rein industrielle Erzeugnisse herzustellen, wurden die volkseigenen Betriebe (VEB) beauftragt, vor allem Konsumgüter zu produzieren. Dies trug dazu bei, Versorgungsengpässe spürbar zu verringern. Besonders hervorzuheben ist dabei die Tatsache, dass einer der wichtigsten ikonografischen Bestandteile des polnischen Sozialismus, nämlich Bilder leerer Ladenregale, ausschließlich aus den 1980er- und nicht aus den 1970er-Jahren stammen. Bis 1980, was zweifellos ein Erfolg der Sozialpolitik war, funktionierte sowohl die Lebensmittelversorgung als auch die Versorgung mit langlebigen Gütern gut. Doch niemand hatte der Bevölkerung gesagt, woher die Mittel stammten, die jene Produktion finanzierten – die meisten waren westliche Kredite. In der Wohnungspolitik wurde ab 1970 ein relativ schnelles System eingeführt, der Hochhäuserplattenbau. Damit verbunden waren größere Kapazitätsnormen. Letztgenannte Bezeichnung war eine theoretische Kalkulation, wie viel Wohnraum für eine Person notwendig ist. Diese galt dann als Berechnungsgrundlage der weiteren Stadtplanung. Hinzu kamen neue Elemente in der Gesundheitspolitik. Ab 1972 kamen alle Bewohner der Provinz in den Genuss einer kostenlosen medizinischen Betreuung. Dadurch wurde, zumindest theoretisch, eines der wichtigsten Ziele der PVAP verwirklicht, nämlich die kostenlose gesundheitliche Versorgung für alle Bürger. Dies ging einher mit kostspieligen propagandapolitischen Investitionen, etwa mit dem Bau eines hochmodernen Kinderkrankenhauses bei Warschau – fertiggestellt 1977. Die erwähnten Maßnahmen ergänzte man durch die konsequente Senkung der Arbeitszeit sowie die Einführung der freien Samstage. Die sozialistische Belle Époque konnte aber nicht länger als ein paar Jahre dauern. Die schwere wirtschaftliche Krise der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre zeigte vor allem die Folgen und Grenzen der bis dato geführten Sozialpolitik, die keine Rücksicht auf die ökonomischen Kosten nahm. Der Preis für die sozialen Ziele sowie andere falsche und mit Krediten finanzierte Investitionen verschärften die Krise des Landes, was sich selbstverständlich auf die Sozialpolitik auswirkte. Eines der wichtigsten Instrumente zum Erreichen der sozialen Ziele war die sehr hohe Subventionierung der Lebensmittelpreise. Es ging dabei auch darum, nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität der Versorgung der Bürger zu verbessern.9 Die wirtschaftliche Lage war jedoch so prekär, dass man 1976 jene Subventionen abbauen musste, was die Bevölkerung in Form von starken Preiserhöhungen zu spüren bekam. Der Rückzug des Staates aus einer der

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Der Wirtschaftswissenschaftler Kazimierz Z. Poznański erklärt in seiner Abhandlung über die ökonomische Geschichte der VRP ausführlich Ursachen und Verlauf dieser Krise: Poland’s Protracted Transition. Institutional change and economic growth 1970–1994, Cambridge 1996, S. 81–166. Szikra und Tomka weisen auch darauf hin, dass die Preissubventionierung ausgewählter Waren, vor allem von Lebensmitteln, als Schlüsselelement der Sozialpolitik der sozialistischen Staaten betrachtet werden muss: dies., Social Policy, S. 22 f.

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­sozialpolitisch so wichtigen Maßnahmen löste eine schwere politische Krise aus, aus der die ersten Gruppen der neu formierten politischen Opposition entstanden. In der staatlichen Propaganda – auch im Jahr 1980, als die wirtschaftliche Lage äußerst schlecht war – versicherte die PVAP nach wie vor, dass es weiterhin einen Vorrang der sozialen vor den wirtschaftlichen Zielen gebe.10 Die politische Wende konnte dies jedoch nicht aufhalten, ebenso wenig die Massenstreiks, die die Regierungszeit Giereks beendeten und es im September 1980 General Wojciech Jaruzelski ermöglichten, die Macht zu übernehmen. Die Macht hat Jaruzelski zwar konsolidiert. Das Hauptproblem, die wirtschaftlichen und sozialen Ziele der staatlichen Politik miteinander zu verbinden, musste er aber, wie Gierek, weiterhin lösen, und zwar unter äußerst schwierigen Bedingungen.

Die 1980er-Jahre – Sozialpolitik in der Zeit der Krise Einer der wichtigsten politischen Termini Volkspolens in den 1980er-Jahren war zweifellos das Wort „Krise“. Es wurde regelmäßig benutzt: in offiziellen Reden, in der Presse jeglicher Art sowie in Alltagsgesprächen und als Element der populären Witzkultur der Bevölkerung, die auf diese Weise die leeren Ladenregale und Warteschlangen kommentierte.11 Es definierte sowohl die spürbare Verschlechterung der Lebensqualität der Bürger als auch das Versagen der staatlichen Institutionen, die formell die sozialpolitischen Ziele zu erreichen versuchten.12 Das Wort „Krise“ spiegelte sich am plakativsten in der neuen Rhetorik der Wirtschaftspläne, der bereits mehrmals erwähnten NSWP. In den 1970er-Jahren sprachen Dokumente dieser Art oft von einer Vision der schnellen und sicheren sozialökonomischen Entwicklung. Aber schon der erste nach der Einführung des Kriegsrechts verabschiedete NSWP aus dem Jahr 1983 begann sofort mit der Feststellung, dass das Hauptziel des Staates vor allem die Überwindung der Krise sei. Andere Passagen waren noch deutlicher: „Wir stehen am Anfang eines langen und schwierigen Weges zum Aufbau der wirtschaftlichen Stärke unseres Landes und des Lebensstandards des Volkes.“13 Dies war eine klare Ankündigung der Wirtschaftsreformen, die die Regierung Jaruzelskis geplant hatte. Angesichts der politischen Sprache der damaligen 10 Aus den Beschlüssen der VIII. Tagung der PVAP – Fragmente. In: Polityka Społeczna, (1980) März, S. 1. 11 Zu den 1980er-Jahre vgl. das bereits erwähnte Werk von Andrzej Paczkowski, The Spring, S. 411–506. 12 Eine ausführliche Darstellung der Voraussetzungen der Sozialpolitik der 1980er-Jahre gibt Lech Ostrowski: Polityka społeczna PRL, Warszawa 1988. Helena Góralska hingegen diagnostizierte in ihrem Werk den faktischen Erfüllungszustand jener Voraussetzungen: Poziom życia społeczeństwa polskiego w latach osiemdziesiątych, Warszawa 1988. 13 Beschluss des Sejms der Volksrepublik Polen vom 28.4.1983 über den fünfjährigen nationalsozialen Wirtschaftsplan der Landesentwicklung zwischen 1983–1985. In: Ge­ setzblatt der VRP, 1983, Nr. 24, Position 103 S. 325 (http://isap.sejm.gov.pl/index.jsp; 16.8.2018).

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Zeit konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Polen in der gesamten Dekade der 1980er-Jahre permanent zwischen der Krise einerseits und ständigen Wirtschaftsreformen andererseits lebten. Eines der wichtigsten Themen, das bei der Gestaltung der staatlichen Wirtschaftspolitik in den Expertenkreisen ständig präsent war, war die Frage, wie die geplanten Reformen die Möglichkeiten zur Umsetzung der Sozialpolitik beeinflussen würden.14 Die Hauptkorrelation war klar: Die mit dem Ziel, die wirtschaftliche Stärke des Landes zu verbessern, durchgeführten Reformen trugen dazu bei, dass die Sozialpolitik eingeschränkt wurde. Und dies verstärkte das Misstrauen der Bürger sowie ihre politische Überzeugung, dass die VRP nicht in der Lage war, eine egalitäre Erhöhung des Lebensstandards sowie die Befriedigung der Lebensbedürfnisse zu gewährleisten. Insofern waren die 1983 im NSWP detailliert vorgeschriebenen Ziele der Sozialpolitik deutlich bescheidener als früher und mit klaren Vorbehalten versehen. Man wollte lediglich die Versorgung des Volkes mit Lebensmitteln absichern, maximal (aber im Rahmen der Möglichkeiten) Wohnungsdefizite beseitigen, die soziale und technische Infrastruktur in den Städten und Gemeinden entwickeln, die Versorgung der Bevölkerung vor allem mit Alltags- und Industriegütern verbessern sowie jene Gruppen vor den Folgen der Krise schützen, die sich in einer schwierigen materiellen Lage befanden. Von der allgemeinen Entwicklung des Gesundheitswesens war ebenfalls die Rede.15 Wie schwierig die Absichten der Partei mit den ökonomischen Realitäten der 1980er-Jahre zu verbinden waren, zeigte bereits das wichtigste Ziel: die Beseitigung der Probleme bei der Lebensmittelversorgung. Als größtes Hindernis in diesem Bereich galten die fehlenden Mittel für die Subventionierung der Lebensmittelpreise und die Notwendigkeit, auch wegen der mangelnden Ressourcen, die Lebensmittelpreise zu erhöhen. Die gesamte Dekade der 1980er-Jahre war geprägt von Preiserhöhungen. Beispielsweise führte bereits die erste große Erhöhung 1982 dazu, dass die durchschnittlichen Konsumgüter um 400 Prozent teurer wurden. Die allgemeinen Lebenshaltungskosten stiegen um 100 Prozent. Und trotz Gehaltserhöhungen sank die Kaufkraft der Bevölkerung um 25 Prozent.16 Die Erfahrungen der PVAP mit den Streiks der Jahre 1976 und 1980 spielten ohne Zweifel eine entscheidende Rolle bei der Vorbereitung der Preiserhöhungen. Die Militarisierung des Staates und die Gewaltwelle nach der Einführung des Kriegsrechts hatten den aktiven Protesten zwar durchaus etwas von ihrer Kraft genommen. Trotzdem erarbeitete die staatliche Verwaltung umfassende mediale Propagandakampagnen über die geplanten Erhöhungen. Man erstellte

14 Vgl. Mieczysław Kabaj, Społeczne założenia programu reformy gospodarczej. In: Polityka Społeczna, (1981) Juli, S. 2–5; Leszek Kupiec, Polityka społeczna a reforma gospodarcza. In: Polityka Społeczna, (1982) August, S. 5–7. 15 Beschluss des Sejms der Volksrepublik Polen vom 28.4.1983, S. 326. 16 Poznański, Poland’s Protracted Transition, S. 125.

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Umfragen, welche die angeblich breiten gesellschaftlichen Konsultationen der geplanten Maßnahmen belegten. In den staatlichen Medien mehrten sich Sendungen, in denen Experten die Gründe jener Maßnahmen erklärten. Weil das Wort „Erhöhung“ extrem negativ konnotiert war, wurde es oft durch verschiedene Euphemismen ersetzt, wie etwa „Preisreform“ oder „Rationalisierung der Preisstruktur“.17 Dies änderte jedoch nichts an den Folgen der neuen Preise für die Bevölkerung. Ein Forschungsbericht des staatlichen Zentrums für Konsum- und Versorgungsforschung aus dem Jahr 1983 mit dem Titel „Der Einfluss der gegenwärtigen sozioökonomischen Lage auf den Lebensstandard der städtischen Familien“ zeigte ganz deutlich die Folgen der Preiserhöhungen und der bereits vor dem Kriegsrecht eingeführten Warenrationierung für alle Haushalte. Zum Beispiel deklarierten 80 Prozent der befragten Familien, dass sie die eigenen Lebensmittelvorräte durch den Einkauf bei privaten Händlern ergänzen müssten, wo nicht nur die Preise freimarktwirtschaftlich bestimmt wurden, sondern auch die Frage der Legalität jener Einkäufe aufkam. Jene 80 Prozent gaben auch an, Versorgungshilfe anderer Familien entgegenzunehmen oder Hilfspakete aus dem Ausland zu bekommen.18 Eines der Elemente, die die prekäre Situation verbessern sollten, war die prinzipielle Änderung der Produktionspolitik, wie man sie in den 1970er-Jahren kannte. Wie bereits erwähnt, hatten laut PVAP vor allem die Konsumgüter Vorrang vor den anderen Industriegütern. Jene Prämisse wurde ab 1980 noch präzisiert, und zwar als Element der Kritik an der Ära Gierek. Man nahm an, dass bis 1980 zu viel Kraft in die Produktion der sogenannten elitären Güter investiert wurde. Als Folge sollten die entsprechenden Mittel in andere, für die Bevölkerung notwendigere Produktionsbereiche verschoben werden. Offiziell wurde dies als „Profiländerung der Produktion der Konsumgüter“ bezeichnet. Statt des elitären sollte ab 1980 in der VRP ein egalitärer Konsum herrschen, der jedoch lediglich „egalitäre Bedürfnisse“, sprich Grundbedürfnisse, befriedigen sollte. Slogans dieser Art wurden regelmäßig in Fachdiskussionen vorgebracht und finden sich in Dokumenten aus den 1980er-Jahren über die Produktion der Konsumgüter.19 Sie konnten jedoch nicht die Debatte über die große Westverschuldung ersetzen, und auch nicht die Tatsache, dass in der VRP die Grenze zwischen dem, was elitär und egalitär sein sollte, extrem schmal war. Und dies führte auch zu dem wichtigsten sozialpolitischen Problem der Dekade, der Warenspekulation.

17 Zur Sozialforschung in der VRP vgl. Patryk Wasiak, The Appropriation of Social Opinion Survey Research by the State Apparatus in Late State-socialist Poland. In: Klaus Bachmann/Jens Gieseke (Hg.), The Silent Majority in Communist and Post-Communist States: Opinion Polling in Eastern and South-Eastern Europe, Frankfurt a. M. 2016, S. 125–148. 18 Grażyna Smulska, Życie w kryzysie. In: Życie Gospodarcze vom 6.3.1983, S. 7. 19 Vgl. Bohdan Godziszewki/Jan Wiśniewski, Potrzeby już egalitarne. In: Życie Gospo­ darcze vom 27.8.1980, S. 8; Janusz Dąbrowski, Elitarna czy egalitarna. In: Przegląd Techniczny vom 18.10.1981, S. 24 f.

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Der Mangel führte zu Massenkäufen, nicht nur wegen der Spekulation, sondern auch, um in der damals unsicheren Zeit Vorräte anzulegen. Die Gegenmittel des Staates entsprachen der Logik des autoritären Systems. Es wurde eine zentrale Kommission zum Kampf gegen die Spekulation gegründet. Diese konnte jedoch das marktwirtschaftlich bedingte Prozedere nicht stoppen, obwohl viele Formen der Spekulation große Empörung in der Bevölkerung hervorriefen, weil sie mit dem Bedarf für Familien zu tun hatten. Spekuliert wurde beispielsweise mit Haushaltsgeräten (siehe auch das Unterkapitel über Kredite für junge Ehepaare), Kinderbekleidung sowie Babynahrung. Waren in den 1980er-Jahren seitens der staatlichen Verwaltung Erfolge zu verbuchen? Ja, aber nur wenn man die Bereitschaft aufzugeben als Erfolg definiert. Als Beispiel galten die Wohnungsbaupolitik und vor allem die Idee, individuelle Bauvorhaben zu unterstützen. Die Verantwortung des Staates in den 1970er-Jahren war klar: Er musste genug Wohnungen zur Verfügung stellen, vor allem im Plattenbau und in einer attraktiven Größe. Die Wirtschaftskrise und fehlende Mittel haben dazu beigetragen, dass keine akzeptable und notwendige Zahl an Wohnungen gewährleistet werden konnte. Die Bauindustrie war nicht intakt, und man wartete mehrere Jahre auf eine Wohnung. Die Antwort darauf war die Bereitschaft, denjenigen staatliche Grundflächen zu verkaufen, die Einfamilienhäuser in Eigenregie bauen wollten. Diese Art von Outsourcing gab es auch in anderen Bereichen der Sozial­ politik. Die staatliche Verwaltung übertrug die Kompetenzen auf andere Einrichtungen, etwa auf die VEB, ohne diese jedoch mit den notwendigen Mittel auszustatten. Sie waren im Staatssozialismus insofern relevant, als ihre Aufgabe nicht nur die Produktion war, sondern auch die Ergänzung der formellen Versorgung gegenüber der Belegschaft. Amtlich wurde jene Funktion als „soziale Tätigkeit des Betriebes“ bezeichnet und definiert als: „Möglichkeit jedes Betriebes, die Lebenslage des einzelnen Werktätigen und seiner Familie zu berücksichtigen und objektiv seine sozialen Bedürfnisse zu bestimmen, vor allem die, die aus den lebensbedingten Ungleichheiten hervorgehen. Insbesondere bezieht sich das auf Familien mit den geringsten Einkommen, wobei kinderreiche Familien dominieren.“20 Wie setzten die VEB jene Funktion um? Ganz unterschiedlich. Sie finanzierten eigene Arztpraxen, Kinderkrippen, Erholungsheime, stellten aber auch günstige Kredite und Sozialleistungen für die eigenen Mitarbeiter bereit.21 Dies jedoch vergrößerte die Ungleichheiten innerhalb der Arbeitermilieus und trug dazu bei, dass die soziale Funktion der Betriebe eher nicht egalitäre Praktiken förderte. Die Belegschaften der Großbetriebe, insbesondere jene, die ­strategische

20 Krystyna Krupa, Polityka zakładów pracy wobec rodzin. In: Polityka Społeczna, (1980) November/Dezember, S. 13–15, hier 13. 21 Zum staatlichen System der Kitas und dem „Wohlstandsmodell“ der VRP vgl. Piotr Perkowski, Wedded to Welfare? Working Mothers and the Welfare State in Communist Poland. In: Slavic Review, 76 (2017) 2, S. 455–480.

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I­ nteressen des Staates vertraten – nämlich der schweren Stahlindustrie –, genossen einen viel leichteren Zugang zu den eigenen betriebsfinanzierten Ärzten, Kitas oder Erholungszentren als Mitarbeiter kleinerer Fabriken, die sich jene Vergünstigungen einfach nicht leisten konnten oder diese nicht hatten. Hinzu kam die Grundvoraussetzung der Wirtschaftsreformen der 1980er-­Jahre. Einerseits sollten die VEB mehr Selbstständigkeit bekommen. Erstmals wurden im Staatssozialismus Begriffe wie „ökonomische Mechanismen“ oder „Betriebsgewinn“ verwendet. Einzelne Fabriken durften flexibler sein, was die Produktionsgestaltung, die Suche nach passenden Geschäftspartnern usw. anging. Andererseits aber verlangte plötzlich der Eigentümer, also der Staat, die Betriebskosten zu senken und Gewinne zu erzielen. „Ökonomische Mechanismen“ bedeuteten also auch Sparmaßnahmen, die alle Betriebe berücksichtigen mussten, vor allem durch das Herunterfahren der eigenen Sozialprogramme. Eine unvermeidbare, aber im Sozialismus schockierende Neuheit war auch die Erlaubnis, innerhalb der VEB den Lohn der Mitarbeiter individuell zu definieren, abhängig davon, wie produktiv sie waren und ob sie dazu beigetragen haben, Gewinne zu erzielen. Dies war ökonomisch verständlich, sozialpolitisch hingegen nicht.

Soziale Ungleichheiten Ohne Zweifel war eines der wichtigsten soziopolitischen Phänomene in Polen in den 1980er-Jahren nicht nur die Zunahme der Ungleichheiten, sondern vor allem die Tatsache, dass sie Gegenstand der öffentlichen Debatte wurden. Die Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler der Dekade bewerteten jene Ungleichheiten eindeutig negativ. Sie identifizierten den Prozess der zunehmenden „sozialen Unterscheidung“, bedingt durch Einkommensunterschiede sowie Unterschiede in den materiellen Lebensbedingungen, als extrem wichtig, aber auch, wie bereits gesagt, gleichzeitig negativ für die Gesellschaft.22 Das Meinungsforschungsinstitut OBOP führte z. B. 1983 flächendeckende Umfragen über Einkommensunterschiede durch. Eine der daraus resultierenden Schlussfolgerungen war die Feststellung, dass die Befragten jene Unterschiede nicht nur sahen, sondern auch erwarteten, dass diese immer kleiner werden.23 Wo lagen die Gründe für das materielle Ungleichgewicht? Selbstverständlich in den rein ökonomischen Faktoren der 1980er-Jahre. In erster Linie ging es um die Zusage des Staates, einen Privatsektor in der Wirtschaft zu akzeptieren,

22 Die wichtigsten soziologischen Arbeiten über dieses Problem verfassten Maria Jarosz, Nierówności społeczne, Warszawa 1984; und Krystyna Janicka (Hg.), Zróżnicowanie społeczne i jego percepcja, Wrocław 1987. 23 Opinie o dochodach ludności, OBOP, Warszawa 1983, S. 1 (http://www.tnsglobal. pl/archiwumraportow/1965/12/31/osrodek-badania-opinii-publicznej-i-studiowprogramowych-3/; 18.10.2018).

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vor allem um Devisen zu beschaffen und die katastrophale Versorgung zu verbessern. Natürlich konnte dieser Sektor nicht völlig frei sein. Vor allem hatte die Partei aber die Absicht, nur polnische Emigranten bzw. Auslandspolen davon zu überzeugen, Kleinunternehmen zu gründen, sogenannte Poloniafirmen (firmy polonijne), bzw. im Land Geld zu investieren. Die extrem große Nachfrage nach allen dort produzierten Waren führte dazu, dass sowohl die einfachen Mitarbeiter jener Unternehmen und erst recht die Leitungsebene als Finanz­ eliten wahrgenommen wurden, die dank der neuen Arbeitgeber einen höheren Lebensstandard genießen konnten.24 Verständlicherweise war die Nische der Privatindustrie sehr klein, was die sichtbaren finanziellen Unterschiede sowie die entsprechende sozialpolitische Wahrnehmung noch vergrößerte. Innerhalb des Privatsektors gab es eine andere Gruppe, die bereits seit Jahrzehnten in der VRP existierte, nämlich Bauern und Eigentümer von kleinen Gärten, die Fleisch, Obst, Gemüse oder andere Erzeugnisse produzierten und außerhalb des staatlichen Handels zu marktwirtschaftlichen Preisen verkauften. Dies trug sogar dazu bei, die Inflation zu dämpfen, insofern wollte der Staat jene ­Situation auch nicht ernsthaft bekämpfen.25 Die Zugehörigkeit zur Elite im polnischen Staatssozialismus verbesserte verständlicherweise auch den Zugang zur Sozialpolitik, vor allem zu ihren Instrumenten. Ein hohes Einkommen oder ein hoher gesellschaftlicher Status boten die Möglichkeit, Konsumgüter auf dem freien Markt zu erwerben, aber sie halfen auch, schneller einen Termin beim Arzt oder einen Kitaplatz zu bekommen. Es ging dabei nicht immer um Geld als Gegenleistung, sondern auch um Warentausch oder den Tausch von Dienstleistungen. Das Ganze spiegelte sich auch in den sozialpolitischen Debatten wider. Im Jahr 1988 haben Experten z. B. darauf hingewiesen, „dass sich die Einkommen der Werktätigen im staatlichen und nichtstaatlichen Bereich wegen der Reformen schrittweise differenzieren werden, was auch auf den Lebensstandard der Familien zutreffen wird. Insofern werden auch neue Probleme sichtbar, nämlich die der unterschiedlichen Lebenschancen, was dazu führen muss, eine flexiblere allgemeine Familiensozialpolitik zu führen.“26 Eine der sichtbaren Folgen der entstehenden Ungleichheiten war, dass in der öffentlichen Debatte überhaupt eine Diskussion über Menschen, die in Not lebten oder nur wenige Ressourcen zur Verfügung hatten und sozialpolitische Unterstützung bekommen sollten, zugelassen wurde. In diesem ­Zusammenhang

24 Über die Entstehung des Privatsektors im Staatssozialismus sowie Debatten zum Thema Gerechtigkeit der Einkommensunterschiede vgl. Mérove Gijsberts, The Legitimation of Income Inequality in State-Socialist and Market Societies. In: Acta Sociologica, 45 (2002) 4, S. 269–285. 25 Jerzy Kochanowski, Tylnymi drzwiami. „Czarny Rynek“ w Polsce 1944–1989, Warszawa 2015, S. 214. 26 Adam Kurzynowski, Kierunki przemian w polityce społecznej. In: Polityka Społeczna, (1988) November/Dezember, S. 1–4, hier 2.

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spielten die dabei angewandten Definitionen eine Rolle. Die polnische Soziologin Elżbieta Tarkowska, die sich mit Armut in der VRP beschäftigt hat, wies etwa darauf hin, dass das Wort „Armut“ (bieda) in der politischen Sprache verboten war. Man griff stattdessen auf das Wort „Knappheit“ (niedostatek) zurück, was eine sehr milde Formulierung war.27 Den Begriff „Armut“ durfte man nur verwenden, wenn man über das Leben in der Dritten Welt sprach oder über nicht privilegierte soziale Schichten im Kapitalismus. Aber die Tatsache, dass das Wort „Knappheit“ überhaupt zugelassen wurde, war bereits ein Beleg dafür, dass sowohl die Repression des politischen Systems nachließ als auch dass man die Probleme relativ offen ansprechen und den geplanten Egalitarismus sowie die entsprechende Sozialpolitik des Staates infrage stellen konnte. Damit sprach man letztlich vom Versagen des Staates. Der bereits mehrmals erwähnte Sozial- und Gesellschaftsvertrag sah vor, dass der sozialistische Staat dauerhaft den Lebensstandard der Bürger erhöht und diese als Gegenleistung in der Arbeit sowie im politischen Leben aktiv sind. Die 1980er-Jahre haben jedoch Folgendes gezeigt: Die Sozialpolitik war nicht effektiv, Ungleichheiten waren spürbar. Und der Staat konnte de facto den Sozial­vertrag nicht erfüllen. Neben den bereits bekannten Krisen in der Geschichte der VRP zeigten die 1980er-Jahre als Resultat dieses Zustands das, was die Experten als Motivationsdefizit definierten. Aus sozialpolitischer Sicht weckten die 1970er-Jahre Ambitionen in der Gesellschaft. Der damalige Wohlstand, der mit Krediten finanziert wurde, fand wegen fehlerhafter Investitionen kurzfristig ein Ende, und zwar Anfang der 1980er-Jahre. Der diesbezügliche gewaltige Rückgang der Möglichkeiten, soziale Bedürfnisse zu befriedigen, sowie Preis­erhöhungen oder der Qualitätsverlust der staatlichen Leistungen haben laut Experten „dazu beigetragen, in großen Teilen unserer Gesellschaft, vor allem unter den jungen Familien, Lebensbedingungen mit vielfältigen materiellen Entbehrungen zu stiften“.28 Jene Deprivation, also ein Zustand, in dem Bedürfnisse dauerhaft nicht befriedigt werden können, hat bei ihnen, krisenbedingt, keine Motivation aufgebaut, was entweder in Form von gesellschaftlicher Passivität oder innerer Emigration sichtbar wurde.

27 Elżbieta Tarkowska, Ubóstwo w byłych PGR-ach: W poszukiwaniu dawnych źródeł nowej biedy. In: Kultura i Społeczeństwo, 42 (1998) 1, S. 91–104, hier 91. Als Beispiel für die Anwendung des Begriffes „Knappheit“ vgl. Helena Góralska, Dochody i konsumpcja ludności żyjącej w niedostatku, Warszawa 1984. 28 Józef Penc, Kryzysowe zagrożenia motywacji. In: Polityka Społeczna, (1988) März, S. 11–13, hier 12.

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Fallstudie – Kredite für junge Ehepaare Bekamen junge Menschen ohne Zugang zu den elitären Gruppen Anreize, aktiv zu werden? Als Antwort auf diese Frage galt eines der wichtigsten sozialpolitischen Programme Polens der 1980er-Jahre, nämlich das System der günstigen Kredite für junge Ehepaare, um die Wohnungseinrichtung zu finanzieren, besser bekannt als MM-Kredite. Die Idee stammte aus Westeuropa und hatte das Ziel, nicht nur jungen Familien zu helfen, sondern auch den Konsum für spezifische Güter anzukurbeln. Dank der Arbeit von Victoria de Grazia wissen wir, dass jene Kredite, finanziell gestützt durch den Marshall-Plan, dazu beitragen sollten, durch die eigene soziale Attraktivität die Attraktivität des Kommunismus in den europäischen Gesellschaften zu senken, insbesondere in Italien und Frankreich.29 Wie sah die Einführung jener MM-Kredite in Polen aus? Gestartet wurden sie 1973. Sie waren zwar als Hilfe vorgesehen, sollten in der Ära Gierek aber auch dazu beitragen, die soziale Entwicklung zu fördern. In den 1980er-Jahren hingegen konnten ihn nur Paare bekommen, die besonders von der Krise betroffen waren und sehr kurzfristig ihre Wohnung einrichten mussten. Wegen der permanenten Warenrationierung wurde ab 1982 auch dieser Kredit zu einem Instrument jener Reglementierung, vor allem für Industriegüter. Konkret bedeutete das, dass ca. 30 bis 50 Prozent der Gesamtproduktion der kredittauglichen Waren nur die Inhaber eines solchen Kredits kaufen durften, vorausgesetzt, dass die Waren überhaupt vorhanden waren. Faktisch aber beantragte lediglich jedes dritte junge Ehepaar diese Art Hilfe.30 Sozialpolitisch waren die MM-Kredite nicht unbedingt eine Hilfe. Sie konnten auch als Zwang wahrgenommen werden, konkrete Waren zu erwerben, unabhängig davon, ob die Paare jene Waren haben wollten oder nicht. Jener Zwang, verbunden mit dem exklusiven Zugang zu den Waren, generierte spekulative Handlungen, die auch Thema in der Zentralen Kommission zum Kampf gegen die Spekulation waren. Eines ihrer Protokolle über Missstände bei der Kreditvergabe zeigt auch eine interessante Diskussion über die Kredite selbst, über ihre Zweckmäßigkeit sowie alle damit verbundenen Kontroversen.31 Es diskutierten Vertreter der für die Produktion und den Vertrieb zuständigen Ministerien, der Handelsketten sowie der Polizei. Besonders hervorzuheben ist die Meinung eines der Diskutanten. Stanisław Sosnowski, Direktor der staatlichen

29 Victoria de Grazia, Irresistible Empire: America’s Advance through Twentieth-Century Europe, Cambridge 2005. Zur Geschichte der Konsumentenkredite vgl. Rosa-­Maria Gelpi/François Julien-Labruyère, The History of Consumer Credit Doctrines and Practices, Basingstoke 2000. 30 Jan Ćwintal, Socjalno-bytowa sytuacja młodych małżeństw. In: Polityka Społeczna, (1989) März, S. 8 f., hier 8. 31 Sitzung der Zentralen Kommission zum Kampf gegen die Spekulation beim Ministerrat vom 30.10.1986, Archiv des Ministerrates, Sign. 32/98, Archiv der Neuen Akten Warschau.

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Handelskette Społem, kritisierte die Kredite wie folgt: „Nach 30 Jahren Arbeit in der VRP, wo ich gut verdient habe, kann ich jene Gardine eigentlich kaufen, aber es kommt jemand [der Kreditnehmer] und sagt, dass er sie sofort kaufen muss, obwohl er mit seinem Leben gerade angefangen hat. Sieht hier der Herr Genosse Minister, sagen wir mal, […] keine Ungerechtigkeit?“32 In der zitierten Kritik steht ein sehr wichtiger Satz, nämlich der Hinweis „nach 30 Jahren Arbeit in der VRP“. Dies war im Grunde eine Wiederholung des im Text mehrmals formulierten Verweises auf den angeblich existierenden Sozialvertrag. Nach so vielen Jahren der Arbeit erwartete dieser Mensch, dass seine Arbeitszeit und Mitwirkung am Aufbau des Sozialismus es ihm ermöglichte, laut Sozialvertrag, die Konsummöglichkeiten voll auszuschöpfen. De facto aber musste er zugeben, dass die Sozialpolitik der VRP dazu beitrug, den Egalitarismus abzubauen.

Fazit Die genannten sozialpolitischen Beispiele und die in der Volksrepublik Polen angewandten Instrumente sind hilfreich, um zu verstehen, wie chaotisch jene Politik in den 1980er-Jahren umgesetzt wurde. Wirtschaftsreformen und die Bekämpfung der Krise haben dazu geführt, dass sie äußerst beschränkt war, vor allem weil man im Staatssozialismus neben jener Politik auch marktwirtschaftliche Prinzipien einzuführen versuchte. In diesem Beitrag sollte nicht die Frage beantwortet werden, inwiefern die sozialpolitische Unfähigkeit des polnischen Staates den endgültigen Kollaps der kommunistischen Macht beschleunigte. Es wurde nur gezeigt, wie man die Sozialpolitik zu realisieren versuchte und warum sie als ungenügend, etwa aufgrund von Ungleichgewichten, wahrgenommen wurde.

32 Ebd., S. 22.

Opposition und Widerstand im kommunistischen Polen Klaus Ziemer Kaum eine andere Gesellschaft in der östlichen Hälfte Europas, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den sowjetischen Machtbereich fiel, war – im umfassenden Sinne des Wortes – so wenig „bereit“, das kommunistische politische und sozioökonomische System zu übernehmen, wie die polnische. Die polnischen Kommunisten, die mithilfe der im Lande präsenten sowjetischen de facto Besatzungsmacht die Volksrepublik etablierten, bildeten in der bei Kriegsende zu mehr als 50 Prozent bäuerlichen Bevölkerung eine kleine Minderheit. Stalin hatte 1938 die Kommunistische Partei Polens (KPP) aufgelöst. Die 1942 im Untergrund neugegründete Polnische Arbeiterpartei (PPR) war deutlich schwächer als die Polnische Sozialistische Partei (PPS). Mit der Ende 1948 vorgenommenen zwangsweisen Vereinigung von PPR und der zuvor „gesäuberten“ PPS zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) wurde die Stalinisierung des Landes eingeleitet. Gegen die Etablierung der kommunistischen Herrschaft in Polen gab es seit 1944 bewaffneten Widerstand. Unterschiedliche Formen von Widerstand und formal illegaler Opposition blieben bis zum Ende der Volksrepublik Polen (VRP) 1989 erhalten. Dabei entwickelten sich vor allem ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre neue, in anderen Staaten des sowjetischen Machtbereichs so nicht anzutreffende Formen der Opposition gegen das kommunistische Regime. Eine weitere Besonderheit der Opposition in Polen nach 1945 war die nur begrenzte Fähigkeit der PZPR, ihr Informationsmonopol durchzusetzen. Polnischsprachige Rundfunksendungen westlicher Stationen – vor allem von Radio Free Europe in München – erreichten trotz teilweise massiver Störungen ein breites Publikum im Land. Ferner gab es unter Exilpolen in London und Paris Verlage, deren Publikationen trotz Verboten nach Polen gelangten. Besondere Bedeutung besaß die in Paris herausgegebene Monatszeitschrift „Kultura“, die ein wichtiges Diskussionsforum für polnische Intellektuelle nicht nur im Exil darstellte.

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Heftiger Widerstand gegen die Etablierung des kommunistischen Regimes Widerstand gegen Fremdherrschaft hat in Polen Tradition. Als der gegen die zweite Teilung Polens von 1793 gerichtete Kościuszko-Aufstand 1794 fehlschlug, folgte 1795 die dritte Teilung, mit der Polen 123 Jahre von der politischen Landkarte Europas verschwand. Die im 19. Jahrhundert gegen die T ­ eilungsmächte durchgeführten Aufstände, insbesondere 1830/31 und 1863 gegen Russland, scheiterten zwar ebenfalls, waren aber im Bewusstsein der ­Gesellschaft überwiegend positiv konnotiert und galten als Vorbild für patrio­tisches Verhalten. Für die weit verbreitete Abwehrhaltung gegen die Besatzungsmächte hat Hans Henning Hahn den Begriff der „Gesellschaft im ­Verteidigungszustand“ ­geprägt.1 Diese Grundeinstellung schloss nicht aus, dass sich zumindest Teile der Gesellschaft durch Selbstorganisation im Bereich von Bildung, Wirtschaft und Kultur darauf vorbereiteten, nach der Erlangung der Unabhängigkeit den eigenen Staat führen und verwalten zu können. Als der 1918 wiedererstandene polnische Staat („Zweite Republik“) 1939 von Hitlers Großdeutschland und Stalins Sowjetunion angegriffen und binnen weniger Wochen militärisch besiegt wurde, bildeten sich sehr rasch Untergrundverbände, die sich 1942 zur Armia Krajowa (Heimatarmee, AK) formierten und der Londoner Exilregierung unterstellt waren.2 Die AK bildete die größte Widerstandsbewegung im östlichen Teil des besetzten Europa und stellte ein erhebliches Problem für die deutsche Besatzungsmacht dar. Nachdem die Rote Armee Anfang 1944 die Ostgrenze Vorkriegspolens überschritten hatte, wollte die AK der Roten Armee zumindest in den großen Städten als legitimer Inhaber der politischen Gewalt entgegentreten und startete mit der Aktion „Burza“ (Gewittersturm) Aufstände gegen die deutsche Besatzung. Nur in Wilna und Lemberg gelang Einheiten der AK, zum Teil gemeinsam mit Truppen der R ­ oten Armee, ein militärischer Erfolg. Überall wurden jedoch nach kurzer Zeit die Soldaten der AK von den überlegenen sowjetischen Truppen entwaffnet, inhaftiert und teilweise in die Sowjetunion deportiert, ihre Offiziere zum Teil ermordet. Unmittelbar nachdem die Rote Armee die von Stalin geplante polnisch-so­ wjetische Nachkriegsgrenze überschritten hatte, wurde am 22. Juli 1944 in der Nähe von Lublin eine prosowjetische Gegenregierung zur Londoner Exilregierung ausgerufen. Als Vorausabteilungen der Roten Armee am Warschauer Stadtrand auf der rechten Weichselseite auftauchten, begann die Führung der AK am 1. August 1944 die „Aktion Burza“ in Warschau, wo sie rund 40 000 Kämpfer in allerdings sehr schlecht bewaffneten Einheiten zusammengezogen

1 2

Hans Henning Hahn, Gesellschaft im Verteidigungszustand. Zur Genese eines Grundmusters der politischen Mentalität in Polen. In: ders./Michael G. Müller (Hg.), Gesellschaft und Staat in Polen, Berlin 1998, S. 15–48. Zu Bildung und Aktivitäten der AK siehe den umfangreichen Band von Bernhard Chiari unter Mitarbeit von Jerzy Kochanowski (Hg.), Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003.

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hatte. Der Aufstand war militärisch gegen die deutsche Besatzungsmacht, politisch aber gegen die Sowjetunion gerichtet. Nach kurzen Anfangserfolgen änderte sich die Situation dramatisch. In den bis zum 2. Oktober dauernden Kämpfen fanden insgesamt etwa 16 000 polnische Soldaten und etwa 150 000 großenteils willkürlich ermordete Zivilisten den Tod. Die Rote Armee hätte ab Mitte August Warschau erobern können, aber Stalin wartete lieber ab, bis die Elite der AK in Warschau von deutschen Einheiten liquidiert wurde, was der ­Sowjetunion die Etablierung der kommunistischen Herrschaft im künftigen ­Polen erheblich erleichterte. Mit der Kapitulation der Aufständischen am 2. Oktober übertrug General Tadeusz Bór-Komorowski, der sich in deutsche Gefangenschaft begab, die Führung der AK an General Leopold Okulicki. Dieser löste die AK am 19. Januar 1945 auf. Anfang März 1945 wurde er vom NKWD (Volkskommissariat des Inneren der UdSSR) verhaftet, zusammen mit 15 anderen AK-Führern nach Moskau deportiert und in einem Schauprozess zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Er starb am 24. Dezember 1946 unter ungeklärten Umständen in einem Moskauer Gefängnis. Da die Rote Armee und die von ihr gestützte „Lubliner“ Regierung de ­facto ­ estmächte der Chef die politische Macht in Polen ausübten, trat auf Druck der W der Londoner Exilregierung, Stanisław Mikołajczyk, der im Juni 1945 gebildeten „Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit“ bei. Die von ­Mikołajczyk geführte Polnische Bauernpartei (PSL) bildete die mit Abstand größte Opposi­ tionspartei zur regierenden PPR. Sie wurde schwersten Repressalien ausgesetzt. Nach den gefälschten Sejmwahlen vom Januar 1947, in denen der PSL nur 10,3 Prozent der Stimmen und 28 von 444 Mandaten zugesprochen wurden,3 sowie weiteren Verfolgungen der Opposition, entzog sich Mikołajczyk der Verhaftung durch Flucht in den Westen. Die Tätigkeit der legalen Opposition wurde verboten. Bereits nach der offiziellen Auflösung der AK hatten sich Anfang 1945 im Untergrund Nachfolgeorganisationen gebildet, die ihre Hauptaufgabe in der Bekämpfung der im Lande stationierten sowjetischen Einheiten (Militär und NKWD, rund 200 000 Personen) sowie der ihnen de facto unterstellten polnischen kommunistischen Einrichtungen sahen. Die Stärke der größten derartigen Organisation „Freiheit und Unabhängigkeit“ (WiN) wird für 1945/46 auf 20 000 bis 30 000 Personen geschätzt.4 Eine Reihe hochrangiger Militärs aus

3

4

Dem „Demokratischen Block“ unter Führung der PPR wurden 80,1 % der Stimmen und 394 Mandate zuerkannt. Das tatsächliche Ergebnis lässt sich aus den erhaltenen Unterlagen heute nicht mehr rekonstruieren. Die PSL konnte in knapp einem Viertel der Wahlbezirke die Ergebnisse feststellen und kam dabei auf rund 69 % der Stimmen. Vgl. Andrzej Paczkowski, Pół wieku dziejów Polski, 5., erweiterte Auflage Warszawa 2005, S. 132. Janusz Kurtyka, Polska 1944–1956: z dziejów agonii i podboju. In: Instytut Pamięci Narodowej, Konspiracja i opór społeczny w Polsce 1944–1956. Słownik biograficzny. Tom I, Kraków 2002, S. XI–LVII, hier XX.

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dem Untergrund wurde verhaftet und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt oder hingerichtet. Militärische Auseinandersetzungen im Untergrund dauerten nach Kriegsende auch in den bis 1939 zu Polen gehörenden Ostgebieten an. Die kommunistische Regierung führte ferner einen Kampf gegen die im polnisch-sowjetischen Grenzgebiet weiter aktive „Ukrainische Aufständische Armee“ (UPA), die für eine unabhängige Ukraine kämpfte. Mit der Vertreibung der polnischen Staatsbürger ukrainischer Nationalität aus ihren angestammten Siedlungsgebieten im Südosten Polens in der „Aktion Weichsel“ im Juli 1947 sollte der UPA der Rückhalt entzogen werden. Die Verteilung der rund 140 000 Ukrainer über die gesamten (ländlichen) früher deutschen West- und Nordgebiete sollte zudem ihre schrittweise Assimilierung fördern. Trotz massiver Repression seitens der kommunistischen Sicherheitsbehörden dauerten der bewaffnete Widerstand vereinzelter kleiner Gruppen und andere während der Jahre 1939 bis 1945 eingeübte Formen widerständigen Verhaltens zunächst an, wobei die sich vorwiegend in den Wäldern verbergenden Partisanen vor allem in ländlichen Gebieten Unterstützung fanden. Diese nahm jedoch ab 1947 aufgrund der Repression der kommunistischen Sicherheitsorgane und wachsender Furcht der Bauern deutlich ab. Danach gab es keine größeren bewaffneten Widerstandskämpfe mehr. Der letzte sogenannte „Waldmensch“ in Polen wurde 1963 gestellt. Einzelne Bombenanschläge wie 1971 in Oppeln besaßen eher symbolische Bedeutung.5 Dafür gewannen andere Formen gesellschaftlichen Widerstands an Bedeutung. Zum eigentlichen Gegenspieler der Kommunisten wurde ab Ende der 1940er-Jahre die Katholische Kirche. Sie spielte eine zunächst auch von den Kommunisten positiv wahrgenommene Rolle bei der Integration der heterogenen Bevölkerung, die in die früher deutschen Gebiete einwanderte. Die Kirche verteidigte jedoch auch die traditionellen Werte der polnischen Gesellschaft gegen die Versuche der PZPR, nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch das überkommene Wertesystem umzugestalten. Zu Beginn der 1950er-Jahre setzte eine Kirchenverfolgung mit dem Ziel ein, die Katholische Kirche zu einer von der PZPR gesteuerten Organisation zu machen, vergleichbar der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Sowjetunion. Die Kirche sollte die Autonomie z. B. bei der Besetzung von Pfarrstellen verlieren. Zahlreiche Priester und vier Bischöfe wurden verhaftet. Auf dem Höhepunkt der Verfolgung wurde 1953 der Primas Kardinal Stefan Wyszyński interniert. Den Kern des kommunistischen Sicherheitsapparats bildeten zu dieser Zeit sowjetische „Berater“, die vor allem das Ministerium für Staatssicherheit dominierten. Als sich 1953 ein polnischer Mitarbeiter des Ministeriums in den Westen absetzte und über Radio Free Europe in vielen Sendungen kompromittierende

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1971 explodierte eine Bombe in der Aula der Pädagogischen Hochschule in Oppeln. Der Täter, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule, wollte damit gegen das kommunistische System in Polen protestieren. Er wurde zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet.

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Einzelheiten über die sowjetische Kontrolle über das Ministerium mitteilte, wurde dieses im Dezember 1954 aufgelöst. Die entsprechenden Abteilungen wurden bis zum Ende der Volksrepublik dem Innenministerium zugeordnet. Polnischer Verteidigungsminister und Mitglied des Politbüros der PZPR war von 1949 bis 1956 der sowjetische (und polnische) Marschall Konstantin Rokossowski. Bereits in der Zeit des Stalinismus gab es in Polen – von der Zensur freilich geheim gehaltenen – vereinzelten Protest in den allmählich expandierenden Industriebetrieben wegen Erhöhung der Arbeitsnormen oder schlechter Versorgungslage. Nicht eingehaltene Versprechen bezüglich der Rücknahme verschärfter Arbeitsnormen und ausbleibende Lohnerhöhungen veranlassten Arbeiter der Posener Cegielski-Werke, ermutigt durch die etwas freiere Atmosphäre nach dem XX. Parteitag der KPdSU vom Februar 1956, die Anwesenheit ausländischer Gäste während der Posener Messe im Juni 1956 zu nutzen, um öffentlich für ihre Forderungen zu demonstrieren. Die ursprünglich auf wirtschaftliche Forderungen beschränkten Demonstrationen erweiterten sich sehr rasch auf Postulate nach größerer politischer Freiheit, die von rund 100 000 Menschen unterstützt wurden. Die Demonstrationen gerieten außer Kontrolle, woraufhin die polnische Regierung Panzer einsetzte, um der Lage wieder Herr zu werden. Etwa 70 Personen wurden getötet, rund 600 verletzt.6 Die innerparteiliche Krise der PZPR, die begann, als der „polnische Stalin“ Bolesław Bierut in Moskau im Anschluss an den XX. Parteitag der KPdSU überraschend verstarb, verschärfte sich nach den Posener Ereignissen und konnte erst mit der Rückkehr des 1948 entmachteten Nationalkommunisten Władysław Gomułka an die Spitze der Partei im Oktober 1956 beigelegt werden.

Der „Frühling im Oktober“ In dramatischen Verhandlungen mit Chruschtschow auf dem Warschauer Flughafen gelang es Gomułka, von der sowjetischen Seite Zustimmung zu weitgehenden innenpolitischen Liberalisierungen und für Polen günstigere Verträge in den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen sowie erstmals eine vertragliche Regelung der Stationierung der sowjetischen Streitkräfte in Polen zu erhalten. Gomułka brach die Kollektivierung der Landwirtschaft ab,7 beendete den Kirchenkampf,8 führte eine Liberalisierung im kulturellen Bereich ein und 6 7 8

Vgl. u. a. Edmund Makowski, Poznański czerwiec 1956 – pierwszy bunt społeczeństwa PRL, Poznań 2006. Von den am 30.9.1956 bestehenden 10 510 landwirtschaftlichen Produktionsgenossen­ schaften blieben am Jahresende 1956 ganze 1 534 übrig, die knapp 1,3 % der land­ wirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschafteten. Vgl. Rocznik Statystyczny 1957, S. 137 f. U. a. wurde Primas Wyszyński aus der Internierung entlassen. Dies war auch ein ­Zeichen der Anerkennung für die „staatstragende“, die Gesellschaft zur Besonnenheit mahnende Haltung der Kirchenführung auf dem Höhepunkt des Konflikts mit der sowjetischen Führung. Polen blieb damit das Schicksal erspart, das zur selben Zeit Ungarn mit der Niederschlagung des Aufstands erfuhr.

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versprach eine ­Demokratisierung des öffentlichen Lebens. Nie zuvor und nie mehr ­danach besaß ein kommunistischer Parteichef in Polen eine solche Unterstützung durch die Gesellschaft wie Gomułka im Herbst 1956. Zu dieser Zeit bestand eine ­echte Hoffnung, Sozialismus und Demokratie miteinander verbinden zu können. Freilich machten bereits die Sejmwahlen im Januar 1957 deutlich, dass die Demokratisierung enge Grenzen hatte und das Machtmonopol der PZPR nicht in Frage gestellt werden durfte. Arbeiterräte, die sich im Herbst 1956 – ähnlich wie unmittelbar nach Kriegsende – spontan in Betrieben gebildet hatten, wurden 1958 gesetzlich in eine in den Betrieben neu gebildete „Konferenz der Arbeiterselbstverwaltung“ eingebunden und damit de facto wieder der Kontrolle der Partei unterstellt. Langfristig blieb von den im Oktober 1956 initiierten Veränderungen vor allem die private Landwirtschaft erhalten,9 was Polen eine von Ideologen aus Nachbarländern häufig kritisierte Sonderstellung im sowjetischen Machtbereich verlieh. Ferner konnte ein bescheidener Pluralismus im kulturellen Bereich aufgebaut werden, etwa durch katholische Wochen- bzw. Monatszeitschriften wie „Tygodnik Powszechny“ und „Więź“ sowie durch die an einer Hand abzuzählenden „Klubs der katholischen Intelligenz“. Aus dem Umfeld dieser Intellektuellenkreise stammten auch die 1957 erstmals zugelassenen, in der Regel fünf (von 460) Sejmabgeordneten der ZNAK-Gruppe,10 die die Unterstützung des Episkopats besaß. Ihr Ziel war es nicht mitzuregieren, sondern im Parlament Maßstäbe für die Beurteilung des öffentlichen Lebens zum Ausdruck zu bringen, denen andere als marxistische Wertvorstellungen zugrunde lagen. Die so geschaffenen Freiräume waren allerdings ständig gefährdet und beträchtlichen Schwankungen je nach dem innenpolitischen Klima unterworfen. Sie ermöglichten aber das Fortbestehen und die Weiterentwicklung eines nicht der offi­ ziellen Ideologie verpflichteten Wertesystems. Die Schließung des populären Intellektuellen-Wochenblatts „Po prostu“ Ende 1957, die Proteste von Studierenden und Straßendemonstrationen zur Folge hatte, markierte symbolisch das Ende der politischen Liberalisierung. Die Diskussionen über die Weiterentwicklung eines zunächst durchaus „sozia­listisch“ vorgestellten Systems setzte sich jedoch gerade unter Intellektuellen fort, die zunächst den Kommunisten nahestanden oder sogar Mitglieder der PZPR ­waren („Revisionisten“). Auch im Westen erregte der Ende 1964 bekannt gewor­ dene offene Brief der Intellektuellen Jacek Kuroń (Jahrgang 1934) und Karol ­Modzelewski (Jahrgang 1937) an die kommunistische Partei großes Aufsehen, indem sie das bestehende sozialistische System heftig kritisierten und für einen

  9 Bis zum Systemwechsel 1989 blieben etwa 75 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche in privater Hand. 10 „Znak“ bedeutet „Zeichen“ und ist zugleich der Name einer bis heute bestehenden ka­ tholischen Monatsschrift. Die Kandidatur der Mitglieder dieser Gruppe bei Sejmwahlen war abhängig von der Genehmigung des staatlichen Amtes für Bekenntnisfragen.

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demokratischen Sozialismus eintraten.11 Beide wurden aus der PZPR ausgeschlossen und erhielten drei bzw. dreieinhalb Jahre Gefängnis. Ein Novum bildete ein 1964 von 34 Intellektuellen unterschriebener Brief an den Vorsitzenden des Ministerrats. Das Spektrum der Unterzeichner r­ eichte von einstigen PZPR-Mitgliedern bis zu mit der Katholischen Kirche verbundenen Persönlichkeiten. Sie forderten u. a. das Recht auf Kritik, freie Diskus­ sion und sachliche Information sowie zum Wohl der Nation eine Änderung der Kulturpolitik im Geiste der von der Verfassung garantierten Rechte.12 Etliche Unterzeichner mussten Repressionen seitens der Staatsmacht hinnehmen. Der „Brief der 34“ stellt in gewisser Hinsicht eine erste Ankündigung der sich in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre „von unten“ bildenden, Demokratie und Menschenrechte einfordernden Bewegungen dar. Studierende der Warschauer Universität diskutierten seit Mitte der 1960er-Jahre offen revisionistische Thesen. Aus ihrem Umfeld stammten die Wortführer, darunter Adam Michnik, die im März 1968 gegen die Absetzung von Adam Mickiewiczs „Totenfeier“ vom Spielplan des Warschauer Theaters protestierten. Die gewaltsame Niederschlagung der Studentenproteste und die anschließende Welle des Antisemitismus raubten auch den letzten noch an die Reformierbarkeit des Sozialismus glaubenden Intellektuellen ihre Illusionen. Aus „Revisionisten“ – oder in der Begrifflichkeit von Agnes Arndt – aus „Dissidenten“ wurden so zunehmend „Oppositionelle“, die das gesamte System infrage stellten und sich künftig auf den Einsatz für Menschen- und Bürgerrechte konzentrierten.13 Eine eigenständige, antikommunistische Randgruppe von maximal 100 Personen bildete 1965 bis 1970 die nicht in der Öffentlichkeit wirkende Vereinigung „Ruch“ unter Führung des Absolventen der Warschauer Rechtsfakultät Andrzej Czuma (Jahrgang 1938).14 Die Tätigkeit der Gruppe endete, als die geplante Sprengung des Lenin-Denkmals in Poronin in der Tatra denunziert wurde. Sechs Personen erhielten Haftstrafen zwischen vier und sieben Jahren.

Die Anfänge widerständiger Organisation „von unten“ in den 1970erJahren Die überraschenden Preiserhöhungen für wichtige Lebensmittel, insbesondere Fleisch und Fleischprodukte, kurz vor Weihnachten 1970 lösten in der Gesellschaft Proteste aus, die vor allem an der Küste im Großraum Danzig und in Stettin teilweise gewalttätig verliefen. Militär und Miliz setzten Schusswaffen 11 Der offene Brief wurde auch in der Bundesrepublik veröffentlicht: Jacek Kuroń, Karol Modzelewski, Monopolsozialismus. Offener Brief an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, Hamburg 1967. 12 Jerzy Eisler, List 34, Warszawa 1993. 13 Agnes Arndt, Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956–1976), Göttingen 2013. 14 Piotr Byszewski, Działania Służby Bezpieczeństwa wobec organizacji Ruch, Warszawa 2008.

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ein. Dutzende Demonstranten wurden verletzt, rund 40 getötet, aber auch ­einige Angehörige der Miliz und Soldaten kamen ums Leben. Ferner wurden ­Par­teigebäude zerstört oder beschädigt. Gomułka wurde parteiintern gegen seinen heftigen Widerstand zum Rücktritt gezwungen.15 Der neue Parteichef Edward Gierek war nicht ideologisch, sondern technokratisch orientiert und wollte Polen mithilfe westlichen Know-hows und Kapitals wirtschaftlich modernisieren. Schlüsselpartner war hierbei die Bundesrepublik Deutschland. Das ausländische Kapital wurde jedoch nicht nur in produktive Anlagen investiert, sondern zum großen Teil auch in den Konsum. Aufgrund des spürbar gewachsenen Lebensstandards erhöhte dies anfangs die Legitimität der neuen Führung in der Gesellschaft, bildete aber eine wichtige Ursache der in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre anwachsenden Wirtschafts- und Verschuldungskrise. Unter Intellektuellen rief das 1971 im Verlag von „Więź“ erschienene Buch „Genealogien der Aufbegehrenden“ von Bogdan Cywiński heftige Diskussionen hervor.16 Es erlaubte einen ganz anderen Blick auf die Rolle polnischer Intellektueller im 19. und 20. Jahrhundert und wurde auch von Angehörigen der laikalen Linken rezipiert. Deren Antwort gab Adam Michnik mit seinem Buch zum Verhältnis der Kirche und der Linken.17 Die sich abzeichnende Annäherung zwischen laikalen Linken und katholischen Intellektuellen wurde verstärkt durch gemeinsame Proteste gegen die Verfassungsänderung, die Anfang 1976 in überstürzter Weise eingeführt wurde und u. a. die Führungsrolle der PZPR festschrieb. Die Brücke zwischen beiden Gruppen, deren Verhältnis zueinander lange von Misstrauen gekennzeichnet war, bildeten gemeinsame Wertvorstellungen wie Menschen- und Bürgerrechte. Als Ende Juni 1976 schon länger erwartete Preiserhöhungen für Konsum­güter ohne die zuvor angekündigten „gesellschaftlichen Konsultationen“ überfall­artig und in unerwartet hohem Ausmaß eingeführt werden sollten, kam es in Radom und Ursus zu gewalttätigen Protesten von Arbeitern. Die Parteiführung nahm die Preiserhöhungen zwar zurück, revanchierte sich aber an Tausenden von Arbeitern im ganzen Land – auch solchen, die sich nicht an den Protesten beteiligt hatten – durch Verhaftungen, körperliche Misshandlungen, Entlassungen und den Zwang zur Teilnahme an Sympathiekundgebungen für die Parteiführung. Anders als während der Arbeiterproteste 1970/71 organisierte ab Juli 1976 eine kleine Gruppe Intellektueller zunächst in Warschau, dann auch an anderen Orten Rechtsbeistand für die verhafteten Arbeiter und materielle Hilfe für ihre Familien. Als die Behörden durch Repressionen versuchten diese Hilfsaktionen zu unterbinden, gaben im September 1976 zunächst 14 Personen die Gründung

15 Vgl. u. a. Jerzy Eisler, Grudzień 1970. Geneza, przebieg, konsekwencje, Warszawa 2000. 16 Bogdan Cywiński, Rodowody niepokornych, Warszawa 1971. 17 Es erschien 1977 im Pariser Exil: Adam Michnik, Kościół, lewica, dialog, Paryż 1977. Deutsch: ders., Die Kirche und die polnische Linke, München 1980.

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eines „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter“ (Komitet Obrony Robotników, KOR) bekannt, dem auch bekannte Intellektuelle angehörten. Sie informierten eine kleine, aber wachsende Öffentlichkeit über die Prozesse und andere Repressionsmaßnahmen und konnten dabei auch einflussreiche Linke im Westen mobilisieren.18 Nach der Verhaftung von rund einem Dutzend Mitgliedern und Mitarbeitern von KOR kam es Ende Mai 1977 zu einem weltweit beachteten einwöchigen Hungerstreik in der Warschauer St. Martinskirche. Zum Nationalfeiertag am 22. Juli 1977 wurde eine Amnestie für alle im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Juni 1976 noch Inhaftierten einschließlich der KOR-Mitglieder erlassen. Nachdem das unmittelbare Ziel erreicht war, bildete sich das KOR im September 1977 zum „Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung“ (KSS) um, das nach den Konzeptionen von Jacek Kuroń und Adam Michnik – anders als früher die „Revisionisten“ innerhalb der Partei – eine langfristige Umgestaltung des politischen Systems durch gesellschaftliche Aktivitäten „von unten“ anstrebte, durch die zunächst größere Rechtssicherheit erzielt und von der Partei besetzte Räume etwa im kulturellen Bereich zurückgewonnen werden sollten. Im März 1977 spaltete sich von KOR die stärker „national“ orientierte „Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte“ (ROPCiO) ab, darunter die KOR-Gründungsmitglieder Andrzej Czuma und Antoni Macierewicz. ROPCiO betonte kaum Arbeiterrechte, trat dafür aber stärker für die besonders seit der Schlussakte von Helsinki 1975 auch in Polen von nicht parteikonformen Intellektuellen eingeforderten Menschen- und Bürgerrechte ein.19 Damit bestand das sich ausbildende oppositionelle Netzwerk aus drei Hauptgruppen: den linkskatholischen Klubs der katholischen Intelligenz, der im KOR versammelten kritischen Linken und dem ROPCiO.20 Gestärkt werden sollte zunächst die kulturelle Autonomie der Gesellschaft. Hierzu wurde Ende der 1970er-Jahre unter materiell extrem schwierigen Bedingungen allmählich ein Verlagswesen außerhalb der Zensur aufgebaut („zweiter Umlauf“). Veröffentlicht wurden Arbeiten, die die Zensur abgelehnt hatte, aber auch Werke

18 So bewirkte Jacek Kurońs Brief an den italienischen KP-Chef Berlinguer ein Protest­ schreiben der KPI-Führung an die PZPR-Sitze, was dort eine ganze Reihe von Aktivitä­ ten auslöste. 19 Zum KOR siehe die zuerst 1983 in London erschienene Monografie seines Gründungs­ mitglieds Jan Józef Lipski, KOR, Neuauflage Warszawa 2006; Jan Skórzyński, Siła bez­ silnych. Historia Komitetu Obrony Robotników, Warszawa 2012. Zum ROPCiO u. a. Grzegorz Waligóra, ROPCiO, Warszawa 2006; Andrzej Friszke, Opozycja polityczna w PRL 1945–1980, Londyn 1994. 20 Vgl. Hella Dietz, Polnischer Protest. Zur pragmatischen Fundierung von Theorien sozia­ len Wandels, Frankfurt a. M. 2015, S. 163 f. Aus dem ROPCiO löste sich ab 1978 Leszek Moczulski, der 1979 die „Konföderation Unabhängiges Polen“ (KPN) gründete. 1980 versuchte er vergebens bei den Sejmwahlen zu kandidieren. Seine politische Priorität bestand in der möglichst umgehenden Beseitigung der kommunistischen Herrschaft und dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Polen.

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exilpolnischer und ausländischer Autoren21 sowie vergriffene Werke der polnischen Klassik. Eine „Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse“ (TKN) führte ab 1977/78 meist in Privatwohnungen Lehrveranstaltungen zu Themen durch, die in den offiziellen Lehrplänen tabuisiert waren, etwa zu Fragen der Zeitgeschichte. Diese „Fliegenden Universitäten“ knüpften an Traditionen unter der russischen Teilungsmacht im 19. Jahrhundert, aber auch an Aktivitäten unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg an. Eine wichtige Stärkung erfuhr die Opposition 1978 durch die Wahl des Krakauer Kardinals Karol Woj­tyła zum Papst. Durch die von Millionen Teilnehmern begleitete „Pilgerreise“ von Johannes Paul II. durch sein Heimatland 1979 und seine Ansprachen („Habt keine Angst!“) gab er der Gesellschaft Mut und Zuversicht. Diese Reise war eine zwar nicht hinreichende, aber doch notwendige Bedingung für das Gelingen der Streiks vom August 1980. Die im Vergleich zu anderen kommunistisch regierten Ländern Ostmittelund Osteuropas bemerkenswerteste Besonderheit der Opposition in Polen war ab 1976/77 die enge Zusammenarbeit zwischen Intellektuellen und Arbeitern. KOR sprach eine für die Arbeiter verständliche und glaubwürdige Sprache. Die ab September 1977 ein- bis zweimal pro Monat erscheinende Flugschrift ­„Robotnik“ (Der Arbeiter) knüpfte bewusst an den Namen einer Zeitschrift der PPS aus der Zwischenkriegszeit an. Er berichtete über Missstände in Betrieben, die von westlichen Korrespondenten weitergegeben wurden und über westliche Nachrichtensendungen in ganz Polen wahrgenommen wurden. Die Auflage des „Robotnik“ stieg von anfangs 400 auf nach einem Jahr 20 000 Exemplare. Zunehmende Bedeutung gewann die Schulung der Arbeiter bezüglich ihrer Rechte auf eine tatsächliche Interessenvertretung. Im Februar 1978 wurde ein „Gründungskomitee freier Gewerkschaften“ in Schlesien ins Leben gerufen, im April 1978 an der Küste. Bei der Verabschiedung einer „Charta der Arbeiterrechte“ im August 1979 an der Küste wurden etliche Forderungen aufgegriffen, die die streikenden Arbeiter in Stettin 1970/71 erhoben hatten. Der „Robotnik“ veröffentlichte die Charta ebenso wie die Liste der über 100 Erstunterzeichner aus 26 Städten in ganz Polen. Auch hier handelten Arbeiter und Intellektuelle gemeinsam.22

21 So erschien 1983 im „zweiten Umlauf“ die „Blechtrommel“ von Günter Grass. 22 „Robotnik“ 1979, Nr. 35, S. 1 f., zit. nach Krzysztof Brzechczyn, Program i myśl po­ lityczna NSZZ „Solidarność“. In: Łukasz Kamiński/Grzegorz Waligóra (Hg.), NSZZ „Solidarność“. Tom 2: Ruch społeczny, Warszawa 2010, S.  13–74, hier 21. Der Text der Charta in deutscher Übersetzung bei Werner Mackenbach (Hg.), Das KOR und der „polnische Sommer“. Analysen, Dokumente, Artikel und Interviews 1976–1981, ­Hamburg 1982, S. 110–114.

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Die Gründung der Solidarność 1980, das Kriegsrecht 1981–1983 und vergebliche Versuche, die Volksrepublik zu reformieren Teile der Charta lesen sich wie ein vorweggenommenes Szenario der Streiks in Danzig im August 1980. Am 14. August erreichte die nach Preiserhöhungen für Lebensmittel im Juli begonnene Streikwelle die Leninwerft. Überall zuvor waren die Streiks nach der Erfüllung der materiellen Forderungen beendet worden. Auch in der Danziger Werft schienen die Streiks am 16. August mit der weitgehenden Erfüllung der Forderungen zu Ende zu gehen, als die Nachricht von Solidaritätsstreiks an der ganzen Küste dem Konflikt eine neue Qualität gab. Die nun erhobenen 21 Forderungen stellten eine brisante Mischung dar, aus einerseits materiellen und andererseits an die Substanz der Grundlagen kommunistischer Herrschaft gehenden politischen Postulaten.23 Entsprechend den in der Charta enthaltenen Empfehlungen gingen die Streikenden nicht auf die Straße, sondern führten einen Besetzungsstreik durch, mit dem sich die gesamte Großregion Danzig solidarisierte. Die Arbeiter wurden von aus Warschau angereisten Intellektuellen mit Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek an der Spitze beraten. Ihnen gegenüber saß eine Regierungsdelegation. Noch während der laufenden Verhandlungen traten Ministerpräsident Edward Babiuch und mehrere Minister zurück, ebenso wie Edward Gierek als Parteichef. Sein Nachfolger wurde Józef Kania. Die neue politische Führung schreckte vor der Anwendung von Gewalt zurück und akzeptierte am 31. August weitgehend die Forderungen der Streikenden. Bereits die Feststellung zu Forderung 1, dass die bisherigen Gewerkschaften bei der Verteidigung der Arbeiterrechte versagt hätten, bedeutete für eine Partei, die ihre Herrschaft damit legitimierte, dass sie die Interessenvertreterin der Arbeiterklasse sei, eine politische Bankrotterklärung. Der Vorsitzende der offiziellen Gewerkschaften, Jan Szydlak, war seit 1970 Mitglied des Politbüros gewesen. Mit der Zulassung parteiunabhängiger Gewerkschaften wurde das Organisationsmonopol der PZPR gebrochen, und das in einem hoch sensiblen Bereich. Pfeiler der kommunistischen Herrschaft waren ferner mit der Ankündigung eines liberaleren Zensurgesetzes und der stärkeren Berücksichtigung fachlicher Qualifikation bei der Besetzung von Führungspositionen, also der ­Nomenklaturkompetenz der Partei, betroffen. Jeden Sonntagvormittag sollte eine katholische Messe im ersten Hörfunkprogramm übertragen werden. Erstmals seit Jahrzehnten war damit die Kirche wieder im Radio zu vernehmen.24 Im Gegenzug mussten die Streikenden die Grundlagen der Verfassungsordnung, also die Führungsrolle der Partei und das „sozialistische Eigentum“ an den Produktionsmitteln, sowie Polens internationale Bündnisse, das heißt die 23 Die 21 Forderungen sind abgedruckt bei Hermann Volle/Wolfgang Wagner (Hg.), Krise in Polen, Bonn 1982, S. 137–145. 24 Die Messe am Sonntag um 10 Uhr wird bis heute übertragen.

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Unterordnung unter die Sowjetunion, anerkennen. Ferner verpflichteten sich die neuen Gewerkschaften, nicht die Rolle einer politischen Partei zu spielen.25 Trotz dieser Verpflichtungen der künftigen parteiunabhängigen Gewerkschaften waren einige der von der PZPR-Führung in dieser Übereinkunft gemachten Zugeständnisse absolut systemwidrig. Die konservativ-orthodoxen Führungen der kommunistischen Nachbarstaaten, allen voran die SED-Führung, drängten auf das sofortige Verbot der Solidarność. Insbesondere Honecker sah in ihr eine Gefahr für die Herrschaft der SED und wollte eine Lösung nach dem Muster der „Normalisierung“ in der Tschechoslowakei nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings 1968. Als er Ende 1980 erkennen musste, dass die sowjetische Führung nicht zu einer Invasion wie 1968 bereit war, setzte er auf einen Personalwechsel in der polnischen Parteiführung hin zu einem härter durchgreifenden Parteichef und auf eine interne polnische Lösung zur Liquidierung der Solidarność.26 Die nach Verzögerungsversuchen der Behörden erst im Oktober 1980 offiziell zugelassene „Sich Selbst Verwaltende Gewerkschaft Solidarität“ (NSZZ Solidarność) bildete – abgesehen von der wichtigen Ausnahme der Kirche – ab Herbst 1980 die einzige landesweite legale Organisation, die nicht der Kontrolle der Partei unterstand. Es war daher fast zwangsläufig, dass die Solidarność gewissermaßen zu einer multifunktionalen sozialen Bewegung wurde,27 über die alle, die aus den unterschiedlichsten Gründen im Gegensatz zur PZPR standen, versuchten ihre Ziele zu verwirklichen. Bis zum ersten Solidarność-Kongress im Herbst 1981 traten ihr rund 9,5 Millionen Mitglieder bei (bei rund 25 Millionen Einwohnern über 18 Jahren), darunter eine Million Parteimitglieder.28 In ihrer Tätigkeit wurde sie von der Partei immer wieder behindert. Ihre bloße Existenz setzte jedoch Kräfte frei, die etliche gesellschaftliche Gruppen zur Bildung autonomer Organisationen veranlassten, etwa die „Gewerkschaft“ der individuellen Landwirte, die ihre Legalisierung erst nach einem Streik im ­Januar 1981 einen Monat später durchsetzen konnte. Ebenfalls erst nach heftigen Auseinandersetzungen erreichte im Frühjahr 1981 der „Unabhängige Studentenverband“ (NZS) seine Anerkennung. Für die Gesellschaft bedeuteten

25 Ausführlicher zu den Vereinbarungen von Danzig siehe Klaus Ziemer, Die Vereinbarun­ gen von Danzig am 31. August 1980 zwischen dem Überbetrieblichen Streikkomitee und der Regierungsdelegation. In: Themenportal Europäische Geschichte, 2012 (www. europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3720; 7.11.2018). 26 Sehr detailreich und mit vielen Quellenbelegen wurde das jüngst in einer Warschauer Dissertation herausgearbeitet. Vgl. Filip Gańczak, Polski nie oddamy. Władze Niemiec­ kiej Republiki Demokratycznej wobec wydarzeń w PRL 1980–1981, Warszawa 2017. 27 Vgl. u. a. Melanie Tatur, Solidarność. Form und Funktionswandel einer sozialen Bewe­ gung. In: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 8 (1993) 2, S. 78–88. 28 Jerzy Holzer, „Solidarität“. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen, ­München 1985.

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rund 15 Monate großenteils selbstbestimmten öffentlichen Lebens eine Erfahrung, die auch nach der Verhängung des Kriegsrechts Ende 1981 weiterwirkte. Die PZPR geriet in eine Krise, von der sie sich nie mehr erholte. Sie verlor eine Million ihrer im Sommer 1980 drei Millionen Mitglieder. Der IX. Außerordentliche Parteitag der PZPR im Juli 1981 konnte die Position der Partei in den Auseinandersetzungen mit der Solidarność kaum festigen. Im Sejm waren nach dem August 1980 über 100 Abgeordnete zurückgetreten oder wurden zum Rücktritt gezwungen und durch Nachrücker ersetzt. Das Parlament, in dem nun etliche Abgeordnete ihre Sympathie für die Solidarność offen zum Ausdruck brachten, erfüllte viel stärker als zuvor die ihm von der Verfassung zugeschriebene Rolle und diente angesichts der Schwäche der Partei als eine Art „Legitimitätsreserve“ der bestehenden politischen Ordnung. Vertreter der Solidarność wurden bei der Ausarbeitung von Gesetzen zu wichtigen wirtschaftlichen und sozialen Fragen konsultiert. Die Zensur war weitgehend aufgehoben. Der in zwei Etappen vom 5. bis 10. September und vom 26. September bis 7. Oktober 1981 in Danzig abgehaltene I. Kongress der Solidarność mit rund 1 000, auf Regionalkongressen gewählten Delegierten nahm ein Programm an, dessen Entwurf im Februar 1981 in der neuen Wochenzeitschrift der Gewerkschaft, „Tygodnik Solidarność“, veröffentlicht und danach auf allen Organisa­ tionsebenen diskutiert worden war. Die Werte, auf denen das Programm explizit beruhte, waren „die besten Traditionen der Nation, die ethischen Grundsätze des Christentums, die politischen Postulate der Demokratie und sozialistisches soziales Gedankengut“ sowie „die Prinzipien gesellschaftlicher Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, die aus der angeborenen Würde der menschlichen Person, der Würde der Arbeit des Menschen und seiner Mühen hervorgehen“.29 Diese Formulierungen reflektierten die unterschiedlichen ideellen Ausrichtungen, die die sich – bei einer Millionenbewegung nicht verwunderlich – immer deutlicher abzeichnenden Flügel charakterisierten. Das „linke“ KOR mit seinen landesweit bekannten Führungspersönlichkeiten Jacek Kuroń und Adam Michnik löste sich beim Kongress der Solidarność am fünften Jahrestag seiner Gründung auf und forderte seine Anhänger auf, ihre Tätigkeit in der Solidarność fortzusetzen. Geleitet wurde die Gewerkschaft von einem Landeskoordinierungsausschuss (KKP) aus Vertretern aller autonomen Regionalverbände. Zum Vorsitzenden wurde mit einer Mehrheit von 55,2 Prozent im ersten Wahlgang Lech Wałęsa gewählt. Auf dem Kongress wurde die Führungsrolle der Partei nicht grundsätzlich infrage gestellt und hauptsächlich über Veränderungen in der Wirtschaft diskutiert. Das verabschiedete Programm enthielt u. a. den Vorschlag, eine Selbstverwaltungskammer des Sejm zu errichten, die die Verwirklichung

29 Vgl. die Diskussionsthesen zur Richtung der Tätigkeit der Gewerkschaft in der gegen­ wär­tigen Situation, „Tygodnik Solidarność“ 1981, Nr. 3, wiedergegeben bei Brzechczyn, Program, S. 26.

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des wirtschaftlichen Reformprogramms und der Wirtschaftspolitik beaufsichtigen sollte. Zum Wirtschaftsprogramm wurden drei Varianten beschlossen, die weiter diskutiert werden sollten. Großes Aufsehen erregte ein vom Solidarność-Kongress verabschiedeter Aufruf an die Völker der Sowjetunion und der anderen kommunistischen Länder, in dem sie ermuntert wurden, ebenfalls auf freie Gewerkschaften hinzuarbeiten.30 Von einem geordneten öffentlichen Leben konnte nur mehr bedingt die Rede sein. Bei lokalen oder regionalen Konflikten auch in nichtökonomischen ­Fragen wurden häufig Streiks als Mittel der Auseinandersetzung angewandt, da von ­allen anerkannte Regeln des Konfliktaustrags fehlten und die Partei ihre bisherige Machtposition gegenüber der Gesellschaft kaum mehr durchsetzen ­konnte. Im Herbst 1981 zeichnete sich auch auf nationaler Ebene immer mehr ein Patt zwischen PZPR und Solidarność ab, der das öffentliche Leben zu lähmen ­drohte. Am 18. Oktober 1981 wurde Verteidigungsminister General ­Wojciech Jaruzelski, seit Februar 1981 auch Ministerpräsident, vom Zentralkomitee zum neuen Parteichef ernannt. Anders als die Partei waren Militär und Geheimdienst Institutionen, die noch intakt und handlungsfähig waren. Unter Bruch der Verfassung – der in Sitzung befindliche Sejm hätte zustimmen müssen, wurde aber nicht gefragt – ließ Jaruzelski am 13. Dezember 1981 den Staatsrat das Kriegsrecht in Polen verhängen. Die Macht übernahm formell ein in der Verfassung nicht vorgesehener „Militärrat der nationalen Wiedergeburt“ (WRON), an dessen Spitze Jaruzelski trat. Tausende Anhänger der Opposition wurden verhaftet, darunter fast die gesamte Führungsspitze der Solidarność, die gerade in Danzig tagte.31 Auch etwa ein Dutzend Politiker der PZPR-Führung der 1970er-Jahre wurde interniert, darunter Edward Gierek. Eine nächtliche Ausgangssperre wurde verhängt, die Telekommunika­tion und Transportverbindungen mit dem Ausland unterbrochen. In den ersten Tagen des Kriegsrechts noch auftretende Besetzungsstreiks wurden mit Gewalt gebrochen. In der Grube „Wujek“ in Kattowitz wurden dabei am 16. Dezember 1981 neun Bergleute erschossen und 21 verletzt. Die Solidarność wurde in ihrer Tätigkeit zunächst suspendiert, dann 1982 ganz verboten. Völlig in den Hintergrund trat die PZPR. Freilich wurden etliche auf dem Parteitag im Juli gefasste „liberale“ Beschlüsse zur innerparteilichen Organisation zurückgenommen und eine straffe Führung „von oben“ eingeführt. Allein bis zum 4. Januar 1982 wurden 88 Parteiorganisationen unterschiedlicher Ebenen aufgelöst.32 Im Staatsapparat erfolgten umfassende Säuberungen, in Verwaltung und Wirtschaftsbetrieben übernahmen Militärs die Kontrolle.

30 Deutsche Fassung: Solidarnosc-Aufruf an die Arbeiter Osteuropas vom 8.9.1981 (http://www.chronik-der-mauer.de/material/178860/solidarnosc-aufruf-an-die-arbeiterosteuropas-8-september-1981; 5.3.2017). 31 Antoni Dudek, Wstęp. In: ders (Hg.), Stan wojenny w Polsce 1981–1983, Warszawa 2003, S. 18. 32 Ebd., S. 19.

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Im April 1982 gründeten fünf Solidarność-Führer aus verschiedenen Re­ gionen im Untergrund die „Provisorische Koordinationskommission“ (TKK), die das aktuelle Programm der Gewerkschaft, aber auch konkrete Aktionen bestimmen sollte, bis die auf dem I. Kongress der Solidarność gewählte Landeskommission mit Wałęsa an der Spitze wieder handlungsfähig wäre. Außerhalb dieser Strukturen blieben ebenfalls im Untergrund wirkende Gruppen wie die „Kämpfende Solidarność“ in Niederschlesien oder „Solidarność ’80“. Hatte es am zweiten Jahrestag der Unterzeichnung des Danziger Abkommens, am 31. August 1982, in Städten im ganzen Land noch Straßenschlachten gegeben, die zu 5 000 Verhaftungen führten und fünf Menschenleben kosteten, flaute der sichtbare Widerstand danach ab. Die Opposition war vor allem über eine ausgedehnte Untergrundpresse wahrnehmbar. Im Juli 1983 wurde das Kriegsrecht aufgehoben. Jaruzelski beschränkte sich nicht auf Repression gegen die Solidarność, sondern versuchte mit einer Reihe von Reformen dem politischen Institutionensystem eine größere technokratische Effizienz zu verleihen. Einige dieser Reformen ließen sich nach außen als Liberalisierung darstellen und sollten auch zur politischen Entlastung des Regimes beitragen. Unter dem Schlagwort, die „sozialistische Rechtsstaatlichkeit“ zu stärken, wurde im März 1982 ein Verfassungsgerichtshof eingeführt, der mit Verfassung und Gesetzgebung nicht vereinbare Entscheidungen staatlicher Instanzen aufheben konnte. Diese Einrichtung wich so weit von den „objektiven Gesetzmäßigkeiten beim Aufbau des Sozialismus“ ab, dass der Einspruch orthodoxer Parteiführungen wie der DDR erst mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows in der UdSSR überwunden und das entsprechende Ausführungsgesetz erst Ende 1985 erlassen werden konnte. Ebenfalls beispiellos für ein realsozialistisches Land war Ende 1987 die Einführung eines „Beauftragten für die Bürgerrechte“, einer Art Ombudsperson, die dem Schutz der Individualrechte dienen sollte. Auch das Zensurgesetz von 1983 war zwar restriktiver als vor dem 13. Dezember 1981, aber liberaler als vor 1980. Ferner gab es Versuche, auch Teile der Gesellschaft, die der PZPR nicht unbedingt nahestanden, stärker in das bestehende System einzubinden. Nach der Auflösung aller Gewerkschaften Ende 1982 wurden auf Betriebsebene schrittweise neue, systemloyale Gewerkschaften aufgebaut, die sich 1984 zur „Gesamtpolnischen Verständigung der Gewerkschaften“ (OPZZ) zusammenschlossen. Ihr trat bis 1988 jedoch nur etwa die Hälfte der in der staatlichen Wirtschaft Tätigen bei (Organisationsgrad bis 1980: fast 100 Prozent). Seit Mitte der 1980er-Jahre gab es Versuche, neue Formen einer tolerierten Halböffentlichkeit zu finden. Liberale Parteimitglieder und episkopat­nahe Intellektuelle diskutierten über aktuelle Probleme wie die Frage, ob es im Sozia­lismus Platz für eine Opposition gebe. Darüber berichtete auch die zensierte Presse. Nach mehreren Amnestien ab 1983 verkündete Jaruzelski 1986 eine vollständige Amnestie für alle politischen Gefangenen. Einen Test, ob man die Opposition in das bestehende politische System integrieren könne, bildete offensichtlich Ende 1986 die Schaffung eines „Konsultativrats beim Vorsitzenden des

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Staatsrats“.33 Seine 56 Mitglieder, Experten für verschiedene gesellschaftliche Problembereiche, waren zu 70 Prozent parteilos.34 Sie wurden von Jaruzelski ad personam ernannt, darunter auch einige wenige dem Episkopat und der ­Solidarność nahestehende Personen; etliche andere hatten abgelehnt. In diesem Konsultativrat konnten zwar völlig frei gesellschaftliche Problembereiche wie Drogenkonsum oder mangelnde Arbeitsmotivation angesprochen werden und die Diskussionen wurden unzensiert veröffentlicht. Über mögliche Konsequenzen aus den Diskussionen entschied jedoch allein Jaruzelski. Der Konsultativrat war somit Ausdruck der paternalistischen Haltung der politischen Führung gegenüber der Gesellschaft und bestenfalls eine Art Testballon für die Einführung einer eventuellen zweiten Parlamentskammer. Die Equipe Jaruzelski scheiterte bei der Lösung des für die Bevölkerung wichtigsten Problems: der Wirtschaftskrise. Vor dem Anlauf zu neuen Wirtschaftsreformen, zu dem sie sich eine Art Blankovollmacht geben lassen wollte, setzte sie im November 1987 ein Referendum an, in dem sie die Unterstützung für nicht weiter präzisierte Wirtschaftsreformen einholen wollte und gewissermaßen als Ausgleich dafür ebenfalls nicht definierte politische Reformen anbot. Rund zwei Drittel der Stimmberechtigten gingen zur Abstimmung und jeweils etwa zwei Drittel stimmten zu. Die PZPR-Führung wurde jedoch Opfer ihres eigenen Misstrauens gegenüber der Gesellschaft. Das ein halbes Jahr zuvor verabschiedete Gesetz über Referenden, das auch Referendumsinitiativen „von unten“ zuließ, verlangte für die Gültigkeit des Referendums nicht nur die Zustimmung der Mehrheit der Abstimmenden, sondern auch der Abstimmungsberechtigten. Mit Ergebnissen von 44,3 bzw. 46,3 Prozent scheiterte erstmals eine kommunistische Regierung bei einer von ihr selbst angesetzten Abstimmung.

Der Runde Tisch 1989 und das Ende der Volksrepublik Die Streiks im Mai und im August 1988 konnte die Regierung nicht mehr aus eigener Kraft, sondern nur noch mithilfe von Personen beilegen, die der verbotenen Solidarność nahestanden. Das Scheitern der Reformstrategie Jaruzelskis und seiner Equipe, die politische und wirtschaftliche Krise in Polen zu lösen, war offensichtlich. Allerdings war auch unverkennbar, dass die Unterstützung für die Streiks und die Solidarność generell geringer war als 1980/81.35 1988

33 1985 hatte Jaruzelski das Amt des Ministerpräsidenten abgegeben und das Amt des Staatsratsvorsitzenden (des formellen Staatsoberhaupts) übernommen. 34 Vgl. die Liste der Mitglieder des Konsultativrats: Rada Konsultacyjna przy Przewod­ niczącym Rady Państwa (https://pl.wikipedia.org/wiki/Rada_Konsultacyjna_przy_­ Przewodnicz%C4%85cym_Rady_Pa%C5%84stwa#Sk.C5.82ad_Rady_Konsultacyjnej; 30.9.2017). 35 Zur zunehmenden Schwäche der Opposition ab 1982 siehe u. a. Antoni Dudek, Regla­ mentowana rewolucja. Rozkład dyktatury komunistycznej w Polsce 1988–1990, Kraków 2014, S. 54–66.

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durchgeführte Untersuchungen Warschauer Soziologen zeigten, dass je etwa 20 Prozent der Bevölkerung das bestehende politische Regime befürworteten bzw. ablehnten, 35 Prozent eine „zentristische“ Position einnahmen und 25 Prozent sich ganz ins Privatleben zurückgezogen hatten.36 Bereits Mitte September kam es zu ersten direkten Gesprächen zwischen Wałęsa und Innenminister Kiszczak, an denen dann auf beiden Seiten auch weitere Personen teilnahmen. Das Ziel waren Verhandlungen an einem Runden Tisch, bei denen Regierung und Opposition ein neues Abkommen schließen sollten. Der immer wieder gefährdete und sogar unterbrochene Gesprächsfaden zwischen beiden wurde diskret von Vertretern der Kirche aufrechterhalten. Am 18. Dezember 1988 wurde in Warschau ein 135-köpfiges „Bürgerkomitee bei Lech Wałęsa“ gebildet, das in Themengruppen die Gespräche am Runden Tisch inhaltlich vorbereiten sollte. Die Mitglieder des Bürgerkomitees besaßen keine demokratische Legitimation, sondern wurden von Wałęsa und seinen engsten Beratern benannt. Auf der anderen Seite nahm das Zentralkomitee der PZPR auf seinem X. Plenum in zwei Durchgängen im Dezember 1988 und Januar 1989 erst nach heftigen Spannungen die von der Parteiführung vorgelegten Grundsatzdokumente an, die den Weg zu Verhandlungen ebneten. Am Runden Tisch, der vom 6. Februar bis zum 5. April 1989 dauerte, nahmen 56 Personen teil. Die Opposition war nur durch die kompromissbereiten Angehörigen des Bürgerkomitees repräsentiert. Vertreter der Fundamental­ opposition (KPN, Kämpfende Solidarność u. a.) waren ausgeschlossen bzw. bestritten den Vertretern des Bürgerkomitees die Legitimität, die gesamte Opposition zu repräsentieren. Die Gründe und Konsequenzen dieses Bruchs innerhalb der Opposition wurden erst später deutlich. Das Ergebnis des Runden Tischs war ein Kompromiss zwischen koopera­ tionsbereiten Eliten des alten Regimes und kooperationsbereiten Gegeneliten, wie er aus den Forschungen zum Übergang zur Demokratie aus autoritären Systemen in Lateinamerika und Südeuropa bekannt war. Die institutionellen Arrangements sollten den alten Eliten für vier bis sechs Jahre die weitere politische Kontrolle garantieren und die Gegeneliten in das neue System integrieren, wonach in vier Jahren freie Parlamentswahlen stattfinden sollten. Das Ergebnis der Wahlen vom Juni 1989, in denen die Solidarność alle ihre zugänglichen 161 (von 460) Sitzen im Sejm und bei den freien Wahlen zum Senat 99 von 100 Mandaten gewann, entwickelte jedoch eine solche Dynamik, dass die bisherigen Koalitionspartner der PZPR, Bauernpartei (ZSL) und Demokratische Partei (SD), keine Koalition mehr mit der PZPR eingehen wollten. Im August 1989 wurde der katholische Publizist Tadeusz Mazowiecki zum Ministerpräsidenten

36 Vgl. Krzysztof Jasiewicz, Zwischen Einheit und Teilung: Politische Orientierungen der Polen in den 80er Jahren. In: Gerd Meyer/Franciszek Ryszka (Hg.), Die politische Kultur Polens, Tübingen 1989, S. 141–171.

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einer Koalitionsregierung aus Solidarność, ZSL und SD gewählt. Er akzeptierte die Anwesenheit von vier Ministern der PZPR, darunter aus ­außenpolitischer Rücksichtnahme im Verteidigungs- und im Innenministerium.37 Ende 1989 wurde die Verfassung so weit geändert, dass sie demokratischen Mindestanforderungen entsprach (Rechtsstaatsprinzip, Parteienpluralismus). Der Staatsname wurde von „Volksrepublik“ in „Republik Polen“ geändert. Als sich Ende Januar 1990 die PZPR selbst auflöste, verließen auch ihre Minister das Kabinett ­Mazowiecki. Mit dem Rücktritt von General Jaruzelski und der Wahl Lech Wałęsas zum Staatspräsidenten Ende 1990 wurde der politische ­Systemwechsel auf der Ebene der Spitzenpositionen abgeschlossen.

Diskussionen und Streitfragen zur Opposition im ­kommunistischen ­Polen heute Die Beurteilung der politischen Opposition in Polen nach 1945 ist in den letzten Jahren Gegenstand lebhafter Diskussionen in den Sozialwissenschaften und zum Teil heftiger Auseinandersetzungen in der Politik geworden, auf die hier nur ansatzweise eingegangen werden kann. In der Literatur ist in den letzten Jahren hinterfragt worden, wie weit die Opposition in Polen in den 1970er- und 1980er-Jahren versucht hat, das Konzept „Zivilgesellschaft“ zu verwirklichen. Dieser Begriff hat international eine Renaissance vor allem durch einen von Andrew Arato Ende 1981 veröffentlichten Artikel erfahren. Arato bezeichnete das Entstehen der Solidarność als Sieg der Zivilgesellschaft über den (kommunistischen) Staat.38 Jüngere Arbeiten haben darauf hingewiesen, dass sich das Konzept der Zivilgesellschaft mit diesem Begriff in den Publikationen der polnischen Opposition erst gegen Ende der 1980er-Jahre findet. Im Programm der Solidarność von 1981 wird dagegen das auf einen polnischen Traditionsstrang zurückgehende Projekt einer „sich selbst verwaltenden Republik“ propagiert,39 das heute weitgehend in Vergessenheit geraten sei.40 Hilfreich für das Verständnis der Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Oppositionsgruppen ist die Beobachtung von Hella Dietz, dass zur Gründungserfahrung der Mitglieder von KOR, die früher zum Teil der PZPR angehört hatten, das Überschreiten der Grenzen auf andere hin gehöre, z. B. auf die katholischen Intellektuellen, aber auch schon früh auf PZPR-Mitglieder hin.

37 Das ermöglichte Innenminister Kiszczak, bis Februar 1990 Tausende von Akten des Geheimdienstes vernichten zu lassen. 38 Andrew Arato, Civil Society against the State: Poland 1980–81. In: Telos, 47/1981, S. 23–47. 39 Auch die Solidarność bezeichnete sich als „sich selbst verwaltende“ Gewerkschaft. 40 Paweł Załęski, Czy Solidarność była społeczeństwem obywatelskim? Jak został zapom­ niany neorepublikańskiej samorządnej Rzeczypospolitej. In: Kultura i Społeczeństwo LIV, 4/2010, S. 141–152; Agnes Arndt, Intellektuelle in der Opposition. Diskurse zur Zivilgesellschaft in der Volksrepublik Polen, Frankfurt a. M. 2007.

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Dem stehe die Gründungserfahrung der Solidarność gegenüber, die für viele ihrer Mitglieder eine nach außen abgegrenzte Streikgemeinschaft gewesen sei, die die Vertreter des Regimes als „unmoralisch“ wahrgenommen hätten. In den 1980er-Jahren habe sich ein schrittweiser Wandel der Solidarność von einer Massenbewegung zu einer urbanen Elitenbewegung vollzogen, was erst im Vorfeld des Runden Tisches offenkundig geworden sei. Der Kompromiss dieser Eliten mit der Equipe von Jaruzelski sei von der aufgrund ihrer Gründungserfahrung „moralisch verfassten Gemeinschaft“ als „Verrat“ wahrgenommen worden.41 Bis heute hat dieser spätestens 1988/89 sichtbare Bruch der Oppositionsbewegung Auswirkungen auf zwei Ebenen. In der praktischen Politik erhoben die Brüder Kaczyński – damals als enge Mitarbeiter Lech Wałęsas – bereits im Sommer 1990 die Forderung nach „Entkommunisierung“ (d. h. Entfernung bisheriger kommunistischer Funktionsträger aus ihren Ämtern) und „Lustra­ tion“ („Durchleuchtung“ von Personen im öffentlichen Dienst auf ihre Zusammenarbeit mit kommunistischen Geheimdiensten). Mazowiecki hatte in seiner Antrittserklärung als Premierminister vom 24. August 1989 die Verantwortung seiner Regierung nur für das übernommen, was man tue, um Polen aus dem gegenwärtigen Zustand des Zusammenbruchs herauszuholen. Die Vergangenheit trenne man durch eine „dicke Linie“ ab. Mazowieckis Gegner im Präsidentschaftswahlkampf machten daraus knapp ein Jahr später einen „dicken Strich“ und unterstellten ihm, die alten Seilschaften zu schützen. Mazowiecki konnte jedoch kaum an Entkommunisierung denken, solange an seinem Kabinettstisch PZPR-Mitglieder saßen (bis Februar 1990) und General Jaruzelski polnischer Staatspräsident war (bis Dezember 1990). Das Thema Entkommunisierung und Lustration war auf der Agenda der Regierung Jan Olszowski im Frühjahr 1991 prioritär, doch diskreditierte die plumpe Art, in der Innenminister Antoni ­Macierewicz im Mai eine Liste mit 64 angeblichen Mitarbeitern der kommunistischen Geheimdienste veröffentlichte,42 das Thema für längere Zeit und trug mit zum Sturz der Regierung Olszowski bei. Seit Anfang der 2000er-Jahre stellte die neue Partei der Brüder Kaczyński, „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), die Legitimität des Rundes Tisches und der dort getroffenen Beschlüsse infrage, obwohl sie selbst zumindest an der Vorbereitung mitgewirkt hatten.43 Der Runde Tisch wird jetzt als Vereinbarung korrumpierter Teile der Solidarność dargestellt, die einen Pakt mit dem kommunistischen Establishment geschlossen hätten, um diesem weiter Anteile an der politischen Macht und vor allem wirtschaftlichen Besitz zu belassen. Die 41 Dietz, Protest, S. 301. 42 Darunter der Staatspräsident, der Sejm-Marschall, 39 weitere Sejm-Abgeordnete, 11 Senatoren sowie eine Reihe von Mitgliedern der Regierung und der Präsidialkanzlei. Vgl. Antoni Dudek, Historia polityczna Polski 1989–2015, Kraków 2016, S. 212 ff. Die vollständige Namensliste u. a. unter Lista Macierewicza (http://yelita.pl/artykuly/art/ lista-macierewicza; 30.9.2017). 43 Beide waren Mitglieder des „Bürgerkomitees bei Lech Wałęsa“, aber nur einer von ih­ nen sollte am Runden Tisch teilnehmen, weshalb beide darauf verzichteten.

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­ olksrepublik dauere weiter an. Die Revolution von 1989 müsse erst noch vollV endet werden. Forderungen nach Lustration, Entkommunisierung, Überprüfung der Herkunft von Vermögen,44 Absenkung der Pensionsbezüge ehemaliger kommunistischer Funktionsträger und ähnliche Themen gehören daher zum Standard­repertoire der antikommunistischen Rechten. Eine zweite Ebene der Auseinandersetzung mit der Opposition in der Volksrepublik betrifft die Deutungshoheit über ihre Geschichte. In den letzten Jahren wird Lech Wałęsa als „Agent Bolek“45 denunziert, dessen Verdienste um die Solidarność möglichst abgewertet werden sollen, während nun als eigentliche Führungspersönlichkeit der Solidarność der 2010 tödlich verunglückte Lech Kaczyński propagiert wird. Zum 25. Jahrestag des Danziger Abkommens von 1980 hielt die PiS in Konkurrenz zu den in Danzig stattfindenden offiziellen Feierlichkeiten eine eigene große Veranstaltung in Krakau ab. Im Rahmen der nach dem Regierungswechsel von 2015 erneut propagierten Geschichtspolitik wird von der PiS auch das Erbe des bewaffneten Kampfes im Untergrund nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beansprucht. In den letzten Jahren hatte das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) in anonymen Gräbern bestattete sterbliche Überreste von hingerichteten AK-Führern und anderen antikommunistischen Widerstandskämpfern exhumiert und identifiziert. Sie wurden in ehrenvollen Begräbnissen erneut bestattet. Nun werden alle, die nach dem Krieg im Untergrund weiter kämpften, als „verfemte Soldaten“ geehrt und von der PiS in Anspruch genommen, obgleich in einigen Medien darauf hingewiesen wird, dass hier weniger schwarz-weiß gezeichnet werden sollte, sondern mehr Grautöne angebracht seien.46 Die Auseinandersetzungen um die Opposition im kommunistischen Polen und ihr legitimes Erbe dürften noch lange weitergehen.

44 Ab Mitte 1988 ermunterte die Parteiführung, Funktionäre des Parteiapparats wirtschaft­ lich tätig zu werden, was auf großes Interesse stieß. Vgl. u. a. Dudek, Reglamentowana rewolucja, S. 167 f. Durch die Möglichkeit, sich staatliches Vermögen privat anzueignen, soll die Zustimmung von Parteifunktionären zum Machtverzicht der PZPR buchstäblich „erkauft“ worden sein. 45 Wałęsa soll nach seiner Verhaftung im Anschluss an die Unruhen an der Küste von 1970 ein Schreiben zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst unterschrieben haben, kaum Informationen geliefert und 1976 diese Zusammenarbeit aufgekündigt haben. Das IPN gab 2008 die Monografie Sławomir Cenckiewicz/Piotr Gontarczyk, SB a Lech Wałęsa. Przyczynek do biografii, Gdańsk 2008, heraus, die Wałęsa als IM darstellt. Gegen die Überinterpretation einiger Quellen und die Nichtberücksichtigung anderer vgl. zuletzt Andrzej Friszke, Verleumdungen, Unterstellungen und Manipulationen. In: Polen-Analysen, Nr. 198 von April 2017, S. 6–12 (http://www.laender-analysen.de/ polen/pdf/­PolenAnalysen198.pdf; 30.9.2017). 46 So wurde 2016 der Oberst Zygmunt Szendzielarz („Łupaszko“) mit höchsten Ehren erneut beigesetzt. Den ihm unterstellten Kämpfern werden auch Kriegsverbrechen an der litauischen Zivilbevölkerung vorgeworfen. Vgl. Wojciech Czuchnowski/Aleksander Radczenko, Litewska zbrodnia majora „Łupaszki“. In: Gazeta Wyborcza vom 10.5.2016 (http://wyborcza.pl/1,75398,20046370,litewska-zbrodnia-majora-lupaszki.html; 21.2.2017).

III. Tschechoslowakei

Die Staatspartei der Tschechoslowakei Stanislav Balík* Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) hielt als tschecho­ slowakische Staatspartei zwischen 1948 und 1989 das Monopol auf die Macht im Land. Sie war nicht de jure die einzige Regierungspartei oder die einzige Partei, die bei Wahlen antrat – formal war sie Teil und führende Kraft der Nationalen Front der Tschechen und Slowaken (NF). Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus. Obwohl sie in mancher Beziehung mit anderen Staatsparteien der Länder Mittel- und Osteuropas vergleichbar ist, war die Stellung der KSČ in anderer Hinsicht außergewöhnlich. Sie war die einzige Partei in Mitteleuropa, welche die Bezeichnung „kommunistisch“ im Namen führte,1 und die einzige in Mittelund Osteuropa, die ihren Namen nach 1989 nicht änderte. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist seit der „samtenen Revolution“ vergangen, und immer noch ist diese Partei auf allen Ebene des politischen Systems Tschechiens einflussreich. Woraus speist sich diese außerordentliche Widerstandskraft?

Tschechien als Sonderfall Wenn wir die außergewöhnliche Position der KSČ in der modernen politischen Geschichte Tschechiens und darüber hinaus im kommunistischen Mittel- und Osteuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen wollen, dann ist die entscheidende Frage diese: War die Entstehung und Konsolidierung der Partei das Ergebnis innerer oder äußerer Kräfte? Kurz nach 1989 erschien eine Reihe interessanter Studien, in denen untersucht wurde, wie das kommunistische Regime, das bis kurz vor dem Ende so unveränderlich und langlebig erschien, so leicht kollabieren konnte.2 Um den Platz dieses Regimes in der Geschichte zu verstehen, sollten wir uns auch mit der schwieriger zu beantwortenden Frage beschäftigen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg so leicht Erfolg haben konnte. * 1 2

Aus dem Englischen übersetzt von Mirko Wittwar. Bei den anderen regierenden kommunistischen Parteien in Mitteleuropa handelte es sich um die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR) sowie die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP). Zum Beispiel Ivo Možný, Proč tak snadno: některé rodinné důvody sametové revoluce: sociologický esej, Praha 1991.

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Stanislav Balík

Aber war der Kommunismus bzw. die Kommunistische Partei in der Tschechoslowakei wirklich erfolgreich? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Stärke einer Partei festzustellen, deren üblichste die Wahlen sind. Im Jahre 1946, bei den letzten freien (bzw. halbwegs freien) Wahlen vor der kommunistischen Machtübernahme, erzielte die KSČ 40,2 Prozent der Stimmen in Tschechien, was ihr einen komfortablen Vorsprung vor der zweitplatzierten Partei sicherte.3 In der Slowakei erreichte die Kommunistische Partei der Slowakei (die KSS, die im Jahre 1948 mit der KSČ verschmolz) mit 30,5 Prozent der Stimmen den zweiten Platz, wobei sie halb so viel Stimmen bekam wie der Wahlsieger, die Demokratische Partei.4 In Böhmen war der Erfolg der KSČ sogar noch beeindruckender als in Tschechien insgesamt. Dort erzielte sie 43,3 Prozent.5 Nachdem sie 41 Jahre in der Regierung gewesen war und zu einer Zeit, als viele in der tschechischen Gesellschaft angesichts des Sturzes des nicht­ demokratischen Regimes in Euphorie verfielen, erzielte die KSČ bei den ersten freien Wahlen im Jahre 1990 13,8 Prozent der Stimmen für eine Kammer des Parlaments.6 Das war ein sehr gutes Ergebnis für eine Partei, die einmal den Parteistaat beherrscht hatte, und es half der KSČ dabei, bis heute eine starke Parlamentspartei zu bleiben. Eine weitere Möglichkeit, die Stärke einer Partei zu ermessen, ist die Zahl ihrer Mitglieder. Natürlich variiert die Bedeutung dieses Indikators erheblich, je nachdem, ob man von Kader-, Massen- oder Wahlparteien spricht.7 In Europa verwandelten sich die kommunistischen Parteien schnell von elitären Vereinen von Berufsrevolutionären in Massenparteien. Dabei wurden sie stark von ihren sozialdemokratischen Wurzeln beeinflusst. Dementsprechend verlor die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei schnell ihren exklusiven Charakter (tatsächlich gab es diesen in manchen Staaten überhaupt nicht), und der Erfolg einer Partei in der Gesellschaft ließ sich fortan unter anderem an der Bereitschaft der Bevölkerung ermessen, ihr beizutreten. Die KSČ war von Anfang an eine Massenpartei. Eine wichtige Ursache innerparteilicher Streitigkeiten nach ihrer Bolschewisierung im Jahre 1929 war der signifikante Rückgang der Mitgliederzahlen von 150 000 im Jahre 1928 auf

3

4 5 6 7

Die Ergebnisse im tschechischen Teil der Tschechoslowakei: KSČ 40,2 %, ČSNS 23,7 %, ČSL 20,2 %, ČSDSD 15,6 %. Výsledky voleb do ústavodárného Národního shromáždění v roce 1946 na území České republiky (https://www.czso.cz/documents/ 10180/20536128/422008k018.pdf/0e71fa93-c8e0-479a-9644-11d34f80f014?version= 1.0; 10.10.2018). Die Ergebnisse in der Slowakei: DS 61,4 %, KSS 30,5 %, SSl 4,2 %, SSO 3,1 %. Dieter Nohlen/Philip Stöver, Elections in Europe: a data handbook, Baden-Baden 2010. Výsledky voleb. http://www.volby.cz; 10.10.2018. Vgl. z. B. Vít Hloušek/Lubomír Kopeček, Origin, ideology and transformation of political parties: East-Central and Western Europe compared, Burlington 2010.

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Die Staatspartei der Tschechoslowakei

20 000 im Jahre 1930,8 als die Bolschewisierung und ihre Folgen die Partei außerhalb der tschechischen politischen Traditionen stellte. Es ist daher bezeichnend, dass, gemessen an ihrer Mitgliederzahl als Anteil der erwachsenen Bevölkerung Tschechiens, die tschechische (nicht die slowakische) Kommunistische Partei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die stärkste Partei nicht nur in Mittel- und Osteuropa, sondern weltweit war (siehe Tabelle). Tabelle: Mitgliederzahl sowie Bevölkerungsanteil ausgewählter kommunistischer Parteien im Jahre 1950 sowie im Jahre 19859 1950

KSČ (Tschechien) KSS

1985

Absolut (in Tausend)

Anteil der e­ rwachsenen ­Bevölkerung (in Prozent)

­ bsolut A (in ­Tausend)

Anteil der e­ rwachsenen Bevölkerung (in Prozent)

2 200

25,3

1 300

12,5

230

6,8       9,2 (insgesamt)

436 2 300 (1989)

8,5 14,0 (insgesamt)

SED

1 750

PZPR

1 360

5,5

2 100

5,6

829

8,9

870

8,0

MSZMP KPdSU

6 300

   3,5 (insgesamt)

19 000

 6,5 (insgesamt)

Im Jahre 1949, das heißt kurz nach der Errichtung des kommunistischen Regimes, war in Tschechien einer von vier Erwachsenen Mitglied der KSČ – zumindest für kurze Zeit. Wenn diese Zahl auch später wieder zurückging, so blieb sie doch höher als in Polen, der Slowakei und Ungarn. In den späten 1980er-Jahren wurde die KSČ nur noch von der SED in der DDR übertroffen, wobei man den großen Rückgang der Mitgliederzahl der tschechischen Partei aufgrund der Parteisäuberungen der frühen 1970er-Jahre berücksichtigen muss. Die Tabelle zeigt, dass bezüglich ihres Eindringens in die Gesellschaft die slowakische Kommunistische Partei weit näher bei ihren ungarischen und polnischen Pendants lag.

8 9

Petr Fiala/Jan Holzer/Miroslav Mareš/Pavel Pšeja, Komunismus v České republice, Brno 1999, S. 74. Anna Maria Grzymała-Busse, Redeeming the communist past: the regeneration of communist parties in East Central Europe, Cambridge 2002.

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Stanislav Balík

Die Quellen der Legitimität des Kommunismus Wie war dies möglich? Die Erklärung ist einfach und doch kompliziert. Der tschechische Kommunismus stellte im Großen und Ganzen eine Synthese der nationalen Entwicklungen der vorangegangenen eineinhalb Jahrhunderte dar; seine Entwicklung war eine Reaktion auf die Wünsche der Nation oder zumindest ihrer Eliten. Der Kommunismus kam nicht durch die sowjetischen Panzer nach Tschechien, wie dies in Ungarn der Fall war. Genauso wenig war er ein Ergebnis eines siegreichen, massenhaften und heimischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus wie in Jugoslawien. Die Tschechoslowakei war das einzige Land in Mittel- und Osteuropa, in dem sich das, was später zur Staatspartei wurde, nicht im politischen Randbereich entwickelte – ganz im Gegenteil. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung im Mai 1921, als sich die Sozialdemokratische Partei spaltete (diese hatte die Parlamentswahlen des Jahres 1920 mühelos gewonnen, zum ersten Mal seit der Gründung der unabhängigen Tschechoslowakei), war die KSČ bereits im Parlament vertreten.10 Die Partei entwickelte sich politisch weiter und gewann Erfahrung im demokratischen Wettbewerb. Vier Jahre nach ihrer Gründung, im Jahre 1925, gewann sie beinahe die Parlamentswahlen und lag gerade einmal ein halbes Prozent hinter der siegreichen Bauernpartei zurück.11 Nachdem sich die KSČ auf ihrem 5. Parteikongress im Jahre 1929 bolschewisiert hatte, übernahm Klement Gottwald die Führung, der kurz danach Parlamentsmitglied wurde. Er sollte später der erste kommunistische Premierminister der Nachkriegszeit und anschließend der erste kommunistische Präsident des Landes werden. In seiner ersten Parlamentsrede 1929 äußerte er sich wie folgt: „Sie behaupten, dass wir schlussendlich unter dem Kommando Moskaus stehen und dorthin fahren, um unsere Instruktionen zu erhalten. Sie stehen unter dem Kommando der Zivnobanka, Petschek, Weimann und Preiss. Sie stehen unter dem Kommando des Völkerbundes, das heißt einer Gesellschaft imperialistischer Aasgeier, und Sie erhalten Ihre Instruktionen von den Petscheks, den Weimanns, den Rothschilds und den Preisses, um zu lernen, wie Sie das werktätige Volk noch gründlicher ausbeuten können, als es bisher geschieht. Und wir, wir sind die Partei des tschechoslowakischen Proletariats, und unser oberstes revolutionäres Hauptquartier ist tatsächlich Moskau. Und wir fahren nach Moskau, um zu lernen, und wissen Sie auch, was? Wir fahren nach Moskau, um von den russischen Bolschewiken zu lernen, wie man Ihnen die Hälse umdreht. Und wie Sie wissen, sind die russischen Bolschewiken darin Meister. […] Ihnen wird das Lachen noch vergehen!“12 10 Vgl. Fiala/Holzer/Mareš/Pšeja, Komunismus v České republice, S. 11–18. 11 Die Bauernpartei gewann diese Wahlen mit 13,7 % der Stimmen, gefolgt von der KSČ mit 13,2 %. Stanislav Balík/Vít Hloušek/Jan Holzer/Jakub Šedo, Politický systém českých zemí 1848–1989, Brno 2003, S. 56. 12 Sobota 21. prosince 1929 (http://www.psp.cz/eknih/1929ns/ps/stenprot/007schuz/ s007003.htm; 10.10.2018). Die Živnobanka war eine wichtige Bank; bei sämtlichen genannten Personen handelt es sich um Bankiers. Preiss ist die Korrektur des in der Quelle angegebenen Namens „Preis“, und Rothschild ist die Korrektur von „Rotschild“. Die hier verwendete Übersetzung beruht teilweise auf Derek Sayer, The Coasts of Bohemia, Princeton 1998, S. 167.

Die Staatspartei der Tschechoslowakei

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Kommunistische Politiker erhielten also im demokratischen Parlament der Tschechoslowakei die Gelegenheit, ihre kriegerischen Reden zu halten, einschließlich der Drohung, ihre Gegner umzubringen. Die Erste Tschechoslowakische Republik (1918–1938), wenn man sie als die Zeit versteht, die den Weg für den späteren Ansturm des Kommunismus bereitete, zeigte noch einen weiteren Aspekt: ihre vergleichsweise sehr liberale Atmosphäre, die uralte Sicherheiten und Bezugspunkte infrage stellte. Die Adelstitel waren abgeschafft, womit eine Klasse der Gesellschaft symbolisch vernichtet war, deren Ächtung nach 1948 zu ihrem endgültigen Ende führte. Als die Kommunisten im Verlaufe ihrer Herrschaft damit begannen, die Totenverbrennung zu fördern und Bestattungshallen zu errichten, womit sie sogar noch die letzte kirchliche Zeremonie der Bevölkerung in die eigene Hand nahm, war dies keine radikale Neuerung. Sie konnten sich dabei auf die langjährige (antikatholische) Kampagne der Gesellschaft für die Feuerbestattung (später: Gesellschaft der Freunde der Feuerbestattung) beziehen, die ihre Blütezeit während der Ersten Republik gehabt hatte.13 Ganz ähnlich stammte auch der Kulturkampf gegen die Katholische Kirche aus der Zeit vor dem Kommunismus.14 Das Modell, an dem sich die Kommunisten ab 1948 orientieren konnten, stammte aus dem radikalen Kampf gegen die Katholische Kirche in der Zeit der Ersten Republik, der sich keineswegs auf symbolische Akte wie die Zerstörung der zu Ehren der Heiligen Jungfrau errichteten Säulen und der Statuen des Heiligen Nepomuk beschränkte. Tatsächlich wurden Kreuze an öffentlichen Plätzen herausgerissen oder aus Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden entfernt.15 Dies stellte eine Blaupause für alle folgenden Kulturrevolutionen dar. Es war auch kein Zufall, dass zahlreiche Stützen von Staat und Gesellschaft der Ersten Republik solche Bürger waren, die während des Ersten Weltkrieges bei der tschechoslowakischen Legion in Russland gedient hatten.16 Dies waren die heimischen Wurzeln, aus denen am Anfang, als ihre Führer die Macht übernahmen, die Legitimität der KSČ erwuchs. Eine weitere Quelle ihrer Legitimität stellte allerdings der Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg dar sowie die Tatsache, dass die Sowjetunion den Großteil der Tschecho­ slowakei befreit hatte. Hitlerdeutschland plante die Eliminierung der tschechischen Nation, und dessen Niederlage versah die Sowjetunion sowie, als deren Erweiterung, die Kommunistische Partei mit dem Nimbus derjenigen Kraft,

13 Vgl. Stanislav Balík/Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Marek Vlha, Český antiklerikalismus: zdroje, témata a podoba českého antiklerikalismu v letech 1848–1938, Praha 2015, S. 157. 14 Vgl. Stanislav Balík/Jiří Hanuš, Katolická církev v Československu 1945–1989, 2. Aufla­ ge Brno 2013. 15 Vgl. z. B. Balík/Fasora/Hanuš/Vlha, Český antiklerikalismus, S. 71, 193; Jan Royt, Ma­ riánský sloup na Staroměstském náměstí. In: Dějiny a současnost, 5 (1994), S. 25–28. 16 Vgl. Marie Koldinská/Ivan Šedivý, Praha 2008, S. 141–144, 159–164.

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der die Zukunft gehörte. Wenn wir noch die Tatsache hinzufügen, dass die Westmächte Frankreich und Großbritannien bei der Münchener Konferenz im Jahre 1938 die Tschechoslowakei verraten hatten, die doch in der Zwischenkriegszeit ihre Außenpolitik an diesen Mächten orientiert hatte, erscheint die Übernahme einer östlichen, kommunistischen Alternative als eine durchaus verständliche Reaktion.17 Der Zweite Weltkrieg war auch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Während dieses Krieges bewiesen die Mitglieder der Kommunistischen Partei, dass sie nicht gegen die Nation standen, sondern ein integraler Bestandteil waren. Sie legten die einst obligatorische Maske des Internationalismus ab und wurden zu echten Nationalisten, was sie bis heute geblieben sind. Tatsächlich geschah dasselbe mit den sowjetischen Kommunisten unter Stalin. (Paradoxerweise kam es bei den ideologischen Gegnern der Kommunisten, den Katholiken, zu genau demselben Prozess – diese hatten während der Ersten Republik als eine Gruppierung gegolten, die nicht zu den echten Tschechen gehörte.) Die drei Jahre unmittelbar nach dem Krieg stellten eine besondere Periode dar, die eindeutig den Weg für die folgenden vier Jahrzehnte bereitete.18 Viele fundamentale Schritte in Richtung Kommunismus geschahen in dieser Zeit und wurden von der Masse unterstützt: Der politische Pluralismus wurde eingeschränkt, im öffentlichen Leben sowie in der Wirtschaft kam es zu einer etatistischen Politik usw. Tatsächlich waren nichtkommunistische Politiker in mancher Hinsicht noch kommunistischer als die Kommunisten selbst. Zum Beispiel wurden die Kommunisten im Verlauf der Debatte über die Verstaatlichung von den weitaus radikaleren Sozialdemokraten noch überboten.19 Die Sowjetunion spielte in der ganzen Zeit eine wichtige Rolle. Obwohl die Tschechoslowakei das einzige Land unter ihrem Einfluss in Mitteleuropa war, in dem keine Einheiten der Roten Armee stationiert waren, übten die Sowjets doch den entscheidenden Einfluss auf die führenden tschechischen Kommunisten aus.20 Die kommunistische Machtübernahme im Februar 1948 war keineswegs ein Coup des Kabinetts, der keine Unterstützung durch die Öffentlichkeit gehabt hätte. Es gab tatsächlich Unterstützung durch die Massen. Die Hunderttausenden in den Straßen Prags sowie die (geschätzt) Hunderttausenden Unterstützer der Kommunisten in den Aktionskomitees in Büros und Vereinen, welche den öffentlichen Bereich begeistert von Reaktionären reinigten,21 handelten nicht

17 Vgl z. B. Pavel Kosatík, České snění, Praha 2010, S. 174. 18 Eine interessante Interpretation dieser drei Jahre als seiner Fortsetzung des faschistischen Regimes bietet Petr Placák, Gottwaldovo Československo jako fašistický stát, Praha 2015. 19 Vgl. Jiří Kocian, Znárodňování v programu československých politických stran. In: Hynek Fajmon/Stanislav Balík/Kateřina Hloušková, Dusivé objetí: historické a politologické pohledy na spolupráci sociálních demokratů a komunistů, 2. verbesserte Auflage Brno 2008, S. 60–70. 20 Vgl. Václav Veber, Osudové únorové dny: 1948, Praha 2008, S. 126–133. 21 Vgl. ebd., S. 348–350.

Die Staatspartei der Tschechoslowakei

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aus Furcht vor Repressalien. Sie glaubten an den Kommunismus und waren bereit, Opfer zu bringen. Selbstverständlich entstanden die Ereignisse des Februar 1948 auch aus der internationalen Situation. Und dennoch, die Macht­ übernahme wäre nicht so glatt verlaufen, wenn sie keine Unterstützung durch die Öffentlichkeit gefunden hätte. Dass es in der Tschechoslowakei keinen echten Widerstand gegen den Kommunismus gab, bestätigt die Tatsache, dass die Unterstützung der Kommunistischen Partei in der Gesellschaft relativ stark war. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen verspürte buchstäblich niemand das Bedürfnis, mit der Waffe in der Hand Widerstand zu leisten. Man darf darauf verweisen, dass die große Mehrheit derer, die während des kommunistischen Regimes verfolgt oder sogar hingerichtet wurden, nicht für bestimmte Aktivitäten verurteilt wurden, sondern einfach weil sie das Pech hatten, Gruppen anzugehören, die als politisch gefährlich galten. Diejenigen, die zu den Waffen griffen, die ernsthafte oder, im Rückblick, unbedeutende Sabotageakte begingen, waren häufig junge „Draufgänger“, die noch nicht einmal erwachsen waren. Damit sollen ihre Taten nicht ins Lächerliche gezogen oder trivialisiert werden, doch handelte es sich bei ihnen nicht um einen Widerstand, der auch nur ansatzweise mit dem heimischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten verglichen werden könnte. Es ist interessant festzustellen, dass sich, anders als zehn Jahre zuvor beim Widerstand gegen den Nationalsozialismus, nicht sämtliche Altersgruppen und Gruppen der Gesellschaft dazu entschieden, sich im antikommunistischen Widerstand zu engagieren. Über eine lange Zeit konnte das kommunistische Regime seine Legitimität aus den relativ überzeugenden Leistungen seiner sozioökonomischen Politik beziehen. Die schwierigen Nachkriegsjahre sowie die ersten fünf Jahre des kommunistischen Regimes waren gekennzeichnet vom Mangel an beinahe sämtlichen Konsumgütern und Lebensmitteln und kulminierten in der Währungsreform von 1953, bei der es sich de facto um einen Staatsbankrott handelte. Hier kam es zu ersten Massendemonstrationen, die eine Unzufriedenheit mit dem Regime zum Ausdruck brachten.22 Doch folgten darauf großzügige Gesten. ­Allein in den Jahren 1953 bis 1956 wurden die Einzelhandelspreise sechsmal flächendeckend gesenkt. In den Jahren 1955/56 wurden die Gehälter in bestimmten Berufen erhöht, 1956 die Anzahl der Arbeitsstunden pro Woche von 48 auf 46 gesenkt. Der Wohnungsbau wurde verstärkt und der Lebensstandard verbessert, was seinen Ausdruck in steigenden Durchschnittsgehältern und dem Anwachsen der Bankeinlagen fand.23 Dementsprechend gelang dem kommunistischen Regime in den Jahren 1953 bis 1956 eine Art stillschweigende Übereinkunft mit der tschechoslowakischen

22 Vgl. Jiří Pernes, Krize komunistického režimu v Československu v 50. letech 20. Století, Brno 2008. 23 Vgl. Muriel Blaive, Promarněná příležitost: Československo a rok 1956, Praha 2001, S. 303 f.

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Gesellschaft, was es in den 1970er-Jahren noch einmal erfolgreich wiederholen sollte. Man darf annehmen, dass diese vorausschauende Sozialpolitik flächendeckende soziale Unruhen der Art, wie sie in Polen und Ungarn geschahen, verhinderte. Als in den frühen 1960er-Jahren diese Politik an die Grenzen ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit stieß, kündigte die Gesellschaft diese Übereinkunft einseitig auf. Die daraus entstehenden Spannungen kulminierten dann in den Ereignissen des Jahres 1968. Bei der Betrachtung der Belege für die Akzeptanz des Kommunismus durch die tschechische Gesellschaft kann der Prager Frühling des Jahres 1968 nicht außer Acht gelassen werden.24 Auch dieser Versuch, einen sogenannten Sozia­ lismus mit menschlichem Antlitz zu etablieren, entsprang nicht einer grundsätzlich antikommunistischen Motivation. Selbstverständlich entfaltete eine Anzahl von Einzelpersönlichkeiten und Gruppen zu dieser Zeit Aktivitäten, die teilweise stark antikommunistisch waren, und die öffentliche Unterstützung dieses Prozesses wurde von Motiven angetrieben, die in gewissem Ausmaß antikommunistisch gewesen sind. Doch in Wirklichkeit handelte es sich um einen Versuch, bestimmte grundlegende kommunistische Postulate neu zu formulieren, sie in attraktiverer Kleidung zu präsentieren als in den bereits schäbigen Lumpen, in welchen sie sich darboten, und den Kommunismus in der „Maske“ eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu präsentieren. Als die Sowjets die Tschechoslowakei besetzten und das dortige kommunistische Regime konsolidiert wurde, zwang man dem Land im Zuge der „Normalisierung“ einen stillschweigenden Gesellschaftsvertrag auf. Dessen Zweck unterschied sich in gewisser Weise von seinem Vorläufer in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. Er beruhte auf der Logik einer posttotalitären Entpolitisierung, die ein Kennzeichen posttotalitärer, nichtdemokratischer Regime ist.25 Nun forderte das Regime nicht länger Mobilisierung und Aktivität wie in den 1950er-Jahren, sondern stattdessen Passivität und Entpolitisierung, wofür es ein gewisses Maß an Prosperität garantierte. Diese Strategie funktionierte 15  Jahre lang, von den frühen 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre, als sie sich erschöpfte. Das Versagen der zentralstaatlichen Planung und der Mangel an den meisten Konsumgütern wurden zunehmend offenkundig. In den 1980er-Jahren erkannten die Massen, wie sehr die Tschechoslowakei hinter ihren demokratischen Nachbarn Österreich und der BRD hinterherhinkte, obwohl ihre Position zum Ende des Zweiten Weltkrieges vergleichbar oder sogar besser gewesen war. Darüber hinaus wurde der wirtschaftliche Niedergang von ernsthaften ökologischen Problemen begleitet, sodass selbst Regierungsvertreter von ökologischen Katastrophen sprachen.26 24 Vgl. z. B. Jiří Vančura, Naděje a zklamání: Pražské jaro 1968, 2. Auflage Praha 1990. 25 Vgl. Juan J. Linz, Totalitarian and authoritarian regimes, Boulder 2000, S. 245–261. 26 Vgl. z. B. die Rede des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KSČ, Miloš Jakeš. In: Červený Hrádek, damals unveröffentlicht: Přepis části projevu generálního tajemníka ÚV KSČ Miloše Jakeše v Červeném Hrádku dne 17. července 1989 (http://www.totalita. cz/txt/txt_o_jakesm_text_hradek_01.pdf; 10.10.2018).

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Es scheint, dass es die wirtschaftliche Ineffizienz der letzten Jahre der kommunistischen Herrschaft war, die dem Kommunismus seine Legitimation in der Gesellschaft entzog. Angesichts seines evidenten Versagens verlor er zumindest zeitweilig seine Reputation als eine Kraft der Modernisierung, die der Bewegung während einer großen Zeitspanne im 20. Jahrhundert diejenigen zugeführt hatte, die an die Notwendigkeit eines beständigen Fortschritts glaubten. Über lange Zeit stand das kommunistische Regime im Einklang mit der Gesellschaft, wenn auch nur stillschweigend. Im Verlaufe der 1960er- und mehr noch in den 1970er-Jahren kam es zu einer substanziellen materiellen Verbesserung des Lebensstandards, sowohl in den kleinen und großen Städten als auch auf dem Land.27 Über einen langen Zeitraum sprach man diese Verbesserungen dem ökonomischen und politischen System des Kommunismus zu. Als dieses aufhörte, wirtschaftlich leistungsfähig zu sein, verlor es das Vertrauen und die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit, die dann (für einige Zeit) auf liberale Rezepte zur Sicherung der Prosperität setzte. Diese bildeten dann den Kern der Politik nach 1989.

Innerparteiliche Konflikte Obwohl die KSČ mit Sicherheit nicht homogen war, wenn es um Meinungen ging, handelte es sich doch bei den nach 1948 stattfindenden Konflikten für eine lange Zeit um Konflikte zwischen verschiedenen Gruppierungen. Dies kontrastierte scharf mit der Situation, die in der Ersten Republik vorherrschte, als die Partei bis in die 1930er-Jahre hinein in Fraktionen zerfallen war, wobei es zu Machtwechseln, Parteiausschlüssen und dergleichen kam. Nachdem sie an die Macht gekommen war, entstand der erste Konflikt innerhalb der KSČ in den frühen 1950er-Jahren, als man unter dem Einfluss des sowjetischen Modells einen inneren Feind suchte und in der Person des Sekretärs für die Region Brünn, Otto Šling, auch fand. Man sprach von einer antistaatlichen Verschwörungszentrale, die vom Generalsekretär der Partei, Rudolf Slánský, geleitet werde, sowie von sogenannten bürgerlichen slowakischen Nationalisten unter Führung von Gustáv Husák, der später Generalsekretär der Partei und Präsident des Landes wurde. Die Verfahren gegen Dutzende führender Kommunisten führten zu einer Reihe von Todesurteilen und lebenslangen Haftstrafen. Diejenigen, die überlebten – insgesamt etwa 400 –, wurden Anfang der 1960er-Jahre amnestiert und später rehabilitiert.28 Allerdings handelte es sich bei diesen innerparteilichen Streitigkeiten nicht um einen Kampf 27 Vgl. Lenka Kalinová, Konec nadějím a nová očekávání: k dějinám české společnosti 1969–1993, Praha 2012. 28 Vgl. z. B. Radek Slabotinský, Amnestie prezidenta republiky v letech 1960 a 1962 a rehabilitace politických vězňů v 60. letech 20. Století, Brno 2011. Dissertation an der Masarykova univerzita, Filozofická fakulta (http://is.muni.cz/th/8747/ff_d/; 10.10.2018), S. 80.

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­ nterschiedlicher Gruppen oder Fraktionen, eher muss man sie als einen Veru such sehen, revolutionäre Dynamik und Mobilisierung aufrechtzuerhalten, indem man Feinde suchte, selbst in den Reihen der eigenen Partei. Der wichtigste innerparteiliche Konflikt entwickelte sich in den frühen 1960er-Jahren. Er ging über die Partei hinaus und wurde zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung. Und dennoch, mit Ausnahme seines Höhepunktes in der ersten Hälfte des Jahres 1968, ging auch dieser Prozess nie über die von Moskau gesetzten Grenzen hinaus. Der Streit der 1960er-Jahre hatte zwei Dimensionen: die der Generatio­nen und die nationalistische. Eine Gruppe jüngerer Parteimitglieder, die sich in ihrer Kritik an den politischen Verfahren der 1950er-Jahre zusammenfand, wurde hauptsächlich vom Ersten Sekretär und Präsidenten des Landes, Antonín ­Novotný, vertreten. Sie bezog ihre Legitimität aus der „Revolution“ des ­Februar 1948. Zur innerparteilichen Opposition zählten auch Intellektuelle, die an wissenschaftlichen und kulturellen Zentren, an Universitäten, in Redaktionen usw. tätig waren. Eine besondere Gruppe, welche die Opposition verstärkte, war diejenige der slowakischen Kommunisten unter Führung von Alexander Dubček und Vasiľ Biľak, die Novotnýs Herrscherattitüde gegenüber der Slowakei kritisierte. Die innerparteiliche Opposition errang ihre ersten Erfolge auf dem Parteikongress von 1966. Sie kulminierte im Prager Frühling 1968, als sie die gesamte Kommunistische Partei übernahm. Allerdings fiel im Verlauf der ersten acht Monate des Jahre 1968 die ursprüngliche, aus verschiedenen Gruppierungen bestehende Opposition auseinander, was zum Niedergang des Regimes des Prager Frühlings führte sowie dazu, dass fünf Staaten des Warschauer Paktes die Besetzung des Landes akzeptierten. Innerhalb der Partei folgte eine massive Säuberungswelle, in deren Gefolge die Mitgliederzahl von 1,5 Millionen auf 1,2 Millionen sank. Diejenigen, die sich der sowjetischen Besetzung des Landes widersetzten, wurden entweder ausgeschlossen oder gingen freiwillig. Die nächsten 15 Jahre waren dadurch gekennzeichnet, dass es praktisch keine Bewegung oder Fraktionen innerhalb der Partei gab. Diejenigen, die die weitgehend persönlichen Konflikte in den höheren Rängen der Kommunistischen Partei als Fraktionskämpfe deuten, liegen falsch. So ist die Deutung Lubomír Štrougals, langjähriger Premierminister und eine der führenden Figuren des Regimes der „Normalisierung“, als eines Dissidenten innerhalb der Partei schon beinahe lachhaft.29 Aufgrund von Ereignissen, die sich in der Sowjetunion entwickelten, kam es in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zu einer gewissen Verschiebung. Doch erschwerten Perestroika und Glasnost eher die Situation der tschechoslowakischen Kommunisten. Die Parteiführung, deren Legitimität auf der Unterdrü-

29 Vgl. z. B. Martin Štefek, Za fasádou jednoty: KSČ a SED po roce 1985, Červený Kostelec 2014.

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ckung des Prager Frühlings beruhte, konnte eine solche Politik nicht verfolgen, und genauso wenig war sie hilfreich bei der Etablierung einer kohärenten Opposition innerhalb der Partei. Stattdessen öffnete sich eine immer größere Kluft zwischen der KSČ-Führung und einer jüngeren, eher technokratischen Generation von Kommunisten. Dieser Generation fehlte es allerdings an Gruppenbewusstsein, stattdessen sannen sie jeder für sich darüber nach, wie sie im Falle einer Änderung der Lage ihre Positionen behalten konnten. Bis November 1989 entwickelten sich die latenten Konflikte nicht zu offenem Streit. Die personellen Veränderungen, die stattfanden (Gustáv Husák gab den Posten des Generalsekretärs der Partei auf, der Abgang Vasiľ Biľaks, des Chefideologen der Partei usw.), lassen sich nicht als Ausdruck eines Gruppenkonflikts deuten. Die Tschechoslowakei unterschied sich dadurch von den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern, dass der Partei ein Reformflügel fehlte, und mit Sicherheit unterschied sie sich insofern, als es ihr an starken Führungspersönlichkeiten für den Fall einer potenziellen Veränderung mangelte, sogar nach 1989.30

Das Verhältnis der Partei zu den Sicherheitskräften und der Armee Um das Verhältnis der tschechoslowakischen Staatspartei zur Armee und den Sicherheitskräften darzustellen, bietet sich der abschließende Bericht desjenigen Komitees der Bundesversammlung (des Parlaments) an, welches die Ereignisse des 17. November 1989 untersuchte: „Zusammen mit dem Nationalen Sicherheitskorps und der Volksmiliz sah man die tschechoslowakische Armee als eines der unmittelbaren Instrumente zur Kontrolle der Gesellschaft und zum Umgang mit inneren politischen Unruhen an. Über den immensen Apparat der politischen Hauptverwaltung der tschechoslowakischen Volksarmee, der noch die niedrigsten Ränge durchdrang, übte die KSČ einen praktisch absoluten Einfluss auf die Armee aus.“31 Die Errichtung und Aufrechterhaltung dieser absoluten Kontrolle über die Sicherheitskräfte war eine der entscheidenden Bedingungen für die Errichtung der kommunistischen Diktatur, und die KSČ arbeitete seit 1945 daran, diese zu erreichen. In den drei Jahren des prätotalitären Regimes der Nachkriegszeit32 bemühte sich die KSČ bewusst darum, in die staatlichen Sicherheitsstrukturen

30 Vgl. Jiří Vykoukal/Bohuslav Litera/Miroslav Tejchman, Východ: vznik, vývoj a rozpad sovětského bloku 1944–1989, Praha 2000, S. 592 f. 31 Závěrečná zpráva vyšetřovací komise Federálního shromáždění pro objasnění událostí 17. listopadu 1989, část IV. Československá lidová armáda (http://www.psp.cz/eknih/ 1990fs/tisky/t1236_07.htm; 10.10.2018). 32 Vgl. Stanislav Balík, Tři roky svobody? Pretotalitní režim v Československu v letech 1945– 1948. In: Rexter, 0 (2002), S. 1–20 (http://www.rexter.cz/tri-roky-svobody-pretotalitni-­ rezim-v-ceskoslovensku-v-letech-1945-1948/2002/11/01/; 10.10.2018).

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einzudringen. Noch vor dem Februar 1948 kontrollierte die Partei das Innenministerium, wodurch sie einen entscheidenden Einfluss auf die Polizei (das nationale Sicherheitskorps) gewann, und der formale Vorwand für die Auflösung der Krise des Februar 1948 war in der Tat die Situation bei der Polizei.33 Die Sachlage bei der Armee war anfänglich komplizierter. Obwohl der Verteidigungsminister, General Ludvík Svoboda, mit der KSČ sympathisierte, wurde der Generalstab von Nicht-Kommunisten geführt, den Generälen Heliodor Píka und Bohumil Boček, die sich dem kommunistischen Ansturm aktiv widersetzten. Nach dem Februar 1948 wurden beide aus ihren Führungspositionen in der Armee entfernt und aufgrund falscher Anklagen verurteilt: Píka wurde hingerichtet, und Boček starb im Gefängnis. Zu dieser Zeit unterstand die Armee bereits beinahe vollständig der KSČ, und sollte danach keine selbstständige Rolle mehr spielen. Die Geheimpolizei, die Staatssicherheit, war die wichtigste Sicherheitskraft, und ihr wurde bis dahin unbekannte Macht übertragen. Es war die Staatssicherheit (unter Führung sowjetischer Berater, durch die die ­Sowjetunion ihren dominierenden Einfluss aufrechterhielt), welche die politischen Prozesse vorbereitete und die Untersuchungen und Verhöre leitete. Sie hatte eine große Zahl an Zuarbeitern, darunter anfangs auch ehemalige Informanten der Gestapo. Mithilfe dieser Informanten gelang es der Staatssicherheit, tief in die Gesellschaft einzudringen.34 Ebenfalls wichtig für die Kontrolle der Gesellschaft war die Volksmiliz. Sie war de facto die Privatarmee der KSČ; sie hatte zu keiner Zeit einen rechtlichen Status und operierte dementsprechend illegal (was auch für ihre Bewaffnung galt), weswegen sie eine flagrante Verletzung des staatlichen Gewaltmonopols darstellte. Das Zentralkomitee der Partei gründete die Volksmiliz am 21. Februar 1948, die eine entscheidende Rolle bei der Einschüchterung potenzieller Gegner der kommunistischen Machtübernahme im Frühjahr 1948 einnahm.35 In der Zeit von 1948 bis 1989 kontrollierte die Staatspartei sämtliche Sicherheitskräfte (sie wurden noch nicht einmal während des Prager Frühlings aus dem Griff der Partei entlassen). Als im November 1989 der Verteidigungsminister Milán Václavík den Vorschlag machte, „die Armee, die Sicherheit [das heißt die Polizei] und die Miliz in Gefechtsbereitschaft zu versetzen“,36 geschah dies nicht. Die Führer der KSČ wollten den chinesischen Weg nicht einschlagen – die Proteste auf dem Tiananmen-Platz lagen erst kurze Zeit zurück –, auch fürchteten sie, dass die Sicherheitskräfte den Befehl verweigern 33 Vgl. Karel Kaplan, Pět kapitol o únoru, Brno 1997. 34 Vgl. Libor Bílek, Zavazuji se dobrovolně … Rezidenti, agenti, informátoři a další. Tajní spolupracovníci Státní bezpečnosti v letech 1945–1989. In: Paměť a dějiny, 4 (2015), S. 4–19. Zur Rolle der Staatssicherheit vgl. z. B. Karel Kaplan, Nebezpečná bezpečnost, Brno 1999. 35 Zu weiteren Einzelheiten vgl. Jiří Bašta, Lidové milice – nelegální armáda KSČ. In: Paměť a dějiny, 2 (2008), S. 99–108. 36 Milan Vaclavik, Poslední hurá: stenografický záznam z mimořádných zasedání ÚV KSČ 24. a 26. listopadu 1989, Praha 1992, S. 70.

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könnten.37 Ein Versuch, die Volksmiliz einzusetzen,38 wenn auch im Endeffekt erfolglos, zeigte nichtsdestotrotz, dass jene weiterhin der KSČ gehorchte, und dasselbe hätte vermutlich ebenso für die Armee und die Polizei gegolten.

Die Rolle der Massenorganisationen und der anderen politischen ­Parteien der Nationalen Front Konstruiert nach dem sowjetischen Vorbild, stellte die Nationale Front die formale Struktur dar, in der die zugelassenen politischen Parteien und Massenorganisationen agieren konnten. Tatsächlich diente sie den Kommunisten als Machtbasis zur weitestgehenden Kontrolle der Gesellschaft bzw., falls notwendig, zu deren Entpolitisierung. Zur Nationalen Front in Tschechien gehörten außer der KSČ die Tschechoslowakische Volkspartei (ČSL, die die katholischen Wähler vertrat) und die Tschechoslowakische Sozialistische Partei (von der nicht erkennbar ist, dass sie überhaupt irgendeine Wählergruppierung vertrat) sowie, in der Slowakei, die Freiheitspartei (die die slowakischen katholischen Wähler vertrat) und die Partei der Slowakischen Wiedergeburt (der es ebenfalls an irgend einer erkennbaren Gruppierung fehlte). Bei Wahlen trat formell die NF mit einer einzigen Kandidatenliste an. Obwohl theoretisch auch andere Kandidaten auf die Liste gesetzt werden konnten, falls die NF dem zustimmte, geschah dies in der Praxis niemals. In der Geschichte der NF lassen sich zwei verschiedene Abschnitte ausmachen. Der erste begann im März 1945, als sie aus Verhandlungen zwischen Exilanten in London und Moskau sowie Vertretern des slowakischen Nationalrats hervorging, und endete im Februar 1948. Zu diesem Zeitpunkt war sie ein Ausdruck des Verlangens nach nationaler Einheit im Gegensatz zur Zersplitterung und zu den Antagonismen der Ersten Republik in der Zwischenkriegszeit. Damals folgte ihr Programm dem Prinzip der nationalen Einheit sowie der Zusammen­arbeit aller demokratischen und antifaschistischen Kräfte der Nachkriegsrepublik. Während dieser ersten Phase brachte sie ausschließlich die zugelassenen politischen Parteien zusammen: Neue konnten nur mit Zustimmung der bestehenden Parteien gegründet werden. Diese Parteien unterstanden der NF als ihrer Koalition, doch in einem weiteren Sinne kann man sie auch als ein politisches Kartell ansehen, das sogar über dem Parlament stand und keiner öffentlichen Kontrolle unterlag. Allmählich wurde die NF vollständig von der KSČ übernommen; im Februar 1948 unterstützte die NF durch ihre Aktionskomitees tatsächlich die

37 Poslední hurá: stenografický záznam z mimořádných zasedání ÚV KSČ 24. a 26. listo­ padu 1989, Praha 1992, S. 70. 38 Am 21.11.1989 beschloss das Präsidium des Zentralkomitees der KSČ, Einheiten der Volksmiliz nach Prag zu rufen. In derselben Nacht widerrief der Generalsekretär der Partei, Miloš Jakeš, diesen Befehl. Dennoch erreichten am 22.11. ca. 4 000 Mann der Miliz Prag, nur um wieder zurückgeschickt zu werden.

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Machtübernahme.39 Während der ersten Phase ging die Tendenz dahin, vereinte Massenorganisationen zu schaffen, die mit der NF verbunden waren. Die zweite Phase dauerte vom Februar 1948 bis zum April 1990, als die NF aufgelöst wurde, obwohl sie tatsächlich nur noch bis zu den Ereignissen des November 1989 von Relevanz gewesen war. Während dieser zweiten Phase war die NF ein Werkzeug des totalitären und posttotalitären politischen Systems, das von der KSČ praktiziert wurde. Sie wurde schnell zur einzigen Plattform, auf der irgendeine Form gesellschaftlicher oder politischer Aktivität möglich war.40 Sie brachte Massendachorganisationen zusammen, die jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens abdeckten, von den Gewerkschaften bis zu Interessenund Hobbygruppen. Formal war sie auf drei Ebenen organisiert: manche Organisationen bundesweit (ČSSR),41 andere gehörten der NF der Tschechischen Sozialistischen Republik (ČSR)42 bzw. der NF der Slowakischen Sozialistischen Republik (SSR)43 an. In Wirklichkeit diente die NF lediglich als Fassade zur 39 Vgl. Jaroslav Mlýnský, Únor 1948 a akční výbory Národní fronty, Praha 1978. 40 Vgl. Karel Kaplan, Národní fronta 1948–1960, Praha 2012. 41 Die KSČ, die Revolutionäre Gewerkschaftsbewegung, die Sozialistische Union der Jugend, die Union der Bauern, die Tschechoslowakische Frauenunion, die Union der Tschechoslowakisch-Sowjetischen Freundschaft, der Zentralrat der Kooperativen, die Tschechoslowakische Union für Leibesertüchtigung, die Union der Zusammenarbeit mit der Armee, die Tschechoslowakische Union der Antifaschistischen Kämpfer, das Tschechoslowakische Rote Kreuz, die Feuerschutzunion der Tschechoslowakei, die Tschechoslowakische Gesellschaft für Wissenschaft und Technik, die Union der Behinderten, das Tschechoslowakische Friedenskomitee, die Sozialistische Akademie, die Tschechoslowakische Union der Journalisten sowie die Union Tschechoslowakischer Philatelisten. 42 Die KSČ, die Tschechoslowakische Sozialistische Partei, die Tschechoslowakische Volkspartei, der Tschechische Rat der Gewerkschaften, die Tschechische ­Frauenunion, die Union der Kooperativbauern, die Sozialistische Union der Jugend der ČSR, die Tschechische Organisation der Tschechoslowakischen Union für Leibesertüchtigung, die Union der Tschechoslowakisch-Sowjetischen Freundschaft, die Union für die Zusammenarbeit mit der Armee, die Tschechische Union der Antifaschistischen Kämpfer, das Tschechoslowakische Rote Kreuz, die Feuerschutzunion der ČSR, die Tschechische Union der Konsumentenkooperativen, die Tschechische Union der Manufakturkooperativen, die Tschechische Union Wohnraumkooperativen, die Union der Behinderten in der ČSR, die Tschechische Gesellschaft für Wissenschaft und Technik, die Sozialistische Akademie der ČSR, der Tschechische Friedensrat, die Tschechische Union der Bauingenieure, die Tschechische Union der Journalisten, die Polnische Union für Kultur und Aufklärung in der ČSSR, der Kulturverein der Bürger der ČSSR deutscher Nationalität, die Union der Tschechischen Philatelisten, die Tschechische Union der Kleintierzüchter, die Tschechische Union der Imker, die Tschechische Fischerunion, die Tschechische Jägerunion sowie die Tschechische Union für Obstanbau und Gärtnerei. 43 Die Kommunistische Partei der Slowakei, die Freiheitspartei, die Partei der Slowakischen Wiedergeburt, das Tschechoslowakische Rote Kreuz, die Tschechoslowakische Union für Leibesertüchtigung, der Slowakische Friedensrat, der Slowakische Rat der Gewerkschaften, die Slowakische Gesellschaft für Wissenschaft und Technik, die Union Slowakischer Jäger, die Union Slowakischer Fischer, die Slowakische Union der Wohnungskooperativen, die Slowakische Union der Philatelisten, die Slowakische Züchterunion, die Slowakische Union der Filmschaffenden, die Slowakische Union der

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Verschleierung des Machtmonopols der KSČ. Tatsächlich war dieses Monopol sogar in der Verfassung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik von 1960 verankert, deren Artikel 4 besagte: „Die führende Kraft in Gesellschaft und Staat ist die Vorhut der Arbeiterklasse, die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, eine freiwillige Kampfunion der aktivsten und bewusstesten Bürger aus den Reihen der Arbeiter, Bauern und der Intelligenzija.“44 Über die NF wurden die Kandidatenlisten für die Wahlen zu den jeweiligen Vertretungsorganen zusammengestellt. Mithilfe des NF-Systems implementierte die KSČ ihre Nomenklaturapolitik jenseits der Bereiche der öffentlichen Verwaltung: Die Mitgliedschaft in der KSČ war Voraussetzung für jeden, der in eine, der in der NF zusammengeschlossenen, Interessengruppen eine Führungsposition anstrebte, selbst auf örtlicher Ebene, und die Kandidaten wurden vom zuständigen Parteikomitee überprüft. Im Ergebnis unterstanden sämtliche legale politische Parteien und Massenorganisationen der Kontrolle der KSČ. Erst in den späten 1980er-Jahren begann dieses Monopol zu erodieren, was sich hauptsächlich innerhalb der ČSL manifestierte.45 Dies war allerdings bereits ein Ausdruck weitergehender Veränderungen in der Gesellschaft als Ganzes und Zeugnis der nachlassenden Fähigkeit der KSČ, die Gesellschaft unter Kontrolle zu halten, was dann in den Ereignissen des November 1989 kulminierte.

Fazit In den 1980er-Jahren war die KSČ weitgehend gesellschaftlich isoliert. Vielleicht kann man sogar unter Verwendung marxistischen Vokabulars sagen, dass sie sich von der Gesellschaft entfremdet hatte. Sie wurde nicht länger als eine Kraft der Modernisierung gesehen, und aufgrund der veränderten Atmosphäre in der Gesellschaft wurden auch ihre Verbindungen zu den historischen Traditionen der tschechischen Gesellschaft schwächer. Während der Jahrzehnte der Herrschaft der kommunistischen Staatspartei hatte sie lange Zeit über echte Legitimität verfügt, hatte sie ausgezeichnete Führungspersönlichkeiten gehabt und den gesamten Machtapparat kontrolliert. Aus der Perspektive der 1950er-, 1960er- oder 1970er-Jahre war ihr Ende im Jahre 1989 sowohl paradox als auch unerwartet.

Anti­faschistischen Kämpfer, die Slowakische Union der Konsumentenkooperativen, die Slowakische Union der Imker, die Slowakische Union der Manufakturkooperativen, die Slowakische Union der Gärtner, die Slowakische Frauenunion, die Sozialistische Akademie, die Sozialistische Union der Jugend, die Union der TschechoslowakischSowjetischen Freundschaft, die Union für die Zusammenarbeit mit der Armee, die Union der Kooperativbauern, die Union der Behinderten der SSR sowie die Feuerschutzunion der SSR. 44 Die Verfassung von 1960. 45 Zu Einzelheiten vgl. z. B. Vít Dočkal, Vratký vzlet Fénixe: Československá strana lidová 1988–1990, Brno 2004.

Sozialpolitik und das Ende der sozialistischen Diktatur in der Tschechoslowakei Jakub Rákosnik* In der Erinnerung der Zeitgenossen ist die sogenannte Normalisierung der Tschechoslowakei (ČSSR) bis heute mit einem hohen Maß an sozialer Sicherheit verbunden, die in deutlichem Kontrast zu den Unsicherheiten der Marktwirtschaft wahrgenommen wird. Soziologische Studien zum historischen Bewusstsein der Bevölkerung zeigen eindeutig, dass die späte Periode des Sozialismus, die sogenannte Normalisierung (1968–1989), von mehr als 70 Prozent der Befragten zwar als eine Zeit des Niedergangs empfunden wird. Zugleich jedoch wird diese Phase positiver bewertet als die Zeit vor 1968, die von 84 Prozent negativ betrachtet wird. Im Vergleich mit der Zeit vor dem November 1989 werden heutzutage die Punkte „soziale Sicherheit, Sicherheit des Arbeitsplatzes, zwischenmenschliche Beziehungen und Sicherheit im Alter“ als weniger günstig eingeschätzt.1 Der vorliegende Artikel zielt darauf ab, die Erinnerung an den Sozialismus mit der Meinung der Bevölkerung über diese Zeit sowie mit „harten Daten“ zum Niveau der sozialen Sicherheit in den 1970er- und 1980er-Jahren zu konfrontieren. Mithilfe einer kritischen Analyse der einzelnen Bereiche der Sozial­ politik in der Zeit der „Normalisierung“ soll hier die These überprüft werden, derzufolge die soziale Sicherheit der Bevölkerung ein niedrigeres Niveau hatte, als die oben erwähnte idealisierende Meinung der Mehrheit zuzugeben bereit ist, und dass diese soziale Sicherheit, soweit sie bestand, auf einer ineffizienten Verteilung des Vermögens im Rahmen einer zentralen Planwirtschaft beruhte, wodurch deren strukturelle Probleme noch verschärft wurden. In der Zeit unmittelbar vor ihrem Untergang wies die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) sämtliche Attribute einer Gerontokratie auf. Im Prinzip waren noch immer dieselben Leute an der Macht, die im April 1969, als Alexander Dubček durch Gustáv Husák als Generalsekretär ersetzt wurde, die Führung übernommen hatten. Daran änderten auch einige geringfügige Personalumstellungen in den Jahren 1987 und 1988 nichts. Die ­Entscheidung für

* 1

Aus dem Englischen übersetzt von Mirko Wittwar. Jiří Šubrt/Jiří Vinopal, Historické vědomí obyvatel České republiky perspektivou socio­ logického výzkumu, Praha 2013, S. 135–143.

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den Kompromisskandidaten Miloš Jakeš als Generalsekretär im Jahre 1987 war nichts anderes als ein Ausdruck von Hilflosigkeit und kein Anzeichen für eine irgendwie geartete konzeptionelle Vorstellung für eine künftige Entwicklung. Jakeš repräsentierte die Linie der orthodoxen „Normalisierung“, entsprechend Françoise Mayers Fazit, dass die „Rigidität der Doktrin, die vor allem anderen auf der Bewahrung des Status quo beruhte, die führenden Vertreter in eine dreifache Isolation führte: innerhalb des Sowjetblocks, der sich selber inmitten einer Transformation befand, innerhalb der Gesellschaft sowie innerhalb der eigenen Partei“.2 Dies wird unter anderem in überzeugender Weise durch Umfragen aus der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre bestätigt, die vom Institut zur Erforschung der öffentlichen Meinung organisiert wurden, einer Einrichtung des nationalen Statistikbüros. Auch wenn Zweifel am Informationswert dieser offiziellen Meinungsumfragen erlaubt sind, so geben sie doch zumindest einige Hinweise auf die zunehmende Isolation der Parteiführung (sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch an der Parteibasis). Gleichermaßen lässt sich aus Umfragen aus den Jahren 1986 bis 1989 erschließen, dass die Unterstützung für die führende Rolle der Partei konstant nachließ. Andererseits bestand paradoxerweise (allerdings nur auf den ersten Blick) nach wie vor ein weitreichender gesellschaftlicher Konsens über den Sozialismus als eines wünschenswerten Gesellschaftssystems. Im Dezember 1989 forderten lediglich 3 Prozent der Bevölkerung eine Rückkehr zum Kapitalismus, während 41 Prozent nach wie vor ihre Unterstützung für den Sozialismus bekundeten und 52 Prozent einen nicht näher bezeichneten dritten Weg bevorzugten. Diese Umfragen bestätigten die Regel, dass – entsprechend den Beobachtungen Miroslav Vaněks – die Antworten bezüglich der Praxis der „Normalisierung“ desto kritischer wurden, je genauer die Fragen formuliert wurden. Andererseits war die Haltung der Bevölkerung deutlich moderater, wenn die Fragen zum sozialistischen System weniger eindeutig formuliert waren.3 Während der gesamten Zeit ihres Bestehens griff die kommunistische Diktatur in der ČSSR auf den Wunsch nach Bewahrung des hohen Niveaus der sozialen Absicherung als entscheidendes Instrument zur Rechtfertigung und Stabilisierung des Systems zurück. In der Spätphase (1968–1989)4 scheint dies noch stärker der Fall gewesen zu sein als in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten, denn die Strategie der materiellen Ruhigstellung der Bevölkerung – die Sicherstellung einer akzeptablen Lebensqualität gegen Verzicht auf politische

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Françoise Mayer, Češi a jejich komunismus, Praha 2009, S. 80. Franz. Original: Les Tchèques et leur communisme: mémoire et identités politiques, Paris 2004. Miroslav Vaněk, Veřejné mínění o socialismu před 17. listopadem 1989: analýza výsled­ ků výzkumů veřejného mínění prováděných od roku 1972 do roku 1989, Praha 1994, S. 21, 24, 56 f. Zum Konzept der „Normalisierung“ vgl. Pavel Kolář/Michal Pullmann, Co byla norma­ lizace? Studie o pozdním socialismu, Praha 2016.

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Teilhabe – gehörte zu den entscheidenden Mechanismen der Kontrolle, nicht nur im Falle der ČSSR.5 Der Autor teilt die Meinung Milan Otáhals, eines herausragenden Historikers der Zeit des späten Sozialismus, dass „die Bevölkerung nicht unter Versorgungsmängeln litt und […] dass es der politischen Führung gelang, einen Lebensstandard zu wahren, der nicht zu Unstimmigkeiten führte, die in Massenprotesten der Bürger gegen das Regime hätten enden können, wie es in Polen geschah“.6 Bezüglich dieser Ansicht scheint es breite Übereinstimmung sowohl innerhalb Tschechiens als auch außerhalb zu geben.7 Angesichts der internen Dokumente sowie der entsprechenden Fachliteratur kann es allerdings keinen Zweifel daran geben, dass die Aufrechterhaltung des tschechoslowakischen „Wohlfahrtsstaates“ im Verlauf der 1980er-Jahre an ihre Grenzen stieß und eine grundlegende Restrukturierung auch dann unvermeidlich gewesen wäre, wenn die kommunistische Diktatur das Jahr 1989 überlebt hätte.

Familienpolitik Die bekannteste sozialpolitische Maßnahme des Regimes der „Normalisierung“ war ohne Zweifel die soziale Unterstützung der Familie. Diese Konzeption stammte bereits aus den 1960er-Jahren, als die ČSSR mit außerordentlich negativen Indikatoren der demografischen Entwicklung konfrontiert wurde. Historisch gesehen war das nichts Neues; besonders der westliche Teil des Staates (Böhmen und Mähren) verzeichnete bereits vor dem Ersten Weltkrieg nur einen vergleichsweise geringen Bevölkerungszuwachs, und während der Weltwirtschaftskrise war dort das Bevölkerungswachstum mit das niedrigste in Europa. Ausgangspunkt für die Reform der Familienpolitik war ein Dokument mit dem Titel „Program společenské pomoci rodinám s dětmi“ (Programm zur sozialen Unterstützung von Familien mit Kindern) aus dem Jahre 1968, das von einer Gruppe von Experten aus verschiedenen Fachbereichen unter Leitung des

5

6 7

Vgl. Christoph Boyer, Sozialgeschichte der Arbeiterschaft und staatssozialistische Entwicklungspfade: Konzeptionelle Überlegungen und eine Erklärungsskizze. In: Peter Hübner/Christoph Kleßmann/Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter im Staatsozialismus: Ideo­ logischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln 2005, S. 71–86, hier 79. Milan Otáhal, O vztahu společnosti k normalizačnímu vedení. In: Oldřich Tůma/Tomáš Vilímek (Hg.), Česká společnost v 70. a 80. letech: sociální a ekonomické aspekty, Praha 2012, S. 270 f. Vgl. Johan De Deken, Social Policy in Postwar Czechoslovakia: The Development of Age Pension and Housing Policies during the Period 1945–1989, San Domenico 1994; ­Tomasz Inglot, Welfare States in East Central Europe 1919–2004, Cambridge 2008; Bob Deacon/Julia Szalai, Social Policy in the new Eastern Europe, Aldershot 1990; ­Lenka Kalinová, Konec nadějím a nová očekávání: k dějinám české společnosti 1969–1993, Praha 2012.

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Ersten Stellvertretenden Finanzministers, Leopold Lér, entwickelt worden war.8 Es ging nicht vorrangig um eine Blankounterstützung der Geburtenförderung, sondern stattdessen um eine gezielte Unterstützung solcher „Eltern, die im wahren Sinne des Wortes die Anlagen dazu haben, die höchste Qualität für die kommenden Generationen sicherzustellen“. Trotz dieses explizit eugenischen Tonfalls hebt die dann folgende Gesetzgebung die quantitativen Aspekte hervor.9 Bereits im Jahre 1968 war die Grundlage für die Maßnahmen zur Förderung von Geburten, die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs auf 26 Wochen, geschaffen, womit die ČSSR zu den Staaten mit dem weltweit längsten Mutterschaftsurlaub zählte (Gesetz Nr. 88/1968 Coll.). Der Lohnausgleich für die Zeit des Mutterschaftsurlaubs wurde auf 90 Prozent erhöht, und die Einmalzahlung zur Geburt eines Kindes wurde zwischen 1968 und 1971 verdreifacht. Dieses Gesetz erlaubte es Frauen, beim zweiten sowie dem nächsten Kind zu Hause zu bleiben, zunächst für ein Jahr nach dem Ende des Mutterschafts­urlaubs, ab 1971 für zwei Jahre, und ab 1987 bis das Kind drei Jahre alt war. Die Einführung dieser Vergünstigung Ende der 1960er-Jahre verfolgte drei Ziele: die Bevölkerungszahl zu erhöhen, die Versorgung der jüngsten Kinder zu verbessern sowie die hohe Arbeitslosigkeit von Müttern mit kleinen Kindern zu verringern, welche die tschechischen Fachleute als viel zu hoch im Vergleich mit anderen fortgeschrittenen Ländern ansahen.10 Mitte der 1980er-Jahre, als die Bevölkerungszahlen über eine Reihe von Jahren wieder unumkehrbar gesunken waren, wurden diese Zahlungen auf das erste Kind ausgedehnt. Im Prinzip sollte dies eine Art „Müttergehalt“ sein, doch die Praxis hinkte der Theorie hinterher. Der niedrigste Betrag der Mutter­schaftszahlung, 500 Kronen zur Zeit des Erlasses des Gesetzes, konnte das Arbeitseinkommen einer Mutter nicht ausgleichen, da zu dieser Zeit das Durchschnittsgehalt in der ČSSR beinahe das Vierfache betrug und das Durchschnittsgehalt für Frauen beinahe das Dreifache.11 Da in den folgenden beiden Jahrzehnten die Höhe des Betrages hinter den Erhöhungen der nominalen Durchschnittsgehälter herhinkte, darf man davon ausgehen, dass diese Sozial­ maßnahme wenig attraktiv war. Die Familienpolitik der „Normalisierung“ wurde im Jahre 1973 durch eine neue Regelung der Heiratskredite ergänzt, die bis in die frühen 1990er-Jahre ein sehr populäres Instrument zur Unterstützung junger Familien blieb. Bis zum heutigen Tag ist diese Politik der Geburtenförderung Gegenstand von Kontroversen. Die Kritiker weisen zu Recht auf die Tatsache hin, dass es

   8 Nationalarchiv Prag, Bestand Ministerstvo práce a sociálních věcí 1969–1990, Kasten 203, dort auch nachfolgendes Zitat.    9 Jakub Rákosník/Radka Šustrová, Rodina v  zájmu státu: populační růst a instituce manželství v českých zemích 1918–1989, Praha 2016. 10 NA, f. MPSV 1969–1990 (nezpracovaný fond), k. 205. 11 Lidmila Hacajová, Zkušenosti s  novou úpravou mateřského příspěvku. In: Populační zprávy, (1972) Nr. 4–5, S. 29–31.

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unter allen Umständen zu einem Wachstum der Bevölkerung gekommen wäre, da zu Beginn der 1970er-Jahre die geburtenstarken Jahrgänge der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in das Alter kamen, in dem sie Familien gründeten. Zur Zeit ihrer Einführung wurden die Maßnahmen zur Geburtenförderung deutlich positiver gesehen als heutzutage. Im Jahre 1973 lobte die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit die ČSSR dafür, dass dort im Vergleich zum Durchschnittsgehalt mit die höchsten Beträge für Kinder gezahlt wurden.12 Ganz ähnlich erinnert Vera Sokolová daran, dass eine Reihe von Bevölkerungswissenschaftlern im Westen das tschechoslowakische Modell als die „beste und umfangreichste Politik zur Geburtenförderung in der entwickelten Welt“ ansahen. In gleicher Weise räumte Alena Heitlinger, eine der führenden ausländischen Expertinnen zur Bevölkerungspolitik der Tschechoslowakei, die sich in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht mit ihrer Kritik der ČSSR und ihrer Politik zurückhielt, ein, dass die ČSSR mit einem Familienzuschuss von vier Prozent der Staatsausgaben und sieben Prozent für Dienstleistungen und subventionierte Güter zugunsten von Familien die anderen entwickelten Länder bei diesen Ausgaben deutlich übertraf.13 Skeptiker wenden allerdings ein, dass die Politik der Geburtenförderung während der „Normalisierung“ die Fruchtbarkeitsrate insgesamt nicht erhöhte. Im Ergebnis bekamen Frauen nicht mehr Kinder; die Geburten wurden lediglich anders über die Zeit verteilt und konzentrierten sich auf die 1970er-Jahre. Alles, was man erreichte, war eine Welle mehrerer starker Altersgruppen, gefolgt von einem unvermeidlichen Rückgang.14 Andererseits wurde im Verlauf der 1980er-Jahre klar, dass sich das Stimulierungspotenzial der im vorangegangenen Jahrzehnt ergriffenen Maßnahmen erschöpft hatte. Umfragen ergaben, dass 60 Prozent der Frauen unter 35 Jahren von keiner Sozialmaßnahme dazu bewegt werden würden, mehr Kinder zu bekommen.15 Außerdem belasteten die Familienzuwendungen und ihre jeweiligen Erhöhungen ernsthaft den Staatshaushalt. Gerade in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, als die Welle der zunehmenden Geburten langsam abzuebben begann, stiegen die Haushaltsausgaben für die Familienzuwendungen um mehr als ein Viertel.16

12 Vgl. Jaroslav Havelka, Výsledky a úkoly populační politiky. In: Populační zprávy, (1974) 1, S. 3. 13 Zit. nach Barbara Havelková, Three Stages of Gender in Law. In: Hana Havelková/ Libora Oates-Indruchová (Hg.), The Politics of Gender Culture under State Socialism: An Expropriated Voice, London 2014, S. 48, dort auch Zitat. 14 Ladislav Rabušic, Propopulační politika – spíše chiméra než spása. In: Propopulační politika – ano či ne, Praha 2002, S. 60. 15 Eva Zahradníková, Využijú ženy trojročnú materskú dovolenku? In: Sociální politika, (1988) Nr. 7, S. 154 f. 16 Jakub Rákosník/Igor Tomeš, Sociální stát v  Československu 1918–1992, Praha 2012, S. 186.

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Kritik an der Verletzung sozialer Rechte Im Gegensatz zu den Verzerrungen in der offiziellen Literatur lässt sich in gewissem Maße ein kritisches Bild der Probleme der Sozialpolitik während der „Normalisierung“ durch die Dokumente der tschechoslowakischen Dissidenten gewinnen. Seit sich die Charta 77 als das wichtigste Sprachrohr der tschecho­ slowakischen Dissidenten von 1977 bis 1989 der Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen widmete, konnte man Fragen nach der Einhaltung der internationalen Verpflichtungen der ČSSR im Bereich der sozialen Rechte nicht ignorieren.17 Die erste Erklärung der Charta vom 1. Januar 1977, mit der sie ihr Bestehen bekanntgab, bezog sich in der Einleitung auf die Veröffentlichung des „Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ (UNO, 1966) in der Tschechoslowakischen Gesetzessammlung (13. Oktober 1976), und wenn man sich auch hauptsächlich auf Bürgerrechte und politische Rechte bezog, so nannte doch bereits der Titel einige garantierte soziale Rechte, welche von der sozialistischen Diktatur verletzt wurden. Im Besonderen wurden Verletzungen des Rechtes auf Bildung sowie des Rechtes der Vereinigungsfreiheit zur Verteidigung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen des Volkes genannt. Einige weitere Klagen, die sich in erster Linie auf Bürgerrechte und politische Rechte bezogen, berührten den Bereich der Sozialpolitik, insbesondere in Fällen, in denen die Meinungsfreiheit durch diverse Schikanen und Diskriminierungen am Arbeitsplatz eingeschränkt wurde.18 Selbstverständlich sind die Dokumente der Dissidenten bei Weitem keine erschöpfende Quelle zum Verständnis der Proble­me der Sozialpolitik in der ČSSR während der „Normalisierung“. Eine Reihe der Probleme dieser Zeit sind von keinerlei Interesse, wenn es um Verletzungen der garantierten sozialen Rechte geht (wie zum Beispiel die kritische Situation der Wohnungspolitik oder die Überlastung der Betriebe durch soziale Ausgaben). Seit den 1950er-Jahren zeigte sich die Kommunistische Partei (KP) weitgehend uninteressiert an internationalen Garantien sozialer Rechte. Sie argumentierte vielmehr, dass diese Rechte im Sozialismus weit vollständiger gewahrt seien, als internationale Organisationen dies gewährleisten könnten.19 Die Charta 77 widmete ihr Dokument Nr. 7 vom 8. März 1977 den Verletzungen wirtschaftlicher und sozialer Rechte und äußerte darin Kritik an vier sozialen Rechten.

17 Vgl. H. Gordon Skilling, Charter 77 and Human Rights in Czechoslovakia, London 1981; Jonathan Bolton, Worlds of Dissent: Charter 77, the Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism, Cambridge 2012. 18 Prohlášení Charty 77 (1. ledna 1977). In: Vilém Prečan (Hg.), Charta 77 (1977–1989): Od morální k demokratické revoluci, Scheinfeld 1990, S. 9–13. 19 Jakub Rákosník, Sovětizace sociálního státu: Lidově demokratický režim a sociální práva občanů v Československu 1945–1960, Praha 2010, S. 99.

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Zunächst ging es um das „Recht auf Arbeit“. Die Kommunistische Partei wurde dafür gelobt, dass es ihr gelungen sei, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen und den Arbeitern eine „größere soziale Sicherheit [zu garantieren] als in anderen entwickelten Ländern“.20 Sie hatte dies allerdings um den Preis einer höchst ineffizienten Verteilung der Arbeitsplätze erreicht, indem sie viele Stellen beibehielt, die wirtschaftlich nicht effektiv waren. Dies war ein dauerhaftes Problem in einer zentralen Planwirtschaft, mit dem sich die Wirtschaftsreformer bereits in den 1960er-Jahren erfolglos beschäftigt hatten. Die Funktionslogik eines staatssozialistischen Wirtschaftssystems führte zu einer Umkehrung der Minimax-Regel. Das rationale Verhalten eines Firmenmanagements in einer zentralen Planwirtschaft bedeutete die Maximierung des Aufwands, soweit man dieses bei der zentralen Planungsstelle erreichen konnte, bei gleichzeitiger Minimierung des Ergebnisses.21 Dies gilt in gleicher Weise für die Rekrutierung von Arbeitskräften. Das Problem war so schwerwiegend, dass es zum zentralen Kritikpunkt der offiziellen Veröffentlichungen wurde.22 Nichtsdestotrotz war die wirtschaftliche Irrationalität nicht das zentrale Anliegen der Charta. Das oben genannte Dokument wandte sich gegen die Verwechslung des Rechtes auf Arbeit mit der Pflicht zur Arbeit unter Bedingungen, bei denen der Staat faktisch zum Monopolarbeitgeber wurde. Die Verpflichtung zur Arbeit ergab sich aus dem Strafrecht (Gesetz Nr. 140/1961 Coll.), genauer aus den Bestimmungen über „soziales Parasitentum“, sowie aus dem Gesetz über Verstöße (Gesetz Nr. 150/1969 Coll.). Obwohl die Mitglieder der Charta in diesem Fall keine Einwände erhoben, hatte die Tschechoslowakei dennoch seit Langem im Zentrum der Kritik der Internationalen Arbeitsorganisation gestanden, da das Vergehen des „sozialen Parasitentums“ den internationalen Vereinbarungen über die Zwangsarbeit widersprach. Während der gesamten 1980er-Jahre behauptete die Kommunistische Partei in ihren Berichten an die Internationale Arbeitsorganisation, eine vorgesehene gründliche Gesetzesänderung werde sämtliche Einwände in Betracht ziehen. Man kann sich allerdings der Meinung des Anwalts Vladimír Adamus aus dem Jahre 1992 anschließen, dass die KP nicht vorhatte, die Bestimmungen über das „Parasitentum“ zurückzunehmen, da sie sich dadurch einer mächtigen Waffe beraubt hätte, die ihr erlaubte, nicht hinreichend loyale Bürger zu verfolgen.23 Ein weiterer Punkt des Charta-Dokuments Nr. 7 war die Kritik an Verletzungen des „Rechtes auf gerechte Bezahlung“, das einer Familie ermöglichen sollte, ein auskömmliches Leben zu führen. Hier wiesen die Autoren auf eine weitere typische Langzeiteigenschaft der tschechoslowakischen Gesellschaft

20 Prohlášení Charty 77 (1. ledna 1977). In: Prečan (Hg.), Charta 77, S. 9–13. 21 Vgl. Jiří Suk, Veřejné záchodky ze zlata: konflikt mezi komunistickým utopismem a ekonomickou racionalitou v předsrpnovém Československu, Praha 2016. 22 Viz např. Milada Bartošová, Změny v  celkové politice zaměstnanosti a ve vývoji kvalifikační a profesní struktury pracovních sil, Praha 1988, S. 7 f. 23 Vladimír Adamus, Příživnictví. In: Správní právo, (1992) Nr. 3, S. 32 f.

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hin, ­nämlich der unüblich hohen Beschäftigungsrate von Frauen. Innerhalb des Sowjetblocks stellte dies keine Ausnahme dar (die Sowjetunion und die DDR hatten sogar noch höhere Beschäftigungsraten von Frauen).24 Darüber hinaus hatte man dort die Vollbeschäftigung von Frauen bereits in den 1960er-Jahren erreicht, im Vergleich zu westlichen Ländern war der Unterschied jedoch auffallend. Diese intensive Arbeitstätigkeit war allerdings nicht das Ergebnis einer Emanzipation, wie die Propaganda beständig behauptete, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit. In der großen Mehrheit der Fälle reichte das Gehalt eines Partners nicht aus, um einer Familie einen ordentlichen Lebensstandard zu sichern. Diese Tatsache geht durchweg aus demografischen und soziologischen Untersuchungen der 1950er- bis zu jenen der 1980er-Jahren hervor. Eine soziologische Untersuchung zum Leben junger Familien in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre kam zu der vertraulichen Schlussfolgerung, dass einerseits nach wie vor der männliche Anteil am Familienbudget von entscheidender Bedeutung war, dass aber andererseits das fehlende Einkommen der Frauen in den frühen Ehejahren zu unerwünschten Problemen für die finanzielle Situation der Familien führte.25

Geschlechterdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt Ein ernsthaftes Problem, das nicht zugegeben wurde, war die Geschlechterdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, das die Charta in dem genannten Dokument ebenfalls kritisierte. Dennoch zählte die Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Vorreitern der gleichen Bezahlung für Frauen. Bereits im Juni 1945 hatte der Minister für Arbeitsschutz und Sozialfürsorge ein Dekret zu den Gehältern sowie zur gleichen Bezahlung von Frauen (Nr. 74/1945 des Tschechoslowakischen Gesetzblattes) erlassen. Im Jahre 1959 betrug allerdings das Durchschnittsgehalt einer Frau im „sozialistischen Sektor“ immer noch nur 66,1  Prozent des Gehalts eines Mannes.26 Verglichen mit der Zwischenkriegszeit hatte sich die Situation kaum verbessert. In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre gab es weniger Männer als Frauen mit niedrigem Einkommen.27 Zu dieser Zeit hielt man dies unter Politikern oder Sozialwissenschaftlern nicht für ein grundsätzliches Problem. Man konnte sagen, dass nach 1945 die Frauen als zusätzliche Arbeitskräfte eingesetzt wurden und ihnen jegliche Aus-

24 Sharon L. Wolchik, The Status of Women in a Socialist Order: Czechoslovakia, 1948– 1978. In: Slavic Review, 38 (1979) 4, S. 586. 25 Věra Haberlová, Mladá manželství po pěti letech. In: Výzkumy rodiny II, Praha 1988, S. 29. 26 Wolchik, The Status of Women in a Socialist Order, S. 589. 27 Milena Srnská, Employment of Women in the Czechoslovak Socialist Republic. In: Inter­ national Labour Review, (1965) 5, S. 400.

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bildung fehlte, sodass sie im Endergebnis niedrige, schlecht bezahlte Tätigkeiten verrichteten. Wenn man diesem Argument folgte, dann lag der Fehler beim kapitalistischen System, das die ganze Zeit über Frauen daran gehindert hatte, höhere Qualifikationen zu erwerben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die sozialistische Gesellschaft dieses Problem überwunden haben würde. Die weitere Entwicklung bestätigte dies nicht. Eine Umfrage aus dem Jahre 1979 zum sozialen Status der Frauen ergab, dass 77 Prozent der Ehemänner ein höheres Einkommen erzielten als ihre Frauen, während das Gegenteil nur für 7 Prozent der Frauen galt (die übrigen Paare dieser repräsentativen Umfrage erzielten gleich hohe Gehälter oder die Frauen arbeiteten nicht). Nach den Zahlen von 1992 beliefen sich die Durchschnittsgehälter von Frauen auf lediglich 67 Prozent der Gehälter der Männer, was ein deutlich größerer Unterschied nicht nur zu den westlichen Ländern war, sondern auch zu den Nachbarländern Ungarn und Polen.28 Es war typisch für das Verhalten der damaligen Führung der Kommunistischen Partei, dass sie ein verfälschtes Bild der Situation gab. Diese Verfälschungstaktik lässt sich anhand einiger der führenden Publikationen der Zeit dokumentieren. In einer faktenreichen repräsentativen Veröffentlichung, die für ihre Zeit sogar sehr kritisch war, „Proměny ženy v rodině, práci a ve veřejném životě“ („Die Veränderung der Rolle der Frau in Familie, Arbeit und öffentlichem Leben“) aus dem Jahre 1987, widmeten sich gerade einmal zwei von 300 Seiten der Bezahlung von Frauen. Außerdem musste man kursiv hervorheben, dass die sozialistische Gesellschaft die Arbeit von Männern und Frauen in gleicher Weise wertschätzte, falls diese von gleicher Quantität und Qualität war. Die Erklärung für die ungleiche Bezahlung war einfach: Aufgrund ihrer Funktionen als Mütter und für die Familie waren Frauen nicht in der Lage, „gleiche Quantität und Qualität“ zu bieten. Im Durchschnitt waren sie immer noch geringer qualifiziert, machten weniger Überstunden, arbeiteten häufiger in Teilzeit und waren häufiger von der Arbeit abwesend. Wenn diese Praxis nicht dem entsprach, was die sozialistische Verfassung versprach, dann war dies eine Folge des rein subjektiven Versagens von Individuen. Nämlich die „Aufrechterhaltung bestimmter konservativer Einstellungen zu den Diensten und der Gehaltsentwicklung von Frauen in Arbeitsverhältnissen“ und dass ein „Teil der Bevölkerung (wenn auch geringer werdend) nach wie vor das Gehalt einer Frau als einen Zusatzbeitrag zum Familieneinkommen“ ansah, was sich auch „im Verhalten von Betriebsleitern manifestierte, die Frauen in eine niedrigere Gehaltskategorie einstuften als Männer“.29

28 Jiří Kreipl/Eva Čákiová/Marie Beránková/Blanka Řeháková, Mínění a názory na post­ avení a úlohu žen v  rodině (závěrečná zpráva z  výzkumu), Praha 1979, S. 13; Jiří Večerník, Občan a tržní ekonomika – Příjmy, nerovnost a politické postoje v  české společnosti, Praha 1998, S. 60–65. 29 Jaroslava Bauerová/Eva Bártová, Proměny ženy v  rodině, práci a ve veřejném životě, Praha 1987, S. 211 f.

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Nahe an der Karikatur war die Veröffentlichung „Zaměstnaná žena ve ­světle výzkumu“ („Die arbeitende Frau im Lichte der Forschung“) aus dem Jahre 1988, deren Einleitung eine scharfe Kritik an den kapitalistischen Staaten wegen der Gehaltsdiskriminierung von Frauen enthielt, über die Bedingungen in den sozialistischen Ländern aber völliges Stillschweigen wahrte. Dennoch bietet dieser Text eine vorläufige Antwort auf die Frage, wie die Bevölkerung der Tschechoslowakei in jener Zeit die Ungleichheit der Gehälter bei Männern und Frauen sah. Auf die Frage, ob das Recht auf eine gerechte Bezahlung hinreichend gewahrt sei, antwortete mehr als ein Drittel der Frauen, dass sie nur teilweise aufgrund von Quantität und Qualität bezahlt würden, und mehr als ein Sechstel gab an, dass sich ihre Bezahlung in keiner Weise an diesem Kriterium orientiere (52,3 Prozent der weiblichen Befragten brachten ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck).30 Die Perspektive auf den Status der Frauen in der sozialistischen Gesellschaft wurde im Jahre 1987 durch eine Umfrage mit dem Titel „Názory občanů na prohlubování rovnoprávného postavení žen“ („Die Meinung der Bürger zur voranschreitenden Gleichheit der Stellung der Frauen“) erweitert. Die Autoren wiesen darauf hin, dass, anders als in den Umfragen der 1970er-Jahre, die Möglichkeiten für Frauen, Karriere zu machen, spürbar schlechter eingeschätzt wurden: Drei Fünftel der Befragten waren der Ansicht, dass es für Frauen schwieriger als für Männer sei, Positionen auf der höheren Betriebsleiterebene zu erlangen. Andererseits war ein volles Drittel der Befragten der Ansicht, dass höhere Positionen für Frauen unangebracht seien. Es gab einen eindeutigen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Nur 27 Prozent der Frauen vertraten letztere Meinung, während sie von 43 Prozent der Männer geteilt wurde. Die Autoren fassten die Situation wie folgt zusammen: „Die befragten Bürger sind der Meinung, dass die Bedingungen für Frauen sehr nahe an denjenigen für Männer liegen, wenn es um die Erlangung von Qualifikationen und um Bildung geht, auch was die Möglichkeiten, mit besseren Technologien zu arbeiten, betrifft, doch werden sie deutlich schlechter eingeschätzt, soweit es die Möglichkeit betrifft, gleichwertige Arbeit zu finden und die eigene Bezahlung zu verbessern, und die Einschätzungen sind am schlechtesten, wenn es um den Aufstieg auf leitende Positionen geht.“31 Diese Befunde trugen in minimaler Weise zur Destabilisierung des sozialistischen Systems in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre bei. Die Dissidentenszene beobachtete ein relativ geringes Interesse an bestimmten mit Genderthemen verbundenen Themen. Das Interesse galt vorrangig politischen Freiheiten wie den Menschenrechten sowie „allgemein menschlichen“ Themen anstatt Fragen, die das Genderthema betrafen. Kein einziges von der Charta 77 veröffentlichtes

30 Zamestnaná žena vo svetle výskumu, Bratislava 1988, S. 20, 91. 31 Názory občanů na prohlubování rovnoprávného postavení žen v Československu a na výchovu k manželství a rodičovství v rodině, Praha 1987, S. 28.

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Dokument befasste sich mit der Stellung der Frauen in den sozialistischen Gesellschaften (abgesehen von dem hier zitierten), und dies spielte ebenfalls keine Rolle bei den Diskussionen unter weiblichen Dissidenten, obwohl die Gelegenheit zweifellos bestanden hätte.32

Egalitarismus und Stagnation Ein drittes Thema, das die Charta in ihrem Dokument vom 8. März 1977 ansprach, war die generelle Ungleichheit der Bezahlung in der tschechoslowakischen Wirtschaft. Nach 1945 profilierte sich die Tschechoslowakei als die egalitärste Gesellschaft Europas (vielleicht mit Ausnahme Albaniens).33 Dies begann während des Zweiten Weltkrieges, als in der Wirtschaftspolitik die Meinung vorherrschte, dass in der Wirtschaft ein Ungleichgewicht zugunsten der Verwaltungstätigkeiten bestehe. Hinzu kam, dass in der Kriegsökonomie Facharbeiter­tätigkeiten in kriegswichtigen Bereichen besser bezahlt worden waren. Die Politik der Kommunistischen Partei entsprach dem Trend nach dem Zweiten Weltkrieg: Im Jahre 1948 lagen die Gehälter für Angestelltentätigkeiten immer noch 66 Prozent über denen für Facharbeiter (Bürotätigkeiten lagen 24 Prozent höher), im Jahre 1953 hatte sich dies auf 33 Prozent verringert, und die Gehälter für Bürotätigkeiten lagen sogar 8 Prozent unter dem Durchschnitt für Facharbeiter.34 Dieser zunehmende und demotivierende Egalitarismus führte zu ausgedehnten Debatten während der beiden Reformansätze vor 1968, bei denen es um die Notwendigkeit einer Differenzierung der Gehälter ging. Allerdings sah sich die KP einem unmöglich zu lösenden Dilemma gegenüber, das einer größeren Differenzierung der Gehälter im Weg stand. Entweder man schritt zu höchst unpopulären Einschnitten bei den Gehältern für Facharbeiter, was für ein Regime, dessen Legitimität auf der Diktatur des Proletariats beruhte, nur unter beträchtlichen Risiken möglich war, oder man nahm einen Inflationsschub in Kauf, was man ebenfalls als nicht wünschenswert ansah.35 Aus diesem Grund blieb der Egalitarismus als typisches Charakteristikum der tschechoslowakischen Gesellschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren erhalten und stellte einen der Schlüsselfaktoren für die mangelnde Zunahme der Arbeitsproduktivität dar.

32 Vgl. Jiřina Šiklová, Podíl českých žen na samizdatu a v  disentu v  Československu v období tzv. normalizace v letech 1969–1989. In: Gender, rovné příležitosti, 9 (2008) 1, S. 39–44, hier 41 (https://www.genderonline.cz/en/issue/9-volume-9-number-1-2008- reprezentace-a-participace-zen-v-politice/110; 2.8.2018). 33 Ivo Možný, Rodina a společnost, Praha 2008, S. 103. 34 Karel Kaplan, Sociální souvislosti krizí komunistického režimu v letech 1953–1957 a 1968–1975, Praha 1993, S. 9. 35 Vgl. Rákosník, Sovětizace sociálního státu, S. 163 f.

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Ein wichtiges Problem, sicherlich einer der Gründe für die wachsende Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation, war die Stagnation der Realeinkommen der Durchschnittsbevölkerung. Obwohl die offiziellen Statistiken dem Volk versicherten, dass Wachstum herrsche, zeigten die nach 1989 durchgeführten Analysen, dass die Reallöhne zwischen 1976 und 1989 stagnierten. Zur gleichen Zeit stiegen die Reallöhne in den fortgeschrittenen Ökonomien des Westens trotz der wirtschaftlichen Verwerfungen aufgrund der Stagflation zwischen 1970 und 1988 im Durchschnitt um 50 bis 55 Prozent.36 Die Unzufriedenheit der Bevölkerung fand ihren Niederschlag in offiziellen soziologischen Umfragen. Während im Jahre 1973 32 Prozent der Arbeiter Unzufriedenheit mit ihren Gehältern äußerten, waren es im Jahre 1988 bereits 58 Prozent. Die überdurchschnittliche Zunahme der Unzufriedenheit betraf Facharbeitertätigkeiten und war häufiger unter den Einwohnern der größeren Städte anzutreffen.37 Der Egalitarismus stand allerdings nicht im Zentrum der Bemühungen der Charta, und das Dokument kritisierte im Gegenteil die Ungleichheit bei der Bewertung der Arbeitsleistung, „bei der das politische Engagement gegenüber beruflicher Fähigkeit und Arbeitsleistung höher bewertet wird“.38 Dies bezog sich auch auf die massenhaften Säuberungen der frühen 1970er-Jahre, die in einzelnen Fällen bis in die 1980er-Jahre andauerten, als politische Kriterien Vorrang gegenüber dem Recht auf freie Berufswahl hatten. Beschwerden über Diskriminierung bei der Beschäftigung im Zusammenhang mit politischen Aktivitäten und/oder politischen Meinungsäußerungen stellten während des gesamten Bestehens der Charta 77 das häufigste Thema dar, das in sämtlichen Dokumenten zu sozialen Rechten bis in das Jahr 1990 zu finden ist. Die Charta kritisierte wiederholt die Diskriminierung junger Menschen beim Zugang zu Bildung aufgrund der politischen Haltung ihrer Eltern.39 Das letzte von der Charta in ihrem Dokument Nr. 7 kritisierte Thema betraf die Einschränkung des Vereinigungsrechtes. Das Monopol einer von der Partei und der Staatsmaschinerie kontrollierten Gewerkschaftsorganisation und die von dieser ausgeübten Funktionen (z. B. die Verwaltung der Krankenversicherung) verhinderten eine freie Entscheidung über die Mitgliedschaft oder die Bildung einer alternativen Organisation: „Die Funktionen, welche die Gewerkschaften über Jahrzehnte im Sinne der Interessen der Arbeiter hatten, sind praktisch außer Kraft gesetzt. […] Anstatt sich im Kampf für die Beteiligung an allen entscheidenden wirtschaftlichen Beschlüssen zu engagieren, räumen sie das Feld und sind mitverantwortlich für bürokratische Entscheidungen“,40 fuhr 36 Miroslav Hiršl, Analýza struktury chudého obyvatelstva v  Československu in 1988, Praha 1991, S. 37. 37 Tomáš Vilímek, Nástroj mocenské legitimizace i opatrovnictví: Sociální politika a její uplatnění v  důchodovém zabezpečení v  Československu a NDR (1970–1989). In: Soudobé dějiny, (2013) 1–2, S. 98. 38 In: Prečan (Hg.), Charta 77, S. 204 f. 39 Ebd., S. 205. 40 Ebd., S. 205 f.

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das Dokument fort. Im Zusammenhang mit der Kritik an der Einschränkung der Vereinigungsfreiheit erwähnte die Charta ein weiteres wichtiges Phänomen der soziopolitischen Praxis der „Normalisierung“. Die Gewerkschaften wurden dafür verantwortlich gemacht, keinen Widerstand gegen die gesetzliche Festlegung eines Existenzminimums durch die Regierung zu leisten, das jedes Jahr angepasst wurde und als Maßstab für die Bestimmung eines Mindestlohns fungierte. In der Fach- und Rechtsdebatte verwendete man dafür den Begriff „Schwelle der sozialen Notwendigkeit“, obwohl es dafür keinerlei rechtliche Begründung gab.

Soziale Sicherheit Dennoch kann man heute feststellen, dass Armut in den letzten Jahren des Bestehens des Staatssozialismus in der Tschechoslowakei kein ernsthaftes Pro­blem darstellte. Analysen, die Miroslav Hiršl für den Zeitraum von den 1950er- bis zu den 1990er-Jahren veröffentlichte, zeigen, dass die KP bei der Beseitigung der Armut (Armut im Sinne eines Lebens unterhalb der Schwelle des gesellschaftlich definierten Mindestlebensstandards) geradezu spektakulär erfolgreich war. Entsprechend dem Gini-Koeffizienten zählte die Tschechoslowakei zu den Ländern mit dem weltweit geringsten Prozentsatz an Armen.41 Weniger als ein Prozent der Bevölkerung war von Armut bedroht, und die Situation in den 1980er-Jahren war sogar noch etwas zufriedenstellender als im vorangegangenen Jahrzehnt. Das bedeutet, dass während der Zeit der „Normalisierung“ zwischen 100 000 und 150 000 Menschen unterhalb der Armutsschwelle lebten, was man als eine unproblematische Zahl ansah, welche die öffentliche Verwaltung ­mithilfe individueller Sozialhilfe bewältigen konnte. Einige Gruppen der Bevölkerung waren eher von Armut bedroht als andere. Dies galt besonders für Rentnerfamilien, unvollständige Familien, Haushalte mit einer größeren Zahl von Kindern sowie Roma. Im Falle der Roma bestanden darüber hinaus erhebliche Unterschiede zwischen Tschechien und der Slowakei. In den 1970er-Jahren machten Roma ein Zwölftel der Menschen unterhalb der Armutsschwelle aus, in der Slowakei ein volles Viertel. Das heißt, der Armenanteil unter den Roma betrug annähernd das Zehnfache.42 Im Jahre 1978 veröffentlichte die Charta 77 eine Erklärung mit dem Titel „O postavení Cikánů – Romů v  Československu“ („Zur Situation der ­Zigeuner/ Roma in der Tschechoslowakei“). Armut wurde nur nebenbei erwähnt, und das Hauptaugenmerk lag auf der andauernden repressiven Assimilierungspolitik, die zu „einem Prozess der sozialen Desintegration“ führte, „der in der Geschichte der Roma ohnegleichen ist“.43 Die Mitglieder der Charta ­verwiesen auf

41 Miroslav Hiršl/Martin Beneš/Eva Tůmová, Skupiny obyvatelstva s omezenou možností spotřeby v ČSSR v letech 1958–1977, Praha 1978, S. 89. 42 Ebd., S. 58 f. 43 In: Prečan (Hg.), Charta 77, S. 223.

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die minimalen Bemühungen zur Inklusion. Bildungs- und Erziehungsprobleme bei Romakindern wurden unterschiedslos dadurch gelöst, dass man sie auf Sonderschulen schickte, die für Kinder mit unterdurchschnittlicher Intelligenz gedacht waren. Dieses Problem bestand noch lange Zeit nach 1989 und stieß (und stößt noch heute) auf regelmäßige Kritik durch internationale Organisationen. Das Dokument erwähnte auch das zu jener Zeit wenig angesprochene Problem der Sterilisierung von Romafrauen. Obwohl die Sterilisierung einvernehmlich erfolgte, vermuteten die Autoren dennoch, dass in vielen Fällen Zwang ausgeübt wurde. Das verfügbare Archivmaterial bestätigt eine große Bandbreite an Manipulationen, von der Ausnutzung fehlender Bildung und Information bis hin zu materiellen Anreizen und psychologischem Druck.44 Subjektive Armut wurde von den soziologischen Umfragen während der „Normalisierung“ nicht erfasst. Dies geschah zum ersten Mal im Februar 1990. Insgesamt sahen sich 13 Prozent der tschechoslowakischen Bevölkerung als dauerhaft arm an. Diese Einschätzung fand sich überdurchschnittlich häufig bei Hausfrauen, Menschen mit geringer Bildung, Bewohnern von Kleinstädten und Rentnern. Das Rentensystem in der ČSSR litt unter einer Reihe dauerhafter Probleme. Es ist bezeichnend, dass zwischen 1948 und 1989 durchschnittlich alle zehn Jahre das Rentensystem vollkommen neu organisiert wurde.45 Jedes neue Gesetz hatte mit dem Problem der „Altrentner“ zu kämpfen, denen entsprechend der alten Regelungen ein Zuschlag gewährt wurde. Aus dieser Gruppe rekrutierten sich diejenigen alten Menschen, die in sozialen Notlagen lebten. Im Jahre 1970 war die durchschnittliche Rente relativ niedrig und betrug nur 45 Prozent der Durchschnittsgehalts, und bis 1980 sank sie sogar auf 44 Prozent. Im Gegensatz dazu war die Situation in den 1980er-Jahren besser, und bis 1990 stieg die Durchschnittsrente auf 54 Prozent des Durchschnittsgehalts.46 Der Anteil der Rentner an den Armen sank, doch lag dies mit Sicherheit an einer Zunahme der wirtschaftlichen Aktivitäten älterer Bürger.47 Während der „Normalisierung“ war die KP auch erfolgreich in der Wohnungspolitik, besonders im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten. Während der 1950er-Jahre waren die Investitionen in den Wohnungsbau gering, da der Aufbau der Schwerindustrie höchste Priorität genoss. Im Jahre 1968 stellte Ota Šik fest, dass mehr als 40 Prozent der Bevölkerung in überfüllten Wohnungen lebte (mit wenig mehr als 8 Quadratmeter pro Person), und zwischen 1950 und 1961 war die ČSSR das einzige Land in Europa, in dem sich die Wohnungssituation verschlechterte. Im Jahre 1961 gab es tatsächlich

44 Vgl. Rákosník/Šustrová, Rodina v zájmu státu, S. 167–186. 45 Jan Ryba, Vývoj sociálního zákonodárství a sociálního zabezpečení v  Československu v letech 1945–1989. In: Karel Malý/Ladislav Soukup (Hg.), Vývoj práva v Československu v letech 1945–1989, Praha 2004, S. 493–518. 46 Lenka Kalinová, Konec nadějím a nová očekávání: k dějinám české společnosti 1969– 1993, Praha 2012, S. 164. 47 Hiršl, Analýza struktury chudého obyvatelstva, S. 38.

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beinahe 11 000 Wohnungen weniger als 1950.48 Obwohl sich das Tempo der Neubauten im Laufe der 1960er-Jahre beschleunigte, reichte dies nicht aus, um zu verhindern, dass die ČSSR in den Vergleichsstatistiken für Europa weiter zurückfiel. Im Jahre 1970 entsprach der verfügbare Wohnraum 103 Prozent des Wohnraums von 1961, und im Jahre 1980 waren es beinahe 106 Prozent. Das heißt, dass in der Tschechoslowakei in jedem Jahrzehnt die Zahl der Wohnungen um etwa 100 000 stieg.49 Abgesehen vom Neubau von Einfamilienhäusern beruhte dieser Zuwachs zum großen Teil auf ausgedehnten Wohnanlagen in den Außengebieten der großen Städte. Doch selbst in der Zeit der „Normalisierung“ machte die soziologische Forschung deutlich, welch großes Problem der Mangel an zufriedenstellendem Wohnraum darstellte. Eine Umfrage unter Familien aus dem Jahre 1974 stellte fest, dass der hauptsächliche Grund, aus dem jemand keine weiteren Kinder haben wollte, die unbefriedigende Wohnsituation war (41 Prozent der Befragten gaben diese Antwort).50 1987/88 lebten schätzungsweise 50 Prozent der Paare noch zwei Jahre nach der Heirat unter unbefriedigenden Wohnbedingungen.51 Die Situation wurde durch die strikte Mietgesetzgebung noch verschärft. Sehr niedrige Wohnkosten, für welche sich die KP nach dem Zweiten Weltkrieg durchgängig starkmachte, erlaubten es selbst Alleinstehenden, in großen Wohnungen zu leben, während junge Familien mit Kindern mit dem auskommen mussten, was sich bot. Wenn auch dem Staat rechtliche Möglichkeiten zur Umverteilung von Wohnungen entsprechend dem Bedarf zur Verfügung standen, handelte es sich bei der entsprechenden Teilung großer Wohnungen und den zwangsweisen Umsiedlungen, worauf die Regierung in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg routinemäßig zurückgriff, selbstverständlich um hochgradig repressive Maßnahmen, die unter den Bedingungen des Gesellschaftsvertrags der „Normalisierung“ kaum noch akzeptabel waren.52 Eine relative Zufriedenheit herrschte bezüglich der Gesundheitsversorgung, obwohl die Privilegien der Nomenklatura sehr negativ gesehen wurden, da dieser Hochqualitätseinrichtungen zur Verfügung standen, die der Öffentlichkeit weitgehend verschlossen waren. Während der „samtenen Revolution“ konnte man daher bei den Demonstrationen Spruchbänder oder Graffiti sehen, die besagten: „SANOPS für die Kinder“ (SANOPS war ein Krankenhaus für die Nomenklatur). Große Erfolge wurden bei der Verstaatlichung des tschecho­ slowakischen Gesundheitssystems in den 1950er-Jahren erreicht. Solange die Entwicklung auf dem extensiven Wachstum der ­Gesundheitsversorgung in Form des Neubaus von Krankenhäusern und obligatorischen ­Vorsorgeprogrammen

48 49 50 51 52

Ota Šik, Fakta o stavu československého národního hospodářství, Praha 1968, S. 50. Historická statistická ročenka ČSSR, Praha 1985, S. 374. Gabriela Nekolná u. a., Rodina a rodičovství, Praha 1974, S. 28. Jitka Tutterová/Jiřina Voňková/Jan Hartl, Stabilita rodiny, Praha 1990, S. 16. Rákosník/Tomeš, Sociální stát, S. 299.

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(Impfungen, Untersuchungen) beruhte, waren die Ergebnisse relativ zufriedenstellend. Was die Kindersterblichkeit betraf, so rückte die ČSSR im ersten Jahrzehnt der sozialistischen Diktatur in die Weltspitze auf, obwohl sie in der Zwischenkriegszeit unterhalb des europäischen Durchschnitts gelegen hatte.53 In dem Moment, in dem die weitere Entwicklung des Gesundheitssystems zunehmend von neuen, kostspieligen Technologien abzuhängen begann, machten sich die üblichen Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft bemerkbar, da diese nicht in der Lage war, die entsprechenden Mittel für derartige Investitionen freizumachen. Bezeichnenderweise wiesen die Autoren einer kritischen Veröffentlichung aus dem Jahre 1988 mit dem Titel „Lidský potenciál v podmínkách přestavby“ („Humanpotenzial unter den Bedingungen der Restrukturierung“) auf die Tatsache hin, dass sich in Westdeutschland die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitssystem zwischen 1970 und 1983 verdreifacht hatten, in der ČSSR aber nur um 14 Prozent gestiegen waren.54

Fazit Trotz der heute vorherrschenden positiven Erinnerungen an die soziale Sicherheit unter dem Regime der „Normalisierung“ zeigt eine vergleichende Perspektive, dass die Großzügigkeit des Wohlfahrtsstaats in der Tschecho­slowakei während der gesamten Zeit der Diktatur relativ begrenzt war. Nach den Vergleichsstatistiken der OECD betrugen die Sozialausgaben der OECD-Mitgliedsstaaten im Jahre 1961 durchschnittlich 13 Prozent, während sie in der ČSSR nur 11 Prozent betrugen. In den frühen 1980er-Jahren waren es 26,5 Prozent respektive 17 Prozent.55 Die im vorliegenden Text dargestellte Politik der materiellen Ruhigstellung führte in einen Teufelskreis, aus dem nur schwer wieder herauszukommen war. Anders als die anderen sozialistischen Länder hatte die Tschechoslowakei keine Probleme mit Staatsschulden, mit deren Hilfe man die soziale Sicherheit der Bevölkerung hätte finanzieren können. Andererseits war ein typisches Merkmal der 1970er- und 1980er-Jahre das Bemühen, die Soziallasten in den Bereich der Betriebe zu verschieben, da der Staat nicht über die notwendigen Ressourcen verfügte, um das geforderte Niveau an sozialer Sicherheit garantieren zu können. Seit der Zwischenkriegszeit bestand ein durchgängiges Problem der tschechoslowakischen Wirtschaft in der geringen Arbeitsproduktivität, und die sozialistische Planwirtschaft erwies sich als unfähig, daran etwas zu ändern. Die durchgängige Wahrung der Vollbeschäftigung, indem man

53 Vgl. Rákosník, Sovětizace sociálního státu, S. 308–334. 54 Lenka Kalinová/Václav Sova, Lidský potenciál v  podmínkách přestavby, Praha 1989, S. 195–199. 55 Lenka Kalinová, Konec nadějím a nová očekávání: k dějinám české společnosti 1969– 1993, Praha 2012, S. 168; Tomasz Inglot, Welfare States in East Central Europe 1919– 2004, Cambridge 2008, S. 133.

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nicht mehr benötigte Arbeiter in den Fabriken hielt, sowie das Bemühen um eine großzügige Wohlfahrtspolitik auf Betriebsebene verschärften das Problem. Der Betrieb von Werkhospitälern, Altenheimen, Tagesstätten und Kindergärten sowie Betriebskantinen, dazu der Betrieb extensiver Wohnanlagen schwächten die Wettbewerbsfähigkeit der tschechoslowakischen Unternehmen weiter. In unserem gemeinsamen Buch bemerkt Igor Tomeš lakonisch, dass „die Normalisierung in sozialer Hinsicht weitgehend ein Fehlschlag war“. Die Sozialkosten stiegen schneller als das Bruttosozialeinkommen und die Arbeitsproduktivität, und in den 1980er-Jahren stiegen sie sogar schneller als die Gehälter.56 Die Autoren des Buchs „Sozialismus als soziale Frage“ brachten dieses Problem mit einer bezeichnenden Metapher zum Ausdruck, die, wenn sie auch auf die DDR und Polen gemünzt, auch ohne Einschränkung für die Tschechoslowakei Anwendung finden kann: „Die sozialen Sicherungssysteme blieben nur durch wachsende Staatszuschüsse funktionsfähig. Leben aus der volkswirtschaftlichen Substanz und zunehmende Staatsverschuldung waren die Folgen. Regierende und Regierte akzeptierten in ihrer Mehrheit solche Risiken, die einen aus Angst um die Macht, die anderen aus Gewöhnung an das gar nicht so heimliche Arrange­ment, mit dem das Machtmonopol durch sozialpolitische Leistungen erkauft worden war. Unter der ‚Führung der Partei‘ begann man an dem Ast zu sägen, auf dem man saß.“57

56 Rákosník/Tomeš, Sociální stát, S. 190. 57 Peter Hübner/Christa Hübner, Sozialismus als soziale Frage: Sozialpolitik in der DDR und Polen 1968–1976, Köln 2008, S. 460.

Opposition und Widerstand gegen kommunistische Regime: Der Fall Tschechoslowakei Jan Holzer*

Das politische Regime der Tschechoslowakei Eine ganze Reihe politikwissenschaftlicher und historiografischer Studien hat sich bereits darum bemüht, das kommunistische Regime der Tschechoslowakei einzuordnen. Die Debatte hat sich hauptsächlich auf die Grenzen der Anwendbarkeit des Begriffs „Totalitarismus“ auf die gesamte Zeit 1948 bis 1989 konzentriert.1 Viele tschechische Autoren, Vladimíra Dvořáková, Jiří Kunc und Zbyněk Zeman, haben darauf hingewiesen, dass ein diachroner Vergleich der stalinistischen Zeit, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1948 bis 1956 hatte, mit den Entwicklungen zumindest ab den frühen 1960er-Jahren2 eine signifikante Veränderung der Funktionsweise des tschechoslowakischen Kommunismus zeigt. Diese Wissenschaftler schlagen vor, das Adjektiv „totalitär“ nur auf die Beschreibung der 1950er-Jahre anzuwenden, und für die darauffolgende Zeit, besonders die 1970er- und 1980er-Jahre, eher den Begriff „autoritäres Regime“ bzw. entsprechende Ableitungen – Posttotalitarismus entsprechend der Definition von Juan J. Linz und Alfred Stepan – zu verwenden.3 Mit anderen Worten, der ursprüngliche Kommunismus, der seine Legitimität aus der Revolution bezog (aus dem, was die Kommunisten den „Siegreichen Februar 1948“ nannten), wurde ersetzt durch einen Kommunismus anderer Art (bzw. durch den sogenannten real existierenden Sozialismus), der sich * 1

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Aus dem Englischen übersetzt von Mirko Wittwar. Im vorliegenden Text wird eine weitere grundsätzliche Debatte nicht erwähnt, die von den Kritikern der Idee des Totalitarismus begonnen wurde, sei es aus methodischen Gründen, meist aber aus Gründen, die mit ihren jeweiligen Disziplinen zu tun haben (im Tschechischen František Svátek, Koncept totalitarismu a historikova skepse. Poznámky o politické a historiografické diskusi. In: Karel Jech (Hg.), Stránkami soudobých dějin. Sborník k pětašedesátinám historika Karla Kaplana, Praha 1993, S. 29–60) oder weil sie eine andere paradigmatische Position einnehmen, typischerweise eine revisionistische. Zu einem breiteren Überblick über die tschechische Debatte vgl. z. B. das Themenheft: Das Konzept des Totalitarismus in der Tschechischen Geschichte. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder, 49 (2009) 2. Vgl. Vladimíra Dvořáková/Jiří Kunc, O přechodech k demokracii, Praha 1994, S. 127. Juan J. Linz/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. South­ ern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore 1996, S. 42–51.

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durch die pragmatische Verteidigung einer politischen Macht legitimierte, die sich bereits konsolidiert hatte. Die 40 Jahre des tschechoslowakischen Kommunismus sind dann ein Lehrbuchbeispiel für eine sich verändernde nicht-­ demokratische politische Praxis.4 Nach dem Prager Frühling und der Invasion der Armeen des Warschauer Paktes im August 1968 spielte die Ideologie eine immer geringere und beinahe schon verschwindend geringe Rolle, wenn es um die ideologisch-mentale Achse geht. In der Tat, die Ideologie wurde selbst von den Eliten als eine Utopie angesehen, und die Massen bekannten sich nur in der kürzest möglichen, vorgeschriebenen Weise zu ihr. Soweit es die Achse der Mobilisierung–Entpolitisierung betraf, wurde sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit des Staates, sich in das soziale Leben seiner Bürger einzumischen, schwächer. Es stimmt schon, dass das öffentliche Leben nach wie vor von den Mobilisierungsinstrumenten dominiert wurde, welche das Regime geschaffen hatte, doch hatten diese schon seit Langem ihre Effektivität eingebüßt. Die Rituale (Wahlen, das Begehen von Jubiläen und so weiter) blieben verpflichtend, doch erzeugten sie keinerlei Enthusiasmus mehr. Wenn es um die Hilfsachse der Führung geht, so handelte es sich nach dem Tod des charismatischen ersten „Arbeiterpräsidenten“ Klement Gottwald im März 1951 bei den dann folgenden Führern des Regimes zum Großteil um reine Bürokraten. Es ist kein Zufall, dass die Achse des monismusbegrenzenden Pluralismus als letzte erwähnt wird. Die Modelle zur Beschreibung von Deformationen des Pluralismus sind eng verknüpft mit dem Phänomen der Opposition gegen ein kommunistisches Regime, dem zentralen Thema des vorliegenden Textes. Dass ab 1948 ein Regime mit nur einem einzigen Machtzentrum, der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ), im Land etabliert wurde, ist unbestritten. Dieses Regime vernichtete den Pluralismus nicht nur im politischen Bereich, sondern mischte sich mit seinen Versuchen, ein Modell zu etablieren, das dem von der kommunistischen Ideologie gezeichneten Idealbild so nah wie möglich kommen sollte, ebenso in nicht-politische Bereiche ein und politisierte diese von der Wirtschaft über die Kultur bis zum Alltagsleben der Menschen. In einem solchen Regime gab es natürlich keinen Raum für Unterschiede oder Vielfalt. Die Tatsache, dass die KSČ ihre Intentionen nicht vollständig verwirklichen konnte – wie jeder Historiker, der sich auf solide Quellen stützt, mühelos aufzeigen kann –, stellt die Validität des Totalitarismuskonzepts nicht infrage, zumindest in der ersten Phase von 1948 bis 1956. Entsprechend gab es ebenso beinahe keinerlei Spielraum für oppositionelle Aktivitäten. Anders als in anderen Ländern des kommunistischen Blocks brachte das Jahr 1956 in der Tschechoslowakei keine Änderung, da die Führung der KSČ in ihrer Reaktion auf den 20. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU)

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Wenn es um die Berücksichtigung verschiedener Arten nicht-demokratischer Regime geht, darf man zu diesen 40 Jahren mit Recht ebenfalls das Jahrzehnt 1938 bis 1948 hinzufügen.

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sehr zurückhaltend war. Erst ab den frühen 1960er-Jahren schwächte sich der Druck des Regimes in bestimmten Bereichen (zuerst im Bereich der Kultur) ab, was allerdings zum Großteil die Veränderungen und Spannungen innerhalb der KSČ selbst widerspiegelt, von denen einige auf Generationskonflikten beruhten, während andere ideologischer Natur waren. Dieser Aspekt der Funktionsweise des Kommunismus in der Tschechoslowakei – das heißt die Spannungen innerhalb der herrschenden Elite – werden im vorliegenden Text nicht behandelt, und dementsprechend beschäftigt er sich nicht mit Themen wie dem Jahr 1968, dem Prager Frühling und dem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Nach 1968 wurde der frühe Posttotalitarismus der 1960er-Jahre durch einen eingefrorenen Posttotalitarismus ersetzt – das heißt, durch ein Arrangement, welches ein Quäntchen gesellschaftlichen Pluralismus enthielt, aber nach wie vor keinen politischen Pluralismus. Spätestens bis 1972 waren sämtliche Massen­ organisationen, die nicht aufgelöst wurden, der KSČ wieder unterworfen, und es war zu Säuberungen großen Umfangs gekommen. Dank dieses Schwenks zu einer pragmatischen Fokussierung auf die Beschränkung politischer Rechte konnte sich der größte Teil der tschechischen und slowakischen Gesellschaft sicher fühlen – das heißt, man stand nicht unter dem Risiko unmittelbarer Unterdrückung – und akzeptierte den sogenannten Gesellschaftsvertrag. Dieser fiktive Vertrag, typisch für posttotalitäre Regime, garantierte soziale Sicherheit und relative Prosperität im Austausch für die Entpolitisierung der Gesellschaft. Zu Veränderungen kam es dann erst Mitte der 1980er-Jahre: Der Gesellschaftsvertrag erfüllte seinen Zweck nicht mehr,5 und nach dem Aufstieg einer neuen Elite in Moskau unter der Führung Michail S. Gorbatschows verlor das tschecho­ slowakische Regime seine externe Legitimationsquelle. Die Situation war schwierig: Es war nicht länger möglich, ernsthafte Reformen zu blockieren, doch jede Reform hätte das tschechoslowakische Regime unterminiert. Diese letzte Phase der kommunistischen Diktatur entsprach dem Modell des späten Posttotalitarismus, der von der Existenz einer „parallelen oder zweiten Polis“ ausgeht, die beginnt, politische Ansprüche anzumelden. Der Fall der Tschechoslowakei war insofern ein Sonderfall, als das Land keine Phase des ausgereiften Posttotalitarismus gekannt hatte, weswegen zwei Phasen des Übergangs zur Demokratie, die Liberalisierung und die Demokratisierung, beinahe gleichzeitig stattfanden. Wie oben vorgeschlagen, veränderte sich im Verlaufe der Zeit zwischen 1948 und 1989 der Mechanismus, der die überwiegende Mehrheit der tschechoslowa­ kischen Bürger6 in einem Zustand der passiven Akzeptanz gegenüber den neuen Realitäten gehalten hatte. Ebenso veränderten sich diejenigen, die nicht zu

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Das, was dieser Vertrag anbieten konnte, war für zunehmend anspruchsvollere Konsu­ menten nicht länger zufriedenstellend; das extensive Wirtschaftswachstum stieß an sei­ ne Grenzen; das Informationsmonopol des Staates wurde gebrochen, und es gab auch noch weitere Faktoren. Bis 1960 trug das Land die Bezeichnung Tschechoslowakische Republik (ČSR) und da­ nach die Bezeichnung Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR).

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Apathie oder formaler Loyalität bereit waren. Es gab Gruppen in der Gesellschaft, die sich bemühten, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und in einigen Fällen sogar alternative politische Projekte auf den Weg zu bringen. Das Ziel des vorliegenden Textes ist die Beschreibung dieser Akteure und Gruppen sowie ihrer Transformationen und besonderen Merkmale.7 Bezüglich des synchronen Vergleichs mit anderen Ländern des kommunistischen Blocks sei auf andere Texte in diesem Band verwiesen und die Aufmerksamkeit des Lesers lediglich auf die folgenden Punkte gelenkt: • der gewaltlose Erfolg des Kommunismus in Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des autochthonen Potenzials der radikalen tschechischen Linken mit ihren weitreichenden historischen Wurzeln; • im Zusammenhang mit dem oben genannten Punkt die Dominanz der Tschechen (also Prags) gegenüber den Entwicklungen des slowakischen Gemeinwesens, wobei Letztere dennoch seit Langem andere Werte und Interessen entwickelt hatten; • das Fehlen einer ernsthaften Reaktion auf den 20. Kongress der KPdSU und dementsprechend ein nicht-revolutionäres Jahr 1956 in der Tschechoslowakei; • sowie der außergewöhnliche Versuch einer „Reform“ des Kommunismus, das heißt des Prager Frühlings und des sogenannten Sozialismus mit menschlichem Antlitz – außergewöhnlich nicht im Sinne von großartig, sondern in dem Sinne, dass er außerhalb der üblichen Ordnung der Dinge stand.8 Der vorliegende Text konzentriert sich auf die diachronische, immer wieder unterbrochene Opposition gegen den Kommunismus in der Tschechoslowakei. Er vergleicht die Zeit vor 1968 (genauer zwischen 1948 und Mitte der 1960er-Jahre) mit der darauffolgenden Periode. Das Jahr 1968 war insofern eine Wendepunkt, als sich die bis dahin klare Unterscheidung zwischen Anhängern und Gegnern des Kommunismus fundamental verkomplizierte. Nach einer Interpretation, die noch heute manchen innerhalb der tschechischen Linken vertraut ist, begann die Tradition eines demokratischen Widerstands gegen die Macht des Kommunismus in der Tschechoslowakei erst mit dem Reformprozess innerhalb

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Aus der reichhaltigen Literatur zu diesem Thema vgl. z. B. Oldřich Tůma, Opposition in der Tschechoslowakei: Ein historischer Überblick. In: Detlef Pollack/Jan Wielgohs (Hg.), Akteure oder Profiteure? Die demokratische Opposition in den ostmitteleuropäischen Regimeumbrüchen, Wiesbaden 2010, S. 19–40. Diese Beobachtungen lassen sich mit einem umstrittenen Argument in Verbindung bringen, nach dem es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Festhalten der tschechoslowakischen Führer der Zwischenkriegszeit an der Demokratie und dem mühe­ losen Aufstieg des Totalitarismus in der ČSR nach dem Zweiten Weltkrieg gibt. Indem sie beide miteinander vergleicht, behauptet diese Argumentation eine Kausalität der autoritären Tendenzen von Führern anderer mitteleuropäischer Länder und deren Widerstand gegen das Auftreten des Totalitarismus nach dem Krieg. Zusammengefasst bevorzugt eine solche Argumentation eine autoritäre Praxis gegenüber einer demo­ kratischen, da man ersterer eine größere Widerstandsfähigkeit für den Fall eines even­ tuellen Kampfes gegen totalitäre Akteure zuschreibt.

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der KSČ in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, wobei das Jahr 1968 den Höhepunkt darstellt. Diese Sichtweise beruht auf dem Argument, dass sich grob gesehen die tschechische und slowakische politische Rechte vor dem Zweiten Weltkrieg diskreditiert habe (man bezieht sich dabei auf das autoritäre Regime der sogenannten Zweiten Republik von Oktober 1938 bis März 1939 und auf die Anstrengungen zur Etablierung des slowakischen Staates) und dass das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges dem Wahlerfolg der KSČ vom Mai 1946 sowie deren darauffolgender Machtübernahme im Februar 1948 Legitimität verleihe. Politischer Wettbewerb im Sinne der Suche nach fortschrittlichen demokratischen Lösungen gesteht man dementsprechend nur den diversen Bewegungen der Linken oder der Mitte des tschechoslowakischen Parteienspektrums zu. Es gibt allerdings auch eine bedeutsame Interpretation des rechten Flügels für das Jahr 1968, als eines rein internen Konflikts innerhalb der KSČ. Sowohl die Hardliner der Partei als auch die Reformer von 1968, besagt dieses Argument, ignorierten weiterhin die politischen Wünsche eines bedeutenden Teils der tschechischen und slowakischen Gesellschaft, dessen Angehörige nach 1948 oder eventuell sogar schon 1945 entweder unmittelbar verfolgt oder zumindest aus der politischen Debatte herausgedrängt worden waren. Die Ächtung der politischen Rechten in der Tschechoslowakei wird dann als der Grund für den mühelosen Aufstieg der KSČ an die Macht gesehen. Wenn man die beiden Jahrzehnte vor 1968 mit den beiden Jahrzehnten danach vergleicht, stellen sich folgende Fragen: Wie hat sich die Opposition gegen den Kommunismus in der Tschechoslowakei verändert? Welche Aufmerksamkeit zollte das Regime den Akteuren der Opposition, und welche Methoden wandte es beim Umgang mit ihnen an? Die subtileren Themen des vorliegenden Textes beschäftigen sich außerdem mit den Fragen, welche Optionen es für abweichendes politisches Verhalten gab und worin die Unterschiede zwischen den diversen Segmenten der tschechischen und slowakischen Gesellschaft bezüglich ihrer Wahrnehmung oppositioneller Aktivitäten lagen. Allerdings ist die Frage, ob das Ende dieses Regimes in erster Linie auf die heimische Opposition zurückzuführen ist, auf ideologische, strategische oder andere Konflikte bzw. Generationskonflikte innerhalb des Regimes (das heißt innerhalb der KSČ sowie zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Partei und Staat) oder sogar auf Trends, die ihren Ursprung großenteils im Ausland hatten, weiterhin ein interessantes Thema der Demokratisierungsforschung.9

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Zur Übergangsphase in der Tschechoslowakei vgl. z. B. die Texte von Stanislav Balík, Jan Holzer und Karel Vodička. In: Clemens Vollnhals (Hg.), Jahre des Umbruchs. Fried­liche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa, Göttingen 2011; oder Stanislav Balík/Jan Holzer/Karel Vodička, Weak Opposition Takes Power: Czechoslovakia 1989–1990. In: Jerzy Mackow (Hg.), Autoritarismus in Mittel- und Osteuropa, Wiesbaden 2009, S. 86–108.

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Opposition gegen den Kommunismus in der Tschechoslowakei 1948 bis 1968 Der Weg des Kommunismus an die Macht in der Tschechoslowakei nach 1948 ist nach wie vor in der tschechischen Bevölkerung bis zur Polemik umstritten: Handelte es sich um einen legitimen (nach manchen Interpretationen sogar legalen) Regimewechsel als Ausdruck eines Konsenses breiter Gruppen der tschechischen und slowakischen Gesellschaft (wiederum nach manchen Interpretatio­ nen sogar einer Mehrheit)? Oder handelte es sich um einen Staatsstreich, dem es an jeglicher Legitimität fehlte? Vielleicht sollte man eine subtilere Frage stellen: Musste die KSČ im Jahre 1948 irgendwelche Hindernisse überwinden? Wenn man so fragt, dann muss man zugeben, dass es gegen das, was die Kommunisten anschließend als den „Februar-Sieg des arbeitenden Volkes“ bezeichneten, keinerlei effektiven Widerstand gab, wie auch immer man die Dinge betrachtet: auf örtlicher oder zentraler Ebene, beim Verhalten der Akteure innerhalb und außerhalb der Politik oder sonst wo. Inaktivität oder Machtlosigkeit der politischen Opposition, besonders der in Tschechien bestehenden legalen politischen Parteien (Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei, Tschechoslowakische National-Sozialistische Partei10 sowie Tschechoslowakische Volkspartei).11 Ihre Unfähigkeit, angesichts des bedrohlichen Vormarsches der totalitären Macht der Strategie der KSČ etwas entgegenzusetzen und ihre ideologischen Differenzen sowie Interessengegensätze zu überwinden12 – all dies sind klassische Themen der tschechischen Sozialwissenschaft und Historiografie. Dies ist umso bemerkenswerter angesichts der Tatsache, dass die tschechischen und slowakischen Kommunisten nicht verhehlten, dass sie mit ihren Rivalen, tatsächlichen oder potenziellen, unter Gewaltanwendung ein für allemal aufräumen würden. Selbst die akute Situation im Anschluss an den Februar 1948, als die Gemeinschaft (Nation) ein10 Česká strana národně socialistická: Die Bezeichnung national-sozialistisch ist hier im Sinne von Volkssozialisten zu verstehen. 11 In der Slowakei gab es nur die Kommunistische Partei der Slowakei sowie die Demo­ kratische Partei. Man muss hinzufügen, dass eine Festschreibung auf die Anzahl von vier legalen Parteien in Tschechien bereits zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich ab Mai 1945, stattfand, und dass diese Parteien verpflichtet waren, innerhalb der Nationalen Front zu agieren. Man darf wohl die Frage stellen, ob es sich dabei noch um Opposition handelte. Dieses Modell eines begrenzten Pluralismus im Rahmen des Regimes der sogenannten Dritten Republik (1945–1948) wird in der Literatur als prätotalitärer Autoritarismus bezeichnet. Siehe Stanislav Balík/Vít Hloušek/Jan Holzer/Jakub Sedo, Politický systém českých zemí 1848-1989, Brno 2003, S. 118–134. 12 Hier muss man zuallererst auf die Aversion der tschechischen nicht-kommunistischen Parteien gegenüber der Demokratischen Partei in der Slowakei hinweisen. Diese Ab­ neigung beruhte auf der Kritik der von slowakischen Führern vor dem Zweiten Weltkrieg unternommenen Schritte, die zum Zerfall des gemeinsamen tschechoslowakischen Staates im Jahre 1939 führten, sowie auf den weiterhin unterschiedlichen Sichtweisen bezüglich des anzustrebenden Modells der inneren Organisation des Staates – Diffe­ren­ zen, die auch nach dem Krieg fortbestanden.

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deutig in zwei Klassen, eine privilegierte und eine unterdrückte (entsprechend der Theorie des Marxismus) aufgeteilt wurde, brachte den unterdrückten Teil der Gesellschaft nicht dazu, ernsthaften Widerstand zu leisten, ganz zu schweigen von einem Widerstand, der machtpolitisch von Relevanz gewesen wäre. Im Gegenteil, die typische Reaktion war Resignation, ob sich dies nun in naiven Versuchen ausdrückte, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und sich „unsichtbar“ zu machen, in der Emigration (Schätzungen kommen auf die Zahl von 200 000 bis 250 000 Emigranten, mehr als der jährliche Bevölkerungszuwachs in jener Zeit) oder in Bemühungen, sich der neuen Situation anzupassen. Die Verfolgung der Führer nicht-kommunistischer Parteien, der Kirchen, von Mitgliedern des nicht-kommunistischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten, Angehörigen alliierter Armeen, von Bauern, Kaufleuten und Intellek­ tuellen, mithilfe von Vernichtung, Internierung in Arbeitslagern, Vermögenskonfiskationen, Ausweisungen sowie Berufsverboten, betraf unmittelbar etwa 250 000 Menschen.13 Und dennoch, es waren nicht diese Opfer, sondern eher die innerparteilichen Verfahren gegen Angehörige der kommunistischen Elite (für die Rudolf Slánský, der Generalsekretär des Zentralkomitees der KSČ von 1945 bis 1951, als typisches Beispiel steht), die später zum Symbol dessen wurden, was man als die „Irrtümer der 1950er-Jahre“ bezeichnete. Das bedeutet nicht, dass es in der Tschechoslowakei keinen nicht-kommunistischen Widerstand gab.14 Dieser war auch keineswegs geringfügig,15 doch mit Sicherheit war er fragmentiert und unorganisiert, verfolgte unterschiedliche Ziele und hatte deutliche Schwächen, wie zum Beispiel die unzureichende Fähigkeit zu konspirativem Verhalten und Anfälligkeit gegenüber Infiltration durch Agenten der Staatssicherheit (der Geheimpolizei). Wenn der Widerstand massenhafte Ausmaße annahm, dann war dies rein symbolisch: Als Mitglieder der Sokol, einer Sportorganisation mit vielen Tausend Mitgliedern, die während der Ersten Republik enge Verbindungen zu Präsident Eduard Benesch und der Tschechischen National-Sozialistischen Partei gehabt hatte, im Juli 1948 an einer Tribüne vorbeimarschierten, auf welcher kommunistische Würdenträger versammelt waren, sahen sie weg. Dieses Ereignis wurde zur Legende.16 13 Der bekannteste Justizmord war die Vollstreckung des Todesurteils gegen die Abgeordnete der Tschechischen National-Sozialistischen Partei, Milada Horáková, im Mai 1950. 14 Im tschechischen Sprachgebrauch wird dies als „dritter Widerstand“ bezeichnet, wobei der erste und zweite im Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg stattfand. 15 Nach kommunistischen Quellen wurden in den Jahren 1950 bis1953 insgesamt 14 809 Menschen wegen „böswilliger Aktivitäten gegen die ČSR“ verurteilt, 12 980 davon gehörten 1979 Widerstandsgruppen an. Die wichtigsten organisierten Gruppen waren Černý lev, Světlana, Jarmila und Jan Brejchas Widerstandsgruppe. Vgl. Petr Radosta, Protikomunistický odboj: Historický nástin, Praha 1993. Angeblich wurden in den Jahren 1948 bis 1953 113 Angehörige des nationalen Sicherheitskorps (der Polizei) Opfer der „Kämpfe gegen Saboteure“. Vgl. Zpráva statisticko-evidenčního odboru hlavní ­správy StB z 8.9.1967 im Archiv des Innenministeriums, Sammlung A7, Verzeichnis 501. 16 Auch hier lässt sich der Erfolg der Strategie der KSČ zeigen: Die Partei berief sich auf die lange tschechische Tradition massenhafter Sportveranstaltungen und ersetzte die Sokol stets durch die Spartakiaden, deren erste im Juni 1955 stattfand.

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Der sogenannte Pilsener Aufstand, das heißt die Unruhen in Pilsen vom 1.  Juni 1953 im Anschluss an die Verkündung einer Währungsreform, war eine Ausnahme angesichts der weitgehend passiven Akzeptanz des neuen Regimes in der Tschechoslowakei.17 Die Währungsreform brachte nicht nur die meisten tschechoslowakischen Bürger um ihre Ersparnisse, sondern schränkte teilweise auch die Vorteile ein, die bis dahin der privilegierten Arbeiterklasse gewährt worden waren. Etwa 20 000 Menschen, darunter Arbeiter aus den Fabriken in Pilsen, nahmen am Aufstand teil. Dieser wurde gewaltsam unterdrückt, wobei es etwa 250 Verletzte auf beiden Seiten gab, 331 Menschen wurden anschließend in politischen Verfahren verurteilt.18 Beispiele für bewaffneten Widerstand waren allerdings selten. Typischerweise kam es dazu im Zusammenhang mit Versuchen, das Land illegal zu verlassen, wie zum Beispiel bei der berühmten Flucht der Gebrüder Mašin durch das Gebiet der DDR nach Westberlin im Oktober 1953. Das Regime stellte solche Versuche erfolgreich als terroristische Akte dar und diskreditierte sie dadurch in den Augen der Mehrheit der tschechoslowakischen Bevölkerung.19 In der Slowakei war die Situation einer jeden potenziellen Opposition sogar noch komplizierter, insofern, als wirklich jede antikommunistische oder nationale (das heißt nicht internationalistische) Äußerung als klerikal-faschistisch kriminalisiert wurde – das heißt als eine positive Bezugnahme auf den slowakischen Staat. Dennoch gab es selbst in der Slowakei eine Opposition gegen den Kommunismus, die im Wesentlichen aus zwei Gruppierungen bestand, der Familie (Rodina) und der Weißen Legion (Bilá legie). Erstere wurde von dem kroa­tischen Jesuiten Tomislav Poglajen-Kolakovič gegründet, der ihre Angehörigen zu einem aktiv christlichen Leben anhielt und jeden Kompromiss mit der kommunistischen Macht verweigerte. In den Verfahren im Laufe der 1950er-Jahre wurden Angehörige der Familie zu insgesamt mehr als 600 Jahren Haft verurteilt. Die Weiße Legion wurde Ende der 1940er-Jahre von slowakischen Emigranten in Österreich gegründet und konzentrierte sich anfänglich darauf, Gegner des kommunistischen Regimes zu unterstützen. Anfang der 1950er-Jahre begann der Radiosender der Weißen Legion mit der Ausstrahlung seiner Sendungen, was zur Bildung kleiner Gruppen desselben Namens in der Slowakei führte. Die Bewegung wurde schnell eliminiert, und eine Vielzahl von Gerichtsverfahren fand überall in der Slowakei statt, wobei es zu etlichen Todesurteilen kam.20

17 Zwischen dem 2. und 5. Juni 1953 kam es zu 130 Streiks und Unruhen in der Tschecho­ slowakei. 18 Vgl. Jiří Pernes, Krize komunistického režimu v Československu v 50. letech 20. Století, Brno 2008. 19 Sie sind bis heute sowohl unter politischen Führern als auch in der breiten Öffentlichkeit umstritten, was sich an der kontroversen öffentlichen Debatte zeigt, die entbrannte, als im Jahre 2008 die Absicht des Premierministers Mirek Topolánek, ihnen einen Orden zu verleihen, öffentlich wurde. 20 Vgl. František Mikloško, Nebudete ich môcť rozvrátiť, Bratislava 1991.

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Während der ersten 15 Jahre des kommunistischen Regimes gab es keine massenhafte Opposition: Sie war vereinzelt und unkoordiniert und führte zu keinen Ergebnissen, die eine Gefahr für die kommunistische Macht bedeutet hätten. Eine Studie zur Opposition gegen ein totalitäres Regime muss sich allerdings auch mit denen beschäftigen, die ihren Widerstand nicht rein politisch verstanden, sondern sich eher darauf konzentrierten, die letzten Reste ihrer persönlichen Unabhängigkeit zu bewahren, oder darauf, den von der Unterdrückung Betroffenen Hilfe zu leisten. Dadurch bewahrten sie sich ein gewisses Maß an Mobilisierungskraft, die ihnen in der Folge sehr nützlich werden sollte. Ein Beispiel für einen derartigen Akteur in Tschechien und der Slowakei war die Katholische Kirche. Der Katholizismus war ein geistiges Phänomen, und die Katholische Kirche als institutioneller Ausdruck dieser religiösen Gemeinschaft stellt einen besonderen Aspekt der modernen Geschichte Tschechiens und der Slowakei dar, nicht nur bezüglich ihres Verhältnisses zu Regime und Staat nach 1948, sondern ganz allgemein. In der Slowakei spielte der Katholizismus ohne Zweifel eine entscheidende Rolle für den Prozess der Herausbildung einer slowakischen nationalen Identität – vor 1918, in der Zwischenkriegszeit und nach 1945. Dadurch stand sie in dauerndem Konflikt mit den Vorstellungen eines bedeutenden Teils der tschechischen Gemeinschaft. Wenn man sich mit der gesellschaftlichen Situation beschäftigt, die es der KSČ erlaubte, eine Kirchenpolitik zu betreiben, die anfänglich (Ende der 1940er-/Anfang der 1950er-Jahre) darauf abzielte, die Katholische Kirche an jedweder öffentlichen oder privaten Rolle zu hindern sowie später (in den 1970er- und 1980er-Jahren) sie zumindest als öffentliche Kraft zu vernichten, muss man das Verhältnis des tschechischen Staates (der ja nur dem Namen nach tschechoslowakisch war) und seiner Gesellschaft zum Katholizismus ab der nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert berücksichtigen. Im Rahmen dieses Verhältnisses entwickelte sich der fortschrittliche Liberalismus vieler Führer der Tschechen in der Ära Österreich-Ungarns und ihre Bemühungen, den Katholizismus als ein veraltetes Phänomen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, während der Ersten Republik (1918–1938) sowohl zur antiklerikalen Rhetorik des Nationalliberalismus, der die angeblich hussitischen (protestantischen) Wurzeln der tschechoslowakischen Demokratie betonte,21 als auch zur antikatholischen Welle der Dritten Republik (1945–1948), wobei katholische Intellektuelle fälschlicherweise der Kollaboration mit dem Nazismus beschuldigt, der katholischen Presse Beschränkungen auferlegt, in der Slowakei Bekenntnisschulen verstaatlicht und katholische Aktivisten verhaftet wurden etc.22 21 Diese Ablehnung des politischen Katholizismus als einer mit demokratischen Werten unvereinbaren reaktionären Bewegung lässt sich auch an dem Versuch festmachen, eine Beziehung zwischen den jeweiligen Regimen der Zwischenkriegszeit und dem Ausmaß des Widerstands gegen den Ansturm des Totalitarismus in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg herzustellen. Vgl. Fußnote 7. 22 Vgl. Stanislav Balík/Jiří Hanuš, Katolická církev v Československu 1945–1989, Brno 2013, S. 15 f.

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Die Überschneidungen all dieser Traditionen und Bewegungen ließen eine Situation entstehen, welche die KSČ in die Lage versetzte, ihre (Anti-)Kirchenpolitik zu einem Schlüsselaspekt ihrer totalitären Praxis zu machen. Angesichts ihrer Argumentation im Geiste der Enzyklika „Divini Redemptoris“ von Papst Pius XI., der zufolge ein grundsätzlicher und unüberbrückbarer Widerspruch zwischen Kommunismus und Christentum bestehe,23 wurde die Katholische Kirche, eine eng verwobene Gemeinschaft mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung, ab dem Februar 1948 zum „Feind Nummer eins“.24 Was dann folgte, war das Verbot religiöser Orden, die Internierung von 10 000 Mönchen (die sogenannten Akce K; es kam ebenso zur Deportation von 200 der 300 Priester der Griechisch-Orthodoxen Kirche, der Akce P) sowie anschließend Schauprozesse und langjährige Haftstrafen für etwa 1 000 Priester und Mönche,25 deren Verhaftung auf die Gegenwehr ganzer Gemeinden gestoßen war, besonders in Mähren und der Slowakei. Insgesamt handelte es sich bei den totalitären Praktiken der KSČ gegenüber der Kirche26 um die Ausführung eines Programms, dass die politischen Führer eines bedeutenden Teils der tschechischen Gesellschaft bereits Jahrzehnte zuvor formuliert hatten. Die 1960er-Jahre brachten eine bedeutsame, wenn auch nicht vollständige Änderung – bedeutsam, weil sich die Mittel, mit deren Hilfe die Macht ausgeübt wurde, von einem Tag auf den anderen änderten; nicht vollständig, weil manche derer, die als grundsätzliche Gegner des Regimes ausgemacht worden waren, weiterhin als solche galten. Die Motive derjenigen Führer der KSČ, die allmählich zugaben, dass die radikale Linie der frühen 1950er-Jahre nicht länger durchgehalten werden konnte und die bereit waren, die potenziell Schuldigen an den eventuellen „Fehlern“ dieser Zeit zur Diskussion zu stellen, sind bis heute ein Gegenstand der wissenschaftlichen Debatte. Hatte ihnen das tragische Erlebnis so vieler Fehlleistungen der Justiz die Augen geöffnet? Erkannten sie, dass sich das kommunistische Ideal nicht in dieser Weise verwirklichen ließ? Oder handelte es sich um eine ganz pragmatische Furcht, um das Gefühl, dass diese totalitäre Praxis zu einem Ende kommen müsse, da man sich leicht vorstellen konnte, wer die nächsten Gegner sein würden? Mag es sich einfach nur um einen Generationenkonflikt gehandelt haben, um ein Ergebnis des Aufstiegs 23 In: Sociální encykliky (1891–1991), Praha 1996, S. 125. 24 Vgl. Václav Vaško, Neumlčená. Kronika katolické církve v  Československu po druhé světové válce II., Praha 1990, S. 13. Weitere wichtige Literatur: Karel Kaplan, Stát a církev v Československu v letech 1948–1953, Brno 1993; Pavel Otter, Církevní politika 1949. Dokumenty a komentáře, Brno 1992; die Bände Prameny k dějinám III. odboje. Přehledy a dokumenty k československé politice v letech 1948–1949, I.–III., Olomouc 1995; Balík/Hanuš, Katolická církev. 25 Davon starben 20 in Untersuchungshaft oder Strafhaft oder fielen Justizmorden zum Opfer. 26 Die wichtigsten Schritte zur Beschränkung der Kirche wurden im Herbst 1949 unter­ nommen, als die neuen Gesetze (Nr. 217 und 218/1949 Coll.) sowie die fünf Regierungs­ dekrete erlassen wurden (Nr. 219–223/1949 Coll.) Zu Einzelheiten vgl. Balík/Hanuš, Katolická církev, S. 26–34.

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neuer Kader innerhalb der KSČ? Wie dem auch sei, innerhalb der Partei hatte sich im Verlaufe der 1960er-Jahre ein Reformflügel entwickelt, der in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts die berühmte Doktrin des Sozialismus mit menschlichem Antlitz entwickeln sollte, und dessen Aktivitäten, besonders nach dem Sturz Antonín Novotnýs und seiner Ersetzung durch den Generalsekretär der KSČ, Alexander Dubček, im Januar 1968, zur Invasion durch die Armeen des Warschauer Paktes im August 1968 führen sollte. Wie oben bereits festgestellt, ist dies nicht das Thema des vorliegenden Textes. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen. Zunächst einmal würden die Akteure des Prager Frühlings vermutlich dagegen protestieren, ihre programmatischen Ziele, ihre Werte sowie ihre politischen Praktiken in irgendeiner Weise mit Vorstellungen eines Widerstandes oder einer Opposition gegen den Kommunismus als Ideologie oder Regime in Verbindung zu bringen. Es dauerte einige Zeit, bis sich bestimmte Führer dieses Flügels innerlich darüber im Klaren waren, dass sie sich in Opposition befanden; eine ganze Reihe von ihnen blieben bei ihrem Glauben an das kommunistische Ideal und ihr Widerstand richtete sich einzig gegen die Methoden, mit deren Hilfe dieses Ideal im Verlauf der 1970er- und 1980er-Jahre verwirklicht werden sollte. Der zweite generelle Grund ist, dass der Reformprozess weitgehend jene Schichten innerhalb der KSČ betraf, die weiterhin privilegiert waren. Es ist wahr, die Ergebnisse der Reformen gegen Ende der 1960er-Jahre betrafen auch viele andere Teile der tschechischen und slowakischen Gesellschaft und mobilisierten tatsächlich viele davon. Doch handelte es sich dabei um sekundäre Effekte. Selbst die führenden Reformer des Prager Frühlings waren nicht bereit, die Vorstellung eines politischen Pluralismus zu akzeptieren.27 Ihr Ziel war es lediglich, neue Legitimationsquellen für den Kommunismus zu erschließen. Als sich im Anschluss an die Invasion vom August 1968 die tschechoslowakische Öffentlichkeit tatsächlich mobilisierte, geschah dies nicht zur Unterstützung der KSČ, sondern, zumindest symbolisch, zur Unterstützung der tschecho­ slowakischen Staatlichkeit. Wichtige Bereiche der Gesellschaft blieben immun gegenüber dem Ethos des Prager Frühlings: typischerweise die Opfer der kommunistischen Unterdrückung der 1950er-Jahre, doch ebenso die Masse der slowakischen Gesellschaft.28 Allerdings sollen diese Feststellungen in keiner Weise die Tatsache infrage stellen, dass das Jahr 1968 eine entscheidende Wegmarke war, sowohl für das kommunistische Regime als auch für die Opposition.

27 Vgl. die Memoiren von Zdeněk Mlynář, Sekretär des Zentralkomitees der KSČ während des Prager Frühlings und in den 1970er-Jahren einer der Unterzeichner der Charta 77: Zdeněk Mlynář, Mráz přichází z Kremlu, Praha 1990. 28 Für den Großteil der slowakischen Gesellschaft kulminierte das Jahr 1968 im Erlass des Verfassungsgesetzes zur Tschechoslowakischen Föderation vom 27.10.1968 (Nr. 143/1968 Coll.), welches die Tschechische Sozialistische Republik und die Slowakische Sozialistische Republik formal gleichstellte.

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Die Opposition gegen den Kommunismus in der Tschechoslowakei 1968 bis 1989 Die zwölf Monate, die auf die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Paktes im August 1968 folgten, waren gekennzeichnet von massenhafter Unzufriedenheit in der Bevölkerung, was in Petitionen, Demons­trationen und Streiks seinen Ausdruck fand. Die Menschen wurden von traditionellen politischen Streitpunkten bewegt, wie dem Zusammenprall zwischen Reformern und Konservativen innerhalb der KSČ sowie Fragen der Führerschaft (zum Beispiel gab es einen Disput darüber, wer Sprecher des Parlaments, der Bundesversammlung, werden sollte), aber auch von außergewöhnlichen öffentlichen Aktionen wie der furchtbaren Selbstverbrennungen Jan Palachs und Jan Zajícs. Es gab Gelegenheiten, bei denen die Menschen in gewisser Weise euphorisch Rache (wenn auch nur symbolisch) an den Besatzern nehmen konnten. Im März 1969 kam es zu dem, was die Tschechen die „Eishockeywoche“ nannten, als die Mannschaften der Tschechoslowakei und der Sowjetunion während der Eishockeyweltmeisterschaften zweimal gegen­ einander spielten. Nachdem im August 1969 Demonstrationen unterdrückt worden waren, kam es während der folgenden 19 Jahre zu keinerlei massenhaften Kundgebungen gegen das Regime mehr. Wirklich oppositionelle Aktivitäten entfalteten in der Folge nur sehr kleine Gruppen, die versuchten, illegale Treffen zu organisieren oder verbotene Druckschriften und Tonaufnahmen in Umlauf zu bringen. Die frühen 1970er-Jahre waren die ersten Jahre des Samisdat in der ČSSR. Zwischen 1969 und 1972 wurden diese Gruppen vollständig eliminiert. Bereits im Dezember 1969 wurde die trotzkistische „Bewegung der revolutionären Jugend“ zerschlagen,29 und eine Serie von Gerichtsverfahren im Sommer 1972 richtete sich gegen die ehemaligen Mitglieder der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei, die ihre Basis in Brünn hatten, gegen die Studentenführer von 1968, gegen die Aktivisten nicht-kommunistischer Organisationen, die sich im Jahre 1968 gegründet hatten, sowie gegen protestantische Christen (insgesamt kam es zu 47 Verurteilungen, davon 33 Freiheitsstrafen). Alle Teile der Nationalen Front,30 einschließlich der nicht-kommunistischen Parteien – die Tschechoslowakische Volkspartei (ČSL) und die Tschechoslowakische Sozialistische Partei (ČSS) – trugen zu dieser Konsolidierung der Macht bei. Im parteipolitischen System von 1969 bis 1989, in dem es keinerlei Wettbewerb gab (nach Giovanni Sartori ein hegemonia­les Parteiensystem31), standen die nicht-kommunistischen Parteien vollständig unter der Kontrolle der KSČ. Grob gesagt gelang es der KSČ, die tschechische und slowakische Gesellschaft vollständig zu entpolitisieren. 29 Neben Petr Uhl wurden weitere 15 Mitglieder der Bewegung zu Haftstrafen verurteilt. 30 Die Nationale Front war die Dachorganisation sämtlicher legaler Parteien und Massen­ organisationen. 31 Giovanni Sartori, Parties and Party Systems: A Framework for Analysis, Cambridge 1976, S. 230–238.

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Die Entstehung irgendeiner Opposition wurde durch die Tatsache erschwert, dass sich nach der Niederlage des Reformflügels der KSČ viele ehemalige Kommunisten in einer ungewohnten Situation wiederfanden, sozusagen „auf der anderen Seite der Barrikade“. Zu der „natürlichen“ Opposition derer, die im Verlaufe der 1950er-Jahre verurteilt worden waren (sie hatten 1968 vergeblich auf eine moralische und tatsächliche Rehabilitation gehofft), kam nun eine besondere Gruppe, die „schuldbeladenen Opfer“ – Menschen, die sich durch ihr Mittun beim Totalitarismus der 1950er-Jahre befleckt hatten, aber gleichzeitig im Ruf standen, Reformer des Prager Frühlings zu sein, und mit dem Heiligenschein des Widerstandes gegen die Invasion und die „Normalisierung“ versehen waren. Der Versuch, einen Modus vivendi zwischen diesen beiden Gruppierungen zu finden, stellt eines der besonderen Merkmale der tschechoslowakischen Opposition der 1970er- und 1980er-Jahre dar. Bis 1977 bestand die häufigste Form, in der oppositionelle Meinungen ihren Ausdruck fanden, darin, Briefe und Petitionen an die Behörden zu verfassen, in denen die Freilassung politischer Gefangener gefordert wurde. Der unmittelbare Anstoß für den bedeutendsten Akt tschechoslowakischer Opposition in dieser Zeit, die Erklärung der Charta 77, war die Unterdrückung des sogenannten musikalischen Untergrunds32 sowie die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, genauer die Veröffentlichung der Schlussakte im tschechischen Gesetzblatt. Die Erklärung wurde am 1. Januar 1977 veröffentlicht; bis dahin hatten 242 Unterzeichner von sämtlichen Dissidentengruppen – Exkommunisten, Vertreter bürgerlich-liberaler Kreise, deren Meinungen teilweise weit auseinandergingen,33 sowie solche, die an Untergrundaktivitäten beteiligt waren – ihre Unterschriften hinzugefügt. Was war das Besondere am Text der Charta 77? Es war die einfache Tatsache, dass hier keine radikale Kritik am Regime formuliert, sondern dass lediglich auf den Widerspruch zwischen Propaganda und Realität hingewiesen und den Bürgern ein Dialog mit der Staatsmacht über Fragen der Menschenrechte vorgeschlagen wurde. Dennoch reagierte das kommunistische Regime heftig: Von den ersten drei Sprechern der Charta 77 starb der Philosoph Jiri ­Patočka am 13. März 1977 in der Folge eines ihn überanstrengenden Verhörs, der Schriftsteller Václav Havel verbrachte mehrere Monate in Haft, und der bis August 1968 amtierende tschechoslowakische Außenminister, Jiří Hájek, wurde verfolgt und drangsaliert. In den folgenden Jahren wurden weitere Sprecher und Unterzeichner der Charta 77 Opfer von Verhören, Drangsalen und Verhaftungen. Die gegen die Charta initiierte Medienkampagne, beginnend mit

32 Der Untergrund war nicht politisch; es genügte, dass er sich weigerte, sich den vom Regime aufgestellten kulturellen Regularien zu beugen. 33 Einige führende Figuren dieser Kreise weigerten sich, die Charta zu unterzeichnen, ent­ weder, weil ihnen das Programm nicht zusagte (in den meisten Fällen hielten sie es für nicht politisch genug), und/oder, weil sie sich an der Teilnahme bestimmter exkommu­ nistischer Reformer störten.

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einem Artikel mit der Schlagzeile „Versager und Usurpatoren“ (Ztroskotanci a samozvanci) in der Tageszeitung der KSČ, „Rudé právo“,34 führte zu einer Welle „spontaner“ Protestresolutionen, die ihren Höhepunkt mit der öffentlichen Unterzeichnung der sogenannten Anti-Charta (offizielle Bezeichnung: „Für neue kreative Aktionen im Namen des Sozialismus und des Friedens“) fand, unterzeichnet von der Mehrheit der dem Regime ergebenen Künstler. Es gelang dem Regime, mithilfe von Propaganda und Unterdrückung die Aktivitäten der Charta zu dämpfen; dennoch blieb die Charta 77 das Zentrum des Dissenses sowie eine Inspiration für weitere Aktivitäten, wie zum Beispiel des Komitees zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten (VONS).35 Die Bedeutung der Charta lag darin, dass sie das Machtmonopol des Regimes infrage stellte. Sie bildete die Plattform für die Kommunikation zwischen oppositionellen Aktivisten und erhielt zustimmende Reaktionen aus dem Ausland. Der von der internationalen Gemeinschaft ausgeübte Druck milderte, zumindest in gewissem Ausmaß, die Härte des Regimes gegenüber Dissidenten. Statistisch gesehen wurde der Kreis der aktiven Dissidenten nicht größer; einige von ihnen wurden gezwungen, das Land zu verlassen, andere wurden inhaftiert. Es gab allerdings eine Reihe von Gründen für die begrenzte Reaktion auf die Bewegung der Charta, und nicht alle hatten mit staatlicher Repression zu tun. Die Meinungen der Vertreter der Charta gingen teilweise weit auseinan­ der und hätten in einem demokratischen System als unvereinbar gegolten. Praktisch das einzige, was sie zusammenbrachte, war ihre Ablehnung des Modells des „real existierenden Sozialismus“, so wie er seit 1968 galt.36 Typisch für die tschechoslowakischen Dissidenten waren intellektuelle Polemiken, zum Beispiel die ausufernden Debatten über die Geschichte Tschechiens und der Tschecho­ slowakei, die mithilfe des Samisdat verbreitet wurden (siehe die Arbeiten von Václav Benda, Ladislav Hejdánka, Ján Mlynárik, Petr Pithart, Milan Šimečka, Ludvík Vaculík und vielen anderen).37 Dies dokumentiert auch eine gewisse Exklusivität der Vertreter der Charta, man könnte sogar argumentieren, dass sie keine Verbindung zu den tatsächlichen Problemen hatten, denen sich die Mehrheit der tschechischen und slowakischen Gesellschaft gegenüber sah. Die Opposition beschäftigte sich wenig mit 34 In: Rudé právo vom 12.1.1977. 35 Die Erklärung wurde im April 1978 veröffentlicht. Das Regime reagierte, indem es sechs Angehörige des Komitees verhaftete und verurteilen ließ. 36 Das tschechische Dissidententum lässt sich in das bürgerliche und christliche sowie das Protest- und reflektierende Lager unterteilen, vgl. Petr Blažek (Hg.), Opozice a odpor proti komunistickému režimu v Československu 1968–1989, Praha 2005, S. 20–22. 37 Ein Beispiel für einen interessanten Ansatz ist die Kritik an der angeblichen tschechi­ schen Mentalität in Podiven, Češi v dějinách nové doby. Pokus o zrcadlo, Praha 1991. „Podiven“ war das Pseudonym dreier Autoren, Milan Otáhal, Petr Pithart und Petr Příhoda. Eine weitere wissenschaftliche Reaktion auf die tschechische Wirklichkeit lag darin, sich auf ihr Zeichensystem zu konzentrieren, siehe Petr Fidelius’ Analyse der Sprache der Herausgeber der KSČ-Tageszeitung „Rudé právo“ in den 1970er-Jahren, Petr Fidelius, Řeč komunistické moci, Praha 1998.

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aktuellen politischen Fragen – sahen sie diese als zu banal an? Bei ihren praktischen Aktivitäten ging es meistens um die Menschenrechte: Sie verteidigten Menschenrechte in Alltagsfällen. Dieses Phänomen war typisch für viele Länder im kommunistischen Lager, beginnend in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre und den frühen 1970er-Jahren in der Sowjetunion selbst. Die Vertreter der Charta unterschätzten die Notwendigkeit, eine politische Position einzunehmen, und hatten die Verwendung politischer Instrumente nicht im Sinn. Dennoch sahen sie diese Haltung entweder als eine Tugend an (man bedenke ihre Betonung informeller persönlicher Kontakte) oder als eine Notwendigkeit, da parteipolitische Praktiken (die Formulierung eines solideren Programms und dergleichen)38 die Kreise der Dissidenten in unversöhnliche Konflikte zu treiben drohten. All diese Aspekte der Funktionsweise der Charta-Bewegung lassen sich zusammenfassen durch Václav Havels berühmten Gedanken der „unpolitischen Politik“. Sein Einfluss unter den Dissidenten war beachtlich. In seinem gefeier­ ten Essay „Die Macht der Machtlosen“, verfasst im Jahre 1978, versuchte Havel, den tschechoslowakischen Kommunismus der 1970er-Jahre zu analysieren (er beschrieb ihn als posttotalitär)39 und eine Strategie des Widerstands zu formulieren. Wie definierte Havel das posttotalitäre Regime? „Das posttotalitäre System berührt die Menschen bei jedem ihrer Schritte, aber es tut dies mit ideologischen Handschuhen. Das ist der Grund, warum das Leben in diesem System dermaßen von Lüge und Verlogenheit durchdrungen ist: Das Regieren mithilfe der Bürokratie heißt Volksregierung; die Arbeiterklasse wird versklavt im Namen der Arbeiterklasse; die vollständige Entwürdigung des Individuums wird als dessen endgültige Befreiung dargestellt; den Menschen Informationen vorzuenthalten wird als sie mit Informationen zu versorgen bezeichnet; die Nutzung von Macht zur Manipulation nennt man öffentliche Kontrolle der Macht, und der willkürliche Missbrauch der Macht heißt Beachtung des Gesetzbuches; die Unterdrückung der Kultur nennt sich deren Weiterentwicklung; die Ausweitung imperialer Einflüsse wird als Unterstützung der Unterdrückten dargestellt; das Fehlen der Meinungsfreiheit wird zur höchsten Form der Freiheit; Wahlen als Farce werden zur höchsten Form der Demokratie; das Verbot unabhängigen Denkens wird zur ­wissenschaftlichsten aller Weltsichten; die militärische Besetzung wird zur brüderlichen Hilfe. Da das Regime zum Gefangenen seiner eigenen Lügen wird, muss es alles verfälschen. Es verfälscht die Vergangenheit. Es verfälscht die Gegenwart und es verfälscht die Zukunft. Es verfälscht Statistiken. Es gibt vor, nicht über einen allmächtigen und prinzipienlosen Polizeiapparat zu verfügen. Es gibt vor, die Menschenrechte zu respektieren. Es gibt vor, niemanden zu verfolgen. Es gibt vor, nichts zu fürchten. Es gibt vor, nichts vorzugeben. 38 Darüber hinaus war in der ČSSR die Gründung von Organisationen außerhalb der Nationalen Front verboten; daher bestritt die Charta 77, dass sie eine Organisation sei. 39 „Durch das Präfix ‚post‘ möchte ich nicht zum Ausdruck bringen, dass das System nicht länger totalitär ist; im Gegenteil, ich meine damit, dass es in einer Weise totalitär ist, die sich fundamental von klassischen Diktaturen unterscheidet, dass es sich vom Tota­litarismus, so wie wir ihn üblicherweise verstehen, unterscheidet.“ Václav Havel, Moc bezmocných. In: ders., O lidskou identitu, Praha 1990, S. 19. Hier zitiert nach der Übersetzung von Paul Wilson unter http://www.vaclavhavel.cz/showtrans.php?cat=eseje&val=2_aj_eseje. html&typ=html; 27.7.2018.

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Der Einzelne muss nicht an all diese Mystifikationen glauben, doch er muss sich verhalten, als ob er dies täte, oder er muss sie zumindest im Stillen tolerieren bzw. er muss gut mit denen klarkommen, die mit ihnen arbeiten. Aus diesem Grund muss er allerdings inmitten einer Lüge leben. Man muss die Lüge nicht glauben. Es genügt, das Leben mit ihr und innerhalb ihrer hinzunehmen. Denn genau dadurch bestätigt der Einzelne das System, erfüllt er das System, macht er das System, ist er das System.“40

Havels moralisierende Argumentation legt also das Schwergewicht auf das „Leben in der Wahrheit“, das er gegen das „Leben in der Lüge“ setzt, wobei letzteres aus Passivität und/oder einem ritualisierten Verhalten besteht. Die in erster Linie moralische Grundlage seiner Argumentation enthält auch eine Negierung der Politik, die Havel als reine „Technik der Macht und Manipula­tion“ versteht.41 Angesichts seines Konflikts mit der damaligen kommunistischen Macht war das eine verständliche Entscheidung. Doch sie sollte sich als problematisch erweisen, sobald es um die Herstellung eines demokratischen Regimes in der Periode des Übergangs und danach ging. Havel sah tatsächlich die parlamentarische Demokratie nicht unbedingt als ein lebensfähiges Modell für die Zukunft. An ihrer Stelle bevorzugte er das, was er als postdemokratisches System bezeichnete, beruhend auf kleinen, offenen und dynamischen Strukturen, die als selbstverwaltete Gemeinschaften arbeiten sollten, mit Führern, die über natürliche Autorität verfügten, „eifrig danach strebend, ein bestimmtes Ziel zu erreichen“ und mit dessen Erreichung auch wieder verschwinden sollen. Es wäre ein Fehler, argumentierte Havel, „seine eigene Autorität auf einer Tradi­ tion beruhen zu lassen, die sich vor langer Zeit entleert hat, wie zum Beispiel die politischen Massenparteien“.42 Insgesamt war es Havels Ablehnung der Macht als Instrument praktischer Politik, was die Interpretationen seiner Idee einer unpolitischen Politik verständlich machte. Es war die typische utopische Antwort eines Intellektuellen des 20. Jahrhunderts auf eine moderne Diktatur.43 Die apolitische Natur der Dissidentenbewegung in der Tschechoslowakei begann sich erst im Laufe der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zu verändern. Die Aktivitäten der Opposition nahmen zu, ihre Unterstützerkreise wuchsen bedeutend, so wie auch Anzahl und Umlauf der Samisdat-Veröffentlichungen 40 Václav Havel, Moc bezmocných. In: ders., O lidskou identitu, S. 8–19. Hier zitiert nach der Übersetzung von Paul Wilson unter http://www.vaclavhavel.cz/showtrans. php?cat=eseje&val=2_aj_eseje.html&typ=html; 27.7.2018. 41 Václav Havel, Politika a svědomí. In: Do různých stran. Eseje a články z let 1983–1989, Praha 1989, S. 57, 106. 42 Havel, Moc bezmocných, S. 60–62. 43 Vgl. Miloš Havelka, Nepolitická politika: kontexty a tradice. In: Sociologický časopis, č. 4 (1998), S. 461–465; oder Jiří Suk, Labyrintem revoluce Praha 2003, S. 67; ebenso Milan Otáhal, Opozice, moc, společnost, Praha 1994, S. 45. Havels Vorstellungen wurden auch in Dissidentenkreisen kritisiert. In seinem Artikel „Disi-rizika“, der Havels „Die Macht der Machtlosen“ („Moc bezmocných“) kritisierte, wandte Petr Pithart ein, dass Macht nicht viel mit einem Leben in der Wahrheit zu tun habe und dass sich Havel mit seiner elitären Haltung sogar innerhalb der Dissidentengemeinde isoliere. Vgl. Václav Havel, Moc bezmocných. In: ders., O lidskou identitu, Praha 1990, S. 55–135; Petr Pithart, Disirizika. In: Václav Havel, O Svobodé a moci, Band 1, Köln 1980, S. 269–286.

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(wie zum Beispiel „Lidové noviny“). Auch in legalen Veröffentlichungen wurde offene Kritik geäußert, die sich politisch interpretieren ließ, zum Beispiel bei Umweltorganisationen (siehe beispielsweise das Buch „Bratislava nahlas“, das im Jahre 1987 von Umweltschützern in Bratislava veröffentlicht wurde). Doch das Wichtigste war, dass nun einige Dissidentengruppen Initiativen in Gang brachten, die bereits ihrer Natur nach politisch waren. Beispielsweise brachte die Bewegung für bürgerliche Freiheiten (HOS), initiiert von Rudolf Battěk, tschechische und slowakische Dissidentenkreise zusammen und bemühte sich darum, sich als ein breiter Zusammenschluss zu profilieren, der auf einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel abzielte. Es gab ein konkretes Programm für demokratische Reformen, erstellt von der Demokratischen Ini­tiative, die sich aus der sogenannten Realistengruppe um Emanuel Mandler entwickelt hatte. Letzterer war seit den 1970er-Jahren in Dissidentenkreisen aktiv gewesen und machte keinen Hehl daraus, dass er programmatisch in einer gewissen Distanz zur Charta 77 stand, die großteils von demokratisch-sozia­listischem und bürgerrechtlichem Gedankengut beherrscht wurde. Der „Club für eine Sozialistische Perestroika – Wiedergeburt“, in dem sich Reformkommunisten zusammenfanden, bemühte sich um einen Dialog mit dem Regime sowie um einen Reformsozialismus. Und es gab noch andere: die Unabhängige Friedensbewegung, den John-Lennon-Friedensklub, die monarchistischen Kinder Tschechiens etc. Innerhalb der ČSL und der ČSS änderten sich die Parteilinien: Bei ersterer spielten die Verbindungen gewisser Mitglieder zum katholischen Klerus und zu katholischen Dissidenten eine wichtige Rolle. Einige Mitglieder letzterer nahmen über legale Interessenorganisationen Kontakt zur Opposition auf. Wenn die Parteiführungen solches auch nicht gerade begrüßten, so standen sie ihm auch nicht im Wege. Die erste wirkliche Massendemonstration gegen das kommunistische Regime entstand aus demjenigen Teil der tschechischen und slowakischen Gesellschaft, welcher der kommunistischen Ideologie den meisten Widerstand entgegensetzte, den Katholiken. Eine landesweite Wallfahrt im Juli 1985 zum Jahrestag des Todes des heiligen Method in Velehrad in Mähren zog nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 100 000 und 250 000 Menschen an, die den kommunistischen Kulturminister ausbuhten und Parolen riefen, in denen sie Religionsfreiheit forderten sowie die Erlaubnis für Papst Johannes Paul II., die Tschechoslowakei zu besuchen. Anfang 1988 veröffentlichte die „parallele Polis“ der mährischen Katholiken ebenfalls eine Petition, in welcher sie die Trennung von Kirche und Staat sowie die Wiederherstellung der Religionsfreiheit forderte. Organisiert von Augustin Navrátil, wurde sie von 600 000 Bürgern unterzeichnet, darunter viele Slowaken. Die sogenannte Geheimkirche wurde in der Slowakei zunehmend aktiver; sie war von Angehörigen der „Familie“ nach ihrer Haftentlassung gegründet worden, und ihre Aktivitäten umfassten die Gründung religiöser Vereine, die Organisation von Wallfahrten, Samisdat-Veröffentlichungen – zum Beispiel die Zeitschrift „Náboženstvo a súčasnost“ („Religion und Gegenwart“), die ab 1982 erschien – sowie die berühmte Kerzen­demonstration in Bratislava am 25. März 1988. Diese Beispiele machen deutlich, in welch

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­latent kühler Weise diese Teile der tschechischen und slowakischen Gesellschaft dem Regime gegenüberstanden, ohne dass dies notwendigerweise mit Kontakten zur Opposition in Zusammenhang stand. Im Jahre 1988 wurde die Situation dramatischer. Die Opposition mobilisierte erfolgreich weitere Schichten der Gesellschaft und organisierte Demons­ trationen anlässlich diverser Jubiläen (so z. B. die sogenannte Palachwoche im Oktober) in Prag, aber auch in anderen Städten, mit zunehmend mehr Teilnehmern, woraus man auf Unzufriedenheit in manchen Teilen der Bevölkerung schließen konnte. Die Anzahl der Petitionen, in denen die Freilassung politischer Gefangener, der Dialog mit der Bevölkerung oder Reformen gefordert wurden, stieg massiv an: Die Petition „Einige Sätze“ (Několik vět) vom Juni 1989 wurde bis November 1989 von 40 000 Menschen unterzeichnet. Die Staatsmacht reagierte auf Demonstrationen gewöhnlich mit Gewalt; die erste Ausnahme war die genehmigte Demonstration auf dem Škroupovoplatz in Prag am Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember 1988. Im Gegensatz dazu gehörte die Verhaftung der sogenannten Bratislava Fünf im August 1989 zu den letzten Versuchen seitens des Regimes, die Oppositionsgruppen einzuschüchtern. Es war allerdings die Unterdrückung einer genehmigten Demonstration am 17.  November 1989 in Prag, die schließlich den Sturz des Kommunismus in der Tschechoslowakei beschleunigte. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Polen und Ungarn bereits auf dem Weg in die Demokratie und in der DDR war schon die Mauer gefallen.

Fazit Die letzten beiden Abschnitte bestätigen, dass sich die Vorgehensweise der Opposition gegen das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei über die Jahre veränderte. Diese Veränderung, die eine ganze Reihe fundamentaler Folgen sogar für die postkommunistische Zeit hatte, lässt sich gut anhand von Václav Havels oben dargestellter Idee eines Posttotalitarismus interpretieren, bei der es sich wahrscheinlich um die größte intellektuelle Leistung der tschechoslowakischen Opposition handelt. Havels zeitgenössische Kritik der tschechischen und slowakischen Gesellschaft, die in den 1970er- und 1980er-Jahren bereit war, sich auf einen Gesellschaftsvertrag mit dem kommunistischen Regime einzulassen, traf den Punkt. Die von Havel empfohlene Oppositionsstrategie allerdings, die auf die Vorstellung eines notwendigen bürgerlichen Engagements und Aktivismus zählte, berücksichtigte nicht die Erfahrungen, die Teile der Gesellschaft wie die Landbevölkerung, die nicht-kommunistischen Intellektuellen und die Katholiken mit der Funktionsweise des Regimes vor 1968 gemacht hatten. Es war gerade die „engagierte und aktive Praxis“ der KSČ als eines totalitären Akteurs während der 1940er- und 1950er- Jahre, die zu Gewalt, Internierungslagern, Vermögenskonfiskationen, Ausweisungen etc. geführt hatte. Und auch als es in den

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1960er-Jahren innerhalb der KSČ zu Krisen und Streitigkeiten kam, mündete dies paradoxerweise nicht darin, dass die Partei ihr Machtmonopol verloren hätte, sondern in eine Situation, in welcher einer der Parteiflügel weiterhin die Machtzentren kontrollierte, während sich Teile des anderen, die den Machtkampf des Jahres 1968 verloren hatten, als Opposition etablierten. Mit Blick auf diese Tatsachen wird ein gewisses Misstrauen eines beachtlichen Teils der antikommunistischen tschechischen und slowakischen Opposi­ tion gegenüber dem Dissidententum verständlich. Man bedenke die Antwort, die der tschechische Philosoph und Anwalt Vladimír Čermák44 auf die Frage gab, ob er in den 1980er-Jahren Kontakt zu den Dissidenten gehabt habe: „Hatte ich nicht, und das mit Absicht. Ich möchte niemanden persönlich beleidigen, aber bei der Charta 77 gab es Leute, die mir überhaupt nicht gefielen, und ich wollte mit denen nichts zu tun haben. […] Die Art von Leuten, die mich am meisten störten und dies noch heute tun, sind diejenigen, die das an sich haben, was die Griechen als Hybris bezeichneten. […] Nach außen vertreten sie intellektuelle ‚Demut‘, doch tatsächlich [sieht man] Arroganz, die Bereitschaft, sich nur mit seinesgleichen abzugeben. Solche Leute wissen kaum etwas von dem, was man die einfachen Leute nennt, vom normalen Leben.“45

Insgesamt unterschieden sich in der Tschechoslowakei die Optionen für abweichendes Verhalten nach 1968 sehr stark von denen nach 1948. In den ersten Jahren nach dem Februar 1948 waren sie tatsächlich minimal, und dies war in zwei Tatsachen begründet: Das neue Regime verfügte über eine beachtliche Legitimation, besonders unter den Tschechen, und übte seine Macht effizient aus, und die nicht-kommunistische Opposition war schwach und unvorbereitet. Aus dieser spezifisch tschechoslowakischen Situation erwuchs dann das Potenzial der tschechoslowakischen Reformbewegung der 1960er-Jahre, die versuchte, den Kommunismus zu verbessern oder menschlicher zu machen, anstatt ihn abzuschaffen. Nach 1968 lassen sich bereits klassische oppositionelle Akteure identifizieren. Die damalige Situation in Tschechien (bzw. der Tschechoslowakei) verkomplizierte allerdings die theoretischen Erwartungen der Zeit, nach denen die Opposition gegen ein nicht-demokratisches Regime immer die Herausbildung eines gegen das System gerichteten Elements erwarten lässt, dass hauptsächlich danach strebt, die herrschenden Eliten oder sogar das bestehende (nicht-demokratische) Regime zu ersetzen. Stattdessen bestätigte die Situation in der Tschechoslowakei den Ansatz Leonard Schapiros, der seine Definition von Opposition als „einer organisierten politischen Gruppierung bzw. Gruppierungen, deren Ziel darin besteht, die herrschende Regierung zu beseitigen und durch eine ihrer eigenen Wahl zu ersetzen“ eine Definition

44 Der Autor des monumentalen, fünfbändigen Werkes „Otázka demokracie“, das er halblegal in den 1980er-Jahren verfasste und erst nach 1989 veröffentlichte. 45 Petr Fiala/František Mikš, Rozhovory s Vladimírem Čermákem. O filosofii, politice a právu, Brno 2000, S. 40.

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­entgegensetzte, nach der Dissens „nur kritisieren, mahnen, überzeugen und ­gehört werden will“.46 Dies ist der Grund, weshalb viele Autoren, die sich mit der Tschechoslowakei in der auf den August 1968 folgenden Zeit beschäftigen, den Ausdruck „Dissens“ dem Ausdruck „Opposition“ vorziehen. Dissens wird dann einfach als ein dem System fremdes Element verstanden, als Menschen, die in Gegensatz zum Regime stehen, üblicherweise Gruppen von Außenseitern, die als illegal angesehen werden; sie lehnen die Anwendung von Gewalt ab (die als typisch für Widerstand angesehen wird), sogar angesichts potenzieller Unterdrückung. Natürlich kann selbst diese Art von Opposition, apolitisch in ihren Zielen oder Aktivitäten, absichtlich oder unabsichtlich politisch auf das Regime einwirken oder es beeinflussen, einfach aufgrund ihrer Haltung. Die Charta 77, eine nicht-legale, an den Menschenrechten orientierte Opposition, war so ein Fall. Die tschechoslowakische Opposition sah sich nicht als einen politischen Akteur, der am politischen Streit teilhatte und politische Mittel anwandte. Dies hatte tiefere historische Wurzeln, deren klassische intellektuelle Frucht Havels Argumentation war: Entsprechend seiner Argumentation war der Erfolg des Kommunismus in Tschechien und der Slowakei in erster Linie ein ethisches Problem und nicht nur das Ergebnis eines Machtkampfes. Es scheint, dass, wenn es um die Beschäftigung mit der Opposition gegen ein nicht-demokratisches Regime geht, die tschechischen und slowakischen Quellen nahelegen, sich eher mit den Umständen zu beschäftigen, die zur Etablierung des Kommunismus führten, und nicht mit denen, die 40 Jahre später zu seinem Sturz führten. Unter diesem Blickwinkel lassen sich vielleicht Antworten auf diese Fragen finden: Warum gab es so wenig gewaltsamen Widerstand gegen den Kommunismus (eine Situation, die kaum mit derjenigen in irgendeinem anderen Land des kommunistischen Blocks zu vergleichen ist)? Und warum waren die tschechoslowakischen Oppositionsgruppen im Allgemeinen so schwach? Diese fundamentale Schwäche zeigt, wie schlecht es bereits vor dem Ansturm des Kommunismus um die tschechische Gesellschaft stand, jedenfalls wenn man die Fähigkeit, der Versuchung des Totalitarismus zu widerstehen, als Maßstab nimmt.

46 Leonard Schapiro, Putting the lid on Leninism. Opposition and dissent in the communist one-party states. In: Government and Oppositon, 2 (1967) 2, S. 181–203, hier 182 f. Die Definition von „Dissens“ hängt in jedem Fall stark vom Standpunkt des Autors ab. Juan J. Linz zum Beispiel verortete ihn zwischen loyaler Opposition innerhalb des Systems und illegaler, gegen das System gerichteter Opposition. Vgl. Juan J. Linz, Opposition to and under an Authoritarian Regime: The Case of Spain. In: Robert A. Dahl (Hg.), Regimes and Oppositions, New Haven 1973, S. 193–198.

IV. Ungarn

Die Staatspartei in Ungarn (1944–1989). Vom Vasallen Moskaus zum Vorreiter der Systemtransformation Andreas Schmidt-Schweizer Die folgenden Darlegungen zur Geschichte der Staatspartei(en) in Ungarn in der Ära des Staatssozialismus gliedern sich in zwei Teile. Der erste Teil ­liefert eine chronologische Skizze der Entwicklung der drei einander folgenden kommunistischen Parteien, nämlich der Ungarischen Kommunistischen Partei (1944–1948), der Partei der Ungarischen Werktätigen (1948–1956) und der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (1956–1989).1 Der behandelte Gesamtzeitraum lässt sich in acht Phasen untergliedern, die jeweils durch charakteristische Ereignisse und Entwicklungen gekennzeichnet sind. Im Rahmen der Untersuchung finden fünf Aspekte, die sich auch für einen Vergleich mit der Geschichte der anderen Staatsparteien im „östlichen Lager“ anbieten, beson­dere Berücksichtigung, nämlich die Konstituierung der Parteien einschließlich der Rolle der Sowjetunion, die parteiinternen Organisationsstrukturen und Machtverhältnisse, die grundlegenden politischen Zielsetzungen, die kommunistische Herrschaftspraxis sowie die spezifische Rolle der Parteien innerhalb der politischen Ordnung. Der zweite Teil beschäftigt sich näher mit der Staatspartei in den Wendejahren von 1987 bis 1989, wobei zum einen ihr personeller, funktionell-struktureller und politisch-ideologischer Wandel, zum anderen ihre Bedeutung im wirtschaftlichen und politischen Transformationsprozess im Mittelpunkt stehen. In diesen drei Jahren durchlief die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei einen radikalen inneren Veränderungsprozess und übte gleichzeitig entscheidenden Einfluss auf die politische und wirtschaftliche Wende in Ungarn aus. Insbesondere in dieser Phase zeigen sich im ungarischen Fall grundlegende, in den spezifischen Entwicklungen der vorangegangenen Jahrzehnte wurzelnde Unterschiede zu den Staatsparteien der anderen sozialistischen Länder. Um diese Besonderheiten, die bislang im internationalen wissenschaftlichen Diskurs nur wenig Berücksichtigung gefunden haben, zu veranschaulichen, werden sechs herausragende Ereignisse dieser Jahre herausgegriffen und analysiert.

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Eine umfassende Monografie zur Geschichte der Staatspartei(en) in Ungarn von 1944 bis 1989 liegt gegenwärtig noch nicht vor.

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Neugründung und Positionierung der Kommunistischen Partei (1944/45) Bereits einen Monat, nachdem die Rote Armee in der Endphase des Zweiten Weltkrieges auf das Territorium Ungarns vorgedrungen war, erfolgte im November 1944 unter der „Patronage“ der sowjetischen Besatzungsmacht die Gründung der Ungarischen Kommunistischen Partei (MKP).2 Die Führungsriege der Partei setzte sich in erster Linie aus Personen zusammen, die lange Jahre des Exils in der Sowjetunion verbracht und die Säuberungswellen Stalins überlebt hatten und in Moskau für ihre spätere politische Rolle in ihrer Heimat intensiv geschult worden waren. Gegenüber den „Moskowitern“ Mátyás Rákosi, Mihály Farkas, Ernő Gerő, József Révai und Imre Nagy übernahmen die wenigen Kommunisten, die in Ungarn im Untergrund verblieben waren, darunter János Kádár und László Rajk, nur eine zweitrangige Rolle bei der Führung der ganz nach sowjetischem Muster organisierten Partei, die – unter Zurückstellung nationaler Interessen – blindlings die politischen Leitlinien Stalins übernahm. Neben der herausragenden Bedeutung des „Faktors Moskau“ war für die 1944/45 reorganisierte kommunistische Bewegung in Ungarn auch bezeichnend, dass sie bis dahin – abgesehen von der kurzen Periode der Räterepublik unter Béla Kun3 – keine wesentliche politische Rolle gespielt und ihre Ideologie in der Bevölkerung keine Verbreitung gefunden hatte.4 Dementsprechend verfügte die Partei anfänglich auch nur über etwa 3 000 Mitglieder5 und hätte aus eigener Kraft Ende 1944/Anfang 1945 in Ungarn kaum Fuß fassen, geschweige denn eine wesentliche politische Rolle übernehmen können. Für die politischen Entwicklungen in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg spielte die permanente Präsenz der – von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung wenig geschätzten – sowjetischen Militärmacht die herausragende Rolle. (Der bekannte Satz von Mao Tse-tung „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“ trifft für diese Situation sicherlich voll und ganz zu.) Moskau konnte es sich leisten, im November 1945 – gemäß den Vereinbarungen von Jalta – weitgehend freie Parlamentswahlen abhalten zu lassen, auch wenn

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Überblicksweise zur Parteigeschichte vgl. Magyar Kommunista Párt. In: István Vida (Hg.), Magyarországi politikai pártok lexikona (1846–2010), Budapest 2011, S. 306– 309. Zu den Anfängen des kommunistischen Regimes in Ungarn vgl. Peter Kenez, Hungary from the Nazis to the Soviets. The establishment of the Communist regime in Hungary, 1944–1948, Cambridge 2006, S. 11–60. Zur Geschichte der ungarischen Räterepublik vgl. András Mihályhegyi, Die ungarische Räterepublik im Spannungsfeld zwischen Weltrevolution und nationale Egoismen, Bochum 1974; Tibor Hajdú, The Hungarian Soviet Republic, Budapest 1979. Eine Skizze zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Ungarn von Sommer 1919 bis Herbst 1944 bietet Bennett Kovrig, Communism in Hungary from Kun to Kádár, Stanford 1979; Kommunisták Magyarországi Pártja. In: Vida (Hg.), Magyar­ országi politikai pártok lexikona, S. 204 ff. Zu den Mitgliederzahlen vgl. Bennett Kovrig, The Hungarian Socialist Workers’ Party (MSZMP). In: Klaus-Detlev Grothusen (Hg.), Ungarn, Göttingen 1987, S. 146–175, hier 158.

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die Kommunistische Partei dabei mit 17 Prozent Stimmenanteil eine klare Wahlniederlage gegenüber dem 57-Prozent-Ergebnis des „bürgerlichen Lagers“, das sich in der Unabhängigen Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums (FKGP) vereinigt hatte, erlitt. Der Aufstieg der Kommunistischen Partei konnte durch dieses Ergebnis aber nicht verhindert werden. Die Tatsache, dass die realen Machtverhältnisse nicht primär auf den Wahlergebnissen beruhten,6 hatten offenbar auch die etwa 500 000 Ungarn erkannt, die der Partei bereits bis Oktober 1945 beigetreten waren und deren Zahl bis Januar 1946 auf 608 000 Personen stieg.

Die Institutionalisierung der Parteiherrschaft (1945–1949/50) Bereits Ende 1945 übernahm die Kommunistische Partei in der – auf Druck der von den Sowjets angeführten Alliierten Kontrollkommission in Ungarn gebildeten – Koalitionsregierung vier Ministerposten, darunter die Position des Innenministers (Imre Nagy). Mit dem Innenressort, dem auch die Politische Polizei und der Geheimdienst unterstellt waren, besetzten die Kommunisten, ganz nach dem auch in anderen Staaten praktizierten Muster, eine Schlüsselstellung in der Exekutive.7 Wie schon zuvor bei der Bodenreform bzw. Enteignung des durch halbfeudale Züge geprägten Großgrundbesitzes spielte sie dann eine maßgebliche Rolle bei der – von der Bevölkerung ebenfalls allgemein begrüßten – Verstaatlichung der Schlüsselindustrien sowie der Banken und Versicherungen. Und auch an der Vertreibung etwa der Hälfte der Ungarndeutschen hatten die Kommunisten einen entscheidenden Anteil, wobei sie hofften, mittels der Eigentumsumverteilung ihre Mitglieder- und Wählerbasis stärken zu können.8 Bereits lange vor dem offiziellen Ende der Stalin’schen „Koalitionspolitik“, das auf der Konferenz der kommunistischen Parteien im polnischen Ort ­Szklarska Poręba im September 1947 verkündet wurde, begannen die ungarischen Kommunisten seit Frühjahr 1946 ihre bürgerlichen Gegner, vor allem aus dem Kreis der Kleinlandwirtepartei, ins politische Abseits bzw. Exil zu drängen und ihre Organisationen schrittweise zu zerschlagen. (Für dieses Verfahren, das man – früher oder später – auch in den meisten anderen Staaten des sowjetischen Machtbereichs anwandte, wurde der anschauliche Begriff der ­„Salamitaktik“ geprägt.) Dieser Prozess der Machteroberung beschleunigte 6 7

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Auf die zentrale machtpolitische Bedeutung der Anwesenheit des sowjetischen Militärs weist nachdrücklich hin: László Borhi, A hívatlan birodalom. Magyarország és a szovjet hegemónia 1945–1953. In: Valóság, 42 (1999) 1, S. 75–89. Zur Phase der schrittweisen kommunistischen Machtdurchsetzung und Stalinisierung vgl. György Gyarmati, A Rákosi-korszak. Rendszerváltó fordulatok évtizede Magyar­ országon, 1945–1956, Budapest 2011, S. 28–165; Ignác Romsics, Magyarország története a XX. században, Budapest 2000, S. 271–331. Vgl. Ágnes Tóth, Migrationen in Ungarn 1945–1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch, ­München 2001.

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sich, als die Kommunistische Partei bei den massiv manipulierten Wahlen im August 1947 mit nur 22 Prozent der Stimmen nicht den erwarteten Durchbruch erzielen konnte. Die Kommunisten beseitigten daraufhin ihre restliche bürgerliche „Konkurrenz“ und erzwangen im Juni 1948 die Vereinigung der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei (MSZDP), also die Liquidierung der ungarischen Sozialdemokratie. Damit war Mitte 1948 die Staatspartei respektive die kommunistische Einparteienherrschaft in Ungarn etabliert. Und mit der Einführung des Systems der Nomenklatur bzw. der Kaderkompetenzlisten (für die von der Partei zu besetzenden Positionen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft) 1948/49, der Verabschiedung der stalinistischen „Verfassung der Volksrepublik Ungarn“ im August 1949 und der Etablierung eines hierarchisch-zentralistischen Rätesystems auf lokaler Ebene im Laufe des Jahres 1950 wurde dann auch der Parteistaat vollendet.

Die Staatspartei zur Zeit des Stalinismus (1949/50–1956) Die Partei der Ungarischen Werktätigen (MDP) – so der neue Name – verfügte anfänglich über die gewaltige Zahl von 1,1 Millionen Mitgliedern (12 Prozent der Gesamtbevölkerung), nach einer „Mitgliederrevision“ stabilisierte sich ihre Zahl dann bis zum Jahre 1956 auf 800 000 bis 900 000 Personen.9 Sie wies – wie bereits ihre Vorgängerin – die typischen Strukturen und Funktionsmechanismen einer marxistisch-leninistischen Partei auf, verfügte über einen gewaltigen Apparat mit 30 000 bis 40 000 Mitarbeitern und verfolgte weiterhin blindlings den von Moskau vorgegebenen, durch „Berater“ übermittelten politischen Kurs: Auch der ungarische Stalinismus war durch eine fast vollständige Verstaatlichung von Industrie und Handwerk, durch rigorose Kampagnen zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft sowie durch eine Intensivierung der Industrie- und Rüstungsproduktion zulasten der Konsumgütererzeugung gekennzeichnet. Produktion, Investition und Konsum wurden 1950 durch ­einen ersten Fünfjahrplan bzw. entsprechende Jahrespläne, die bis ins Detail vorgegebene, nicht zuletzt an den Bedürfnissen der Sowjetunion ausgerichtete ­Kennziffern enthielten, geregelt. Parallel zum wirtschaftlichen Systemwechsel wurde auch die – nur auf der Ebene der Propaganda erfolgreiche – leninistisch-stalinistische Sozialpolitik sowie eine – allein an ideologischen Kriterien ausgerichtete – Kultur- und Minderheitenpolitik adaptiert und die ungarische Außenpolitik ganz auf die Linie der Sowjetunion bzw. des entstehenden östlichen Bündnisses ausgerichtet. Letzteres bedeutete auch eine weitestgehende Abschottung Ungarns von der westlichen Welt.

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Überblicksweise zur Parteigeschichte vgl. Magyar Dolgozók Pártja. In: Vida (Hg.), ­Magyarországi politikai pártok lexikona, S. 300–303. Ausführlich zur Ära des Stalinis­ mus vgl. Gyarmati, A Rákosi-korszak, S. 166–394; Romsics, Magyarország története, S. 333–382.

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Den Preis für die irrationale, ideologiegesteuerte Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei hatte natürlich die Bevölkerung zu zahlen: In den Jahren von 1949 bis 1956 war für Ungarn, das auch zuvor schon durch ein – im mittel­europäischen Vergleich – niedriges Lebensniveau gekennzeichnet war, ein allgemeiner Prozess der Verarmung, von dem lediglich die Funktionärselite nicht betroffen war, zu konstatieren.10 Diese Entwicklung führte dazu, dass sich in der Bevölkerung wachsende Spannungen aufstauten, die sich dann im Herbst 1956 entladen sollten. Die Methoden der Machtausübung orientierten sich ebenfalls ganz am sow­ jetischen Ausgangsmodell: Während die „werktätige Bevölkerung“ in den Betrieben und die Beschäftigten der staatlich-gesellschaftlichen Institutionen den unmittelbaren Anweisungen der Parteiorgane Folge zu leisten hatten, war die gesamte Gesellschaft bis in die Privatsphäre hinein einer permanenten politisch-ideologischen Mobilisierung bzw. der Agitation und Propaganda der Partei ausgesetzt, unter dem Motto der „revolutionären Wachsamkeit“ gegenüber den „Klassenfeinden“ zur gegenseitigen Bespitzelung angehalten und zudem der häufig brutalen Willkür der Behörden11 ausgesetzt. Zur Vernichtung der – überall vermuteten – politischen Gegner bzw. zur Disziplinierung der eigenen Funktionäre kam es währenddessen zu intensiven, sich verselbstständigenden Aktivitäten bzw. Gewalttätigkeiten der – nach dem Muster des sowjetischen NKWD gebildeten – ungarischen Staatsschutzbehörde (ÁVH) sowie zu einer Reihe von großen Schauprozessen, darunter der Mindszenty- und Rajk-Prozess.12 Die Hinrichtung des einstigen Innen- und Außenministers László Rajk sowie die spätere Inhaftierung seines Verhörers János Kádár,13 zuvor ebenfalls Innenminister, offenbarten, dass sich damals selbst die „Träger des Systems“ nicht sicher fühlen konnten. Besonders auffallend bei den Entwicklungen in Ungarn war in dieser Phase der gewaltige Personenkult, der nicht nur um den „großen Stalin“, sondern auch um den – die Partei diktatorisch führenden – „kleinen“ ungarischen Parteiführer, den „weisen Führer des ungarischen Volks“, Mátyás ­Rákosi14 ­betrieben wurde und der in den Propagandaaktivitäten der Partei zum 70. Geburtstag

10 Vgl. Tibor Valuch, Magyarország társadalomtörténete a XX. század második felében, Budapest 2001, S. 351. 11 Besonders aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang die Aktivitäten der Justiz: In den Jahren von 1948–1953 wurden 1,3 der insgesamt 10 Mio. Ungarn vor Gericht gestellt und fast 700 000 Personen verurteilt, wobei die Strafen von der Todesstrafe bis zur Entlassung aus dem Beruf reichten. Darüber hinaus wurden Tausende aus den Städten, vor allem aus Budapest, auf das Land umgesiedelt; vgl. Kenez, Hungary, S. 295. 12 Vgl. Gábor Kiszely, ÁVH. Egy terrorszervezet története, Budapest 2000; György Gyar­ mati (Hg.), Államvédelem a Rákosi-korszakban, Budapest 2000. 13 Vgl. László Varga, Kádár János bírái előtt. Egyszer fent, egyszer lent, 1949–1956, Buda­ pest 2001. 14 Árpád Pünkösti, Rákosi a csúcson, 1948–1953, Budapest 1996; ders., Rákosi, Sztálin legjobb tanítványa, Budapest 2004; Piroska Kocsis, Rákosi Mátyás hatvanadik születés­ napjának megünneplése (http://www.archivnet.hu/politika/rakosi_matyas_hatvanadik_­ szuletesnapjanak_megunneplese.html; 14.8.2016).

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Stalins (21. Dezember 1949) bzw. zum 60. Geburtstag Rákosis (9. März 1952) seinen Höhepunkt fand. Bezeichnenderweise erklärte sich der ungarische Parteiführer auch selbst zum „besten Schüler Stalins“. Nach ersten Maßnahmen zur „Korrektur“ des Stalinismus unter Ministerpräsident Imre Nagy15 von Mitte 1953 bis Frühjahr 1955 und anschließenden Versuchen zur Restalinisierung fand diese Phase schließlich im Herbst 1956 mit dem Volksaufstand, der durch die kommunistische Unterdrückung und die katastrophalen Lebensbedingungen motiviert war, sich gleichermaßen gegen die ungarischen Kommunisten wie gegen die Vorherrschaft der Sowjetunion richtete und mehrere Tausend Todesopfer forderte,16 ihr endgültiges Ende. Die Partei der Ungarischen Werktätigen wurde aufgelöst, der verhasste Erste Sekretär Rákosi flüchtete ins sowjetische Exil und 200 000 Ungarn, darunter vor allem „Söhne der Werktätigenklasse“, gingen in den Westen. Der Versuch, eine Parteiherrschaft zu errichten, die durch eine permanente Ideologisierung, durch rücksichtslose Gewalt, Voluntarismus und eine „rhapsodische Unberechenbarkeit“17 geprägt war, und nach dem politischen auch einen radikalen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Systemwechsel – unter grober Missachtung der Konsumbedürfnisse der Bevölkerung – zu erzwingen, war gescheitert.

Die Etablierung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (1956–1963) Noch während des Volksaufstandes gründeten kommunistische Funktionäre um Imre Nagy und János Kádár Ende Oktober 1956 die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP).18 Nach der Niederschlagung des Aufstandes durch die sowjetische Militärmacht und dem Sturz von Nagy übernahm schließlich Kádár19 die Führung der neuen Partei, die allerdings – personell, strukturell und funktionell gesehen – gar nicht so neu war: Die Partei wurde zum einen erneut

15 Zur Politik von Imre Nagy vgl. János M. Rainer, Nagy Imre. Politikai életrajz, Band 2: 1953–1958, Budapest 1996. 16 Zu den Ereignissen vom Herbst 1956 vgl. György Litván/János M. Bak (Hg.), Die Ungarische Revolution 1956. Reform – Volksaufstand – Vergeltung, Wien 1994; Rüdiger Kipke (Hg.), Ungarn 1956. Zur Geschichte einer gescheiterten Volkserhebung, Wiesbaden 2006; Michael Gehler/Erich Lessing, Ungarn 1956. Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa, Innsbruck 2016. 17 Gyarmati, A Rákosi-korszak, S. 504. 18 Zur Organisation der MSZMP 1956/57 vgl. István Szenes, A Kommunista Párt újjá­ szervezése Magyarországon, Budapest 1976; Mária Ormos, A konszolidáció problemai 1956 és 1958 között. In: Társadalmi Szemle, 44 (1989) 8/9, S. 48–65. Überblicksweise zur Parteigeschichte vgl. Magyar Szocialista Munkáspárt. In: Vida (Hg.), Magyarországi politikai pártok lexikona, S. 313–318; Kovrig, The Hungarian Socialist Workers’ Party, S. 146–175. 19 Zur Biografie vgl. Tibor Huszár, Kádár János politikai életrajza, Band 1: 1912–1956, Budapest 2001; ders., Band 2: 1957–1989, Budapest 2003.

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gemäß den „bewährten“ Organisations- und Funktionsmustern einer leninistisch-marxistischen Partei bzw. nach den Prinzipien des „demokratischen Zen­ tralismus“ als Avantgarde- und Kaderpartei organisiert. Zum anderen setzte sich ihre Führung – neben einigen früheren leitenden Funktio­nären wie Antal Apró, György Marosán und János Kádár, die sich während des Rákosi-Regimes weniger kompromittiert hatten oder gar politisch verfolgt worden waren – zu einem bedeutenden Teil aus der zweiten und dritten Reihe der Garde der Ära Rákosi zusammen. Und auch die Masse der Mitglieder, die der Partei in den folgenden Jahren beitraten, entstammte in der Regel der alten Partei. (Ihre Zahl stieg im Zuge der Konsolidierung der Parteimacht konti­nuierlich von rund 38 000 im Dezember 1956 über 346 000 im Juni 1957 auf 512 000 im August 1962.) Auch die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei verdankte – analog zu den Jahren 1944/45 – ihre Existenz und Machtposition 1956/57 allein der Tatsache, dass sie durch sowjetisches Militär massiv gestützt wurde. (Bezeichnend für die Schwäche des Kádár-Regimes war z. B. die Tatsache, dass selbst die Bewachung des Budapester Parlaments anfänglich von der Roten Armee übernommen werden musste.) Zur Fundierung der eigenen Macht reorganisierten Kádár und sein Innenminister Ferenc Münnich währenddessen Polizei, Geheimdienst und Militär und gründeten als neues, besonderes Instrument der Machtausübung die sogenannte Arbeitermiliz, eine unmittelbar der Partei unterstellte paramilitärische Gewaltorganisation, die rund 60 000 Angehörige umfasste.20 Ende 1956/Anfang 1957 leitete der neue Parteichef einen massiven Repressionskurs gegen vermeintliche oder tatsächliche Akteure des Volksaufstandes ein.21 Diese Politik, die Kádár den Ruf eines „blutrünstigen Liquidators des Volksaufstandes“22 einbrachte, ging mit Massenverhaftungen, Internierungen, Berufsverboten und zahlreichen Hinrichtungen, einschließlich der Exekution des ehemaligen Ministerpräsidenten Imre Nagys und seiner engsten Mitstreiter, einher. Bis Anfang der 1960er-Jahre wurden wegen Beteiligung an der „Konterrevolution“ insgesamt gegen etwa 43 000 Personen Verfahren eingeleitet und fast 27 000 vor Gericht gestellt. Das Kádár-Regime ließ rund 20 000 Angeklagte zu Gefängnisstrafen verurteilen und 367 Todesurteile, von denen 229 vollstreckt wurden, verhängen. Darüber hinaus verfügte es die willkürliche ­Internierung von über 10 000 Personen.23 Parallel zu ihrer Politik der gewaltsamen Machtstabilisierung und Vergeltung begann die Partei gegenüber der Bevölkerungsmasse einen „neuen Kurs“ einzuschlagen. Zur Verbesserung der wirtschaftlich-sozialen Lage verzichtete Kádár 20 Vgl. Gábor Kiss, A Munkásőrség megalakulása. In: Múltunk, 54 (2009) 3, S. 238–277. 21 Zur Etablierung und Konsolidierung des Kádár-Regimes vgl. Ormos, A konszolidáció problemai, S. 48–65; Tibor Huszár/János Szabó (Hg.), Restauráció vagy kiigazítás. A kádári represszió intézményesülése 1956–1962, Budapest 1999; Tibor Huszár, A hatalmi gépészet újjáépítése és a represszió. In: Mozgó Világ, 25 (1999) 8, S. 90–105. 22 Jörg K. Hoensch, Ungarn-Handbuch. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Hannover 1991, S. 141. 23 Vgl. Vida (Hg.), Magyarországi politikai pártok lexikona, S. 315.

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bereits 1957 auf eine forcierte Industrialisierung und ließ die Produktion von Konsumartikel spürbar steigern. Auf dem Land setzte er zwar von 1959 bis 1961 eine erneute, die Zerschlagung der traditionellen Agrargesellschaft bezweckende Kollektivierungskampagne in Gang, diese verlief aber weniger gewaltsam, folgte nicht mehr dem sowjetischen Kolchosmodell und trug den Interessen der Bauern – unter anderem durch die Einführung eines privat zu nutzenden „Hoflandes“ – stärker Rechnung. Und auf der innenpolitischen Ebene kündigte er eine „zentristische Politik“ an, die sich gleichermaßen gegen den Dogmatismus Rákosis und den Revisionismus Nagys richtete und eine „Entschärfung“ der Parteiherrschaft implizierte. Seine versöhnliche „neue Bündnispolitik“ verkündete er erstmals Ende 1961 mit dem – bekannten – Leitsatz „wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“.24 Hinter der Tatsache, dass das Kádár-Regime einen derartigen politischen Kurs einschlug, der auch eine „emotionale Konsolidierung“25 bezweckte, verbarg sich letztlich die – aus dem Volksaufstand vom Herbst 1956 gewonnene – Erkenntnis, dass die Staatspartei ihre bisherige ideologiezentrierte Politik und rigorose Machtpraxis nicht mehr fortsetzen konnte. Währenddessen hatte aber auch die Bevölkerung – aufgrund des Scheiterns der Erhebung – eingesehen, dass sie zumindest in absehbarer Zeit keine andere Möglichkeit hatte, als sich den realen Machtverhältnissen anzupassen. Diese „doppelte Erkenntnis“ sollte – neben der sowjetischen Rückendeckung – zu einer wesentlichen Grundlage des Kádárismus werden.

Politische Liberalisierung und Wirtschaftsreformen (1963–1973) Im folgenden Jahrzehnt setzte die Staatspartei unter Kádár ihren Kurs der sozialpolitischen Zugeständnisse und innenpolitischen Entspannung fort und leitete tiefgreifende ökonomische Veränderungen ein.26 Damit gelang es dem Parteichef tatsächlich, die Position seiner Partei zu konsolidieren und eine gewisse ­Loyalität in der Bevölkerungsmasse, zumindest aber die Duldung der ­Parteiherrschaft, zu erreichen. (Als Indiz für den Erfolg dieses Kurses kann auch gewertet werden, dass die Partei von 1957 bis 1985 einen kontinuierlichen Mitgliederzuwachs von 125 000 auf etwa 870 000 Personen verzeichnen konnte, obwohl seit Anfang der 1960er-Jahre die Parteimitgliedschaft nicht mehr als unbedingte Voraussetzung für eine berufliche Karriere galt.) 24 Wörtlich äußerte Kádár damals: „Wer nicht gegen die Volksrepublik Ungarn ist, der ist für sie; wer nicht gegen die MSZMP ist, der ist für sie; wer nicht gegen die Volksfront ist, der ist für sie.“ Zit. nach János M. Rainer, Helyezkedés a csúcson. Kádár János néhány boldog éve 1958–1962. In: Árpád Rácz (Hg.), Ki volt Kádár? Harag és részrehajlás nélkül a Kádár életútról, Budapest 2001, S. 71–77, hier 75. 25 Miklós Szabó, A klasszikus kádárizmus 1960–1968. A puha diktatúra is rendőrállam. In: Rácz (Hg.), Ki volt Kádár, S. 78–84, hier 79. 26 Vgl. János M. Rainer (Hg.), „Hatvanas évek“ Magyarországon. Tanulmányok, Budapest 2004.

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In dieser Phase entwickelte sich in Ungarn unter der Bezeichnung „Kádárismus“ eine politische und ökonomische Ordnung, die einerseits durch die prinzipielle Beibehaltung der „tragenden Säulen“ der kommunistischen Herrschaftsordnung, also der „traditionellen“ Institutionen in Politik und Wirtschaft mit ihren typischen Funktions- und Organisationsstrukturen, geprägt war.27 ­Andererseits zeichnete sie sich aber auch durch die – natürlich jederzeit reversible – Praktizierung gemäßigterer Methoden der Machtausübung sowie durch sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur kontinuierlichen Steigerung des Lebensstandards („Gulaschkommunismus“) aus. Die „unverbrüchliche Treue“ zur Vormacht Sowjetunion bzw. zum östlichen Bündnis wurde durch diesen politischen Kurswandel – wie die militärische Beteiligung Ungarns an der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 zeigte – nicht beeinträchtigt. Im Zuge der Mitte der 1960er-Jahre einsetzenden Kádár’schen Wirtschaftsreformen („Neuer Ökonomischer Mechanismus“) entstand in Ungarn eine liberalisierte Variante der Zentralverwaltungswirtschaft, in deren Rahmen versucht wurde, auch den Gesetzen des Marktes Rechnung zu tragen.28 Die Staatsunternehmen und Genossenschaften verfügten darin über eine beträchtliche Selbstständigkeit, neben dem sozialistischen Sektor konnten sich begrenzte privatwirtschaftliche Aktivitäten entfalten, und Ungarn entwickelte, nachdem das Land 1963 international wieder „salonfähig“ geworden war,29 auch bedeutende Handelskontakte zum kapitalistischen Westen. Der Prozess der Entschärfung der Parteiherrschaft offenbarte sich – nach der Generalamnestie von 1963 – darin, dass die Masse der Bürger seit Mitte der 1960er-Jahre eine weitgehend unbehelligte und politikfreie Privatsphäre genießen konnte, es zu keiner permanenten Politisierung des öffentlichen Lebens mehr kam und die Ungarn „kleine Freiheiten“ wie z. B. die – natürlich streng kontrollierte – Möglichkeit zu Westreisen erhielten.30 Gleichzeitig wurde auch das Ausmaß der Überwachung und Repression durch die Staatssicherheit31 27 Zum sogenannten Kádárismus vgl. János M. Rainer, A Kádár-korszak 1956–1989, Budapest 2010; Andreas Schmidt-Schweizer, Der Kádárismus – das „lange Nachspiel“ des ungarischen Volksaufstandes. In: Kipke (Hg.), Ungarn 1956, S. 161–187; Hubertus Knabe, Der Kádárismus und seine Auswirkung auf das politisch-soziale System in Ungarn. In: APuZ, 36–37 (1987), S. 13–25; Romsics, Magyarország története, S. 397–520. 28 Zu den Wirtschaftsreformen vgl. Iván T. Berend, A magyar gazdasági reform útja, Budapest 1988; Nigel Swain, Hungary. The rise and Fall of Feasible Socialism, London 1992; Rezső Nyers, Visszapillantás az 1968-as reformra. In: Valóság, 31 (1988) 3, S. 9–25. 29 Besonders bezeichnend für den Wandel der internationalen Position Ungarns war, dass die Vereinten Nationen in diesem Jahr die „ungarische Frage“ von der Tagesordnung nahmen. 30 Zur Sozialpolitik und zum Bevölkerungsalltag unter Kádár vgl. die entsprechenden Ka­ pitel in Tibor Valuch, Magyar hétköznapok. Fejezetek a mindennapi élet történetéből a második világháborútól az ezredfordulóig, Budapest 2013; ders., Magyarország társada­ lomtörténete. 31 Zur Rolle der Staatssicherheit unter Kádár vgl. Gábor Tabajdi/Krisztián Ungváry, El­ hallgatott múlt. A pártállam és a belügy. A politikai rendőrség működése Magyarországon, 1956–1990, Budapest 2008.

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deutlich verringert – ohne einen Überwachungsapparat kam selbstverständlich auch der ungarische Reformsozialismus nicht aus – und das parteistaatliche Handeln wurde in einem gewissen Maße an Rechtsnormen gebunden.32 Diese durch eine größere Bindewirkung des Rechts gegenüber der „Parteilichkeit“ bzw. Ideologie gekennzeichnete „sozialistische Gesetzlichkeit“ begründete unter den Rahmenbedingungen der Einparteienherrschaft natürlich noch lange keine Rechtsstaatlichkeit im westlichen Sinne – was viele Oppositionelle auch zu spüren bekamen.

Reideologisierung und Reformrückschritte (1973–1979) Aufgrund von politischem Druck aus Moskau und Kritik aus der eigenen Partei kam es 1973/74 zu einer Unterbrechung und teilweisen Rücknahme der Kádár’schen Wirtschaftsreformen und zu einer politischen Reideologisierung.33 Innerhalb der Staatspartei erfolgte einer Machtverlagerung zugunsten des dogmatischen Flügels, wobei ausgewiesene Reformer wie Jenő Fock und György Aczél sowie der „Vater der Wirtschaftsreformen“, Rezső Nyers, politisch ins Abseits gedrängt wurden. Selbst die Position Kádárs, der mittlerweile in der Bevölkerung durchaus über ein gewisses Ansehen verfügte, schien damals ins Wanken zu geraten. Im Bereich der Wirtschaft wurden nun 50 Industriekom­ plexe geschaffen, die unmittelbar der Parteiführung unterstellt waren, unabhängig von jeglichen makroökonomischen Einflüssen arbeiteten und mit einem 50-prozentigen Anteil an der Gesamtproduktion das Rückgrat der ungarischen Wirtschaft bildeten. Und in der Innenpolitik wurde eine Kampagne gegen „kleinbürgerliche Phänomene“ eingeleitet, das Prinzip der Egalität bekräftigt und die Rolle des Marxismus-Leninismus im gesellschaftlichen Leben hervorgehoben. Außerdem schrieb das Regime – im Zeichen der „Arbeiterpolitik“ – erneut der proletarischen Herkunft eine entscheidende Bedeutung bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzverteilung zu. Den Höhepunkt der Reideologisierung bil­dete der Parteiausschluss mehrerer bekannter kritischer Intellektueller aus der ­„Budapester Schule“ des neomarxistischen Philosophen György Lukács. Diese Phase endete 1977, als sich immer größere Funktionsstörungen in der rezen­tralisierten ungarischen Wirtschaft abzuzeichnen begannen und sich auch die Lebensstandardpolitik nur mehr mittels Krediten finanzieren ließ – mit der Folge eines massiven Anstiegs der Staatsverschuldung.34 32 Vgl. Georg Brunner, Das Regierungssystem. Verfassung und Verwaltung. In: Grothusen (Hg.), Ungarn, S. 213–249, hier 217 f. 33 Vgl. György Földes, Kötélhúzás felső fokon. Kádár és Brezsnew. In: Rácz (Hg.), Ki volt Kádár, S. 103–113; Iván T. Berend, A magyar reform sorsfordulója az 1970es években. In: Társadalmi Szemle, 31 (1988)1, S. 1–26; Swain, Hungary, S. 115–120; Hoensch, Geschichte Ungarns, S. 231–237. 34 Zum Verschuldungsprozess in der Ära Kádár vgl. Attila Mong, Kádár hitele. A magyar államadósság története 1956–1990, Budapest 2012.

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Fortführung der Reformpolitik (1977–1985) Nachdem die Reformer in der Staatspartei – vor dem Hintergrund der gescheiterten Rezentralisierungs- und Reideologisierungspolitik – erneut die Oberhand gewonnen hatten, konnte Kádár – mit der erneuten Duldung Moskaus – seine Politik der Wirtschaftsreformen und der Liberalisierung der Innenpolitik fortsetzen.35 Im Juni 1977 beschloss die Staatspartei offiziell eine deutliche Erweiterung der künstlerisch-kulturellen Freiräume: Neben die Kategorien „unterstützt“ und „verboten“ trat nun die Kategorie „toleriert“. Damit ließen die Machthaber erstmals Aktivitäten zu, die zwar nicht in Übereinstimmung mit der Ideologie standen, die sie aber als „politisch ungefährlich“ einstuften. In der Wirtschaftspolitik setzte Kádár einen Schlussstrich unter die Politik der Unternehmenskonzentration und führte mit dem Ziel, ökonomisches Handeln und den „sozialistischen Wettbewerb“ zu fördern, die Aufteilung zahlreicher Großbetriebe in kleinere, voneinander unabhängige Einheiten durch. Die Entscheidungskompetenzen der Unternehmen wurden erneut ausgeweitet und verschiedene Formen von Kleinunternehmen, die eine legale private Erwerbstätigkeit erleichterten, eingeführt. Darüber hinaus unternahm die Staatspartei nun auch politische Reformschritte, vor allem mit der Wahlrechtsreform von 1983, die eine obligatorische Doppelkandidatur bei den Parlaments- und Kommunalwahlen vorschrieb.36 Außenpolitisch verfolgte sie neben der – vorrangigen – Pflege der Kontakte zu den Staaten der östlichen Militär- und Wirtschaftsintegration auch eine aktive Westpolitik und übernahm zur Zeit des sich erneut verschärfenden Kalten Krieges eine gewisse Brückenfunktion zwischen Ost und West, wobei den Beziehungen zur Bundesrepublik eine besondere Rolle zukam.37 Kádárs außenpolitische Schritte reichten oftmals bis an die „Schmerzgrenze“ Moskaus, seine ­„konstruktive Loyalität“38 stellte die Führungsrolle der Sowjetunion und die Integration ins östliche Lager letztlich aber niemals infrage. Auch die Fortsetzung der Reformpolitik verhinderte es allerdings nicht, dass der Kádár’sche Staatssozialismus Mitte der 1980er-Jahre in eine immer tiefere wirtschaftliche, finanzielle, soziale und ideologische Krise geriet.39 Diese 35 Vgl. Berend, A magyar gazdasági reform útja, S. 367–439; Romsics, Magyarország törté­ nete, S. 454–466. 36 Vgl. Ferenc Majoros, Wahlrechtsreform in Ungarn, Köln 1984. 37 Allgemein zur Außenpolitik Kádárs vgl. György Földes, Kádár János külpolitikája és nemzetközi tárgyalásai 1956–1988, 2 Bände, Budapest 2015. Zu den westdeutschungarischen Beziehungen vgl. Tibor Dömötörfi/Andreas Schmidt-Schweizer, A magyarnyugatnémet kapcsolatok dinamikus időszaka. A diplomáciai kapcsolatok felvételétől a határnyitásig, 1973–1989. In: Külügyi Szemle, 13 (2014) 4, S. 19–43. 38 Csaba Békés, Európából Európába. Magyarország konfliktusok kereszttüzében, ­1945– 1990, Budapest 2004, S. 248. 39 Zur Krise des Kádárismus vgl. Attila Ágh, A századvég gyermekei. Az államszocia­ lizmus összeomlása a nyolcvanas években, Budapest 1990; Ágnes Bokor, Szegénység a mai ­Magyarországon, Budapest 1987; Valuch, Magyarország társadalomtörténete, S. 350–362.

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­ ffenbarte sich vor allem an einer sinkenden Wirtschaftsleistung und Wettbeo werbsfähigkeit, an einer enormen Verschuldung und einem sinkenden Lebensstandard sowie an massiven sozialen Problemen, die sich in einer Spritzenreiterrolle bei Alkoholmissbrauch und Suiziden manifestierten. Gleichzeitig klafften auch die ideologischen Ansprüche und realen Entwicklungen immer weiter auseinander, und diejenigen Ungarn, die ihre Möglichkeit zu Westreisen nutzten, nahmen immer deutlicher wahr, wie sehr ihr Land hinter den wirtschaftlichen und ­technologischen Entwicklungen im Westen zurückblieb.

Das Ende des Parteistaats bzw. der Staatspartei (1985–1989) Mitte der 1980er-Jahre verbreitete sich in der Staatspartei die Erkenntnis, dass auch die liberalisierte Planwirtschaft nach Kádár’scher Prägung nicht mehr weiter zu reformieren war und grundlegende wirtschaftspolitische Verän­derungen in Richtung Marktwirtschaft, einschließlich radikaler politischer Reformen, unumgänglich waren. Für eine derartige Wende hatte gerade der Kádárismus – natürlich unbeabsichtigt – eine günstige Ausgangssituation geschaffen: So er­ leichterte die Existenz einer Quasimarktwirtschaft mit einer kleinen Schicht von Privatunternehmern und einer relativ entwickelten Wirtschaftsgesetzgebung den Übergang zu einer Marktwirtschaft; die innenpolitische Liberalisierung ermöglichte die Entstehung eines „latenten Pluralismus“40 und machte es möglich, dass sich oppositionelle „Keime“ bildeten, die sich später zu den wichtigsten Oppositionsbewegungen weiterentwickeln konnten; das relativ entspannte politische Klima ließ auch zu, dass sich innerhalb der Staatspartei verschiedene Strömungen herausbildeten und aus dem sogenannten Reform­flügel wichtige Protagonisten des Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesses hervorgehen konnten; die für eine Einparteienherrschaft relativ gut entwickelte Rechtsordnung bewirkte, dass der Umbruch im Rahmen eines geregelten Prozesses von Gesetzgebung und Gesetzesänderung vollzogen werden konnte; und die Politik der Nicht-Politisierung der Bevölkerung führte zu einer verbreiteten „politischen Biedermeiermentalität“ (Tibor Pichler), die wiederum zum ruhigen, gewaltfreien Verlauf der Transformation „von innen“ beitrug. In dieser letzten Phase der Staatspartei und des Staatssozialismus in Ungarn zeichnete sich vor dem Hintergrund der massiven Systemkrise, der politisch-ideologischen Erstarrung der Parteiführung um Kádár41 und der sich

40 József Bayer, Vom latenten Pluralismus zur Demokratie. In: Rainer Deppe/Helmut ­Dubiel/Ulrich Rödel (Hg.), Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1991, S. 151–166. 41 Diese Situation offenbarte sich besonders deutlich auf dem XIII. Parteitag der MSZMP im März 1985, der bezeichnenderweise unter dem Motto „Weiter auf dem Lenin’schen Weg“ stand und zu einer nahezu kompletten Wiederwahl der bisherigen Führungsgarde führte.

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grundlegend verändernden blockinternen („Faktor Gorbatschow“) und internationalen Situation (Entspannung zwischen den Blöcken) bereits Mitte 1987 das Ende der Ära Kádár ab. Es setzten nun parteiinterne und innenpolitische Entwicklungen ein, die sehr schnell in einen dynamischen Liberalisierungsprozess und schließlich in die Transformation der politischen und wirtschaftlichen Ordnung mündeten – wobei Partei, Gesellschaft und Opposition jeweils ganz unterschiedliche Rollen spielten. Mit diesen Entwicklungen ging von Sommer 1987 bis Herbst 1989 auch das Ende der Staatspartei und des Parteistaats einher.42

Das „Entfaltungsprogramm“ vom Juli 1987 – der Übergang zur Marktwirtschaft und das Ende des Kádárismus Nachdem es Ende Juni 1987 zu einem Generationswechsel an der Regierungsspitze und in der Wirtschaftsführung der Partei gekommen war, implementierten der neue Ministerpräsident, Politbüro-Mitglied Károly Grósz, und der junge Parteiökonom Miklós Németh im Sommer 1987 das sogenannte Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung.43 Dieses bezweckte vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise, einen grundlegenden wirtschaftspolitischen Kurswechsel mit begleitenden politischen Reformen einzuleiten. Wesentliches Element des Entfaltungsprogramms war – trotz aller sozialistischen Rhetorik – das Ende des Vorrangs der Plankoordination respektive der Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit neuen, kapitalistischen Eigentumsformen („regulierte Marktwirtschaft“44). Das Programm zog aber nicht nur einen Schlussstrich unter die Grundprinzipien der ­Zentralverwaltungswirtschaft, sondern letztlich auch unter zwei wesentliche Elemente der „stillschweigenden Übereinkunft“ zwischen der Kádár’schen Parteiführung und der Bevölkerung:

42 Vgl. Andreas Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation in Ungarn. Politische Veränderungsbestrebungen innerhalb der Ungarischen Sozialis­ tischen Arbeiterpartei (MSZMP) von 1986 bis 1989, Frankfurt a. M. 2000. Zum – hin­ sichtlich des jeweiligen Gewichts der einzelnen Akteure unterschiedlich bewerteten – Systemwechsel in Ungarn vgl. Andreas Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns von 1985 bis 2002. Von der liberalisierten Einparteienherrschaft zur Demokratie in der Konsolidierungsphase. München 2007, S. 49–192; Zoltán Ripp, Rendszerváltás Magyarországon 1987–1990, Budapest 2006; Ignác Romsics, Volt egyszer egy rend­ szerváltás, Budapest 2003; Rudolf Tőkés, Hungary’s negotiated revolution. Economic reform, social change and political succession, 1957–1990, Cambridge 1996. 43 Zum (deutschsprachigen) Text vgl. Stellungnahme des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei vom 2. Juli 1987 über das Programm der wirtschaftlichgesellschaftlichen Entfaltung. In: Herder-Institut (Hg.), Dokumente und ­Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Umbruch in Ungarn 1985–1990“. Bearb. von Andreas Schmidt-Schweizer (https://www.herder-institut.de/go/VL-8341dd; 26.7.2016). 44 Dieser Begriff wurde von ZK-Sekretär Miklós Németh geprägt.

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Es beendete nämlich die Politik des – nicht mehr zu finanzierenden – wachsenden Lebensstandards und der garantierten Vollbeschäftigung, mit der Kádár sich die Duldung der Parteiherrschaft „erkauft“ hatte. Und darüber hinaus sah es vor, die Bevölkerung (vor allem durch die Ausweitung der „kleinen Freiheiten“ – Stichwort „weltweit gültiger Reisepass“) für die während der Übergangsphase zu erwartenden materiellen Opfer zu entschädigen und sie durch begleitende politische Reformen, die vor allem eine Möglichkeit zur Artikulation divergierender Interessen eröffnen sollten, in den ökonomischen Transformationsprozess „einzuspannen“. Mit Letzterem gab die Parteiführung die zweieinhalb Jahrzehnte praktizierte Politik der „politischen Ruhigstellung“ der Bevölkerung auf.

Der Besuch von Ministerpräsident Grósz in der Bundesrepublik im Oktober 1987 – das wachsende Gewicht der Regierung und die ­Neuorientierung der Außenpolitik Der Besuch des ungarischen Regierungschefs Károly Grósz im Herbst 1987 in der Bundesrepublik45 offenbarte zwei grundsätzliche Neuerungen in der Politik der Staatspartei: Zum einen ihren Willen, dem Staat bzw. der Regierung eine größere Rolle im politischen Leben und in der internationalen Politik einzuräumen. (Bislang waren derart wichtige Gipfeltreffen vom Generalsekretär selbst abgewickelt worden, der Regierungschef hatte eher eine Statistenrolle.) Dieser Prozess der Machtverlagerung sollte sich in den folgenden beiden Jahren fortsetzen und spätestens Mitte 1989 dazu führen, dass die Regierung zum entscheidenden politischen Faktor in Ungarn wurde. Zum andern zeigte der Besuch auch eine Prioritätenverschiebung in der Außenpolitik der Staatspartei: An die Stelle der bisherigen primären Ostorientierung unter Kádár trat nun eine an nationalen Interessen orientierte „doppelte Orientierung“,46 die einerseits eine wesentlich stärkere wirtschaftliche und politische Verbindung zur westlichen Welt, insbesondere zur Bundesrepublik Deutschland, andererseits aber auch ein Festhalten an der östlichen Bündnisordnung, deren Potenziale besser genutzt und die langfristig grundlegend reformiert werden sollte, vorsah. (Bereits zwei Jahre nach dem Grósz-Besuch zeichnete sich mit der ungarischen Grenzöffnung vom September 1989, einer eindeutigen Entscheidung gegen den „Osten“ und für den „Westen“, ein Ende dieses außenpolitischen Kurses ab.47)

45 Vgl. Dömötörfi/Schmidt-Schweizer, A magyar-nyugatnémet kapcsolatok, S. 31 ff. 46 Zur Konzeption der doppelten Orientierung vgl. Imre Szokai/Csaba Tabajdi, Ungarische Außenpolitik im Wandel. In: Herder-Institut (Hg.), Dokumente und Materialien zur ost­ mitteleuropäischen Geschichte (https://www.herder-institut.de/go/­RD-a89de3; 6.7.2016). 47 Vgl. Andreas Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze für die DDR-­Bürger im Sommer 1989. Vorgeschichte, Hintergründe und Schlußfolgerungen. In: Südosteuropa-Mitteilungen, 37 (1997) 1, S. 33–53, hier 53.

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Die Parteikonferenz vom Mai 1988 – der illusorische Versuch einer ­radikalen Reform des Sozialismus und der innere Zerfall der Staatspartei Nach massivem Druck innerhalb der Parteiorganisationen aller Ebenen fand die Ära Kádár auf der Parteikonferenz vom Mai 1988 auch ihr offizielles Ende: Kádár wurde durch Ministerpräsident Grósz als Generalsekretär abgelöst, der Kádár-Zirkel schied aus dem Politbüro aus und die – für ihre Veränderungsbereitschaft bekannten – Politiker Rezső Nyers, Imre Pozsgay und Miklós Németh rückten in die Parteispitze auf. Auf der Parteikonferenz wurde zugleich ein radikales politisches Reformkonzept angenommen, nämlich das Programm des sogenannten sozialistischen Pluralismus.48 Dieses sah einerseits vor, der Bevölkerung im Rahmen des Einparteiensystems eine Reihe von politischen Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen (insbesondere das Recht auf Versammlung, Vereinigung und Streik), andererseits sollte die Macht der Partei (mittels eines Parteigesetzes) nun an gewisse Spielregeln gebunden werden. Beim Versuch, diese Politik zu implementieren, zeigten sich seit Herbst 1988 aber unerwartet dynamische Pluralisierungsprozesse in der ungarischen Gesellschaft, die schließlich – vor allem mit der Gründung bzw. Reaktivierung von bürgerlichen Parteien – den Rahmen des Einparteiensystems sprengten und die Staatspartei zum Handeln zwangen. Innerhalb der Partei selbst hatte der sozialistische Pluralismus währenddessen dazu geführt, dass sich sogenannte Plattformen, also Fraktionen, bildeten, deren Existenz de facto das Prinzip des demokratischen Zentralismus beendete. Die Partei zerfiel in „Konservative“ (also Kádáristen), in Anhänger eines reformierten Einparteiensystems und in die – wachsende – Gruppe der sogenannten radikalen Reformer, die letztlich einen Systemwechsel anstrebten.

Die ZK-Sitzung vom 10./11. Februar 1989 – die grundsätzliche ­Akzeptanz eines kompetitiven Mehrparteiensystems Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen und innerparteilichen Entwicklungen versuchte das Zentralkomitee (ZK) auf seiner Sitzung am 10./11. Februar 1989, sich an die Spitze des politischen Veränderungsprozesses zu stellen und damit auch die Parteieinheit wiederherzustellen.49 Nach intensiven Diskussionen in den vorangegangenen Monaten entschied das Gremium, einen schrittweisen Übergang zu einem kompetitiven Mehrparteiensystem bzw. die

48 Vgl. Stellungnahme der Landeskonferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei über die Aufgaben der Partei und die Entwicklung des Systems der politischen Institutionen. In: Herder-Institut (Hg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Ge­ schichte (https://www.herder-institut.de/go/We-38f960; 5.6.2016). 49 Vgl. Mitteilung über die Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Ar­ beiterpartei vom Februar 1989. In: ebd. (https://www.herder-institut.de/go/­­Wg-70903e; 8.8.2016).

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Existenz „bürgerlicher“ Parteien zu akzeptieren. Hinter dieser Entscheidung verbarg sich zum einen der Druck derjenigen Kräfte, die den Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie befürworteten, zum anderen aber auch eine „große ­Illusion“ in der gesamten Partei, nämlich das Wunschbild, die politische Macht auch unter Wettbewerbsbedingungen wahren sowie einen „demokratisierten“ Sozia­lismus verwirklichen zu können. Die Akzeptanz eines Mehrparteiensystems ging – konsequenterweise – auch mit einer Neuinterpretation der Ereignisse vom Herbst 1956 (damals hatten sich ebenfalls Keime von Parteien gebildet) einher: Nachdem Politbüromitglied Imre Pozsgay Ende Januar 1989 die damaligen ­Ereignisse öffentlich als „Volksaufstand“ bezeichnet hatte, stimmte das ZK dieser Charakterisierung am 10./11. Februar im Wesentlichen zu. Diese Entscheidungen bildeten – zusammen mit der Verabschiedung neuer demokratischer Verfassungsprinzipien am 20./21. Februar 1989 – wesentliche Schritte der Staatspartei zur Durchführung eines Systemwechsels „von innen“.

Die ZK-Sitzungen vom Mai/Juni 1989 – das Ende der Funktions- und Organisationsweise einer Staatspartei Auf seiner Sitzung vom 8. Mai 1989 sprach sich das Zentralkomitee – neben der Enthebung János Kádárs von seinen letzten Parteiämtern – auch dafür aus, das Verhältnis von Partei und Staat grundlegend zu verändern: Es beschloss nämlich, die Kaderkompetenzen der Partei zu beenden, das heißt das Vorrecht, die Positionen in den staatlichen Institutionen zu besetzen. Damit verlor die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei – zumindest de jure – ihren Charakter als Staatspartei und Ungarn seinen Charakter als Parteistaat. Ministerpräsident Miklós Németh, der im November 1988 das Amt von Grósz übernommen hatte, konnte so bereits zwei Tage später sein Kabinett ohne vorherige Zustimmung der obersten Parteigremien umbilden. Tatsache ist allerdings auch, dass die sehr enge personelle Verflechtung von Staat und Partei – de facto (Németh war auch Mitglied der Parteispitze) – bis zur Auflösung der Partei weiterbestand. Auf der ZK-Sitzung vom 23./24. Juni 1989 fand dann – im Zuge der endgültigen parteiinternen Durchsetzung der „Transformer“ – auch die typische marxistisch-leninistische Organisationsform der Parteispitze ihr Ende: Die Parteiführung wurde von der Position des Generalsekretärs (Grósz), der die Politik des politischen Systemwechsels nicht wirklich mittrug, auf ein vierköpfiges kollektives Führungsgremium (Nyers, Pozsgay, Németh, Grósz) übertragen und das neunköpfige Politbüro durch einen 21-köpfigen Politischen Verwaltungsausschuss abgelöst.

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Der XIV. Parteitag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei im ­Oktober 1989 – die Selbstauflösung der vormaligen Staatspartei Am 7. Oktober 1989 kam es erstmals in der Parteiengeschichte zur Selbstauf­ lösung einer herrschenden kommunistischen bzw. sozialistischen Partei. An die Stelle der Partei Kádárs trat nun die von Rezső Nyers geführte Ungarische Sozialistische Partei (MSZP).50 Diese sah sich – natürlich mit Blick auf das gewaltige Parteivermögen – zwar als juristische Nachfolgepartei, sie brach aber radikal mit den alten, bolschewistischen Parteistrukturen und stimmte für eine Programmatik, die eindeutig die staatssozialistischen Grundgedanken verwarf und sich mit der zukünftigen pluralistisch-demokratischen Ordnung Ungarns vereinbaren ließen – auch wenn sich ihre politischen Vorstellungen noch nicht ganz klar herauskristallisiert hatten. Gemäß ihres Entstehungsprozesses wies die neue Parteiführung eine starke personelle Kontinuität zum Reformflügel (also zu den Transformern) der alten Partei auf und auch die Parteibasis rekrutierte sich vor allem aus dem vormaligen „Reformzirkel“ – ihre Mitgliederzahl ging allerdings nicht mehr in die Hunderttausende, wie bei Staatsparteien üblich, sondern betrug in den folgenden Jahren nur mehr etwa 30 000 Personen. Trotz dieser personellen Kontinuität wurde am 7. Oktober 1989 – nun auch formal – ein endgültiger Schlussstrich unter die Geschichte der Staatspartei in Ungarn gezogen. Den Satz, den mein ungarischer Kollege Zoltán Szász in Bezug auf die Habsburger Monarchie äußerte, nämlich, dass „das Reich zum Überleben Reformen benötigte, die Reformen allerdings die Existenz des Reiches gefährdeten“,51 kann zweifellos auch auf das Schicksal der ungarischen Staatspartei bzw. auf den Parteistaat übertragen werden.

50 Vgl. Andreas S. Schmidt, Die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) 1989–1994. Entstehung und Wandel einer „Nachfolgepartei“. In: Südosteuropa-Mitteilungen, 34 (1994) 3, S. 202–220. 51 Zoltán Szász, A nemzeti kérdés a kelet-közép-európai rendszerváltásban. In: Mariann Nagy (Hg.), Híd a századok felett, Pécs 1997, S. 499–508, hier 503.

Staatssozialismus – Sozialpolitik – Legitimation. Ungarn im mittelosteuropäischen Vergleich 1945 bis 19891 Tibor Valuch Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts kann ohne sonderliche Schwierigkeiten auch als die Geschichte der Expansion des Wohlfahrtstaates verstanden werden.2 In der ersten Hälfte des Jahrhunderts bestimmten vor allem die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklungsdynamik der einzelnen Länder und Regionen den Prozess, in dem die Wohlfahrtsmaßnahmen ausgearbeitet wurden, und den zahlenmäßigen Zuwachs an Personen, die in den Genuss der Versorgung kamen. Ein determinierendes Element dieses Prozesses war das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Unternehmen bemühten sich im Allgemeinen, die wichtigsten – dies bedeutete meist die am besten ausgebildeten und erfahrensten – Arbeiter zu halten, indem sie ihnen eine fortschrittlichere und umfassendere sozialpolitische Versorgung in Aussicht stellten. Die Rolle des Staates war in diesem Prozess etwas eingeschränkter und belief sich in erster Linie darauf, die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen. Entscheidend war hingegen die Eigenorganisation der Arbeitnehmer, ihre gesellschaftliche und politische Partizipation, die eine Steigerung der sozialen Sicherheit förderte, da die Bruderladen, die freiwilligen Hilfsvereine ebenso wichtige Elemente des Sozialsystems waren wie die sozialen Einrichtungen der Unternehmen oder des Staates. Nach dem Zweiten Weltkrieg, genauer gesagt nach der Spaltung des Kontinents in zwei Teile, beeinflussten nicht mehr nur der wirtschaftliche Entwicklungsstand und der Fortschritt die Möglichkeiten. Die staatliche P ­ artizipation wurde stärker und nach der kommunistischen Machtübernahme in den mittelosteuropäischen Ländern, die unter sowjetischen Einfluss gelangt waren, uneingeschränkt. Dies bedeutete fast ohne Ausnahme eine vollstän­dige Verstaatlichung der sozialen Einrichtungen und Versorgungssysteme, eine starke Abwertung und das vorübergehende Ende der Sozialpolitik, die völlige Auflösung oder 1 2

Die Forschung wurde im Rahmen des Projektes EFOP-3.6.1-16-2016-00001 „Komplexe Entwicklung der Forschungskapazitäten und Dienstleistungen an der Eszterházy Károly Universität“ gefördert. Zur sozialgeschichtlichen Zusammenfassung des 20. Jahrhunderts in Europa und unter besonderer Berücksichtigung des Wohlfahrtsstaates siehe Béla Tomka, A Social History of Twentieth-century Europe, London 2013.

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z­ umindest massive Einschränkung der Wohlfahrts- und H ­ ilfsorganisationen, die durch autonome Privatinitiativen entstanden waren, bzw. des kirchlichen karitativen Institutionensystems.3 Im Folgenden soll am Beispiel Ungarns gezeigt werden, wie sich Situation, Rolle und Funktion der Sozialpolitik und des sozialen Versorgungssystems in der Zeit des Staatssozialismus verändert haben. Neben der Zusammenfassung der ungarischen Eigenheiten soll skizziert werden, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede es zwischen dem staatssozialistischen System in Ungarn und jenem in anderen mittelosteuropäischen Ländern (vor allem in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR) gegeben hat.4 All dies soll dabei helfen, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie, wann und warum die Sozialpolitik im ­Totalitarismus zum politischen Legitimationsinstrument der staatssozialistischen Regime wurde. Interessant ist dies auch, weil die Mehrzahl der staatssozialistischen Regime – sei es in Ungarn oder anderen Ländern Mittelosteuropas – zwischen dem Ende der 1940er-Jahre und dem Anfang der 1960er-Jahre die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen durch Enteignung, Verstaatlichung und Kollektivierung so proletarisierte, beziehungsweise in Armut versetzte, dass sie indes die sozialen Ungleichheiten durch die politisch motivierte Redistribution nicht nur umgestaltete, sondern auch neue schuf. So war in der zweiten Hälfte der untersuchten Epoche parallel zu der Veränderung des Verhältnisses zwischen Staatssozialismus und Sozialpolitik eine schnelle Zunahme der sozialen Ungleichheiten zu beobachten, im Fall von Ungarn auf jeden Fall.

Diskurse, Ungleichheiten, Fakten In Ungarn veränderte sich nach der kommunistischen Machtübernahme, die zwischen 1947 und 1949 erfolgte, der Umgang mit den sozialen Ungleichheiten und Problemen sowie der diesbezügliche Diskurs in radikaler Weise. Wichtige Elemente dieser Veränderungen waren die ideologische und politische Überbetonung der sozialen Gleichheit und das propagandistische Versprechen, die Ungleichheiten schnell zu beheben. Die kommunistischen Politiker – von ­Mátyás Rákosi über ­Klement Gottwald bis Bolesław Bierut –, die in Ungarn und Mittel­osteuropa an die Macht gelangt waren, betonten allesamt, die sozia­ len Ungleichheiten würden sich bereits mit der „Fundamentierung des Sozialismus“ bedeutend verringern, dann während des Aufbaus des „entwickelten Sozialismus“ nach und nach erlöschen, und bei der Verwirklichung des Kommunismus ­würden die Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den einzelnen Menschen und Menschengruppen vollkommen verschwinden.

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Eine ausgezeichnete Zusammenfassung zu dem Problemkreis bietet Tomasz Inglot, ­Welfare States in East Central Europe, 1919–2004, Cambridge 2008. Zur Zusammenfassung des historischen Wandels in Mittelosteuropa vgl. Anne Appel­ baum, Iron curtain: The crushing of eastern Europe, 1944–1956, New York 2012.

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Während der Epoche, in der das staatssozialistische System ausgebaut wurde, oder wie János Kornai formuliert, das „klassische sozialistische System“,5 ist ein Prozess der Proletarisierung zu beobachten. Dies resultierte aus der Veränderung der Eigentumsverhältnisse, das staatliche Eigentum wurde zum bestimmenden Faktor, es fand eine ideologisch, politisch motivierte Umgruppierung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen statt, die Einkommen wurden auf einem niedrigen Niveau gehalten und nivelliert. Ein Großteil der Arbeiter in Großbetrieben erlebte es als Statusverlust und das Ende der sozialen Sicherheit, dass man die früheren sozialen Zuwendungen aus der Zeit vor der Verstaatlichung (beispielsweise die niedrige Miete von Betriebswohnungen, Zuteilung von kostenlosem Heizmaterial, kostenloser Strom) nach und nach senkte und schließlich ganz strich, der Realwert ihres Arbeitslohns sank und die Hilfsvereine aufgelöst wurden. Sie mussten erkennen, dass sie in den Anfangsjahren des Staatssozialismus entgegen den offiziellen Behauptungen in einer größeren Unsicherheit und schlechter lebten als in der Marktwirtschaft vor dem Zweiten Weltkrieg. Zu sehen ist auch, dass sich die Lebensumstände und -aussichten der mehreren Hunderttausend Menschen, die in vererbter Armut und absoluter Armut lebten, nicht wesentlich veränderten, ihre Situation aufgrund der Verstaatlichung und des Abbaus des Versorgungssystems sogar noch aussichtsloser wurde. Während zwischen 1945 und 1949 55 bis 60 Prozent der ungarischen Bevölkerung am Existenzminimum oder darunter lebte, stieg dieser Anteil zwischen 1950 und 1956 auf 65 bis 75 Prozent6 und sank erst Ende der 1960er-Jahre unter 50 Prozent. An sich zeigt auch dies die deutliche Diskrepanz zwischen offiziellem Diskurs und gesellschaftlicher Alltagserfahrung sowie dem diesbezüglichen Privatdiskurs, wobei auf lange Sicht ein vollkommenes Auseinanderdriften der beiden Diskurse zu beobachten ist. Das System der selektiven und diskriminierenden Redistribution, die gewaltsam erwirkten und massenhaften Veränderungen des sozialen Status, der totale Einkommensentzug, welcher der einseitigen Entwicklung der Schwerindustrie diente, die maßlose Ausbeutung der Humanressourcen und materiellen Quellen verschlechterten die soziale Lage in bedeutendem Maße. Auf der anderen Seite aber zeigte die Ausnahmesitua­tion und Begünstigung der führenden Kader, die wichtige Positionen bekleideten, deutlich die Neuentstehung und den Zuwachs an Ungleichheiten. Die P ­ olitik verwendete in dieser Periode als Legitimationsinstrument die ideologischen Schablonen, die

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János Kornai bezeichnete die Periode zwischen 1948 und 1968 in Bezug auf Ungarn so, als die Institutionen und Funktionsmechanismen des staatssozialistischen Systems im Rahmen des Einparteiensystems, das eine streng zentralisierte Planwirtschaft und eine totale Machtposition bedeutete, entstanden und sich stabilisierten. Die Zeit von 1968 bis zur Wende verstand er als die Periode des „Marktsozialismus“. Siehe János Kornai, Négy jellegzetesség – a magyar fejlödés politikai gazdaságtani megközelítésben I–II. In: Közgazdasági Szemle, 42 (1995) 12, S. 1097–1117; Közgazdasági Szemle, 43 (1996) 1, S. 1–29. Zsuzsa Ferge, Fejezetek a magyar szegénypolitika történetéböl, Budapest 1986.

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Propaganda und den Gewaltapparat7 und nicht die Sozial­politik, schon allein deshalb, weil diese – vorübergehend – im Wesentlichen gar nicht existierte. (Auf die Veränderungen des Institutionensystems wird später noch eingegangen.) Nach der Revolution von 1956 veränderte sich die Lage im Grunde genommen noch nicht. Die Bedeutung der sozialen Fragen gewann nur insofern an Wert, dass die Regierung Kádár nach der Niederschlagung der Revolution, neben den mit brutaler Gewalt durchgeführten Repressalien, auch kleinere Zugeständnisse machte – wie beispielsweise Lohnerhöhungen in der Industrie –, um einer erneuten Zuspitzung der gesellschaftlichen Spannungen vorzubeugen. So nutzte sie die Ausweitung der Kranken- und Rentenversicherung auf eine ganz eigene Weise als Legitimations- und Motivationsinstrument bei der Kollektivierungskampagne zwischen 1958 und 1961, als der Beitritt zu den Produktionsgenossenschaften automatisch auch eine kostenlose Kranken- und Rentenversorgung für die Privatbauern bedeutete, die zuvor nicht versichert gewesen waren. Für die älteren Bauern, die zuvor keine Möglichkeit zu einer Altersversorgung gehabt hatten, wurde somit eine Rente zugänglich, die trotz der geringen Summe doch ein regelmäßiges Einkommen und damit eine Art von Existenzsicherheit bedeutete. Gleichzeitig blieb bis zur Mitte der 1970er-Jahre die Diskriminierung derjenigen Personen bestehen, die ihr Einkommen im ­Privatsektor verdienten und für die eine Rentenberechtigung praktisch gar nicht, eine Gesundheitsversorgung aber auch nur auf eigene Kosten zur Verfügung stand. In den offiziellen Diskursen der Kádár-Ära war keine Rede von Armut, Obdachlosigkeit oder Arbeitslosigkeit, wenn vereinzelt aber doch, dann wurden diese Menschen als Vagabunden, Arbeitsscheue oder als der sozialistischen Gesellschaft fremde, asoziale Elemente dargestellt, die faul waren und die die Möglichkeiten, die das sozialistische System ihnen bot, nicht nutzen konnten bzw. wollten. Diese sozialen Phänomene betrachtete man schlichtweg als nicht existent, und ihre einzelnen Erscheinungsformen – wie beispielsweise die Arbeitslosigkeit oder das Betteln – wurden kriminalisiert und bestraft. Daneben erschienen auf lokaler Ebene ab Mitte der 1960er-Jahre erneut die sozialpoli­ tischen Fragen, die auf eine Lösung warteten: Während man Entscheidungen darüber fällen musste, wer zu einem kostenlosen Mittagessen berechtigt war oder eine Bedürftigkeitsbescheinigung erhielt, waren die Bettler und die sogenannten streunenden Personen gleichzeitig regelmäßigen Behelligungen durch die ­Polizei ausgesetzt. Das heißt, das System von Retorsion/­Repressalie und ­Beihilfe funktionierte parallel. Die historischen Analysen,8 die sich mit den

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Wie das politische System Ungarns zwischen 1948 und 1956 funktionierte, hat György Gyarmati in seiner Monografie aufgearbeitet. Siehe György Gyarmati, A Rákosi-korszak – a rendszerváltó fordulatok évtizede Magyarországon 1945–1956, Budapest 2013. Vgl. u. a. Sándor Horváth, A társadalmi gondoskodás városi gyakorlata: szociálpolitika Szombathelyen 1950–1973. In: Tibor Valuch (Hg.), Tanulmányok Szombathely törté­ netéröl 1945–1990, Szombathely 2010, S. 233–248; Sándor Horváth, Két emelet bol­ dog­ság. Mindennapi szociálpolitika Budapesten a Kádár-korban, Budapest 2012.

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s­ ozialen ­Fragen der Kádár-Ära beschäftigen, befassen sich ausführlich mit dieser Zwiespältigkeit. Mit der Arbeitslosigkeit verhielt es sich gewissermaßen ähnlich. Die kommunistischen Staaten Mittelosteuropas, darunter auch Ungarn, strebten danach, eine Vollbeschäftigung zu schaffen und aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne führten sie den allgemeinen Arbeitszwang ein, und wer keinen Arbeitsplatz hatte, der wurde in der ungarischen Praxis als „gemeingefährlicher ­Arbeitsscheuer“ zu einer Strafe von sechs bis zwölf Monaten in einem Besserungs- und Erziehungslager, das hieß Arbeitslager, verurteilt.9 Zwischen 1948 und 1968 war im Zeichen der Wirtschaftspolitik, die auf der Einbeziehung externer Ressourcen basierte, auch ein kontinuierlicher und schneller Anstieg der Zahl an weiblichen Beschäftigten zu beobachten, und dies erforderte neue Kapazitäten in der Kinderversorgung (Kinderkrippen, Kindergärten). Selbstverständlich wurde das in den offiziellen Diskursen als eine Errungenschaft des Sozialismus verbucht. Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre, als die Zahl der aktiven Verdiener (5 Millionen Personen) in Ungarn fast die Hälfte der Bevölkerung erreichte, stellte sich auch heraus, dass eine hohe Überbeschäftigung entstanden war. Ein Fünftel der aktiven Verdiener hatte im Grunde nur deshalb einen Arbeitsplatz, damit sie nicht als arbeitslos galten und man nicht zugeben musste, dass eine Vollbeschäftigung auch in den Rahmen der Planwirtschaft nicht funktionierte. Nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern, die sich Anfang der 1980er-Jahre mit dieser Frage beschäftigten, betrug die Zahl der latenten Arbeitslosen schätzungsweise mindestens 400 000 bis 500 000 Personen. Obdachlosigkeit existierte für das staatssozialistische System nicht, jedoch sammelte man bei den Volkszählungen Angaben zu den Personen, die in Notunterkünften oder Räumlichkeiten, die nicht dem Zweck einer Wohnung dienten, lebten. Als 1961 eine Erhebung zu den Elendsvierteln in Ungarn gemacht wurde, registrierte man in 197 Siedlungen dieser Art 205 000 Personen, 1980 zählte man mehr als 200 000 Personen, die nicht in Wohnungen, sondern in anderen Unterkünften – Höhlenwohnungen, Buden, Baracken – wohnten, das heißt, die im Grunde obdachlos waren. Von den Indexzahlen, welche die sozialen Verhältnisse und Ungleichheiten anzeigten, waren die Angaben zum Existenzminimum ebenfalls nicht publik. Rechnungen und Erhebungen zum Existenzminimum wurden zwar von Zeit zu Zeit erstellt, jedoch erst 1982 das erste Mal veröffentlicht. Nach einer geheim gehaltenen Erhebung aus dem Jahr 1967 lebte zu jener Zeit jeder dritte Ungar an der Existenzgrenze. Es ist zweifelsohne eine Tatsache, dass im Ungarn der staatssozialistischen Epoche, in der Zeit zwischen Mitte der 1960er-Jahre und Ende der 1970er-Jahre, die Zahl derjenigen, die in relativer und absoluter

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Als eine ähnliche Straftat galt es, wenn man zu spät zur Arbeit kam oder unentschuldigt fehlte bzw. den Arbeitsplatz eigenmächtig verließ. Vgl. Tamás Gyekiczky, A munka­ fegyelem jogi szabályozásának társadalmi háttere az 1952-es év Magyarországán, Buda­ pest 1986.

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­ rmut lebten, stark gesunken ist, doch weder die Armut noch die tiefe Armut A waren aus der Welt geschafft, vielmehr erhöhte sich die Zahl der Betroffenen im letzten Jahrzehnt der Kádár-Ära erneut in bedeutendem Maße. Untersucht man die Ungleichheiten, so erkennt man, dass die Einkommensunterschiede zwischen den Personen mit den höchsten und jenen mit den niedrigsten Einkommen während des sogenannten Gulaschkommunismus kontinuierlich zunahmen. Dies betrug Anfang der 1960er-Jahre noch das Zweieinhalbfache, Anfang der 1980er-Jahre aber schon das Fünfeinhalbfache. Für den Durchschnittsungarn dieser Zeit war dieser Umstand im Alltag trotz der all­ gemeinen Verbesserung der Lebensumstände deutlich spürbar. Doch auch das passte nicht in die fortwährende Entwicklung des staatssozialistischen Systems – in das ideologische Selbstbild vom Rückgang der gesellschaftlichen Unterschiede. Zum anderen bekräftigte die Erweiterung des Kreises jener Personen, die zu einer sozialen Versorgung berechtigt waren, dem gesetzlichen Anspruch auf eine Renten- und Gesundheitsversorgung 1975, schon an sich jene Legitimation des Systems, die die soziale Fürsorge nun bereits als das Instrument nutzte, welches die Funktionsfähigkeit, den Erfolg und den Entwicklungsstand des Staatssozialismus ausdrückte. Der Optimismus, der im offiziellen Diskurs propagiert wurde, und die Alltagserfahrung der ungarischen Durchschnittsbevölkerung deckten sich weder in der Rákosi-Ära noch in der konsolidierten Zeit unter der Regierung Kádár, jedoch wurde die Diskrepanz ab Anfang der 1980er-Jahre, dem Beginn der Wirtschaftskrise, noch offensichtlicher.

Das Versorgungssystem und die Berechtigung im ungarischen ­Staatssozialismus In der Zwischenkriegszeit gab es in Ungarn – im Vergleich zu den damaligen Verhältnissen – ein mehr oder weniger gut organisiertes Sozial- und Versicherungssystem,10 dessen Dienstleistungsniveau keineswegs hinter dem europäischen Durchschnitt zurückstand. Alle Sozialversicherungsanstalten, ­ die in Ungarn existierten, arbeiteten in Form von Selbstverwaltungen. Drei Viertel ihrer Mitglieder delegierten die Arbeitnehmer, ein Viertel hingegen die Arbeitgeber. Dieses System bestand bis zum Jahr 1950. Laut der Programmerklärung, die im Frühjahr 1948 beim Gründungskongress der Partei der Ungarischen Werktätigen (Magyar Dolgozók Pártja, MDP)11 veröffentlicht wurde, „setzt sich die Partei dafür ein, dass die Gewerkschaften bei der Leitung der 10 Ausführlich dazu Gábor Gyáni, Magyarország társadalomtörténete a reformkortól a má­ sodik világháborúig, Budapest 1998, S. 317–331, und Béla Tomka, Szociálpolitika a 20. századi Magyarországon Európai perspektívában, Budapest 2003. 11 Das wurde der Name der Kommunistischen Partei, nachdem die Ungarische Kommu­ nistische Partei mit der Sozialistischen Partei verschmolzen war. Vgl. György Gyarmati, A Rákosi-korszak – a rendszerváltó fordulatok évtizede Magyarországon 1945–1956, Budapest, 2013.

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sozialpolitischen Einrichtungen bedeutend an Einfluss gewinnen“.12 Dies projizierte bereits die Richtung der späteren Veränderungen, das Ende der Autonomie im Sozial­bereich und seine formelle Unterordnung unter gewerkschaftliche Aufsicht. Zwischen Oktober 1948 und September 1950 wurden alle Versicherungsanstalten, Hilfsvereine und eigenständigen Fonds aufgelöst, ihre Aufgaben und Institutionen übernahmen im Oktober 1950 die Gewerkschaften, die ihre Selbstständigkeit verloren hatten. Die Betriebsordnung der staatlichen Sozialversicherung regelte die gesetzliche Verordnung Nr. 36 des Jahres 1950.13 Laut Gesetz war der Landesrat der Gewerkschaften für die Leitung der Sozialversicherung zuständig, die Aufsicht übte der Ministerrat aus. Nach den Jahren, in denen diese Wende erfolgte, hatte das sozialistische Regime also nicht nur die eigenständige Sozialpolitik, sondern auch ihr Institutionensystem verstaatlicht, die Fragen der sozialen Versorgung betrachtete man als ein Unterkapitel der Sozialpolitik. Man ging davon aus, dass es im Sozialismus keinen Bedarf an einer eigenständigen Sozialpolitik gäbe, denn jedes Element der Politik trage ohnehin soziale Züge. In diesem Sinne wurde 1950 auch das Ministerium für Volkswohlfahrt aufgelöst. Nach derselben Logik liquidierte man die karitativen kirchlichen und gesellschaftlichen Organisationen, Vereine und Stiftungen, denn die Form der Selbstverwaltung, die Existenz autonomer ziviler Organisationen standen im Gegensatz zum omnipotenten Staat, den das „klassische sozialistische System“ kennzeichnete, und zu dessen paternalistischem Geist. Eine Mäßigung der Ungleichheiten wollte man so erwirken, dass ein Teil der sozialen Zuwendungen in die Löhne eingebaut wurde. Die den ­aktuellen wirtschaftspolitischen Interessen untergeordnete Sozialpolitik erschöpfte sich im Wesentlichen in der Sozialversicherung, die der staatlichen Verwaltung unterstellt worden war, und dem Arbeitsschutz. Bei der Festlegung der Quellen, die für soziale Zwecke aufgewendet werden konnten, kam das Restprinzip zur Geltung, eine Ausnahme bildeten allein jene sozialen Fragen, die eng mit der Wirtschaft verknüpft waren – beispielsweise der Ausbau des institutionellen Netzes in der Kinderversorgung, damit die Frauen schneller an ihre Arbeitsplätze zurückkehren konnten. Zuwendungen aus der Sozialversicherung erhielten lange Zeit nur jene Werktätigen, die im staatlichen oder genossenschaftlichen Sektor arbeiteten, im Privatsektor Beschäftigte nicht.14 Die einzelnen Elemente der Sozialversorgung dienten zudem auf eigenartige Weise der Stabilisierung der Arbeitsdisziplin, so gab es beispielsweise in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre – aber auch später – Kampagnen gegen Krankengeldbetrug, die häufig mit einer Disziplinarmaßnahme oder der Nichtauszahlung des ­Krankengeldes einhergingen. 1953 wurde die Landesrentenanstalt gegründet, deren Aufgabe die Auszahlung der Renten, der Altersbeihilfe, Waisen- und Witwenrenten sowie des Kindergeldes war. 1964 trat die Rentendirektion des Landesrates der G ­ ewerkschaften 12 Ebd. 13 Bodó Pálné (Hg.), A társadalombiztosítás négy évtizede 1945–1985, Budapest 1985. 14 Vgl. Júlia Szalai, Uraim! A jogaimért jöttem!, Budapest 1998.

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im Grunde genommen mit unverändertem Kompetenzbereich an ihre Stelle. Das Institutionensystem änderte sich in der Zeit der Konsolidation während der Kádár-Ära eigentlich kaum mehr. Eine kleinere und eher formelle Veränderung bedeutete die gesetzliche Verordnung von 1984, laut der die Leitung der Sozialversicherung Pflicht des Staates sei. Zur obersten Körperschaft wurde der Landesrat der Sozialversicherung (Országos Társadalombiztosítási Tanács, OTT) ins Leben gerufen, bestehend aus 45 Personen, Gewerkschaftsführern und Regierungsbeamten. Die Landeshauptdirektion der Sozialversicherung war verpflichtet, nicht nur der Regierung, sondern auch dem Landesrat der Sozialversicherung Rechenschaft über seine Arbeit abzulegen. Während der Kádár-Ära gestaltete sich die Dynamik bei der Zunahme der Zahl der Versorgten und der Erweiterung des Förderungssystems unterschiedlich. Die Ausweitung der Versorgung diente dem sozialistischen Staat stets als Legitimationsargument. In den Jahren vor der kommunistischen Macht­übernahme hatte in Ungarn ein Viertel der aktiven Verdiener eine Krankenversicherung und ein Drittel eine Rentenversicherung, zusammen mit den Fami­lienmitgliedern waren vier Millionen Menschen zu einer Versorgung irgendeiner Art berechtigt, die Mehrzahl der Versicherten waren Arbeiter und Angestellte — den Großteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten hatte das Versicherungssystem noch nicht erreicht. 1950 betrug die Zahl derjenigen, die zur Sozialversicherung berechtigt waren, 4,4 Millionen. Nach Abschluss der Kollektivierung, das heißt ab Anfang der 1960er-Jahre, wurden auch die Mitglieder der Produktionsgenossenschaften versichert, dies bedeutete, dass zum Ende des Jahrzehnts bereits nahezu vier Fünftel der damaligen ungarischen Bevölkerung sozialversichert waren. Die komplizierte Regelung der Berechtigung vereinheitlichte das Sozialversicherungsgesetz aus dem Jahr 1975. Damit wurden beim Rentenanspruch die Unterschiede zwischen Personen, die in der Landwirtschaft beschäftigt waren, Arbeitern und Angestellten aufgehoben. Die Männer konnten nach dem 60. Lebensjahr, die Frauen hingegen im Alter von 55 Jahren in den Ruhestand gehen, insofern sie den Voraussetzungen zu einer Berechtigung entsprachen. Erfüllten sie diese nicht, so war es möglich, eine zeitweilige oder regelmäßige Altersbeihilfe zu beantragen. Die Höhe der Rente wurde nach den Arbeitsjahren und dem Durchschnittsverdienst der letzten fünf Jahre berechnet. Aus dem Charakter des Systems von Aufteilung und Bemessung erfolgte, dass die von den Arbeitgebern eingezahlten Beiträge im Durchschnitt nur ein Drittel der Renten decken konnten, die fehlenden zwei Drittel garantierte der Staatshaushalt. 1975 wurde auch die kostenlose Gesundheitsversorgung zum staatsbürgerlichen Recht erklärt. Die Versicherung blieb in Abhängigkeit zum Arbeitsverhältnis, zur Deckung der Kosten zahlten die Arbeitgeber einen ­Sozialversicherungsbeitrag von 30 Prozent, die Beitragslasten der Arbeitnehmer blieben bis 1989/90 im Wesentlichen unverändert. Eine wichtige Veränderung in der Versorgung bedeutete die Einführung der zweijährigen Beihilfe zur Kinderpflege (Gyermekgondozási Segély, GYES) im Jahr 1967, die auch bevölkerungspolitische Zwecke verfolgte. Auf die Beihilfe zur Kinderpflege hatte man einen gesetzlichen Anspruch, und sie stand auch

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Studenten zu. 1985 fand eine Erhöhung des einmaligen Mutterschaftsgeldes statt, von da an wurde die Zuwendung zur Kinderpflege (Gyermekgondozási Díj, GYED), die jedoch nur bis zum Alter von einem Jahr in Anspruch genommen werden konnte, Teil der Sozialversorgung. Die Summe des Kindergeldes stieg zwischen 1960 und 1987 auf das Siebenfache an, dennoch deckte sie nur einen kleinen Anteil der Erziehungskosten. Ab 1979 ergänzte man die Renten mit Einkommenszuschüssen, um die beschleunigte Inflation auszugleichen. Der Anteil an Sozialausgaben erhöhte sich im Etat des Landes nahezu fortlaufend, doch genügte dieser Anstieg meist nicht einmal, um den Realwert der Zuwendungen zu bewahren. Zum Jahr 1960 überstieg der Anteil an sozialpolitischen Ausgaben 10 Prozent des jährlichen Nationaleinkommens, 1980 wurden bereits 18 Prozent zu diesem Zweck aufgewendet. Ein Großteil dieses Zuwachses ergab sich aus der Erweiterung der Verpflichtungen in der Rentenversorgung und den Kosten für die Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig stieg auch der Anteil an sozialen Zuwendungen im Einkommen der Bevölkerung von einem Niveau um 20 Prozent im Jahr 1960 innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten auf 33 Pro­ ealwert zent. Ab Ende der 1970er-Jahre, Anfang der 1980er-Jahre wurde der R der sozialen Zuwendungen durch die fortschreitende Wirtschaftskrise ebenso kontinuierlich geringer wie die Rolle der öffentlichen Finanzierung in einzelnen Bereichen, so etwa im Wohnungsbau.

Die speziellen Merkmale des Wohlstandes und der sozialen ­Sicherheit im ungarischen Staatssozialismus Selbstverständlich kann man in den anderthalb Jahrzehnten nach Kriegsende weder von Wohlstand noch von sozialer Sicherheit sprechen. Zwischen 1945 und 1949 in erster Linie wegen der Zerstörungen durch den Krieg und des ausbleibenden Wirtschaftswunders. Obwohl der Wiederaufbau relativ rasch vonstatten ging und sich in den Jahren 1948/49 die wichtigeren Indizes der ungarischen Wirtschaft dem Niveau der Vorkriegszeit näherten, warfen das Ende der Marktwirtschaft und die Einführung der Planwirtschaft das ungarische Wirtschaftswachstum zurück. Der Staatssozialismus brachte eine Modernisierung mit sich, die eine schlechte Struktur aufwies und sich auf die Schwer­industrie konzentrierte. Zudem beeinträchtigte die Kriegswirtschaft und der Abbau des sozialen Versorgungssystems die Lage zu Beginn der 1950er-Jahre negativ. All dies drängte die Propaganda des staatssozialistischen Regimes für eine Weile in den Hintergrund, laut der die Gemeinschaft am wichtigsten sei, sich das Indivi­ duum der Gemeinschaft unterzuordnen habe und jeder Bürger Opfer für eine schönere Zukunft und den Sieg des Kommunismus erbringen müsse. In Wirklichkeit war für die Ära Rákosi eine eigenartige „soziale Gewalt“ kennzeichnend, sowohl in der Sozial- als auch der Bevölkerungspolitik und der Einkommenspolitik. Man versuchte alles zu legitimieren, indem man den ­Glauben an die Zukunft bestärkte und dem zentralen Willen auch mit Gewalt Geltung verschaffte.

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Nach 1956 bedeutete jene Modifizierung die wichtigste partielle Richtungsänderung in der Wirtschaftspolitik, in deren Zeichen die Produktion der grundlegendsten Konsumgüter nach und nach eine größere Priorität genoss. Diese spezielle Konsumorientierung, die sich damals entfaltete, blieb sowohl vonseiten der Macht als auch der Gesellschaft bis zur Zeit der Wende 1989/90 bestehen. Bei alldem spielte es eine wichtige Rolle, dass der Preis der wichtigsten Konsumgüter – Lebensmittel, Wohnung, Energie – aus sozialen und politischen Überlegungen heraus auch in Ungarn zentral festgesetzt und künstlich niedrig gehalten wurde. Das System der staatlichen Preisstützungen verringerte, außer dass es sich langfristig als unhaltbar erwies – in Ungarn begann schon ab dem Ende der 1970er-Jahre der Abbau der Dotationen –, die sozialen Ungleichheiten nicht, sondern ließ sie größer werden. Denn der Preis für Brot, Milch oder Zucker sowie die Miete war für alle gleichermaßen niedrig, unabhängig davon, wie hoch das Einkommen war, was für die Personen, die über ein höheres Ein­ nstieg kommen verfügten, einen Vorteil bedeutete. Somit trug (auch) dies zum A der sozialen Ungleichheiten bei. Auch wenn es nicht unmittelbar zu den sozialpolitischen Fragen gehört, s­ ollte erwähnt werden, dass es in der Kádár-Ära stets die Möglichkeit gab, sich legal, halblegal oder auch illegal ein zusätzliches Einkommen zu verdienen, das für einen Großteil der Haushalte den steigenden Konsumbedarf deckte – dieser Umstand ist ein Grund dafür, warum das damalige Ungarn auch als das System des „Gulaschkommunismus“ bezeichnet wurde. Selbstverständlich waren dazu auch die Stabilisierung und stufenweise Erweiterung der Warenversorgung notwendig, was das ungarische kommunistische Regime mehr oder weniger erfolgreich garantierte. Dies aufrechtzuerhalten war ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Legitimation des Systems, vielleicht sogar wichtiger als die Frage der sozialen Versorgung, denn diese war ab 1975 gesetzlich für alle ungarischen Staatsbürger zugänglich, die über ein Arbeitsverhältnis verfügten. Ihr niedriges Niveau wurde mit den Möglichkeiten eines zusätzlichen Einkommens und des Konsums kompensiert. Natürlich muss dabei angemerkt werden, dass die zusätzliche Einkommensbeschaffung durchaus auch ein Zwang war, denn eine vierköpfige Familie mit zwei Verdienern konnte von ihrem Einkommen aus dem Hauptberuf nur auf einem Niveau leben, das knapp über dem Existenzminimum lag. Um an eine Wohnung zu gelangen, bedurfte es ebenfalls großer privater Kraftanstrengungen. Im Jahr 1952 verstaatlichte man die Wohnungen, die den berechtigten Anspruch (bei einer vierköpfigen Familie eine Zweizimmerwohnung) überstiegen, sowie die Mietshäuser in Privatbesitz, was in erster Linie die Wohnungsverhältnisse in den Städten grundlegend änderte, da die Verstaatlichung den Wohnungsbestand auf dem Land in der überwiegenden Mehrzahl nicht betraf. Eine Wohnung wurde somit ebenfalls zu einer Art sozialer Zuwendung, die unter Berücksichtigung des Bedürftigkeitsprinzips zugeteilt werden sollte; doch die primär Begünstigten des staatlichen Wohnungsbaus waren, aufgrund der Eigenheiten des Verteilungsprinzips, in erster Linie nicht die Notleidenden, sondern jene, die über ein höheres Einkommen verfügten. Zu einem

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festen Bestandteil des Systems der Wohnungszuteilung, das weder nach dem Marktprinzip noch nach rein sozialen Richtlinien funktionierte, wurde zudem die Korruption. Viele versuchten Mitarbeiter der Wohnungsbehörde zu bestechen und so an eine vordere Position auf der Warteliste zu gelangen. Stabilität, Sicherheit, steigender Wohlstand sind der „Fürsorge unserer Partei und unseres Staates“ zu verdanken. Dies waren die Elemente, auf denen die Legitimationspraxis der Politik in der Kádár-Ära aufbaute. Und das relativ erfolgreich, bis Ende der 1970er-Jahre, Anfang der 1980er-Jahre deutlich wurde, dass die Praxis, die auf einer spürbaren und kontinuierlichen Steigerung der Realeinkommen und des Lebensniveaus aufbaute, teils aufgrund der niedrigen Effektivität der staatssozialistischen Wirtschaft, teils wegen der schlechten Antworten, welche auf die Herausforderungen der Ölkrise in den 1970er-Jahren gegeben wurden, nicht fortzusetzen war. Die oben erwähnte Argumentation wurde in der ungarischen Innenpolitik auch zu Beginn der 1980er-Jahre noch verwendet. Zur Zeit der polnischen Krise 1980/81 und danach hieß es in der Propaganda, dass der Sozialismus in Ungarn erfolgreich sei, daher wäre die Unterstützung des Systems groß, die innenpolitische Lage stabil, und auch wenn es Schwierigkeiten gäbe, so könnten diese mit gemeinsamer Kraftanstrengung gelöst werden, denn die Ungarn seien überlegt und fleißig. Demgegenüber würden die Polen nicht arbeiten, nur „Geschäfte machen“, das wäre der Grund für ihre Probleme. Der ungarische Wohlstand war – selbst wenn verhüllt – auch ein Argument für den Erfolg des ungarischen Staatssozialismus gegenüber der Situation Rumäniens unter Ceau­şescu. „Bei den Rumänen bekommt man nichts, bei uns aber sind die Läden voll“ – hieß es in der damaligen ungarischen Propaganda.15 Eine Besonderheit des ungarischen Staatssozialismus war des Weiteren, dass das System aufgrund seines Charakters die selbstorganisierenden karitativen Institutionen systematisch behinderte. In Ungarn gründeten oppositionelle Aktivisten und Intellektuelle Anfang der 1980er-Jahre den Fonds zur Unterstützung Armer (Szegényeket Támogató Alap, SZETA), der mit Sammlungen, Auktionen und Ausstellungen beabsichtigte, zielgerichtet die Bedürftigsten zu unterstützen, doch versuchte die politische Polizei diese Hilfsaktionen zu verhindern. Die kommunistische Führung Ungarns verfolgte Initiativen dieser Art deshalb, weil sie die Effektivität der sozialen Versorgung infrage stellten und auf den ­Unterschied zwischen der Legitimationspraxis nach dem Motto „der Sozialismus garantiert Wohlstand und Fortschritt“ und der Realität des Alltags ­aufmerksam machten. In Kenntnis all dessen kann man also keineswegs von einer hohen sozialen Sensibilität des ungarischen staatssozialistischen Regimes sprechen, und es wäre auch gewissermaßen übertrieben, von der Existenz eines speziell ungarischen Wohlfahrtsstaates auszugehen. Nach Ansicht von Béla Tomka, einem

15 Vgl. die damaligen Zeitungen, z. B. Népszabadság, 1985–1986.

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anerkannten Experten in dieser Frage,16 könnte die Variante des ungarischen ­kommunistischen Systems während der Kádár-Ära zwar als eine spezielle Art des Wohlfahrtsstaates beschrieben werden, doch fügt er hinzu, nicht im klassischen westeuropäischen Sinne. Seine These untermauert er mit der Argumentation, dass die Versorgung in der Sozialversicherung und im Gesundheitswesen im Kádár-Regime im Grunde zum staatsbürgerlichen Recht wurde und der Anteil der dafür aufgewendeten Summen einen zunehmend höheren Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts ausmachte, was zweifelsohne der Wahrheit entspricht. Allerdings bin ich im Gegensatz zu Béla Tomka der Meinung, dass man die ungarische Variante nur sehr eingeschränkt als Wohlfahrtsstaat deuten kann. Untersucht man die Aspekte des Institutionensystems und der Abdeckung, dann muss man ihm unter dem Gesichtspunkt des Ausbaus der Institutionen und der Berechtigung zustimmen, betrachtet man allerdings Niveau und Qualität der Versorgung, den geringen Wert und das niedrige Niveau der Zuwendungen sowie einzelne soziale Fragen – wie den Umgang mit Armut oder Obdachlosigkeit –, dann keineswegs. Auch darf man nicht vergessen: Der Krankenversicherung wurde ihr Versicherungscharakter genommen und zu einer staatlichen Dienstleistung erhoben. Damit war die Grundversorgung zwar allgemein zugänglich, doch parallel dazu wurde das System der Finanzierung undurchschaubar und die Korruption bis zum heutigen Tage ein unauslöschlicher Teil des Gesundheitswesens. Jeder, der es sich erlauben konnte, versuchte für sich selbst eine bessere Versorgung zu erreichen, indem er persönliche Beziehungen spielen ließ und den Ärzten und Pflegern als Bestechung ein – wie man Ungarisch sagt – „Dankesgeld“ zahlte. Dass es sich bei dem System um einen Wohlfahrtsstaat handelte, ist auch durch die niedrige Durchschnittsrente infrage gestellt, die für viele nur ein Leben unter dem Existenzminimum ermöglichte. Der Substitutionsanteil der Renten betrug 1982 in Relation zum Einkommen vor dem Ruhestand 52 Prozent, was in Mittelosteuropa, beispielsweise verglichen mit den Prozentsätzen von 30 Prozent in der DDR und 45 Prozent in der Tschechoslowakei, als relativ hoch galt.17 Die langfristige Nachhaltigkeit des ungarischen Systems von Sozial- und Krankenversicherung, wie es sich zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte, wurde zudem durch die Leistung der ungarischen Planwirtschaft, die auch Marktelemente beinhaltete, nicht untermauert. Somit kann man, um einen Ausdruck von János Kornai zu verwenden, höchstens von dem Experiment e­ ines frühgeborenen Wohlfahrtsstaates sprechen.

16 Vgl. Tomka, Szociálpolitika. 17 Tomka, A Social History.

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Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Systemen in Ungarn und anderen Ländern Mittelosteuropas Obwohl in den mittelosteuropäischen Ländern, die zur Jahreswende 1949/50 in die sowjetische Einflusszone gelangt waren, mehr oder weniger gleiche politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Systeme auf der ideologischen Basis des Marxismus-Leninismus entstanden waren, sind auch Abweichungen unterschiedlichen Ausmaßes im Aufbau und der Funktion zu beobachten.18 Ähnlich verhielt es sich im Bereich der Sozialpolitik.19 Sowohl in Ungarn als auch in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR wurde die Rolle des Staates determinierend, die Privatinitiativen verschwanden oder wurden in den Hintergrund gedrängt, die sozialen Fachpolitiken hingegen wurden in weiterem Sinne Teil der Sozialpolitik. Ebenso erlosch die Möglichkeit der demokratischen Kontrolle in den Systemen der Sozialversicherung. Einen Unterschied gab es allerdings in der Regelung der sozialen und karitativen Tätigkeiten der Kirchen: Während in Ungarn der kommunistische Staat die Kirchen unter totale Kontrolle stellte und die überwiegende Mehrzahl ihrer sozialen Einrichtungen auflöste, bewahrte sich beispielsweise die traditionell starke katholische Kirche in Polen auch in diesem Bereich einen sehr viel größeren Spielraum. Eine ungarische Eigenheit war es, die Sozialversicherung dem Zuständigkeitsbereich der Gewerkschaften zu unterstellen, in den anderen drei Ländern beauftragte man staatliche Zentren mit diesen Aufgaben. In Polen und der Tschechoslowakei behielt man sogar das Institutionensystem der Sozialversicherung aus der Vorkriegszeit bei. Ein gemeinsamer Zug war „in Mittelosteuropa das relativ hohe Niveau der Familienförderung und zugleich das vollkommene Fehlen von Ausgaben zur Arbeitslosenversorgung“.20 Weiterhin, dass der Anschein der staatlichen Fürsorge bewusst geweckt und aufrechterhalten wurde und man parallel dazu die Selbstfürsorge in den Hintergrund drängte, den ­Paternalismus aber in den Vordergrund stellte. In allen Ländern Mittelosteuropas war die Preisstützung als eine Art von speziellem sozialem Transfer die Praxis. Wenn diese abgeändert oder abgebaut wurde, kam es häufig zu ­politischen Konflikten, die markantesten Beispiele dafür waren 1970, 1976 und 1980 in Polen zu beobachten. „Die Preisstützungen gingen in den kommunistischen Ländern mit ­großen Haushaltsausgaben einher. So überschritten beispielsweise in den 1980er-Jahren die zu diesem Zweck aufgewendeten Summen in der DDR sogar die Ausgaben der

18 Vgl. János Kornai, Mit jelent a „rendszerváltás“? Kísérlet a fogalom tisztázására. In: Közgazdasági Szemle von April 2007, S. 303–321. 19 Vgl. Inglot, Welfare States. 20 Im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit ist anzumerken, dass die Aufrechterhaltung der sogenannten latenten Arbeitslosigkeit im Interesse der Vollbeschäftigung eine ernst­ hafte materielle Aufwendung erforderte, mit der Arbeitskräfte von geringer Produktivität im Beschäftigungssystem behalten wurden.

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­ ozialversicherung.“21 In Ungarn wurde die ­Preisstützung ­bereits nach der WirtS schaftsreform von 1968 etwas gemäßigt, doch erst zur Wende von den1970er- zu den 1980er-Jahren systematisch abgebaut. Ein wichtiger gemeinsamer Zug war in diesen Ländern die Beteiligung der Arbeitsplätze – Fabriken, Institutionen – bei der Gewährleistung sozialer Dienstleistungen. Ab den 1960er-Jahren stiegen sowohl in Ungarn als auch den anderen Ländern die sozialen Ausgaben der Großunternehmen, staatlichen Institutionen und Ämter, es wurden Kindergärten, Kinderkrippen, Arbeiterwohnheime und Pädagogenwohnheime gebaut und finanziert, man beteiligte sich am Wohnungsbau und der Verteilung von Wohnraum, häufig auch an der Beschaffung und Verteilung von Mangelwaren. Letzteres war vor allem für die DDR kennzeichnend. Eine Ähnlichkeit ist auch darin zu beobachten, dass die Zahl und der Anteil der zur Sozial- und Krankenversicherung Berechtigten in den kommunistischen Staaten Mittelosteuropas – wenn auch mit unterschiedlicher Dynamik – ständig stieg, was eine Art von spezieller, pragmatischer Legitimationspraxis ermöglichte. So kann man Tomasz Inglot im Großen und Ganzen zustimmen, der die kommunistischen Regime Mittelosteuropas ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre als spezielle „Wohlfahrtsdiktaturen“ beschreibt.22 Jedoch gab es in der Praxis der einzelnen Länder selbstverständlich Unterschiede, je nachdem welche Veränderungen und Reformen die Funktionsfähigkeit des Staatssozialismus erforderte. In dieser Hinsicht waren Polen und Ungarn sowohl im Allgemeinen als auch in der Sozialpolitik offener als die DDR oder die Tschechoslowakei nach 1968, was sich mehr oder weniger auch daran zeigte, wie sich diese Länder zu den Gedanken und der Praxis der klassischen, westlichen Sozial­politik ­verhielten. Eine weitere Gemeinsamkeit war die geringe Effektivität der mittelosteuropäischen Planwirtschaften, was die Bewahrung eines steigenden bzw. relativ hohen Niveaus der Sozialversorgung auf lange Frist unmöglich machte. Untersucht man den Hintergrund der steigenden Ausgaben, so darf man selbstverständlich nicht vergessen, dass diese zu einem bedeutenden Teil durch die wachsende Zahl der Berechtigten verursacht wurden und nicht durch den steigenden Realwert der Zuwendungen. Anders gesagt, immer mehr Personen erhielten eine Renten- und Gesundheitsversorgung auf einem relativ niedrigen Niveau und von vergleichsweise geringem Wert. Im Grunde bestand in der Sozialpolitik aller staatssozialistischen Regime ein paralleles System von Privilegierung und Diskriminierung, so wurden jenen Gruppen, die für die kommunistische Macht wichtig waren (einzelne Mitglieder des Staatsapparats, Wissenschaftler, Personen, die an gefährlichen

21 Tomka, A Social History, S. 181. 22 Inglot, Welfare States; ders., Western welfare states watched from the East during the Cold War: condemnation, competition, and creative learning. In: Journal of International and Comparative Social Policy, 29 (2013), S. 242.

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­ rbeitsplätzen arbeiteten), soziale Vorteile zuteil – beispielsweise eine ErgänA zung der Rente, eine ärztliche Versorgung auf höherem Niveau oder Frührente. Mitglieder anderer Gruppen, so etwa jene Personen, die im Privatsektor arbeiteten, bestrafte man hingegen mit einem erschwerten Zugang zur Versorgung. Das Maß und die Praxis von Belohnung und Diskriminierung waren in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Bei alldem spielten die übertriebene Ausbreitung der kommunistischen Macht und das Fehlen einer tatsächlichen demokratischen Kontrolle durch die Gesellschaft eine wichtige Rolle. Zu guter Letzt aber sollten Ähnlichkeiten in der kommunistischen Politik und Legitimation Ungarns, Polens, der Tschechoslowakei und der DDR beim Versprechen von Wohlstand und Konsum erwähnt werden, respektive die abweichenden Praktiken, eine Existenzsicherheit und Güter zu erreichen.

Zusammenfassung In dem vorliegenden Aufsatz wurde der Versuch unternommen, die Ge­ schichte der Sozialpolitik im ungarischen Staatssozialismus sowie die Nutzung der Sozialpolitik zur Legitimation im mittelosteuropäischen Vergleich zusammenfassend darzustellen. Die Geschichte der kommunistischen Regime in Ungarn und anderen Ländern der Region lässt sich – trotz Abweichungen – in zwei Abschnitte gliedern: zum einen in die Periode der Ablehnung, Auflösung und langsamen Überprüfung einer Sozialpolitik westlichen Typs und ihrer sozialen Einrichtungen und zum anderen in jene der Etablierung einer Art diktatorischen Wohlfahrtssystems, das ein relativ niedriges Niveau an Dienstleistungen garantierte. Zudem sollte darauf hingewiesen werden, dass sowohl im ungarischen als auch im polnischen, tschechoslowakischen und ostdeutschen System in mehrerlei Hinsicht eine Zweiheit vorherrschte. So bestanden gleichzeitig das Selbstbild des staatssozialistischen Regimes, das eine Egalität propagierte, und die tatsächlichen gesellschaftlichen Unterschiede, der ­fürsorgliche Paternalismus sowie eine mangelhafte, zuweilen diskriminierende soziale Versorgungspraxis. Und in Hinblick auf die Ausweitung der sozialen Rechte gab es gleichzeitig eine Ausgrenzung und Kriminalisierung einzelner Gruppen von Bedürftigen. Mar­ ozialpolitik als Legitimakant war diese Zweiheit auch in der Nutzung der S tionsinstrument und ihrer praktischen Anwendung. Es ist deutlich erkennbar, dass die staatssozialistischen Regime Ungarns, Polens, der Tschechoslowakei und der DDR vor allem in der Formulierung von Versprechen im Hinblick auf Wohlstand und soziale Versorgung erfolgreich waren, in ihrer Realisierung allerdings schon sehr viel weniger.

Opposition und Widerstand in Ungarn Krisztián Ungváry Opposition und Widerstand gegen das kommunistische Machtsystem kann vielfach interpretiert werden und diese Interpretationen können inhaltlich sehr abweichend sein. Die Bewertung eines Verhaltens fällt seitens der Machthaber oft ganz anders aus als bei den Beteiligten. Viele Tätigkeiten werden in einer Diktatur auch dann als oppositionell bewertet, wenn dahinter keine durchdachte politische Konzeption steht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verfolgung der Kirchen. Religiöse Verhaltensweisen sollten normalerweise nicht als politische Meinungen sanktioniert werden. In einer Diktatur gibt es jedoch viele Verhaltensweisen, die in ihrer Erscheinung nicht direkt oppositionell sind, jedoch inhaltlich trotzdem für Systemkritik stehen oder stehen könnten. Unabhängige Selbstzeugnisse über die Hintergründe des oppositionellen Verhaltens sind selten, denn die meisten Quellen über Opposition und Widerstand stellen Akten dar, die von der Diktatur angelegt worden sind – sie spiegeln damit die Ansichten des Staates wider. In einer stalinistischen Diktatur gibt es keine Tätigkeit, die nicht als Opposition dargelegt werden kann, wogegen die milderen Versionen des real existierenden Sozialismus die Spielräume für die Untertanen wesentlich weiter gelassen haben. Das bedeutet auch, dass sich die Inhalte der Begriffe Opposition und Widerstand in Ungarn zwischen 1945 und 1990 mehrmals verändert haben.1

Opposition und Widerstand zwischen 1945 und 1956 Nach der Besetzung Ungarns durch die Sowjetarmee etablierte sich pro forma eine Koalitionsregierung, bestehend aus der Kommunistischen Partei (KP), Sozialdemokraten (SDP), der Partei der Kleinlandwirte (Független Kisgaz­dapárt: FKGP) und der Bauernpartei. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte den Einmarsch der Sowjetarmee nicht als eine Befreiung erlebt. Obwohl die vor 1945 nur als Randerscheinung wahrnehmbare KP einen bedeutenden Zulauf verbuchen konnte, stimmte die Mehrheit der Wähler für die Parteien, die ­ideologisch

1

Über die Opposition in Ungarn sei hier auf folgende Arbeiten verwiesen Csizmadia Ervin, A magyar demokratikus ellenzék, Band 1–3, Budapest 1995; Krisztián Ungváry (Hg.), Búvópatakok. A jobboldal és az állambiztonság, Budapest 2013.

226

Krisztián Ungváry

davon am weitesten entfernt, jedoch offiziell als „Blockparteien“ zugelassen waren. Das erklärt die Wahlerfolge der Kleinlandwirte, die im Jahr 1945 57 Prozent der Stimmen erhielten. Die FKGP war bei ihrer Gründung eine links stehende Agrarvereinigung. Nach 1930 öffnete sie sich auch für bürgerliche Strömungen. Sie war ständig im ungarischen Parlament vertreten und stellte mit der Sozialdemokratie eine gemäßigte linke Opposition zum Horthy-System dar. Sie wurde nach der Besetzung des Landes durch die Rote Armee die rechteste noch koalitionsfähige Partei. Die kommunistische Taktik der Bolschewisierung Ungarns verlief nach demselben Muster wie in Rumänien, Polen und in der Tschechoslowakei. Sie sah ein sich dauernd veränderndes und verschärfendes Feindbild vor. Im Rahmen der sogenannten Salamitaktik wurden die Koalitionsparteien dazu gezwungen, wichtige Gruppierungen stückweise aus den eigenen Reihen auszuschließen. Bestimmte Formen der Opposition waren von Anfang an nicht geduldet: Das Verhalten der Sowjetarmee und die Maßnahmen der Sowjetunion durften nicht kritisiert werden. Die Kommunistische Partei unterwanderte die anderen Parteien durch Personen, die im Geheimen den Weisungen der KP folgten. Allerdings bestritten viele geheime KP-Mitglieder des linken Flügels der Kleinlandwirte und Sozialdemokraten neben ihrer Verbundenheit mit der KP auch eigene politische Wege, was nach 1948 zum Tragen kam. Die sogenannten populistischen Autoren, die durch ihre soziologisch motivierten Werke über die Armut auf dem Lande seit den 1930er-Jahren eine wichtige tagespolitische Rolle bekommen hatten, galten als „fellow travellers“, weil sie die soziale Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft befürworteten und sich als „nützliche Idioten“ durch die KP missbrauchen ließen. Diese Gruppierung vertrat ein sozialistisches Gedankengut, das sowohl nach links als auch nach rechts offen war, und spielte deshalb eine besonders wichtige Rolle in der Zeit vor und nach 1945. Zwischen 1945 und 1948 gab es in Ungarn ein Mehrparteiensystem, de facto regierte aber ab 1945 die Kommunistische Partei. Das wurde durch die totale Kontrolle der Sicherheitsdienste und der Armee, durch die bevorzugte Zuteilung wirtschaftlicher Güter und durch den ausgeübten Koalitionszwang gewährleistet. Schon ab 1945 gab es Prozesse mit dem Ziel, politische Gegner einzuschüchtern. Viele Verfahren gegen Kriegsverbrecher waren mit aktuell-­ politischen Zielsetzungen verbunden. Im Unterschied zu Polen oder zum Baltikum gab es in Ungarn keinen organisierten bewaffneten Widerstand gegen die Sowjetarmee oder gegen die KP. Der wichtigste Grund dafür mag der Umstand gewesen sein, dass die Machtausübung der KP anfänglich wesentlich indirekter verlief als in den Nachbarstaaten. Die KP zeigte sich bewusst als eine der nationalen Traditionen gewachsene Organisation, nutzte mit Vorliebe die ungarischen Nationalfarben und versuchte jegliche Kontinuitäten zu 1919 zu verbergen. Diese Taktik verfehlte nicht ihre Wirkung, besonders unter den ärmeren Schichten der Gesellschaft. Dem Widerstand in der Mittelschicht wurde mit radikalen Mitteln begegnet. Während des Verfahrens gegen die sogenannte Ungarische Gemeinschaft ab

Opposition und Widerstand in Ungarn

227

Ende 1946 kamen mindestens 260 Personen vor Gericht und noch mehr in das Visier der Staatssicherheit. Die offene Opposition hörte im Jahr 1948 mit der Zwangsvereinigung der SDP und der KP auf. Die Jahre 1949/50 brachten auch gewaltige Veränderungen in die ­aktuelle „Linie“ der KP (ab 1948 offiziell „Partei der ungarischen Werktätigen“ genannt). Generalsekretär Mátyás Rákosi wollte als „bester Schüler Stalins“ erscheinen und verordnete die totale Sowjetisierung des Alltagslebens. Der nationalistische Töne einschlagende Kurs wurde abgelegt und stattdessen die „östlichen Wurzeln“ Ungarns gepriesen. Die vor 1948 als „fellow travellers“ angesehenen populistischen Autoren kamen in geistige Isolation, keiner von ihnen wurde jedoch verhaftet – angesichts der Tatsache des totalen Verfolgungswahns eigentlich eine besondere Begünstigung. József Erdélyi, der in diesem Kreis als besonders rechtsradikal galt und wegen seiner früheren antisemitischen Hetzgedichte noch 1947 verurteilt wurde, kam nach drei Jahren frei und konnte 1954 mit dem Titel „Visszatérés“ (Rückkehr) wieder publizieren. Obwohl die Blockparteien ihre Funktion verloren hatten, sind sie nicht alle sofort aufgelöst worden. Bei der Wahl 1949 durften sie mit einigen vertrauenswürdigen Kandidaten vertreten sein. Erst 1953 kamen nur noch Kandidaten der KP ins Parlament. Die Partei der Kleinlandwirte blieb als gesellschaftliche Organisation weiterhin bestehen. Doch ihre Mitglieder bzw. die wichtigsten Repräsentanten der Bauernpartei führten während der Jahre des Hochstalinismus ein Schattendasein. Ihre Existenz war aber ausreichend, um bestimmte Netzwerke im geistigen Exil für manch mild formulierte oppositionelle Meinung lebend zu erhalten. Während der Zeit des ungarischen Hochstalinismus drohten selbst bei versuchter Artikulierung von oppositionellen Meinungen die schlimmsten Strafen. Über 1,2 Millionen Menschen wurden in den Karteikarten der Staatssicherheit geführt. Allein zwischen 1950 und 1953 wurden 390 000 Personen verurteilt, davon bekamen 26 507 Gefängnisstrafen. 44 000 landeten ohne Urteil in Arbeits- oder Konzentrationslagern, circa 300 wurden hingerichtet und mehrere Hundert auf sonstige Weise umgebracht. Darüber hinaus sind in über 500 000 Fällen Geldstrafen oder anderweitige administrative Maßnahmen verhängt worden.2 Alle Familien waren also von Bespitzelung, Zwangsabgaben und Verfolgung betroffen. Als einzige oppositionelle Handlung können lediglich die Unruhen erwähnt werden, die sich in Budapest nach der Niederlage der ungarischen Fußballmannschaft im Jahr 1953 gegen das Team der Bundesrepublik Deutschland ereignet hatten.

2

Bericht von Kiszeljov an J. A. Visinszkij vom 25.12.1952. In: T. V. Volokityina/T. M. Iszlamov/G. P. Murasko (Hg.), Vosztocsnaja Jevropa v dokumentah rosszijszkih arhivov 1949–1953, Band II, Mokau 1998, S. 852 f.

228

Krisztián Ungváry

Die Opposition im Blickfeld der Staatssicherheit nach den Ereignissen von 1956 Die elf Tage der ungarischen Revolution 1956 bedeuteten für die kommunistischen Machthaber ein schockierendes Erlebnis. In wenigen Tagen brach die Diktatur vollständig zusammen und fast alle oppositionellen Gruppen – mit Ausnahme der früheren Nationalsozialisten – organisierten sich wieder. János Kádár zog deshalb aus der Revolution mehrere wichtige Lehren, die allerdings zum Teil erst nach der Konsolidierung des Landes im Jahr 1962 zum Tragen kamen. In diesem Jahr wurde eine Generalamnestie verkündet und mehrere kompromittierte stalinistische Kader der Staatssicherheit entlassen.3 Kádárs bereits im Jahr 1957 verkündete Devise „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ zeigt den Wandel im Denken eines kommunistischen Funktionärs, der erkannt hatte, dass es kontraproduktiv ist, ununterbrochen aktive Loyalität von der ganzen Bevölkerung zu erwarten.4 Diese Einsicht machte Ungarn sicherlich freier als viele andere Staaten in Osteuropa. Wenn man die Zeit nach 1962 anhand der politischen Repressionen beurteilt, dann ist das Bild jedoch gemischt. Es wurden aus politischen Gründen keine Menschen mehr umgebracht: Die letzte einer solchen Hinrichtung erfolgte im Jahr 1967, aber der verurteilte Täter János Hamusics hatte zumindest eine Eisenbahnsprengung durchgeführt und mehrere ähnliche Attentate (u. a. Vergiftung der Wasserversorgung) geplant. Die Zahl der aus politischen Gründen Verurteilten war nach 1968 gering, ab 1972 ging die Polizei dazu über, unbequeme Fälle nicht durch ein Gerichtsurteil, sondern durch Zersetzung, Verdrängung und Beeinflussung zu erledigen. Die Zahl der politischen Spitzel stieg an, denn für diese Methoden brauchte man einen weites Netz inoffizieller Mitarbeiter (IM). Tabelle 1 stellt sozusagen das Feindbild der Staatssicherheit und ihr Scheitern dar. Aus der Perspektive des Klassenkampfes hätten die wichtigsten feindlichen Kategorien die „ehemalige Kapitalisten“ und die „horthystische Offiziere“ sein müssen. Sie waren aber nach 1959 unter den Repressierten kaum mehr vertreten. Ebenso flaute die Verfolgung der Kriegsverbrecher ab. Von einem Massenprozess im Jahr 1966 abgesehen, gab es nur sporadische Verurteilungen von Kriegsverbrechern und das letzte Verfahren wurde im Jahr 1975 abgeschlossen.

3 4 5

Rainer M. János, Die „Sechziger Jahre“ in Ungarn. (Politisch-)geschichtliche Konver­ genzen. In: ders. (Hg.) „Die Sechziger Jahre“ in Ungarn, Herne 2009, S. 13–38. Vgl. Andreas Schmidt-Schweizer, Der Kádárismus – das „lange Nachspiel“ des unga­ rischen Volksaufstandes. In: Rüdiger Kipke (Hg.), Ungarn 1956. Zur Geschichte einer gescheiterten Volkserhebung, Wiesbaden 2006. Meldung für das Politbüro der USAP über die Arbeit des Innenministeriums vom Oktober 1969 (Állambiztonsági Szolgálatok Történelmi Levéltára [im Folgenden ÁBTL] 1.11.1. Schachtel Nr. 136). Die Angaben für die Jahre 1968–1972 habe ich aus folgendem Dokument übernommen: Meldung über die Verbrechen, die gegen den Staat oder aus politischen Gründen begangen worden sind (ÁBTL 1.11.1. Schachtel Nr. 15, 32-376/1973).

2 – – – – – –

1339

649

457

659

876

1428

1160

979

964

947

863

850

1961

1962

1963

1964

1965

1966

1967

1968

1969

1970

1971

1972

16 357

7

1079

1960

Gesamt

14

1306

1959

180

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.



55

1561

gegen politische „ehemalige ­Straf­prozesse Kapitalisten“ 4861 102

1958

1957

Jahr

262

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

















3



92

167

gegen „horthystische ­Offiziere“

253

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

2

9

21

6

8

4

5

90

18

2

20

68

125

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

1970

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.

Mitglieder Mitglieder Mitglieder der ­ ewaffneter b der Kirchen Intelligenz Organisationen

Tabelle 1: Zahlen und Kategorien von Personen, die von 1957 bis 1972 vor Gericht gestellt worden sind5

234

k. A.

k. A.

k. A.

k. A.



2

25

4

5

11

10



3

154

12

8

Kriegs­ verbrecher

Opposition und Widerstand in Ungarn

229

? ?

Zahl der Personen, die Objekte geheimer ­ perativer Bearbeitung waren o

Strafverfahren

?

712

1260

0

7

?

?

24

85

1974

561

620

?

1

4

?

?

8

122

1975

0

?

?

?

?

?

1977

643

610

671

622

? 1 018

0

?

?

?

?

?

1976

97

919

1 141

0

?

?

?

?

?

1978

?

?

?

0

?

?

?

?

?

765

935

1 041

0

0

6

110

?

26

1979 1980

921

?

?

0

7

?

246

?

75

1981

982

961

816

0

3

?

225

?

35

1982

Die Angaben der Tabelle habe ich aus den Meldungen der Hauptverwaltung III zusammengestellt (ÁBTL 1.11.1. Schachtel Nr. 6.) Angaben für das Jahr 1973 waren nicht zu ermitteln.

?

Zahl der Personen, die in operativer ­Bearbeitung standen

6

0

Landesverrat

?

Offenlegung von Staats­geheimnissen 15

?

Verletzung von religiösen oder ­ethnischen ­Gruppen

Spionage

?

109

Verschwörung

Hetze

1972

Tabelle 2: Typologie der Verbrechen gegen den Staat 1972–19826

230 Krisztián Ungváry

231

Opposition und Widerstand in Ungarn

Die Angaben in der Tabelle 2 bedürfen der Erklärung. Nach 1970 sind die meisten Verfahren wegen illegalen Grenzübertritts eingeleitet worden (im Jahr 1982 waren es bereits 928 Verfahren, also mehr als 95 Prozent aller Verfahren). Die steigenden Zahlen beweisen also nicht die zunehmende Repressionsbereitschaft, sondern eher die besseren Reisemöglichkeiten. Die ungarische Staatssicherheit kannte zwei Stufen der operativen Bearbeitung: Die erste Stufe bedeutete den Einsatz aller operativen Mittel außer Desinformation und Zersetzung; die zweite Stufe den Einsatz des kompletten Registers. Die Mehrheit dieser zweistufigen operativen Bearbeitung war wegen Spionageverdacht (im Jahr 1980 63 Prozent) und nur ein kleiner Teil wegen Hetze begonnen worden. Obwohl aus vielen Jahren die Angaben fehlen, können wir davon ausgehen, dass wegen Verschwörung nur sehr wenige in das Blickfeld der Staatssicherheit geraten sind. Ab 1979 wurde das System der täglichen operativen Meldungen (Napi Operatív Információs Jelentés: NOIJ) eingeführt. Diese Meldungen geben ein Bild darüber, was die Staatssicherheit an oppositionellen Handlungen registrierte und wie sie diese Handlungen einordnete. Tabelle 3: Angaben der NOIJ über die Typologie der feindlichen Handlungen7 1980

1985

1988

Bürgerlich-radikale Opposition

462

254

997

National-radikale Opposition

400

328

592

Pazifistische Handlungen



41

38

Oppositionelle Handlungen als ­Naturschutz verschleiert



50

179

1956er-Veteranen, frühere ­Offiziere oder Gendarmen und Vertreter ­früherer bürgerlicher Parteien

80

73

135

Angaben über faschistische Tätigkeit

15

30

12

146

115

130

1

13

9

1 104

854

1993

Kirchliche Opposition Zionistische Opposition Gesamt

Die Tabelle 3 listet die Gruppierungen auf, die nach 1979 das meiste Kopfzerbrechen bei der politischen Führung und der Staatssicherheit verursacht hatten. Unter der Kategorie „pazifistische Handlungen“ sind die Aktionen der unabhängigen Friedensbewegung in Ungarn gemeint, die für die atomare Abrüstung eintraten. 7

ÁBTL 1.11.1. Schachtel Nr. 130, 45-78/38/1/1989.

232

Krisztián Ungváry

Tabelle 4: Personen, die unter ständiger Kontrolle durch IM in Budapest ­standen 1975–19858 31.12. 1975

31.12. 1977

31.12. 1979

31.12. 1981

31.12. 1983

31.12. 1985

Observierte der Staatssicherheit in Budapest insgesamt

938

916

837

820

780

723

wegen Verschwörung

227

198

160

153

137

128

wegen ­Rebellion

1

2

1

2

2

2

Sabotage













Hetze

46

80

82

97

103

93

Spionage, ­Landesverrat

68

59

74

78

82

69

147

125

117

106

88

70

wegen Verurteilung in die Sowjetunion ­zwischen 1945–1955

45

43

33

29

26

22

wegen konterrevolu­ tionäre Aktivität

328

325

267

245

227

198

5

7

19

19

19

17

18

20

20

17

20

21

aus Westen Zurück­ gekehrte mit ­Spionageverdacht

8

10

7

8

5

9

wegen gegenwärtiger feindlicher Tätigkeit

16

17

20

31

41

64

wegen Waffenschmuggel, Vorbereitung von Landesflucht

29

30

37

35

30

30

daraus der aktiven ­Kategorie zuzurechnen

192

209

219

237

241

256

daraus als potenziell gefährlich zu bezeichnen

746

709

618

538

539

467

Verbrechen gegen Menschlichkeit, ­Kriegsverbrechen

wegen versuchter ­Westflucht wegen Missbrauch des Vereinsrechts, illegale kirchliche Tätigkeit

8

Statistiken über das IM-Netz (ÁBTL 1.11.10. Schachtel Nr.7, 1a-1313/72).

Opposition und Widerstand in Ungarn

233

Ihre Aktivitäten wurden oft der „bürgerlich-radikalen ­Opposition“ zugerechnet, weil ihre Vertreter keine Verbindungen zu der „national-radikalen Opposition“ pflegten. Die unter „Naturschutz“ vermerkten oppositionellen Handlungen betrafen meistens die Aktivitäten gegen das geplante ungarisch-tschechoslowakische Wasserkraftwerk bei Bős-Nagymaros (es ist im Jahr 1992 einseitig von der Slowakei verwirklicht worden). Auffallend sind die hohen Zahlen über Informationen aus den Reihen der Kirche: Hier zeigt sich eine besonders intensive Unterdrückung im Kádár-System. Zuletzt soll die Tabelle 4 zur Budapester Staatssicherheit ein Bild über die Hintergründe der Observationen geben. In dieser Tabelle sind nur Personen aufgeführt, die als besonders gefährliche Subjekte eingestuft wurden und deshalb zu der sogenannten F-Kategorie zählten. Diese Kategorie hieß zugleich, dass die betroffene Person ständig von mindestens einem inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit zu überwachen war. Die Tabelle beinhaltet nur diejenigen, die von der Budapester Staatssicherheit observiert worden sind. Die als am wichtigsten angesehenen Oppositionellen wurden aber nicht von der Budapester Staatssicherheit, sondern von der zentralen Staatssicherheitsstelle observiert, sodass diese Zahlen nicht als Gesamtzahlen aufgefasst werden können. Für die Tendenzen der Zeit sind sie jedoch repräsentativ. Die Zahlen der bespitzelten Personen in Budapest nahmen allen Anschein nach stetig, aber langsam ab. Diese Tabelle zeigt auch, dass die meisten „Feinde“ der Staatssicherheit eigentlich Erbschaften aus stalinistischer Zeit waren. Der Kreis der aktiven Oppositionellen, die auch im Blickfeld der Staatssicherheit lagen, war verschwindend gering und gut überschaubar.

Die Kleinlandwirte – eine halbwegs geduldete Opposition? Die bedeutendsten politischen Gruppen der Opposition formierten sich anfangs um die Führer der Partei der Kleinlandwirte. Die FKGP war zwischen 1945 und 1953 regierungsbildend, ihr „rechter Flügel“ ist aber bereits seit 1945 verdrängt und verfolgt worden. Durch diesen Umstand blieben nur solche FKGP-Politiker im Land, die auch zu größeren Konzessionen bereit waren. Manche konnten sogar bis 1953 Parlamentsabgeordnete bleiben. István Dobi, Staatspräsident zwischen 1952 und 1967, war auch ein ehemaliger FKGP-Politiker, allerdings zugleich auch geheimes Mitglied der Kommunistischen Partei. Die Partei der Kleinlandwirte stellte ihren Betrieb auch nach der Niederschlagung der Revolution nicht ein. Formell konnte die Führung sogar über zwei Jahre ein Büro in Budapest aufrechterhalten. Ihre Führer waren einer sozialistischen Umgestaltung, trotz des erlittenen persönlichen Unrechts, prinzipiell nicht abgeneigt. Diejenigen, die antikommunistisch gesinnt waren, gingen schon vor 1949 in die Emigration. Der verbliebene Flügel versuchte sich als Juniorpartner für eine neue Koalition anzubieten, während sich ein anderer Teil der Parteiführung von solchen Anbiederungsversuchen zurückhielt und stattdessen immer wieder

234

Krisztián Ungváry

auf legaler Basis die eigene Identität bekundete. Dazu gehörte auch József Antall senior, der Vater des gleichnamigen ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Ungarns. Der ältere Antall war vor 1944 Staatssekretär, nach 1945 kurzzeitig Minister für Wiederaufbau. Wegen seiner Rettungsaktionen für Juden und Polen bekam er auch den Titel „Gerechter unter den Völkern“ bzw. die I. Klasse des Verdienstordens der Polnischen Republik verliehen und blieb bis 1953 Mitglied des Parlaments. Dadurch konnte er seine großbürgerliche Wohnung in der Stadtmitte behalten. Dieser Umstand, also das Vermeiden des existenziellen Verlustes durch Ausweisung oder Zwangsumsiedlung auf das Land, war für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Netzwerke, die auch später das Überleben im Mittelstand ermöglichen konnten, von eminenter Bedeutung. 1956 wurde Antall senior für kurze Zeit zum Direktor der neu erwachenden FKGP ernannt, zog sich aber nach der Niederschlagung der Revolution zurück. Er stand bis zu seinem Tode unter permanenter Beschattung der Staatssicherheit, konnte aber trotzdem im Jahr 1968 einen Aufsatz über seine Tätigkeit zwischen 1942 und 1944 in einer Wochenzeitschrift publizieren.9 József Antall junior begann seine politische Karriere während der Revolution 1956 auch in der FKGP. Er kam danach als Klassenlehrer an einem Gymnasium in das Visier der Staatssicherheit, wurde mehrmals strafversetzt und 32 Jahre lang permanent observiert. 1959 entging er der Verhaftung nur dank des Netzwerkes seines Vaters, bekam jedoch Unterrichtsverbot. Antall stieg in keine illegalen Tätigkeiten ein, im Gegensatz zu seinem Vater mied er auch jeden Kontakt mit Vertretern seiner früheren Partei, verbarg aber seine Meinung im internen Kreis nie. Daraus resultierte eine Vielzahl von Spitzelberichten. Nicht weniger als 24 Informanten sind bisher namentlich bekannt, die auf ihn angesetzt waren. Andererseits konnte Antall durch seine Netzwerke immerhin erreichen, dass er trotz dieser Umstände im Jahr 1974 zunächst Beauftragter und ab 1985 ordentlicher Direktor eines kleinen Museums werden konnte. Sein Verhalten  – das Vermeiden der direkten Konfrontation, aber die Aufrechterhaltung der eigenen politischen Identität im privaten Kreis – kann als typisches Verhalten für viele Personen der sogenannten christlichen Mittelklasse bewertet werden. Antalls Weg war aber ein anderer als der der meisten führenden Kleinlandwirte, die im Gegensatz zu ihm ihre Hoffnungen auf eine mögliche friedliche Koexistenz gelegt hatten. Das war anfänglich nicht ganz unbegründet, denn Kádár hatte sich nicht sofort für das Einparteiensystem entschieden: Das Modell der Satellitenparteien, wie es auch in der DDR praktiziert wurde, erschien bis 1959 als eine politische Alternative. Danach wurde aber das Büro der FKGP geschlossen, die Parteiführung teils interniert oder zur Mitarbeit in der Staatssicherheit gezwungen oder verschiedener administrativen Maßnahmen unter-

9

Vgl. Krisztián Ungváry, Kisgazda politikusok és az állambiztonság. In: ders. (Hg.) Búvópatakok, S. 81–142, hier 139; Rainer M. János, Submerging or Clingion on again? József Antall, Father and Son, in Hungary after 1956. In: Contemporary European History, 14 (2005) 1, S. 65–105.

Opposition und Widerstand in Ungarn

235

worfen. Selbst ihre gesellschaftlichen Kreise wurden zersetzt, mit Ausnahme derjenigen Verbindungen, die zu den kollaborationsbereiten Kleinlandwirten zählten. Der Kreis dieser ehemaligen Kleinlandwirte (weil sie nach 1956 in die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei, USAP, eingetreten sind) war zwar nicht groß, aber politisch nicht unwichtig: ein Staatspräsident, zwei ordentliche Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, drei Mitglieder des Staatspräsidentenrates waren in diesem Kreis vertreten. Erst ab 1988 konnte sich die Partei neu formieren, aber ihre Führer waren durch die vorausgehenden Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit nicht mehr in der Lage, aus der Partei eine moderne politische Formation zu bilden. Antall junior selbst suchte sich 1988 eine neue, wesentlich weniger mitgenommene politische Organisation, wo er schnell die Führung übernehmen konnte.

Die Kirchen Die Verfolgung der Kirchen begann bereits nach 1945, konnte aber trotz Verhaftung der meisten hohen Würdenträger das Rückgrat der Kirchen nicht brechen. Eine Veränderung trat erst nach 1962 ein, als der Papst auf das Angebot der ungarischen Regierung einging, nur aus dem von der ungarischen Regierung bestimmten Kreis Bischöfe zu ernennen. Da die ungarische Regierung nur inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit für diese Ämter vorschlug, war dieser Schritt mit der Aufgabe der Selbstständigkeit der Kirchen gleichbedeutend. Dieses Schicksal erlitten auch die anderen Kirchen. Alle wurden höchst erfolgreich in den Dienst der Diktatur eingespannt. Die meisten Kardinäle und Bischöfe beteiligten sich selbst an der Verfolgung kleiner kirchlicher Gemeinschaften. Zufrieden beschrieb der stellvertretende Innenminister in einem seiner Vorträge, wie Kardinal Mindszenty angeprangert wurde und die Geistlichen sich für den Staat einsetzten: „In den Kirchen sind die loyalen Priester maßgebend. […] In den ungarischen Kirchen gibt es aber auch reaktionäre Gruppen, die über große Erfahrung im politischen Kampf verfügen und sich im Augenblick alle Mühe geben, um aus ihrer Isolierung zu kommen. Zu den wichtigsten gehören sogenannte Kleingruppen, die in katholischen Kirchen tätig sind, sich ihrer Hierarchie widersetzen und aus etwa 2 500 Personen und 60 Priestern bestehen. […] Gegen diese reaktionären Gruppierungen gehen die Kräfte der Kirche, die sich dem Staat gegenüber loyal verhalten, entschieden und mit Erfolg vor. Dies erschwert den internatio­ nalen Kirchenzentren, die Reaktion offiziell zu unterstützen, und in manchen Fällen ist sogar eine Verurteilung ihres Wirkens möglich. Zum Beispiel war der vatikanische Staatssekretär Casaroli gezwungen, in einem im Namen des Papstes an Kardinal Lékai gerichteten offenen Brief die Tätigkeit der reaktionären Kleingruppen zu verurteilen, während er vorher mehrmals den ungarischen Episkopat verurteilt hatte. Diese Verurteilung durch den Papst hat in den reaktionären Kleingruppen eine ernste Krise ausgelöst.“10 10 Vortrag von Jenő Földesi auf der Konferenz der Staatssicherheitsorgane in Sofia vom 14.–18.11.1983 (ÁBTL 1.11.10. Schachtel Nr. 90). Zu weiteren Einzelheiten vgl. Krisztián Ungváry,The Kádár-regime and the Subduing of the Roman Catholic Hierarchy. In: Sabrina P. Ramet (Hg.), Religion and Politics in Post-Socialist Central and Southeastern Europe. Challenges since 1989, London 2014, S. 86–114.

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Mitte der 1960er-Jahre gelang es, den Widerstand der römisch-katholischen und protestantischen (in Ungarn: calvinistischen) Kirche wirksam zu brechen. Von ähnlichen Verfolgungen waren auch die protestantischen Kirchen betroffen, das heißt die evangelisch-lutherische und die evangelisch-reformierte Kirche. Auch die Sekten wurden bedrängt. Besonderheiten hatte der Kampf gegen den „Zionismus“. Unter Zionismus verstand die Staatssicherheit nicht so sehr religiöse Überzeugungen als vielmehr einen positiven Standpunkt in Fragen der jüdischen Kultur, des jüdischen Volkes bzw. der Politik des Staates Israel – also keineswegs nur die Bemühungen zur Gründung und Bewahrung eines Nationalstaates der Juden. In den Berichten der Sicherheitsorgane galt es bereits als „Zionismus“, wenn jemand die jüdische Herkunft von Akteuren der ungarischen „Gründerzeit“ erwähnte oder sich in irgendeiner Weise positiv zu Israel äußerte. Beispielsweise notierte die Geheimpolizei bei einem Vortrag von Mihály Vajda an der „Fliegenden Universität“: „übertrieb er die historische Rolle der jüdischen Intelligenz und verkündete somit jüdisch-nationalistische Losungen“.11 Eine derartige Interpretation schrieb faktisch die nazistische, antisemitische Ideologie fort, die eine jüdische Herkunft mit bestimmten politischen Ansichten gleichsetzte.

Linke Opposition Der real existierende Sozialismus erfüllte auch in den Reihen der Parteigenossen nicht alle Erwartungen. Nach 1956 taten sich Stimmen auf, die für eine härtere Gangart plädierten. János Kádár stellte sich selbst als ausgewiesener Zentrist dar und nutzte diese Gruppen, um sein eigenes politisches Gewicht zu stärken. Die „linke“ Opposition in der USAP wurde deshalb sorgfältig beobachtet und auch verfolgt. Grund für Unmut gab es im Jahr 1962, als mehrere stalinistische Kader aus der Reihen der Staatssicherheit entlassen wurden. Das Liebäugeln mehrerer Parteigenossen mit China und Albanien wurde als willkommener Anlass genommen, um auch nach links schlagen zu können. Diese linke Opposition war zahlenmäßig nicht bedeutend, intellektuell jedoch wesentlich wichtiger und sie pflegte auch Kontakte nach Westeuropa. Neben der etwa 400 Personen starken Kolonie der in Ungarn lebenden griechischen und jugoslawischen Emigranten, gehörten zu diesem Kreis vor allem frühere Mitarbeiter von Rákosi und ein Teil seiner Familie (1966 fanden 20 geheime Untersuchungsverfahren gegen 98 Personen statt). 1963 traten maoistische Oppositionsgruppen in Erscheinung. An der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest wollten György Pór und György Dalos, Vorsitzende des vom Kommunistischen Jugendverband ins Leben gerufenen „Komitees Solidarität mit Vietnam“, die chinesische Kulturrevolution auf ungarischen Boden übertra-

11 ÁBTL O-19764/1, S. 136.

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gen, doch beschränkten sich ihre Aktivitäten auf die Anfertigung von Propagan­ damaterial. 1968 machte die Staatssicherheit der Tätigkeit dieser seit Jahren unter Beobachtung stehenden Gruppe ein Ende. Pór erhielt eine Strafe von zwei Jahren Freiheitsentzug, bei den übrigen sieben Personen lag sie zwischen sechs Monaten und zwei Jahren.12 Viel gewichtiger waren die Schikanen der „revisionistischen Opposition“, das heißt der Schüler von György Lukács und der um ihn gruppierten Intelligenz. Agnes Heller und andere Lukács-Anhänger verurteilten nicht nur die Intervention in der Tschechoslowakei im Jahre 1968, sondern begeisterten sich auch immer mehr für „den wahren Sozialismus“ in Albanien und China sowie für die Kommunebewegung. Vom Kádár-System forderten sie, die Grundsätze des wahren Kommunismus einzuhalten. Mit der Zeit revidierten viele von ihnen ihre extremen Ansichten, und aus der diesem Kreis entstammenden Intelligenz entstand dann die bekannteste ungarische Oppositionsbewegung, die sogenannte demokratische Opposition.13

„Urbane“ und „Populisten“ Das ungarische geistige Leben war Anfang der 20. Jahrhunderts auch innerhalb des linken Spektrums zweigeteilt. Aus verschiedenen linken Kreisen entstand die literarische Gruppe „urbane Autoren“. Viele ihrer Vertreter waren jüdischer Abstammung, wobei sie sich ausnahmslos als Ungarn bezeichneten. Eine andere Gruppe bildeten die „Populisten“, die sich mit soziologischen Arbeiten über das Elend auf dem Lande beschäftigten. Ihre wichtigsten Figuren waren der Blut-und-Boden-Literat Dezső Szabó sowie László Németh und Gyula Illyés. Die Gruppe der Populisten hatte gute politische Kontakte zur Bauernpartei und zur Partei der Kleinlandwirte. Während der Revolution 1956 war diese Gruppierung auch aktiv, viele ihrer Mitglieder wurden anschließend von dem sich konsolidierenden Kádár-System repressiert, aber später begnadigt und im Kadarismus integriert, ohne ihre Identität gänzlich aufgegeben zu haben.14 Nicht zufällig verfasste das Politbüro eine Vielzahl von Beschlüssen gegen „feindliche Aktivitäten auf dem Gebiet der Kultur“ und deren „Aufwiegelungspolitik“. Die Taktik von Zuckerbrot und Peitsche kam hier besonders zum Einsatz. Einerseits wurden mehrere Mitglieder dieser Gruppe verhaftet, andererseits unterhielt sich das Politbüro sogar darüber, welche Geburtstagsgeschenke

12 Vgl. György Dalos, Kurzer Lehrgang, langer Marsch. Eine Dokumontage, Berlin 1988; Krisztián Ungváry/Tabajdi Gábor, Elhallgatott múlt. A pártállam és a belügy. A politikai rendőrség működése Magyarországon, Budapest 2008, S. 329–347. 13 Vgl. Csizmadia Ervin, A magyar demokratikus ellenzék (1968–1988), Budapest 1995, S. 21–34. 14 Zu den Populisten vgl. Gyula Borbándi, Der ungarische Populismus, Mainz 1976.

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die beiden wichtigsten Repräsentanten, László Németh15 und Gyula Illyés,16 erhalten sollten. Das wichtigste Thema dieser Opposition war die sogenannte ungarische Schicksalsfrage, worunter die Lage der ungarischen Volksgruppe in den Nachbarländern und die Geburtenrückgänge zu verstehen sind. Eine nie offen diskutierte, jedoch unterschwellig immer angesprochene Frage war das „Ungarndefizit“ bzw. die Möglichkeit seiner Behebung unter den Kulturschaffenden. Dieses vermeintliche „Ungarndefizit“ rührte von der Annahme, dass die mehrheitlich aus jüdischen, weniger aus deutschen Familien stammenden Assimilanten die Überhand unter den Intelligenzlern gewinnen und so die ungarischen Interessen verwässern würden. Dieser Vorwurf war einerseits angesichts des Verhaltens der Betroffenen irrational und rassistisch, andererseits durch die spezielle Lage in Ungarn, wo ein wesentlicher Teil der Gebildeten jüdische oder deutsche Assimilanten waren, funktional begründbar. Eine vollständig andere Gruppierung stellten diejenige dar, die als „Post68er“ auch in Ungarn eine alternative Lebensführung pflegten. Die von der Polizei sorgfältig beobachtete Gruppe stand in vielen Punkten der linken revisionistischen Opposition nahe. Die wichtigsten Persönlichkeiten dieser Gruppierung waren György Konrád und Iván Szelényi, die 1974 ein Manuskript mit dem Titel „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ in Umlauf brachten und deshalb ins Beobachtungsfeld der Sicherheitsorgane gerieten. Zu dieser Opposition gehörten auch kulturelle Aktivitäten, die vor 1980 von sich reden machten: das Orfo-Puppentheater von István Malgot, das von einer Kommune betrieben wurde (das Ermittlungsverfahren lief unter dem Decknamen Közösség), die Happening-Aktionen von Tamás Szentjóbi und Miklós Erdély (operativer Vorgang „Schwitters“)17 und die in einer Kapelle in Balatonföldvár gezeigte Ausstellung von György Galántai (operativer Vorgang „Horgászok“). Die Ereignisse um die Charta 77 und die ersten Samisdat-Schriften im Jahr 1979 waren die Geburtsmomente der „demokratischen Opposition“. Besonders

15 László Németh (1901–1975) Arzt, Schriftsteller, Herder-Preisträger (1965). Ab den 1930er-Jahren einer der bekanntesten Autoren in Ungarns linkspopulistischen Spek­ trum. Er pflegte ein distanziertes Verhältnis zum System, nahm aber auch an der Re­ vo­lution 1956 nicht teil. Viele seiner Schriften stellten die jüdische und deutsche Assi­ milation infrage und können deshalb auch als antisemitische bzw. rassistische Werke bezeichnet werden. 16 Gyula Illyés (1902–1983), Beamter, schon vor 1944 mehrfach hoch geehrter Schrift­ steller, guter Freund von László Németh. Nach 1945 wichtiger Politiker der Nationalen Bauernpartei. Er zog sich von 1947–1961 aus dem öffentlichen Leben zurück. Sein im Jahr 1950 verfasstes, aber erst 1956 publiziertes Gedicht „Ein Satz über die Tyrannei“ gehörte in Ungarn zu den wirkmächtigsten politischen Gedichten des 20. Jahrhunderts. Er wurde nach 1961 als Vorzeigeintellektueller im System integriert, konnte frei nach Westeuropa und in die USA reisen. 17 Wahrscheinlich ließen sich die Polizeibeamten bei der Namensgebung von Kurt Schwit­ ters, dem deutschen konstruktivistischen Universalkünstler (Maler, Dichter, Grafiker) aus Hannover, leiten. Diesen Hinweis verdanke ich Jens Gieseke.

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das Erscheinen des sogenannten Bibó-Gedenkbuches im Jahr 1980 kann hier als Meilenstein angesehen werden. István Bibó (1911–1979) zählt zu den bedeutendsten politischen Denkern Ungarns. Aus einer angesehenen christlich-reformierten Familie stammend, wurde er 1938 in der Nationalen Bauernpartei aktiv und gehörte dem inneren Zirkel der linken, jedoch nicht kommunistischen Intelligenz an. Nach 1948 lebte er im inneren Exil, 1956 wurde er in der Regierung Imre Nagy Staatsminister. 1957 verhaftet und zur lebenslangen Zuchthaus verurteilt, entging er nur knapp der Hinrichtung. 1963 wurde er begnadigt und arbeitete bis 1971 als Bibliothekar. Bibó war wegen seiner schonungslosen Kritik am Horthy-System und wegen seiner Schriften über die Judenfrage in Ungarn auch von der linken postkommunistischen Intelligenz hochgeschätzt. Das Erinnern an seine Person vereinte die zwei wichtigsten Strömungen der Opposition: die der „Urbanen“ und die der „Populisten“. Im Bibó-Gedenkbuch publizierten insgesamt 76 Personen, die die ganze politische Palette Ungarns, mit Ausnahme der Neonazis und der Kommunisten, abdeckten. Die Aufsätze waren zwar sehr verschieden, doch die meisten Texte hätten ohne Weiteres legal gedruckt werden können. Auch deshalb war ursprünglich eine legale Ausgabe geplant, aber nachdem das Manuskript von einem Verlag zurückgewiesen worden war, entschied man sich für eine Samisdat-Ausgabe. Das Bibó-Gedenkbuch löste sogar in den höchsten Kreisen Alarm aus. Im März verabschiedete das Politbüro eine Resolution, wonach die besonders gefährlich eingeschätzten Autoren des Gedenkbuches ihre Arbeitsstelle verlieren sollten (diese Maßnahme ist nur teils durchgeführt worden). Es ist hervorzuheben, dass diese Resolution die zweite ihrer Art war – zuerst behandelte das Politbüro im Jahr 1966 die Fragen der Opposition, wobei damals eher das Problem der „linken Abweichler“ und die Zerschlagung der kirchlichen Organisatio­ nen im Vordergrund stand. Es wurde als höchst gefährlich angesehen, dass die Autoren eine oppositionelle „Volksfront“ verkörpern könnten. Die Staatssicherheit bekam deshalb die Aufgabe, durch Zersetzung Zwietracht zwischen den Vertretern der „Urbanen“ und der „Populisten“ zu säen.

Nationale Frage Die drei wichtigsten Tabus des Kádár-Systems waren die Revolution 1956, die „Judenfrage“ bzw. alles, was mit der Aufarbeitung des Holocausts verbunden war, und die Frage der Auslandsmagyaren bzw. die Folgen der Versailler Friedensordnung (im Folgenden als „nationale Frage“ bezeichnet). Dieser Frieden schrumpfte Ungarn auf ein Drittel seiner früheren Größe und als Folge kam ein Drittel der ungarisch sprechenden Bevölkerung unter Fremdherrschaft, wo sie einem permanenten gewaltsamem Assimilationsdruck und teils auch politischer Verfolgung unterworfen war. Mit der Tabuisierung der nationalen Frage stand Ungarn unter den Staaten des Ostblocks allein da. Mit Ausnahme von Österreich waren alle ­Nachbarstaaten

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Gewinner der Versailler Friedensordnung, und sowohl in der DDR als auch in Polen hatte sich die politische Führung der nationalen Symbole bedient, sei es bei der Uniformierung der bewaffneten Organe oder in der Alltagskultur. In Rumänien kam mit Ceauşescu sogar eine nationalkommunistische Führung an die Macht. Der Gebrauch der nationalen Symbole und die Behandlung dieser Themen war in Ungarn nur sehr bedingt möglich. Die wichtigste Lehre für János Kádár und seine Genossen nach 1956 war, dass eine freie Erörterung der nationalen Fragen solche Energien freisetzt, die durch das System nicht mehr gebändigt werden können. Normalerweise dürfte das Interesse an Ethnologie, Volkstanz oder der Pflege der Muttersprache nicht als oppositionelle Tätigkeit bewertet werden. Die Grenze zwischen gefördert, geduldet und verboten war aber gerade auf diesem Gebiet sehr fließend. In einigen Fällen dauerten die geheimen Ermittlungen gegen Angehörige der Intelligenz in solchen Angelegenheiten ein gutes Dutzend Jahre – z. B. wurden der in Szeged lebende Mihály Illia und seine Mitarbeiter von 1973 bis 1988 überwacht (operativer Vorgang „subasok“, Schafspelzträger). Selbst innerhalb der Partei gab es Personen, die zum Kreis der populistischen Autoren gerechnet werden konnten, sodass die „populistische Opposition“, die in diesen Themen wesentlich mehr verankert war, ihre Fühler in die Richtung der politischen Entscheidungsträger ausstrecken konnte. Der wichtigste Unterschied zwischen „Urbanen“ und „Populisten“ trat auf diesem Gebiet zum Vorschein. Die erste Gruppe zeigte sich nach 1979 bereit, offen auf Konfrontationskurs zu gehen. Sie organisierte Hausseminare, „Fliegende Universitäten“ und gründete verschiedene illegale Vereine. Demgegenüber hielten sich die Populisten von solchen Aktionen meistens fern und versuchten im Rahmen der „Patriotischen Volksfront“ bzw. durch ihre bestehenden Kontakte zur Parteiführung ihre politischen Wünsche durchzusetzen. Ein neuralgischer Punkt auf diesem Gebiet waren bestimmte Gedenktage. Dazu zählte als wichtigster „sensibler“ Jahrestag der 15. März. Der Jahrestag des ungarischen Aufstandes während des Völkerfrühlings 1848 war besonders brisant, weil an diesem Tag traditionell die ungarische Kokarde getragen wurde und auch Sándor Petőfi und seine Kameraden sozusagen kontextuell zitiert werden konnten, wobei die Forderungen der Revolutionäre von 1848 nach Pressefreiheit und Abzug der fremden Truppen aus Ungarn nichts an ihrer Brisanz verloren hatten. Am 15. März 1848 brach die Revolution in Budapest aus, nachdem Petőfi an mehreren öffentlichen Plätzen sein zwei Tage zuvor verfasstes Gedicht „Nemzeti Dal“ (Nationallied) rezitiert hatte, in dessen Refrain er die rhetorische Frage stellte: „Gefangene wollt ihr sein, oder Freie?“ Es verwundert daher nicht, dass auch die Unruhen am 23. Oktober 1956 gerade mit der Berufung auf die Freiheitskämpfer vom 15. März 1848 und mit Petőfi-Zitaten begannen. Dementsprechend bereitete sich auch die Staatssicherheit auf diesen Gedenktag vor. Ohnehin war der Tag offiziell kein Feiertag, es war nicht vorgeschrieben, die Häuser zu beflaggen, was allerdings auch nicht verboten werden konnte. Bereits vor dem 15. März 1957 wurden 5 814 Personen „vor-

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beugend“ festgenommen. Diese Großaktion erfolgte, weil damals die Gegner des Kádár-Systems den Spruch verbreiteten „Wir beginnen im März wieder“, was durch zahlreiche illegale Flugblätter untermauert wurde. In den darauffolgenden Jahren erwies sich der Polizeieinsatz als so umfassend, dass es zu keinen Zwischenfällen mehr kam. Die Wirkung des Prager Frühlings zeigte sich aber auch in Ungarn, als sich 1969 ein Student nach dem Vorbild Jan Palachs verbrannte. Im Jahr 1971 und 1972 kam es zu Straßenschlachten, bei denen die Polizei harmlose Demonstranten auf offener Straße verprügelte. 1973 versuchte die USAP, dem Ganzen den Wind aus den Segeln zu nehmen, in dem unter dem Motto „Revolutionäre Jugendtage“ die Feiertage 19. März (Räterepublik), 4. April („Befreiung“ Ungarns durch die Rote Armee) und 15. März verbunden wurden. Durch administrative Mittel und massiven Polizeieinsatz konnten die oppositionellen Handlungen zwischen 1974 und 1983 erstickt werden. Ab 1983 kam es jedoch wieder zu Zwischenfällen. 1986 wurden mehrere Hundert Studenten vorübergehend verhaftet und ein Jahr später erreichte die Demonstration am 15. März bereits die Größenordnung der frühen 1970er-Jahre. Die sichtbare Unsicherheit der Behörden an diesen Tagen trug wesentlich zur Entfaltung der politischen Opposition bei.

Die Opposition und die Systemtransformation Im Sommer 1984 wandten sich 19 prominente Intellektuelle aus dem Lager der „Populisten“ in einem kollektiven Brief an János Kádár. Der Brief enthielt Bitten nach Zulassung einer unabhängigen Stiftung und Monatszeitschrift sowie der Ausstrahlung ungarischer Fernseh- und Rundfunksendungen, auch an den ungarischen Konsumenten in den Nachbarstaaten. Der erste Sekretär der USAP lehnte die meisten Forderungen ab, sodass die populistische Opposition andere Wege suchen musste. Diese Erkenntnis führte zu einem Treffen der wichtigsten Oppositionellen vom 14. bis 16. Juni 1985 bei Monor, einer kleinen Siedlung unweit von Budapest. Neben den „Populisten“ waren hier auch die wichtigsten Figuren der „urbanen“ Opposition vertreten, allerdings ohne die als extrem anti­ kommunistisch angesehenen Personen. Die Konferenz brachte zwar keine direkten Ergebnisse, war aber ein wichtiger Schritt zur besseren Organisation der Opposition. Die Polizei begnügte sich mit der Verwanzung der Veranstaltung. Diese Zurückhaltung hing damit zusammen, dass Ungarn im Jahr 1985 Gastgeber des Europäischen Kulturforums war. Parallel dazu gärte es auch in der USAP selbst, in dessen Führung junge Technokraten immer mehr Raum bekamen. Die Parteispitze erkannte auch die Vorteile der freien Marktwirtschaft und arbeitete deshalb – nicht ohne Eigennutz – an der wirtschaftlichen Transformation.18 18 Vgl. Krisztián Ungváry, Krisenmanagement der ungarischen Staatssicherheit 1986–1990. Gegenwehr oder „Mitgestaltung“ während der Transformation zur Demokratie? In: Torsten Diedrich/Walter Süß (Hg.), Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten, Berlin 2010, S. 213–225.

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Der Fall Ungarn unterscheidet sich auch aus anderen Gründen von allen anderen Ländern des real existierenden Sozialismus. Die ungarische Version des Staatssozialismus ist in der Publizistik oft als „Gulaschkommunismus“ und als „lustigste Baracke“ bezeichnet worden. Obwohl sich das System weder durch seine Träger noch in seiner Struktur von den stalinistischen Strukturen des Rákosi-­Systems unterschied,19 waren seine Umgangsformen mit den Untergebenen deutlich anders. Um mit einem anderem Vergleich zu sprechen: Die Rolle der Partei war in der DDR und Ungarn aus herrschaftstechnischer Sicht bis 1989 absolut gleich. Die Formen der Machtausübung waren jedoch grundverschieden. Die wichtigste Erkenntnis für die kommunistische Nomenklatura in Ungarn nach der Revolution 1956 war, dass dem Lebensniveau der Bevölkerung wesentlich mehr Achtung geschenkt werden muss. In den 1980er-Jahren hatte die Bevölkerung bereits Formen der Privatwirtschaft kennengelernt und in der Landwirtschaft waren private Initiativen bereits seit 1968 möglich. Die immer größer werdende Öffnung nach Westeuropa, die Situation des Ausgeliefertseins an die westlichen Gläubiger und die nachlassende sowjetische Kontrolle trugen auch zur ideologischen Aufweichung des Zentralkomitees (ZK) der Partei bei.20 Nach der Weisung des ZK arbeiteten ab Herbst 1988 mindestens drei verschiedene Arbeitsgruppen an der Konzeption der Transformation. Das ZK und das Politbüro vertraten in ihren Sitzungen im Januar und Februar 1989 noch die Ansicht, dass das Einparteiensystem aufrechterhalten werden könne, notfalls brauche man ein Scheinparteiensystem. Die Verteilung der Parlamentssitze sollte vor der Wahl durchgeführt werden, und bei den Verhandlungen mit der Opposition wollte man die „dritte Seite“, also die Satellitenorganisationen der Partei, wie Gewerkschaften oder Patriotische Volksfront, miteinbeziehen, um damit die Zweidrittelmehrheit zu erreichen.21 Die folgenden Ereignisse machten alle diese Gedanken obsolet, weil das selbstständig gewordene Parlament am 10. Januar 1989 das Gesetz über Vereine und Versammlungen annahm. Danach war der Beginn der Parteigründungen nur noch eine Zeitfrage. Genauso verhielt es sich mit den Demonstrationen: Nach der Annahme des erwähnten Gesetzes konnten vorangemeldete Demonstrationen an öffentlichen Plätzen nicht mehr verboten werden. Dieser Umstand wurde von der Bevölkerung schnell registriert: Die Veranstaltungen der Opposition zogen immer mehr Bürger an, eine Massenkundgebung folgte der nächsten. Das Bild auf der Straße spiegelte die zunehmende Machtlosigkeit der Partei wider, was wiederum zur weiteren Beunruhigung in den eigenen Reihen beitrug. 19 Mátyás Rákosi (1892–1971) war ein ungarischer kommunistischer Politiker und von 1949 bis 1956 der stalinistische Diktator Ungarns. 20 Vgl. Magdolna Baráth/Rainer M. János, Gorbacsov tárgyalásai magyar vezetőkkel, Buda­ pest 2000. 21 Vgl. Andreas Schmidt-Schweizer, Der politische Transformationsprozess in Ungarn und die sozialistischen Machthaber: ein Systemwechsel „von innen“. In: Detlef Pollack/ Jan Wielgohs (Hg.), Akteure oder Profiteure? Die demokratische Opposition in den ost­ mittel­­europäischen Regimeumbrüchen 1989, Wiesbaden 2010, S. 231–239.

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Die politische Führung reagierte auf diese Entwicklung mit bewährten Methoden. Am 8. Mai 1989 schrieb Innenminister István Horváth in seinem für das ZK angefertigten Thesenpapier, dass das Ziel der Transformation der „pluralistische demokratische Sozialismus“ sei, der „wesentlich näher zu der Zeit zwischen 1945–1948 stehen wird, als zu jeglichen anderen Perioden der letzten 40 Jahre“.22 Aus den spärlich zugänglichen Materialien erscheint es so, dass die Methode der Unterhöhlung und Beeinflussung am meisten bei den „historischen“ Parteien zum Erfolg führte, sicherlich deshalb, weil bei ihnen eine entsprechende, 40 Jahre lange Vorarbeit der Staatssicherheit geleistet wurde. Es ist kein Zufall, dass es bei diesen Parteien (Kleinlandwirte, Christdemokraten, Sozialdemokraten) während und nach der „Wende“ laufend Skandale gab und dass sich in wenigen Jahren praktisch alle diese Formationen wieder auflösten. Ihre Führungsfiguren waren von den Verfolgungen nach 1945 stark betroffen; sehr viele, die Gefängnisstrafen verbüßen mussten, sind währenddessen auch zu IM-Diensten erpresst worden. Im Gegensatz dazu konnten bei den Freien Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége, SZDSZ), dem Ungarischen Demokratischen Forum (Magyar Demokrata Fórum, MDF) oder den Jungen Demokraten (Fiatal Demokraták Szövetsége, FIDESZ) in der Führung auf Landesebene nach den bisherigen Forschungen keine IMs entdeckt werden.23 Das Konzept der USAP schien nur bei den historischen Parteien aufzugehen, denn am 15. März 1989, am wichtigsten Nationalfeiertag Ungarns, erklärten sich die Kleinlandwirte und die Sozialdemokraten bereit, mit der USAP gemeinsam zu feiern, wozu die „neuen“ Parteien, die immer mehr an Bedeutung gewonnen hatten, nicht bereit waren.24 Am 10. Januar schrieb Innenminister Horváth an einen unbekannten Adressaten: „Die Macht teilen wir nicht – die Ausübung der Macht teilen wir jedoch.“25 Drei Monate später gab Horváth das Scheitern dieses Planes aber zu.26 Die Opposition schloss sich am 22. März zu einem „oppositionellen Runden Tisch“ zusammen. Sie erreichte am 2. Juni 1989 die Aufnahme der Verhandlungen mit der USAP und außerdem, dass in diesen Verhandlungen die Satellit­ organisationen der USAP nicht als „dritte Seite“ teilnehmen durften. In wenigen Wochen wurde das Drehbuch der Systemtransformation ausgehandelt, wobei die wichtigsten Gesetze, die diese Transformation ermöglicht hatten, bereits vom Parlament verabschiedet worden waren.

22 Béla Révész, Dunagate II. A rendszerváltás forgatókönyvei és az állambiztonság. In: Beszélő, (2005) 1, S. 46. 23 Dies geht aus den Sicherungsplänen der Massendemonstrationen am 16.6. (Wieder­be­ stattung von Imre Nagy und seinem Minister) und am 23.10. (Tag der Revolution 1956) hervor. József Horváth gibt in seinen Memoiren zu, dass die Gründung aller Par­teien eigentlich die Aufgabe der Staatssicherheit gewesen wäre, dies jedoch bei den neuen nicht gelang; vgl. József Horváth, A „kísértet“ fogságában, Budapest 1991, S. 258. 24 ABTL, Schachtel Nr. 294, Sekretariat des stellvertretenden Ministers für Staatssicher­ heit, Meldung Nr. 6, S. 176. 25 ABTL, 1.11.6. Schachtel Nr. 6, S. 31–45. 26 Aufzeichnung von István Horváth vom Mai 1989 (ABTL, 1.11.6. Schachtel Nr. 6, 71. o.)

V. DDR

Der „Konsumsozialismus“ Honeckers. Kontroversen um die Wirtschaftsstrategie im SED-Politbüro in den 1970er- und 1980er-Jahren Andreas Malycha Entscheidungsabläufe, Konfliktfelder und mögliche alternative Politikansätze im engeren Führungszirkel der SED blieben der Forschung wegen fehlenden oder nicht zugänglichen Archivmaterials lange Zeit verschlossen. Konflikte in der Führungsspitze, Machtkämpfe sowie die Interessenlagen verschiedener „Fraktionen“ in der Führung sind für den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker aufgrund von quellenorientierten Forschungen inzwischen transparenter geworden.1 Auch über die gegensätzlichen Ansichten zu den Wirtschaftsreformen in den 1960er-Jahren hat die Forschung mittlerweile aufschlussreiche Erkenntnisse ans Licht gebracht.2 Die 1970er- und 1980er-Jahre gelten allerdings als relativ konfliktfrei, und über Auseinandersetzungen im Politbüro gab es bislang nur Vermutungen oder Erinnerungen von Zeitzeugen.3 Deshalb richtet sich das Interesse besonders auf die Frage, in welchen Politikfeldern und zu welchen gesellschaftspolitischen Entscheidungen Konflikte in der angeblich von offenen Machtkämpfen freien Honecker-Ära aufbrachen. Aufgrund der überlieferten Archivdokumente kommt hierfür insbesondere die Wirtschaftspolitik in Betracht, die im Zentrum dieses Beitrags stehen soll.4 Bislang war bekannt, dass selbst in der Phase des ökonomischen Niedergangs eine Politbüromehrheit um Parteichef Honecker Korrekturen am Wirtschaftskurs der Partei vereitelte.5 Aufgrund der überlieferten Mitschriften von 1 2 3 4 5

Vgl. Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997. Vgl. André Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999. Vgl. Günter Schabowski, Das Politbüro. Ende eines Mythos. Eine Befragung. Hg. von Frank Sieren und Ludwig Koehne, Reinbek bei Hamburg 1991; Günter Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin 1991. Wesentliche Teile des Beitrags sind entliehen aus Andreas Malycha, Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989, München 2014. Vgl. Hans-Hermann Hertle, Die Diskussion der ökonomischen Krisen in der Führungs­ spitze der SED. In: Theo Pirker/M. Rainer Lepsius/Rainer Weinert/Hans-­Hermann Hertle (Hg.), Der Plan als Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analy­sen, Opladen 1995, S. 314–345.

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Andreas Malycha

Politbürositzungen können nun auch die Bedenken und Alternativvorschläge jener Wirtschaftsfunktionäre, die sich bereits zwischen 1972 und 1975 zu Wort meldeten und das überdimensionierte sozialpolitische Programm der SED kritisierten, bewertet werden. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurden sie von einer Politbüromehrheit zurückgewiesen. Im Politbüro trat der SED-Chef bis zum Herbst 1989 mit dem machtpolitisch motivierten Argument auf, dass wirtschaftlicher Fortschritt und Leistungszuwachs unmittelbar und in gleichem Umfang zu einer Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung führen ­müsse. Eine Umkehrung dieses Prinzips, dass nämlich schwindende Leistungskraft der Wirtschaft auch zur Einschränkung des Lebensstandards führen k­ önne, kam dem Parteichef jedoch zu keiner Zeit in den Sinn. So wurde die kurzfristige Wohlstandssteigerung zum obersten Ziel der Wirtschaftspolitik erklärt.

Die SED zwischen Gründung, Transformation und Krise 1946 bis 1970 Um die Hintergründe für die Diskussionen über die Wirtschaftsstrategie im SED-Politbüro im Verlauf der 1970er-Jahre einordnen zu können, ist ein kurzer Blick auf die Entwicklung der SED und die Wirtschaftspolitik Ulbrichts bis zum Ende der 1960er-Jahre notwendig. Nach der Gründung der SED, die schon durch ihre Mitgliederzahl von rund 1,3 Millionen im April 1946 das Parteiensystem dominierte, vollzog sich in den folgenden Jahren eine tiefgreifende strukturelle Wandlung sowohl des organisatorischen Unterbaus der Partei als auch der Führungsstrukturen.6 Die Umwandlung der SED in eine kommunistische Partei sowjetischen Typs wurde durch Parteisäuberungen vorangetrieben, in denen nicht nur Kritiker auf dem Weg zur Durchsetzung Lenin’scher und Stalin’scher Organisationsprinzipien sowie zur Änderung des politisch-programmatischen Profils der Partei im Zentrum politischer Ausgrenzung und Verfolgung standen.7 Die Ausschaltung traditions­ bewusster Sozialdemokraten während der Kampagne gegen den „Sozialdemokratismus“ richtete sich nicht vordergründig gegen potenzielle konspirative Widerstandsarbeit, sondern gegen ein völlig anderes, nichtkommunistisches Politikverständnis.8 In den Vorständen und im Apparat der Partei war bereits am Ende des Jahres 1948 auf zentraler sowie auf Landesebene der politische Einfluss der früheren Sozialdemokraten vollständig gebrochen worden. Das Konzept der „Partei neuen Typus“, das die SED-Führung unter sowjetischer Anleitung in der SBZ/DDR bis zum Ende der 1940er-Jahre durchgesetzt

6 7 8

Vgl. Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000. Vgl. Thomas Klein, „Für die Einheit und Reinheit der Partei“. Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära Ulbricht, Köln 2002. Vgl. Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungs­ zone und in der DDR 1945–1953, Bonn 1996.

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hatte, führte zur Ausschaltung tatsächlicher oder vermeintlicher innerparteilicher Gegner der schablonenhaften Übernahme des sowjetischen Gesellschaftsund Parteimodells. Der seit 1948 benutzte Vorwurf des „Sozialdemokratismus“ diente – unter Rückgriff auf den stalinistischen Sprachgebrauch der späten 1920er-Jahre – auch noch in den 1950er-Jahren der Disziplinierung und Gleichschaltung der Partei. Nach den Parteisäuberungen der Jahre 1948 bis 1951 war offener Widerspruch gegen den von der Führung verkündeten Gesellschaftskurs nicht mehr möglich.9 Der Mitgliederstand erreichte im Dezember 1952 mit etwas über 1,2 Millionen Mitgliedern und Kandidaten den absoluten Tiefpunkt in der gesamten Geschichte der Partei. Damit war der Stand vom April 1946 unterschritten, wie folgende Tabelle zeigt: Tabelle 1: Die Mitgliederentwicklung der SED in den Jahren von 1946 bis 198910 Jahr

Mitglieder/Kandidaten

1946

1 298 415

1948

1 773 698

1949

1 603 754

1950

1 572 995

1952

1 225 292

1955

1 416 586

1958

1 476 345

1961

1 610 679

1963

1 652 085

1967

1 769 912

1971

1 909 859

1975

2 014 893

1981

2 172 110

1985

2 293 289

1988

2 324 775

1989

2 296 775

  9 Vgl. Ulrich Mählert, „Die Partei hat immer recht!“ Parteisäuberungen als Kaderpolitik in der SED (1948–1953). In: Hermann Weber/Ulrich Mählert (Hg.), Terror. Stalinis­ tische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn 1998, S. 351–457. 10 Vgl. die Mitgliederstatistik in SAPMO BArch, DY 30/27892.

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Andreas Malycha

Die Parteigliederungen waren weitgehend gleichgeschaltet und konnten somit auf eintretende Krisensymptome nicht effektiv reagieren. Erst im Dezember 1961 erreichte die Mitgliederentwicklung seit den dramatischen Einbußen von 1951/52 wieder einen Höchststand: Die Partei verfügte zu diesem Zeitpunkt über 1,6 Millionen Mitglieder und Kandidaten. Ende 1975 übersprang die SED erstmals die Zweimillionengrenze. Bei allen relevanten Entscheidungen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung war es der SED mithilfe der Besatzungsmacht bis Anfang der 1950er-Jahre gelungen, ihren Führungsanspruch durchzusetzen. Mit dem Übergang zur langfristigen Wirtschaftsplanung nach sowjetischem Vorbild für die Jahre von 1951 bis 1955 beanspruchte die SED eine Dominanz auf allen Planungs- und Leitungsebenen. Das Anwachsen wirtschaftlicher Probleme und die erneute Zu­ auerbau nahme der Abwanderungen verdeutlichten jedoch, dass das bis zum M 1961 realisierte zentralstaatliche Planungsmodell krisenanfällig und instabil geblieben war und nicht den Ansprüchen einer modernen Industrienation entsprach. Insbesondere kollidierte die schwache Wirtschaftskraft mit den wachsenden Konsumansprüchen der Bevölkerung. In der Phase der Übernahme des sowjetischen Wirtschafts- und Planungsmodells in den 1950er-Jahren hatten sich deutlich die strukturellen Probleme der zentralisierten Planwirtschaft herauskristallisiert. Sowohl die staatliche Wirtschaftsbürokratie als auch der SED-Apparat erwiesen sich trotz ihrer ständig anwachsenden Macht- und Entscheidungsbefugnisse nicht in der Lage, den Wirtschaftsablauf sinnvoll zu organisieren und nach den Kriterien wirtschaftlicher Rationalität auszurichten. In den 1960er-Jahren suchte die Ulbricht-Führung deshalb nach systemimmanenten Problemlösungen, um die instabile Wirtschaft zu konsolidieren und zu modernisieren.11 Nachdem seine innerparteiliche Autorität im Ergebnis langwieriger interner Machtkämpfe gesichert schien, richtete Ulbricht in den 1960er-Jahren sein Hauptaugenmerk auf die instabile Wirtschaft, aber auch der innere Zustand der SED stand im Zentrum von Reformüberlegungen, die auf Konsolidierung und Stabilisierung gerichtet waren. Ulbricht modifizierte sein Herrschaftskonzept, in dem er nun nicht mehr offener Repression, sondern Wohlstandsversprechen auf der Grundlage einer leistungsstarken Wirtschaft Priorität beimaß. Das war auch deshalb notwendig, weil es nach den verschlissenen Klassenkampfparolen der 1950er-Jahre immer schwieriger wurde, eine glaubhafte Begründung für die „führende Rolle“ der SED in Staat und Gesellschaft zu präsentieren. Die in den 1960er-Jahren in Angriff genommenen Reformexperimente waren Bestandteil des gesellschaftlichen Stabilisierungs- und Konsolidierungskonzepts der SED. Die Ulbricht-Führung hatte sich zeitweilig für eine Modernisierung mithilfe wirtschaftlicher Reformen und einen Umbau des 11 Vgl. Hubert Laitko, Das Reformpaket der sechziger Jahre – wissenschaftspolitisches Fina­ le der Ulbricht-Ära. In: Dieter Hoffmann/Kristie Macrakis (Hg.), Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997, S. 35–57.

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Wissenschaftssystems entschieden, um so den Modernisierungsvorsprung des Westens aufzuholen. Ulbricht sah deutlicher als andere Führungsmitglieder die Reformbedürftigkeit der DDR in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, scheiterte mit seinen Experimenten jedoch an den Unzulänglichkeiten der Reformansätze und vor allem am Beharrungsvermögen des von ihm selbst etablier­ten bürokratischen Apparates.12

Der Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1970er-Jahre Am Ende der Amtszeit Ulbrichts führten die rasant anwachsenden Probleme der Wirtschaft zu heftigen Auseinandersetzungen im Politbüro. Streitpunkt war die Frage, wie auf die im Herbst 1970 ausbrechende Wirtschaftskrise reagiert werden sollte. Die Mehrheit des Politbüros sprach sich für einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, insbesondere für einen radikalen Wandel in der Investi­ tionspolitik, aus. Vor allem attackierten der Vorsitzende des Ministerrates, Willi Stoph, sowie der Sekretär des Zentralkomitees (ZK) für Wirtschaft, Günter Mittag, im Politbüro wiederholt die überzogenen und ihrer Ansicht nach nicht erfüllbaren Planvorgaben der letzten Jahre. Für die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik im kommenden Fünfjahrplan 1971 bis 1975 plädierten Stoph und Mittag dafür, dass die Wirtschaftspläne von nun an auf realistischen ökonomischen Kennziffern beruhen und sich künftig nicht mehr nach weltfremden Illusionen politischer Administratoren richten sollten. Für eine Korrektur der Wirtschaftspolitik Ulbrichts setzte sich insbesondere Erich Honecker ein. Seit Mitte der 1960er-Jahre profilierte sich Honecker als schärfster Widersacher Ulbrichts und strikter Gegner der Wirtschaftsreformen. Honecker verantwortete sowohl im Politbüro als auch im Sekretariat des ZK die wichtigen Ressorts Sicherheit, Kader und Organisation. In der Öffentlichkeit präsentierte sich Honecker zunächst als Erfüllungsgehilfe des Ersten Sekretärs. Ulbricht überließ ihm bereits seit 1960/61 de facto die Leitung des Sekretariats des ZK, an dessen Beratungen er selbst nur noch selten teilnahm. Honecker gelang es, in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre über seine Dominanz im Sekretariat des ZK den zentralen Parteiapparat auf seine Seite zu ziehen und im Politbüro eine Mehrheit gegen den Wirtschaftskurs Ulbrichts zu mobilisieren.13 Die Konflikte zwischen Ulbricht und seinen Reformstrategen und dem von Honecker geleiteten Flügel der Parteibürokratie wurzelten im Wesentlichen in der von beiden Lagern unterschiedlich beantworteten Frage, ob eine Reform

12 Vgl. André Steiner, Weder Plan noch Markt: Bilanz der DDR-Wirtschaftsreformen der sechziger Jahre. In: Christoph Boyer/Peter Skyba (Hg.), Repression und Wohlstands­ versprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der ČSSR, Dresden 1999, S. 29–36. 13 Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 370 ff.

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Andreas Malycha

des Herrschaftssystems ohne Gefährdung des gesamten Machtgefüges möglich sei. Offensichtlich sah Ulbricht im Unterschied zu den 1950er-Jahren eine derartige Möglichkeit. Einer Mehrheit des Politbüros um Honecker erschien die Reform unter dem Gesichtspunkt der Herrschaftssicherung der SED zu riskant. Der „Prager Frühling“ in der Tschechoslowakei 1968 hatte gezeigt, auf welche Weise eine Debatte um Wirtschaftsreformen in eine gesamtgesellschaftliche Diskussion einmünden kann, die vor dem politischen System nicht Halt macht. Der konservative Flügel der Parteispitze verschloss zwar vor den immensen wirtschaftlichen Problemen nicht die Augen und schätzte intern die Verhältnisse durchaus real ein, doch fürchtete er die Eigendynamik einmal in Angriff genommener Reformprojekte und den damit drohenden Kontrollverlust über gesellschaftspolitische Entwicklungen. Diese Reformverweigerung bildete bis zum Rücktritt Honeckers im Oktober 1989 eine Konstante und folgte aus seiner Sicht einer gewissen machtpolitischen Logik. Ulbrichts Sturz durch Honecker am 3. Mai 1971 wurde mit wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen des langjährigen Ersten Sekretärs des ZK der SED und einer durch seine ambitionierte Wissenschafts- und Wirtschaftspolitik hervorgerufene Versorgungskrise begründet. Tatsächlich kam es im Jahr 1970 zu erheblichen Störungen im Wirtschaftsablauf sowie zu gravierenden Versorgungsproblemen, die die von Ulbricht gegen innerparteiliche Widerstände durchgesetzte Wirtschaftsreform diskreditierten. Die Überwindung der 1970 ausgebrochenen Versorgungskrise, die im Ergebnis unrealistischer Wachstumsziele in der Industrie entstanden war, deuteten Honecker und die Mehrheit im Politbüro als Zeichen des Erfolgs der neuen Wirtschaftsstrategie. Honecker gab die bevorzugte Förderung von Forschung und Entwicklung in bedeutsamen Technologiebereichen auf und bewilligte Investitionen für die Leicht- und Lebensmittelindustrie. Er stützte sich auf das gewiss zutreffende Argument, dass in den Jahren zuvor konsumorientierte Wirtschaftssektoren sträflich vernachlässigt worden wären. Das nutzte der neue Parteichef, um auf dem VIII. Partei­ tag der SED zu verkünden, dass in Zukunft die Versorgung der Bevölkerung verbessert werden solle. Honecker begründete diese Grundsatzentscheidung bereits am 23. März 1971 im Politbüro mit dem dringenden Gebot, in Anbetracht der andauernden Versorgungskrise die DDR politisch zu stabilisieren, denn man könne „nie gegen die Arbeiter regieren“.14 Vor dem Hintergrund des sich verschlechternden Konsumangebots und des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung fürchtete die SED-Spitze, es könne zum offenen Protest kommen. In besonderer Weise beeinflussten die Ereignisse in Polen die Entscheidung für ein Umsteuern in der Sozialpolitik. In Gdingen, Stettin und Danzig war es im Dezember 1970 als Folge drastischer Preiserhöhungen für Lebensmittel und andere Gebrauchsgü-

14 Persönliche Niederschrift Heinz Klopfers über die Beratung im Politbüro vom 23.3.1971 (Bundesarchiv, DE 1/58548).

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ter zu Streiks, Massenkundgebungen und Demonstrationen gekommen.15 Die Vorstellungswelt Honeckers war in weitaus stärkerem Maße als die der anderen SED-Funktionäre von dem Glauben geprägt, durch Sozialpolitik Loyalität in der Bevölkerung und damit politische Stabilität des Systems erzeugen zu können. Für die SED-Wirtschaftsfunktionäre in der Staatlichen Plankommission dagegen war die Erzeugung von Massenloyalität weniger wichtig, denn sie waren vielmehr auf ein ansatzweise effizientes Wirtschaftssystem fixiert. Grundsätzlich entschied sich die SED-Führung nicht selbstständig und unabhängig von der sowjetischen Führung für einen Wirtschaftskurs, der auf eine Anhebung des Lebensstandards der Bevölkerung abzielte. Dieser beruhte vielmehr auf sowjetischen Vorgaben. In Moskau hatte sich das Politbüro der KPdSU im Vorfeld des XXIV. Parteitags für eine konsumorientierte Wirtschaftspolitik entschieden, der nun alle osteuropäischen Staatsparteien folgten.16 Damit war jedoch ein politisch erzwungener Rückgang der Investitionen in Forschung und Entwicklung verbunden, der als einer der Gründe für die im Laufe der 1970er-Jahre aufbrechenden Krisensymptome in der Wirtschaft gesehen werden kann. Die technische Basis der Industrie konnte mit den internatio­ nalen Standards nicht mehr Schritt halten.17 Honeckers Konzept der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik war mit technologischen Innovationen in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik grundsätzlich nicht zu vereinbaren. Sein Kalkül, unter Ignorierung der wissenschaftlich-technischen Revolution eine exzessive Sozialpolitik zu verwirklichen und auf diese Weise das Herrschaftssystem zu stabilisieren, konnte somit auf Dauer nicht aufgehen. Gleichwohl verpflichtete nicht nur das rigorose Streben nach Machterhalt und Legitimation, sondern auch das marxistische Selbstverständnis der SED, die daraus resultierenden ideologischen Zwänge sowie insbesondere die Systemkonkurrenz in unmittelbarer Nachbarschaft zur Bundesrepublik Deutschland die SED-Führung dazu, die soziale Entwicklung jetzt stärker als zuvor zum Maßstab ihres Handelns zu machen. Das gesellschaftspolitische Ideal, so wie es offiziell als ideologischer Anspruch formuliert und propagiert wurde, wurzelte in der kommunistischen Tradition des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Darin spielte das Leitbild, in dem die Grundbedürfnisse Arbeit, Wohnen und Ernährung der Arbeiter nicht nur gesichert, sondern auch unter finanziell

15 Vgl. Peter Hübner/Christa Hübner, Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik in der DDR und Polen 1968–1976, Köln 2008, S. 184 ff.; Christoph Kleßmann, Gesamt­ betrachtung. In: ders. (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band  9: Deutsche Demokratische Republik 1961–1971. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung, Baden-Baden 2006, S. 797. 16 Vgl. Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform, S. 543. 17 Vgl. Hans-Jürgen Wagener, Zur Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft. In: Johannes Bähr/Dietmar Petzina (Hg.), Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945–1990, Berlin 1996, S. 21–48.

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Andreas Malycha

günstigen Bedingungen befriedigt werden sollten, eine zentrale Rolle.18 Nicht nur in der offiziellen Propaganda, auch in internen Debatten im Politbüro über ­so­zialpolitische Grundsatzentscheidungen tauchte die kommunistische Interpretation sozialer Gleichheit immer wieder auf. Sozial- und Wirtschaftspolitik kamen unter diesen Prämissen eine doppelte Funktion zu: Zum einen gehörten sie zu den großen Verheißungen der SED, die den DDR-Bürgern ein „kulturvolles Leben“ in sozialer Absicherung versprachen, zum anderen sollten diese Perspektiven das Engagement für die sozialistische Ordnung fördern und damit wiederum der wirtschaftlichen Leistungskraft zugutekommen.19 Sozialund Wirtschaftspolitik standen aber stets unter dem Primat herrschaftssichernder Zielsetzungen.20

Kontroversen über die Wirtschaftspolitik der SED in den 1970erund 1980er-Jahren Hintergrund der Debatten im SED-Politbüro war die Skepsis, die sich unter den Planungsfachleuten in der Staatlichen Plankommission über die ökonomische Umsetzung von Honeckers Sozialpolitik verbreitet hatte. Unter ihnen wurde bezweifelt, dass die ökonomische Basis für die Verwirklichung der ausufernden sozialpolitischen Pläne tragfähig sein würde. Experten aus der Plankommission, aber auch Wirtschaftsfunktionäre aus wirtschaftspolitischen Abteilungen des Zentralkomitees hatten bereits Anfang der 1970er-Jahre gefordert, sozialpolitische Maßnahmen stärker an die Stimulierung von Leistung und die Förderung des Wirtschaftswachstums zu koppeln. Bereits während der Konzipierung und konkreten Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Jahren 1972 und 1973 brachen Konflikte auf, in deren Zentrum die Belastungs- und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft als Folge ausufernder Sozial- und Konsumpolitik, insbesondere einer Ausweitung kreditfinanzierter Konsumgüterimporte, stand. Speziell die zentrale Planungsbehörde meldete grundsätzliche Vorbehalte an. Sie hielt den im Politbüro beschlossenen Umfang des Sozialpakets aufgrund der hierfür notwendigen wirtschaftlichen Leistungssteigerungen von vornherein für nicht realistisch. Vor allem befürchtete die Plankommis­sion durch eine Ausweitung des Konsumgüterangebots ein 18 Vgl. Christoph Kleßmann, Arbeiter im „Arbeiterstaat“ DDR. Deutsche Traditionen, sow­jetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945–1971), Bonn 2007; Peter Hüb­ ner, Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989. Zwischen Fordismus und digitaler Revolution, Bonn 2013. 19 Vgl. Sandrine Kott, Zur Geschichte des kulturellen Lebens in DDR-Betrieben. Konzepte und Praxis der betrieblichen Kulturarbeit. In: Archiv für Sozialgeschichte, 39 (1999), S. 167–195. 20 Vgl. Peter Skyba/Christoph Boyer, Gesellschaftliche Strukturen und sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder. In: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Band 10: 1971–1989. Deutsche Demokratische Republik. Bewegung in der Sozialpolitik, Erstar­ rung und Niedergang, Baden-Baden 2008, S. 67–144.

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stetiges Schrumpfen der Investitionen im produktiven Bereich der Industrie und damit einen nicht mehr auszugleichenden Leistungsabfall der gesamten Volkswirtschaft. So stand im Kern des bis 1989 anhaltenden Konflikts, der sich in der Hauptsache auf ­Honecker und den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, zuspitzte, die Frage nach den Prioritäten im Mittelpunkt: Konsumtion oder produktive Investition.21 Seit die Probleme offenkundig wurden, also seit Mitte der 1970er-Jahre, brachen erste Kontroversen grundsätzlicher Art über die seit dem VIII. Parteitag 1971 verfolgte Wirtschaftspolitik auf. Gegen die konsumorientierte Wirtschaftspolitik, insbesondere gegen das Anwachsen der Devisenverschuldung, regte sich im Politbüro und unter Wirtschaftsexperten, früher als bislang angenommen, Widerstand – und dies sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen. Vor allem Schürer wies im Politbüro schon sehr früh darauf hin, dass die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der 1971 beschlossenen Form aus eigenen Wirtschaftsleistungen nicht finanzierbar sein würde und somit unvermeidlich zur Verschuldung führen müsse. Anfangs wurde Schürer noch durch die Wirtschaftssekretäre Mittag und Werner Krolikowski in dem Anliegen unterstützt, auf die Grenzen des Produktionswachstums hinzuweisen und insbesondere vor den Gefahren der Auslandsverschuldung zu warnen. Auch der Vorsitzende des Ministerrates, Willi Stoph, äußerte sich im Oktober 1972 besorgt über die im Politbüro diskutierten Pläne, die Investitionsquote in der Industrie zugunsten der Sozialausgaben schrittweise zu senken.22 Selbst der Leiter der Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED, Erich Wappler, sah im Februar 1972 in der Ausweitung der kreditfinanzierten Konsumgüter­ importe die Gefahr einer zunehmenden Westverschuldung, wodurch die Wirtschaft der DDR störanfällig und politisch erpressbar werden könnte.23 Parteichef Honecker bewertete schon damals derartige Warnungen als „Torpedierung der Hauptaufgabe“, die sich gegen die Beschlüsse des VIII. Parteitags richten würden.24 Im Leitungsgremium der Staatlichen Plankommission machte sich daraufhin Ernüchterung breit, war doch die Ablösung Ulbrichts unter anderem mit unrealistischen Wirtschaftsplänen und utopischen Plankenn­ziffern begründet worden. Nun deutete sich an, dass die Forderungen führender Wirtschaftsfunktionäre nach realistischer Wirtschaftsplanung erneut von einer Politbüromehrheit ignoriert wurden und sich in der Parteispitze abermals ökonomisches Wunschdenken breitmachte.

21 Vgl. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 178. 22 Vgl. Notizen Gerhard Schürers über die Beratung bei Günter Mittag vom 3.10.1972 ­(Bundesarchiv, DE 1/58536). 23 Vgl. Stellungnahme der Abteilung Planung und Finanzen über die Durchführung des Fünfjahrplanes vom 11.2.1972 (ebd., DE 1/58657). 24 Persönliche Notizen Heinz Klopfers über die Sitzung des Politbüros vom 18.1.1972 ­(Bundesarchiv, DE 1/58550).

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Andreas Malycha

Die im Laufe der 1970er-Jahre im Politbüro aufbrechenden Konflikte über den wirtschaftspolitischen Kurs der Partei entwickelten sich zu einem zentralen Konfliktfeld innerhalb der SED-Führung, lange bevor in den 1980er-Jahren die ökonomische Krise in der DDR rasant anwuchs.25 Honecker reagierte auf Kritik an der Wirtschaftspolitik, insbesondere auf kritische Kommentare zur wachsenden Verschuldung im westlichen Ausland, zunehmend gereizter. Die Vorschläge von Mittag und Schürer, die Einfuhr westlicher Konsumgüter zu reduzieren sowie die Ausfuhr attraktiver Exportgüter auf Kosten des Versorgungsniveaus im Inland zu erhöhen, wurden von Honecker vehement zurückgewiesen. Ende der 1970er-Jahre wandte sich nun auch Wirtschaftssekretär Mittag gegen die Vorschläge Schürers zur Importeinschränkung und damit gegen den Abbau der Staatsschulden. Seitdem agierte er als treuer Gefolgsmann Honeckers.26 Seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wurde auch die ansteigende Westverschuldung zum Dauerthema im Politbüro. Eine Mehrheit im Politbüro lehnte die von Schürer wiederholt geforderte Drosselung der Einfuhr westlicher Konsumgüter ab, weil dadurch unmittelbar eine Verschlechterung der Versorgungslage der Bevölkerung befürchtet wurde. Ähnliche Folgen wurden durch die Steigerung der Exporte in den Westen befürchtet, weil die dafür vorgesehenen Güter, darunter landwirtschaftliche Produkte, dem Binnenmarkt entzogen werden und sich somit auf das Versorgungsniveau im Inland auswirken mussten. Voraussetzung für einen vorteilhaften Außenhandel mit westeuropäischen Ländern waren wettbewerbsfähige und devisenrentable Exportgüter, an denen es der DDR jedoch aufgrund ihres technologischen Rückstandes und der vergleichsweise geringeren Arbeitsproduktivität mangelte.27 Anfang der 1980er-Jahre wuchs in der engeren Führung der SED der Unmut über das Unvermögen, die Westverschuldung zu stoppen. Zum heimlichen Sprecher dieses Unmuts avancierte Krolikowski, der die Strategie der Herrschaftssicherung durch gesteigerte Konsumangebote für einen ökonomischen Irrweg hielt. Krolikowski gehörte zu jenen Politbüromitgliedern, die hinter dem Rücken des SED-Chefs auf eine Zurücknahme bzw. Korrektur der ausufernden Sozialpolitik drängten und den privaten Konsum der Bevölkerung zugunsten produktiver Investitionen drosseln wollten. Seine während der Untersuchungshaft im Januar 1990 niedergeschriebene Behauptung, er habe als Einziger im Politbüro von Anfang an offen den abenteuerlichen Wirtschaftskurs Honeckers kritisiert und sei daraufhin ins politische Abseits gedrängt worden, gehört allerdings zu den sorgsam gepflegten Mythen, die nach dem Niedergang der SED 25 Die hier geschilderten Debatten im Politbüro werden ausführlich beschrieben bei Andreas Malycha, Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989, München 2014. 26 Vgl. Carl-Heinz Janson, Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, Düsseldorf 1991. 27 Vgl. André Steiner, Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR. In: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 153–192.

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von vormaligen Spitzenfunktionären in Umlauf gesetzt wurden.28 Die Mitschriften der Beratungen bei Honecker über den Wirtschaftskurs der Partei belegen, dass Krolikowski mit keinerlei kritischen Bemerkungen auffiel. Er nutzte für seine Ansichten nicht die Plattform der Beratungen bei Honecker im Politbüro, sondern geheime Kanäle nach Moskau, um sich bei der sowjetischen Führung über Honeckers Sozialpolitik und die daraus resultierende Verschuldung gegenüber dem Westen zu beschweren. In Anbetracht der nicht mehr zu übersehenden Wirtschaftskrise suchte das SED-Politbüro vergeblich nach Auswegen. Honecker sah allem Anschein nach in Wirtschaftssekretär Mittag lange Zeit den einzigen Hoffnungsträger, der in der Lage zu sein schien, die wirtschaftliche Katastrophe doch noch abzuwenden. Mittag ließ sich offensichtlich von der Vorstellung leiten, komplizierte ökonomische Probleme könnten noch wie in den 1950er-Jahren allein mit ideologischen Appellen und politischen Direktiven gelöst werden. Bei ihm dominierte ökonomisches Wunschdenken und politisches Kalkül gegenüber nüchternem Sachverstand. Funktionäre mit wirtschaftswissenschaftlicher Kompetenz fanden bei ihm kaum noch Gehör. Doch alle politischen Appelle und wiederholten Politbürobeschlüsse halfen nichts. Gegen Ende des Jahres 1988 hatte sich die wirtschaftliche Situation keineswegs gebessert, im Gegenteil. Der Plan der industriellen Warenproduktion konnte wie schon in den Jahren zuvor nicht erfüllt werden, wobei auch die Rentabilitätsziele deutlich verfehlt wurden. Seit Januar 1989 glaubte Honecker offenbar selbst nicht mehr an die Möglichkeit, den wirtschaftlichen Niedergang noch aufhalten zu können. Seit dieser Zeit fiel er im Politbüro nur noch mit kraft- und ideenlosen Durchhalteparolen auf. Er nahm die gesellschaftliche Realität lediglich mit bitterem Sarkasmus zur Kenntnis und wusste nicht mehr, wie darauf reagiert werden sollte. Führende Wirtschaftsfunktionäre in der Staatlichen Plankommission wie auch in den wirtschaftspolitischen Abteilungen des ZK der SED hatten bereits viele Jahre zuvor den Glauben an den Erfolg von Honeckers Konsumsozialismus verloren, wie aus internen Berichten des Staatssicherheitsdienstes hervorgeht.29 Das Unvermögen, die anwachsenden ökonomischen Probleme lösen und auf die bestehenden Missstände reagieren zu können, erschütterte unter Funktionären in den SED-Bezirks- und Kreisleitungen den Glauben an die Lebensfähigkeit des bestehenden Systems. Die Demoralisierung der politischen Eliten schritt in den 1980er-Jahren rasant voran. Aus Angst vor Ablösung aus der Funktion konnte die Fassade von politischer und ökonomischer Stabilität noch bis weit in die 1980er-Jahre aufrecht erhalten werden.

28 Vgl. Peter Przybylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 321–339. 29 Vgl. Andreas Malycha, Staatssicherheit und Wirtschaftskrise – Warnungen des MfS vor dem ökonomischen Niedergang der DDR in den 1980er-Jahren. In: Totalitarismus und Demokratie. Zeitschrift für Internationale Diktatur- und Freiheitsforschung, 11 (2014) 2, S. 251–265.

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Andreas Malycha

Die Wirtschaft der DDR befand sich auf einer rasanten Talfahrt. Zunehmender Verschleiß der technischen Ausrüstung, rückläufige Investitionsquoten, steigende Rohstoffkosten, mangelnde Konkurrenzfähigkeit der DDR-Erzeugnisse auf dem Weltmarkt, steigende Zinsen für die Aufnahme neuer Schulden bei westlichen Banken und die Kürzung sowjetischer Rohöllieferungen seit Anfang 1982 stürzten die DDR in die bis dahin tiefste ökonomische Krise. Generell war die Wirtschaft der DDR aufgrund systembedingter Funktionsmängel nicht mehr in der Lage, auf die neuen Herausforderungen der Weltwirtschaft zu reagieren.30 Mit dem herkömmlichen Produktionsprofil war es weder möglich, die Exporte zu steigern noch die Importe zu senken. In internen Mitteilungen berichtete das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) seit Anfang der 1980er-Jahre unentwegt über ständig anwachsende wirtschaftliche Probleme: das steigende Zahlungsbilanzdefizit, Planmanipulationen in einzelnen Wirtschaftsministerien, Rückstände im Wohnungsbauprogramm und in der Erfüllung des Wirtschaftsplanes.31 Besorgniserregend seien insbesondere die rapide sinkende Arbeitsmoral in den Betrieben und die wachsende Unzufriedenheit unter den Belegschaften. Anfang Januar 1982 informierte MfS-Hauptabteilungsleiter Alfred Kleine Minister ­Erich Mielke von den wachsenden Sorgen über den Zustand der Wirtschaft, die aus der mittleren Leitungsebene der Wirtschaft an ihn oder seine Abteilungsleiter herangetragen worden seien.32 Von Erscheinungen der Resignation und Gleichgültigkeit war die Rede, da alle Versuche, eine auch nur partielle Kurs­ änderung herbeizuführen, am Beharrungsvermögen des Politbüros gescheitert waren. Kleine schilderte dem Minister die vorherrschende pessimistische Stimmung unter leitenden SED-Wirtschaftsfunktionären, die längst nicht mehr an die offiziell gepriesenen Vorzüge der sozialistischen Planwirtschaft glaubten. Vielfach fügten sie sich wider besseres Wissens der Parteidisziplin und stimmten den Vorgaben des Politbüros zu. Damit war eine zentrale Stütze der SED-Herrschaft aufgeweicht. Das Ausmaß der inneren Erosion im Herrschaftsapparat der Partei bildete einen, wenn nicht sogar den entscheidenden Faktor für den rasanten Zusammenbruch der SED-Herrschaft im Herbst 1989. In der Parteibasis herrschte seit der Ablehnung der Gorbatschow-Reformen durch die Führung Verbitterung und Wut über die Ignoranz der Führung. Auf den Versammlungen der SED-Grundorganisationen wurden zwar kritische Fragen an die Parteileitungen gestellt, doch zum offenen Aufbegehren gegen den politischen Starrsinn des Politbüros konnten sich nur wenige durchringen. Kritische Diskussionen wurden mit dem Hinweis auf die Parteidisziplin abgewürgt. Wer auf Parteiversammlungen die kaum zu übersehenden Probleme ansprach und

30 Vgl. André Steiner, Faktoren des wirtschaftlichen Niedergangs der DDR. In: Deutschland Archiv, 42 (2009), S. 459–465. 31 Vgl. die Information Alfred Kleines für Erich Mielke vom 25.11.1980 (Archiv BStU, MfS, HA XVIII 4692, Bl. 42). 32 Vgl. die Information Kleines für Mielke vom 2.1.1982 (ebd., HA XVIII 4693, Bl. 03).

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klare Antworten verlangte, wurde sehr schnell als „Meckerer und Nörgler“ abgestempelt. Honecker demonstrierte auf einer Politbürositzung am 28. F ­ ebruar 1989 noch einmal, wie er auf Kritik von Mitgliedern an Führungsbeschlüssen zu reagieren pflegte: Der Leitspruch, „wo ein Genosse ist, da ist auch die Partei“, erfordere seiner Ansicht nach, dass die Partei ein Kampfbund von Gleichgesinnten zu sein habe und nicht von Nörglern. Wo immer davon abgegangen werde, da entstünde „Verwirrung bei den Menschen“. Nötig sei dementsprechend „Entschlossenheit und mannhaftes Auftreten“.33 Mit diesem starrsinnigen Ansatz glaubten Honecker und das Politbüro, die eskalierende Erosion der eigenen Machtbasis aufhalten zu können. Bis zum Herbst 1989 war die Unzufriedenheit über die hilflose Suche des Politbüros nach einem Ausweg noch gewachsen, was sich auch in den steigenden Austritten aus der SED ­widerspiegelte. Tabelle 2: Mitgliederverluste von Januar bis Oktober 198934 Monat

Verluste gesamt

Ausschlüsse Streichungen

Austritte

Tod

Januar

5 462

1 168

620

1 222

2 452

Februar

6 546

1 397

835

1 552

2 762

März

5 746

1 261

784

1 334

2 367

April

6 769

1 627

1 072

1 299

2 771

Mai

5 920

1 454

840

1 570

2 056

Juni

6 763

1 648

853

1 769

2 493

Juli

9 833

2 244

1 218

2 803

3 568

August

7 486

1 715

1 001

2 586

2 184

September

9 986

1 940

1 199

4 642

2 205

Oktober

17 735

2 709

2 042

10 915

2 069

Gesamt

82 246

17 163

10 464

29 692

24 927

In der Parteibasis gab es die Befürchtung, dass sich die „Altherrenriege“ des Politbüros auf dem bevorstehenden XII. Parteitag erneut an die Spitze der Partei „wählen“ lassen würde. Insbesondere die starrsinnige Reformverweigerung führte dazu, dass die Führung jeglichen Kredit selbst bei überzeugten Parteimitgliedern eingebüßt hatte. Ziemlich eindeutig herrschte die Meinung vor, ihre Ablösung sei eine Voraussetzung für Veränderungen in der Politik der SED.

33 Notizen von Egon Krenz über die Sitzung des Politbüros vom 28.2.1989 in SAPMO BArch, DY 30/IV 2/2.039/70. 34 Vgl. die Mitgliederstatistik in SAPMO BArch, DY 30/27892.

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Andreas Malycha

Fazit Honecker und die Mehrheit des Politbüros hielten trotz der erkennbaren Leistungsgrenzen der Wirtschaft und der Mängel der Planungsökonomie an der Strategie fest, durch eine ökonomisch nicht fundierte Sozialpolitik die Herrschaft der SED zu stabilisieren. Jegliche Korrektur oder gar Zurücknahme sozialpolitischer Maßnahmen lehnte Honecker ab, weil als Folge davon politische Instabilität, soziale Unruhe und eine Stärkung der innenpolitischen Opposition befürchtet wurde. Hierbei wirkten noch die Erfahrungen vom Juni 1953 nach, die zu großer Vorsicht bei Einschnitten in die Lebenssituation der Bevölkerung zwang. Nicht zu bestreiten ist, dass die Befürchtungen, ein Absenken des Lebens­ standards würde die Macht der SED gefährden, einen realen Hintergrund hatten. Tatsächlich konnte mit der verkündeten Aussicht auf Verbesserungen der sozialen Lage das Herrschaftssystem zeitweilig stabilisiert ­werden. Indem aber dieser Ansatz zur zentralen Begründung der Legitimität der SED-Herrschaft erklärt wurde, stand die SED unter Erfolgszwang. Die Kopplung von Wohlstandsversprechen und Legitimation der SED-Herrschaft bot zwar die Chance zur zeitweiligen Herrschaftskonsolidierung, vergrößerte aber das Risiko des völligen Scheiterns. Auf der anderen Seite forderten die Politbüromitglieder Schürer, Stoph und Krolikowski die Beachtung ökonomischer Grundregeln, die es erforderlich gemacht hätten, realistische Wirtschaftspläne auszuarbeiten, die Industriestruktur zu verändern und sowohl die gesellschaftliche als auch die private Konsumtion zu drosseln. Dazu gehörten der Abbau der Subventionen, ein grundlegendes Umschwenken in der Investitionspolitik und Preiserhöhungen in allen Bereichen, auch in der Preisgestaltung von Grundnahrungsmitteln. Ebenso wäre es dazu notwendig gewesen, Abstriche am Sozialprogramm zu akzeptieren. In der Folge wäre es höchstwahrscheinlich gelungen, die Wirtschaft zeitweilig zu stabilisieren. Doch im Hinblick auf den Wunsch nach sozialem Wohlstand hätte die Bevölkerung der DDR dann erneut auf die Zukunft vertröstet werden müssen, da der versprochene wirtschaftliche Aufschwung weiter auf sich warten ließ. Die in der DDR aufgewachsene Generation wollte sich jedoch nicht mehr auf eine ferne Zukunft vertrösten lassen. Eine Umsteuerung durch drastische Einschränkung der kostspieligen Sozialpolitik zugunsten einer industriellen Modernisierungs- und Wachstumspolitik konnte sich die SED-Führung nicht leisten, wenn sie die passive Loyalität der Bevölkerungsmehrheit nicht aufs Spiel setzen wollte. Reale Handlungsalternativen standen dem Politbüro im Herbst 1989 somit nicht zur Verfügung. Während der Debatten im Politbüro konnten auch Schürer und seine Wirtschaftsexperten kein praktikables und durchsetzbares Wirtschaftskonzept anbieten. Insofern resultierte die Handlungsunfähigkeit der SED-Führung aus dem Mangel an Alternativen zum bislang eingeschlagenen Wirtschaftskurs. Sozialpolitik als Mittel der Stabilisierung der SED-Herrschaft war zwar kurzfristig erfolgreich, führte langfristig jedoch zu Problemen, die innerhalb des herrschenden Gesellschaftssystems nicht mehr gelöst werden konnten.

Legitimitätsprobleme im Sozialismus, Die Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik Manfred G. Schmidt „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen.“1 Eine Herrschaft ohne den Legitimitätsglauben der Beherrschten wäre „relativ labil“.2 Webers Lehrsatz vom Legitimitätsglauben als einzige verlässliche Herrschaftsstütze und strategisches Ziel von Herrschern wird durch die Befunde der Demokratie- und der Autokratieforschung gestützt:3 Wer herrscht, will in der Regel den Glauben an die Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft auf diese oder jene Weise erwecken und aufrechterhalten. Fraglich ist aber, so ist Webers Lehrsatz zu ergänzen, ob das Bestreben der Herrschenden, den Glauben an die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft zu wecken und lebendig zu halten, Erfolg hat oder scheitert.4 Und offen ist, mit welchen Strategien, Verfahren, Instrumenten und Gütern Autokratien den Legitimitätsglauben ­wach­rufen und wachhalten wollen.5 1 2 3

4 5

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 122. Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988 (EA 1922), S. 4–88, Zitat S. 475. Vgl. Paul Brooker, Non-Democratic Regimes, 3. Auflage Basingstoke 2014; Aurel Crois­ sant/Steffen Kailitz/Patrick Köllner/Stefan Wurster (Hg.), Comparing autocracies in the early Twenty-first Century. Vol. 1: Unpacking Autocracies: Explaining Similarity and Difference, London 2014; dies. (Hg.), Comparing autocracies in the early Twenty-first Century. Vol. 2: The Performance and Persistence of Autocracies, London 2014; Aurel Croissant/Stefan Wurster (Hg.), Contemporary Politics, 19 (2013) 1 (Special Issue: The Performance and Persistence of Autocracies); Steffen Kailitz/Patrick Köllner (Hg.), Autokratien im Vergleich, Baden-Baden 2013; Juan J. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000. Siehe am Beispiel der „Output-“ oder „Performanz-Legitimität“ in Autokratien Manfred G. Schmidt, Legitimation durch Performanz? Zur Output-Legitimität in Autokratien. In: Totalitarismus und Demokratie, 9 (2012) 1, S. 83–100. Die Varianz ist enorm, wie allein die vergleichende Erforschung der Sozialpolitik in Autokratien zeigt. Steffen Kailitz/Stefan Wurster, Sozialpolitische Legitimationsstrategien von Autokratien, DVPW Kongress, Duisburg 2015, unveröffentlichtes Manuskript; Manfred G. Schmidt, Der Demokratievorteil und der lange Schatten autokratischer Sozialpolitik – Neue Befunde des Demokratie-Autokratie-Vergleichs. In: Aurel Croissant/ Sascha Kneip/Alexander Petring (Hg.), Demokratie, Diktatur und Gerechtigkeit, Wies­ baden 2017, S. 569–592.

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Manfred G. Schmidt

Das Streben nach Legitimität im Weber’schen Sinne wird im vorliegenden Beitrag anhand der Sozialpolitik6 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) untersucht. Wurde die Sozialpolitik wirklich eine zentrale Legitimitätsquelle des „SED-Staates“?7 Oder war ihre Legitimität gering, sofern überhaupt vorhanden? Oder wirkte ihre Sozialpolitik in Legitimitätsfragen gar konterproduktiv, so eine Hypothese, die Huntingtons Lehre des Performanz-­Dilemmas in Autokratien entlehnt wurde?8 Diese Fragen leiten den vorliegenden Beitrag. Um sie zu beantworten, sind die besonderen Legitimitätsprobleme der DDR zu bedenken, die Architektur der DDR-Sozialpolitik zu schildern und ihre Bewertung in der DDR, soweit hierüber belastbare Daten vorliegen, und in der Fachliteratur zu rekonstruieren.

Legitimitätsprobleme im Sozialismus:9 der Fall DDR Die DDR war eine kommunistische Weltanschauungsdiktatur oder, so die Fachsprache der neueren Forschung, eine Autokratie vom Typ der „kommunistischen Ideokratie“.10 Wie alle Autokratien dieses Typs laborierte die Herrschaftsordnung in der DDR an Legitimitätsproblemen der besonderen Art: Einerseits erhob ihre politische Führung – die marxistisch-­leninistische Staatspartei, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) – besonders ehrgeizige Ansprüche: Die SED wähnte sich als „Avantgarde der Arbeiterklasse“ und Träger des Klassenbewusstseins des Proletariats, die die wahren gegenwärtigen und zukünftigen Interessen der großen Masse der Bevölkerung kennt, vertritt und

  6 Sozialpolitik wird hier im Sinne eines weit definierten Wohlfahrtsstaates verstanden, der einerseits hauptzuständig ist für Regelungen der sozialen Sicherheit gegen (indivi­ duell schwer oder nicht versicherbare) Risiken des Einkommensausfalls (insbesondere infolge von Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Tod des Ernährers) und andererseits durch Regulierung der Arbeitswelt tief in den Produktionsprozess und die Beschäftigung eingreift.   7 Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, 3. Auflage München 2013.   8 Samuel P. Huntington, The Third Wave, Democratization in the Late Twentieth Century, London 1991, S. 50.   9 Im Unterschied zu Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973, werden in diesem Beitrag nicht Legitimationsschwierigkeiten marktwirtschaftlicher Demokratien erörtert. Hier wird vielmehr nach tiefer verankerten Legitimitätsstrukturen in einem staatssozialistischen Regime geforscht. Und anders als Habermas, der zeitlebens Distanz zu Max Weber hielt, insbesondere zu den politischen Schriften Webers und seiner Herrschaftssoziologie, werden in diesem Beitrag Webers herrschaftssoziologische Kategorien genutzt und mit „Output-Legitimität“ (Fritz W. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970; ders., Regieren in Europa, Frankfurt a. M. 1999) sowie Konzepten der neueren Autokratie­ forschung ergänzt (siehe hierzu die in Fußnote 3 genannte Literatur). 10 Uwe Backes/Steffen Kailitz (Hg.), Ideokratien im Vergleich. Legitimation – ­Kooptation – Repression, Göttingen 2014; dies. (Hg.), Ideocracies in Comparison. Legitimation – cooptation – repression, Abingdon 2016.

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befriedigt. Andererseits laborierte der SED-Staat – wie die Herrschaftsordnungen anderer kommunistischer Auto­kratien – an einer tief verankerten strukturellen Legitimitätslücke. Die strukturelle Legitimitätslücke der DDR-Herrschaft zeigte sich allein schon im Spiegel der Weber’schen Herrschaftssoziologie.11 Das Fehlen einer nennenswerten traditionellen Herrschaft sorgte für eine von mehreren o ­ ffenen Legitimi­ tätsflanken des SED-Staates. Im Unterschied zu stabilen E ­rbmonarchien12 konnte sich die DDR-Führung nicht auf den „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“13 stützen. Der Aufbau des Sozialismus in der DDR hatte verbleibende traditionsbasierte Legitimitätsgründe religiöser und weltlicher Art gründlich zerstört. Und einen Ersatz dafür konnte die marxistisch-­leninistische Ideologie, auf die sich der SED-Staat berief, allenfalls dem weltanschaulich harten Kern seiner Mitglieder bieten. Dem SED-Staat mangelte es auch an legaler Herrschaft im Weber’schen Sinn. Die Legitimität der legalen Herrschaft gründet auf „dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts des durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“.14 In intakten Demokratien wurzelt die legale Herrschaft in der Politik, insbesondere in der Legitimitätsgeltung von Verfassung und Gesetz und in der Chance personeller und programmatischer Selbsterneuerung infolge regelmäßig stattfindender Wahlen und Regierungswechsel. In der DDR aber stand der legalen Herrschaft in der Politik allein schon die Suprematie der marxistisch-leninistischen Kaderpartei SED im Wege. Doch der Suprematie der SED fehlten anerkennungswürdige Verfahren des Machterwerbs, der Wahl und Abwahl der politischen Führung sowie der Machtausübung und -kontrolle.15 Die politische Führung der DDR hatte obendrein keine nennenswerte charismatische Legitimität auf ihrer Seite. Im Unterschied zu personalistischen Autokratien mit charismatischen Herrschern und im weiteren Unterschied zu Theokratien konnte sich die DDR-Führung somit nicht auf die Anerkennung der Herrschaft stützen, die in der „außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie geschaffenen Ordnung“16 wurzelt. Der charismatischen Legitimität stand in der DDR ­allein schon die intransparente, nichtdemokratische Rekrutierung der politischen Führer aus einer Kaderpartei im Wege, ganz abgesehen von dem gehörigen Maß Mittelmäßigkeit bei größeren Teilen des politischen ­Führungspersonals.17 11 12 13 14 15

Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122–176; ders., Typen. Vgl. Gisela Riescher/Alexander Thumfart (Hg.), Monarchien, Baden-Baden 2008. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124. Ebd. Michael Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissen­ schaft in der DDR, München 2009. 16 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124. 17 Vgl. Theo Pirker/M. Rainer Lepsius/Rainer Weinert/Hans-Hermann Hertle (Hg.), Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995.

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Manfred G. Schmidt

Dem SED-Staat mangelte es folglich an allen klassischen Legitimitätsressourcen im Sinne der Weber’schen Herrschaftssoziologie. Außerdem hatte die DDR, im Unterschied zu allen anderen staatssozialistischen Ländern in Europa, mit der Bundesrepublik Deutschland einen Nachbarstaat, der für viele ­ihrer Bürger die attraktive Referenzgesellschaft war, deren politische, soziale und ökonomische Güter in besonderem Maße wertgeschätzt wurden. Die Präsenz der Bundesrepublik und die Attraktivität ihrer wirtschaftlichen und sozialpolitischen Ordnung verschärften das strukturelle Legitimitätsproblem der DDR, und zwar umso mehr, umso stärker die Wirtschaftskraft und das Wohlfahrtsniveau der DDR hinter der Bundesrepublik zurückblieben. Die Hoffnung, diesem Mangel durch Ideologie abzuhelfen, insbesondere durch die – auf die ferne Zukunft gerichteten – Heilsversprechen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung, trug nicht weit. Gegen diese Hoffnung sprach allein schon die Natur eines ideologiebasierten Anspruchs auf Legitimierung. Er ist, in Webers Terminologie, ein „wertrationales“ oder „ideelles Motiv“ der Fügsamkeit und insoweit nur eine labile Herrschaftsstütze.18 In der Verfassungswirklichkeit der DDR waren die Grenzen dieser Legitimierung ebenfalls unübersehbar: An die Herrschaftslegitimierung durch die kommunistische Ideologie glaubten wohl nur SED-Mitglieder und Aufstiegsgewinner in und außerhalb der SED – und selbst das in abnehmendem Maße.19 Auch etliche andere Legitimierungsbestrebungen des SED-Regimes versprachen wenig nachhaltigen Ertrag: Das Vorhaben, die DDR als „Friedensmacht“ zu präsentieren und hierfür Anerkennung zu gewinnen, verblasste alsbald angesichts der Militarisierungstendenzen im Inneren der DDR. Und die Präsentation der DDR als „antifaschistisches Bollwerk“ eignete sich ebenfalls nur partiell und nicht dauerhaft zur Legitimierung. Somit hatte das SED-Regime letztlich nur eine Chance für die massenwirksame Legitimierung seiner Herrschaft: die Erzeugung von Output-Legitimität, also von Anerkennungswürdigkeit und faktischer Anerkennung kraft politischer Leistung bei der Herstellung begehrter wirtschaftlicher und sozialer Güter. 18 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122. 19 Vgl. Christoph Boyer/Klaus-Dietmar Henke/Peter Skyba (Hg.), Geschichte der Sozial­ politik in Deutschland seit 1945, Band 10: Deutsche Demokratische Republik 1971– 1989. Bewegung in der Sozialpolitik, Erstarrung und Niedergang, Baden-Baden 2008; Rainer Lepsius, Institutionalisierung politischen Handelns. Analysen zur DDR, Wiedervereinigung und Europäischen Union, Wiesbaden 2013; ders., Deutschland. Ein Staat und zwei Gesellschaften. In: ders., Institutionalisierung, S. 143–159; ders., Handlungsräume und Rationalitätskriterien der Wirtschaftsfunktionäre in der Ära Honecker. In: ders., Institutionalisierung, S. 82–103; ders., Zur Reformunfähigkeit der DDR: Wirtschaftliche Entscheidungsstrukturen und der „Bereich Mittag“ im Zen­ tral­komitee der SED. In: ders., ­Institutionalisierung, S. 104–118. Auf abnehmende Zu­ stimmung selbst im engeren Kreis der systemtreuen Unterstützer verweist Anne Köhler, Marschierte der DDR-Bürger mit? Systemidentifikation der DDR-Bevölkerung vor und nach der Wende. In: Uta Gerhardt/Ekkehard Mochmann (Hg.), Gesellschaftlicher Umbruch 1945–1990: Redemokratisierung und Lebensverhältnisse, München 1992, S. 59–80.

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Der Sozialpolitik kam dabei eine potenziell überragende Bedeutung zu. Sie verhieß im Prinzip mehr Erfolg als alle anderen Legitimierungsbestrebungen des SED-Staates: Mit ihr konnte die bei vielen DDR-Bürgern populäre Idee der sozialen Gleichheit, für die die SED als „Wegbereiter des Sozialismus“ warb, angestrebt werden. Dafür war allerdings eine weithin sichtbare, ehrgeizige Sozialpolitik erforderlich. Diese aber verlangte die Aufwertung der Sozialpolitik gegenüber der Wirtschaftspolitik. Und diese Aufwertung des Sozialen riskierte bei widrigen Bedingungen die Inkaufnahme eines schweren Zielkonflikts zwischen sozialer Gleichheit und ökonomischer Effizienz.20 Just diese strategische Aufwertung der Sozialpolitik wie auch ihre Verstrickung in den Gleichheit-­ Effizienz-Zielkonflikt kennzeichneten die Sozialpolitik in der DDR, insbeson­ dere nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker im Jahre 1971.21 Ob die neue Sozialpolitik wirklich Output-Legitimität erzeugte, lässt sich erst im Lichte der Architektur der DDR-Sozialpolitik und ihrer Bewertungen durch Fachleute und Publikum sagen. Davon handeln die folgenden Abschnitte. Sie basieren auf der Auswertung einschlägiger Dokumente der DDR-Sozialpolitik22

20 Gemeint ist der „equality-efficiency tradeoff“ von Arthur M. Okun, Equality and Effi­ ciency. The Big Tradeoff, Washington, D. C. 1975. 21 Mit weiteren Nachweisen Hans Günter Hockerts, Grundlinien und soziale Folgen der Sozialpolitik in der DDR. In: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 519–544; Hans Günter Hockerts, Soziale Errungenschaften? Zum sozialpolitischen Legitimitätsanspruch der zweiten deutschen Diktatur. In: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hg.), Von der Arbeiter­bewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München 1994, S. 790–804; Manfred G. Schmidt, Grundlagen der Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1: Grundlagen der Sozialpolitik, Baden-Baden 2001, S. 689–798; ders., Sozialpolitik der DDR, Wiesbaden 2004; Christoph Kleßmann (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 9: Deutsche Demokratische Republik 1961–1971. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung, Baden-Baden 2006; Boyer/Henke/Skyba (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1971–1989; Alexander Bruce Burdumy, Sozialpolitik und Repression in der DDR, Berlin (Ost) 1971–1989, ­Essen 2013; Manfred G. Schmidt, Social Policy in the German Democratic Republic. In: ders./Gerhard Ritter, The Rise and Fall of a Socialist Welfare State. The German Democratic Republic (1949–1990) and German Unification (1989–1994), ­Heidelberg 2013, S. 23–166. 22 Siehe hierzu neben den Primär- und Sekundärquellen der DDR-Sozialpolitik einschlägige Dokumentensammlungen seitens der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutsch­ land, insbesondere: Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS] (Hg.), Verfasser André Steiner unter Mitarbeit von Matthias Judt und Thomas Reichel, Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band SBZ/DDR. Bonn 2006. Mit weiteren Nachweisen zudem Beiträge des Verfassers zum Thema: Manfred G. Schmidt, Grundzüge der Sozialpolitik der DDR. In: Eberhard Kuhrt/Hannsjörg F. Buck/Gunter Holzweißig (hg. im Auftrag des Bundesministers des Innern), Die Endzeit der DDR-Wirtschaft, Band 4: Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, Opladen 1999, S. 273–319; Schmidt, Grundlagen; Schmidt, Sozialpolitik der DDR; Schmidt, Social Policy.

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und der westlichen Fachliteratur über den Aufstieg und Niedergang eines sozia­ listischen Wohlfahrtsstaates.23 In politiktheoretischer Hinsicht kommen Hypothesen aus der vergleichenden Sozialpolitikforschung24 ebenso zum Zuge wie Theoreme der älteren und neueren Autokratieforschung.25

Die Architektur der Sozialpolitik im „Arbeiter- und Bauernstaat“ Die politische Führung der DDR errichtete einen Wohlfahrtsstaat eigener Art: den der „sozialistischen Sozialpolitik“, so die Selbstbeschreibung nach anfänglich zögerlichem Umgang mit dem Begriff der Sozialpolitik. Diese stand zunächst noch im Verdacht, ein Relikt der Reparaturwerkstätten bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft zu sein. Doch der hohe sozialpolitische Bedarf einer Industriegesellschaft mit fortgeschrittener Alterung der Bevölkerung und das Kalkül, aus Maßnahmen des Sozialschutzes wirtschaftliches und politisches Kapital zu schlagen, waren wirkungsmächtiger als klassenkämpferischer Argwohn. Wie in anderen sozialistischen Ländern in Mittel- und Osteuropa wurde auch in der DDR die Sozialpolitik weit ausgebaut.26 Am Ende ihrer Aufbau- und Aus23 Mit weiteren Nachweisen unter anderen Schmidt, Social Policy. 24 Manfred G. Schmidt/Tobias Ostheim/Nico A. Siegel/Reimut Zohlnhöfer (Hg.), Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich, Wiesbaden 2007. 25 Als einführender Überblick vgl. Brooker, Non-Democracies; weiterführend Croissant/ Kailitz/Köllner/Wurster (Hg.), Comparing Autocracies, Vol. 1, 2. 26 Davon zeugen die weit gespannten Sozialprogramme von der Wiege bis zur Bahre sowie die Deckungsquoten (gemessen am Anteil der von den Sozialprogrammen erfassten Bevölkerung). Bei den Pro-Kopf- und Pro-Fall-Leistungen ist das Bild variantenreicher: Neben überdurchschnittlich hohen Leistungen (wie Kindergeld, Förderung berufstätiger Mütter und Preisstützungen für Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs) gab es knapp bemessene Leistungen – wie die meisten Renten im Falle von Alter und Invalidität. Auch im Lichte der Sozialleistungsquoten laut ILO-Berichte über „The Cost of Social Security“ für die Kernsysteme der sozialen Sicherung: ILO (International Labour Office) (Hg.), The Cost of Social Security. Twelfth International Inquiry, 1981– 1983, Genf 1988; ILO (Hg.), The Cost of Social Security. Thirteenth International Inquiry, 1984–1986, Genf 1992; ILO (Hg.), The Cost of Social Security. Fourteenth International Inquiry, 1987–1989, Basic Tables, Genf 1996) fällt auf, dass der Anteil der Sozialausgaben am Nationaleinkommen in der DDR geringer als in der Tschechoslowakei und Ungarn war und geringer – soweit vergleichbar – als die im internationalen Vergleich hohen Sozialausgabenquoten der Bundesrepublik Deutschland (Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 2005, S. 242–244): Im Lichte von Mehrvariablenanalysen der Sozialleistungsquote nach ILO-Kriterien in 90 westlichen, östlichen und Dritte-WeltStaaten im Jahre 1989, war die DDR sogar ein „underspender“ – im Unterschied etwa zur Tschecho­slowakei, die sich als „overspender“ entpuppte (Schmidt, Sozialpolitik, S. 242–244). Allerdings erfassen die Sozialleistungsquoten der ILO weder die aufwendige Konsum­sozialpolitik, noch den Großteil der betrieblichen Sozialpolitik, noch die Sonderund Zusatzversorgungssysteme und schon gar nicht die Kosten des „Rechts auf Arbeit“. Zudem erfassen die Sozialausgabenquoten der ILO nicht den Sozialschutz, den die ungewöhnlich hohen Erwerbsquoten von Männern und Frauen in der DDR zustande

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bauphase – die, mit Ausnahme der dynamisch expandierenden Preisstützungen, im Wesentlichen in den 1970er-Jahren abgeschlossen waren – umfasste der Kern der „sozialistischen Sozialpolitik“27 der DDR sechs Kreise: eine autoritäre Arbeitsverfassung mit einer größtenteils partei- und staatsgesteuerten Lohnpolitik, das „Recht auf Arbeit“, den Sozialschutz der Sozialversicherungen, die betriebliche Sozialpolitik, Sozialprogramme für den Reproduktionsbereich und schließlich privilegierende Zusatz- und Sonderversorgungssysteme für politisch besonders umworbene Gruppen.28 Die sechs Kreise der DDR-Sozialpolitik 1. Der erste Kreis der DDR-Sozialpolitik bestand aus einer autoritären Arbeitsverfassung sozialistischer Art, die vom sowjetischen Modell der Arbeitsbeziehungen nicht allzu weit abwich.29 Die sozialistische Arbeitsverfassung der DDR wurde von der Staatspartei, der SED, reguliert und gesteuert. Sie war nicht gewerkschaftsfrei, wie die Arbeitsverfassung etlicher ­Autokratien, sondern kannte Gewerkschaften – wie die Arbeitsverfassung der Sowjetunion. Doch anders als die gegnerfreien Gewerkschaften der liberalen Demokra­ tien, waren die Gewerkschaften der sozialistischen Länder „Transmissionsriemen“ der Staatspartei, so die auf Lenin zurückgehende Funktionsbeschreibung. Der Kern der Arbeitsverfassung der DDR bestand aus einem von der SED dominierten Verbund von Staatspartei, Staatsapparat und Freiem Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). Der FDGB war eine eng mit der SED verknüpfte Staatsgewerkschaft, zugleich ein Kontroll- und ein Betreuungsapparat, der seit 1956 als Verwalter der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten und als Verteiler begehrter Dienstleistungen, wie Urlaubsreisen und Urlaubsunterkünfte, wie ein versorgungsstaatlicher Daseinsvorsorgegigant wirkte. Ein autoritärer, SED-gelenkter Korporatismus, meist auch nur die hierarchische Steuerung durch die SED-Führung und die für wirtschafts- und sozialpolitische Belange zuständigen Ministerien des Staatsapparates, dominierte die Schlüsselentscheidungen zur Arbeitsverfassung: ­namentlich die Arbeitsbeziehungen zwischen betrieblicher Leitung, Gewerkschaft und Partei insgesamt, Fragen des Arbeitsschutzes und der Arbeitszeit,

brachten. Sehr hohe Erwerbsquoten entlasteten die Sozialpolitik, weil sie besonders vielen Personen im erwerbsfähigen Alter ein nennenswertes Maß an sozialer Sicherung allein schon durch Beschäftigung und Arbeitseinkommen verschafften. 27 Ein Beispiel für viele Fundstellen: Im § 274 Abs. 1 des Arbeitsgesetzbuches der DDR war die Sozialversicherung ausdrücklich als „wichtiger Bestandteil sozialistischer So­ zialpolitik“ bezeichnet worden. Gesetzblatt der DDR 1977, Teil I, S. 175. 28 Schmidt, Social Policy. 29 Werner Hofmann, Die Arbeitsverfassung der Sowjetunion, Berlin 1956; Klaus von ­ eyme, Ökonomie und Politik im Sozialismus. Ein Vergleich der Entwicklung in den B so­zialistischen Ländern, München 1975.

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die ­Regelung von Arbeitskonflikten und insbesondere auch die Hauptlinien der ­Lohnpolitik. Die Lohnpolitik schloss Mindestlohnvorschriften ein. Diese sollten mit der Beschäftigungssicherung laut Recht auf Arbeit, der zweiten Säule der DDR-Sozialpolitik, die Basis der Sozialpolitik sein. Anreizsysteme, insbesondere betriebliche Zulagen und betriebliche Sozialleistungen, ergänzten und differenzierten die ansonsten auf ein hohes Maß an Nivellierung ausgerichtete Lohnpolitik. 2. Als Prunkstück der DDR-Sozialpolitik galt ihr zweiter Kreis: die in der Verfassung als „Recht auf Arbeit“ bezeichnete Vollbeschäftigung. Realisiert wurde das „Recht auf Arbeit“ durch eine Politik, die seit den frühen 1950er-Jahren mehr als 90 Prozent der männlichen Personen im erwerbsfähigen Alter und seit den frühen 1970er-Jahren mehr als 80 Prozent der weiblichen Erwerbs­ personen beschäftigte.30 Damit übertraf die DDR bei den Erwerbsquoten die anderen sozialistischen Länder um Längen31 und entpuppte sich somit mehr als alle anderen Staatssozialismen als eine „Arbeitsgesellschaft“.32 Die Beschäftigungssicherung durch das Recht auf Arbeit und die hohen Erwerbsquoten dienten zusammen mit existenzsichernden Löhnen der „Werktätigen“ als Fundament des gesamten Sozialschutzes. Wirtschaftspolitisch basierten das Recht auf Arbeit und die hohen Erwerbsquoten auf einer zentralgelenkten Planwirtschaft mit vergleichsweise niedriger Produktivität, arbeitsrechtlich auf einem rigiden Kündigungsschutz und in demografischer Hinsicht auf einem Arbeitskräfteangebot, das aufgrund der starken Abwanderung nach Westen – 2,7 Millionen Bürger allein bis 1961 – sowie fortgeschrittener Alterung der Bevölkerung knapp war.33 Betriebswirtschaftlich war das Recht auf Arbeit nur mit der für die sozialistischen Wirtschaftssysteme typischen „weichen Budgetschranke“ machbar:34 Mit ihr garantierte der Staat den Betrieben das wirtschaftliche Überleben auch bei chronischer Überforderung durch wirtschaftsfremde Vorgaben,35 wie Überfrachtung mit sozialpolitischen Aufgaben und prioritäre Vollbeschäftigung um jeden Preis, und bei chronischem Verlustgeschäft. Die „weiche Budgetschranke“ bestand hauptsächlich aus weichen Subventionen, verhandelbaren Steuererleichterungen, günstigen Krediten, weichen administrierten Preisen, Sonderzuwendungen und anderen politisch-ökonomischen Hilfen für die Betriebe einerseits und

30 BMAS (Hg.), Statistische Übersichten, S. 144. 31 Datenbasis: Statistiken des ILO Yearbook of Labour Statistics von 1966, 1970, 1976, 1984, 1987 und 1988, ferner Joni Lovenduski/Jean Woodall, Politics and Society in Eastern Europe, London 1987, Table 11.1. 32 Martin Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Diffe­ren­ zierung. In: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte, S. 31–61. 33 Die Bevölkerung der DDR schrumpfte von mehr als 18 Mio. zu Beginn der 1950er-Jahre auf 16,4 Mio. in den 1980er-Jahren (BMAS [Hg.], Statistische Übersichten, S. 1). 34 János Kornai, The Soft Budget Constraint. In: Kyklos, 39 (1986), S. 3–30. 35 Lepsius, Handlungsspielräume; ders., Reformunfähigkeit.

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andererseits aus Praktiken der Betriebsleitungen, die sich auf die besonderen Produktionsbedingungen einer Planwirtschaft mit hohem Politisierungsgrad, erheblichen Effizienzmängeln und Überlagerung wirtschaftlicher Rationalität durch wirtschaftsfremde Regulierungen eingestellt hatten.36 3. Vor allem bei der Alterssicherung und im Gesundheitswesen knüpfte die Sozialpolitik der DDR an Traditionen der deutschen Sozialpolitik an, die bis in die Gründungsjahre der Sozialgesetzgebung im Deutschen Reich von 1871 zurückreichten: Sozialpolitik im organisatorischen Gewand der Sozial­ versicherung für Erwerbstätige war hier die Leitlinie. Allerdings wurde die Sozialversicherung in der DDR mehr und mehr aus dem Staatshaushalt mitfinanziert. Organisatorisch umfasste dieser dritte Kreis der DDR-Sozial­ politik die als Einheitsversicherungen organisierte Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten einerseits37 und die Sozialversicherung bei der Staatlichen Versicherung der DDR andererseits. Letztere war die Sozialversicherung der Selbstständigen, der Bauern und der Handwerker.38 Die Sozial­versicherungen wurden allerdings schon in den Jahren der sowjetischen Besatzungszeit und mehr noch nach der 1949 erfolgten Gründung der DDR vereinheitlicht, zentralisiert, staats- und SED-lastiger ausgerichtet und mit neuen Steuerungsstrukturen versehen. 1956 übertrug die Parteiund Staatsspitze die Verwaltung der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten dem FDGB. 4. Sozialpolitische Programme im Reproduktionsbereich formten den vierten Kreis der DDR-Sozialpolitik: Einer ihrer Schwerpunkte lag insbesondere seit den 1970er-Jahren in der pronatalistischen Förderung von Familien mit Kindern und berufstätigen Müttern. Ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm kam hinzu, dem mit der Lösung der Wohnungsfrage als „soziales Problem“ allerdings ein viel zu hohes Ziel gesetzt wurde. Zudem gewannen die umfänglichen Preissubventionierungen von Gütern und Dienstleistungen des Grundbedarfs – die „Konsumsozialpolitik“ – ein zunehmend größeres Gewicht unter den sozialpolitischen Programmen für den Reproduktionsbereich, wovon insbesondere ihr wachsender Anteil an den gesamten Sozialausgaben zeugt.39

36 Vgl. Pirker/Lepsius/Weinert/Hertle (Hg.), Plan. 37 BMAS (Hg.), Statistische Übersichten, S. 158–168. 38 BMAS (Hg.), Statistische Übersichten, S. 181–200. Hinzu kam der Sonderfall, den die Betriebe der – für den Uranerzabbau zuständigen – sowjetisch-deutschen Aktien­ gesellschaft Wismut verkörperten. Zur Wismut gehörten eine eigene Sozial­ver­sicherung und ein eigenes Gesundheitswesen, die direkt aus dem Staatshaushalt der DDR und dem der Sowjetunion finanziert wurden. 39 BMAS (Hg.), Statistische Übersichten, S. 23, 30 ff., 46, 62. Zur Analyse der Preisstützungspolitik insbesondere die Beiträge von André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Stuttgart 2003; ders., Preisgestaltung. In: Boyer/ Henke/Skyba (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1971–1989, S. 304–324.

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5. Die Sozialpolitik der DDR enthielt überdies Komponenten eines unternehmensbasierten Wohlfahrtsstaates. Ohne die weit ausgebaute betriebliche Sozialpolitik, dem fünften Kreis der sozialen Sicherung, kann die Sozialpolitik des SED-Staates nicht verstanden werden. Die Betriebe waren ökonomisch und in sozialer Hinsicht in einer „Arbeitsgesellschaft“,40 wie sie die DDR mehr noch als andere sozialistische Länder verkörperte, ein zentraler Faktor, ja: der „Vergesellschaftungskern“.41 In den Betrieben wurde das „Recht auf Arbeit“ umgesetzt. Zudem fungierte die betriebliche Sozialpolitik als vielseitiger, häufig unersetzlicher Lückenfüller in der alltäglichen Daseinsvorsorge – von der Kinderbetreuung über Bereitstellung von ansonsten kaum zugänglichen Dienstleistungen und Waren bis zur Zuteilung von Wohnraum. Auch hierbei erwies sich die betriebliche Sozialpolitik als eine wichtige Legitimierungsquelle des SED-Staates.42 6. Sozialpolitische Vergünstigungen für politisch besonders umworbene Gruppen bildeten den sechsten Kreis der DDR-Sozialpolitik: 63 Zusatz- und vier Sonderversorgungssysteme für rund vier Prozent der Bevölkerung und am Ende der DDR für rund 7,1 Prozent aller Rentenzahlungen43 schufen ein System von „Versorgungsklassen“,44 das die (meist knapp bemessenen) Altersrenten beträchtlich aufbesserte, der Lohnnivellierung entgegenwirkte und Anreize für politisch besonders umworbene Gruppen bot – unter ihnen vor allem die „Intelligenz“ (im Sinne der „technischen“, der „wissenschaftlichen“, der „künstlerischen“ und der „medizinischen Intelligenz“), sodann Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, der Volkspolizei und anderer Staatsorgane sowie Mitglieder der SED und Mitglieder der Blockparteien. Hinzu kamen spezielle Sozialleistungen, unter ihnen „Ehrenpensionen“, für Gruppen, die ideologisch als besonders belohnungswürdig galten, wie die „Kämpfer gegen den Faschismus“, die „Verfolgten des Nazi-Regimes“ und Mitglieder der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“.45

40 Kohli, Arbeitsgesellschaft. 41 Lepsius, Deutschland, S. 147. 42 Instruktiv hierzu insbesondere die Beiträge von Peter Hübner, Der Betrieb als Ort der Sozialpolitik in der DDR. In: Christoph Boyer/Peter Skyba (Hg.), Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der ČSSR, Dresden, 1999, S. 63–74; ders., Betriebe als Träger der Sozialpolitik, betriebliche So­zialpolitik. In: Boyer/Henke/Skyba (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1971– 1989, S. 703–738. 43 BMAS (Hg.), Statistische Übersichten, S. 56. 44 Lepsius, Deutschland, S. 128–130. 45 BMAS (Hg.), Statistische Übersichten, S. 56, 201; Dierk Hoffmann, Soziale Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene. In: Boyer/Henke/Skyba (Hg.), Deutsche ­Demokratische Republik 1971–1989, S. 325–361, hier 359 f.

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Ergebnisse der „sozialistischen Sozialpolitik“ Mit dem Auf- und Ausbau der „sozialistischen Sozialpolitik“ war in der DDR ein Wohlfahrtsstaat entstanden, der nahezu allen Staatsbürgern eine Grundsicherung von der Wiege bis zur Bahre gewährleistete, mit meist knapp bemessenen Leistungen,46 überwiegend auf versorgungsstaatlicher Grundlage und auf Basis der Beschäftigung möglichst aller Arbeitsfähigen und somit auf der Grundlage einer sehr hohen Erwerbsquote. Der hiermit geschaffene „planwirtschaftliche Versorgungsstaat“47 griff tief in die Reproduktionssphäre ein und intervenierte in die Produktionssphäre viel tiefer als die Sozialpolitik der westlichen Länder. Dieser „Versorgungsstaat“ nahm, geführt von einer Staatspartei, die sich als omni­präsente und omnipotente Macht verstand, schwere Zielkonflikte zwischen Sozialprotektion und wirtschaftlicher Effizienz in Kauf. Auch der sehr hohe Politisierungsgrad der Sozialpolitik und das Fehlen verlässlicher verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Sicherungen unterschied den Wohlfahrtsstaat der DDR von den Wohlfahrtsstaaten wohlhabender westlicher Länder, gleichviel ob es sich um konservative, liberale oder sozialdemo­ arianten der kratische Wohlfahrtsstaatsregime handelte.48 Von den westlichen V Sozialpolitik unterschied sich der Wohlfahrtsstaat der DDR ferner durch die besonders starke Mobilisierung des männlichen und des weiblichen Arbeitskräftepotenzials, was die DDR im Übrigen nicht nur zur stärksten „Arbeitsgesellschaft“ in Europa, sondern auch zur „weiblichsten Arbeitsgesellschaft Europas“ werden ließ.49 Frühreifer Wohlfahrtsstaat Die DDR gehörte mit ihrer Sozialpolitik zum Kreis der vergleichsweise „frühreifen Wohlfahrtsstaaten“ im Sinne von János Kornai.50 Frühreif sind diejenigen Sozialpolitiksysteme, die auf einem relativ niedrigem Stand ökonomischer Entwicklung auf- und ausgebaut wurden. Das war im Wesentlichen auch in der DDR der Fall. Wie der internationale Vergleich lehrt, war die Sozialpolitik in der DDR relativ zu ihrer allenfalls mittleren Wirtschaftskraft sogar ­überdurchschnittlich

46 Wie erwähnt mit Ausnahmen wie insbesondere Preisstützungen, Kindergeld und Förderung berufstätiger Mütter. 47 Hans Günter Hockerts, Einführung. In: ders. (Hg.), Drei Wege deutscher Sozial­ staatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 7–26, Zitat S. 7. 48 Gøsta Esping-Anderson, The Three Worlds of Welfare Capitalism, London 1990. Ausführlicher zum Vergleich der DDR-Sozialpolitik Schmidt, Social Policy, S. 116–131. 49 Lutz Niethammer, Wege aus der sozialen Einheit. Wege zur sozialen Einheit? In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 44 (1993), S. 130–159, Zitat S. 135. 50 János Kornai, The Socialist System. The Political Economy of Communism, Princeton 1992; ders., From Socialism to Capitalism, Budapest 2008.

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weit ausgebaut worden. Davon zeugt allein schon die ü ­ berdurchschnittliche Höhe ihrer Sozialleistungsquote, obwohl diese nur einen Teil der sozialpolitischen Programme der DDR widerspiegelte.51 Frühreife Wohlfahrtsstaaten sind allerdings Problemfälle. Sie neigen nämlich zur Überlastung der Wirtschaft. Zudem sind sie anfällig für große Finanzierungsschwierigkeiten, die nur um den Preis wachsender Staatsverschuldung eingedämmt werden. Wer das vermeiden will, wird um „Ökonomisierung der Sozialpolitik“ nicht herumkommen. Doch Ökonomisierung der Sozialpolitik ist unpopulär – und um das zu vermeiden, wählten die meisten Führungskader der sozialistischen Länder letztlich lieber die Expansion der Sozialpolitik und – im Falle widriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen – die Beibehaltung des geerbten Standes der Sozialleistungen. Genau das kennzeichnet den Hauptstrom der Sozialpolitik in der DDR, insbesondere nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker im Jahre 1971.52 Nun verdrängte die Sozialpolitik die Ideologie von der Position der „legitimatorischen Hauptstütze der Parteiherrschaft“ der SED.53 Das „Erfolgsstory“-Narrativ Die Befürworter einer prioritären Sozialpolitik in der DDR einte die Überzeugung, die „sozialistische Sozialpolitik“ sei eine Erfolgsgeschichte sondergleichen: „Unser Volk hat auf Grund der Entwicklung der Produktivkräfte und der sozialistischen Produktionsverhältnisse einen Lebensstand erzielt wie noch nie in seiner Geschichte. Arbeitslosigkeit ist für uns ein Begriff aus einer anderen fremden Welt. Gewährleistet sind uns soziale Sicherheit, Vollbeschäftigung, gleiche Bildungschancen für alle Kinder des Volkes.“54 Dieses Zitat aus ­Honeckers Rede auf dem XI. Parteitag der SED in Berlin 1986 steht für zahllose Erfolgsmeldungen teils beschreibender, teils beschönigender, teils propagandis-

51 Bei allen Streudiagrammen mit der Sozialleistungsquote nach ILO-Kriterien (z. B. ILO, Cost of Social Security, 1996) auf der Senkrechten und den Schätzungen der Pro-KopfWirtschaftskraft nach Angus Maddison, Monitoring the World Economy, Paris 1995, auf der Waagrechten lag die DDR 1960 sehr weit und 1989 immer noch deutlich über der Regressionslinie. Noch frühreifer war allerdings die Tschechoslowakei, die von der Trendlinie noch weiter abwich als die DDR. 52 Christoph Kleßmann (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1961–1971; Boyer/­ Henke/Skyba (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1971–1989. 53 Ebd., S. 767. 54 Zit. nach Gunnar Winkler (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik der DDR 1945–1985, Berlin (Ost) 1989, S. 232. Das Bild einer Erfolgsgeschichte – wenngleich mit einigen Einschränkungen – vermittelt im Wesentlichen auch der Rückblick von DDR-Experten auf die Sozialpolitik in der DDR (Gunter Manz/Ekkehard Sachse/Gunnar Winkler (Hg.), Sozialpolitik in der DDR. Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001). Allerdings blenden die Autoren dieses Werkes den Zielkonflikt zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik und die Exklusionstendenzen der Sozialpolitik in der DDR weitgehend aus.

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tischer Art. Ihnen lag seitens der DDR-Führung die Annahme zugrunde, die Sozialpolitik sei nicht nur gesellschaftspolitisch segensreich, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht produktiv. Die Sozialpolitik sollte, so die Theorie, die Arbeitsbereitschaft der Werktätigen anspornen, hierdurch die Arbeitsproduktivität erhöhen, somit die DDR-Wirtschaft leistungskräftiger machen und auf diese Weise den Bestand und den weiteren Ausbau der Sozialpolitik finanzieren. Die Hoffnung, dieser politisch-ökonomische Tugendkreislauf sei bereits in Gang gekommen oder sei in greifbarer Nähe, schrieb die DDR-Führung in der Formel „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ nieder, die von 1976 bis zum Ende der DDR im Jahre 1990 zur unumstößlichen Programmatik der SED zählte. Da blieb kein Platz und kein Gehör für Warnungen vor Überlastung der Wirtschaft durch Sozialpolitik – die verschiedentlich insbesondere von Fach­ leuten der Staatlichen Plankommission geäußert wurden.55 Schützenhilfe bekam die SED-Führung in ihrem Glauben an eine erfolgreiche „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ hingegen vom Großteil der ­Sozialpolitikforscher in der DDR: „Sozialpolitische Maßnahmen und Aktivitäten fördern die Identifizierung der Werktätigen mit den Zielen der Politik der SED und führen zu neuen Initiativen, insbesondere im sozialistischen Wettbewerb“,56 und resultierten in der erstrebten Erhöhung der Arbeitsproduktivität. So stand es beispielsweise – ohne Einschränkung und ohne Berücksichtigung von Zielverfehlungen, Nebenwirkungen und Zielkonflikten – in einer von Experten aus der DDR verfassten Schrift, die mit ihrer Neigung zur beschönigenden Lobrede für viele andere steht. DDR-Forschung im Westen Die DDR-Forschung im Westen neigte lange ebenfalls fast uneingeschränkt zu der These: Die Sozialpolitik habe den SED-Staat stabilisiert und ihm zumindest zeitweise als eine besonders wichtige Legitimationsstütze gedient.57 Viele Beobachter datierten die Stabilisierungsfunktionen der Sozialpolitik vor allem auf die 1970er-Jahre, die Jahre des weiteren Ausbaus der sozialen Sicherungssysteme nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker.58 Die ­Sozialpolitik 55 Vgl. u. a. Gerhard Schürer, Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, Berlin 1998. 56 Autorenkollektiv unter Leitung von Winkler, Sozialpolitik, S. 11. 57 Beispielsweise Gerd Meyer, Sozialistischer Paternalismus. Strategien konservativen Systemmanagements am Beispiel der Deutschen Demokratischen Republik. In: Ralf Rytlewski (Hg.), Politik und Gesellschaft in sozialistischen Ländern, Opladen 1989, S. 426–448; ders., Sozialistischer Paternalismus in der Ära Honecker – Lebensweise zwischen sozialer Sicherheit und politischer Bevormundung. In: Gerhard Riege/Gerd Meyer (Hg.), In der DDR leben, Jena 1991, S. 75–89; Lutz Niethammer, Volkspartei neuen Typs? Sozialbiografische Voraussetzungen der SED in der Industrieprovinz. In: Probleme des Klassenkampfs, 80 (1990), S. 40–70. 58 Vgl. z. B. Boyer/Skyba, Repression, S. 590.

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habe mindestens Wohlverhalten und konsumorientierte Anpassung hervorgerufen oder verstärkt. Zumindest zeitweise sei es gelungen, mit der Sozialpolitik eine festere Brücke zwischen den Herrschenden und den Beherrschten zu schlagen. Diese Auffassung fußt auf der verbreiteten Zustimmung zu der Sozialpolitik der 1970er-Jahre und vor allem auf der Wertschätzung der Beschäftigungs­sicherung und der betrieblichen Sozialpolitik. Kennern der Materie zufolge war die betriebliche Sozialpolitik „one of the most effective stabilizing factors“ in der DDR.59 Bei dieser Sichtweise ist es bis auf den heutigen Tag geblieben. Ein ­Beispiel: In einer der bis heute gültigen Bilanzierungen der DDR-Wirtschafts- und So­ zialpolitik wird der „Zusammenhang von Arbeitsplatzsicherheit und garantierter Grundversorgung“ insbesondere für die Generation, die die Weltwirtschaftskrise erlebt hatte, als „eine entscheidende Legitimationsressource des sozialistischen Gesellschaftsmodells“ eingestuft.60 Und als eine der „wichtig­sten Legitimationsquellen“ der DDR nannte der Autor weiter die populäre Idee, „soziale Unterschiede einzuebnen und die gesellschaftliche Prägekraft sozialer Distinktio­nen so weit als möglich zu reduzieren“.61 Nicht gering zu veranschlagen ist zudem die Anerkennung, die der „sozialistischen Sozialpolitik“ aus dem Vergleich der sozialpolitischen Verhältnisse in der DDR mit denen anderer sozialistischer Staaten zuteilwurde.62 Besonders gepriesen wurde die Sicherheit der Beschäftigungsverhältnisse: „In der DDR gab es niemanden, der einem Fremden nicht – bei aller Kritik an anderen Dimensionen des Lebens – die Sicherheit der Beschäftigungsverhältnisse als den Hauptvorteil der sozialistischen Gesellschaft pries.“ Mit diesen Worten kommentierte Lutz Niethammer auf der Grundlage von Befunden aus mündlich überlieferter Geschichte die Würdigung der beschäftigungspolitischen Anstrengungen des SED-Staates.63 Dass die breite Masse der Bevölkerung wesentliche Teile der Sozialpolitik grundsätzlich wertschätzte, zeigen zudem Befunde von Bevölkerungsumfragen in der DDR, auch wenn diese aufgrund methodologisch schwächlicher Fundierung nur bedingt brauchbar sind.64 Anerkennung gab es ferner für einzelne konkrete sozialpolitische Programme – neben den weiter unten erörterten Widersprüchen und Gegenmeinungen. Auf Beifall bei vielen Nutznießern stieß das Wohnungsbauprogramm, das die SED insbesondere seit den 1970er-Jahren verfolgte. Für sie war das Wohnungs-

59 Hübner, Betrieb. 60 Winfried Süß, Soziale Sicherheit und soziale Ungleichheit in wohlfahrtsstaatlich formierten Gesellschaften. In: Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und West­ deutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 153–193, Zitat S. 157. 61 Süß, Sicherheit, S. 165. 62 Niethammer, Volkspartei, S. 65. 63 Ders., Wege, S. 145, vgl. ders., Volkspartei, S. 65. 64 Vgl. z. B. Heinz Niemann, Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das Politbüro der SED, Köln 1993, S. 49, 406.

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bauprogramm, wie standardisiert es auch gewesen sein mag, zu einem weiteren „attraktiven Kernstück der Sozialpolitik in der Ära Honecker geworden“.65 Beifall und Zuspruch – neben Widerspruch – erntete auch die Preissubven­ tionspolitik. Beifall spendete, wer die Grundsicherung schätzte, zu der die Preisstützungen von Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs beitrug und viele vor bitterer Armut bewahrte. Grenzen und Mängel der „sozialistischen Sozialpolitik“ Die Untersuchungen der DDR-Sozialpolitik zeugen allerdings nicht nur von Legitimierung. Sie verweisen auch auf Legitimierungsgrenzen und Entlegitimierung der Sozialpolitik. Die DDR-Sozialpolitik wirkte in der Tat widersprüchlich. Teils wurde ihr Anerkennung zuteil, teils rief sie Protest hervor, teils erzeugte sie Apathie. Dafür mitverantwortlich waren nicht zuletzt offensichtliche ­Leistungsmängel der Sozialpolitik einerseits und Nebenwirkungen gut gemeinter sozialpolitischer Maßnahmen andererseits. Das begann schon mit den ungeplanten Kosten des „Rechts auf Arbeit“. Die ehrgeizige Beschäftigungspolitik und der rigide Kündigungsschutz verknappten nicht nur den Spielraum der Betriebe, durch Personal- und Lohnpolitik kostengünstiger und wettbewerbskräftiger zu wirtschaften. Auch trug das „Recht auf Arbeit“ vielfach zur Überbesetzung von Arbeitsplätzen und zu mangelnder Arbeitsdisziplin bei.66 Hinzu kamen die gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsdefizite der Arbeitsplatzgarantie um fast jeden Preis.67 Auch das Wohnungsbauprogramm hatte neben Fürsprechern zahlreiche Kritiker, unter anderem weil viele Ziele nicht erreicht wurden. Überdies ging der Bau neuer Wohnungen mit dem Verzicht auf Reparatur und Sanierung des Altwohnungsbestandes einher, was vielerorts ganze Stadtviertel verfallen ließ und Anlass zu heftiger Kritik gab: „Einverstanden mit Ruinen und der Zukunft zugewandt“ sei die Wohnungspolitik, spotteten manche in Anspielung auf den ersten Satz der Nationalhymne der DDR.68

65 Axel Schildt, Wohnungspolitik. In: Hans Günter Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 151–189, Zitat S. 185. Süß, Sicherheit, zitiert diese Aussage zustimmend. 66 Vgl. u. a. Lutz Niethammer/Alexander von Plato/Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991, S. 403–405. 67 Uwe Vollmer, Anspruch und Wirklichkeit der Arbeits- und Sozialpolitik in der DDR (Vorträge). In: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Band 3.1: Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Deutscher Bundestag (Hg.), Baden-Baden 1999, S. 276–281, hier 279 f.; Kurt Vogler-Ludwig, Verdeckte Arbeitslosigkeit in der DDR. In: Ifo Schnelldienst, 43 (1990) 24, S. 3–10. 68 Er lautete: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, laß’ uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland.“

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Auch in der betrieblichen Sozialpolitik war nicht alles Gold, was glänzt. Viele Nutznießer deuteten die aufwendige betriebliche Sozialpolitik alsbald als Gewohnheitsrecht, nicht als Ansporn für zusätzliche Leistungen. Andererseits belastete die umfängliche Sozialpolitik die Betriebe mit weiteren wirtschaftsfremden Angelegenheiten, was wiederum ihre Wettbewerbsfähigkeit minderte und damit auch die Erlöse aus devisenbringenden Exporten. Die weithin besser bewertete Familienpolitik und die Förderung berufstätiger Mütter hatten ebenso ihre Kehrseite. Die Familienpolitik erleichterte vielen Frauen in der DDR die Berufstätigkeit. Doch an der Geschlechterordnung änderte sie wenig, denn die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann blieb im Wesentlichen unverändert. Zur Familienarbeit kam für die meisten Frauen somit die Belastung durch Berufstätigkeit hinzu. Bei allem Zuspruch stieß auch die Preissubventionspolitik auf Widerspruch. Die Kehrseite der Preisstützungen bestand aus ineffizienter Verwendung der subventionierten Güter und Verschwendung. Davon zeugten allein der übermäßige Energieverbrauch in den Mietwohnungen und die Verfütterung von hochsubventioniertem Brot an Tiere. Der tiefere Sinn der Preisstützungen war allerdings politischer Art: Sie sollten, so die Theorie, zur politischen Stabilisierung beitragen. Die Tatsache, dass die Preise für die Waren des Grundbedarfs, die Mieten, die Tarife für Verkehr und für Dienstleistungen so niedrig blieben, galt in der DDR-Sozialpolitik „angesichts der Preissteigerungen auf dem Weltmarkt und in den kapitalistischen Ländern besonders augenscheinlich als eine der wertvollsten Errungenschaften der Werktätigen der DDR“.69 Mehr noch: Preisstützungen wurden als Krisenverhütung gewertet. Honeckers Standpunkt sei immer der gewesen, so berichtete Gerhard Schürer, langjähriger Chef der Staatlichen Plankommission der DDR, dass „alle politischen Schwierigkeiten in anderen sozialistischen Ländern mit der Erhöhung von Einzelhandelspreisen begonnen hatten, und die DDR ihren guten Weg nicht durch solche ‚Dummheiten‘ aufs Spiel setzen darf“.70 So sehr die gesundheitspolitische Basisversorgung geschätzt wurde, so waren doch die Schwächen des Gesundheitswesens im „Arbeiter- und Bauernstaat“ der DDR nicht zu übersehen. Die Zerstörung bürgerlicher Existenzen durch den Aufbau des Sozialismus veranlasste allein bis 1961 rund 7 500 Mediziner zur Abwanderung in den Westen Deutschlands. Dieser Aderlass und die vielfach mangelhafte Ausstattung des Gesundheitswesens gaben Anlass für zahllose Klagen. Überfällige Gebäudesanierungen und das Fehlen notwendiger medizinischer Mittel zeugten ebenso von Missständen wie die aufgrund der mangelhaften ­Diagnostik und Therapie – im Vergleich zur Bundesrepublik – höhere ­Sterberate an heilbaren Krankheiten.

69 Eckhard Trümpler (Leiter)/Sigtraud Finzelberg/Jürgen Lauschke, Weiter voran zum Wohle des Volks. Die Verwirklichung des sozialpolitischen Programms der SED 1978–1985, Berlin 1986. 70 Schürer, Gewagt, S. 77.

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Zwiespältig wirkten zudem die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR-Sozialpolitik. Ihren Nutznießern war sie hochwillkommen, lieferten sie doch begehrte Güter wie die substanzielle Aufstockung der Renten. Wer von diesen Leistungen ausgeschlossen blieb, wurde durch die Besserstellung der Nutznießer schlechter gestellt und wertete diesen Sachverhalt als nichtlegitime Abkehr vom Gleichheitsprinzip. Zur „Achillesferse“ der DDR-Sozialpolitik, so Gerhard A. Ritters Dia­gnose,71 geriet schließlich die für viele Rentner knapp bemessene Absicherung im Alter, bei Invalidität und Tod.72 Die Schwäche der Alterssicherung war ein besonders auffälliger Makel des SED-Staates, denn die Zahl seiner Altersrentner war groß und ihr Bevölkerungsanteil hoch: Im letzten Jahr der DDR waren 16,2 Prozent der Bevölkerung mindestens 65 Jahre alt.73 Problematisch war die Schwäche der Alterssicherung für das DDR-Regime auch deshalb, weil die Renten mitverantwortlich für die weit verbreitete Einkommensarmut im Lande waren: Schätzungsweise 45 Prozent aller Rentnerhaushalte der DDR verfügten am Ende der 1980er-Jahre über ein Einkommen von weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens.74 Dass viele Rentner „schwache Glieder der Erwerbsgesellschaft“75 waren, wird man als Kehrseite der vorrangigen Ausrichtung der DDR-Sozialpolitik auf Werktätigkeit und Pronatalismus werten. Zugute kam die DDR-Sozialpolitik deshalb vor allem wirtschaftspolitisch und bevölkerungspolitisch wichtigen Gruppen: den „Werktätigen“, den noch nicht Werktätigen im erwerbsfähigen Alter, den Familien mit Kindern und den berufstätigen Müttern. Vernachlässigt wurden hingegen Gruppen und Probleme jenseits des Produktionsbereichs und der Bevölkerungspolitik. Zu ihnen gehörten die Altersrentner und Invaliden sowie – in noch größerem Maße – Fürsorgeabhängige, Pflegebedürftige und Behinderte.

71 Gerhard A. Ritter, Die DDR in der deutschen Geschichte. In: VfZ, 50 (2002), S. 171– 200; ders., Thesen zur Sozialpolitik der DDR. In: Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hg.), Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49–1989, München 2005, S. 11–29, hier 19. 72 Wenngleich die Mindestrenten verschiedentlich angehoben wurden und das Renten­ niveau relativ zum Arbeitseinkommen der Tendenz nach stieg und zudem seit 1972 über 30 Prozent und in drei Jahren (1979, 1984 und 1989) über 40 % lag (Johannes Frerich/ Martin Frey, Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1993, S. 345). Allerdings unterblieb – im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland – die jährliche Dynamisierung der Renten. Ebenso unterblieb eine große Strukturreform der Alterssicherung. Günstiger war die Lage allerdings für die Rentner, die von den Zusatzund Sonderversorgungssystemen in der Alterssicherung beträchtlich profitierten (BMAS, Statistische Übersichten, S. 56, 201–210; Hoffmann, Soziale Sicherung, S. 325–361, hier 359 f.). 73 Hoffmann, Soziale Sicherung, S. 352. 74 Schlussbericht der Enquete-Kommission vom 10.6.1998. In: Materialien, Band I, S. 142–803, hier 538. 75 Beatrix Bouvier, Die DDR – Ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker, Bonn 2002, S. 202 f.

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Die Schattenseiten der DDR-Sozialpolitik riefen viel Unzufriedenheit hervor. Was die Sozialpolitik auf der einen Seite an Anerkennungswürdigkeit und faktischer Anerkennung aufgebaut hatte, wurde an diesen Stellen des DDR-Wohlfahrtsstaates wieder abgeschmolzen. Darauf deutet auch die hohe, im Zeitverlauf insgesamt zunehmende Zahl der Eingaben zu sozialpolitischen Angelegenheiten hin.76 Eingaben – also Vorschläge, Hinweise, Anliegen oder Beschwerden an die Adresse von Volksvertretungen, Abgeordneten oder staatlichen Organen – waren in der DDR legale und legitime Formen der Interessenäußerung. Diesen Eingaben zufolge häuften sich die Beanstandungen der als unzureichend eingestuften Wohnraumversorgung und der Alterssicherung, deren meist niedrige Leistungen viel Unmut hervorriefen. Zudem zeichnete sich insgesamt eine schrumpfende „Bindekraft“77 der DDR-Sozialpolitik ab. Den zuvor erwähnten Eingaben zufolge bröckelte in den 1980er-Jahren der Glaube an die Stimmigkeit der offiziellen Darstellung einer erfolgreichen Sozialpolitik. Zwar befriedigte die Sozialpolitik in der DDR die Elementarbedürfnisse der Bevölkerung, doch vermochte weder sie noch die Wirtschaftspolitik mit der Nachfrage nach gehobenen Gütern und Dienstleistungen mitzuhalten. Auch wurden mit zunehmendem Alter des DDR-Sozialismus die Maßstäbe strenger, die seine Bürger anlegten. Dass Versorgungsmängel selbst drei oder vier Jahrzehnte nach Gründung der DDR tagtäglich vorkamen, war schwer begreifbar. Außerdem neigten viele in der DDR dazu, Sozialleistungen als „selbstverständliche Zuwendungen“78 zu werten, als Teil des ihnen zustehenden gerechten Lohnes, und nicht als Anlass für besondere Anerkennung oder gar als Leistungsanreiz. Befördert wurde die insgesamt kritischer beurteilte Sozialpolitik durch die in den 1980er-Jahren wachsenden Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der DDR, die nach und nach auch den „Legitimitätsglauben vieler Staats- und Parteifunktionäre“ unterminierten.79 Überdies wusste man um die offene Flanke des DDR-Sozialismus: Im innerdeutschen Vergleich von Wohlstand und Konsumchancen entpuppten sich etliche „Errungenschaften“ des Sozialismus als mittelmäßig, nicht selten als unzureichend. Vor diesem Rückstand schrumpften die sozialpolitischen „Errungenschaften“ zu Wohltaten, welche die große Mehrheit der DDR-Bürger gern mitnahm – und bei der ersten Gelegenheit gegen die ersehnte volle Teilhabe an den Gütern der Bundesrepublik Deutschland eintauschte. Honecker hatte sich mit seiner Stabilisie-

76 Vgl. Bouvier, DDR, S. 311–313; dies., Der erschöpfte Versorgungsstaat: Das Scheitern der „Sozialistischen Sozialpolitik“ während der Ära Honecker in der DDR. In: Klaus Schönhoven/Walter Mühlhausen (Hg.), Der Deutsche Sozialstaat im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik, DDR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Bonn 2012, S. 175–194. 77 M. Rainer Lepsius, Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR. In: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte, S. 17–30, hier 24. 78 Christoph Boyer/Klaus-Dietmar Henke/Peter Skyba, Gesamtbetrachtung. In: dies. (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1971–1989, S. 765–794, hier 777. 79 Ebd., S. 775.

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rungsformel gründlich geirrt: „Die Leute brauchen billiges Brot, eine trockene Wohnung und Arbeit. Wenn diese drei Dinge stimmen, kann dem Sozialismus nichts passieren.“80 Wenig Legitimierungskraft hatte die Sozialpolitik der DDR schließlich bei jenen Beobachtern, die – teilweise schon seit den 1970er-Jahren – auf Zielkonflikte zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik hingewiesen und gewarnt hatten, die Sozialpolitik würde auf Kosten der Investitionsquote, der Arbeitsproduktivität und der Innovationskraft gehen, langfristig die Wirtschaft überlasten und eine Staatsverschuldung nach sich ziehen, die vor allem im Falle der Verschuldung in Hartwährungsländern hochriskant werden müsste.81

Bilanz und Ausblick Hat die Sozialpolitik dem SED-Staat Legitimität verliehen – im Sinne von Anerkennungswürdigkeit der Herrschaft als rechtmäßig und im Sinne faktischer Anerkennung? Jede Antwort auf diese Frage muss die Datenlücken bedenken, die die Beobachtung der DDR-Sozialpolitik begrenzen: Es mangelt an validen und repräsentativen umfragebasierten Messungen des Legitimitätsglaubens in der DDR insgesamt und der Output-Legitimität infolge von Sozialpolitik im Besonderen. Insofern sind die in diesem Beitrag angestrebten Zurechnungen der Legitimitätswirkungen der DDR-Sozialpolitik auf „Plausibilitäten“82 angewiesen – wie so oft bei Institutionenanalysen und wie in allen anderen sozialwissenschaftlichen Erkundungen der Legitimitätsprobleme in der DDR.83 Im Rahmen dieser Grenzen deuten aber die vorliegenden Studien auf ein klares Muster hin. Dreierlei ist besonders berichtenswert: 1. Unter den wichtigsten Legitimierungsbestrebungen des SED-Staates – Stilisierung als „Bollwerk des Antifaschismus“, Selbstbeschreibung als „Wegbereiter des Sozialismus“, Präsentation als „Friedensmacht“ und Profilierung als „Wohlfahrtsstaat“84 – ragen die sozialpolitischen Leistungen heraus. Ihr Beitrag zur Fügsamkeit übertraf die drei anderen Legitimierungsbestrebungen: Die sozialpolitischen Programme und ihr Vollzug fanden insgesamt erheblich mehr Zustimmung in der Bevölkerung, wirkten nachhaltiger und ­erfassten

80 Die Formulierung stammt von Gerhard Schürer, dem langjährigen Chef der Staatlichen Plankommission. Sie gebe Honeckers Meinung wieder, so berichtet André Steiner, Preisgestaltung. In: Boyer/Henke/Skyba (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1971– 1989, S. 304–324, hier 318 f. 81 Mit weiteren Nachweisen Pirker/Lepsius/Weinert/Hertle (Hg.), Plan; Schmidt, Sozialpolitik der DDR; Schmidt, Social Policy, S. 63–71, 106–116. 82 Lepsius, Institutionenordnung, S. 7. 83 Vgl. u. a. Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 555–574. 84 Alle Zitate aus Kielmansegg, Katastrophe, S. 561 f. Die offizielle Bezeichnung der Wohl­ fahrtsstaatlichkeit war in der DDR „sozialistische Sozialpolitik“.

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Manfred G. Schmidt

e­ inen erheblich breiteren Kreis als die primäre „Gewinnerkoalition“85 der DDR, nämlich den Kreis der SED-Mitglieder, sodann die Gesamtheit der Aufsteiger im SED-Staat und schließlich die Beschäftigten im Staatssektor einschließlich der „ideologischen Staatsapparate“86 wie dem Bildungssystem. 2. Eine besonders große Wertschätzung unter den sozialpolitischen Kreisen der DDR-Sozialpolitik wurde der Beschäftigungssicherung zuteil, dem „Recht auf Arbeit“ und der sehr hohen Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern. 3. Allerdings konnte die sozialpolitisch erzeugte Output-Legitimität die eingangs beschriebene strukturelle Legitimitätslücke der DDR nicht schließen – auch nicht durch das Zusammenwirken mit allen anderen Legitimierungsbestrebungen:87 Die Selbstbeschreibung als „Bollwerk des Antifaschismus“ und „Friedensmacht“ war nur sehr begrenzt wirksam und verblasste zusehends. Dass er „Wegbereiter des Sozialismus“ war, verschaffte dem SED-Staat herrschaftsstützende Anerkennung, vor allem in der zuvor beschriebenen „Gewinnerkoalition“ und erzeugte mit dem Zusammenspiel von „Legiti­mation, Kooptation und Repression“88 hinreichend viel labile Fügsamkeit bei jenen DDR-Bürgern, die weder überzeugte Anhänger noch Gegner des SED-Staates waren.89 Und selbst die Output-Legitimität, die der DDR-Sozialpolitik zugeschrieben werden kann, reichte weder quantitativ noch qualitativ aus, um die strukturelle Legitimitätslücke des SED-Staates zu überdecken. Ein Grund ihrer Schwäche liegt in den Gegenströmungen: Die Praxis der sozia­ listischen Sozialpolitik brachte nicht nur Gewinner und mit ihnen potenzielle 85 Dieser Begriff wird hier – ähnlich wie in Kailitz/Wurster, Legitimationsstrategien – in loser Anlehnung an seinen Ursprung in der Selektoratstheorie verwendet (Bruce Bueno de Mesquita/Alastair Smith/Randolph M. Siverson/James D. Morrow, The Logic of Political Survival, Cambridge MA 2003; Bruce Bueno de Mesquita/Alastair Smith, The Dictator’s Handbook. Why Bad Behavior Is Almost Always Good Politics, New York 2011). Der in diesem Beitrag verwendete Begriff „Gewinnerkoalition“ bezeichnet diejenigen Gruppen, die materiell und in ideologischer Hinsicht den Kern der Hauptnutznießer der Herrschaftsordnung in der DDR bildeten. Laut Selektoratstheorie wäre die Gewinnerkoalition in der DDR im Politbüro zu sehen, einer zahlenmäßig kleinen Koalition, die, dieser Theorie zufolge, vor allem durch umfängliche private Güter umworben würde, während öffentliche Güter unter solchen Bedingungen kaum eine Rolle spielten. Die DDR war jedoch, wie allein schon ihre Sozialpolitik lehrt, ein Regime, das öffentliche Güter in großem Umfang erzeugte. Die Selektoratstheorie kann die DDR-­ Sozialpolitik somit, wie schon Kailitz und Wurster zeigten, nicht erklären. 86 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1. Halbband, Berlin 2010. 87 Kielmansegg, Katastrophe, S. 561 f. 88 Johannes Gerschewski, The three pillars of stability: legitimation, repression, and co-optation in autocratic regimes. In: Kailitz/Köllner (Hg.), Autokratien, S. 13–38; Grashoff, Legitimation. 89 Vgl. hierzu – neben Burdumy, Sozialpolitik und Grashoff, Legitimation – die Schätzungen der Unterstützungsbasis der DDR auf der Basis des Modells „Stellvertreterforschung“ in Köhler, Systemidentifikation. Köhler zufolge schrumpfte der Anteil der „Anhänger“ des DDR-Regimes von rund 25 % 1970 auf rund 10 % im 2. Halbjahr 1989. Der Anteil der „Gegner“ stieg im selben Zeitraum von rund 10 % (1970) auf über 40 %. Alle anderen wurde als „Angepasste“ bzw. „Indifferente“ eingestuft (S. 68).

Legitimitätsprobleme im Sozialismus

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Träger des Legitimitätsglaubens hervor. Sie produzierte auch Egalisierungsverlierer und vernachlässigte Gruppen – unter ihnen ein beträchtlicher Teil der Senioren und aus anderen Gründen unzufriedene, frustrierte Sozialpolitik­ klienten. In diesen Gruppen war es mit der Anerkennung und Anerkennungswürdigkeit der DDR-Sozialpolitik nicht weit her. Und in diesen Gruppen konnte die Unzufriedenheit mit dem sozialpolitischen Angebot des SED-Staates sogar in Entlegitimierung umschlagen. Auch in qualitativer Hinsicht konnte die sozialpolitisch zustande gebrachte Output-Legitimität die Legitimitätsprobleme des SED-Staates nicht lösen. Die Output-Legitimität als Folge von Sozialpolitik erwies sich als ein flüchtiger ­Geselle: Ihre Strahlkraft nahm im Lauf der Zeit ab. Und sie verblasste noch mehr, sobald die Sozialpolitik der DDR mit dem höheren Leistungsstand und den größeren Freiheitsspielräumen der Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland verglichen wurde. Insoweit stand die politische Führung der DDR in der Legitimitätsfrage im Grunde auf verlorenem Posten. Ihre Legitimitätslücke hätte sie durch Output-­ Legitimität nur überdecken können, wenn ihre wirtschafts- und sozialpolitische Leistung die der Bundesrepublik Deutschland weit übertroffen hätte. Doch davon war mit einer Ausnahme nichts in Sicht: die Ausnahme war die Beschäftigungssicherheit in der DDR. Doch deren Wertschätzung reichte nicht aus, um den gesamten „Wohlfahrtsrückstand“ und den „Freiheitsrückstand“90 der DDR gegenüber der Bundesrepublik wettzumachen.91 Freilich haben alle Autokratien auch andere Mittel zur Herrschaftssicherung als nur Legitimierungsbestrebungen: Sie können in der Regel ihre Herrschaft auch mithilfe von Kooptation und Repression stützen.92 So war das auch in der DDR.93 Insoweit war es folgerichtig, dass in der Honecker-Ära nicht nur die Sozialpolitik ausgebaut wurde, sondern auch der Überwachungs- und Repres­ sionsapparat.94 Den Niedergang des DDR-Sozialismus haben freilich auch diese Stabilisierungsbestrebungen nicht aufhalten können. 90 Beide Begriffe sind Zitate aus Kielmansegg, Katastrophe, S. 615 f. 91 „Wenn wir als Nachbarn Portugal gehabt hätten, hätten wir die Schlacht gewonnen, vielleicht.“ So mutmaßte, vermutlich halb ernsthaft, halb schalkhaft, nach dem Ende der DDR Alexander Schalck-Golodkowski, den der ansonsten zurückhaltend formu­ lierende Peter Graf Kielmansegg zupackend und zutreffend „als Devisenjongleur der DDR“ vorstellte (Kielmansegg, Katastrophe, S. 570). Gewichtiger als SchalckGolodkowskis Mutmaßung ist ein Befund der Studie von Burdumy, Sozialpolitik: Selbst die weit überdurchschnittliche Versorgung Ostberlins mit Gütern und Dienst­ leistungen der Sozialpolitik hat dort weder ein höheres noch ein dauerhafteres Maß an Anerkennung der DDR-Sozialpolitik mit sich gebracht, sondern die Nachfrage nach Sozialgütern und die Begehrlichkeit für sie noch weiter forciert. Man kann daraus die Hypothese ableiten, dass selbst der weitere massive Ausbau der Sozialpolitik in der DDR, einmal unterstellt, er sei wirtschaftlich überhaupt möglich gewesen, keine tragfähige Legitimierung zustande gebracht hätte. 92 Gerschewski, The three pillars of stability. 93 Burdumy, Sozialpolitik; Schroeder, SED-Staat; Grashoff, Legitimation. 94 Boyer/Skyba (Hg.), Repression; Grashoff, Legitimation.

Opposition und Widerstand in der DDR Ehrhart Neubert Zu den letalen genetischen Defekten staatssozialistischer Systeme gehörte das ideologiegetriebene Vorhaben, eine Einheitsgesellschaft zu schaffen. Vergeblich arbeiteten sich die Kommunisten an dieser Fiktion ab. Um das Unmögliche vorzutäuschen, versuchten sie, jede eigenständige soziale, kulturelle und politische Artikulation zu ersticken oder wenigstens derart zu kontrollieren, dass sie ihnen verfügbar blieb. Statt gesellschaftliche Spaltungen zu heilen, erzeugte der Staatssozialismus interne Spaltungen, vergrößerte unablässig die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten und provozierte damit Widerspruch und Widerstand. Jeder politische Eingriff der Kommunisten in die Gesellschaftsstrukturen und die kulturellen Traditionen löste umgehend Gegenreaktionen aus. Doch weder der offene Terror der 1950er-Jahre noch die verdeckte Gesellschaftskontrolle der späteren Zeit konnte die latent auftretende politische Gegnerschaft beseitigen. Die Formen der politischen Gegnerschaft sowie deren strategische Konzepte waren allerdings sehr unterschiedlich. Zunächst ist es erhellend, wenn zwischen Widerstand und Opposition unterschieden wird. Widerstand richtet sich konfrontativ gegen das politische System und strebt dessen Aufhebung oder mindestens seine Schwächung an. Er kann von Einzelnen, von Gruppen oder auch von kollektiven aufständischen Bewegungen vorgetragen werden. Von Opposition kann dann gesprochen werden, wenn die politischen Akteure nicht direkt und öffentlich die Beseitigung des Systems anstreben, sondern versuchen, gesellschaftliche, kulturelle oder religiöse Positionen einzunehmen, die politische Bewegungsräume nutzen oder auch partiell schaffen können. Anders war dies in einem breiten, amorphen Feld politischer Kritik und politischen Widerspruchs wie dem der DDR. Hier tummelten sich viele Spielarten politischen Verhaltens oder sprachlicher Artikulation, die die Distanz zum staatssozialistischen System dokumentierten, ohne jedoch den offenen Konflikt zu suchen oder gar organisatorische Instrumente aufzubauen. Die beiden Kategorien politischer Gegnerschaft – Widerstand und Opposition – wollten das den Herrschenden unterworfene Recht wiederherstellen, zielten mit ihren Aktionen auf die Öffentlichkeit und trachteten danach, handlungsfähige Strukturen zu schaffen. An der Entwicklung von Widerstand und Opposition in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR lässt sich gut ablesen, dass sich die Phänomene der politischen Gegnerschaft nicht nur aus der Reaktion auf die Maßnahmen des Regimes formten, sondern wesentlich durch das politische und kulturelle Erbe geprägt waren.

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So muss für Ostdeutschland in Anschlag gebracht werden, dass es im sowjetischen Herrschaftsbereich das einzige protestantische Land war. Hier war ein Politikverständnis vorhanden, dass sich an der protestantischen Ethik orientierte. Eine weitere ostdeutsche Besonderheit ist der Umstand, dass alle anderen Ostblockländer Opfer des von Deutschland ausgegangenen Krieges waren. Ein wie in diesen Ländern ungebrochenes Nationalbewusstsein konnte es nicht geben. Das hat Widerstand und Opposition herausgefordert, ihre politische Legitimation auf Grundlagen zu stellen, die sich gegen den kommunistischen Antifaschismusmythos behaupten konnten. Insgesamt aber ist für den Widerstand und die Opposition in der DDR festzustellen, dass es eine starke Wechselbeziehung zu vergleichbaren Bewegungen in den anderen sozialistischen Ländern gegeben hat. Alle dortigen Ereignisse in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus wirkten in die DDR hinein und waren teilweise erhebliche Motivierungsfaktoren. Vor allem wäre hier auf die Bedeutung der ideellen Interdependenz zu verweisen. Anhand der wichtigsten Etappen der DDR-Geschichte lassen sich fünf Perio­ den mit typischen Ausbildungen politischer Gegnerschaft erkennen. Das beginnt mit dem Widerstand gegen die Etablierung der kommunistischen Diktatur in der unmittelbaren Nachkriegszeit und endet mit dem Machtverfall der SED unter dem Druck der oppositionellen Bewegungen 1989. Widerständige und Oppositionelle hatten aber stets mit der Tatsache umzugehen, dass die Bevölkerung mehrheitlich solche riskanten politischen Verhaltensweisen vermied. Die repressive kommunistische Transformation der Gesellschaft führte zwar 1953 zum Massenaufstand und vier Millionen DDR-Bürger entzogen sich durch Flucht oder Ausreise dem Herrschaftssystem, aber die überwiegende Mehrheit der in der DDR Verbliebenen verinnerlichten nach dem niedergeschlagenen Juniaufstand 1953 und noch deutlicher nach dem Mauerbau 1961 die Zwecklosigkeit ihres Aufbegehrens. Sie entwickelten für den Alltag Lebens- und Überlebensstrategien, die an der Grenze des Erlaubten verliefen.1 Dazu gehörte Improvisationsvermögen, Unterlaufen der SED-Normen, mehrdeutiges Reden, Aushandeln von Kompromissen und Scheinloyalität. Der wohl am meisten verbreitete Typus eines solchen Alltagsverhaltens ist der des „Händlers“, der sich pragmatisch an Nützlichkeitserwägungen orientiert. Gerade weil der Alltag mit politischen und ideologischen Herrschaftsansprüchen durchsetzt war, konnte er erträglich gestaltet werden, wenn es gelang, möglichen Konflikten vorzubeugen, auszuweichen und sie zu minimieren. Dies aber war auch eine Strategie, um den Alltag möglichst von politischen Ansprüchen freizuhalten, sei es durch passives Teilnahme- und Umgehungsverhalten oder anderes eigensinniges Verhalten. Der massenhaft in Erscheinung getretene „Eigen-Sinn“ konnte „den totalitären Geltungsanspruch der SED

1

Vgl. Richard Bessel/Ralph Jessen (Hg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesell­ schaft in der DDR, Göttingen 1996.

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unterlaufen und Bereiche des Aushandelns und der relativen Eigenständigkeit sichern“.2 Dieser Eigensinn war allerdings systemstabilisierend und stellte die Herrschaft der SED nicht infrage. Die Bevölkerung reparierte im eigenen Interesse damit partiell die Disfunktionalität des Systems und verzichtete auf die offene Konfrontation mit den Machthabern. Aber die SED-Herrschaft war nicht durch die unpolitischen Schwejkiaden herausgefordert, sondern allein durch die mit politischen Mitteln angestrebten Veränderungen, sei es die Beseitigung des Systems oder auch seine Reform, also durch Widerstand und Opposition. Nur Menschen, die sich in ihrer sozialen, kulturellen, ethischen oder religiö­ sen Existenz gefährdet sahen, wagten zur Identitätswahrung den öffentlichen Konflikt. Begünstigt wurde dieser Schritt, wenn sie in Gruppen oder speziellen Milieus mit Gleichgesinnten zusammen handeln konnten.3

Widerstand gegen die Etablierung der kommunistischen Diktatur 1945 bis 1949 Die sowjetische Militäradministration stellte unmittelbar nach dem Krieg die Weichen für die kommunistische Machtübernahme. Mit dem Geheimdienst, dem NKWD, und dessen „Speziallagern“ verfügte die Besatzungsmacht über Repressionsinstrumente, die nicht nur NS-Belastete verfolgten, sondern zunehmend Menschen trafen, die sich für eine demokratische Neuordnung einsetzten. Schon im Sommer 1945 waren in der SBZ Parteien zugelassen worden: die Kommunistische Partei (KPD), die Sozialdemokratische Partei (SPD), die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Liberaldemokratische Partei (LDP). Von Beginn an hatten die nichtkommunistischen Parteien mit schweren Behinderungen fertigzuwerden. Sie wurden genötigt, in die „Einheitsfront anti­ faschistisch-demokratischer Parteien“, den Antifaschistischen Block, einzutreten. Der Block band die Parteien in einem verbindlichen Planungs- und Vorentscheidungsorgan zusammen. Von Beginn an hatte die KPD, dank sowjetischer Unterstützung in der Einheitsfront, das Übergewicht und konnte die Spielräume der anderen Parteien einengen.

2 3

Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. In: ders. (Hg.), Herrschaft und EigenSinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Berlin 1999, S. 25. Ausführliche Darstellung zur Geschichte der Opposition bei Ehrhart Neubert, Geschich­te der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1997; Klaus-Dietmar Henke/Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln 1999; Eberhard Kuhrt in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig (Hg.), Am Ende des realen Sozialismus, Band 3: Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999; Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete­-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“, 14 Teilbände, BadenBaden 1999; Ilko-Sascha Kowalczuk/Tom Sello (Hg.), Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006.

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Zunächst wurden die Sozialdemokraten 1946 durch eine Vereinigung mit der KPD als eigenständige Kraft ausgeschaltet. Kaum vereint, begann in der SED ein sich über Jahre hinstreckender Kampf gegen den „Sozialdemokratismus“, der schließlich 1948 aus der SED eine kommunistische Partei „neuen Typus“ werden ließ. Viele Sozialdemokraten wurden aus ihren Ämtern verdrängt, manche bildeten außerhalb und innerhalb der SED illegale SPD-Gruppen und andere flohen in die Westzonen.4 Auch die bürgerlichen Parteien, CDU und LDP, wurden politisch neutralisiert. Häufig wurde ihr Leitungspersonal seiner Ämter enthoben und durch willfährige Funktionäre ersetzt. Es gab Hunderte Verhaftungen und Übertritte in den Westen. An der Basis der CDU und der LDP bildeten sich zahlreiche illegale Gruppen, die verzweifelt Widerstand leisteten.5 An den Universitäten hielten sich die bürgerlichen Parteistrukturen noch eine Weile. Wissenschaftler und Studenten wollten angesichts der heraufziehenden neuen Diktatur die Autonomie des Geistes verteidigen, da ab 1946 der Marxismus als allein gültige Weltanschauung institutionalisiert wurde. Bis 1948 konnten sich die demokratischen Hochschulgruppen noch halten. Ihre Spielräume schmolzen jedoch durch Verhaftungen vieler Studenten, die von Militärgerichten zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden oder auch ums Leben kamen. Die Gründer der nichtkommunistischen Parteien waren überwiegend durch das weithin verschüttete Erbe demokratischer Tradition vor 1933 geprägt. Viele waren im NS-Staat verfolgt worden. Zugleich orientierten sich die Gründer auch an der Entwicklung in den Westzonen. Da eine geordnete parlamentarische Oppositionsarbeit unmöglich geworden war, gründeten nun im Westen die SPD, die CDU und die FDP Ostbüros, die von Westberlin aus in die SBZ und in die DDR hineinwirkten. Den anpassungsunwilligen Parteimitgliedern sollte mit Informationen und praktischer Hilfe beigestanden werden. Widerstand formierte sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen, da unter Anleitung der Besatzungsmacht die kommunistische Transformation vorangetrieben wurde. Dazu gehörten neben der politischen Gleichschaltung der Parteien, die völlige Kontrolle der Medien, die Ideologisierung der Kultur und des Bildungswesens, die Sozialisierung der Wirtschaft und eine beginnende Kollektivierung der Landwirtschaft. Es gab kommunistische Prügelkolonnen, öffentliche Verleumdungs- und Hetzkampagnen, Gesinnungsjustiz gegen Hörer von Westsendern, Folter und Misshandlung bei den Sicherheitsorganen und in den Haftanstalten, Schauprozesse mit gefälschten Beweismitteln, ungerechte Zutei-

4 5

Vgl. Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungs­ zone und in der DDR 1945–1953, Bonn 1996. Vgl. Ralf Thomas Baus, Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands in der sowjetisch besetzten Zone 1945 bis 1948. Gründung – Programm – Politik, Düssel­ dorf 2001; Michael Richter, Die Ost-CDU 1948–1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, 2. Auflage Düsseldorf 1991; Hans-Volker Schwarz, Die Berliner Libe­ ralen im Brennpunkt des Ost-West-Konfliktes 1945–1956. Vom Landesverband der LDP Groß-Berlin zur FDP Berlin (West) und LDP(D) Berlin (Ost), Frankfurt a. M. 2007.

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lung von Ressourcen und viele andere Formen von Willkür. Das provozierte Gegenwehr, die aber machtpolitisch nur geringe Chancen hatte. Das deutlichste Anzeichen für die Ablehnung der kommunistischen Herrschaft sollte die schon seit 1946 einsetzende Massenflucht in den Westen werden. Die Fluchtwelle riss auch die Eliten mit sich: Künstler, Intellektuelle, Richter, Politiker, Lehrer, Ärzte, Landwirte und Facharbeiter. Es baute sich für die SED ein Problem auf, das sie während ihrer gesamten Herrschaft nicht bewältigen konnte. Viele einzelne Bürger leisteten in Alleingängen Widerstand. Gleichzeitig schlossen sich Menschen zu Gruppen zusammen, um dem System zu schaden. Die harten Verfolgungsmaßnahmen erzwangen eine strikte Geheimhaltung solcher Aktivitäten. Im Herbst 1948 bildete sich in Westberlin die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU), die von Geflüchteten und von Menschen getragen wurde, die aus dem Widerstand gegen die Nazis kamen. Die Gruppe verbreitete Flugblätter, betrieb Öffentlichkeitsarbeit, gab Anleitungen für zahlreiche Störaktionen in der DDR, brachte gefälschte Lebensmittelkarten und Briefmarken in Umlauf, verschickte Drohbriefe an SED-Funktionäre und unterhielt zahlreiche konspirative Kontakte in den Osten. Ähnlich arbeitete der „Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen“ (UFJ), der 1949 in der DDR gegründet worden war, aber bald nach Westberlin auswich. Beide Gruppen hatten unter dem geheimdienstlichen Terror der Sowjets zu leiden und mussten einen Blutzoll entrichten.6 1952 erreichte der Staatsterror der SED einen neuen Höhepunkt. Es kam zu einem zentralistischen Umbau der Verwaltungsstrukturen, zur Einrichtung der Sperrzonen an den Zonengrenzen und zu Deportationen von Bewohnern der Grenzorte ins Landesinnere. Die Kirchen waren die letzte verbliebene In­ stanz, die Einspruch erhob und Proteste gegen Repressionen, Wahlfälschungen oder die neue Militarisierung vortrug. Das zog den Zorn der Kommunisten nun vollends auf sie. Vor allem die christliche Jugend geriet ins Visier. Zahlreiche Jugendliche und über 70 Theologen und Jugendleiter wurden verhaftet. Der Staat verbot kirchliche Institutionen, schloss Einrichtungen der Diakonie, zog Kirchenzeitungen ein, stellte vertragliche Staatsleistungen ein und verstärkte die Hetze gegen Bischöfe und Kirchenleitungen. Im Laufe der Exzesse wurden in Schulen und in Betrieben Austrittskampagnen unter Einsatz massivsten Drucks organisiert. Wer sich nicht von der Jungen Gemeinde lossagte, wurde aus den Oberschulen und von den Universitäten entfernt. In kurzer Zeit wurden Hunderte Schüler und Studenten relegiert. Viele der jungen Leute flohen – manchmal auch mit ihren Familien – in den Westen. Die Maßnahmen der SED hatten zum Niedergang der Wirtschaft, zur Flucht von Hunderttausenden und in eine politische Krise geführt, die auch in Moskau wahrgenommen wurde. Nach dem Tod Stalins im März 1953 wollte die 6

Vgl. Enrico Heitzer, Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948–1959, Köln 2015; Frank Hagemann, Der Unter­ suchungsausschuss Freiheitlicher Juristen 1949 bis 1969, Frankfurt a. M. 1994.

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sowjetische Führung unter Lawrenti Berija einer Katastrophe vorbeugen und verordnete der SED einen „Neuen Kurs“. Die Sowjets verlangten die Rücknahme der Repressionen. Ab dem 11. Juni 1953 wurden diese weitgehenden Kursänderungen bekannt gegeben. Ein Teil der Maßnahmen gegen die Kirchen wurden eingestellt. Den „Neuen Kurs“ nahm die Bevölkerung als eine Bankrotterklärung der SED wahr. In vielen Städten zogen die Menschen schon am 12. Juni vor die Gefängnisse und forderten die Freilassung von Inhaftierten. In den Dörfern begannen Bauern, die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aufzulösen, und entmachteten SED-Bürgermeister. Ein besonderes Unruhepotenzial bildete die Arbeiterschaft, die an der Verschlechterung der Lebensverhältnisse litt und vergeblich auf die Rücknahme von Normenerhöhungen wartete. Zur Initialzündung des Massenaufstandes wurden am 16. Juni die Proteste der Bauarbeiter in Berlin.7 Auf zwei Großbaustellen, dem Krankenhausneubau in Berlin-Friedrichshain und in der Stalinallee, beschlossen die Arbeiter zum Sitz der Regierung zu ziehen, um ihre Proteste vorzutragen. Schnell schlossen sich Tausende Arbeiter an. Bei den Protesten vor den Regierungsgebäuden schlug der soziale Aufstand in eine politische Manifestation um. Am Morgen des 17. Juni 1953 brach der Aufstand in der gesamten DDR aus. Mehr als eine Million Menschen demonstrierten in etwa 700 Städten und Ortschaften. In den Städten der industriellen Ballungsräume entfaltete der Aufstand seine größte Intensität. Hier wurde auch ein beachtlicher Organisationsgrad erreicht. Streikleitungen wurden gewählt. Die Demonstranten stürmten und besetzten insgesamt 250 Gebäude der SED, des Minsteriums für Staatssicherheit (MfS), der Volkspolizei, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) und der Verwaltungen. An vielen Orten versuchten die Aufständischen, die Gefängnisse und Zuchthäuser zu stürmen, was in zwölf Fällen gelang. Dabei wurden etwa 1 400 Häftlinge befreit. In den Mittagsstunden des 17. Juni griffen die sowjetischen Truppen ein. Das Kriegsrecht wurde verhängt. Wenn sich die Demonstrationen nicht auflösten, wurde scharf geschossen. Eine Gegenwehr der Aufständischen war kaum möglich. Die sowjetische Besatzungsmacht ließ 18 Menschen standrechtlich erschießen. Weitere 60 bis 80 Demonstranten kamen ums Leben. Nach dem Aufstand rechnete die SED gründlich ab. Mindestens 6 000 Personen wurden verhaftet, von denen etwa 1 800 zu Haftstrafen verurteilt wurden. Zwei Todesurteile wurden verhängt und wieder setzte eine Massenflucht ein. Eine Schwäche des Aufstandes waren die wegen der Kürze der Zeit noch nicht aufgebauten Führungs- und Koordinationsstrukturen. Im Bitterfelder und im Görlitzer Raum war dieser Prozess schon nach wenigen Stunden in Gang ge7

Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, 17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003; Roger Engelmann/Karl Wilhelm Fricke, Der „Tag X“ und die Staatssicherheit: 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Macht­ apparat, Bremen 2003; Roger Engelmann (Hg.), Die DDR im Blick der Stasi 1953. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2013.

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kommen. In der Arbeiterschaft lebten sofort Traditionen der Arbeiterbewegung wieder auf, die schon seit 20 Jahren abgebrochen waren. Obwohl der 17. Juni eine „gescheiterte Revolution“ war, sollte er eine nachhaltige politische Bedeutung entwickeln. Zu den Hauptforderungen gehörten freie Wahlen und die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Vorbild waren die demokratischen Strukturen der Bundesrepublik. Es gab eine breite Beteiligung aller gesellschaftlichen Schichten: Intellektuelle, Lehrer, Theologen und Verwaltungsangestellte. Die SED-Führung war für Jahrzehnte traumatisiert. Sie ergriff Maßnahmen, die ähnliche Ereignisse verhindern und schon im Keim ersticken sollten. Ihre Propaganda schob die Schuld auf westdeutsche Provokateure und alte Faschisten, die den 17. Juni als „Tag X“ inszeniert hätten. Die Ruhe, die nach dem Aufstand einkehrte und nur gelegentlich durch verzweifeltes Aufbegehren unterbrochen wurde, war aber nicht Ausdruck einer echten Befriedung der Gesellschaft. Die Niederschlagung mit militärischer Gewalt und der anschließende Rachefeldzug der SED lösten eine tiefe Depression in der gedemütigten Bevölkerung aus, wie sie nur noch nach dem Mauerbau am 13. August 1961 wieder eintreten sollte. Die Menschen mussten einsehen, dass ihnen kein Mittel zur Verfügung stand, um die SED-Macht loszuwerden.

Alte Probleme und neue Konflikte 1953 bis 1969 Nach dem Volksaufstand konnte der 1. Sekretär der SED Walter Ulbricht seine Macht in Partei und Staat nach internen Kämpfen festigen. Er baute nun das zentralistische autoritäre System aus und beseitigte die Reste des bürgerlichen Rechts. Schon die geringsten politischen und ideologischen Abweichungen duldete Ulbricht nicht mehr. Nun kamen auch die Kirchen schnell wieder ins Visier. Statt mit offenem Terror sollten sie mit atheistischer Propaganda und verdeckten Methoden bekämpft werden. Dazu gehörte auch die zwangsweise Einführung der Jugendweihe, die die bis dahin noch von fast allen Kindern wahrgenommene kirchliche Konfirmation zurückdrängte. Mit diesem Ersatzritus waren ein atheistisches Bekenntnis und ein Treuegelöbnis gegenüber dem Staat verbunden. Zu den religiösen Surrogaten gehörten auch die 1958 verkündeten „10 Gebote der sozialistischen Moral“. Auch der Religionsunterricht und die kirchliche Jugendarbeit wurden wieder verfolgt und bekannte Studenten- und Jugendpfarrer inhaftiert. Die Zensur der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit verschärfte sich, und gegen kritische Bischöfe, wie den Berliner Bischof Otto Dibelius, wurden Hetzkampag­ nen inszeniert. 1957 nahm Ulbricht auch den Kampf gegen die Bauern wieder auf und leitete eine neue Kampagne zur Zwangskollektivierung ein. Trotz des erbitterten Widerstandes der Bauern triumphierte 1960 die SED. Die Bauern waren dem terroristischen Druck nicht mehr gewachsen. Die SED hatte eine faktische Enteignung herbeigeführt, die schwerwiegende soziale und kulturelle Folgen hatte.

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Auch in den 1950er-Jahren bildete sich eine Reihe von Widerstandgruppen, an denen Arbeiter, Jugendliche und Studenten beteiligt waren. Zu den am besten organisierten, effektivsten und mehrere Jahre arbeitenden Gruppen gehörte der „Eisenberger Kreis“, der seit 1952 in und um Jena aktiv war, bis er 1958 durch die energische Verfolgung zusammenbrach.8 Der repressive machtpolitische Zentralisierungsprozess kam zunächst 1956 ins Stocken und gefährdete noch einmal die Macht Ulbrichts. Der XX. Parteitag der KPdSU vom 14. bis 25. Februar 1956 erschütterte das gesamte sozialistische Lager. Der neue starke Mann in Moskau, Nikita Chruschtschow, rechnete in einer Geheimrede mit den Verbrechen Stalins ab. Mit der Entstalinisierung wurden in den sozialistischen Ländern Zentrifugalkräfte wirksam, die bei den Menschen die Hoffnung auf Veränderung der politischen Verhältnisse weckte. In Polen kam es zu schweren Unruhen, und in Ungarn entbrannte ein blutiger Volksaufstand. Ulbricht befürchtete, dass die revolutionären Vorgänge auf die DDR überschwappen könnten. Schon bei geringsten Anzeichen von Kritik schritten die Sicherheitsorgane ein. Im Dezember 1956 meldete die SED-Presse die Festnahme einer staatsfeindlichen „Gruppe“ um Wolfgang Harich, Bernhard Steinberger und Manfred Hertwig. Später wurden Walter Janka, Gustav Just, Heinz Zöger, Richard Wolf und andere verhaftet.9 Es handelte sich um SED-Funktionäre, die in kulturellen Bereichen tätig waren. Im März und Juli 1957 kam es zu Prozessen, in denen Strafen bis zu zehn Jahren Zuchthaus für die Angeklagten ausgesprochen wurden. Um die Unruhe unter Intellektuellen zu ersticken, wurde allen Abweichlern „Revisionismus“ vorgeworfen, der als „Dritter Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus die antifaschistische Einheitsfront spalte. Absolute Gegner des SED-Regimes waren die „Revisionisten“ keinesfalls. Harich wollte den Sozialismus wieder anziehend machen. Er hatte Ende November 1956 ein Grundsatzpapier erarbeitet, das als „Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ die innerparteiliche Diskussion über die anstehenden Reformen in Partei und Staat in Gang setzen sollte. Die Vorschläge versuchten Sozialismus und Demokratie zu verbinden. Mit den „Revisionisten“ war aber ein neuer Typ von Oppositionellen entstanden. Sie waren Teil des politischen Systems, hatten zumeist auch eine antifaschistische Legitimation und argumentierten mit Versatzstücken der offiziellen antikapitalistischen Ideologie. Diese systemimmanente Opposition orientierte sich nicht an westlichen Vorstellungen von Demokratie und vertrat keine bürgerlichen Rechtsauffassungen. Noch aber waren diese Ansätze zu schwach und konnten auch nur wenige Menschen mobilisieren.

8 9

Vgl. Patrik von zur Mühlen, Der Eisenberger Kreis. Jugendopposition und Verfolgung in der DDR 1953–1958, Bonn 1995. Vgl. Brigitte Hoeft (Hg.), Der Prozess gegen Walter Janka und andere. Eine Dokumen­ tation, Reinbek 1990.

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Ulbricht konnte trotz aller Repression bislang das Hauptproblem der DDR nicht lösen: die von der kommunistischen Politik ausgelöste Massenflucht. Allein 1960 flohen annähernd 200 000 Menschen in den Westen. Am 13. August 1961 wurde die Grenze nach Westberlin geschlossen. Die DDR-Bevölkerung war zutiefst schockiert. Die SED feierte ihren „antifaschistischen Schutzwall“ und ließ jeden aufkeimenden Widerstand niederschlagen. Aus den Grenzgebieten wurden erneut „politisch unzuverlässige“ Menschen deportiert. Die Verhaftung von mehreren Tausend Menschen aus politischen Gründen im Jahr 1961 diente der Abrechnung mit all jenen, die sich bisher nicht in das SED-Regime eingefügt hatten.10 Der physischen Abriegelung sollte nun auch eine mediale folgen. Das Nutzen westlichen Fernsehens wurde weithin unterbunden. An westlichen Moden orientierte jugendliche Subkulturen wurden bekämpft. So waren die 1960er-Jahre von einer allgemeinen Resignation der Gesellschaft geprägt. Es bestand keine Aussicht auf Freiheit, und die deutsche Teilung war zementiert. Viele Menschen suchten nun das Arrangement mit dem System. Selbst in den Kirchen erlahmte der Widerspruch. Die evangelischen Kirchen schlossen sich unter dem Druck der SED 1969 zum Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) zusammen und trennten sich von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Dennoch bildeten sich schon in diesen Jahren Keimzellen der späteren oppositionellen Bewegungen. Sie wurzelten vorwiegend in Bewegungen, die von jungen Menschen getragen wurden. Mit der Einführung der Wehrpflicht 1962 erklärten zahlreiche junge Männer schon bei den Musterungen, dass sie den Waffendienst nicht antreten würden. Wegen der enorm wachsenden Zahl der Verweigerer verzichtete der SED-Staat zunächst auf strafrechtliche Maßnahmen. 1964 wurde das Gesetz über den waffenlosen Dienst in der Nationalen Volksarmee erlassen. Die Wehrpflichtigen dieses Dienstes wurden „Bausoldaten“ genannt. Sie waren für ein widerständiges Verhalten prädestiniert, einige Gruppen traten mit ihren Aktivitäten besonders hervor. Bald bildete sich ein Potenzial von Kriegsdienst- und Totalverweigerern und ehemaligen Bausoldaten. Sie organisierten in den Kirchen eine DDR-weite Struktur, die Verweigerer beriet und die Handlungsmöglichkeiten für Proteste erkundete. Die Totalverweigerung und die Bausoldatenzeit wurden für viele zum politischen Grund­ erlebnis. Spätere Oppositionelle haben hier ihre ersten Erfahrungen in der politischen Auseinandersetzung gemacht.11 Eine weitere Quelle für jugendlichen Widerspruch wurde die an westlichen Standards orientierte Beatbewegung, die seit 1965 von der SED propagandistisch und mit Verboten bekämpft wurde. Zur offenen Auseinandersetzung kam 10 Vgl. Bernd Eisenfeld/Roger Engelmann, 13.8.1961: Mauerbau – Fluchtbewegung und Machtsicherung, Bremen 2001. 11 Vgl. Thomas Widera (Hg.), Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im Spannungsfeld der SED-Politik 1964–1989, Göttingen 2004; Bernd Eisenfeld/Peter Schicketanz, Bau­ soldaten in der DDR. Die „Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte“ in der NVA, Berlin 2011.

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es in Leipzig am 31. Oktober 1965, als über 500 Jugendliche gegen das Verbot der Beatmusik protestierten. Etwa 250 Jugendliche wurden verhaftet. Aber die SED verlor den Kampf gegen den Beat, denn schon Ende der 1960er-Jahre musste sie nachgeben und in veränderter Form kam die Beat-Musik wieder vor, ohne jedoch die Jugendlichen erneut an den Staat binden zu können. Eine nachhaltige Politisierung der Jugendszenen fand Ende der 1960er-Jahre statt. Es formierte sich ein neuer Zweig der kirchlichen Arbeit, die Offene Jugendarbeit (OA), die sich von Anfang an im politischen Widerspruch zur Jugendpolitik der SED behauptete. Viele junge Menschen sahen in den kirchlichen Gruppen einen Freiraum. Trotz der Zersetzungsmaßnahmen des MfS konnte diese Arbeit nicht lahmgelegt werden und so wuchs ein Rekrutierungspotenzial der sich später entwickelnden Opposition heran. In den 1960er-Jahren gewann aber vor allem eine sich öffentlich artikulierende systemimmanente Kritik in mehreren Ländern des Ostblocks an Bedeutung. Die Initialzündung war ein zweiter Anlauf zur Entstalinisierung, der wieder durch Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 ausgelöst wurde. Auch Ulbricht musste nun die letzten äußeren Zeichen des Stalinkultes beseitigen, was umgehend eine intellektuelle Debatte über den diktatorischen Kommunismus auslöste. Eine Signalwirkung in den sozialistischen Ländern ging von der „Kafka-Konferenz“ 1963 in Liblitz aus, die auch in die DDR hineinwirkte. Mit dem 11. Plenum des Zentralkomitees (ZK) der SED 1965, dem sogenannten Kahlschlag­plenum,12 leitete Ulbricht die Abrechnung mit allen Kritikern ein. Das hier veranstaltete Scherbengericht betraf Künstler, Filmproduzenten und Theaterleute. Die schärfsten Angriffe galten dem Schriftsteller Stephan Heym, dem Liedermacher Wolf Biermann und dem philosophierenden Naturwissenschaftler Robert Havemann, die Ulbricht eines zielbewussten Kampfes gegen die Arbeiter- und Bauernmacht bezichtigte. Alle drei hatten biografisch eine antifaschistische Legitimation aufzuweisen und hingen der Utopie eines demokratischen Sozialismus an. Sie verstanden sich als Kommunisten, die dem System mit revolutionärem Trotz entgegentraten. Nun wurden sie zu den wichtigsten Vertretern eines politischen Konzeptes für die Demokratisierung des Sozialismus, wenngleich sie auch Kritik am Westen übten. Diese Ideen wirkten bis in die 1980er-Jahre auf Oppositionelle ein. Ihre Texte wurden illegal verbreitet. Um Havemann sammelte sich ein Kreis junger Intellektueller. Alle wurden konspirativ überwacht, isoliert und mit Veröffentlichungsverboten belegt. In der DDR war im letzten Drittel der 1960er-Jahre eine Generation von jungen Menschen herangewachsen, die ihre Sozialisation nur in der DDR erfahren hatte. Jetzt wurden sie von der Studentenbewegung in den westlichen Ländern beeinflusst und stellten kritische Fragen an die Gesellschaftsordnung ihres eige-

12 Vgl. Günter Agde (Hg.), Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991.

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nen Landes. Viele von ihnen schauten voller Hoffnung in die ČSSR. Dort unternahmen Parteiführung und Volk den Versuch, einen demokratischen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu praktizieren.13 Prag wurde für die Jugend ein Wallfahrtsort der politischen Hoffnungen. Für Havemann und Biermann schien die Demokratisierung eines Staates des real existierenden Sozialismus Wirklichkeit zu werden und sie begrüßten begeistert den Versuch, Sozialismus und Demokratie in Übereinstimmung zu bringen. Als dieser Versuch im August 1968 mit Waffengewalt des Warschauer Paktes niedergezwungen wurde, löste dies eine Protestwelle in der gesamten DDR aus. Dazu gehörten selbst gefertigte Flugblätter, Losungen, Verweigerung von Zustimmungserklärungen und einige spontane Protestdemonstrationen. Die SED konnte diese Proteste freilich niederschlagen. Aber in den Köpfen hatte sich die Vision eines demokratischen Sozialismus festgesetzt und sollte noch zwei Jahrzehnte weiterwirken. Sicher war diese Formel vorwiegend eine intellektuell-ideologische Adaption, die bei Kirchenleuten auch noch ethisch aufgeladen war. In der Bevölkerung, selbst wenn sie sich formal angepasst hatte, blieb die völlige Distanz zum System bestehen, was unter anderem bei dem Besuch des Bundeskanzlers 1970 in Erfurt sichtbar wurde. Die Erwartungen an die von Willy Brandt betriebene innerdeutsche Entspannungspolitik waren groß. Noch größer war die Hoffnung auf ein Ende der DDR, die sich in der spontanen Losung äußerte: „Willy Brandt, regier du unser Land!“14

Anfänge der formierten Opposition 1970 bis 1980 Im Rückblick zeigen die 1970er-Jahre ein janusköpfiges Bild von der DDR. Einerseits erschien die DDR als ein inzwischen konsolidierter Staat, der sich sicher auf der internationalen Ebene im Rahmen der Entspannungspolitik mitsamt dem 1972 eingeleiteten KSZE-Prozess bewegte. Die Innenpolitik Erich Honeckers, der 1971 Ulbricht entmachtet hatte, versuchte aus der DDR einen sozialistischen Nationalstaat zu entwickeln, der sich scharf vom Westen abgrenzte. Dieses ideologische Projekt sollte durch eine weitere Zentralisierung der Wirtschaft und einer verbesserten Sozialpolitik gestützt werden. Andererseits sah sich Honecker zur weiteren Militarisierung der Gesellschaft und dem enormen Ausbau der Sicherheitsorgane veranlasst. Mit dem „Schild und Schwert der Partei“, dem MfS, wurden gegen Kritiker subtile Mittel der Verfolgung, wie Unterwanderung, Beeinflussung, Rufschädigung, Verleumdung und Berufsverbot, eingesetzt. Das aber waren Symptome der Schwäche des Parteistaatsgefüges. Denn die zentrifugalen Kräfte im europäischen

13 Vgl. Jan Pauer, Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes. Hintergründe, Planung, Durchführung, Bremen 1995. 14 Ehrhart Neubert/Thomas Auerbach, „Es kann anders werden“: Opposition und Wider­ stand in Thüringen 1945–1989, Weimar 2005, S. 98.

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­Kommunismus wurden spürbarer, und die kritischen und oppositionellen Milieus im Lande drängten immer stärker in die Öffentlichkeit. Das Dauerproblem, die Bereitschaft zur Flucht und die legalen Ausreise­ begehren, nahm trotz angedrohter Strafmaßnahmen beständig zu. Zwischen den ausreisebereiten Gegnern des SED-Regimes und den Oppositionellen, die in der DDR bleiben wollten und innerhalb des Systems rebellierten, gab es immer wieder Querverbindungen. In vielen Fällen stellten kirchliche Institutionen und Gemeinden Antragsteller ein, wenn diese ihre Arbeit verloren hatten. Vereinzelt schlossen sich Ausreiseantragsteller zu Gruppen zusammen, die unter Berufung auf die KSZE-Deklarationen das Menschenrecht auf Ausreise einklagten. Unbeherrschbar wurden auch die jugendlichen Subkulturen und Musikszenen, die sich bewusst von den FDJ-Angeboten abgrenzten. Immer wieder entstanden unabhängige literarische Zirkel und Galerien. In den 1970er-Jahren wurden die marxistischen Dissidenten Havemann, Biermann und Heym für die Öffentlichkeit in Ost und West geradezu zu Repräsentanten der Opposition. Havemann bezog sich nun immer deutlicher auf die ideellen Grundlagen der bürgerlichen Demokratie, die freiheitliche Grundordnung, die unveräußerlichen Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und das Öffentlichkeitsprinzip. Aus der Forderung nach gesicherter Freiheit ergab sich die Forderung einer institutionalisierten Opposition. Von 1976 bis 1979 wurde Havemann völlig rechtswidrig unter Hausarrest gestellt. Der enge Freund Havemanns, Wolf Biermann, wurde zum Idol der kritischen Jugend. Im offiziellen Kulturbetrieb der DDR wurde er ignoriert, weshalb er seine Musik und Literatur nur im Westen anbieten konnte. Von dort aus fand vieles seinen Weg in die DDR und wurde in oppositionellen und kirchlichen Kreisen verbreitet. Am 13. November 1976 gab Biermann in der Kölner Sporthalle ein von Rundfunk und Fernsehen übertragenes Konzert. Da Biermann trotz einiger Vorsicht auch hier die SED aufs Korn nahm, rächten sich die „verdorbenen Greise“ im Politbüro, wie Biermann sie in einem seiner Lieder nannte. Honecker verfügte Biermanns Ausbürgerung. Die Ausweisung wurde mit Empörung aufgenommen und löste eine öffentliche Protestwelle aus, die zu einer schweren Kulturkrise wurde. In Versammlungen äußerten unzählige Menschen ihren Unmut. In kirchlichen Veranstaltungen wurden Tonbandaufnahmen seines Konzertes abgespielt, Flugblätter tauchten auf und Losungen wurden angeschrieben. Vor allem verschlechterten sich rapide die Beziehungen der SED zu großen Teilen der von ihr geförderten und privilegierten Intelligenz. In kurzer Zeit unterzeichneten über 100 Künstler eine Protesterklärung. Die Gegenmaßnahmen der SED führten zu einer Auswanderungswelle von Künstlern.15

15 Vgl. Robert Grünbaum, Wolf Biermann 1976. Die Ausbürgerung und ihre Folgen, 2. Auflage Erfurt 2011.

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Weitere Skandale drehten sich um den verhafteten Autor Jürgen Fuchs und um den Schriftsteller Reiner Kunze, der im April 1977 nach seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband die DDR verließ. Aufsehen erregte der Philosoph Rudolf Bahro, der mit seinem Buch „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ das Regime herausgefordert hatte. Zur Sensation geriet auch die Veröffentlichung eines „Manifests der Opposition“ im Januar 1978 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Die anonymen Verfasser, vor allem der Geheimdiplomat Hermann von Berg, erklärten sich einem „demokratischen Kommunismus“ verpflichtet. Von größter Bedeutung war aber, dass in diesen Jahren die Kirchen zum wichtigsten Bewegungsraum von Oppositionellen wurden. Zwar suchten die Kirchen zu einem erträglichen Nebeneinander von Kirche und Staat zu gelangen, weshalb 1978 zwischen der evangelischen Kirche und dem SED-Staat trotz ungelöster Fragen eine Art Burgfrieden geschlossen wurde. Der Staat sagte einige Erleichterungen für die kirchliche Arbeit zu, im Gegenzug versicherten die kirchlichen Vertreter Loyalität. Trotzdem blieben die Kirchen für den Staat ein Unruheherd. So hatte der Vordenker der späteren Opposition, der Erfurter Propst Heino Falcke, in einem Synodenvortrag 1972 ein energisches Plädoyer für politische Freiheit und gesellschaftliche Mündigkeit in einem „verbesserlichen Sozialismus“ abgegeben.16 Falcke wurde vorgeworfen, dass er Ideen des Prager Frühlings in die DDR hineintragen wolle. Mit dem Konzept Falckes zeigte sich ein Oppositionstyp nun auch in der Kirche, der auf eine Demokratisierung des politischen Systems hinarbeitete, ohne den Sozialismus prinzipiell infrage zu stellen. Den wohl deutlichsten Protest stellte das Selbstopfer des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz aus Rippicha dar, der sich am 18. August 1976 öffentlich vor der Michaeliskirche in Zeitz verbrannte. Auf einem Plakat von ihm stand: „Funkspruch an alle ... Funkspruch an alle ... Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen, an Kindern und Jugendlichen.“17 Viele Menschen sahen in der Selbstverbrennung ein Fanal, das die staatsnahe Kirchenpolitik infrage stellte und den Widerstandswillen stärkte. Ein weiteres Konfliktpotenzial innerhalb der Kirchen trat in der Debatte um die mangelhafte Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR zu Tage. Obwohl sich auch Kirchenleute dem marxistischen Menschenrechtsverständnis unter dem Mantel einer dem sozialen Kollektiv verpflichteten Moral annäherten, blieb die Forderung nach der Geltung der Freiheitsrechte stets lebendig. Einer der theologischen Wortführer war der Görlitzer Bischof Joachim

16 Heino Falcke, Mit Gott Schritt halten. Reden und Aufsätze eines Theologen in der DDR aus 20 Jahren, Berlin 1986, S. 12 ff. 17 Freya Klier, Oskar Brüsewitz – Leben und Tod eines mutigen DDR-Pfarrers. Hg. vom Bürgerbüro e. V. zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur, Berlin 2004, S. 7.

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Fränkel.18 Verschiedene kirchliche Arbeitsgruppen sammelten Material zu Menschenrechtsverletzungen in der DDR. Die Berlin-Brandenburgischen Gruppen arbeiteten auch mit den illegal beschafften und vervielfältigten Dokumenten der tschechischen Charta 77. Die Kirchen wurden in diesen Jahren zunehmend zu einem Ersatzraum für die fehlende Öffentlichkeit und zum Magneten einer aufkeimenden Zivilgesellschaft. Unangepasste Künstler und soziale Randgruppen drängten in die Kirchen, und vor allem junge Menschen zog der kirchliche Freiraum an. Die OA weitete sich rasch aus und wuchs über eine reine Jugendarbeit hinaus. Tabuisierte Themen wie die Militarisierung, Homosexualität, Frauenfragen, Suchtprobleme und Hilfe für Opfer der politischen Bürokratie, für die es in der DDR keine Öffentlichkeit gab, wurden behandelt. Die OA führte Großveranstaltungen durch, zu denen oft mehrere Tausend Menschen kamen. Die wohl bekannteste Reihe waren die von Rainer Eppelmann verantworteten Berliner „Bluesmessen“, die viele Tausend junge Leute zu politischen Gottesdiensten zusammenbrachten. Das MfS konnte zwar einzelne Erfolge im Kampf gegen die OA erzielen, blieb aber insgesamt gegen die soziale Revolte machtlos. Die Strukturen der sich allmählich formierenden oppositionellen Milieus in den Kirchen waren sehr eng mit denen der evangelischen Kirche verbunden. Deutlich wurde dies, als sich Ende der 1970er-Jahre die Friedens- und Umweltbewegung als Ausfluss von sozialethischen Debatten formte. Diese Bewegungen entstanden im Zuge eines weltweiten Krisenbewusstseins, das auf die Hochrüstung und die zunehmenden Umweltprobleme reagierte. Zu Kristallisationskernen der frühen Friedensbewegung wurden die Strukturen der Wehrdienstverweigerer und ehemaligen Bausoldaten, die ein immer größeres Potenzial – 1977 etwa 10 000 junge Männer – darstellten. Sie hatten sich in kirchlichen Regionalkreisen und überregionalen Friedensseminaren organisiert. Seit etwa 1977 bildeten sich zahlreiche wöchentlich tagende Friedenskreise, die eine politische Friedensarbeit ohne kirchenpolitische Rücksichten leisten wollten. Die noch schwache Friedensbewegung bekam Auftrieb, als Volksbildungsministerin Margot Honecker einen obligatorischen Wehrkunde­ unterricht mit Waffenausbildung ab September 1978 einführte, der spontane Proteste in den Kirchen auslöste. Die oppositionelle Umweltbewegung fand in diesen Jahren ebenfalls in kirchlichen Institutionen eine Heimat. Wichtig wurde das „Kirchliche Forschungsheim Wittenberg“ (KFHW), indem seit 1978 zunehmend die politischen Aspekte der Umweltproblematik diskutiert wurden. Ein erstes Treffen von Umweltgruppen fand auf einer Konsultation in Buckow im Januar 1978 statt. Das gesamte oppositionelle Feld war aber noch heterogen. Es gab nur eine gelegentliche Kommunikation zwischen den Protagonisten der Bewegungen. Zwar 18 Vgl. Hans-Joachim Fränkel, Das Zeugnis der Bibel in seiner Bedeutung für die Men­ schenrechte (Vortrag). Provinzialsynode der Ev. Kirche des Görlitzer Kirchengebiets vom 4.–7.4.1975. In: epd-Dokumentation, 20 (1975), S. 25 ff.

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haben kirchlich engagierte Oppositionelle gegen die Ausbürgerung Biermanns protestiert und marxistische Intellektuelle gegen die SED-Schmähkampagnen gegen Brüsewitz. Aber es fehlten übergreifende politische Strategien und Programme. Noch lebten die Bewegungen vornehmlich aus der Kritik des „realen Sozialismus“, dem sie einen „demokratischen Sozialismus“ gegenüberstellten. Erst in den 1980er-Jahren bekam die Politisierung deutlichere Konturen. Dazu trug auch die Entwicklung in Polen bei, wo sich mit der Streikbewegung und der Gewerkschaft Solidarność eine sehr starke Opposition in einem sozialistischen Land entwickelte, die unmittelbar über Kontakte in die DDR hineinwirkte.

Entwicklung der Demokratiebewegungen 1980 bis 1989 In den 1980er-Jahren entwickelte sich rasch eine kräftige Opposition, die vorwiegend als Friedens- und Umweltbewegung in Erscheinung trat. Sie stellte das sozialistische System nicht grundsätzlich infrage, sondern versuchte mit legalistischen Mitteln, der SED in kleinen Schritten mehr Freiheit abzutrotzen. Die Oppositionellen vermieden überdies bis Ende der 1980er-Jahre zumeist den Begriff „Opposition“ als Selbstbezeichnung, um nicht sofort kriminalisiert zu werden. Das führte zu einer strategischen Differenz zwischen den Oppositionellen und den Ausreiseantragstellern. Obwohl es Kooperationen zwischen beiden Gruppen gab, wollten die Oppositionellen in der DDR bleiben, um Veränderungen zu erreichen. Die Ausreiseantragsteller, die sich auf die Menschenrechte beriefen, hatten dagegen spezielle Protestformen entwickelt, die eine Totalabsage an die DDR zum Ausdruck brachten. Die Oppositionellen kamen überwiegend aus den Kirchen und wurden von einer Reihe Gemeinden, kirchlichen Mitarbeitern und Pfarrern unterstützt, während die Kirchenleitungen zumeist distanziert solchen Aktivitäten gegenüberstanden. So war etwa zu hören, dass die Kirche kein „Oppositionslokal“ sei und dass die Kirche „für alle, aber nicht für alles“ offen stünde. Der Versuch, die Kirche als einen konfliktfreien Ort in der Gesellschaft zu bewahren, scheiterte, da sie im Kommunismus ein ideologischer und struktureller Fremdkörper blieb, der auf Kritiker des Regimes anziehend wirkte. Ende der 1980er-Jahre verschlechterte sich das Staat-Kirche-Verhältnis rapide, da in den Kirchen immer mehr Stimmen laut wurden, die die langjährige Konsensformel von der „Kirche im Sozialismus“ ablehnten. Zudem entwickelten sich auch Formen der Zusammenarbeit mit Oppositionellen. Vor allem der 1985 begonnene „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ führte zu einer engen Kooperation zwischen der evangelischen und katholischen Kirche einerseits und oppositionellen Gruppen andererseits.19

19 Vgl. Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hg.), Ökumenische Versammlung für Ge­ rechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Berlin 1990, S. 72 ff.

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Dass das Friedensthema in der Opposition eine überragende Rolle spielte, lag an der Militarisierung der Gesellschaft zum Machterhalt der SED. In den Argumentationen gegen die innere Aufrüstung spielte die protestantische Sozialethik eine Rolle. Die viel gebrauchten Formeln „Frieden, Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit“ drückten einen universellen Anspruch aus, dem der politische Akteur in einer dramatischen Herausforderung gerecht werden musste. Für die Protestanten war ein radikaler Pazifismus angesichts der Hochrüstung ein Gebot der Vernunft, wie er auch geeignet war, die deutsche Schuldproblematik zu bearbeiten. Die lange Dominanz der Friedensfrage in der Opposition war offensichtlich ein Reflex auf die verinnerlichte Kriegsschuld. In anderen mittelosteuropäischen Gesellschaften verzichteten die Oppositionellen auf das Primat der Friedensfrage. Politische Themen, wie die Teilung des Landes, wurden auch erörtert, fanden aber nur vereinzelt Eingang in den oppositionellen Ideenhaushalt. Die Friedensbewegung bezog daher ihre öffentlichen Aktionen vorwiegend auf konkrete Phänomene der Militarisierung. So gab es seit 1981 eine öffentliche Kampagne für einen sozialen Friedensdienst, der eine gleichberechtigte Alternative zu Wehr- und Bausoldatendienst werden sollte. Eine Friedensgruppe hatte im November 1981 zu einer antimilitaristischen Schweigedemonstration am symbolträchtigen Jahrestag der Bombardierung Dresdens, dem 13. Februar 1982, vor der Ruine der Frauenkirche aufgerufen. Mehr als 5 000 überwiegend junge Menschen beteiligten sich daran. Ein durchschlagender Erfolg für die Opposition wurde die Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ der Jahre 1981 und 1982, an der sich bis zu 100 000 Menschen beteiligten. Sie verbreiterte die Basis der Friedensbewegung und überschritt die Grenzen der Kirchen. Diese Bewegung entstand in einer Situation, in der die von der SED geschürten Bedrohungsängste weit verbreitet waren und die Bevölkerung der Militarisierungs- und Disziplinierungspolitik immer überdrüssiger wurde. Das Symbol und die damit verbundenen Ereignisse gingen in die Tradition der oppositionellen Friedensbewegung bis 1989 ein. In den Auseinandersetzungen war offenkundig geworden, dass das Mobilisierungspotenzial der oppositionellen Friedensbewegung weit über die eigentlichen Aktivisten hinausreichte. Die Friedensbewegung erweiterte nun auch ihre politischen Themen. Dazu gehörte der von Robert Havemann und Rainer Eppelmann am 25. Januar 1982 herausgegebene „Berliner Appell“, der dafür eintrat, dass die Friedensfrage Vorrang vor dem Erhalt der DDR und ihren Machtverhältnissen hätte. Die Initiatoren forderten aber die Selbstbestimmung der Deutschen, freilich unter der Voraussetzung einer Neutralisierung eines vereinten Deutschlands.20 Die SED versuchte im Herbst 1983, die Situation gewaltsam mit einem Rundumschlag zu bereinigen. Mindestens 100 Friedensbewegte wurden inhaftiert 20 Vgl. Thomas Klein, Frieden und Gerechtigkeit. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Köln 2007.

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und zahlreiche Beteiligte in den Westen abgeschoben. Zugleich wollte die SED 1984 das Potenzial der Antragsteller austrocknen und erlaubte etwa 30 000 die Ausreise, unter ihnen viele Oppositionelle. Die Antragszahlen gingen aber nicht zurück, da nun viele hofften, dass Beharrlichkeit zum Ziel führen würde. Die umweltethischen Debatten in den Kirchen der Vorjahre mündeten zunächst in das Suchen nach einer angemessenen Lebensweise, die das Umwelt­ engagement glaubhaft mit einer sozialen Praxis des Verzichtes unterlegte. Im sozialen und kulturellen Gruppenmilieu der Umweltbewegung mit religiösem Hintergrund bildete sich eine praktische und geistige Alternative zur disziplinierten Gesellschaft. Es entstanden zahlreiche Umweltgruppen, die innerhalb der Kirchen arbeiteten. Seit Mitte der 1980er-Jahre setzte in der Umweltbewegung eine qualitativ-fachliche Verbesserung ein, die sich auch auf die politische Theoriebildung und Praxis auswirkte. Die wichtigsten politischen Mittel der Umweltbewegung waren die Beschaffung von Informationen, die Herstellung von Öffentlichkeit, die Ausschöpfung legaler Handlungsfelder und Organisationsmöglichkeiten sowie der Versuch, rechtliche Mittel zu nutzen. Als nach der katastrophalen Havarie des sow­jetischen Atomkraftwerkes in Tschernobyl im April 1986 die DDR-Propaganda versuchte, die Vorgänge zu verharmlosen, reagierte sofort die Umweltbewegung mit einer Vielzahl von Aktionen und fundierter öffentlicher Kritik. Die Menschenrechte und ihre Verletzung in der DDR waren ein Dauerthema in oppositionellen Gruppen, da sie dies am eigenen Leibe zu spüren bekamen. Seit 1985 rissen die Erklärungen und Offenen Briefe zur Menschenrechtssituation in der DDR nicht ab. Sie wurden überwiegend von Berliner Oppositionellen getragen, wo sich 1984 und 1985 mehrere Arbeitsgruppen gebildet hatten, so die „Arbeitsgruppe Menschenrechte und Gesellschaft“. In einer Vielzahl von Eingaben an staatliche Stellen und die SED-Führung wurden Menschenrechtsverletzungen kritisiert und Rechte eingefordert, wie das Recht auf Bildung, freier Zugang zu Informationen und geistig-kulturellen Gütern, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit und freie Wahl des Wohnsitzes. In eigener Sache protestierten die Gruppen gegen die Praxis der juristischen Verfolgung politischen Engagements. Darüber hinaus forderten sie die Erweiterung der Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung durch veränderte Wahlmodi. 1986 wurde die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) zu einer der wichtigsten Oppositionsgruppen. Sie verstand sich als von der Kirche unabhängige Gruppe, wenngleich sie die kirchliche Öffentlichkeit wie andere Gruppen nutzte. Sie gab ab September 1986 die Zeitschrift „Grenzfall“ heraus, die sich mit dem marxistischen Menschenrechtsverständnis auseinandersetzte. Zum 30. Jahrestag des Ungarnaufstandes verabschiedete die IFM im Oktober 1986 mit 118 polnischen, tschechischen und ungarischen Bürgerrechtlern eine Erklärung, die für politische Demokratie und für einen auf den Prinzipien der Selbstbestimmung gegründeten Pluralismus eintrat. Zu den wichtigsten Neuerungen der 1980er-Jahre gehörte die sich ständig ausweitende Vernetzung der oppositionellen Gruppen, die die Kommunikation

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wesentlich erleichterte und auch im Falle von Verfolgungen und Verboten rasch Ausweichmöglichkeiten bot. Das bedeutendste Netzwerk unter der Schirmherrschaft der Landeskirchen war das Seminar „Frieden konkret“. Es erfasste auf den jährlichen Hauptversammlungen bis zu 200 Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen. Wie im gesamten sowjetischen Machtbereich versuchten Oppositionelle, die vollständige Kontrolle der Öffentlichkeit zu unterlaufen. Die Bevölkerung nutzte zwar für ihre Informationsbeschaffung westliche Medien, diese waren aber für eine eigenständige Öffentlichkeitsarbeit der Opposition unzureichend, da sie an den internen DDR-Diskursen wenig interessiert waren. Darum war die Opposition seit Anfang der 1980er-Jahre dazu übergegangen, eigene Zeitschriften im A4-Format in einfacher Vervielfältigungstechnik herauszugeben. Im sogenannten Samisdat, eine in Russland geprägte Bezeichnung (Selbstausgabe), erschienen etwa 50 Zeitschriften mit bis zu 20 Ausgaben. Neben den Zeitschriften spielten auch selbst produzierte Dokumentarfilme eine Rolle, die auch in die Bundesrepublik geschmuggelt und dort im Fernsehen gezeigt wurden. Als im Juni 1986 die erste Nummer der illegalen Samisdatzeitschrift „Grenzfall“ erschien, leitete das MfS eine groß angelegte Aktion ein. Im November 1987 stürmte eine Einsatzgruppe des MfS die Druckerei in der Zionsgemeinde in Ostberlin und verhafteten einige der Drucker. Sofort entwickelte sich in der DDR eine breite Solidaritätswelle. In Berlin kamen zu den täglichen Solidaritätsveranstaltungen bis zu 2 000 Menschen. Als auch internationale Proteste gemeldet wurden, lenkte der SED-Staat ein. Die Verhafteten wurden freigelassen. Der SED-Staat hatte eine Niederlage erlitten, er war vor der Oppo­sition zurückgewichen. Dem gescheiterten Vorhaben des MfS folgten weitere oppositionelle Aktivitäten. Zur „Kampfdemonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“ am 17. Januar 1988 führten oppositionelle Demonstranten Losungen wie das folgende Luxemburg-Zitat mit: „Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden!“ Das MfS verhaftete viele bekannte Oppositionelle, was Menschen mobilisierte, die sich in der gesamten DDR in Protestveranstaltungen in den Kirchen sammelten. Die Protestwelle flaute ab, als die Inhaftierten in die Bundesrepublik abgeschoben wurden. Weitere Demonstrationen fanden in Leipzig, Dresden und anderen Städten statt. Einen wichtigen Erfolg erzielte die Opposition anlässlich der sogenannten kommunalen Volkswahlen am 7.  Mai 1989, bei denen sie erstmals die Wahlfälschungen nachweisen und veröffentlichen konnte. An dieser Kampagne beteiligten sich auch Menschen, die bislang die Opposition gemieden hatten.21 Die zunehmende politische Reife der Opposition in den 1980er-Jahren führte zu immer neuen Debatten über die von den evangelischen Kirchen aus-

21 Vgl. Hans Michael Kloth, Vom „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage“, Berlin 2000.

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geborgten Strukturen. Die Frage, wie die Kirchengrenzen überschritten und die Gesellschaft mobilisiert werden könne, beschäftigte die Opposition immer wieder. So vertraten viele Oppositionelle die Auffassung, dass eine pluralistische, demokratische und dezentralisierte Organisation des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens nur erreicht werden könne, wenn eine unabhängige Gesellschaft bzw. Zivilgesellschaft entwickelt würde. Freies Sprechen und Handeln würde einen Autonomiegewinn bringen und die eingeschüchterte Bevölkerung zum eigenen Handeln entgegen den Kommandostrukturen motivieren. Entsprechend dem Slogan „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ (Václav Havel) sollte der geschlossene politische Raum wieder geöffnet werden. Ein solches politisches Konzept war weniger an politischen Programmen als vielmehr an der Entwicklung von Alternativen zu den drei Kernbereichen totalitärer Herrschaft ausgerichtet. Diese Alternativen waren ein anderer Gebrauch der Sprache, die Wiederherstellung des Rechts und eine der Wahrheit verpflichtete Sicht auf die Geschichte. Der Samisdat spiegelte diese Debatten. Es war klar, dass der Marxismus als kritische Theorie verbraucht war. Die großen Gestalten der Opposition, wie etwa Robert Havemann, hatten diesen Prozess selbst eingeleitet. Nur noch wenige Sektierer in der Opposition haben bis 1989 an die Revitalisierung des Kommunismus geglaubt. Dazu mussten aber auch deutschlandpolitische Modelle entwickelt werden. Den bekanntesten Vorstoß unternahm die 1987 gegründete „Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ (IAPPA). Ludwig Mehlhorn, einer ihrer Gründer, stellte schon 1986 fest, dass an den Folgen der Abgrenzung „unser gesamtes gesellschaftliches Leben – und viele, die weggehen, meinen: tödlich – erkrankt ist“.22 Das war eine Aufforderung zu einem politischen Pragmatismus, den viele der sozialethisch orientierten Oppositionellen vermissen ließen.

Die Opposition in der Revolution 1989/90 Seit September 1989 war die Krise des SED-Staates unübersehbar. Aber auch das gesamte Sowjetimperium war in Bewegung geraten. Gorbatschows Peres­ troika-Politik konnte den inneren Zerfall der Sowjetunion nicht stoppen. In Polen erreichte die Opposition nach Verhandlungen am Runden Tisch halbfreie Wahlen. Am 24. August wurde Tadeusz Mazowiecki der erste nichtkommunistische Ministerpräsident, der sich die Macht mit den Kommunisten teilte. In Ungarn wurden seit 1987 über eine Demokratisierung nachgedacht und unabhängige Parteien zugelassen. Jetzt musste sich Honecker auch vom Osten abgrenzen, weil er befürchtete, dass diese Entwicklungen auf die DDR ­überschwappten. 22 Ludwig Mehlhorn an die Bischöfe Kruse und Forck vom 27.8.1986. In: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985– 1989, Berlin 2002, S. 407.

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Im September brach trotz aller Sicherheitsvorkehrungen der Konflikt zwischen der SED und der Gesellschaft offen aus. Während Honecker die Jubelfeierlichkeiten des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober vorbereiten ließ, wurde die SED von der rapide ansteigenden Fluchtwelle überrascht.23 Zugleich hatte die SED mit der immer offener auftretenden Opposition ein neues Problem. Die Fluchtwelle beschleunigte die Planungen zu einer Neuformierung der Opposition, die nun im September umgesetzt wurden. Deren Personal stammte zunächst fast durchweg aus den Oppositionsgruppen der 1980er-Jahre. Am 28. August 1989 stellte während eines Menschenrechtsseminars in der Berliner Golgatha-Kirche Markus Meckel den Aufruf zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei vor, der eine Absage an die SED und ihr politisches System enthielt. Am 7. Oktober wurde die Partei SDP in Schwante bei Berlin gegründet. Zum großen oppositionellen Ereignis wurde, auch durch die gewachsene Popularität der langjährigen Oppositionellen Bärbel Bohley, das am 9. September in der Wohnung von Katja Havemann in Grünheide gegründete „Neue Forum“ (NF). Erstunterzeichner waren Martin Böttger, Erika Drees, Rolf Henrich, Jens Reich, Reinhard Schult, Hans Jochen Tschiche und andere. Eine weitere Bürgerbewegung wurde am 12. September gegründet. Mit dem „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“ und „Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR“ meldete sich die „Bürgerbewegung Demokratie jetzt“ (Dj). Die Gründung der Bewegung „Demokratischer Aufbruch“ (DA) war schon am 23. August bei einem Treffen in Dresden verabredet worden. Beteiligt waren Rainer Eppelmann, Ehrhart Neubert, Rudi Pahnke, Friedrich Schorlemmer, Edelbert Richter und andere. Am 13. September wurde die beabsichtigte Gründung erstmals bekannt gegeben. Seitdem arbeiteten einzelne Gruppen. Am 1. Oktober kamen etwa 80 Oppositionelle aus dem ganzen Land nach Berlin, um den DA zu gründen. Ein großes Polizeiaufgebot versuchte, das Treffen zu verhindern. Am 4. September trafen sich in Böhlen verschiedene Vertreter betont linker und basisdemokratischer Gruppen. Darüber wurden eine „Mitteilung über ein Treffen von Vertretern verschiedener sozialistischer Tendenzen“, ein Appell „Für eine vereinigte Linke in der DDR“ und das Papier „Mindestanforderungen für die Gestaltung einer freien sozialistischen Gesellschaft in der DDR“ veröffentlicht. Mit Thomas Klein und Herbert Mißlitz stellte sich die Initiativgruppe als „Vereinte Linke“ (VL) vor. Zwischen den neuen Gruppierungen gab es erhebliche strategische und inhaltliche Differenzen. Während das NF, Dj und die VL dialogische und zivilgesellschaftliche Konzepte anboten, steuerten die SDP und der DA auf ein durch Parteien vertretenes repräsentatives Demokratiemodell zu. 23 Zum Formierungsprozess der Opposition 1989 vgl. Karsten Timmer: Vom Aufbruch zum Umbruch – die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000; Günther Heydemann/Gunther Mai/Werner Müller (Hg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, Berlin 1999; Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009; Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009.

Opposition und Widerstand in der DDR

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Trotz dieser Unterschiede fanden die Oppositionellen zu einer engen Zusammenarbeit. In Berlin bildete sich eine Kontaktgruppe, die am 4. Oktober in einer „Gemeinsamen Erklärung“ freie Wahlen unter UNO-Kontrolle forderte. Die neue Opposition wurde zunehmend von der Bevölkerung angenommen, wenn es auch noch eine Weile dauerte, bis die Angst vor einem Engagement überwunden war. Die Mobilisierung der Bevölkerung gelang überwiegend durch die traditionellen Friedensgebete in den Kirchen, die in Leipzig eine besondere Ausstrahlung hatten. Hier fanden die Menschen einen freien Sprachraum vor, in dem durch religiöse Riten gestützt, die Sorgen und Erwartungen ausgesprochen werden konnten.24 Der SED gelang es nicht mehr, die Friedensgebete zu verhindern. In Leipzig bekamen sie seit dem 4. September 1989 einen enormen Zulauf. Nach dem Gebet sammelten sich Demonstranten vor der Kirche. Am Montag, den 9. Oktober, versuchte die SED-Führung in Leipzig, eine gewaltsame Lösung herbeizuführen, um die Demonstrationen zu beenden. 6 000 Mann mit Schützenpanzerwagen und 5 000 zuverlässige SED-Genossen standen bereit. Intensiv wurde in den Friedensgebeten zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. Als die Menschen aus den Kirchen strömten, sahen sie überfüllte Straßen. Etwa 70 000 Menschen waren gekommen und marschierten über den Leipziger Innenstadtring. Erstmals wurde keine Gewalt angewendet. Die SED-Führung fand kein Konzept zur Beruhigung der Lage. Am 17. Oktober fand eine Palastrevolution gegen Honecker statt. Egon Krenz wurde zu seinem Nachfolger als Generalsekretär der SED bestimmt, aber er wurde weder von der Opposition noch von der Bevölkerung ernst genommen. Dem glücklosen und schwachen Krenz, der zur Zielscheibe des öffentlichen Spotts wurde, entglitt die Macht, ehe er sie greifen konnte. Selbst die bislang streng kontrollierten und durch Selbstzensur zusätzlich verstümmelten Medien nutzten die Gelegenheit zur Emanzipation. Neben den Bürgerbewegungen spielten die alten Blockparteien bald eine Rolle, da sie sich aus dem „Block“ lösten. Neben der LDPD und der CDU bildeten sich auch rasch neue Parteien, wie die Deutsche Soziale Union (DSU), die allesamt auf eine schnelle Wiedervereinigung hinarbeiten wollten. Auch aus heftigen Flügelkämpfen im NF gingen neue Parteien hervor. Am 9. November fielen auf der Pressekonferenz nach der Tagung des ZK der SED die berühmten Worte Günter Schabowskis „sofort, unverzüglich“. Das wurde überall, von Politikern, von Oppositionellen, von Journalisten und vor allem von der Bevölkerung als die sofortige Öffnung der Mauer verstanden. Als in der Nacht immer mehr Menschen zu den Grenzübergangsstellen strömten, öffneten die Grenzoffiziere die Schlagbäume. Die DDR war entgrenzt, und die wichtigste Bedingung ihrer Existenz gab es nicht mehr.

24 Vgl. Christian Dietrich/Uwe Schwabe, Freunde und Feinde. Friedensgebete in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989. Dokumentation, Leipzig 1994.

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In der Folge kam es in den Bürgerbewegungen zu harten Differenzierungskämpfen um die deutsche Frage. Die Bevölkerung erwartete die schlichte Botschaft, dass die Einheit Deutschlands jetzt, so bald als möglich, hergestellt werden solle. Wichtige Wortführer der Opposition versagten sich dem immer stärker werdenden Drängen der Demonstranten. Da die basisdemokratischen Strukturen die politische Willensbildung erschwerten, nahm die Attraktivität der Bürgerbewegungen seit November spürbar ab. Allerdings blieben der Opposition noch Politikfelder, für deren Bearbeitung die Bevölkerung ihr weiterhin Kompetenz zubilligte. Noch hatte die SED den Staatsapparat und alle Repressionsinstrumente, etwa das MfS, in den Händen. Zudem trat als neuer Akteur das Pseudoparlament, die von der SED dominierte Volkskammer, auf die politische Bühne. Die Kammer wählte am 13. November den Dresdener SED-Vorsitzenden Hans Modrow zum Ministerpräsidenten. Am 1. Dezember folgte die Volkskammer den Forderungen der Opposition und strich den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung. Klammheimlich ging Modrow am 21. November einen neuen Pakt mit dem MfS ein, das jetzt „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) heißen und die Opposition weiter bekämpfen sollte. Das konnte aber den Niedergang der SED nicht mehr aufhalten. Am 3. Dezember lösten sich das Politbüro und das Zentralkomitee der SED auf. Krenz war damit nicht mehr Generalsekretär und trat am 6. Dezember auch als Staatsratsvorsitzender zurück. Als das Konfliktpotenzial zwischen Opposition und Regierung abnahm, versuchte die Regierung den Anfang Dezember gebildeten Runden Tisch zur ihrer Stabilisierung zu nutzen. Der Demokratisierungsprozess wurde zeitgleich durch die regionale und kommunale Selbstorganisation und durch Runde Tische auf allen Ebenen seit Ende November vorangetrieben. In wenigen Wochen beteiligten sich neben den Bürgerbewegungen Tausende Menschen an der Kontrolle und der Entflechtung der von der SED beherrschten Apparate.25 Die härtesten Kämpfe wurden zwischen der Opposition und den kommunistischen Machthabern um die Auflösung des MfS ausgetragen. Obwohl Anfang Dezember die Politisierung der Bevölkerung einen neuen Höhepunkt erreicht hatte, die Korruptionsaffären die Menschen erzürnten und Streiks ausbrachen, erweckte die Modrow-Regierung den Schein der Normalität und ließ das umbenannte MfS weiterarbeiten. Seit dem 4. Dezember besetzten die Bürgerbewegungen die Stasizentralen. Die Nachricht von der Besetzung der Erfurter Bezirksverwaltung des AfNS am Morgen des 4. Dezember verbreitete sich rasch und wurde zum Signal für die Besetzungswelle in der gesamten DDR. Unterstützt wurden die Bürgerbewegungen durch Demonstrationen und Streiks. Erst am 15. Januar 1990 wurde die AfNS-Zentrale in der Normannenstraße in Berlin erstürmt, wo sich bis zu 100 000 Demonstranten gesammelt hatten.

25 Vgl. Francesca Weil, Verhandelte Demokratisierung. Die Runden Tische der Bezirke 1989/90 in der DDR, Göttingen 2011.

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Während in der DDR die Revolution in vollem Gange war, versuchte die Bundesregierung, die schwierige deutschlandpolitische Konstellation zu meistern. Mittelfristig waren alle Staaten am Status quo interessiert, und die Sowjet­ union verknüpfte mit dem Erhalt der DDR Eigeninteressen. Die Bundesregierung konnte ein schwerwiegendes Argument vorbringen: Die Krise in der DDR war nicht von der Bundesrepublik zu verantworten. Sowohl die wirtschaftlich desolate Lage als auch die politische Krise waren hausgemacht. Nach dem Besuch von Bundeskanzler Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden, bei dem er begeistert von der Bevölkerung gefeiert wurde, leitete er eine aktive Wiedervereinigungspolitik ein. Jetzt polarisierten sich die politischen Kräfte in der DDR zwischen Befürwortern einer schnellen Wiedervereinigung und deren Gegnern. In der letzten Phase vor den ersten freien Wahlen beteiligte sich die Opposition schließlich an einer „Regierung der nationalen Verantwortung“. Aber der Zusammenhalt der Opposition, der im Machtkampf mit der SED immer gegeben war, lockerte sich. Ein am 3. Januar 1990 geschlossenes „Wahlbündnis ’90“, das alle oppositionellen Gruppen vereinte, zerfiel durch den Austritt der SPD und des Demokratischen Aufbruchs. Bei dem im Februar 1990 einsetzenden Wahlkampf brachten die Parteien wieder Tausende Menschen auf die Straßen. Am 18. März 1990 siegte die Revolution mit dem Stimmzettel. Diese Wahlen waren erkämpft, erbeten, herbeigelaufen und herbeigerufen. Und die Bevölkerung ging zu dieser Wahl: 93,2 Prozent. Wahlsieger war die „Allianz für Deutschland“, die aus der CDU, der DSU und dem DA bestand. Die SPD gewann 21,9 Prozent und die PDS 16,4 Prozent.26 Alle übrigen Oppositionsgruppierungen, Bündnis 90, Grüne Partei, Unabhängiger Frauenverband und Vereinte Linke brachten es zusammen nur auf 5,1 Prozent. Dieses Ergebnis war für die Bürgerbewegungen enttäuschend, da sie zusammen mit dem DA und der SPD die Hauptlast der Revolution getragen hatten. Die Wähler aber hatten sich vorrangig für die Parteien entschieden, die sich eindeutig für eine schnelle Vereinigung aussprachen. In der ersten frei gewählten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière waren auch Minister aus den Bürgerbewegungen zu finden, wie Rainer Eppelmann und Markus Meckel. Die Volkskammer und die Regierung handelten mit der Bundesrepublik den Einigungsvertrag aus. Markus Meckel schrieb später: „Es ist uns gelungen, die institutionellen Abläufe auf dem Weg zur deutschen Einheit so zu gestalten, dass sie als Weg der Selbstbestimmung der Ostdeutschen beschrieben werden können.“27 Als am 3. Oktober 1990 Deutschland vereint war, waren auch nahezu alle Ziele der Opposition erfüllt.

26 Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008, S. 368. 27 Markus Meckel, Selbstbewusst in die Deutsche Einheit. Rückblicke und Reflexionen, Berlin 2001, S. 121. Vgl. auch Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Ge­ schich­te der Wiedervereinigung, München 2009.

VI. Rumänien

Die Rumänische Kommunistische Partei und ihre Führer Gheorghe Gheorghiu-Dej und Nicolae Ceauşescu Thomas Kunze

Von einer Splitterpartei zur Staatspartei1 Die Partidul Comunist Român (Rumänische Kommunistische Partei – RKP) gründete sich am 8. Mai 1921 durch Abspaltung von der seit 1893 bestehenden Sozialdemokratischen Partei Rumäniens. Sie gehörte der von Moskau aus gesteuerten III. Internationalen (Komintern) an. Als erklärtes Komintern-Ziel galt die kommunistische Weltrevolution. Zu Beginn ihrer Gründung hatte die RKP kaum politischen Einfluss, zumal sie nach ihrem Verbot im Jahre 1924 illegal arbeiten musste. Ihre Generalsekretäre wurden, wie bei Komintern-Parteien üblich, von Stalin bestätigt. Mit einer Ausnahme wurde die Partei bis in die 1940er-Jahre von Nichtrumänen geführt. Die in den 1920er-Jahren von der Komintern initiierte Propaganda zur Rückübertragung Bessarabiens an die Sowjetunion brachte der moskauabhängigen RKP keine Sympathiegewinne unter der eigenen Bevölkerung ein. So kam es in den Folgejahren immer wieder zu internen Streitigkeiten mit rumänischen Parteigenossen, die kommunistische Ideen mit Nationalismus verbinden wollten. Über Gewerkschaften sowie über Tarnorganisationen versuchten die Kommunisten zunächst die Illegalität zu umgehen und politisch an Einfluss zu gewinnen. Seit Mitte der 1920er-Jahre entstanden von der moskautreuen RKP gegründete Vereine wie Arbeitersportklubs, Arbeiterkulturzirkel oder Studentenverbände. Die wichtigste dieser Tarnorganisationen war der Ende 1925 gegründete Arbeiter- und Bauernblock, der auch bei Parlamentswahlen antrat. Der proklamierte Aufschwung der Partei blieb jedoch aus. Gerade in den Jahren 1929 bis 1931 hatte sich die Führung der illegalen Partei durch interne Fraktionskämpfe selbst paralysiert. In diesem Zuge sank im Jahre 1931 die ­Mitgliederzahl der RKP auf bescheidene 1 500.2 1 2

Teile des Aufsatzes sind aus dem Buch des Autors „Nicolae Ceauşescu. Eine Bio­gra­ phie“, 3., erweiterte Auflage Berlin 2004, entnommen. Vlad Georgescu, Istoria românilor, Bucureşti 1995, S. 210. Die Angaben über die Mit­ gliederzahlen der Partei schwanken. Die russische Historikerin Pokivailova spricht von 1 000–3 000 Mitgliedern am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. T[atiana] A. Poki­ vailova, Com­internul si Partidul Comunist din România. In: Magazin istoric, (1997) 3, S. 45; eine andere Schätzung für das Jahr 1936 besagt, dass der Partei 5 000 Mitglieder angehörten. Kurt Treptow (Hg.), A History of Romania, Iaşi 1996, S. 423.

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1937/38 folgten zwei ­dunkle Jahre für die kommunistische Weltbewegung. Stalin setzte eine xenophobe Kampagne in Gang und holte zum Schlag gegen die eigene Organisation aus. Tausende Kommunisten fielen seiner Paranoia zum Opfer, darunter auch viele rumänische Emigranten in Russland.3 Die RKP hatte in dieser Zeit eine Gesamtmitgliederzahl von kaum mehr als 1 000 Personen, von denen sich die Mehrzahl im Exil aufhielt.4 Im Zweiten Weltkrieg stand Rumänien zunächst an der Seite Deutschlands. Mit der Winterschlacht um Stalingrad (1942/43) zeichnete sich eine Wende für den weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges ab. Ohne Wissen Adolf Hitlers nahm der rumänische Diktator Ion Antonescu Verhandlungen über einen Separatfrieden mit Großbritannien auf, um einer Besetzung durch die Rote Armee zu entgehen. Hitler überzeugte ihn jedoch, weiter mit dem Deutschen Reich auf einer Linie zu bleiben. Die zwei großen demokratischen Parteien Rumäniens, die Nationale Bauernpartei (PNT) und die Nationalliberale Partei (PNL), rüsteten nun, gemeinsam mit König Mihai I., zum Sturz Antonescus.5 Die RKP war zu dieser Zeit das schwächste Glied innerhalb der Komintern. Während des gesamten Krieges machte sie, einmal abgesehen vom Verbreiten harmloser Manifeste oder Deklarationen, kaum durch Widerstand auf sich aufmerksam.6 Am 4. April 1944 wurde ihr Generalsekretär, der Ungar Stefan Foris, auf Weisung Stalins abgelöst. Die RKP erhielt anschließend mit einem Triumvirat eine Übergangsführung. Die neue Führung beschloss im April 1944, sich zur „Vereinten Arbeiterfront“ mit den rumänischen Sozialdemokraten gegen die Antonescu-Regierung zusammenzuschließen.7 Die Rote Armee rückte mittlerweile immer näher. Die Angst vor der sowjetischen Besatzung mag der Hauptgrund gewesen sein, dass sich im Juni, mit Wissen des rumänischen Königs, die zwei wichtigsten bürgerlichen Parteien PNT und PNL mit dem Arbeiterblock zum Demokratischen Block vereinten. Als am 20. August 1944 die Großoffensive der Roten Armee einsetzte und Antonescu weiter an der Seite Hitlers bleiben wollte, handelte der erst 23-jährige rumänische König Mihai I. überraschend mutig. Als der Marschall am 23. August nichtsahnend zu einer Audienz im Palast erschien, ließ der König ihn von der Palastwache verhaften. Die Ära Antonescu war zu Ende. Rumänien musste sich nach der sowjetischen Großoffensive verpflichten, den Krieg an der Seite der Alliierten fortzusetzen, für sämtliche Stationierungskosten der Roten Armee aufzukommen und Reparationszahlungen anzuerken-

3

4 5 6 7

Vgl. Stelian Tânase, Ceauşescu si reabilitarea comuniêtilor români decimati de Stalin. In: Dosarele istoriei, (1996) 2, S. 35–37; Pokivailova, Cominternul, S. 48. Pokivailova verwendet bei der Beschreibung der Vorgänge den Decknamen von Boris Stefanow: Draganov. Grigore Râceanu, Stefan Foris. In: Magazin istoric, (1994) 11, S. 26. Vgl. Gheorghe Apostol, Eu si Gheorghiu-Dej, o. O. (Eigenverlag) 1998, S. 52. Documente din istoria Partidului Comunist din România, Bucureşti 1953, S. 327–330. Vgl. Lavinia Betea, Alexandru Bârlădeanu despre Dej, Ceauşescu si Iliescu, Bucureşti 1998, S. 25.

Die Rumänische Kommunistische Partei

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nen. Auch die Abtretung von Bessarabien an die Sowjetunion wurde vertraglich bestätigt. Moskau hatte im September 1944 die Einverleibung Rumäniens in seinen Machtbereich bereits fest im Visier, und einen Monat später entsprach selbst Churchill diesem Wunsch. Gemeinsam mit Stalin teilte er Südosteuropa in Einflussbereiche auf. Die diesbezügliche Bestätigung erfolgte auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945. Nach dem Krieg hieß die mächtigste Person in der RKP Ana Pauker, eine Vertreterin der Exilfraktion. Französische Diplomaten betrachteten sie sogar als „die Nummer zwei hinter Stalin in der kommunistischen Weltbewegung“.8 Bis Ende der 1940er-Jahre war sie die bestimmende Kraft in der RKP. Nur langsam schaffte es Gheorghe Gheorghiu-Dej, Vertreter der Inlandsfraktion der RKP, der die Kriegsjahre im rumänischen Zuchthaus verbracht hatte, sich nach oben zu arbeiten.9 Die Kommunisten befanden sich nach dem Krieg in einer für sie neuen und ungewohnten Rolle. Unmittelbar nach dem Sturz und der Verhaftung Antonescus am 23. August 1944 setzte Mihai I. eine neue Regierung ein, der als neuer Ministerpräsident General Constantin Sanatescu vorstand. Die Ministerien wurden von parteilosen Fachleuten geleitet, und die Parteien des Demokratischen Blocks entsandten ihren Vorsitzenden als Minister ohne Geschäftsbereich in diese neue Regierung. Die RKP war durch Lucreţiu Pătrăşcanu vertreten. Die Lage in Rumänien selbst gestaltete sich im letzten Quartal des Jahres 1944 unübersichtlich und explosiv. Die völlig verarmte Bevölkerung, unter der sich die Tuberkulose ausgebreitet hatte, hungerte. Sanatescus gerade erst gebildete Regierung wurde handlungsunfähig und stand schon wieder vor dem Zusammenbruch. Die Führung der rumänischen Kommunisten erhielt durch die Präsenz der Roten Armee im Land starken Rückenwind und schaffte es, durch die Verstärkung ihrer Schlägertruppe, der paramilitärischen „Patriotischen Garde“, an Einfluss zu gewinnen. Man wollte mehr als eine unter vielen Parteien sein, und man wollte die Sowjetisierung Rumäniens. Darin waren sich Stalin, Dej und Pauker spätestens nach einer ersten gemeinsamen Zusammenkunft im November 1944 einig.10 Einen ersten Schritt auf diesem Weg bedeutete am 12. Oktober 1944 die Gründung eines neuen Linksbündnisses, dem neben der Kommunistischen Partei die Sozialdemokraten, Gewerkschaften und die Landleute-Front (Frontul Plugarilor) angehörten. Der Vorsitzende der Landleute-­Front war seit November 1933 Petru Groza, ein umtriebiger bürgerlicher Politiker, den Stalin als den „sympathischste[n] Bourgeois Europas“ titulierte. Die Antiregierungskampagne der RKP gipfelte am 16. Oktober 1944 im Rücktritt des kommunistischen Ministers Pătrăşcanu aus der Regierung Sanatescu. Damit zwang die soeben gegründete Nationaldemokratische Front den

  8 Vgl. Ovidiu Bozgan, Din mape diplomatice. Rapoarte franceze despre liderii comunisti de la Bucuresti. In: Magazin istoric, (1998) 11, S. 28–32.   9 Vgl. Betea, Bârlădeanu, S. 175. 10 Vgl. Apostol, Eu si Gheorghiu Dej, S. 69 f.

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König, eine neue Regierung zu bilden, in der sie stärker vertreten war. Mihai I. blieb angesichts der russischen Präsenz in Bukarest nichts anderes übrig, als den ­Forderungen zu entsprechen. Zwar bestätigte er am 4. November 1944 General Sanatescu ein weiteres Mal als Ministerpräsidenten, in der Regierung Sanatescu II hatten aber nun die Vertreter der Linksfront schon bedeutend größeren Einfluss als bisher. Die Unterstützung der winzigen und ehemals bedeutungslosen kommunistischen Partei durch Stalin war in dieser Anfangsperiode der Sowjetisierung Rumäniens enorm. Am 7. November 1944 traf der stellvertretende sowjetische Außenminister Andrej Wyschinski in Bukarest ein.11 Die Visite Wyschinskis ­hatte zwei Ziele: Zum einen wollte er König und Regierung an die Repara­ tionszahlungen erinnern, und zum zweiten sollte sein Besuch die sowjetische Unterstützung für die rumänischen Kommunisten auf dem Weg zur Staatspartei verdeutlichen.12 Mit diesem Rückhalt setzten die Kommunisten zur Durchsetzung zweier weiterer Ziele an: der Machtübernahme auf lokaler Ebene und der Bodenreform. Rücksichtslos und brutal wurden die Beamten aus den Bürgermeisterämtern und Präfekturen vertrieben, die Ämter von den „demokratischen Kräften“ neu besetzt. Die RKP konnte ihre Mitgliederzahl in dieser Periode beträchtlich verstärken. Auch auf dem Lande fanden sich rasch Anhänger, die den neu gegründeten kommunistischen Bauernkomitees beitraten, um vom zu verteilenden Kuchen des Großgrundbesitzes ein möglichst schönes Stück abzubekommen. Schließlich wurde mit wenigen Ausnahmen der gesamte Großgrundbesitz über 50 Hektar enteignet. Nach späteren Angaben Nicolae Ceauşescus zählte die Partei im März 1945 bereits 35 800 Mitglieder.13 Am 2. Dezember 1944 versuchte König Mihai I. durch die Ernennung von General Nicolae Radescu zum neuen Premierminister das Abgleiten des Landes ins Chaos zu verhindern. Die Zusammensetzung der Regierung blieb weitgehend unverändert, jedoch nahm Radescu die Leitung des Innenministeriums in eigene Hände. Er hoffte, mit einem Gesetz, das als Voraussetzung für das Amt eines Präfekten ein Studium festschrieb, die willkürliche Besetzung dieser wichtigen Posten durch die Kommunisten beenden zu können. Dabei unterschätzte er aber zweifellos die „Überzeugungskraft“ einer Präsenz von 240 000 Soldaten der Roten Armee in Rumänien. Ende Februar 1945 war der Großteil der Präfekturen in den Händen der kommunistisch dominierten Nationaldemokratischen Front. König Mihai sah sich dazu gezwungen, die Regierung zu entlassen. Am 6. März 1945 wurde Stalins „Lieblingsbourgeois“, Petru Groza, als ­Ministerpräsident vereidigt. Stalin hatte damit ein wichtiges Etappenziel auf

11 Vgl. Vasile Pascu, Evoluiia guvernelor din Romania (23 august 1944–6 martie 1945). In: Dosarele istoriei, (1998) 4, S. 62. 12 Ebd. 13 Nicolae Ceauşescu, Istoria Poporului Român, Bucureşti 1988, S. 421. Die Angabe ist mit Vorsicht zu betrachten. Zwar gewann die RKP 1944/45 Mitläufer, aber aufgrund der fehlenden Parteiorganisation waren sie meist nicht als Mitglieder registriert.

Die Rumänische Kommunistische Partei

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dem Weg zur Sowjetisierung erreicht. Mit der Ernennung eines Nichtkommunisten zum Ministerpräsidenten gab die Sowjetführung vor, sie wolle die Jaltaer Beschlüsse weiterhin erfüllen. Gleichzeitig kam sie der antikommunistischen Haltung des überwiegenden Teils der rumänischen Bevölkerung entgegen. Die Schlüsselministerien waren jedoch bereits fest in den Händen von RKP-Funk­tionären. Generalsekretär der rumänischen Kommunisten wurde im Oktober 1945 Gheorghe Gheorghiu-Dej. In dessen Windschatten begann nun auch der junge Nicolae Ceauşescu seine Karriere, den Gheorghiu-Dej im Zuchthaus kennengelernt hatte. Die eigentliche Macht innerhalb der RKP lag aber immer noch bei Ana Pauker, die, ihrem Einfluss entsprechend, auch die Liste des Zentralkomitees (ZK) der RKP anführte, während Gheorghiu-Dej ihr als Nummer zwei folgte.14 Hauptgrund für Stalins Entscheidung, Gheorghiu-Dej und nicht Pauker zum Vorsitzenden der Kommunistischen Partei (KP) in Rumänien zu bestimmen, war die Tatsache, dass Dej Rumäne und Pauker jüdischer Abstammung war. Im Mai 1946 fanden in Rumänien Wahlen statt. Mit über 77 Prozent der Stimmen erzielte die Nationale Bauernpartei das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Insgesamt votierten 85 Prozent der Wahlberechtigten gegen die Gemeinschaftsliste des von den Kommunisten dominierten Demokratischen Blocks. Über die zu veröffentlichenden Wahlergebnisse entschied man jedoch in Moskau. So geschah es, dass dem Demokratischen Block am Ende 78,9 Prozent der Stimmen zugeschrieben wurden. In der Großen Nationalversammlung, dem neuen rumänischen Parlament, erhielt der Linksblock 376 der 414 Sitze.15 Der eigentliche Wahlsieger, die Bauernpartei, musste sich mit 77 Mandaten begnügen. Die Nationalliberalen erhielten sieben Mandate. Nachdem Stalins rumänische KP-Filiale dank Terror und massiver Wahlfälschungen gestärkt in das neue Jahr 1947 gehen konnte, war es für sie an der Zeit, ihren Einfluss in der Groza-Regierung weiter auszubauen und die Bolschewisierung des Landes voranzutreiben. Es galt zwei wesentliche Ziele zu erreichen: die Verstaatlichung der Wirtschaft und die endgültige Ausschaltung der Opposition. Die verbliebene Rest-Sozialdemokratie beschloss auf dem Kongress vom 4. bis 9. Oktober 1947, unter massivem russischem Druck und in Anwesenheit der kommunistischen Führer Gheorghiu-Dej, Ana Pauker und Lucreţiu Pătrăşcanu, die Fusion mit der RKP zur Rumänischen Arbeiterpartei. Der Vereinigungsparteitag fand im Februar 1948 statt. Nach der Verstaatlichung der Wirtschaft, der Liquidierung der bürgerlichen Opposition und der Ausschaltung der Sozialdemokratie bildete nur noch die monarchistische Staatsform für die Kommunisten ein Hindernis auf dem Weg zu einer Diktatur nach stalinistischem Vorbild. Der rumänische König Mihai I. wurde durch sowjetische Berater sowie Mitgliedern der

14 Vgl. Ceauşescu, Istoria, S. 24. 15 Vgl. Dieter Nohlen/Philip Stöver (Hg.), Elections in Europe. A Data Handbook, Baden-­ Baden 2010, S. 1603.

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­ roza-Regierung unter Androhung von Gewalt zum Rücktritt gezwungen. Am G 30. Dezember 1947 unterschrieb er die Abdankungsurkunde, und zwei Tage später verließ er das Land. Noch am selben Tag wurde die Volksrepublik Rumä­ nien (Republica Populara Româna) proklamiert. Die Rumänische Kommunistische Partei wurde in Rumänische Arbeiterpartei (RAP) umbenannt. Die Kommunisten waren am Ziel. Der ehemalige Vorsitzende der Nationalen Bauernpartei, Iuliu Maniu, dem wie vielen anderen nun ein Schauprozess gemacht wurde, brachte auf den Punkt, was das Land nun erwartete: „Wir klagen die Regierung an, ein Regime des Terrors, der Diktatur und der Reaktion zu errichten, in dem das Menschenrecht genauso mit Füßen getreten wird, wie die Freiheit des rumänischen Volkes und dessen individuelle und kollektive Rechte. Zuchthäuser, Folter, Verfolgungen, infame Schauprozesse, Verhaftungen, Morde – das gesamte infernalische Arsenal, vom Faschismus und von Hitler erfunden, hat man perfektioniert und weiterentwickelt. Es wird mit unvergleichbarer Grausamkeit angewandt.“16 Nach Gründung der Volksrepublik Rumänien entzündete sich innerhalb der RAP ein Machtkampf, der bis Ende der 1950er-Jahre anhalten sollte. Die Divergenzen zwischen Gruppen rivalisierender Spitzenfunktionäre traten offen zutage, aus dem Machtkampf ging Gheorghiu-Dej als Sieger hervor. Widersacher, wie Pauker und ihre Anhänger, wurden von ihm systematisch ausgeschaltet. Stefan Foris war bereits 1945 umgebracht worden. 1953 hatte Gheorghiu-Dej durch die von Stalin mitgetragenen massiven Säuberungen der eigenen Reihen eine neue Machtelite kreiert, die ihm treu ergeben war. Dem Tod Stalins im März 1953 folgte Nikita Chruschtschow als neuer Kreml-Chef. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU, der im Februar 1956 stattfand, läutete er mit seiner Geheimrede eine Reihe von schicksalhaften Entwicklungen für den Ostblock ein. Chruschtschow nannte Repressalien und Gräueltaten der 1930er-Jahre beim Namen und rief damit die Entstalinisierungsdebatte hervor. Diese Auseinandersetzung wurde zu einem der größten Risiken, die Gheorghiu-Dej im Hinblick auf die Erhaltung seiner Machtstellung zu bewältigen hatte. Diese Debatte erwies sich im Vergleich zu den parteiinternen Konflikten von 1952 als gefährlicher. Erstmals musste jetzt gegen Moskauer Vorgaben agiert werden. Den Höhepunkt, der gegen Chruschtschows antistalinistischen Kurs gerichteten Politik, stellte im April 1964 eine durch das ZK der RAP verabschiedete „Deklaration der RAP zu Problemen der internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung“17 dar. In hölzerner Funktionärssprache betonte die Bukarester Parteiführung die Prinzipien der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität, der territorialen Integrität und der Rechtsgleichheit. Die Verlautbarung war außenpolitisch ein im Westen vielbeachteter Schlag ins Gesicht Chruscht­ schows und innenpolitisch die Ankündigung, den eingeschlagenen stalinisti-

16 Zit. nach Costin Scorpan, Istoria României, Bucureşti 1997, S. 509. 17 Scinteia vom 27.4.1964.

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schen Weg fortsetzen zu wollen. Gheorghiu-Dej saß sicher im Sattel, er befand sich im Zenit seiner Macht. Am 19. März 1965 starb Gheorghiu-Dej. Drei Tage später wählte das Zentralkomitee auf Vorschlag des Politbüros einstimmig Nicolae Ceauşescu zum Ersten Sekretär des ZK der RAP, und das Plenum entschied, Chivu Stoica, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der RAP, zur Wahl für den Vorsitz des Staatsrates vorzuschlagen.18 Ion Gheorghe Maurer blieb Ministerpräsident, damit besaß Rumänien eine kollektive Führungsspitze. Ein erstes Indiz für eine zu erwartende stärkere Position des neuen KP-Führers zeigte sich noch auf dem Parteikongress. Die knapp 1 400 Delegierten wählten Nicolae Ceauşescu nicht zu ihrem Ersten Sekretär, sondern zum Generalsekretär. Der Parteitag beschloss weiterhin, der RAP ihren alten Namen Rumänische Kommunistische Partei wiederzugeben. Dieser Gedankenlinie folgend, wurde einen Monat später auch die Staatsbezeichnung geändert. Die im August 1965 von der Großen Nationalversammlung verabschiedete neue Verfassung bezeichnete Rumänien nicht mehr als Volksrepublik, sondern als sozialistische Republik. Die Troika Ceauşescu–Stoica–Maurer hatte keinen langen Bestand. Der in innerparteilicher Konspiration erfahrene Ceauşescu gab die Idee der kollektiven Führung im Jahr 1967 auf und übernahm zusätzlich auch die Funktion des ­Vorsitzenden des Staatsrates, die bis dahin Chivu Stoica innehatte. N ­ icolae ­Ceauşescu wurde damit Staatsoberhaupt Rumäniens und gleichzeitig Oberbefehlshaber der rumänischen Streitkräfte. Damit hatte er nun eine ähnliche Machtfülle wie sein Ziehvater Gheorghui-Dej. Die Große Nationalversammlung, das zum Scheinparlament verkommene oberste Gesetzgebungsorgan Rumäniens, wählte Ceauşescu am 28. März 1974 einstimmig in die Funktion des Präsidenten der Sozialistischen Republik Rumäniens.19 Er bekleidete jetzt die Ämter des Staatspräsidenten, des Vorsitzenden des Staatsrates, des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, des Vorsitzenden der Front der sozialistischen Einheit, des Vorsitzenden des Obersten Rates für wirtschaftliche und soziale Entwicklung, des Generalsekretärs des ZK der RKP, des Vorsitzenden des Politischen Exekutivkomitees, des Vorsitzenden des Ständigen Büros des Politischen Exekutivkomitees und des Vorsitzenden der Ideologiekommission der RKP. Ceauşescu selbst war zur Institution geworden. Seine Worte ließen Gesetze außer Kraft treten, die Favoriten seines Fami­ lienclans spielend in höchste Staatsämter aufrücken, und sie konnten über Wohl oder Wehe jedes rumänischen Bürgers richten.

18 Vgl. Nicolae Ceauşescu, Rede auf dem Plenum des Zentralkomitees der Rumänischen Kommunistischen Partei, 27.–28. Juni 1989, Bukarest 1989, S. 7. 19 Vgl. Constantin Olteanu/Ilie Ceauşescu/Vasile Mocanu/Florian Tuca (Hg.), Miscarea muncitoreasca, socialista, democratica. Activitatea Partidului Comunist Român êi apararea patriei la Români. Repere cronologice. Bucureşti 1983, S. 1027.

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Der Verlauf des XI. Parteitages der RKP, zu dem sich knapp 2 500 vorher sorgsam ausgewählte Delegierte aus ganz Rumänien vom 25. bis 28. November 1974 in Bukarest trafen, veranschaulichte, dass es niemanden mehr gab, der an Ceauşescu hätte rütteln können. Einstimmig wurde er als Generalsekretär bestätigt. Ceauşescu und die Staatspartei RKP verschmolzen miteinander. Sein Wort war Gesetz. Außenpolitisch wurde Ceauşescu in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Liebling des Westens, da er scheinbar in einigen Bereichen auf ­Gegenkurs zu Moskau ging. Innenpolitisch setze er, nach einer anfänglichen Periode der Liberalisierung, die von 1965 bis 1971 anhielt, auf Repression, Kontrolle, Kader­rotation und Personenkult. Sein Familienkreis und vor allem seine Frau Elena wurden immer einflussreicher. Seit 1974 kann man in Rumänien von ­einer Art „dynastischem Neostalinismus“ sprechen. Die Staatspartei RKP verkam zur Staffage. Ceauşescu verfiel zunehmend einem Autarkiewahn. Industrieprojekte, In­ frastrukturmaßnahmen und Bauvorhaben wurden seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre forciert. Die Hoffnung, dass die Investitionen sich rentieren, ­musste er schnell begraben, denn die Industrialisierung hatte Rumänien zunächst einen riesigen Schuldenberg eingebracht. Sie war überwiegend durch bundesdeutsche und amerikanische Kredite finanziert worden, die Rumänien als dem vermeintlichen „trojanischen Pferd im Ostblock“ in den 1970er-Jahren reichlich zuflossen. Doch Ceauşescus Planwirtschaft war weit davon entfernt, rentabel zu arbeiten. Sie krankte an Desorganisation. Indolenz, Schlamperei, Vettern- und Bakschischwirtschaft trugen ein Übriges dazu bei, dass die Staatsunternehmen keinen Wohlstand schufen, sondern Armut produzierten. Und dafür mussten im steigenden Maße Rohstoffe und Energie importiert werden, denn die Betriebe waren einfach überdimensioniert. Sie entsprachen nicht den rumänischen Bedürfnissen, sondern entsprangen der Vision des Conducators (so ließ sich Ceauşescu mittlerweile nennen), die nicht zuletzt von westlichen Kreditgebern genährt wurde. Die durch die islamische Revolution im Iran verursachte weltweite Ölpreiskrise der Jahre 1979 bis 1981 brachte Ceauşescu in große Schwierigkeiten. Bedingt durch die Erdölkrise und die eigene Misswirtschaft, fiel das Außenhandelsaufkommen Rumäniens im Jahre 1982 gegenüber dem Vorjahr um 17 Prozent.20 Ceauşescu sah sich nicht mehr in der Lage, den Schuldendienst zu leisten, der sich in diesem Jahr auf 2,4 Milliarden US-Dollar für Tilgungen und zusätzliche 1,1 Milliarden Dollar für Zinszahlungen belief. Seine Regierung musste die Zahlungsunfähigkeit des Landes erklären und erstmals eine Umschuldung vornehmen.21 20 Vgl. Cum a venit la putere Nicolae Ceauşescu, Rundfunkgespräch mit Alexandru Bar­la­ deanu, Ion Gheorghe Maurer und Gheorghe Apostol am 20.3.1995 (România Cultura­ la). In: Magazin istoric, (1995) 7, S. 7. 21 Zur Schuldentilgungspolitik Ceauşescus vgl. Anneli Ute Gabanyi, Schuldentilgung – und was dann? In: Südosteuropa. Journal of Politics and Society, (1989) 10, S. 573; dies., Systemwechsel in Rumänien. Von der Revolution zur Transformation, München 1998, S. 107.

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Doch anstatt umzusteuern, befeuerte Ceauşescu in diesen kritischen 1980er-Jahren zwei Großprojekte, die das Land endgültig in den Ruin trieben: Er ließ die in den 1950er-Jahren gestoppten Arbeiten am Donau-Schwarzmeer-Kanal wieder aufnehmen, und in Bukarest entstand ein „Palast des Volkes“, dem ein ganzes Stadtviertel weichen musste. Innerhalb der RKP konnte und wollte ihn niemand dabei stoppen. Vom 19. bis 22. November 1984 fand in Bukarest der vorletzte Parteitag der RKP statt. Der Widerspruch zwischen Schein und Sein war extrem. Während es im Land nicht einmal mehr auf Lebensmittelkarten das Notwendigste zu kaufen gab, berichtete Ceauşescu von der „kraftvollen Entwicklung der Nahrungsgüterindustrie“.22 Der XIII. Parteitag leitete eine neue Etappe ein; es handelte sich um die letzte Phase der Ceauşescu Herrschaft. Zum Zeitpunkt des genau fünf Jahre später tagenden XIV. Parteitages der RKP lag Ceauşescus Regime jedoch bereits in Agonie. Die Jahre zwischen den beiden Parteitagen, 1984 bis 1989, gehörten zu den furchtbarsten, welche die Rumänen seit 1965 erleiden mussten. Ende 1989 hatten die Herbstrevolutionen die meisten Staaten des Ostblocks bereits verändert, doch in Rumänien war noch eine kommunistische Regierung an der Macht. Im Dezember 1989 begann schließlich auch dort ein Volksaufstand gegen das Regime von Staats- und KP-Chef Ceauşescu. Während der Revolutionsereignisse verloren in Rumänien mehr als 1 000 Menschen ihr ­Leben.23 Die Ereignisse in Rumänien waren damit im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten die blutigsten. Den zündenden Funken für die Demonstrationen lieferte die drohende Zwangsversetzung eines regimekritischen ungarischen Pastors in Temeswar (Westrumänien). Die Demonstrationen weiteten sich auf andere Landesteile aus. Die Armee und die Geheimpolizei Securitate gingen gewaltsam gegen Demonstranten vor. Am 22. Dezember 1989 leitete Ceauşescu mit einer improvisierten, live im Fernsehen übertragenen Ansprache vom Balkon des ZK-Gebäudes in Bukarest ungewollt selbst das Ende seines Regimes ein: Zunächst mischten sich in seine Rede vereinzelt Pfiffe, dann wurde die Menge mutiger. Buhrufe und Schreie wurden immer intensiver. Ad hoc versprach Ceauşescu eine Erhöhung der Mindestlöhne, des Kindergelds und der Renten. Doch die Unruhe der Massen nahm zu. Die Liveübertragung wurde abgebrochen. Diejenigen, die die Kundgebung vor den Fernsehgeräten verfolgten, sahen als letztes Bild das von ungläubiger Verblüffung verzerrte Gesicht des Mannes, der ­Rumänien seit fast einem Vierteljahrhundert regiert hatte. Drei Tage später, am 25. Dezember 1989, wurden er und seine Frau nach dem Urteil eines ­Militär-Sondertribunals hingerichtet.

22 Nicolae Ceauşescu, Bericht auf dem XIII. Parteitag der Rumänischen Kommunistischen Partei, Bukarest 1984, S. 10. 23 Vgl. Daniel Ursprung, Die rumänische Revolution von 1989: Chronologie des Sturzes und des Prozesses gegen Nicolae Ceauşescu und seine Frau Elena. Onlinepublikation auf http://www.daniel-ursprung.ch/revolution.htm; 17.7.2017.

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Sonderfall Rumänien: Antisowjetismus, Personenkult und Terror Rumänien und die RKP nahmen im Ostblock sowohl unter Gheorghiu-Dej als auch unter Ceauşescu eine Sonderrolle ein: Die Staatspartei war im Schatten der beiden Führer vergleichsweise wenig sichtbar. Distanz zu Moskau diente stets als Mittel, antisowjetische bzw. antirussische Ressentiments in der ­Bevölkerung zu bedienen, wobei die „rote Linie“ gegenüber dem Kreml niemals übertreten wurde. Repression und Terror waren im kommunistischen Rumänien stärker ausgeprägt als in anderen kommunistischen Ländern. Personenkult spielte eine herausragende Rolle. Opposition innerhalb und außerhalb der RKP war nur schwach vorhanden. In wirtschaftlicher Hinsicht wurde Rumänien nach 1944 zum ausgeplünderten Anhängsel von Stalins Großreich, in politischer Hinsicht einer der ergebensten Satellitenstaaten der Sowjetunion in Osteuropa. Repression und Terror erreichten in Rumänien in der zweiten Hälfte der 1940er- und der ersten Hälfte der 1950er-Jahre eine vergleichsweise brutale Dimension. Die Beziehungen, welche die Sowjetunion nach Stalins Tod zu Rumänien unterhielt, wurden 1958 durch einen Akt von besonderer Reichweite gekrönt. In den Sommermonaten zogen sich die Truppen der Roten Armee aus dem Balkanland zurück. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum ersten war die strategische Bedeutung Rumäniens nach Abschluss des Staatsvertrages für Österreich nicht mehr in dem Maße vorhanden. Österreich sicherte im Jahr 1955 „immerwährende Neutralität“ zu, worauf die Besatzungstruppen aller Alliierten, die in Folge des Zweiten Weltkrieges in dem Alpenland stationiert waren, abgezogen werden konnten. Zudem grenzte Rumänien nur an sozialistische Staaten, die Sowjetunion eingeschlossen. Zum zweiten machte Chruschtschow mit seiner Entscheidung deutlich, dass er andere Wege der Zusammenarbeit mit den Satellitenstaaten gehen wollte, als die von Stalin eingeschlagenen. Der dritte Grund war die sowjetische Überzeugung, dass an der Moskautreue der Rumänen keinerlei Zweifel bestehe. Gheorghiu-Dej, Ceauşescu u. a. hatten das im Zusammenhang mit den Ungarnereignissen 1956 deutlich unter Beweis gestellt, wo sich die Sowjets bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes auf die Unterstützung der rumänischen Kommunisten verlassen konnten. Der sich in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre in der rumänischen Politik vollziehende Wechsel hin zum Nationalkommunismus war primär ein Festhalten am Stalinismus. Es war Ironie der Geschichte, dass gerade in der Sowjetunion, dem Geburtsland des Stalinismus, mit Nikita Chruschtschow ein Führer an die Macht gelangt war, der mit seiner Kritik am Personenkult und an stalinistischem Terror an den Grundfesten des sozialistischen Systems rührte. Dem überzeugten Stalinisten Gheorghiu-Dej standen nun zwei Wege offen, die im ungünstigen Fall beide zu seinem Sturz hätten führen können. Widersetzte er sich offen dem neuen Kurs des Kreml-Chefs, würde ihn dieser nicht mehr allzu lange als KP-Chef in Rumänien dulden. Auf der anderen Seite erkannte Gheorghiu-Dej, dass er sich mit dem Einschwenken

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auf Chruschtschows Kurs der Entstalinisierung sein eigenes Grab schaufeln würde. Angesichts dieser beiden Risiken entschied sich der gewiefte Taktiker und Machtmensch für Ersteres und begann zum Verkäufer einer vermeintlich antisowjetischen Politik zu werden. 1963 wurde Russisch als Pflichtfach an den Schulen abgeschafft, und Institu­tionen wie das Bukarester Maxim-Gorki-­ Institut oder das Rumänisch-Russische Museum verschwanden genauso wie russische Straßennamen. Die neue Politik ging einher mit einer „Wiederentdeckung der lateinischen Wurzeln“. Aus dem Staatsnamen „Romînia“ wurde bald ein stolzes „România“. Das Umschwenken auf nationalistische Themen brachte es mit sich, dass die Politik erstmals seit Bestehen des kommunistischen Regimes eine breite Unterstützung in der Bevölkerung verzeichnen konnte, die in ihrer großen Mehrheit antirussisch eingestellt war. Der Zeitpunkt, um Chruschtschow die kalte Schulter zu zeigen, war taktisch klug ausgewählt. Die sowjetische Politik hatte andere Probleme, als sich um den kleinen rumänischen Staat zu kümmern. Die geringe sowjetische Reaktion auf die April-Deklaration der RKP von 1964 ist dafür ein Beleg. Obwohl sich Ceauşescu nach dem Tod Gheorghiu-Dejs in seiner 1965 beginnenden Amtszeit außenpolitisch gern als Moskaukritiker inszenierte, wurde die April-Deklaration von 1964 erstaunlicherweise wenig thematisiert. Über die Gründe kann nur gemutmaßt werden. Im Vordergrund steht sicher, dass Ceauşescus späterer Kurs in puncto seines sogenannten Antisowjetismus an Intensität in keiner Weise mit der 1962 bis 1965 von Gheorghiu-Dej vertretenen Linie konkurrierte. Die weltpolitischen Zeichen waren andere, und im Kreml herrschte seit Oktober 1964 kein Chruschtschow mehr, sondern ein Leonid Breschnew, dessen Denkweise wieder bedeutend stalinistischer geprägt war. Nicolae Ceauşescu setzte mit seiner Außenpolitik den von Gheorghiu-Dej mit der April-Deklaration von 1964 eingeleiteten Weg fort und vertrat wie sein Vorgänger eine Politik des Nationalkommunismus. In seinen ersten Herrschaftsjahren wollte er sich dadurch vor allem in Rumänien einen guten Ruf schaffen, sozusagen als Ausgangsposition für seine spätere neostalinistische Politik. In den 1970er- und noch mehr in den 1980er-Jahren ging es ihm darum, mit dem Antisowjetismus eine Art Ventil zu montieren, über welches das rumänische Volk seinen Unmut wie heißen Dampf ablassen konnte. Neben diesem rein machtpolitischen Kalkül gab es einen Ceauşescus Charakter innewohnenden Grund, der gerade das Feld der Außenpolitik zu seiner Lieblingsbeschäftigung werden lassen sollte: Er genoss es sichtlich, im internationalen Rampenlicht zu stehen. Er bemühte sich nach Kräften, sich außenpolitisch als selbstbewussten Staatsmann zu präsentieren, den Moskau nicht an der kurzen Leine halten konnte. Immer wieder nutzte er die Gelegenheit, eigene Positionen gegenüber der Kreml-Politik zu akzentuieren. Der Westen, und vor allem die USA, die bereits Gheorghiu-Dejs eigenwillige Politik gegenüber Chruschtschow mit Interesse verfolgt hatten, verband mit Ceauşescu die Hoffnung, eine Art Maulwurf im Ostblock gefunden zu haben. Die „freie Welt“ stellte ihm deshalb faktisch einen Blankoscheck aus.

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Rumänien beteiligte sich 1968 nicht an der militärischen Niederschlagung der tschechischen Reformbewegung. Unmittelbar nach dem Einmarsch der anderen Warschauer-Pakt-Staaten verurteilte Nicolae Ceauşescu in seiner Eigenschaft als Staats- und KP-Chef die Militäraktion in einer Aufsehen erregenden Rede. Das nationale Echo auf seine Äußerungen war enorm. Der RKP traten zahlreich neue Mitglieder bei, darunter viele Intellektuelle.24 Ceauşescus offi­ zielle Verurteilung der Militärintervention stellte einen geschickten Schachzug dar. Obwohl er sich verbal gegen die Intervention von Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei wandte, war er weit davon entfernt, der Politik eines Alexander Dubček zu trauen. Mit der offen zur Schau gestellten Unterstützung des Prager Frühlings wollte Ceauşescu keinesfalls Dubčeks Programmatik übernehmen. Die Absichten des RKP-Chefs standen den Zielen des KSČAk­tionsplanes konträr entgegen. Ceauşescu wollte sein Machtmonopol weiter ausbauen und jegliche Demokratiebestrebungen im eigenen Land ausschließen. Er bediente sich der Dubček-Politik, aber er vertrat sie in keiner Weise. Die aggressiven Attacken gegen Moskau fuhr Ceauşescu bald wieder zurück. Ceauşescus außenpolitische Positionen boten seit 1967 Grund genug für hochrangige Besuche aus dem westlichen Ausland. Wichtige Staatsgäste gaben sich in Bukarest die Klinke in die Hand, und Polittourismus nach Rumänien entwickelte sich zu einer Art Mode. Den Anfang im Reigen der westlichen Besucher, die Ceauşescu in dieser Periode des Kalten Krieges die Hand schüttelten, machte im März 1967 Richard Nixon, es folgten Charles de Gaulle und viele andere. Doch auch Ceauşescu selbst war im Westen ein gern gesehener Gast. Spätestens hier stellt sich die Frage, wie es Ceauşescu angesichts dieser so prowestlich erscheinenden Außenpolitik und der damit verbundenen Verstöße gegen die Breschnew-Doktrin, die von der eingeschränkten Souveränität der Warschauer-Pakt-Staaten ausging, geschafft hat, nicht ernsthaft in Konflikt mit dem Kreml zu geraten. Ausschlaggebendes Motiv dafür war, dass durch Ceau­ şescus Politik genauso wenig wie durch die seines Vorgängers Gheorghiu-Dej jemals die Gefahr einer Abkehr vom Kommunismus in Rumänien bestand. Beide RKP-Führer vertraten einen spezifisch rumänischen Weg zur Stabilisierung ihrer Regime, der nationalistisch geprägt war. Das Moskauer Ziel hieß innenpolitische Stabilität in den Ostblockstaaten, die dazu eingeschlagenen nationalen Wege durften variieren. Mit Nicolae Ceauşescu hatte der Kreml einen moskaugeschulten Stalinisten an der Spitze eines ihrer Satellitenstaaten. Auch wenn Ceauşescu gelegentlich über das Ziel hinausschoss und die Kreml-Führung verärgerte, bestand zumindest in der Ära Breschnew niemals das Risiko eines Bruchs mit der Schutzmacht Sowjetunion. Breschnew und Ceauşescu waren Brüder im Geiste, die trotz mancher Streitigkeiten Vertrauen zueinander hatten und sich respektierten. Bereits auf dem IX. Parteitag der RKP im Juli 24 Vgl. Mariana Hausleitner, Politischer Widerstand in Rumänien vor 1989. In: Halb­jahres­ schrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 8 (1996) Sonderheft, S. 69.

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1965 konstatierte Breschnew, dass mit Rumänien „Einigkeit in den wichtigsten Gegenwartsfragen“ bestehe.25 Dazu gehörte auch die Zugehörigkeit Rumäniens zum Warschauer Pakt. Man kann vermuten, dass Ceauşescu bereits im Juli 1965 von Breschnew „grünes Licht“ für seine nationalistisch eingefärbte Sonderpolitik bekam. Beide waren neu im Amt, und beide wollten die in der Chruschtschow-Dej-Ära entstandenen Konflikte zwischen Bukarest und Moskau entkrampfen. Breschnew versprach dem neuen rumänischen KP-Chef seine Unterstützung und entschuldigte sich für vergangene Missverständnisse unter Chruschtschow. Auch Ceauşescu beeilte sich, dem Kreml-Chef zu versichern, alle Probleme ausräumen zu wollen, die das gegenseitige Verhältnis belasten. Er bat vorab um Verständnis für gelegentliche Kritik an Moskau, und dies schien ihm gewährt worden zu sein. Die vielen Begegnungen, die der RKP-General­ sekretär unmittelbar nach seinem Amtsantritt mit Breschnew hatte, belegen das Bemühen um gute Beziehungen. Seit Mitte der 1970er-Jahre machte sich bemerkbar, dass Ceauşescu sich um die Verbesserung seines Verhältnisses zum „großen Bruder“ Sowjetunion bemühte. Diese Entwicklung hatte handfeste ökonomische Gründe. Ceauşescu brauchte stärkeren ökonomischen Beistand, um seine Vision eines modernen Industriestaates umzusetzen. Nachdem der RKP-Chef auf diesem Weg seit Anfang der 1970er-Jahre ein ganzes Stück vorangekommen war, beschleunigte er nach 1974 den Industrialisierungsprozess. Im Juli 1975 ließ er die Vorgaben für den Fünfjahrplan erhöhen. Über ein Drittel des Bruttosozialproduktes floss nun ­ esten jährlich in den Aufbau der Industrie.26 Den Zenit seiner Beliebtheit im W hatte Ceauşescu allerdings überschritten. Die im März 1985 erfolgte Berufung von Michail Gorbatschow zum neuen KP-Chef der Sowjetunion markierte den Anfang vom Ende des sozialistischen Lagers. In Moskau hatten sich die Kräfte durchgesetzt, die durch eine entschlossene Reform einen Ausweg aus der Erstarrung des Sowjetsystems suchen wollten. Im März 1986 fand in Moskau der XXVII. Parteitag der KPdSU statt, auf dem Gorbatschow seine Thesen vorstellte, die unter den Schlagworten „Perestroika“ und „Glasnost“ in die Geschichte eingegangen sind. Nach dem Parteitag begann in der Sowjetunion ein radikaler Umbau der Gesellschaft. 1987 verwarf Gorbatschow die Breschnew-Doktrin und erklärte bei einem Besuch in Prag, dass das gesamte Rahmenwerk der politischen Beziehungen zwischen den so­zialistischen Staaten auf Unabhängigkeit basieren müsse. Ceauşescu lehnte ­diese Moskauer Ideen ab. Für Ceauşescu war es ein Alptraum, verfolgen zu müssen, was sich 1989 in Polen und Ungarn abspielte. Nicht zufällig begrüßte er im Juni 1989 die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China. Er betonte im August 1989, dass „hinsichtlich der Umgestaltungsprozesse in der Sowjetunion und ihrem

25 Neues Deutschland vom 21.7.1965. 26 Georgescu, Istoria românilor, S. 293.

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­ elingen […] jetzt nicht mehr die Frage [stünde], ausführlich darüber zu phiG losophieren und zu reden, sondern möglichst konkret und mit Ergebnissen in Richtung Lösung der Probleme […] zu arbeiten“.27 Was die RKP betreffe, habe sie wie die SED keinen Nachholbedarf und werde ein Zurückgehen auf kapitalistische Grundlagen nicht zulassen. Mit der bevorstehenden Beteiligung der polnischen Gewerkschaft Solidarność an der Regierung sah er „das Schicksal des Sozialismus im Weltmaßstab“28 in Gefahr. Ceauşescu forderte nun genau das, was er angesichts des Prager Frühlings 1968 verdammt hatte: eine entschlossene Haltung der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes.29 Doch die UdSSR intervenierte nicht; Rumänien, die RKP und Ceauşescu standen zunehmend auf verlorenem Posten. Doch nachgeben wollte der rumänische Parteichef nicht. Selbst auf dem letzten Parteitag der RKP, der vom 22. bis 24. November 1989 in Bukarest stattfand, waren nicht die geringsten Anzeichen einer „rumänischen Perestroika“ zu beobachten. Wie eh und je sonnte er sich im Personenkult, auch wenn dieser letzte Parteitag diesbezüglich schon wie aus der Zeit gefallen schien. Personenkult hatte es in Rumänien schon unter Gheorghiu-Dej gegeben. Im Jahre 1961, als sich dieser auf dem Gipfel der Macht befand, feierte ihn die Partei anlässlich seines 60. Geburtstages als „geliebten Führer“. Dem KP-Chef stand sogar der ehemalige Königspalast zur Verfügung. Nach seinem Tod erfolgte im März 1965 durch das Führungsgremium der RKP die Wahl von Ceauşescu zum Ersten Sekretär, die formell noch von einem Parteitag bestätigt werden musste. Die Partei war in den letzten Jahren des Kultes um Gheorghiu-Dej überdrüssig geworden. Ceauşescu investierte deshalb zunächst viel Kraft, um sich als bescheidener und toleranter Parteichef zu vermarkten. In den vier Monaten, die zwischen dem Tod Gheor­ ghiu-Dejs und dem IX. Parteitag lagen, erschien im Parteiorgan „Scînteia“ nicht ein einziges Porträtfoto von ihm. Lediglich viermal sah man Ceauşescu innerhalb der neuen Kollektivführung auf Gruppenbildern. Für die Rumänen, die an die allgegenwärtige und tägliche Präsenz des alten Staats- und Parteichefs Gheorghiu-Dej gewöhnt waren, kam dies einer Sensation gleich. Auf dem X. Parteitag der RKP im August 1969 gab es dann schon Huldigungen im Stil des Personenkultes, Ergebenheitsadressen, die besonders devote Kader an Ceauşescu richteten. All das widersprach damals im Grunde der offiziellen Parteilinie. Immerhin hatte sich Ceauşescu von seinem Vorgänger Gheorghiu-Dej abgesetzt und klar verkündet: „Wir brauchen keine Idole, und wir brauchen keine Fahnenträger. Unser Idol ist der Marxismus-Leninismus und dessen Konzeption über die Welt und das Leben des Proletariats.“30 Als Ceauşescu fest im Sattel saß, hatte er diese taktische Bescheidenheit nicht mehr nötig. 27 Vgl. Scantea, 27. August 1989, S. 3. 28 Fernschreiben der DDR-Botschaft in Rumänien an Erich Honecker (SAPMO-BArch, DY 30/IV/2/2039, Bl. 232 und 235). 29 Vgl. ebd., Bl. 235. 30 Ceauşescu im Jahre 1968. Zit. nach Ion Petcu, Ceauşescu. Un fanatic al puterii, Bucureşti 1994, S. 187.

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Der X. Parteitag der RKP im August 1969 wurde zu einem Meilenstein in Ceauşescus Entwicklung. Die Inszenierung des Ereignisses erinnerte erstmals wieder an Zeiten des Personenkultes um Gheorghiu-Dej. Ceauşescu ließ sich feiern, und er wurde – selbstverständlich ohne Gegenstimmen – erneut zum Generalsekretär des ZK der RKP gewählt. Das Zentralkomitee verjüngte sich. 60 Mitglieder schieden aus, Ceauşescus Leute rückten nach. Ceauşescus Wahl zum Staatspräsidenten gab den endgültigen Startschuss für den Personenkult, der rasch eine Eigendynamik entwickelte. Seinen 55. Geburtstag, den 26. Januar 1973, ließ er wie einen Staatsfeiertag begehen. Seit 1974 gab es kein Halten mehr. Hofdichter schrieben seinen Namen und die ihm geltenden Personalpronomen nur noch in Großbuchstaben, Prachtbände mit Huldigungsgedichten wurden veröffentlicht. Pünktlich zu jedem Geburtstag erschien ein „Omagiu“, ein mehrere Kilogramm wiegendes Buch mit Liedern und Gesängen auf „den großen Kommandanten“. Ein Held wollte Ceauşescu schon früher für die Rumänen sein, nun wurde aus ihm ein Idol gemacht, eine Art Stalin in Miniaturausgabe. Es galt als nicht opportun, Ceauşescu schlicht und einfach mit Genosse Ceauşescu anzusprechen. Die Pharisäer der rumänischen Politik- und Kulturszene bezeichneten ihn als „geliebten Führer und Wegweiser wirksamen Schaffens“, „Titan der Titanen“, „des Vaterlandes ersten Diener“, den „Erbauer von allem, was gut und gerecht ist“, die „gloriose Eiche aus Scornicesti“, den „Garant des Reichtums Rumäniens“, den „Hüter unserer wertvollsten Schätze“, einen „Strategen des Glücks“, den „Schöpfer einer Epoche von nie geahnter Erneuerung“, den „süßesten Kuss der Heimaterde“, die „Trophäe unseres nationalen Stolzes“ oder einen „unerschütterlichen Verteidiger der granitstarken Einheit der Partei“. Immer dann, wenn man dachte, ein Mehr an katzbuckelnder Liebedienerei sei nicht mehr möglich, liefen sie zu neuen Höhen auf. Aus Ceauşescu wurde der „Sohn der Sonne“, der „Honig der Welt“, die „Quelle des lebendigen Wassers“, „Prinz Zauber“, der „Morgenstern“, der „große Mast“, ein „Berg, der über dem Lande wächst“, die „Straße in die Zukunft“ und des „Volkes wertvollstes Wappen“. Speichellecker, die in sich eine poetische Ader verspürten, versuchten sich in dichterischen Ergüssen. So konnte es vorkommen, dass sich Ceauşescu als „breitblättriger Nussbaum“ wiederfand, in dessen Schutze ein unschuldiges Maiglöckchen blühte.31 Verließ die Funktionäre und Schreiberlinge einmal die Inspiration, blieb ihnen immer noch, Anleihen aus der Religion zu nehmen. Kommunist Ceauşescus – „der Auserwählte“ oder schlicht: „unser irdischer Gott“.32 Am Personenkult beteiligten sich alle Schichten der Gesellschaft, an der Spitze standen die RKP und ihre Funktionäre. 31 Omagiu Presedintelui Nicolae Ceauşescu, Bucureşti 1978, S. 489. 32 Die Zitate entstammen verschiedenen Huldigungsalben „Omagii“, die zu Ceauşescus Geburtstagen erschienen. Zum Personenkult vgl. Annelie Ute Gabanyi, Partei und Literatur in Rumänien seit 1945, München 1975; dies., Personenkult und Kultperson. Rumänien feiert Ceauşescus Geburtstag. In: Osteuropa, (1977) 8, S. 714–718; Malte Olschewski, Der Conducator Nicolae Ceauşescu. Phänomen der Macht, Wien 1990.

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Ausländische Korrespondenten trugen die Kunde vom byzantinischen Führungsstil Ceauşescus in ihre Heimatländer. Im Januar 1983, anlässlich des 65. Geburtstages des Conducators, kannte die Gleisnerei kein Halten mehr. Der Personenkult trieb immer unglaublichere Blüten. Im rumänischen Schriftstellerverband brach angesichts des nahenden 65. Führergeburtstages beinahe Panik aus. Man wollte den Conducator mit einer möglichst großen Zahl an ­Gedichten und Hymnen beglücken. Im Ergebnis der hektischen Betriebsamkeit entstand erneut ein dickes Ehrenalbum („Omagiu“). In dieser „Anthologie des Kriechertums“33 sind auf über 400 Seiten 151 pathetische Poeme zu Ehren von Ceauşescu zusammengetragen worden. Nirgends jedoch kam die Führerverehrung abstruser zum Ausdruck als im Fernsehen, das wegen der permanenten Energiekrise in den letzten Jahren des Regimes täglich nur noch zwei Stunden zwischen 20.00 und 22.00 Uhr sendete. Die Nachrichten des rumänischen Staatsfernsehens berichteten minutiös über Arbeitsbesuche des „ersten Mannes am Schreibtisch des Vaterlandes“ in verschiedenen Bezirken oder über Auslandsbesuche. Danach besangen patriotische Chöre das Wirken des Präsidenten und seiner Frau, Kinder verlasen rühmende Gedichte, Schriftsteller priesen Ceau­ şescu wie einen Gott oder ein Ballett umtanzte ein Gemälde, das „ihn“ abbildete. Neben dem Personenkult spielten im kommunistischen Rumänien Terror, Repression und Angst eine große Rolle. In den Jahren bis 1953 fielen ihnen Tausende Menschen zum Opfer. Nach Stalins Tod wurden die Repressionsmaßnahmen etwas zurückgefahren. 1958 nahmen sie wieder an Intensität zu. Neue Unterdrückungsmaßnahmen sollten das durch den Rückzug der Roten Armee entstandene Sicherheitsvakuum schnell füllen und potenziellen Oppositionellen sowie der gesamten Bevölkerung beweisen, dass Gheorghiu-Dejs Regime stabil war. Zwischen 1958 und 1960 wurden allein über 7 000 Personen unter der Anschuldigung, Staatsfeinde zu sein, zu langjährigen Gefängnisstrafen, zu Arbeitslager oder zum Tode verurteilt.34 Während Chruschtschows Entstalinisierungspolitik in anderen Ostblockländern zu vorsichtigen Liberalisierungen führte, blieb Rumänien das einzige Land in Europa, in dem selbst der Besitz einer Schreibmaschine unter Strafe stand. Erst 1964 wurde dieses Verbot aufgehoben. Genau 20 Jahre danach führte Ceauşescu als Staats- und KP-Chef Rumäniens die Regelung de facto erneut ein. Die Angst des inneren Machtzirkels führte 1958 ferner zu einer Verschärfung des Strafrechtes. Im Unterschied zum Anfang der 1950er-Jahre verzichtete man jedoch auf die Inszenierung von Schauprozessen. Regimegegner und solche, die dafür galten, wurden eher leise beseitigt. Die Todesstrafe stand für Delikte wie „Zusammenarbeit mit einer ausländischen Macht“, „oppositionelle Gruppenbildung“, „Sabotage“ und vieles andere mehr. Insgesamt handelte es sich bei den neuen Paragrafen des Strafgesetzbuches um Artikel schwammigen Inhaltes, die der Justizwillkür Tür und Tor öffneten. 33 Olschewski, Conducator, S. 88. 34 Vgl. Stelian Tânase, Elite êi societate, Bucureşti 1998, S. 156–159; Constantin Aioanei/ Cristian Troncota, Arhipelagul ororii. In: Magazin istoric, (1993) 3, S. 22–27.

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Nachdem Ceauşescu nach seiner Ernennung zum RKP-Parteichef 1965 die Zügel zunächst etwas gelockert hatte, verschärfte er den Kurs ab 1971 wieder. Unmittelbarer Anlass dafür war eine Reise, die ihn nach Asien führte. Im Juni 1971 besuchte er die Volksrepublik China und im Anschluss Nordkorea. ­Gerüstet mit Eindrücken vom Führungsstil Mao Tse-tungs und Kim Il Sungs, kehrte Ceauşescu nach Bukarest zurück. Angesichts beginnender Opposition straffte er nun auch in Rumänien spürbar die Zügel. Die vorgenommenen Änderungen in der Innen-, Kultur- und Personalpolitik brachten Ceauşescu seinem Bestreben, als Alleinherrscher zu regieren, ein enormes Stück näher. Ohne auf erheblichen Widerstand aus den Reihen der Partei, der Armee oder des Volkes zu stoßen, hatte er nach 1971 eine rumänische Kulturrevolution genauso durchgesetzt wie die Kaderrotation. Das gesamte Volk musste sich seinem Willen unterordnen. Verbliebene Freiheiten wurden endgültig zurückgenommen. Spätestens seit 1972 unterstand die Securitate vollkommen der Kontrolle und den Befehlen Ceauşescus. Die nach dem Zweiten Weltkrieg vom KGB aufgebaute Geheimpolizei wurde erneut zum gefürchteten Terrorinstrument.35 Politische Gefangene gab es allerdings offiziell nicht, vielmehr wurden missliebige Personen unter Hausarrest gestellt oder in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Nach dem Vorbild des sowjetischen KGB ließ Ceauşescu die Angehörigen der rumänischen Nomenklatura abhören. Securitate-General Pacepa folgte der Empfehlung von KGB-Chef Juri Andropow, der ihm 1972 in Moskau verriet: „Die ständige Beobachtung unserer Nomenklatura ist eine der delikatesten Aufgaben des KGB.“36 Langsam dehnte Ceauşescu diese Kontrolle über das ganze Land aus. Sie betraf nicht nur Ausländer, sondern die gesamte Bevölkerung. Zum Zeitpunkt von Ceauşescus Machtübernahme im Jahr 1965 gab es in ganz Rumänien eine zentrale und elf regionale Abhöranlagen. 13 Jahre später sorgten Hunderte Beobachtungsstationen und transportable Anlagen dafür, dass Ceau­şescus Herrschaft unangefochten blieb. Auf missliebige Äußerungen konnte umgehend reagiert werden. Die permanente Kontrolle, die Ceauşescus Sicherheitsorgane ausübten, machte selbst vor hohen Funktionären keinen Halt. Vorbeugend und in Anbetracht der durch die desolate Wirtschaftslage objektiv stärker gewordenen Gefahr des Entstehens einer ernsthaften Opposition, zog Ceauşescu die Repressionsschraube im Verlauf der 1980er-Jahre immer weiter an. Die Securitate erwarb sich den Ruf, eine der gefürchtetsten Geheimpolizeien auf der Welt zu sein. Ihr Spitzelsystem versetzte das gesamte Volk in Angst und Schrecken. Die Rumänen fürchteten sich davor, mit Verwandten, Freunden und Bekannten über die bedrückenden Alltagsprobleme zu sprechen. Sie hatten Angst davor, dass der Zuhörer ein Zuträger der Securitate sein ­könnte. Die ­rumänische Geheimpolizei beschäftigte am Ende der Ceauşescu-Herrschaft

35 Vgl. Dennis Deletant, Ceauşescu şi Securitatea, Bucureşti 1998, S. 104. 36 Belu Zilber, Actor in procesul Patraecanu (Prima versiune a memoriilor lui Belu Zilber), Bucureşti 1997, S. 178–182.

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Thomas Kunze

über 14 000 hauptamtliche Mitarbeiter, darunter befanden sich 8 000 Offiziere.37 Ungefähr ein Drittel von ihnen arbeitete in der Bukarester Zentrale, der Rest überwachte die einzelnen Bezirke. Das wahre Ausmaß des Apparates verdeutlicht die Zahl der Informanten. Nach Angaben des Geheimdienstchefs der 1989 an die Macht gekommenen Iliescu-Administration, Virgil Măgureanu, betrug sie unter Ceauşescu circa 400 000.38 Diese Angabe entspricht auch der neueren Forschung, während Silviu Brucan, ehemaliger Chefideologe des kommunistischen Rumäniens, sie mit ungefähr 700 000 bezifferte.39 Das Ende, das der letzte Generalsekretär der RKP nahm, war im Vergleich zu seinen Kollegen in den anderen Ostblockstaaten, ein extremes: Er wurde hingerichtet. In Rumänien war der Ceauşescu-Prozess wesentlicher Bestandteil der Revolution von 1989. Die „Front der Nationalen Rettung“, aus der sich die neue rumänische Regierung bildete, machte mit dem Tribunal das einstige Herrscherpaar persönlich für alle Fehlentwicklungen und Verbrechen in Rumänien während der letzten Jahrzehnte verantwortlich. Damit konnten sich nicht nur die neue Regierung, sondern auch Millionen ehemaliger Mitläufer des alten Regimes weitestgehend ihrer Verantwortung, quasi durch ein „Königsopfer“, entziehen. Die Schwäche der totalitären Propaganda – in Rumänien zusammengehalten durch einen Kleister aus Nationalkommunismus, Personenkult und Repression – zeigte sich im Moment der Niederlage. Kaum war die zentrale, alles dominierende Gewalt auseinandergebrochen, wechselten die einstigen Gefolgsleute mit verblüffender Geschwindigkeit das Lager, ohne sich auch nur einen Moment mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die ehemalige Staatspartei RKP verschwand im Nichts, nachdem der vorher als „Sohn der Sonne“ Gehuldigte innerhalb nur weniger Stunden ins Bodenlose gefallen war.

37 Mitarbeiterstand vom 22.12.1989. Angaben nach Deletant, Ceauşescu şi Securitatea, S. 359. 38 Ebd., S. 361. Im Dezember 1989 waren ca. 450 000 Informanten registriert, von denen etwa 130 000 aktiv waren. Vgl. Lukasz Kaminski/Krzysztof Persak/Jens Gieseke (Hg.), Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991, Göttingen 2009, S. 375. 39 Silviu Brucan, Generaïia irosita, Bucureşti 1992, S. 198.

Wirtschafts- und Sozialpolitik in Rumänien Alexandru-Murad Mironov* In seinem Buch über „Rumänien und Europa. Die Akkumulation ökonomischer Disparitäten (1500–2010)“ beklagt Bogdan Murgescu, dass „die Wirtschaftsgeschichte Rumäniens während des kommunistischen Regimes erst noch geschrieben werden muss“.1 Allerdings umreißt er selbst auf den 150 Seiten seines Buches die wichtigsten Koordinaten einer rumänischen Wirtschaftsgeschichte. Im vergangenen Jahr hat man im Nationalarchiv damit begonnen, die Bestände des Staatlichen Planungskomitees für die Forschung aufzubereiten, sodass die Wirtschaftsprojekte des Regimes nun direkt anhand der Quellen erforscht werden können. Leider lässt sich dies nicht in Bezug auf die kommunistische Sozialpolitik sagen, die bisher überhaupt nicht erforscht ist. Wenn wir diesbezüglich den „Tismăneanu-Report“ untersuchen, stellen wir fest, dass noch nicht einmal ein Kapitel speziell diesem Thema gewidmet ist. Das Kapitel über „Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur“ bietet einige Informationen, doch selbst dort umfasst der Text nicht mehr als 25 Seiten (von mehr als 600 insgesamt), von denen sich die meisten mit der Kontrolle der Gesellschaft beschäftigen.2 Beispielsweise ist ein Kapitel eigens dem Thema Erziehung gewidmet, beschränkt sich aber chronologisch auf die Errichtung des kommunistischen Regimes. Wenn man die Erfordernisse der damaligen Zeit berücksichtigt, gehörte die Erziehung eher in den Rahmen der Wirtschafts- anstatt der Sozialpolitik, da es um die Bereitstellung der notwendigen Arbeitskräfte für die Ausweitung der Produktion ging.3 Wenn man die Quellen analysiert, welche die Autoren dieses Kapitels des Tismăneanu-Reports verwendeten, stellt man fest, dass die meisten auf zeitgenössischen Materialien und Synthesen von Radio Free Europe oder Voice of America beruhen, die von Vertretern des rumänischen Exils der 1980er-­Jahre im ­Ausland verfasst wurden, wie zum Beispiel Michael Shafirs „Romania – ­Politics, Economics and Society“.4 Da sie damals nicht die Möglichkeit hatten, benutzte keiner * 1 2 3 4

Übersetzung von Mirko Wittwar. Bogdan Murgescu, România şi Europa. Acumularea decalajelor economice (1500– 2010), Iaşi 2010, S. 328. Vgl. Raport final al Comisiei prezidenţiale pentru analiza dictaturii comuniste din Ro­ mâ­nia, Bucureşti 2006, S. 442–445 und 596–615 (http://media.hotnews.ro/media_ server1/document-2007-12-20-2118604-0-raportul-tismaneanu.pdf; 7.3.2017). Vgl. Bogdan Murgescu/Marius Cazan (Hg.), Documente privind reglementările referitoare la admiterea în învăţământul superior din România (1948–1968), Bucureşti 2013, S. 8. Michael Shafir, Romania – Politics, Economics and Society. Political Stagnation and Simulated Change, London 1985.

328

Alexandru-Murad Mironov

von ihnen Archivmaterial. Unter diesem Gesichtspunkt hat es seitdem keinen ernsthaften Fortschritt gegeben. Einige Bücher zu Themen wie sozialer Wohnungsbau, Arbeitsmarktpolitik und das Alltagsleben der Arbeiter,5 Genderpolitik (die angesichts der repressiven Politik des Regimes wenig mit Sozialpolitik zu tun hatte)6 sind bisher veröffentlicht worden oder sollen demnächst veröffentlicht werden. Auch ein Aufsatz über die rumänische Familie während des Kommunismus wurde publiziert.7 Viele der entsprechenden Studien und Bücher behandeln die Zeit der 1950erund 1960er-Jahre, da hier der Zugang zu den Archiven leichter ist, oder sie stellen Analysen lokaler und regionaler Themen dar. Viele bieten eine neue Perspektive auf die Geschichte des Kommunismus in Rumänien und konzentrieren sich auf Sozialgeschichte, wobei sie sich von den dominierenden Vorstellungen der Repression distanzieren, die für die 1990er-Jahre und den politischen Antikommunismus typisch sind. Es gibt zahlreiche Studien über die Intellektuellen (besonders bezüglich ihrer Ablehnung des Regimes), jedoch nur sehr wenig zu Arbeitern und Bauern. Die offiziellen Statistiken geben kaum Aufschluss über die Arbeiter. Im Anschluss an die Kollektivierung (1962) scheinen die Bauern als ein Thema, welches Interesse verdient, regelrecht zu verschwinden. Eine Ausnahme stellt allerdings das Buch über „Die Einsamkeit des Kollektivismus. Rumänische Dorfbewohner zur Revolution und darüber hinaus“ von David A. Kideckel dar,8 welches eine anthropologische Perspektive – der Autor ist kein Historiker – auf die späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre bietet. Ohne sich weiter mit einer Verurteilung des Regimes aufzuhalten, gelingt ihm eine Darstellung der Kooperationsmechanismen zwischen der ländlichen Welt und dem sozialistischen Staat. Katherine Verderys Buch „Transylvanian Villagers: Three Centuries of Political, Economic, and Ethnic Change“ gehört in dieselbe Kategorie.9 Allerdings fehlen Studien, die sich gezielt mit dem letzten Jahrzehnt beschäftigen. Der Bericht, den Constantin Ionete im Jahre 1990 im Auftrag der ersten demokratischen Regierung Rumäniens über die wirtschaftliche und soziale Situation des Landes vorlegte, stellt eine Ausnahme dar.10 Wie Bogdan Murgescu in seinem oben genannten Buch feststellte, sind das Einzige, was erhalten geblieben ist, „die fragmentarischen Erinnerungen derjenigen, welche die Wirklichkeit des Kommunismus erlebten“.11    5 Mara Mărginean, Ferestre spre furnalul roşu. Urbanism şi cotidian în Hunedoara şi Călan (1945–1968), Iaşi 2015.    6 Luciana M. Jinga, Gen şi reprezentare în România comunistă. Femeile în cadrul Parti­ dului Comunist Român, 1944–1989, Iaşi 2015.    7 Luminiţa Dumănescu, Familia românească în comunism, Cluj-Napoca 2012.    8 David A. Kideckel, Colectivism şi singurătate în satele româneşti. Ţara Oltului în perio­a­ da comunistă şi în primii ani după Revoluţie, Iaşi 2006.    9 Katherine Verdery, Transylvanian Villagers: Three Centuries of Political, Economic, and Ethnic Change, Berkeley 1983. 10 Constantin Ionete, Criza de sistem a economiei de comandă şi etapa sa explozivă, Bucu­ reşti 1993. 11 Murgescu, România şi Europa, S. 328.

Rumäniens Wirtschafts- uns Sozialpolitik

329

Devisenbeschaffung Das kommunistische Regime kam mit dem Versprechen eines bis dahin unerreichten Ansteigens des Lebensstandards an die Macht. Allerdings war dies keine allzu schwierige Aufgabe angesichts der Rückständigkeit der Region. Zweifellos war das Regime erfolgreich. Die großen Projekte in Rumänien gerieten in den 1980er-Jahren ins Stocken. Die meisten Investitionen in das Sozialsystem waren bis dahin bereits getätigt worden. In den 1960er-Jahren baute man Schulen, in den 1970er-Jahren Krankenhäuser. Im Jahre 1980 florierte sogar der Massentourismus, als der Ausbau von Rumäniens Schwarzmeerküste weitgehend fertiggestellt war. Auch der Tourismus bietet einige interessante Zahlen. Zum Beispiel stieg die Zahl der Betten in touristischen Einrichtungen von 248 434 im Jahre 1970 auf 418 944 im Jahre 1989. Im ersten Jahr dieser Zählung befanden sich 85 511 davon in Hotels und boten somit besonderen Komfort. Im Jahre 1989 gab es 168 895 Hotelbetten, das heißt, es fanden offenkundige Bemühungen statt, das Angebot zu verbessern. Ein entsprechendes Wachstum zeigte sich auch bei der Anzahl der Ferienlager für Kinder, deren Angebot von 17 871 auf 53 901 Plätze stieg. In derselben Zeit verdoppelte sich die Zahl der Touristen (von 5 444 000 im Jahre 1970 auf 11 597 000 im Jahre 1989).12 Im Verlaufe des letzten Jahrzehnts des kommunistischen Regimes stiegen die Investitionen weiter an, doch wurden die wirtschaftlichen Probleme größer und beeinträchtigten besonders den Lebensstandard. Die 1982 getroffene Entscheidung, Rumäniens Auslandsschulden vorzeitig zurückzuzahlen, erschütterte noch die letzten Funktionsbereiche eines ohnehin armen Landes. Um insbesondere die Probleme bei der Beschaffung von Devisen zu lösen, beschloss der Staat, Lebensmittel und Rohstoffe zu exportieren, was zu massiven Einschnitten besonders bei lebensnotwendigen Gütern und Luxusartikeln führte. Die Entscheidung, die Stromversorgung der Häuser einzuschränken, hatte ebenfalls dramatische Folgen. Die Zahlen waren allerdings eindeutig: Wenn Rumänien 1970 etwa 7 Prozent seines Stroms exportierte, so war es 1989 gezwungen, etwa 9 Prozent zu importieren.13 Strom kaufte man auf dem Comecon-Markt, der allerdings begann, sich auf Zahlungen in frei konvertierbaren Währungen umzustellen, während er rumänische Waren zweifelhafter Qualität nicht akzeptierte.14 Die Wirtschaftskrise der 1980er-Jahre war derart gravierend, dass die Gesamtverluste der Jahre 1982 bis 1989 dem Gegenwert des gesamten Nationaleinkommens eines Jahres entsprachen.15

12 Institutul National de Statistica (Hg.), Anuarul Statistic al României 1990, Bucureşti 1990, S. 600–602. 13 Vgl. Murgescu, România şi Europa, S. 344. 14 Vgl. Vasile Buga, Pe muchie de cuţit. Relaţiile româno-sovietice, 1965–1989, Bucureşti 2013, S. 222–295. 15 Ionete, Criza de sistem, S. 16.

330

Alexandru-Murad Mironov

In der Erinnerung an die 1980er-Jahre erscheint eine Sache als der schlimmste Albtraum: Der Kauf von Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern. Tatsächlich wurde das typische Bild Rumäniens in jenen Jahren von der Warteschlange bestimmt. Milch, Fleisch, Eier, Glühbirnen, Tinte, Seife usw. fehlten. Ein bekannter rumänischer Folkloresänger, Alexandru Andrieş, sang ein subversives Lied, das sehr bekannt wurde: „Gestern sah ich Käse in den Nachrichten.“ Nachdem die Lebensmittelkarten im Jahre 1954 abgeschafft worden waren, wurden sie in den 1980er-Jahren wieder eingeführt, ohne allerdings eine Garantie dafür zu bieten, dass die Menschen tatsächlich das Notwendigste an Lebensmitteln bekamen. In den großen Städten wurde Brot noch frei verkauft, während man in den kleineren Städten Marken dafür brauchte. Benzin wurde monatlich in festgelegten Mengen ausgegeben, und an jedem zweiten Wochenende herrschte ein Fahrverbot für Autos, nicht aus Gründen des Umweltschutzes, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich nicht, jemals anders in den Urlaub gefahren zu sein als mit dem Zug, obwohl seine Familie über ein eigenes Auto verfügte.

Gesundheitswesen Abgesehen von der allgemeinen Notlage hatten die Kürzungen dramatische Folgen. Dem Gesundheitssystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg von umfangreichen Investitionen profitiert hatte – besonders bei der Ausbildung des Personals und bei der Infrastruktur –, fehlte es an den notwendigsten Medikamenten und an Labormaterialien für Untersuchungen. In den Krankenhäusern gab es kein Essen. Manchmal wurde während Operationen der Strom abgeschaltet, wovon sogar Inkubatoren für Neugeborene betroffen waren. Dies waren einige der Gründe, warum Rumänien im Jahre 1989 auf der Rangliste der Lebenserwartung und der Kindersterblichkeit weit hinten lag.16 Die rumänischen Statistiken zeigen, dass die Kindersterblichkeit im Gegensatz zu dem beinahe konstanten Rückgang der vorangegangenen Jahre schließlich wieder anstieg (siehe Tabelle 1). Die Gesundheitsversorgung sowie die allgemeinen Lebensbedingungen verschlechterten sich im Verlaufe der 1980er-Jahre, was sich unter anderem an der ständigen Zunahme der Todesfälle durch Tuberkulose zeigt. Diese stiegen von 830 im Jahre 1980 auf 1 285 Fälle neun Jahre später.17 Das Netzwerk der medizinischen Versorgung war größtenteils unter dem kommunistischen Regime entstanden, sowohl was die Infrastruktur (Anzahl der Krankenhausbetten) als auch die Ausbildung des Personals betraf (siehe Tabelle 2).

16 Vgl. Maria Molnar/Maria Poenaru, Sănătatea. In: Constantin Grigorescu (Hg.), Nivelul dezvoltării economico-sociale a României în context european, 1989, Bucureşti 1993, S. 235. 17 Anuarul Statistic al României, S. 86 f.

331

Rumäniens Wirtschafts- uns Sozialpolitik

Tabelle 1: Kindersterblichkeit in Rumänien auf 1 000 Lebendgeburten Jahr

Kindersterblichkeitsrate in Rumänien Kindersterblichkeitsrate in Europa

1970

49,4

26,21

1971

42,4

25,10

1972

40,0

23,96

1973

38,1

22,81

1974

35,0

21,73

1975

34,7

20,84

1976

31,4

19,89

1977

31,2

18,92

1978

30,3

17,89

1979

31,6

16,93

1980

29,3

16,03

1981

28,6

15,41

1982

28,0

14,69

1983

23,9

14,07

1984

23,4

13,51

1985

25,6

12,97

1986

23,2

12,50

1987

28,9

12,08

1988

25,4

11,62

1989

26,9

11,1619

18

Tabelle 2: Medizinische Infrastruktur und medizinisches Personal in Rumänien Jahr

1938

1950

1960

1970

1980

1985

1988

1989

Kranken­ 33 763 69 221 133 850 168 115 208 213 212 953 214 962 216 295 haus­ betten Ärzte

8 234 15 583

24 984 29 959

39 791

47 390 48 832 49 05420

18 Ebd., S. 67. 19 Index Mundi: http://www.indexmundi.com/facts/indicators/SP.DYN.IMRT.IN/compare ­#country=al:bg:cz:eu:hu:pl:ro:sk, 22.2.2017. 20 Anuarul Statistic al României, S. 209 f.

332

Alexandru-Murad Mironov

In beiden Fällen verläuft die Entwicklung eindeutig aufwärts. Man muss allerdings feststellen, dass beide Indikatoren ab 1980 starken Schwankungen unterworfen sind, was darauf hindeutet, dass die wichtigsten Investitionen zu diesem Zeitpunkt getätigt waren. In Bezug auf Krankenhausplätze schlossen sich die Lücken, während aus der Zahl der Ärzte eindeutig hervorgeht, dass erst zu dieser Zeit alle freien Stellen besetzt wurden, besonders wenn man die notwendige lange Ausbildungszeit berücksichtigt. Im Jahre 1989 ergibt sich aus der Zahl der Ärzte und Krankenhausbetten pro 1 000 Einwohner, dass die Situation in Rumänien verglichen mit anderen Ländern des sozialistischen Lagers keineswegs gut war. Die Zahl der Ärzte zeigt ein eindeutiges Defizit (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Zugang zur Gesundheitsversorgung in Rumänien und im sozialistischen Lager im Jahre 1989 Anzahl der Einwohner pro Kranken­ Zahl der pro Arzt hausbett – auf 1 000 Einwohner zu versorgenden Einwohner

Land Bulgarien

100

262

97

270

DDR

102

318

Jugoslawien

164

435

Polen

143

479

Rumänien

107

472

Ungarn

107

301

UdSSR

75

22521

Tschechoslowakei

Die Bedingungen an den Krankenhäusern verschlechterten sich gegen Ende des letzten Jahrzehnts des kommunistischen Regimes, und dies zeigt sich am Rückgang der Anzahl der Aufnahmen der medizinischen Einrichtungen bei einem gleichzeitigen beständigen Wachstum der Bevölkerungszahl in Rumänien (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Anzahl der Krankenhausaufnahmen in Rumänien Jahr Anzahl der Auf­ nahmen

1980

1985

1986

1987

1988

1989

5 103 000 5 283 000 5 368 000 5 194 000 5 300 000 5 228 00022

21 Ebd., S. 720 f. 22 Ebd., S. 211.

333

Rumäniens Wirtschafts- uns Sozialpolitik

Stadt und Land Als das Regime im Jahre 1989 zusammenbrach, lebten 53,2 Prozent der Bevölkerung in städtischen Gebieten, das Stadt-Land-Verhältnis änderte sich in den 1980er-Jahren um etwa 8 Prozent. Die Entwicklung zeigt einen konstanten Rückgang der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten als Ergebnis der entschiedenen Industrialisierungs- und Urbanisierungspolitik in Rumänien (siehe Tabelle 5). Tabelle 5: Das Verhältnis zwischen Land und Stadt in Rumänien Jahr

Prozentsatz der Einwohner in städtischen Gebieten

Prozentsatz der Einwohner in ländlichen Gebieten

1956

31,3

68,7

1970

36,9

63,9

1975

39,3

60,7

1980

45,8

54,2

1981

46,9

53,1

1982

48,4

51,6

1983

49,0

51,0

1984

49,2

50,8

1985

50,0

50,0

1986

50,6

49,4

1987

51,3

48,7

1988

51,9

48,1

1989

53,2

46,823

Zwischen 1970 und 1980 wuchs dementsprechend die städtische Bevölkerung um 0,9 Prozent pro Jahr, während dieses Wachstum im Folgejahrzehnt nur noch 0,74 Prozent betrug. Die Bevölkerung in Rumänien insgesamt wuchs von 20 252 541 Einwohnern im Jahre 1970 auf 22 201 387 im Jahre 1980 und auf 23 151 564 im Jahre 1989 – demnach ein Zuwachs um 1 948 846 Einwohner zwischen 1970 und 1980 und um weitere 950 177 bis 1989. Das bedeutet, dass in den 1970er-Jahren die städtische Bevölkerung überschlägig um etwa 271 000 Einwohner pro Jahr wuchs, aber nur noch um 238 000 in den 1980er-Jahren. Im Jahre 1989 waren 27 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im Dienstleistungsbereich tätig, 45 Prozent in der Industrie und im Baugewerbe und 28 ­Prozent in der Landwirtschaft (siehe Tabelle 6). 23 Ebd., S. 51.

334

Alexandru-Murad Mironov

Tabelle 6: Entwicklung der arbeitenden Bevölkerung in Rumänien Jahr

Anzahl der arbeitenden Bevölkerung

Landwirtschaft und Forstbetriebe in Prozent

Industrie und Dienst­ Baugewerbe leistungen in Prozent in Prozent

1950

8 400 000

74

14

12

1960

9 500 000

65

20

15

1970

9 900 000

50

30

20

1980

10 400 000

30

44

26

1989

10 900 000

28

45

2724

Dementsprechend wurden die größten Modernisierungsanstrengungen mithilfe der Industrialisierung während der 1970er- und 1980er-Jahre unternommen, während es in den letzten Jahren vor der Revolution von 1989 offensichtlich in allen Bereichen zu einer Stagnation gekommen war. Der Fehlschlag der Landwirtschaftspolitik ist sogar noch offenkundiger, besonders da der Staat dem Wegzug aus ländlichen Gebieten entgegenzuwirken versuchte, indem er die sogenannte Politik der „geschlossenen Städte“ einführte, in denen nur Einwohner Zugang zu Arbeitsplätzen und Wohnrecht hatten. Arbeitslosigkeit war gesetzlich verboten, wurde als „Bummelei“ angesehen und bestraft. Tatsächlich gab es Alternativen, die in der Industrie Anwendung fanden und sogar von den Behörden akzeptiert wurden: unbezahlter Zwangsurlaub, zu viele Schul- und Hochschulabsolventen, die künstliche Verdoppelung von Arbeitsplätzen25 usw. Im Bereich der Sozialpolitik gingen die staatlichen Investitionen sogar noch weiter zurück, wenn man bedenkt, dass sie nie sehr hoch gewesen waren (siehe Tabelle 7). Tabelle 7: Staatliche Investitionen in Rumänien in der Zeit des Kommunismus in Prozent 1950

1960

1970

1980

1985

1989

Bildung und Kultur

3,1

2,6

2,0

1,3

0,4

1,1

Forschung

1,7

1,2

0,5

0,6

0,6

1,0

Gesundheit

2,4

1,4 

1,4

0,5

0,4

0,326

24 Murgescu, România şi Europa, S. 340. 25 Vgl. Ionete, Criza de sistem, S. 56. 26 Murgescu, România şi Europa, S. 338.

335

Rumäniens Wirtschafts- uns Sozialpolitik

Der gleiche Abwärtstrend ist im Laufe der 1980er-Jahre bei den Investitionen in Bildung, Kultur und Kunst erkennbar, wobei das Jahr 1989 eine Ausnahme darstellt (siehe Tabelle 8). Tabelle 8: Investitionen in Bildung, Kultur und Kunst in Rumänien Jahr

Gesamtinvestitionen in Bildung, Kultur, Kunst – in Millionen Lei

davon in Bildung – in Millionen Lei

1950

193

88

1960

720

440

1970

1 591

1 184

1980

2 761

2 239

1985

917

596

1986

948

554

1987

849

310

1988

909

309

1989

2 655

53227

Die Tabelle 8 zeigt, dass die Zeit bis 1980 von hohen Investitionen gekennzeichnet ist, die aber in den Folgejahren aufgrund drastischer Sparmaßnahmen zurückgingen. Dazu trug allerdings auch bei, dass bis dahin der größte Teil der Infrastruktur – besonders in der Bildung, deren Anteil beständig zurückging – bereitgestellt war. Wenn man allerdings bedenkt, welche Investitio­ nen allein in die Errichtung des sogenannten Volkspalastes in Bukarest flossen (18 Milliarden Lei bis 1989),28 erscheint die Situation als durchaus dramatisch. Die Zahl der Studenten wurde zur selben Zeit gedeckelt, ein Zeichen dafür, dass noch nicht einmal in die für die Ausbildung benötigten Fachleute investiert wurde. Die Zahl der Akademiker ging zurück, und das Zahlenverhältnis zwischen Schülern und Lehrern entwickelte sich durchgängig zuungunsten Letzterer, während der Zugang zu höherer Bildung auf eine festgelegte Zahl beschränkt war (siehe Tabelle 9).

27 Anuarul Statistic al României, S. 526 f. 28 Ionete, Criza de sistem, S. 115.

336

Alexandru-Murad Mironov

Tabelle 9: Zugang zu höherer Bildung Akademi­sches Jahr

Anzahl der Studenten pro Professor

Anzahl der Studen­ ten pro 10 000 Einwohner

Anzahl der ­Studenten

Akade­ miker

1960/ 1961

71 989

8 917

8,1

39

1970/ 1971

151 885

13 425

11,3

75

1980/ 1981

192 769

14 592

13,2

87

1985/ 1986

159 798

12 961

12,3

70

1986/ 1987

157 174

12 504

12,6

69

1987/ 1988

157 041

12 036

13,0

68

1988/ 1989

159 465

11 810

13,5

69

1989/ 1990

164 507

11 696

14,0

7129

Die städtische Arbeitswelt Die sozialistische Landschaft in Rumänien war geprägt von Industriegiganten. Im Gegensatz zu den Feststellungen der Propaganda waren die Gehälter sowie der Lebensstandard des Proletariats weit entfernt von dem, was eine privilegierte Klasse erwarten konnte. Anfänglich berechnete das Regime die Richtlinien für die Arbeit falsch und legte ein zu niedriges Grundgehalt fest, mit einem Zusatzvertrag (für Akkordarbeit), der weit über dem Grundgehalt lag. Als Ergebnis technologischer Investitionen wurden Arbeitsleistung und Gehälter in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre erhöht, während die Zusatzeinkommen vorsichtig verringert wurden. In den 1960er-Jahren stiegen die Einkommen allerdings spürbar, und dieser Trend setzte sich im Folgejahrzehnt fort. Angesichts wachsender Probleme in den späten 1970er-Jahren suchte das Regime

29 Anuarul Statistic al României, S. 138 f.

337

Rumäniens Wirtschafts- uns Sozialpolitik

nach finan­ziellen Anreizen, um die Arbeiter dazu zu bewegen, die Wirtschaftspläne zu erfüllen. Dementsprechend wurde ein „kollektiver Gehaltsvertrag“ eingeführt, der eine sehr restriktive Interpretation eines gemeinschaftlichen Arbeitsvertrages darstellte. Dieser Vertrag gestand den Arbeitnehmern einige Kollektivrechte zu, legte ihnen aber auch gemeinschaftliche Verpflichtungen auf. Das bedeutete, dass die Bezahlung nicht mehr nach der individuellen Arbeitsleistung erfolgte, sondern von der Erfüllung des Wirtschaftsplanes abhing. Sowohl Betriebsleitungen als auch Beschäftigte hafteten für Verzögerungen. In der Theorie waren die Einkommen aller Arbeitnehmer gleich. Im Jahre 1988 wurde das Verhältnis zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Einkommen gesetzlich neu festgelegt, von 1 zu 5,35 auf 1 zu 4,70. Im Laufe des Jahres 1988 stiegen die Gehälter um 35 Prozent.30 Im letzten Jahrzehnt des Kommunismus waren die Arbeitnehmer wie folgt auf die unterschiedlichen Einkommensgrupppen verteilt (siehe Tabelle 10). Tabelle 10: Höhe der Einkommen in Rumänien in Prozent Einkommen in Lei

1980

1985

1987

1989

Bis 1300

3,8







1301–1500

8,2

3,8 (bis 1500 Lei)

4,4 (bis 1500 Lei)



1501–1700

13,1

4,5

5,0



1701–2000

23,5

12,1

12,5

6,8 (bis 2000 Lei)

2001–2500

28,8

30,8

30,6

25,1

2500–3000

12,1

22,3

21,8

25,7

3001–3500

5,4

13,6

13,2

19,4

3501–4000

2,6

6,7

6,5

11,5

Über 4000

2,5

6,2

6,0

11,531

2238

2827

2872

306332

Durchschnitts­ gehalt

30 Legea nr. 4/29 iunie 1988 cu privire la majorarea retribuţiilor personalului muncitor, Bucureşti 1988, S. 4 f. 31 Anuarul Statistic al României, S. 124. 32 Institutul Naţional de Statistică – Câştiguri salariale din 1938. Serii anuale (http://www. insse.ro/cms/ro/content/castiguri-salariale-din-1938-serie-anuala-0; 26.2.2017).

338

Alexandru-Murad Mironov

Auch wenn das Regime gewisse Einkommenserhöhungen zuließ, so bestand das eigentliche Problem nicht im Mangel an Geld, sondern im Mangel an Gütern.33 Der reale Lebensstandard lässt sich heute nur noch schwer berechnen, doch Geld war am Markt vorhanden. Leider fehlte der Markt. Der Mangel an Produkten zur Befriedigung der Grundbedürfnisse, die niedrigen Preise für Gebrauchsgüter, knappe Dienstleistungen sowie die gesetzlichen Beschränkungen beschnitten die Kaufkraft drastisch. Lebensmittel konnte man nicht kaufen, da sie nicht vorhanden waren. Ebenso konnte man keinerlei langlebige Güter erwerben, da die Wartezeiten extrem lang waren (der Erwerb eines Autos beispielsweise dauerte vier bis fünf Jahre), während bestimmte Arten von Besitz verboten waren. Steigende Preise und zusätzliche Besteuerung ab 1980 führten zu einem Kaufkraftverlust. So ergaben Berechnungen, dass trotz eines nominellen Wachstums die Reallöhne im Jahre 1989 um 4 Prozent gegenüber 1985 gesunken waren.34 Die Gehaltsabzüge wegen Nichterfüllung des Wirtschaftsplanes nahmen derart drastische Ausmaße an, dass man im Anschluss an den Arbeiteraufstand in Kronstadt (Braşov) im November 198735 davon abging, da man anderenfalls der Beschwerden überhaupt nicht mehr Herr geworden wäre. Der Legende nach waren mit die letzten Worte, welche Elena Ceauşescu im Dezember 1989 auf der Balustrade des Zentralkomitees sprach: „Nicolae, gib ihnen 100 Lei mehr!“ Tatsächlich war der Geldumlauf in einem solchen Ausmaß gestört, dass selbst 100 Lei zusätzlich den Lebensstandard der Rumänen keineswegs erhöht hätten. Das Rentensystem wurde radikal geändert. In den 1950er-Jahren wurde es standardisiert, und wenn auch nicht die Rentenansprüche aller Klassen der Gesellschaft anerkannt wurden, so wurde doch ein Renteneintrittsalter eingeführt, das für jeden galt. Nach dem Rentengesetz von 1977 war das Beitragsprinzip vorherrschend, und man nahm an, dass seit der Einführung neuer Arbeitsrichtlinien hinreichend Zeit vergangen sei. Dies führte beispielsweise für die Bauern der Kooperativen zu einem spürbaren Rückgang ihrer Einkommen, da sie erst seit vergleichsweise kurzer Zeit überhaupt Beiträge leisteten (das Renteneintrittsalter wurde nach der Zeit der Einrichtung der landwirtschaftlichen Kollektive berechnet). Im letzten Jahrzehnt des kommunistischen Regimes wurden die Rentner vernachlässigt. Das Gesetz von 1988 sah eine Erhöhung von lediglich 8 Prozent der Durchschnittsrente vor, und dies galt auch nur für die Bezieher staatlicher Renten,36 nicht für die Bauern usw.

33 34 35 36

Vgl. Pavel Câmpeanu, Ceauşescu, anii numărătorii inverse, Iaşi 2002, S. 268–270. Ionete, Criza de sistem, S. 26 f. Ebd., S. 40. Legea nr. 5/29 iunie 1988 privind majorarea pensiilor de asigurări sociale de stat pentru munca depusă şi limită de vârstă, a pensiilor pentru pierderea capacităţii de muncă şi a pensiilor invalizilor de război, Bucureşti 1988, S. 7–9.

339

Rumäniens Wirtschafts- uns Sozialpolitik

Die Statistiken zeigen, dass sich die Renten nur geringfügig weiterentwickelten. Darüber hinaus gab es einen großen Unterschied zwischen der Durchschnittsrente, welche die Arbeitnehmer von den Sozialversicherungen in den Städten bezogen, und der Renten für die Bauern, die auf Beiträgen zu den landwirtschaftlichen Kollektiven beruhten. Die Höhe Letzterer reichte nicht für die Deckung der Grundbedürfnisse aus (siehe Tabelle 11). Tabelle 11: Rentenhöhen in Lei Rentenarten Sozialver­sicherung Bauern

1970

1980

1985

1986

1987

1988

1989

647

970

1 267

1 292

1 310

1 337

1 420

61

159

188

191

187

221

21137

Das Renteneintrittsalter lag bei etwa 60 Jahren, doch die Gewährung der Rente konnte aus administrativen Gründen bis zum Alter von 65 verweigert werden – hauptsächlich, um Geld einzusparen.38 Rumäniens Rentensystem in den letzten Jahren des kommunistischen Regimes lässt sich nur als Totalausfall bezeichnen. Wenn man davon ausgeht, dass mit dem Gesamtwachstum der Bevölkerung auch die Zahl der Arbeitnehmer anstieg, die in das Rentensystem einzahlten und dass diese Einzahlungen um 2 bis 3 Prozent anstiegen, dann dürfen wir vermuten, dass die Sozialversicherung über einen Überschuss verfügte, zu dem noch die verringerte Anhebung der Rentenauszahlungen zu rechnen wäre. Gleichzeitig wurde die Auszahlung der Beiträge von den staatlichen Banken (Casa de Economii şi Consemnaţiuni) verzögert, sodass diese nicht für Kredite verwendet werden konnten, zu jener Zeit eine wirtschaftliche Seltenheit. Auf diese Weise wurde ein Gesamtbetrag von 58 Milliarden Lei, was dem kompletten Bestand der Rentenkassen im Jahre 1989 entsprach,39 der auf den Kommunismus folgenden Inflation in den Rachen geworfen. All dies zeigt, dass Mangel eher die Norm und nicht die Ausnahme war. Wenn man noch hinzufügt, dass sich die Wirtschaftsverbrechen – besonders der Diebstahl landwirtschaftlicher Produkte – zwischen 1980 und 1985 verdreifachten,40 dann darf man feststellen, dass Geld zwar vorhanden war, die Menschen aber nichts dafür kaufen konnten.

37 38 39 40

Anuarul Statistic al României, S. 126 f. Câmpeanu, Ceauşescu, S. 277 f. Vgl. Ionete, Criza de sistem, S. 103. Vgl. ebd., S. 30.

340

Alexandru-Murad Mironov

Die Bauern Im Jahre 1989 lebte nach wie vor beinahe die Hälfte der Bevölkerung auf dem Land, wo die Probleme ganz anders gelagert waren. Trotz Investitionen und Modernisierungen war das Ausgangsniveau derart niedrig, dass die Entwicklung nur extrem langsam voranschritt. Der kleine Landbesitz war im Gefolge der Kollektivierung praktisch ausgelöscht worden, obwohl sich noch Spuren davon fanden: In den Gebirgsdörfern gab es keine Kolchosen, und die Bauern der Kooperativen hatten Anrecht auf geringe Flächen, auf denen sie anbauen durften, was sie wollten. Eigene Tierhaltung wurde von den lokalen sowie staatlichen Behörden überwacht, die darüber entscheiden konnten, die Tiere zu festgesetzten Preisen anzukaufen (Zwangsverkauf). Man muss allerdings betonen, dass in solchen Fällen der Staat Futtermittel zu sehr günstigen Preisen stellte. Wurden die Tiere allerdings auf dem freien Markt verkauft, fielen hohe Steuerzahlungen an. Diejenigen, die in der Lage waren, sich der Kontrolle des Staates zu entziehen – zum Beispiel Schäfer wegen ihrer nomadischen Lebensweise41 – konnten allerdings ein Vermögen machen. David A. Kideckel stellte fest, dass „die Häuser, die in den 70ern in den Dörfern gebaut wurden, keine Stallungen mehr hatten, denn die Landwirtschaft war zu einer Subsistenzwirtschaft geworden, allerdings änderte sich dies in der Folge“.42 Kleine, unabhängige Produzenten, die weniger als ein Zehntel der landwirtschaftlichen Fläche des Landes bearbeiteten, steuerten ca. ein Fünftel der Lebensmittel bei, trotz der administrativen Hindernisse.43 Bis zu den 1980er-Jahren profitierten die Bauern trotz der Kollektivierung von der Industrialisierung und Urbanisierung. Sie stellten die wichtigste Quelle für Arbeitskräfte dar, als Neueinsteiger bekamen sie zügig Wohnraum sowie Zugang zu den Sozialleistungen für Familien. Mittlerweile hatte der Exodus in die Städte den Druck auf die Wohnraumsituation vermindert, während die rumänischen Dörfer im 20. Jahrhundert ursprünglich unter Überbevölkerung gelitten hatten. Die soziale Infrastruktur in den ländlichen Gegenden hatte sich zu Beginn des Jahrhunderts allmählich entwickelt und wurde vom Kommunismus vervollständigt: Schulen, Apotheken (das Regime war in der Lage, die dafür benötigten Fachleute auszubilden), die meisten Dörfer verfügten über Elektrizität. Zum ersten Mal hatten die Menschen eine Chance auf sozialen Aufstieg, da ein Kind, das auf dem Land lebte, aufgrund des gleichberechtigten Zugangs zu Bildung alle Möglichkeiten zur Verbesserung seines Lebensstandards hatte. Im Jahre 1980 zogen es traditionelle Bauernfamilien vor, in einem jener typisch ländlichen Dörfer zu leben und von dort aus in die Stadt zu pendeln. Auf diese Weise profitierten sie sowohl von einem städtischen Einkommen als auch vom Zugang zu Lebensmitteln.44 Als sich jedoch die Krise verschärfte, wurden 41 42 43 44

Vgl. Kideckel, Colectivism şi singurătate în satele româneşti, S. 61. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. Ionete, Criza de sistem, S. 38. Vgl. Kideckel, Colectivism şi singurătate în satele româneşti, S. 109.

341

Rumäniens Wirtschafts- uns Sozialpolitik

die Unterschiede zwischen Stadt und Land größer und entwickelten sich zu einem Gegensatz. Entsprechend wurde der Zugang zu den Städten schwieriger und hing zunehmend davon ab, dass man in der Stadt wohnte (siehe den Film „Buletin de Bucuresti“/„Bucharest ID card“), während die Treibstoffknappheit für die Pendler zum Problem wurde. Die Stadtbewohner beneideten die Bauern um ihren leichten Zugang zu Lebensmitteln, und die Bauern beneideten die Städter um das geringe Ausmaß körperlicher Arbeit, das diese zu leisten hatten.45 Die Arbeitsmigration in die Städte, auch die zeitweilige, hatte außerordentliche Folgen. Da die Männer die besser bezahlten Arbeitsplätze in der städtischen Industrie vorzogen, blieben in den Dörfern meist die Frauen und Alten zurück, was zu einem Rückgang der Arbeitskräfte und dementsprechend einem immer stärkeren Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft führte.46 Statistisch gesehen waren die Einkommen in der Landwirtschaft niedriger als in anderen Bereichen, andererseits bot die ländliche Welt einige Vorteile, denn trotz des allgemeinen Mangels hatten die Bauern Zugang zu Lebensmitteln. Der Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Nettogehalt und dem tatsächlichen Einkommen in der Landwirtschaft hatte sich, als es auf das Jahr 1989 zuging, von der Hälfte auf zwei Drittel verringert (siehe Tabelle 12). Tabelle 12: Nettoeinkommen in der Landwirtschaft 1950 1960 1970 1980

1985

1988

1989

Nettoeinkommen in der Landwirtschaft in Lei

167

402

Durchschnittliches Nettogehalt in ­Rumänien in Lei

337

802 1 289 2 238 2 827 2 946 3 06348

571 1 373 1 973 1 945 1 92047

Dennoch lebten im Dorf die rumänischen Traditionen fort, man blieb der Religion verbunden und die traditionelle Familie war weniger vom Kommunismus berührt.

Wohnraumversorgung Die größten Anstrengungen im Bau von Wohnraum wurden in achten Jahrzehnt getätigt, als beinahe 1,3 Millionen Wohneinheiten gebaut wurden. Während der letzten Jahre des kommunistischen Regimes gingen die Anstrengungen weiter, allerdings in deutlich geringerem Ausmaß. Statistisch sah die Situation im Wohnungsbau in den städtischen Gebieten folgendermaßen aus. 45 46 47 48

Vgl. ebd., S. 65. Ionete, Criza de sistem, S. 59. Anuarul Statistic al României, S. 125. Câştiguri salariale din 1938.

342

Alexandru-Murad Mironov

Tabelle 13: Anzahl der neu gebauten Wohnungen Jahrzehnt

Anzahl der Wohnbauten

Davon staatlich gebaute Wohnungen

1951–1960

315 788

125 070 (40 %)

1961–1970

673 730

529 319 (79 %)

1971–1980

1 291 924

1 231 072 (95 %)

1981–1989

962 362

947 605 (98 %)49

Dementsprechend verlor nicht nur die Bauindustrie im Verlaufe der 1980er-Jahre an Dynamik, auch übernahm der Staat die Kontrolle über den gesamten Wohnungsmarkt. Man stellt allerdings auch eine gewisse Verbesserung fest, da die Quadratmeterzahl des Wohnraums pro Person erhöht wurde.50 Eine vergleichende Analyse der statistischen Zahlen ergibt allerdings, dass die Gesamtgröße der Wohnungen durchgehend abnahm (siehe Tabelle 14). Tabelle 14: Durchschnittliche Größe von Neubauwohnungen Jahr

Durchschnittliche Größe staatlich gebauten Wohnraums in m2

1981

30,05

1982

29,63

1983

29,67

1984

29,63

1985

29,76

1986

28,29

1987

28,00

1988

27,14

1989

26,5351

Wenn also die durchschnittliche Größe vom Staat neu errichteter Wohnungen in den Jahren 1971 bis 1980 31,81 Quadratmeter betrug, so betrug sie 1989 nur noch 26,5 Quadratmeter. Um die Investitionen verringern zu können, griff man selbst in den neuen, prestigeträchtigen Wohngegenden Bukarests sowie im Zentrum zu einer eigenartigen Lösung: Die Raumhöhe wurde verringert. Auf diese Lösung kam man

49 Anuarul Statistic al României, S. 540 f. 50 Alexandru Panaitescu, De la Casa Scânteii la Casa Poporului. Patru decenii de arhitectură în Bucureşti, 1945–1989, Bucureşti 2012, S. 63. 51 Anuarul Statistic al României, S. 540 f.

Rumäniens Wirtschafts- uns Sozialpolitik

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im November 1958, als das Plenum des Zentralkomitees beschloss, die Ausgaben für neue Investitionen zu kürzen.52 Ein typisches Beispiel für die Verringerung der Bauqualität im Vergleich mit den 1960er- und 1970er-Jahren ist die Reduzierung der Fensterhöhe von 1,50 Meter auf 1,20 Meter unter dem Vorwand der „Energieersparnis“.53 Weitere Sparmaßnahmen wurden ab 1975 und besonders nach dem schweren Erdbeben des Jahres 1977 vorgenommen, als Grünflächen reduziert sowie keine Parkflächen mehr ausgewiesen wurden und selbst die Breite der Straßen verringert wurde, indem man Bürgersteige und Fahrbahnen enger baute.54 In der Zwischenzeit hatte man alte Gebäude im großen Maßstab abgerissen – einschließlich einiger Bauwerke von großem architektonischem und historischem Wert – und stattdessen kolossale öffentliche Gebäude errichtet, zum Beispiel das große Haus des Volkes, den Boulevard Sieg des Sozialismus sowie praktisch die gesamte U-Bahn. Die traumatischen Auswirkungen dieses städtischen Abrissprogramms fanden ihren Niederschlag in der städtischen Folklore, die das Phänomen der wandernden Häuser (das waren Gebäude, die man auf Schienen um mehrere Hundert Meter versetzte – vor allem Kirchen) thematisierte, die dann hinter neuen Gebäuden versteckt wurden. Ein Witz aus dieser Zeit erfand ein neues Verkehrsschild: „Achtung, wandernde Kirchen!“ Es lässt sich also feststellen, dass die Investitionen in die Bauwirtschaft auf Kosten des Komforts der Bürger und zugunsten der Errichtung von Prestigebauten zu Ehren des Regimes getätigt wurden. Neben den katastrophalen Folgen für das architektonische Erbe der Stadt verringerte das Abrissprogramm die Zahl der Wohneinheiten um ca. 127 000.55 Das bedeutet, dass die Anstrengungen zur Schaffung neuen Wohnraums auch den Ersatz für ältere Wohnungen beinhaltete, im Gegensatz zu den architektonischen Planungen der vorangegangenen Jahrzehnte, die sich beinahe ausschließlich auf Neubauten konzentriert hatten. Andererseits hielt die öffentliche Versorgung nicht mit dem Bau neuer Siedlungen Schritt, sodass selbst in manchen großen Städten (wie Krajowa) beständiger Mangel an Trinkwasser herrschte. Dies galt auch für Städte mit altem oder prestigeträchtigem Kulturerbe, in denen die Investitionen in den Wiederaufbau der Infrastruktur sehr hoch waren (das Stadtzentrum von Bukarest, Kronstadt, Sinaia). Die Entwicklung der an das Trinkwassernetz angeschlossenen Städte sieht wie folgt aus (siehe Tabelle 15).

52 Vgl. Notă a Direcţiei Economice a C.C. al P.M.R. cu privire la proiectul planului de dezvoltare a economiei naţionale pe anul 1959, 31.10.1958 (Arhivele Naţionale Istorice Centrale Bucureşti, Fondul CC PCR – Cancelarie, dosar nr. 29/1958, Bl. 10 f.). 53 Vgl. Panaitescu, De la Casa Scânteii la Casa Poporului, S. 66. 54 Vgl. ebd., S. 51. 55 Vgl. Ionete, Criza de sistem, S. 51.

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Alexandru-Murad Mironov

Tabelle 15: Zugang zu Trinkwasser Jahr

Gesamtzahl der an das Trinkwassernetzwerk angeschlossenen Siedlungen

Davon Städte

1950

101

88

1960

172

125

1970

437

195

1980

1 541

233

1989

2 301

26056

Dies erfordert einige Anmerkungen. Zunächst entsprach im Jahre 1989 die Anzahl der Städte, die eine Trinkwasserversorgung boten, der Gesamtzahl der Städte in Rumänien (260).57 Allerdings waren nicht alle Einwohner dieser Städte an das Trink- und Abwassernetz angeschlossen, da beides in manchen Stadtteilen nicht vorhanden war. Insgesamt verfügten 67 Prozent der Straßen über entsprechende Anschlüsse, und noch nicht einmal die Hauptstadt war flächendeckend angeschlossen.58 Die Situation in den ländlichen Gegenden war weit entfernt davon, angenehm zu sein, besonders angesichts der Tatsache, dass sich in Dörfern in der Nähe großer Städte viele Industrieanlagen befanden und dass die Wasserversorgung zuvörderst den Fabriken und nicht den Einwohnern in deren Nachbarschaft zugutekam. Man muss allerdings auch feststellen, dass in anderen Fällen in den 1970er-Jahren ein großer Sprung nach vorn gelang.

Frauen Luciana Jinga und Florin Soare schildern in ihrer Untersuchung zur pronatalistischen Politik des Regimes dessen repressive Maßnahmen bei Abtreibungen und die gleichzeitigen Bemühungen, die Geburtenrate zu erhöhen, ohne allerdings echte Vorteile anzubieten (das Gesetz sah fünf Kinder pro Frau als Idealgröße vor).59 Die Autorin weist allerdings darauf hin, dass zwischen 1971 – als Elena Ceauşescu in den politischen Vordergrund rückte und innerhalb der Partei eine Politik der Gleichberechtigung gestartet wurde – und 1989 eine starke Veränderung in Rumänien stattfand: Ursprünglich beim Thema Frauenemanzipation auf dem letzten Platz in Osteuropa, rückte das Land am Vorabend der Revolu-

56 Anuarul Statistic al României, S. 214. 57 Ebd., S. 48. 58 Vgl. Vergiliu Iordache, Urbanizarea şi condiţiile de locuit. In: Constantin Grigorescu (Hg.), Nivelul dezvoltării economico-sociale a României în context european, 1989, Bu­ cu­reşti 1993, S. 198. 59 Luciana M. Jinga/Florin S. Soare (Hg.), Politica pronatalistă a regimului Ceauşescu, Band II, Iaşi 2011, S. 176.

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tion auf den ersten Platz vor, als 36 Prozent der Parteimitglieder Frauen waren, wodurch Nicolae Ceauşescu zum ersten politischen Führer der Region wurde, der „das Prinzip der Repräsentation auf Grundlage von Geschlechterquoten vorantrieb“.60 Luciana Jinga betont auch, dass der Zugang zu Bildung, der Frauen erstmalig unter dem Kommunismus zugestanden wurde, diesen den freien Zugang zu beruflichen Karrieren ermöglichte.61 Doch auch wenn diese Initiative besonders in den höheren Rängen der Parteiführung und den städtischen Gebieten umgesetzt wurde, so bedeutete dies auch einen Zuwachs an Arbeitskräften. In der Zwischenzeit begann trotz aller Anstrengungen die zur Unterstützung der Frauen gedachte Infrastruktur zu schwächeln, besonders im Bereich der Kindererziehung. Dies war das Ergebnis einer allgemeinen Kürzung der öffentlichen Ausgaben. Zum Beispiel führten höhere Kindergartenbeiträge dazu, dass die Zahl der Vorschulkinder in den 1980er-Jahren um mehrere Tausend zurückging.62

Fazit Zum Abschluss sei auf die Debatte verwiesen, die Michael Shafir in seinem Buch „Romania – Politics, Economics and Society. Political Stagnation and Simulated Change“, in dem er die Grenzen des Verhältnisses zwischen dem politischen System und der Gesellschaft angesichts der Krise definiert, angestoßen hat. Im Verlauf dieser Debatte kristallisierten sich folgende Feststellungen heraus:63 • Die wirtschaftlichen Probleme waren insbesondere gekennzeichnet durch eine niedrige Produktivität in Landwirtschaft und Industrie, Güterknappheit und hohe Auslandsschulden; • Die ländliche Herkunft eines Großteils des Industrieproletariats sicherte deren Familien den Zugang zu Lebensmitteln. Darüber hinaus basierte der Lebensstandard des städtischen Proletariats ländlicher Herkunft auf den staatlichen Minimalleistungen: Wohnung, Zugang zu Grundbildung und Gesundheitsversorgung – all dies war zwar auf niedrigem Niveau, aber deutlich über dem, was man von zu Hause gewohnt war; • Mangelnde Solidarität sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen Gruppen der Gesellschaft. Zum Beispiel gelangte die Intelligenzija trotz jahrzehntelanger Propaganda nie zu einer Versöhnung mit den anderen Teilen der Gesellschaft, was zum Teil am Weiterbestehen einer Art von traditionellem Egoismus lag. Mehr noch, Intellektuelle wurden als unzuverlässig empfunden, als mit der Macht verbunden und nur daran interessiert, von eben jener körperlichen Arbeit zu profitieren, welche sie selbst vermieden; 60 61 62 63

Jinga, Gen şi reprezentare, S. 259. Vgl. ebd., S. 299. Ionete, Criza de sistem, S. 113. Vgl. Shafir, Romania – Politics, Economics and Society, S. 129 f.

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• Die Fähigkeit, schon irgendwie klarzukommen, wodurch der Individualismus noch mehr gefördert wurde; • Entmutigung persönlicher Autonomie bei gleichzeitiger Ermutigung zum kollektiven Konformismus als Ergebnis mangelnder öffentlicher Anerkennung des jeweiligen Status, die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Clan-Verhältnissen, was in allen Bereichen und auf allen Ebenen erkennbar ist, einschließlich der höheren Ebenen der Macht. Man kann sagen, dass das Regime durch seine Anwendung repressiver Maßnahmen den sozialen Zusammenhalt entmutigte und einen wahren Tribalismus förderte. Trotz zwei relativ guter Jahrzehnte – wahrscheinlich sogar den besten im ganzen 20. Jahrhundert – sahen die 1980er-Jahre Rumänien bei praktisch sämtlichen Entwicklungsindikatoren auf dem letzten Platz in Europa.64 Der Staat verbesserte weiterhin die Lebensbedingungen und gewährte einer Bevölkerung Ansprüche, die erst spät zur Modernisierung gefunden hatte. Ab 1980 änderten sich allerdings die Anforderungen dramatisch, als sich die ersten Einflüsse des Konsumismus bemerkbar machten. Der Augenblick, an dem der Traum von der Konsumgesellschaft in Rumänien ankam, lässt sich exakt bestimmen: das Jahr 1978, als das rumänische Fernsehen begann, die amerikanische Seifenoper „Dallas“ auszustrahlen.

64 Vgl. Ionete, Criza de sistem, S. 27.

Politische Opposition im kommunistischen Rumänien (1944–1989) Anneli Ute Gabanyi Ziel dieser Untersuchung ist es, die Art und die Dynamik der politischen Opposition in Rumänien in der Zeit zwischen der Besetzung des Landes durch die Rote Armee im Jahre 1944 und dem Sturz des Ceauşescu-Regimes am 22. Dezember 1989 nachzuzeichnen. Sie gründet auf der Analyse der innen- und außenpolitischen Entwicklung Rumäniens in dem benannten Zeitraum und liefert ihrerseits den Schlüssel zum Verständnis der Modalität des Systemwandels und der Transition. Die Arbeit fußt auf einer breiten empirischen Basis aus offiziellen Dokumenten, wissenschaftlichen Studien und Presseartikeln in rumänischer Sprache sowie westlicher Sekundärliteratur, die zeitnah ausgewertet wurden. Die Analyse ist, mit Blick auf die Sowjetunion und die anderen Staaten des sowjetischen Hegemonialbereichs, komparativ angelegt und sie verfährt multidisziplinär, unter Einbeziehung von Grundtendenzen der Geschichte und der politischen Kultur des Landes. Am Anfang der Untersuchung steht eine Einführung in die Besonderheiten der kommunistischen Machtübernahme in Rumänien nach der Besetzung des Landes durch die Rote Armee. Die historisch bedingte Ablehnung russischer bzw. sowjetischer Okkupation durch die Rumänen sowie die traditionell antinationale Ausrichtung der Rumänischen Kommunistischen Partei sind die entscheidenden vorgegebenen Pfade, an denen sich die politische Dynamik von Herrschaft und Widerstand nach 1944 ausrichtet. Diese im kollektiven Bewusstsein verwurzelten Ereignisse und Einstellungen erklären das Ausmaß und die Dauer des bewaffneten Partisanenkampfes im Lande, der erst zum Erliegen kam, nachdem die Hoffnung auf ein Eingreifen des Westens gegen die sowjetische Oberherrschaft in Rumänien erloschen war. Zu den Konstanten der politischen Kultur in Rumänien gehört auch die Betonung der nationalen Unabhängigkeit als Legitimationsbasis für politische Herrschaft und institutionelle Stabilität.1 So gesehen 1

Vgl. James F. Brown, Eastern Europe and Communist Rule, Durham 1988, S. 265: „But anyone viewing the twentieth century from a historical perspective cannot fail do see similarities: the nationalism in domestic and foreign affairs, for example of Premier Ionel Brătianu in the 1920s and later Gheorghiu-Dej and Ceauşescu, the two main communist leaders; also the diplomatic tactics of the Brătianu family, of Nicolae Titulescu, the inter­ war foreign minister and King Carol II himself, of Gheorghe Gheorghiu-Dej, the first communist regime leader; and after 1965 of Nicolae Ceauşescu.“

348

Anneli Ute Gabanyi

war das Jahr 1956 ein Schlüsseljahr für die ­aufbegehrende studentische Jugend in Rumänien und eine Weggabelung für die Führung der kommunistischen Partei. Nach der Unterdrückung der Studentenrevolte gelang es der Parteiführung, die Sowjetunion zum Abzug der Truppen aus Rumänien zu bewegen und damit den Weg frei zu machen für eine autonome Außen- und Wirtschaftspolitik und für eine zeitweilige innenpolitische Liberalisierung. Das Jahr 1968 markierte den Höhepunkt der Legitimität des kommunistischen Systems in Rumänien und zugleich einen Wendepunkt in den Beziehungen der Bevölkerung und der Partei, deren Führung gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei protestierte. Der „charismatische Moment“ des Staatsund Parteichefs Nicolae Ceauşescu war jedoch nicht von langer Dauer. Von Moskau gesteuerte Putschversuche sowjetloyaler Militärs, Parteifunktionäre und Geheimdienstmitarbeiter führten zu Abwehrreaktionen der Parteiführung. Der Parteichef und 1974 selbsternannte Staatspräsident schottete sich und sein Regime ab und setzte auf Personenkult und nationale Mobilisierung. In den 1970er-Jahren mehrten sich die Unruhen im Arbeitermilieu, Intellektuelle begehrten auf, die Forderungen nach Ausreise nahmen zu. Obwohl die Legitimationsbasis der Herrschaft Ceauşescus nicht zuletzt auch wegen der Wirtschaftskrise der 1980er-Jahre nachhaltig geschrumpft war, gelang es der sowjetischen Führung nicht, in Rumänien wie in den anderen osteuropäischen Staaten, „Reformflügel“ zum Sturz der herrschenden Parteiführer in Stellung zu bringen. Am Ende stand ein Putsch ehemaliger entmachteter sowjetfreundlicher Militärs, Geheimdienstler und Parteifunktionäre, die eine Revolte der Bevölkerung nutzten, um die Macht im Staat zu übernehmen.

Kommunistische Machtübernahme unter sowjetischer Besatzung In Rumänien wie auch in den anderen Staaten, denen die siegreiche östliche Großmacht ihr System aufgezwungen hatte und die seit Kriegsende zum Hegemonialbereich der Sowjetunion gehörten, kann die Bedeutung dieser „macro independent variable“2 nicht hoch genug angesetzt werden. Hinzu kam, dass die, wegen ihrer gegen die nationalen Interessen Rumäniens gerichteten Programmatik und der völligen Unterordnung unter die Politik der Komintern, 1921 gegründete Rumänische Kommunistische Partei (RKP) über einen äußerst geringen Rückhalt in der Bevölkerung verfügte.3 Sie war „ein politisches Nullum“, ihr „Einfluss im Land war gering bis inexistent, ihre Mitgliederzahlen insignifikant“.4 Sie wurde 1924 verboten und agierte bis 1944 im Untergrund. Hinzu kam, dass die mitgliederschwache RKP von Führungs- und Flügelkämp2 3 4

Juan J. Linz/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and Post-Communist Europe, Baltimore 1996, S. XIV. Vgl. Robert R. King, History of the Romanian Communist Party, Stanford 1980, S. 9, 14–20, 62–72. Günther H. Tontsch, Partei und Staat in Rumänien, Köln 1985, S. 20.

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fen erschüttert wurde. Zwei Gruppen kämpften in der Vorkriegszeit um die Vormacht. Die in Rumänien in der Illegalität tätigen Kommunisten der Heimatfraktion, viele von ihnen ethnische Rumänen, agierten im Untergrund und organisierten Streiks wie denjenigen der Bahnarbeiter von Griviţa im Jahre 1933, dessen Anführer Gheorghe Gheorghiu-Dej festgenommen und bis 1944 inhaftiert wurde. Zu dieser Gruppe gehörte auch das Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation Nicolae Ceauşescu, der von 1936 bis 1938 und erneut 1940 bis 1944 inhaftiert war. Zur konspirativen Tätigkeit der RKP gehörte in den 1930er- und 1940er-Jahren auch die Beteiligung an diversen Block- und Frontbildungen, wie dem am 20. Juni 1944 gebildeten „Nationaldemokratischen Block“. Mit dessen Unterstützung gelang es König Mihai I. am 23. August 1944 im Zuge eines Staatsstreichs, den auf die militärische Zusammenarbeit mit Hitlerdeutschland eingeschworenen militärischen Führer Rumäniens Marschall Ion Antonescu festzusetzen. Die Vertreter der RKP nahmen Antonescu in Gewahrsam und lieferten ihn an die sowjetischen Truppen aus, sobald diese am 30. August 1944 in Bukarest einmarschiert waren. Die Art und das Timing dieses Umsturzes war weder im Sinne der Kriegsziele Stalins noch im Interesse der Moskaufraktion der Kommunistischen Partei Rumäniens, an deren Spitze ­ asile Luca standen. Obwohl Rumänien die Militärdiktatur Ana Pauker und V Antonescus aus e­ igener Kraft stürzte, Hitlerdeutschland den Krieg erklärte und aus dem Verbund der Achsenmächte an die Seite der Alliierten gewechselt war, marschierte die Sowjetarmee dennoch in Rumänien wie in Feindesland ein und war erst nach der vollständigen Besetzung des Landes am 2. September 1944 zum Abschluss eines Waffenstillstandes bereit. Die „Selbstbefreiung“ Rumäniens, mit welcher der König und seine Verbündeten der „Befreiung“, sprich Besetzung des Landes, durch die Rote Armee zuvorkommen wollte, zwang die Sowjetunion dazu, die in Rumänien bestehenden staatlichen Strukturen (Monarchie, Regierung, politische Parteien) bis zum Abschluss eines Friedensvertrags zumindest formell zu dulden. Zugleich sahen sich die Vertreter der ­Moskaufraktion, die mit den Panzern der Sowjetarmee in Rumänien einrückten, mit den im Lande bereits bestehenden lokalen kommunistischen Partei­ strukturen und Führungspersönlichkeiten konfrontiert, die sich durch ihre Teilnahme an dem gelungenen Staatsstreich legitimiert sahen. Am 31. August 1944 setzte der König zwar die Verfassung von 1923 wieder in Kraft, die Besetzung Rumäniens durch die Truppen der Sowjetarmee verhinderte jedoch die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen. Die aus der Haft entlassenen sowie die aus dem Moskauer Exil angereisten kommunistischen Parteifunktionäre begannen, gestützt auf eine große Zahl sowjetischer „Berater“, mit dem Aufbau eines beispiellosen Terrorregimes, dem sich weder der König noch die wenigen, bis zur Ernennung von Ministerpräsident Petru Groza am 6. März 1945 im Amt verbliebenen bürgerlichen Politiker wirksam entgegenstellen konnten. Allein im Jahr 1947, unmittelbar nach der Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrags, wurden rund 1 000 führende Vertreter der politischen Parteien verhaftet, zu Kerkerhaft verurteilt oder hingerichtet. Der rumänische

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„Archipelag Gułag“ zählte bis 1964 rund 500 000 Personen in Gefängnissen, Arbeitslagern und im Zwangsaufenthalt.5 Die bis zu seiner erzwungenen Abdankung am 30. Dezember 1947 in Rumänien vorgenommenen Verhaftungen und verübten Morde konnte König Mihai nicht verhindern. Seine bei den Botschaftern der USA und Großbritanniens vorgebrachten Proteste blieben erfolglos, da die Alliierte Kontrollkommission in Bukarest mit der Zustimmung der Westalliierten ausschließlich im Interesse der sowjetischen Besatzungsmacht in Rumänien agierte.6

Der gewaltsame antikommunistische Widerstand Aus diesen kulturellen, historischen und politischen Gründen stand die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dem von sowjetischen Besatzungstruppen oktroyierten kommunistischen System von Anfang an feindlich gegenüber. Zu den ersten Opfern kommunistischer Verfolgung gehörten prominente ­Politiker sowie Offiziere der rumänischen Armee, die an der Ostfront gekämpft hatten. Hinzu kamen tausende Vertreter der bürgerlichen politischen Parteien, die verhaftet, eingekerkert oder hingerichtet wurden. Einem Teil der Vertreter der politischen und militärischen Eliten gelang die Flucht ins westliche Ausland, einige andere gingen in den Untergrund, wo sie Widerstandsgruppen bildeten, die den bewaffneten Kampf gegen das Regime aufnahmen.7 Die Führungspersönlichkeiten von Partisanengruppen wie Haiducii lui Avram Iancu (Die Freischärler Avram Iancus) oder Sumanele Negre (Die schwarzen Bauernmäntel) entstammten bürgerlichen Parteien, andere Gruppierungen standen unter der Leitung ehemaliger Offiziere wie der Obristen Ion Uţă und Gheorghe Arsenescu oder des Majors Nicolae Dabija. Mitglieder der faschistischen Eisernen Garde, von denen viele unmittelbar nach 1945 in die Kommunistische Partei aufgenommen worden waren, um dann ab 1948 ausgeschlossen und verfolgt zu werden, waren im bewaffneten Untergrund ebenso vertreten wie Mitglieder der kommunistischen Partei oder der deutschen Volksgruppe. Zu den Parti­sanen gehörten seit 1944 auch zahlreiche Flüchtlinge aus Bessarabien und der Bukowina, die vor den sowjetischen Truppen auf der Flucht waren. Die in der Regel nur aus wenigen Mitgliedern – zumeist Männer, aber auch einige Frauen – bestehenden

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Vladimir Tismăneanu/Dorin Dobrincu/Cristian Vasile (Hg.), Comisia prezidenţială pentru analiza dictaturii comuniste din România. Raport Final, Bukarest 2007, S. 541. In dem im Oktober 1944 zwischen Churchill und Stalin in Moskau vereinbarten, lange Zeit geheim gehaltenen „Prozentabkommen“ gestand Churchill der Sowjetunion einen 90-prozentigen Einfluss in Rumänien zu. Stalin interpretierte dies – zu Recht – als Zustimmung der Westalliierten zur Eingliederung des Landes in die von Moskau beanspruchte Einflusssphäre in Südosteuropa. Vgl. Albert Resis, The Churchill-Stalin Secret „Percentages“ Agreement on the Balkans, Moscow, October 1944. In: The American Historical Review, 83 (1978) 2, S. 368–387. Tismăneanu/Dobrincu/Vasile (Hg.), Raport Final, S. 665–680.

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Gruppen agierten weitgehend unabhängig voneinander. Ein von General Aurel Aldea unternommener Versuch, die einzelnen Partisanengruppen zur Nationalen Widerstandsbewegung (Mişcarea Naţională de R ­ ezistenţă) zusammenzufassen, kam nicht zum Tragen. Der Rückhalt, den diese Widerstandsgruppen in der Bevölkerung fanden, wuchs in dem Maße an, in dem immer mehr und immer breitere Schichten von den Zwangsmaßnahmen des kommunistischen Regimes betroffen waren. Seit Beginn der Eintreibung von Zwangsabgaben der Bauern an den Staat und verstärkt nach dem Beginn der Kollektivierung der rumänischen Landwirtschaft ab 1949 wurden Personen, die sich diesen Maßnahmen verweigerten, verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. In vielen Ortschaften kam es daher zu Bauern­ aufständen gegen das Regime, die blutig unterdrückt wurden.8 Infolge der massenhaften Verfolgungsmaßnahmen, denen sich die Landbevölkerung – die rund 50 Prozent der Gesamtbevölkerung Rumäniens ausmachte – ausgesetzt sah, schlossen sich zahlreiche Bauern den Partisanengruppen an. Ihrem Beispiel folgten in zunehmendem Maße auch Juristen, Lehrer und Verwaltungsangestellte aus dem ländlichen Milieu, die von den neuen Machthabern ihrer Posten enthoben worden waren. Nach dem 1949 erfolgten Verbot der Unierten (griechisch-orthodoxen) Kirche, deren Anhänger gezwungen wurden, dem orthodoxen Glauben beizutreten, formierte sich eine starke Oppositionsbewegung von Priestern und Gläubigen, von denen einige ebenfalls zu den Widerstandsgruppen stießen. Zugleich wuchs im ganzen Land die materielle und logistische Unterstützung der Bevölkerung für die häufig, aber nicht nur, in den Gebirgsregionen operierenden Partisanenverbände. Eine Auswertung der Unterlagen der rumänischen „Gauck-Behörde“ Consiliul Naţional pentru Studierea Arhivelor Securităţii CNSAS (Nationalrat für die Erforschung der Archive der Geheimpolizei) ergab die Zahl von 1 196 Widerstandsgruppen, die zwischen 1948 und 1960 in Rumänien aktiv waren. Die Unterstützerszene der Widerständler wird auf mindestens 40 000 bis 50 000 Personen geschätzt.9 Gemäß einem Bericht der rumänischen Geheimpolizei Securitate waren im Jahre 1959 12 075 Personen wegen ihrer „Teilnahme an terroristischen Organisationen und Banden“ inhaftiert.10 Der Westen unterstützte die rumänischen Partisanen durch Sabotageaktionen und Rundfunksendungen in ihrem Glauben, dass der Kampf gegen das kommunistische, von der sowjetischen Besatzungsmacht gestützte Regime nur im Zuge einer Konfrontation zwischen den Großmächten entschieden werden ­könne. Die Losung hieß lange Zeit: „Vin americanii“ – „die Amerikaner k­ ommen“. Die blutige Unterdrückung des Ungarnaufstandes durch sowjetische Truppen machte die Hoffnungen, dass der Westen und allen voran die USA den „captive nations“ des Ostblocks im Falle ihrer Erhebung zu Hilfe eilen würde, zunichte.   8 Vgl. Dorin Dobrincu/Constantin Iordachi, Transforming Peasants, Property and Power: The Collectivization of agriculture in Romania, 1949–1962, Budapest 2009.   9 Vgl. Gheorghe Onişoru, Mişcarea armată de rezistenţă anticomunistă din România. 1944–1962, Bukarest 2003. 10 Tismăneanu/Dobrincu/Vasile (Hg.), Raport Final, S. 680.

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Das Jahr 1956 und die Folgen Stalins Tod im März 1953 blieb auch in Rumänien nicht ohne Folgen für den Kurs der Rumänischen Arbeiterpartei. Ihrer Heimatfraktion war es zwar schon 1952 gelungen, die von Stalin eingesetzte Moskauer Führungsgruppe um Ana Pauker, Vasile Luca und Teohari Georgescu zu entmachten. Im selben Jahr wurde auch das berüchtigte Umerziehungslager in Piteşti aufgelöst.11 Das politische Erdbeben, welches seit dem Bekanntwerden des Geheimberichts Nikita S. Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 die ­Staaten des Ostblocks erfasste, blieb nicht ohne Auswirkungen auf die innenpolitische Lage in Rumänien. Mit der Geheimrede Chruschtschows und dem von ihm eingeleiteten Prozess der Entstalinisierung verstärkte sich zudem der Druck verbliebener hochrangiger Vertreter der moskauhörigen Fraktion auf die Vertreter der Heimatfraktion, allen voran Gheorghiu-Dej, nun auch die rumänische kommunistische Partei von Anhängern Stalins zu säubern und die Macht abzugeben. Um seine Machtposition zu retten, ließ Gheorghiu-Dej den wegen seiner nationalkommunistischen Überzeugungen 1948 verhafteten Parteifunk­tionär Lucreţiu Pătrăşcanu – den „rumänischen Gomułka“ – im Jahre 1954 hinrichten. Zugleich wurden zwei parteiinterne Kritiker seines politischen Kurses, die auf den Moskauer Entstalinisierungskurs eingeschworenen Miron Constantinescu und Iosif Chişinevschi, aus dem Sekretariat des Zentralkomitees entfernt. Anstelle der Entstalinisierung, die, so die offizielle These, in Rumänien bereits vor Stalins Tod stattgefunden habe, setzte die Rumänische Arbeiterpartei einen Prozess der Entsowjetisierung in Gang, der mit einer Lockerung der starren ideologischen Orthodoxie und einer ersten vorsichtigen kulturpolitischen Liberalisierung einherging. Auf der Landeskonferenz des Schriftstellerverbandes im Juni 1956 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Dogmatikern und Vertretern eines liberalen Kurses in der Kulturpolitik. Eine zeitweilige Lockerung der Zensur sowie materielle Zugeständnisse verhinderten den Aufstand der Schriftsteller im Sommer 1956.12 Hingegen kam es wie in Ungarn und Polen zu erheblichen Unruhen in der Studentenschaft. Nach Meinung des prominenten Exilpolitikers und Politikwissenschaftlers Ghiţă Ionescu war Rumänien – im Vergleich zu den anderen ­Staaten des Ostblocks – dasjenige Land, in dem die Solidarität mit Ungarn besonders offen und stark geäußert wurde. Der Ungarnaufstand habe in Rumä­ nien eine für das dortige Regime hochgefährliche Situation entstehen lassen, die zu einem Ausbruch hätte führen können, wenn die Revolution im Nachbarland nicht niedergeschlagen worden wäre.13

11 Vgl. Virgil Ierunca, Piteşti, Madrid 1981. 12 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Partei und Literatur in Rumänien seit 1945, München 1975, S. 40–66. 13 Vgl. Ghiţa Ionescu, Communism in Romania, London 1964. Zit. nach der rumänischen Ausgabe Comunismul în România, Bukarest 1994, S. 306.

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Ersten Unmutsäußerungen rumänischer Studenten im Verlauf des Sommers 1956 versuchte die Parteiführung mit der Gründung von Studentenverbänden zu begegnen, doch mit Beginn des neuen Studienjahres eskalierte die Lage in den Hochschulzentren von Temeswar (Timişoara), Klausenburg (Cluj), Bukarest, Jassy (Iaşi) und Kronstadt (Braşov). Auf Flugblättern, aber auch auf Versammlungen des kommunistischen Jugendverbandes forderten die Studenten nicht nur die Abschaffung der Politisierung der Studienfächer sowie eine Verbesserung ihrer Lebens- und Studienbedingungen, sondern auch den Abzug der sowjetischen Truppen aus Rumänien, ein Ende der Zwangsabgaben in der Landwirtschaft etc. Am 23. Oktober 1956 riefen Klausenburger Studenten der rumänischen und der ungarischen Universität für den kommenden Tag zu einer großen Kundgebung im Sportstadion der Stadt aus, wo sie ihre Forderungen bekanntgeben wollten. Zwei Anführer der Studenten wurden verhaftet, die Demonstration unterbunden. Am 27. Oktober versammelten sich in Temeswar 3 000 Studenten. In Anwesenheit der Leitung des Polytechnischen Instituts sowie zweier Vertreter der kommunistischen Parteiführung aus Bukarest wurde den Studenten der Abzug der sowjetischen Truppen aus Rumänien, ein Ende des Einsatzes von politischen Sträflingen beim Bau des Donau-Schwarzmeerkanals, die Abschaffung der Arbeitsnormen in der Industrie und der Kollektivierung der Landwirtschaft, die Autonomie der Universitäten, Streichung des Russisch­ unterrichts und des Faches „Marxismus-Leninismus“ aus den Lehrplänen zugesagt. Zwar versprachen die Offiziellen den Studenten, ihre Forderungen an die Parteiführung weiterzuleiten, zugleich wurden aber 2 000 Teilnehmer der Kundgebung festgenommen, 900 von der Securitate verhört, 29 schließlich zu Haftstrafen von insgesamt 79 Jahren verurteilt, 81 von ihnen exmatrikuliert.14 In Bukarest planten Studenten für den 5. November eine Großdemonstration auf dem Universitätsplatz. Auf Flugblättern verbreiteten sie Forderungen, die, ähnlich wie in den anderen universitären Zentren, neben spezifischen Belangen der Studenten Themen von allgemeiner politischer und ökonomischer Relevanz ansprachen. Da die Organisatoren bereits am Vorabend festgenommen worden waren, fand die Kundgebung nur noch in Gegenwart einiger Dutzend Studenten statt. Allerdings wurden im Nachgang zahlreiche weitere Studenten verhaftet und wegen staatsfeindlicher Delikte zu Haftstrafen von bis zu fünf Jahren verurteilt. Zu ihnen gehörte der Anführer der Bukarester Studentenproteste, der Medizinstudent Alexandru Ivasiuc (1933–1977), der zu fünf Jahren schweren Kerkers mit anschließendem zweijährigem Zwangsaufenthalt in der Bărăgan-Steppe verurteilt wurde. Der Student der Philologie an der Bukarester Universität Paul Goma (geb. 1935) wurde zu zwei Jahren Gefängnis und fünf Jahren Zwangsaufenthalt verurteilt, weil er in einem Literaturzirkel einen

14 Ioana Boca, Romania after the Hungarian Revolution of 1956. The Reaction of the Authorities to Student Protests. In: János M. Rainer/Katalin Somlai, The 1956 Hunga­ rian Revolution and the Soviet Bloc Countries. Reactions and Repercussions, Budapest 2007, S. 38–47.

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Text über die Auswirkungen des Ungarnaufstandes auf rumänische Studenten vorgelesen hatte.15 Zeitgleich mit den Demonstrationen der Studentenschaften registrierten Partei und Geheimpolizei in zahlreichen Städten und ländlichen Gemeinden Rumäniens die zunehmend offen geäußerte Kritik an der prekären Versorgungslage, den überhöhten Arbeitsnormen und Zwangsabgaben. Auf Flugblättern wurde zum Aufstand gegen das kommunistische Regime und die sowjetischen Besatzer aufgerufen.16 Gemäß einer offiziellen Statistik der Behörden wurden im Jahre 1956 327 Personen verhaftet, im Jahre 1957 eine Anzahl von 1 017 Personen wegen „öffentlicher Agitation“ inhaftiert, 78 wegen der Verbreitung von Flugblättern und 852 Personen wegen „Aufwiegelns gegen die öffentliche Ordnung“.17 Im Anschluss an die Studentenproteste brachte die Parteiführung ein Maßnahmenprogramm zur Anwendung, das von einer Taktik des Lavierens zwischen „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ gekennzeichnet war. Einerseits wurden Forderungen der Studenten erfüllt. Der Unterrichtsminister und seine Stellvertreter wurden entlassen und Miron Constantinescu als neuer Minister ersetzt. Unmittelbar nach Beginn der Unruhen wurden Maßnahmen zu einer besseren Versorgung der Bevölkerung getroffen, im Januar 1957 wurde das System der Zwangsabgaben im Bereich der Landwirtschaft abgeschafft, der Kollektivierungsprozess unterbrochen, die Investitionsrate im Bereich der Industrie zeitweilig gesenkt.18 Die Führung war darauf bedacht, die Unterdrückung der Studentenunruhen auch mit der Notwendigkeit zu begründen, revisionistische Tendenzen ungarischer Studenten in Rumänien zu bekämpfen.19 Nachdem im November 1957 auf der Konferenz aller Ostblockparteien in Moskau eine neue, restriktive und neodogmatische Leitlinie für die Bruderstaaten festgelegt worden war, brachte die Rumänische Arbeiterpartei ein rigoroses Programm zur „Säuberung“ der Studentenschaft von „feindseligen“ und „unzuverlässigen Elementen“ zur Anwendung. In den folgenden Jahren wurden die Anforderungen an die „soziale Herkunft“ und die politische Einstellung der Studienanwärter bei den Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen verschärft.20

15 Gomas Gefängnisroman „Ostinato“, der 1971 erstmals in deutscher Übersetzung in der Bundesrepublik erschien, spiegelt ebenso wie der von Alexandru Ivasiuc 1970 in Rumänien veröffentlichter Roman „Păsările“ (Die Vögel) das Schicksal politischer Häftlinge wider, die sich nach ihrer Freilassung in der Wirklichkeit nicht mehr zurecht­ finden konnten. 16 Vgl. Ioan Munteanu, Manifestaţia anticomunistă a studenţilor de la Timişoara din octom­ brie 1956. Semnificaţia politică naţională. In: Analele Sighet 8, Bukarest 2000, S. 636. 17 Tismăneanu/Dobrincu/Vasile (Hg.), Raport Final, S. 689. 18 Vgl. Dennis Deletant, Teroarea comunistă în România. Gheorghiu-Dej şi statul poliţie­ nesc 1948–1965, Iaşi 2001, S. 198. 19 Der rumänische Parteifunktionär Valter Roman zitierte János Kádár mit den Worten „Gewährt Siebenbürgen Autonomie.“ In: Andreea Andreescu/Lucian Năstasă/Andrea Varga (Hg), Minorităţi etnoculturale. Mărturii documentare. Maghiarii din România (1956–1968), Cluj 2003, S. 130. 20 Tismăneanu/Dobrincu/Vasile (Hg.), Raport Final, S. 689.

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Ende 1958 setzte eine neue Welle des Terrors gegen Künstler und Wissenschaftler ein. Der Philosoph Constantin Noica, Schriftsteller wie Ion Negoiţescu, ­Nicolae Balotă, Ştefan Augustin Doinaş und Vasile Voiculescu wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Im April 1959 fand in Bukarest ein Schauprozess gegen den Komponisten Mihail Andricu und die Bildhauerin Miliţa ­Petraşcu statt. Einer besonders schweren Verfolgung waren in diesem Zeitraum auch und gerade rumäniendeutsche Intellektuelle und Schriftsteller ausgesetzt. Im Jahre 1958 fand in Kronstadt der sogenannte Schwarze-Kirche-Prozess21 gegen den dortigen Stadtpfarrer Konrad Möckel statt, 1959 wurde ebendort ein Schauprozess gegen eine Gruppe siebenbürgisch-sächsischer Schriftsteller – Hans Bergel, Wolf von Aichelburg, Andreas Birkner, Georg Scherg und Harald Siegmond – abgehalten. Sie wurden zu Zwangsarbeit zwischen 10 und 25 Jahren verurteilt, im Zuge der Begnadigung politischer Häftlinge kamen sie aber 1962 bzw. 1964 frei.22 Im Jahre 1958 wurde auch die zeitweilig unterbrochene Politik der zwangsweisen Kollektivierung der Landwirtschaft wieder aufgenommen und 1962 abgeschlossen. Mit diesem ungewöhnlich heftigen, wenn auch zeitlich begrenzten Rückgriff auf Methoden des politischen Terrors und der ideologischen Dogmatik wollten die rumänischen Kommunisten der Führung in Moskau offenbar signalisieren, dass sie die innenpolitische Lage im Griff haben. Zugleich diente diese neodogmatische Politik dazu, die definitive Ausschaltung des Tandems Miron Constantinescu – Iosif Chişinevschi, das Parteichef Gheorghiu-Dej als Verhinderer der Entstalinisierung nach sowjetischem Vorbild abgestempelt und herausgefordert hatte, zu legitimieren. Im Windschatten dieser von Moskau gesteuerten Flügelkämpfe gelang es der Heimatfraktion unter Gheorghiu-Dej langsam aber sicher, die Absetzbewegung der Rumänischen Arbeiterpartei von der sowjetischen Hegemonial- und Besatzungsmacht vorzubereiten. Der bereits mit der Moskauer Führung 1955 verhandelte und im Mai 1958 vereinbarte Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Rumänien war der erste wichtige Schritt in diese Richtung.23 Mit der Einleitung ihrer national gefärbten Autonomiepolitik von der Sowjetunion stellte sich die kommunistische Führung Rumäniens an die Spitze der von der Bevölkerung getragenen Oppositionsbewegung gegen die sowjetisch ­Besatzungsmacht. Nachdem sie den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen 1958 durchgesetzt hatte, opponierte die rumänische Führung, beginnend mit dem Jahr 1962, gegen die von der Sowjetführung geplante verstärkte Integration und Spezialisierung der RGW-Staaten (Walew-Plan) und setzte stattdessen auf eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den entwickelten westlichen Staaten. Die

21 Vgl. Karl-Heinz Brenndörfer/Thomas Şindilariu (Hg.), Der Schwarze-Kirche-Prozess 1957/58. Erlebnisberichte und Dokumentation, Braşov 2011. 22 Vgl. Peter Motzan/Stefan Sienerth (Hg.), Worte als Gefahr und Gefährdung. Schriftstel­ ler vor Gericht, München 1993. 23 Vgl. Sergiu Verona, Military Occupation and Diplomacy: Soviet Troops in Romania, 1944–1958, Durham 2001.

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ideologische Grundlage für die Autonomiepolitik bildete eine 1964 von der herrschenden kommunistischen Partei verabschiedete Erklärung, worin sie ihr Recht auf Unabhängigkeit innerhalb der kommunistischen W ­ eltbewegung postulierte. Im gleichen Jahr wurden auch die letzten sowjetischen „Berater“ aus Wirtschaft und Verwaltung nach Moskau zurückgeschickt. Zwischen 1962 und 1964 wurden die letzten politischen Häftlinge aus den rumänischen Gefängnissen und Gulags entlassen. Für den Zeitraum 1948 bis 1962 konnten Experten 550 000 von Militärgerichten verurteilte politische Gefangene identifizieren. Die Zahl der von Verwaltungsgerichten verurteilten politischen Häftlinge lag, so schätzt man, doppelt so hoch.24 Hingegen kann die Anzahl politischer Häftlinge für die Zeit nach 1964 nur schwer eruiert und noch schwieriger quantifiziert werden. Das liegt teilweise an dem im April 1968 erlassenen neuen Strafgesetzbuch, das, anders als das bis dahin geltende Gesetz, nicht mehr zwischen allgemeinen und politischen Strafen unterschied. Zwar sah auch das neue Gesetzbuch Haftstrafen für Delikte wie „Vergehen gegen die Sicherheit des Staates“ oder „Propaganda gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung“ vor,25 die aber nur selten Anwendung fanden. Zumeist wurden Regimekritiker wegen angeblicher krimineller Vergehen bestraft. Der prominenteste politische Häftling der Ceauşescu-Zeit war Radu Filipescu,26 der im Jahre 1983 in Bukarest 10 000 Manifeste verteilte, in denen er zu Demonstrationen gegen das Regime Ceauşescus aufrief. Er wurde zu zehn Jahren Haft in dem berüchtigten Gefängnis Aiud verurteilt. Aufsehen erregte auch der Fall des Ingenieurs Gheorghe Ursu, der 1985 wegen eines geheimen Tagebuchs denunziert wurde und aufgrund desselben Propagandatatbestands wie Filipescu in Untersuchungshaft kam, wo er gefoltert und schließlich von Mithäftlingen zu Tode geprügelt wurde.27

Arbeiterunruhen Auch in Rumänien gründete das kommunistische System auf dem ungeschriebenen Sozialkontrakt zwischen dem Regime und der Bevölkerung, der zufolge der kommunistische Wohlfahrtsstaat die Versorgung in den Bereichen Konsum, medizinische Versorgung und Sozialleistungen sicherstellte und die Bürger dieses Regimes zumindest akzeptierten, wenn auch nicht bejahten. Während

24 Romulus Rusan, Das repressive kommunistische System in Rumänien. In: Stéphane Courtois (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus 2. Das schwere Erbe der Ideo­lo­ gie, München 2004, S. 398. 25 Die Paragraphen 155–173. 26 Vgl. Helma Kennel, Es gibt Dinge, die muss man einfach tun. Der Widerstand des jungen Radu Filipescu, Freiburg i. Brsg. 1995. 27 Vgl. Adriana Oprea-Popescu, Ucis în bătaie pentru că a scris un jurnal intim. In: Jurnalul vom 4.3.2004 (http://jurnalul.ro/special-jurnalul/ucis-in-bataie-pentru-ca-a-scris-un-jurnal-­­ intim-71820.html; 7.11.2018).

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beginnend mit den 1950er-Jahren die Grundversorgung der Bevölkerung gesichert werden konnte, kam es in den 1960er- und 1970er-Jahren zu einer Erhöhung der Einkommen und Renten der Bürger, verbesserten Sozialleistungen und einem besseren A ­ ngebot an Konsumgütern.28 Im Zuge der Ölkrisen der 1970er-Jahre und dem kriegsbedingten Ausfall von Rumäniens wichtigsten Erdöllieferanten Iran und Irak, geriet die Wirtschaft, die auf massive Erdölimporte für ihre mit westlichen Krediten finanzierten überdimensionalen Raffineriekapazitäten angewiesen war, jedoch ins Stocken. Hilfe von der Sowjetunion war nicht zu erwarten, da Rumänien bereits zu Beginn der 1960er-Jahre aus dem im RGW üblichen Liefermechanismus von billigem sowjetischem Erdöl im Austausch für im Westen nicht konkurrenzfähige Waren ausgestiegen war. Als die westliche ­Finanzwelt nach der Polenkrise von 1980 in Panik geriet, stoppten die westlichen Banken ihre Kredite und Kreditgarantien für Rumänien. Das Land musste seine Zahlungsunfähigkeit erklären und – als einziges im Ostblock – im Verlauf der 1980er-Jahre seine Devisenschulden zurückzahlen. Gegen den Rat seiner Bankfachleute bestand Ceauşescu 1987 auf der beschleunigten totalen Rückzahlung aller Schulden.29 Die Spar- und Schuldentilgungspolitik des Regimes zeitigte verheerende Folgen für die Bevölkerung, aber auch für die Wirtschaft. Lebensmittelimporte wurden rigoros reduziert, die Ausfuhren von verarbeiteten Nahrungsmitteln zum Nachteil der landeseigenen Versorgung gesteigert. Im Jahre 1981 wurde die – 1954 ausgesetzte – Rationierung von Lebensmitteln wiedereingeführt, das Lebensmittelangebot für die Bevölkerung aufgrund eines regierungsamtlich verordneten Programms „für eine wissenschaftliche und rationelle“ Ernährung radikal beschränkt, der private Energiekonsum drastisch gekürzt. Um Kaufkraft abzuschöpfen, wurden die Arbeitnehmer verpflichtet, sogenannte Gesellschaftsanteile zu erwerben. 1986 wurde der staatlich garantierte Mindestlohn abgeschafft und durch den „Globalakkord“ genannten Leistungslohn ersetzt, wonach die Auszahlung des vollen Lohnes fortan an die Erfüllung bestimmter Planvorgaben gebunden war.30 Kein anderer Staat Osteuropas erreichte einen ähnlich kritischen Zustand wirtschaftlicher und sozialer Not und generalisierter Hoffnungslosigkeit wie Rumänien. Im August 1977 brach im Schiltal (Valea Jiului), einer traditionellen Bergbauregion im Südwesten des Landes, ein erster großer Streik aus, der größte Arbeiterstreik in der Geschichte des kommunistischen Rumänien.31 Auslöser 28 Vgl. Elena Dragomir, Perceptions of Socialist Security in Communist Romania. In: Zeithistorische Forschungen, 2 (2010), S. 213–219. 29 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Rumäniens Außenhandelspolitik nach der Schuldentilgung. In: Südosteuropa, 10 (1989), S. 573–607. 30 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Compulsory Labor and Payments, Romanian Situation Report/13, Radio Free Europe Research vom 11.9.1985. In: dies., The Ceauşescu Cult: Propaganda and Power Policy in Communist Romania, Bukarest 2000, S. 412–416. 31 Vgl. Raluca Nicoleta Spiridon, Greva minerilor din Valea Jiului (2–3 august 1977). In: Caietele CNSAS, 2 (2008), Bukarest 2008, S. 311–329 (http://www.cnsas.ro/ documente/caiete/Caiete_CNSAS_nr_2_2008.pdf; 7.11.2018).

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war das Gesetz Nr. 3 vom 30. Juni 1977, das eine Neuregelung der Renten aus der staatlichen Sozialversicherung und der Sozialfürsorge vorsah. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Gesetzes im Amtsblatt und noch bevor konkrete Anwendungsvorschriften und –normen ausgearbeitet wurden, kam es an mehreren Standorten zu Unmutsäußerungen der Bergarbeiter. Am 1. A ­ ugust 1977 wurde allen Bergarbeitern der Region, die eine Invaliditätsrente III. Grades bezogen, mitgeteilt, dass sie rückwirkend zum 1. Juli keine solche Rente mehr erhalten würden. Daraufhin kam es in einigen Ortschaften zu Unmutsäußerungen der Bergleute, nicht jedoch zur Anwendung von Gewalt. Um die sich anbahnenden Unruhen im Keim zu ersticken, entsandte die Bukarester Führung am 2. August mehrere Minister und Parteifunktionäre, angeführt von Ilie Verdeţ, Mitglied des Politischen Exekutivkomitees des ZK und Erster Vizepremierminister der Regierung, zu Verhandlungen mit den streikenden Arbeitern. Die Streikenden weigerten sich, mit dieser Delegation zu verhandeln und forderten Direktgespräche mit Staats- und Parteichef Ceauşescu. Am 3. August hatten sich in Lupeni zwischen 30 000 und 35 000 Bergleute eingefunden. Der gewählte Wortführer der Streikenden Constantin Dobre überreichte Ceauşescu eine Liste ihrer Forderungen, deren wichtigste folgendermaßen lauteten: Rückkehr zum Sechs-Stunden-Tag, verbesserte Arbeitsbedingungen und besserer Arbeitsschutz in den Bergwerken, eine verbesserte Versorgung mit Wohnungen, Konsumgütern und medizinischen Leistungen, Rücknahme des neuen Rentengesetzes, Rückkehr zur Praxis der Versorgung der Arbeiter unter Tage mit kostenloser Arbeitskleidung und einer warmen Mahlzeit am Tag, Straffreiheit für die Streikenden, Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für Frauen im Revier. Die sozialen und ökonomischen Forderungen der Bergarbeiter wurden im Wesentlichen erfüllt. Zwar fanden unmittelbar nach dem Streik keine Verhaftungen statt, wohl aber wurden mehr als 40 000 Bergwerksangestellte überprüft, 197 vorbestrafte Bergleute wurden angewiesen, das Schiltal zu verlassen, 15 Personen wurden wegen allgemeiner Straftaten (z. B. Störung der öffentlichen Ordnung) verurteilt. Auch der Wortführer der Bergleute Constantin ­Dobre wurde angewiesen, außerhalb des Schiltals in der Stadt Craiova, Wohnsitz zu nehmen.32 Wegen der Aufmerksamkeit, die dem Bergarbeiterstreik von 1977 im westlichen Ausland zuteil wurde, sahen die Behörden offenbar in seinem Falle von einer Strafverfolgung ab. Ähnlich wie der Streik der Bergarbeiter im Schiltal 1977 wurde auch die im Jahre 1981 ausgebrochene Revolte in der Bergbauregion Motru33 durch zeitnah verkündete Gesetze oder Maßnahmen der Regierung ausgelöst. Im Fall der Berg­arbeiter von Motru kam es am 19. Oktober 1981 zu einem Streik, nachdem die zwei Tage zuvor, andernorts seit dem Dezember 1980 geltenden Bestimmungen über die Rationierung von Brot und Mehlprodukten auch auf Bukarest und

32 Ebd., S. 324. 33 Vgl. Gheorghe Gorun, Rezistenţa la comunism. Motru ’981, Cluj 2005.

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die Bergwerksregionen ausgedehnt worden waren. Anders als 1977 im Schiltal nahm die Unzufriedenheit in Motru gewaltsame Formen an. Rund 3 000 bis 4 000 Streikende besetzten das Verwaltungsgebäude, in dem auch der Sitz von ­ pezialkräften Partei und Securitate untergebracht war. Die Revolte wurde von S niedergeschlagen, neun Personen wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Virgil Trofin, zwischen 1979 und 1981 Bergbauminister, verlor seinen Posten als Mitglied des Politischen Exekutivkomitees der Partei. Eine weitere Stufe der Eskalation erreichten die Unmutsäußerungen rumänischer Arbeiter am 15. November 1987, dem Tag von Kommunalwahlen, im siebenbürgischen Kronstadt, einem wichtigen Zentrum der rumänischen Industrie.34 Es war dies der erste Straßenprotest in der Geschichte des kommunistischen Rumänien. Der Unmut der Arbeiter des LKW-Werks „Steagul Roşu“ hatte sich bereits am 14. November entzündet, als ihnen nur die Hälfte des ihnen zustehenden Lohns ausbezahlt wurde. Am Morgen des 15. November marschierte eine Kolonne von Arbeitern in Richtung Stadtzentrum. Arbeiter anderer Werke und Studenten schlossen sich dem Demonstrationszug an, der vor dem Sitz der Kreisparteileitung auf ungefähr 8 000 Personen angewachsen war. Inzwischen wurden nicht nur Forderungen nach einer besseren Versorgung laut, sondern auch Rufe, die den Sturz Ceauşescus und das Ende der Diktatur forderten. Die Demonstranten stürmten das Parteigebäude und warfen Lebensmittel und Propagandamaterial aus den Fenstern. Am Abend wurden die Unruhen durch Spezialkräfte der Polizei niedergeschlagen, 300 ­Demonstranten verhaftet, 100 von ihnen wegen „Rowdytums“ verurteilt und an Arbeitsstellen in anderen Orten umgesiedelt.35 Die nach 1977 zunehmend häufigeren Protestbewegungen der Arbeiterschaft hatten auch in Rumänien zur Gründung von unabhängigen Gewerkschaften geführt, die allerdings ohne großen Zulauf blieben. Sie wurden von den Behörden sehr schnell aufgelöst und ihre Führungspersönlichkeiten verhaftet. So war im März 1979 die Freie Gewerkschaft der Arbeitnehmer Rumäniens (Sindicatul Liber al Oamenilor Muncii din România SLOMR) gegründet worden. Nachdem ihre Forderungen vom amerikanischen Rundfunksender Radio Free Europe verbreitet worden waren, wurden die Gründer der Gewerkschaft vom Geheimdienst verfolgt, einige verhaftet, andere, wie Vasile Paraschiv, in psychiatrische Anstalten verbracht.36

34 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Workers Protests Flaring Up, Romanian Situation Report/1, Radio Free Europe Research vom 6.2.1987. In: dies., The Ceauşescu Cult, S. 428–432. 35 Vgl. Marius Oprea/Stejărel Olariu, Ziua care nu se uită. 15 noiembrie 1987, Braşov 2002. 36 Vgl. Vasile Paraschiv, Lupta mea pentru sindicatele libere în România. Terorismul politic organizat de statul comunist, Iaşi 2005.

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Widerstand in den Streitkräften 1968 war ein Schlüsseljahr in der Geschichte des kommunistischen Rumä­nien. Dem neuen Parteichef Nicolae Ceauşescu war es nach seinem Machtantritt 1965 gelungen, seine Machtstellung im Inneren gegen den Widerstand der prosowjetischen Fraktion zu festigen. Diese Gruppierung, unter der Führung des langjährigen Innenministers Alexandru Drăghici, hatte gehofft, nach dem Tod des langjährigen Parteivorsitzenden Gheorghe Gheorghiu-Dej die Führung zu erringen und die seit Beginn der 1960er-Jahre eingeleitete Politik der ­Abgrenzung Rumäniens von der Sowjetunion rückgängig zu machen. Dabei bediente sich Ceauşescu des klassischen Instrumentariums innerparteilicher Auseinandersetzungen. Das reichte von strukturellen Änderungen im Bereich des Partei- und Staatsapparats über die Ausgrenzung und politische Neutralisierung von Repräsentanten gegnerischer Eliten bis zur Kooptierung neuer, loyaler Eliten. Dabei spielte in dieser Phase, anders als unmittelbar nach Kriegsende, die Fachkompetenz bei der Auswahl eine größere Rolle als Alter oder Dauer der Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei. Auf einer Plenartagung im März 1968 beschloss das ZK der RKP eine ­Lockerung ideologischer Zwänge, die eigentlich auf eine Distanzierung von sowjetischen Thesen zielte, von den Intellektuellen des Landes jedoch als ­Liberalisierung im Bereich von Kultur und Kunst interpretiert wurde. Auf ­einem weiteren Plenum im April 1968 erfolgte die Abrechnung der Partei mit den Terrormethoden, die sie in der Vergangenheit angewandt hatte. Der 1954 hingerichtete Parteifunktionär Lucreţiu Pătrăşcanu wurde rehabilitiert. Parteichef Ceauşescu konnte die Schuld dafür seinem Vorgänger Gheorghiu-Dej und dessen engsten Weggefährten aufbürden, ohne sich selbst zu belasten, da er erst einen Tag nach der Hinrichtung ins Politbüro gewählt worden war.37 Das Jahr 1968 bedeutete zugleich den Höhepunkt der Politik der ostentativen Abgrenzung von der Sowjetunion. Am 22. August 1968 verurteilte der Staats- und Parteichef Ceauşescu auf einer Massenversammlung in Bukarest die „Verletzung der Unabhängigkeit und Freiheit eines anderen Landes“ durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei – „einen so­zialistischen Bruderstaat“38 –, an dem Rumänien nicht teilgenommen hatte. Seine ostentative Unterstützung für die Prager Reformer sowie diese Philippika markierten Ceauşescus „charismatischen Moment“ und zugleich die Geburtsstunde seines Personenkults.39 Der Parteichef und die RKP erzielten einen nie wieder erreichten Grad der politischen und nationalen Legitimierung.40

37 Vgl. Gabanyi, Partei und Literatur, S. 40–45, 67–73, 78–91. 38 Text der Rede Ceauşescus unter http://www.scritub.com/istorie/Zborul-si-caderea-lui-­ Ceausesc22217422.php; 7.11.2018. 39 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, The Ceauşescu Cult, Bukarest 2000. 40 Vgl. Dragoş Petrescu, Continuity, Legitimacy and Identity: Understanding the Romanian August of 1968. In: Cuadernos de Historia Contemporánea, 31 (2009), S. 67–88.

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Aus Moskauer Sicht war die rumänische Führung mit ihrer Kritik zu weit gegangen. Zwar konnte der bereits geplante Einmarsch sowjetischer, ungarischer und polnischer Truppen41 durch eindringliche Warnungen des amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson und des chinesischen Außenministers Tschou En Lai verhindert werden, doch in der Folgezeit setzte die Moskauer Führung all ihre zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung, um Ceauşescu zu delegitimieren und sein Regime zu destabilisieren. Ceauşescus 1979 in die USA ­geflohener Chefspion Ion Mihai Pacepa berichtet, dass die Sowjetunion bereits im Juli 1969 die „Operation Dnjestr“ gestartet habe, deren Ziel es gewesen sei, in Rumänien einen sowjetloyalen Funktionär der RKP an die Macht zu ­bringen.42 Dabei standen die rumänischen Streitkräfte besonders im Fokus sowjetischer Umsturzpläne. Sowjettreue Offiziere sollten, so Pacepa, für einen Putsch zum Sturz Ceauşescus gewonnen werden und, „falls ein solcher nicht erfolgreich sein sollte, einen Vorwand für ein Eingreifen der Sowjetunion bieten“.43 Zwar hatte Bukarest seit Anfang der 1960er-Jahre als einziger Warschauer-Pakt-Staat keine Offiziere mehr zur Ausbildung in die Sowjetunion entsandt, doch in den Führungsrängen des rumänischen Militärs gab es immer noch Absolventen sow­ jetischer Führungsakademien.44 Im Anschluss an die August-Krise des Jahres 1968 wurden mehrere Offiziere der Befehlsverweigerung oder des Verrats von sicherheitsrelevanten Informationen an den sowjetischen Auslands- und den militärischen Geheimdienst überführt. Der prominenteste Fall betraf General Ion Şerb, ein Absolvent der Moskauer Militärakademie, der nach 1948 eine steile Karriere im Innen- und Verteidigungsministerium gemacht hatte. Im August 1968 kommandierte er die Truppen der II. Armee, denen die Verteidigung der Hauptstadt oblag. Im Juli 1969 wurde er versetzt, unter Beobachtung gestellt und 1971 in flagranti beim Geheimnisverrat an die Sowjets festgenommen. Şerb wurde degradiert und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er vier absitzen musste.45 Die aggressive Politik der sowjetischen Nachrichtendienste nahm die rumänische Staats- und Parteiführung zum Anlass, um die Verteidigungsarchitektur des Landes grundlegend neu zu gestalten. Im März 1969 wurde die Schaffung 41 Vgl. Martin Bright, Revealed: Britain on the Brink of War with Soviet Union in 1968. In: The Observer vom 8.1.2000. Gemäß britischen Geheimdienstquellen war der Einmarsch von 150 000 Warschauer-Pakt-Soldaten in Rumänien für den 22.11.1968, 4 Uhr morgens, geplant. 42 Vgl. Ion Mihai Pacepa, Cartea Neagră a Securităţii, Bukarest 2009, S. 117–121. 43 Ion Mihai Pacepa, Interview mit dem ungarischen Fernsehsender DunaTV. In: Jurnalul Naţional vom 3.3.2004. 44 Vgl. zwischen 1948 und 1967, dem ersten und dem letzten Absolventenjahrgang, hatten 1858 Offiziere der rumänischen Streitkräfte Militärakademien oder Fortbildungs­kur­ se in der Sowjetunion abgeschlossen. Vgl. Constantin Corneanu, Victorie însângerată Decembrie 1989, Bukarest 2014, S. 212 f. 45 Petre Opriş, Biografia unui spion sovietic – generalul Ion Şerb (http://www.art-emis.ro/ istorie/1977-biografia-unui-spion-sovietic-generalul-ion-serb.html; 7.11.2018).

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eines Nationalen Verteidigungsrats beschlossen, der dem Zentralkomitee der RKP sowie der Großen Nationalversammlung (dem Parlament) untergeordnet war. Das Ministerium der Streitkräfte wurde in Ministerium für Landesverteidigung umbenannt und ebenfalls unter die Kontrolle der Partei gestellt. Im Jahr 1974 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die dem Staatspräsidenten das Oberkommando über die Streitkräfte des Landes übertrug. Die Maßnahme diente der Sicherung der souveränen Ausübung der Befehlsgewalt über die nationalen Streitkräfte durch das Staatsoberhaupt, ein Alleinstellungsmerkmal Rumäniens im Warschauer Pakt. Rumänien entwarf eine neue eigene Militärdoktrin, der zufolge das Land ausschließlich Volkskriege zur Verteidigung des eigenen Territoriums gegen jedwede Feinde führen werde.46 Die Tätigkeit der Spione aus Staaten des Ostblocks, allen voran der Sowjetunion, wurde von ­einer neu gebildeten Abteilung der rumänischen Sicherheitsorgane beobachtet. Eine Gruppe ranghoher, in der Sowjetunion ausgebildeter Offiziere widersetzte sich der neuen Verteidigungspolitik. Dazu gehörten der damalige Verteidigungsminister Ion Ioniţă, sein Stellvertreter Vasile Ionel, Generalstabschef Ion Gheorghe und General Nicolae Militaru, Kommandeur der Garnison der Hauptstadt und wichtigster Akteur beim Staatsstreich gegen Ceauşescu im Dezember 1989. Zwar hatten sie auch Komplizen im Militärischen Abschirmdienst, dennoch wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren mehrere Spionagefälle für KGB und GRU (das Komitee für Staatssicherheit sowie den militärischen Nachrichtendienst der Sowjetunion) aufgedeckt und Putschversuche sowjetfreundlicher Offiziere gegen Ceauşescu vereitelt. Gegen die Mehrzahl der Offiziere, die der Spionage verdächtigt oder versuchter Umsturzversuche überführt wurden, ergriff die Staatsführung keine Repressalien, schickte sie aber vorzeitig in die Reserve oder versetzte sie in die zivile Wirtschaft. General Nicolae Militaru, bereits 1978 der Spionage für die Sowjetunion überführt, in die Reserve geschickt und zum stellvertretenden Bauminister ernannt, agitierte weiter. Für den Oktober 1984, dem Zeitpunkt eines geplanten Deutschlandbesuchs Ceauşescus, von dem er sich, anders als Erich Honecker und Todor Schiwkow, durch Drohungen Moskaus nicht abbringen ließ, hatte General Militaru gemeinsam mit anderen hochrangigen Reservisten (Ion Ioniţă, Stefan Kostyal, Admiral Radu Nicolae) und Parteifunktionären (Ion Iliescu, Virgil Măgureanu) konkrete Umsturzpläne entwickelt. Die Pläne wurden von zwei loyalen Generälen verraten. Es wäre jedoch verfehlt, anzunehmen, dass nicht auch in den Reihen des national gesinnten Militärs Unzufriedenheit mit einigen Aspekten der Politik Ceauşescus geherrscht hätte. Anfang 1983, zu einem Zeitpunkt, als die rumänische Führung nach dem Tode Breschnews bereits unter verstärkten Druck seitens der neuen Moskauer Führung geraten war, wurden auf einer Kommandeurstagung in Anwesenheit des Staats- und Parteichefs be46 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Friedenspolitik zwischen Autonomiestreben und Blockzwang. Überlegungen zum rumänischen Abrüstungsmodell. In: Südosteuropa, 1 (1984), S. 15–30.

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sonders ernste Vorbehalte gegen Ceauşescus Streitkräftepolitik geäußert. Die Unmutsäußerungen der Armee an der politischen Führung konnten nicht mehr gänzlich unterdrückt werden. Die Liste der von den Militärs vorgebrachten Beschwerden reichte von der schlechten Ausrüstung der Armee bis zu ihrem Missbrauch als billiger Arbeitskräftelieferant für wirtschaftliche Großprojekte des Landes. Nicht zuletzt aber fühlten sich die militärischen L ­ eistungseliten in ­ihrem Selbstverständnis dadurch verletzt, dass die Streitkräfte ihre hervorgehobene Stellung gegenüber den Truppen des Innenministeriums eingebüßt ­hatten.47 Entscheidend für den Erfolg des Staatsstreichs vom 22. Dezember 1989 war zweifellos auch die Tatsache, dass Victor Atanasie Stănculescu, als erster stellvertretender Verteidigungsminister für Fragen der Rüstungsindustrie und Ausrüstung der Streitkräfte verantwortlich war und Kontakte zu hochrangigen Vertretern der sowjetischen, ungarischen und britischen Geheimdienste pflegte.48 Stănculescu war ebenfalls eine Schlüsselfigur der rumänischen Revolution.

Opposition in der Partei Der hohe Identifikationsgrad der Bevölkerung mit der RKP und ihrem Vorsitzenden verhinderte eine Zeit lang das Auftreten einer nennenswerten Opposition aus den Reihen der national gesinnten Führungsgremien der Partei. Die wachsende äußere Bedrohung Rumäniens nach 1968 sowie die sich häufenden internen Umsturzversuche hatten aber einen Wandel der Personalpolitik ­Ceauşescus zur Folge. Er ging zunehmend dazu über, seine Macht entsprechend dem Loyalitätsprinzip auf einen immer kleineren Kreis von Funktionären zu reduzieren, bei deren Rekrutierung nicht länger fachliche Kompetenzkriterien, sondern patriarchalische Verwandtschafts- und Loyalitätsbeziehungen den Ausschlag gaben. Das geschah zum Nachteil jener jüngeren Intellektuellen, Künstler, Technokraten und Funktionäre, auf die er sich in den 1960er-Jahren gestützt hatte. Im Februar 1971 fand die im Frühjahr 1968 eingeläutete liberale Periode ein jähes Ende. Der Parteichef postulierte eine Rückkehr zur Ideologisierung und Instrumentalisierung von Kunst und Kultur, die sich in zunehmendem Maße auf Nationalgefühl, Massenkultur und den Kult des Parteichefs stützen sollten.49 Zu den im Juli 1971, im Zuge der sogenannten Kleinen Kulturrevolu­ tion entlassenen hohen Parteifunktionären gehörte auch Ion Iliescu. Er stieg unter Ceauşescu rasch zu dessen präsumtivem Dauphin auf. Zwischen 1967 und

47 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Ceauşescu Defends His Military Doctrine. Romanian Situation report/5, Radio Free Europe Research vom 17.3.1983. In: dies, The Ceauşescu Cult, S. 391–396. 48 Vgl. Corneanu, Victorie, S. 249 f. 49 Vgl. Gabanyi, Partei und Literatur, S. 162–195.

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Februar 1971 war er Minister für Jugendfragen, bis Juli 1971 ZK-Sekretär. Nach seiner Ablösung wirkte er bis 1974 als Vizeparteisekretär des Kreises Timiş und von 1974 bis 1979 als Erster Parteisekretär des Kreises Iaşi. Danach leitete er bis 1984 das Amt für Wasserwirtschaft und blieb so lange auch Mitglied des Zentralkomitees der RKP. Bis 1989 war er Direktor des Technischen Verlags. Dass er Gorbatschow während seines Studiums in Moskau kennengelernt habe, wurde behauptet, konnte aber nie bewiesen werden. Tatsache ist aber, dass er sich 1987 in einem Aufsatz als Anhänger der Perestroika zu erkennen gegeben hatte. Er sollte zur Hauptfigur der rumänischen Revolution werden.50 Widerspruch gegen die Politik und den Führungsstil des Staats- und Partei­ chefs regte sich in unterschiedlichen Gruppierungen der Partei und aus unterschiedlichen, zum Teil sogar gegensätzlichen Motiven. Vertreter der interna­tionalistisch orientierten „roten Aristokratie“ sahen sich vom „Emporkömmling aus Scorniceşti“ (Ceauşescus Geburtsort) um ihr in der Vorkriegszeit erworbenes klassenkämpferisches Renommee und ihre Privilegien betrogen. Auch Vertreter der national gesinnten Parteieliten zeigten sich besorgt über den wirtschaftlichen Niedergang des Landes, die wachsenden sozialen Spannungen und die fortschreitende Isolierung vom Westen. Am Ende einte die Unzufriedenheit mit Ceauşescu Technokraten und Bürokraten, alte Feinde und alte Freunde des Diktators. Für die örtlichen Parteifunktionäre gestaltete sich die Gratwanderung zwischen den Auflagen der politischen Führung und der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung ebenfalls immer schwieriger. Mit dem Beginn der Schuldenkrise in den 1980er-Jahren machte sich in breiten Kreisen der Parteifunktionäre die Befürchtung breit, dass sie bei einem eventuellen Sturz des Regimes mit in die Tiefe gerissen werden könnten. In den 1980er-Jahren ging Ceauşescu auch mit dem Parteiapparat als solchem auf Kollisionskurs. In dem Maße, wie er seine persönlichen Machtbefugnisse ausweitete, wurde der politische Einfluss der Partei- und Staatsbürokratie herabgestuft. Sein 1982 geäußerter Vorschlag, den berufsmäßigen Parteifunktionären die Qualität professioneller Revolutionäre abzusprechen, scheiterte am offenen Widerstand der Betroffenen. Die Funktionäre wollten weder auf ihren traditionellen, von Lenin begründeten elitären Status verzichten, noch auf die damit verbundenen wirtschaftlichen Privilegien.51 Auf Zusammenkünften des Zentralkomitees der RKP oder des übergeordneten Politischen Exekutivkomitees wurde, wie zwischen den Zeilen der Presse zu lesen war, Kritik an Ceauşescus politischer und ökonomischer Gesamtstrategie geäußert, speziell an der forcierten Industrialisierung

50 Vgl. Gabanyi, Die unvollendete Revolution. Rumänien zwischen Diktatur und Demo­ kratie, München 1990, S. 22–27. 51 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Ceauşescu Retreats Before Recalcitrant Nomenklatura. In: Romanian Situation Report 15, Radio Free Europe Research vom 30.8.1983. In: dies, The Ceauşescu Cult, S. 223–229.

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zum Schaden der Landwirtschaft, der Reformfeindlichkeit und den Autarkiebestrebungen des Regimes, aber auch an seinem „sultanistischen“ Personenkult.52 Mediale Aufmerksamkeit erregte der – im rumänischen Fernsehen live übertragene – Auftritt von Constantin Pîrvulescu, Gründungsmitglied der RKP, auf dem 12. Parteitag vom November 1979.53 In seiner Rede beschuldigte er Parteichef Ceauşescu, die wahren Probleme des Landes zu vernachlässigen und sich stattdessen nur um seine Wiederwahl zu kümmern. Er kündigte an, selbst nicht für dessen Wiederwahl stimmen zu wollen. Pîrvulescu, damals 84 Jahre alt, war eines der ältesten und zweifellos auch der umstrittensten Mitglieder der RKP. Die meiste Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hatte er in der Sowjetunion, deren Staatsbürgerschaft er besaß, verbracht. Zwischen 1945 und 1960, als er wegen seiner Beziehungen zu den „Fraktionisten“ Iosif Chişinevschi und Miron Constantinescu in Ungnade fiel, war Pîrvulescu Mitglied des Zentralkomitees, Vorsitzender der Kontrollkommission des ZK und von 1952 bis 1960 auch Mitglied des Politbüros. Das hinderte Pîrvulescu jedoch nicht daran, auf Ple­ nartagungen des Zentralkomitees 1968 gegen die rumänische Abweichung von der sowjetischen Chinapolitik und 1969 gegen die Weigerung der rumänischen Führung, die von Moskau propagierte Politik der vorangetriebenen Integra­tion und Spezialisierung im RGW mitzutragen, zu protestieren. In seiner Replik auf die Rede Pirvulescus bezeichnete Ceauşescu diesen als einen notorischen Versager, Intriganten und Provokateur, welcher nie der Partei und dem Volk, sondern deren Feinden gedient habe. Im Jahr 1980 wurde Pîrvulescu aus der Partei ausgeschlossen. Zu den Dissidenten aus den Reihen der Parteiführung wird auch Károly Király gezählt, ein stellvertretendes Mitglied des Politischen Exekutivkomitees der RKP, der 1972 sein Amt als Parteisekretär des Kreises Covasna wegen einer privaten Affäre verloren hatte. Seine Kritik richtete sich gegen die Minderheitenpolitik des Regimes. In einem im Jahre 1981 an die UNO und an die KSZE gerichteten Memorandum forderte er die Gründung der Sozialistischen Republik Siebenbürgen im Rahmen der Gemeinschaft der sozialistischen Staaten.54 Király hatte eine Ausbildung in der Sowjetunion durchlaufen und genoss das besondere Wohlwollen Gorbatschows. Er war ebenfalls eine wichtige Figur des revolutionären Staatsstreichs: Nach dem Sturz Ceauşescus ernannte Ion Iliescu ihn zum stellvertretenden Vorsitzenden der neuen Machtstruktur „Rat der Front der Nationalen Rettung“ und damit zum zweiten Mann im Staate. Am 22. März 1989 sendeten die BBC und Radio Free Europe in rumänischer Sprache einen Brief an den Staatspräsidenten Ceauşescu, der von sechs Vertretern der alten Garde der Rumänischen Kommunistischen Partei unterzeichnet

52 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Die Nationalkonferenz der Rumänischen KP. Ceauşescu in der Defensive, jedoch kein Kurswechsel. In: Südosteuropa, 4 (1988), S. 117–127. 53 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Der XII. Parteitag der Kommunistischen Partei Rumäniens. Autonomiepolitik im Zeichen der Energiekrise. In: Osteuropa, 5 (1980), S. 419–433. 54 Vgl. Neagu Cosma/Dumitrescu Marinescu, Fapte din umbră, Bukarest 1983, S. 142.

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worden war: Gheorghe Apostol, Alexandru Bârlădeanu, Corneliu Mănescu, Constantin Pîrvulescu, Grigore Răceanu und Silviu Brucan. Der „Brief der Sechs“ wurde als mutiges Manifest rumänischer Reformkommunisten gepriesen, die es gewagt hatten, sich Ceauşescu entgegenzustellen. Tatsächlich handelt es sich bei den Unterzeichnern mit Ausnahme von Corneliu Mănescu, der von 1961 bis 1972 Außenminister und Mitarchitekt der autonomen rumänischen Außenpolitik war, um vom Kurswechsel in Rumänien enttäuschte Altstalinisten mit notorisch engen Beziehungen zur Sowjetunion.55 Ceauşescu, so heißt es in dem „Brief der Sechs“, diskreditiere „jene Idee des Sozialismus, für die wir gekämpft haben“, und missbrauche die „Securitate, die wir geschaffen haben mit dem Ziel, die sozialistische Gesellschaft gegen die ausbeutenden Klassen zu verteidigen“. Neben ideologischer Fundamentalkritik enthält der Text einen Katalog der unter dem Regime Ceauşescus verletzten Verfassungsgrundsätze, Minderheiten- und Menschenrechte, eine Darstellung der katastrophalen wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung und warnende Hinweise auf die drohende ­außenpolitische Isolierung des Landes. Die Unterzeichner forderten ein Ende der „Dorfzerstörung“,56 die Einhaltung der Menschenrechte gemäß den Prinzipien der KSZE und ein Ende der Nahrungsmittelexporte. Mit ihrem Brief wollten die Unterzeichner nach eigenem Bekunden „einen Keil zwischen Ceauşescu und die Masse der Parteimitglieder treiben, um auch in Rumänien einen Reformflügel zu schaffen“. Inhalt und Zeitpunkt der Veröffentlichung waren, so der in Ost wie West vernetzte Silviu Brucan, mit Washington, London und Moskau abgesprochen. Ende 1988 habe er bei Besuchen führende Persönlichkeiten in den USA, Großbritannien und der Sowjetunion – dabei Michail Gorbatschow persönlich – getroffen, der auf eine „konzertierte internationale Aktion zum Sturz Ceauşescus hinzielte“.57 Gorbatschow sei mit der Aktion einverstanden gewesen, unter der Bedingung, dass die kommunistische Partei als führende Kraft in Rumänien beibehalten werde.58 Nach Veröffentlichung des Briefes wurden dessen Unterzeichner verhört und zu Hausarrest verurteilt. Entgegen ihren Erwartungen trat der erhoffte Mobilisierungseffekt nicht ein. Allein Ion Iliescu setzte im April 1989 zusammen mit Virgil Măgureanu,59 einem weiteren moskaunahen „Dissidenten“, einen ähnli55 Vgl. Gheorghe Apostol/Alexandru Bârlădeanu/Corneliu Mănescu/Constantin Pîrvules­ cu/Grigore Răceanu/Silviu Brucan, „Letter of the Six“, March 1989. In: Making the History of 1989. Item #698, https://chnm.gmu.edu/1989/items/show/698 ; 5.2.2017. 56 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Ceauşescus Systematisierung. Territorialplanung in Rumä­nien. In: Südosteuropa, 5 (1989), S. 235–257. 57 Grigore Cartianu, „Scrisoarea celor 6“: Poştaşul vine de la Moscova (http://www. liter­aturadeazi.ro/rubrici/istoriile-mele/scrisoarea-celor-6-postasul-vine-de-la-moscova-­­ 20157; 7.11.2018). 58 Vgl. Silviu Brucan, Generaţia irosită, Bukarest 2007. 59 Soziologieprofessor an der Parteihochschule „Stefan Gheorghiu“ und Mitarbeiter des rumänischen Auslandsgeheimdienstes SIE. Im Dezember 1989 gehörte er zu den Mit­ gliedern des Tribunals, welches die Ceauşescus zum Tode verurteilte. Danach wurde er zum Direktor des neuen rumänischen Nachrichtendienstes SRI ernannt.

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chen Text auf, den er dann aber verwarf. Da die Securitate Iliescu schon längere Zeit observierte, gelangte sie nun zu der Überzeugung, dass Iliescus Beziehung zum KGB außer Zweifel stand.60 Iliescu wurde verwarnt, Măgureanu auf einen Posten in der Provinz verbannt. Auf dem XIII. Parteitag der RKP Ende November 1989 rebellierten weder die Delegierten noch Vertreter der Parteiführung gegen Ceauşescu. Tatsächlich gab es in Rumänien – anders als in einigen anderen Warschauer-Pakt-Staaten – innerhalb der RKP keinen Reformflügel, der ihn hätte absetzen können.

Widerstand in den Geheimdiensten Die rumänischen Geheimdienste wurden nach ihrer Gründung 1948 bzw. 1951 von sowjetischen Beratern nach sowjetischem Vorbild aufgebaut, geführt und kontrolliert.61 In den 1940er- und 1950er-Jahren wurden die grausamsten ­Verbrechen an der rumänischen Bevölkerung begangen, Widerstandshandlungen gegen das kommunistische System und die sowjetischen Besatzer auf brutale Art und Weise unterdrückt. Seit dem Jahre 1956 setzte sich die Führung der Rumänischen Arbeiterpartei für einen Rückzug der sowjetischen Truppen und Berater ein. Nach 1961 entsandte der rumänische Staat keine Geheimdienstmitarbeiter mehr zur Ausbildung an das Moskauer „Felix Dserschinski“-Institut, ein Jahr später wurde das „Büro Sozialistische Länder“ zur Überwachung der Spionagetätigkeit sowjetischer Agenten auf rumänischem Territorium eingerichtet. Im gleichen Jahr beendete Rumänien auch die Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten der anderen Warschauer-Pakt-Staaten. Nach der Invasion der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Paktes wurde in Rumä­ nien eine neue Einheit des Geheimdienstes (UM 0110) ins Leben gerufen, die sich vorwiegend mit den als feindlich eingestuften Spionagetätigkeiten von KGB und GRU, aber auch mit der Tätigkeit der ungarischen und jugoslawischen Dienste auf rumänischem Territorium beschäftigte.62 Obwohl Rumänien die Zusammenarbeit seiner Geheimdienste mit den Diensten des Ostblocks bereits 1972 gekappt hatte, gab es immer noch Funk­ tionäre in vorwiegend höheren Dienststellen, die in der Sowjetunion ausgebildet oder vom KGB rekrutiert worden waren. Dies erklärt die zunehmend häufigen Absetzbewegungen rumänischer Mitarbeiter des ­Auslandsgeheimdienstes

60 Vgl. Alex Mihai Stoenescu, Cronologia evenimentelor din decembrie 1989, Bukarest 2009, S. 30. 61 Vgl. Dorin Dobrincu, The Soviet Counsellors’ Involvement in Postwar Romanian Repressive and Military Structures. In: Alexandru Zub/Flavius Solomon/Oldrich Tuma/ Jiri Indra (Hg.), Sovietization in Romania and Czechoslovakia. History, Analogies, Con­ se­quences, Jassy 2003, S. 157–160. 62 Liviu Ţăranu, Evoluţia spionajului românesc după defecţiunea generalului Ion Mihai Pacepa. In: Anuarul Muzeului Marinei Române, IX (2008), S. 282–294.

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SIE ins westliche Ausland. Bis 1978 konnten sich in der Führungsetage der rumänischen Auslandsspionage zwei langjährige Agenten des KGB63 etablieren, die zudem auch engste sicherheitspolitische Berater des Staatspräsidenten und Parteichefs Ceauşescu waren: der Leiter der Auslandsspionage SIE und stellvertretender Innenminister Nicolae Doicaru und sein Stellvertreter Ion Mihai Pacepa. Im Rahmen der Auslandsspionage war Pacepa persönlich für die Gegenspionage, das heißt Ausspähung von „Verrätern“ innerhalb des eigenen Dienstes, verantwortlich.64 Im Juli 1978 setzte er sich in die Bundesrepublik ab, die ihn in die USA weiterreichte, wo er, zur Überraschung amerikanischer Regierungskreise, für die er offenbar zuvor nicht tätig gewesen war, um politisches Asyl ersuchte. Wenige Monate vor Pacepas Flucht war sein Vorgesetzter Doicaru, möglicherweise als Reaktion auf die Enttarnung Nicolae Militarus als Spion des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU, auf den Posten des Ministers für Tourismus abgeschoben und wenige Monate später in die Reserve versetzt worden.65 Der konkrete Anlass könnten begründete Korruptionsvorwürfe gegen ihn gewesen sein, was seinen Hoffnungen auf eine Ernennung zum Chef des Auslandsgeheimdienstes ein Ende machte. Aufgrund nach 1989 neu erschlossener Quellen steht aber fest: Ziel und Zweck von Pacepas Flucht war einerseits die Destabilisierung der rumänischen Geheimdienste und andererseits die Beschädigung der amerikanisch-rumänischen Beziehungen.66 Das Ereignis löste eine Welle von Umbesetzungen und eine tiefgreifende Reorganisation des Departements für Auslandsaufklärung aus, allerdings ohne den erhofften Erfolg. Bis zu seinem Sturz konnte Ceauşescu weder die Geheimpolizei „Securitate“ noch den Auslandsdienst wieder völlig unter seine Kontrolle bringen. Allerdings war es nicht nur den Diensten der „Bruderländer“, sondern auch westlichen Organisationen gelungen, rumänische Institutionen zu unterwandern. Der bekannteste Spion im Dienste der USA, Mircea Răceanu, seit 1959 im rumänischen Außenministerium im Bereich der Beziehungen zu den USA tätig und von 1982 bis 1989 Leiter der Amerika-Abteilung, wurde im Januar 1989 festgenommen und wegen Spionage für die USA seit 1974 zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde wenig später in eine 20-jährige Haft umgewandelt.67 Zu jenem Zeitpunkt waren die amerikanisch-rumänischen Beziehungen bereits auf einem

63 Pacepa selbst erklärte, dass er während seiner gesamten Geheimdienstkarriere im Dienste des KGB gestanden habe vgl. Misteriosul domn Pacepa (http://adevarul.ro/ news/eveniment/misteriosul-domn-pacepa-1_5151d9cd00f5182b8553b5cf/index. html). 64 Vgl. http://www.ziaristionline.ro/2016/07/12/pacepa-a-fost-seful-ucigasilor-die-document-­ cnsas-exclusiv/; 7.11.2018. 65 Vgl. Constantin Olteanu, O viaţă de om. Dialog cu jurnalistul Dan Constantin, Bukarest 2012, S. 127–136. 66 Vgl. http://adevarul.ro/news/eveniment/misteriosul-domn-pacepa-1_5151d9cd00f5182b­ 8553b5cf/index.html; 7.11.2018.

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Tiefpunkt angelangt. Unter dem Druck der USA verzichtete Rumänien 1988 von sich aus auf eine Weiterführung der seit 1975 gewährten Meistbegünstigungsklausel im Handel mit den USA, um einer zu erwartenden Kündigung durch Washington zuvorzukommen.68

Entfremdung und Widerstand der Intellektuellen Während der 1960er-Jahre waren der Rückgriff der Parteiführung auf natio­ nale Traditionen, die Rehabilitierung zahlreicher während der 1950er-Jahren mit Berufsverbot belegten Wissenschaftler und Künstler und nicht zuletzt die Westorientierung der rumänischen Außenpolitik ursächlich für die Bereit­ schaft dieser neuen Parteieliten, die Politik der rumänischen Führung zu unterstützen.69 Die 1968 einsetzende akute äußere Bedrohung Rumäniens seitens des östlichen Bündnisses sowie die unmittelbar nach 1968 einsetzenden internen Umsturzversuche führten 1971 zu einem Wandel der Herrschaftspolitik ­Ceauşescus. Nun fühlte sich die Partei erneut von den Intellektuellen und Künstlern herausgefordert, das Misstrauen auf beiden Seiten wuchs. In der Folge verschärfte die Securitate den Druck auf die Bevölkerung. Praktiken der Überwachung der Bevölkerung oder Paragrafen der Strafgesetzgebung aus den 1950er-Jahren wie die Vorschrift, Schreibmaschinen bei der Polizei registrieren zu lassen oder den Behörden Unterhaltungen mit Ausländern zu melden, wurden erneut in Kraft gesetzt. Oppositionelle und Dissidenten wurden überwacht, eingeschüchtert, entlassen oder auf der Basis scheinbar unpolitischer Anklagen wie „Parasitismus“ (d. h. das Fehlen einer geregelten Arbeit) zu Gefängnisstrafen verurteilt oder in psychiatrische Anstalten gesperrt.70 Im Jahre 1977 wurde die Zensur abgeschafft, was aber de facto nur die Abschaffung der zentralen Zensurbehörde bedeutete, während die Verantwortung für literarische Werke auf die Autoren und die Leiter der Verlage und Zeitschriften übertragen wurde. Im Ergebnis kam dies einer weiteren Beschränkung der künstlerischen Freiheit gleich. Stattdessen setzte Ceauşescu, dessen Herrschaftsstil immer deutlicher

67 Vgl. Corneanu, Victorie, S. 285–287. 68 Vgl. Cum a renunţat Ceauşescu la clauza naţiunii celei mai favorizate (http://www. historia.ro/exclusiv_web/general/articol/cum-renun-ceau-escu-clauza-na-iunii-celei- mai-­favorizate; 7.11.2018). 69 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Systemwechsel in Rumänien. Von der Revolution zur Trans­ formation, München 1998, S. 53–66. 70 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, The Ceauşescu Era – An Era of Restrictions, Romanian Situa­ tion Report/10, Radio Free Europe Research vom 26.6.1985; dies., New Restrictions on Typewriters and Copying Machines, Romanian Situation Report/7, Radio Free Europe Research vom 19.4.1983; dies., Human Rights in Romania: Restrictions on Travel and Contacts, Research and Analysis Department Background Report/51, Radio Free ­Europe Research vom 11.4.1986. In: Gabanyi, The Ceauşescu Cult, S. 367–378, 397–400, 417–427; dies., Rumänien im Zeichen von Perestrojka und Glasnost. Von der Scheinreform zur Gegenreform“. In: Osteuropa, 8 (1989), S. 746–759.

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autoritäre Züge annahm, zunehmend auf eine nationalistische Rhetorik, eine Mobilisierung der Massen und einen ausufernden Personenkult, der auch seine Frau Elena und seinen Sohn Nicu einschloss.71 In der Folge kam es in Rumänien zu einer Annäherung zwischen Ceauşescu-­ feindlichen, vorwiegend vom Zentrum der Macht entfernten Funktionseliten und Vertretern der modernisierungswilligen Bildungseliten. Jüngere, gebildete Parteifunktionäre fühlten sich ebenso wie aufstrebende Angehörige von Armee und Sicherheitsdienst um ihre Aufstiegshoffnungen gebracht. Wissenschaftler und Künstler zeigten sich über das jähe Ende der relativen Liberalisierungspolitik der 1960er-Jahre enttäuscht. Es entstanden zahlreiche untereinander vernetzte Gruppen. Diese Netzwerke und Seilschaften hatten einen erheblichen Anteil an der Entstehung des politischen Mobilisierungspotenzials gegen das CeauşescuRegime. Im Zentrum mehrerer solcher Loyalitätsketten stand Ion Iliescu, der wohl geschickteste „Kommunikator“ in Rumänien vor der Wende und neue „starke Mann“ nach der Wende. Über Virgil Măgureanu stand Iliescu im Kontakt zur Parteiakademie „Ştefan Gheorghiu“, einem der wichtigsten Kristallisationspunkte Ceauşescu-feindlicher Funktionäre. Die bekannteste informelle Seilschaft stellte die sogenannte Trocadero-Gruppe dar,72 ein Bukarester Debattierclub, in dem sich Mitarbeiter der Gesellschaft für Völkerrecht und Internationale Beziehungen (Asociaţia de Drept Internaţional şi Relaţii Internaţionale ADIRI), des Instituts für Politische Studien und des Instituts für Weltwirtschaft trafen. Aus dieser Gruppe gingen nach 1989 unverhältnismäßig viele führende Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Presse hervor, die der neuen Macht­ elite nahestanden. Wie überall im ehemals kommunistischen Machtbereich veränderte die Veröffentlichung der KSZE-Schlussakte im Jahre 1975 die oppositionelle Szene von Grund auf. Die Berufung auf Menschen- und Minderheitenrechte, auf religiöse Freiheiten, auf Rede- und Reisefreiheit gehörte fortan zum Instrumentarium all jener, die gegen die herrschenden kommunistischen Regime protestieren und ihre Rechte durchsetzen wollten. Der rumänische Vorkämpfer auf diesem Gebiet war der Schriftsteller Paul Goma. Bereits 1971 hatte er in Frankfurt am Main seinen Gefängnisroman „Ostinato“ veröffentlicht, der ihm das Prädikat eines „rumänischen Solschenizyns“ einbrachte. 1973 veröffentlichte er einen aufsehenerregenden Aufsatz in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zum Thema der Zensur in Rumänien und 1977 erklärte er in einem Brief an Pavel Kohout seine Solidarität mit den Unterzeichnern der Charta 77. Die Unterstützung für Goma in Rumänien war gering, viele Unterzeichner wurden von der Securitate verhört. Ein einziger prominenter Schriftsteller, der Lyriker und Literatur­

71 Vgl. Gabanyi, The Ceauşescu Cult, S. 17–151. 72 „Trocadero“ war der Name eines Bukarester Restaurants, in dem die Zusammenkünfte der Gruppe stattfanden.

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historiker Ion Negoiţescu, bekannte sich zu Gomas Aktion.73 Zwischen April und Mai 1977 war Goma in Haft, im November 1977 ging er, wie viele weitere Schriftsteller und Intellektuelle, ins westliche Exil. Im März 1977 übergab der Historiker Vlad Georgescu dem amerikanischen Botschafter in Bukarest ein Programm der Dissidentenbewegung in Rumänien. Er wurde verhaftet, auf Drängen der USA aber wieder freigelassen und konnte 1979 in die USA emigrieren. Mit seiner Ernennung zum Leiter der rumänischen Rundfunkabteilung von Radio Free Europe wurde der Sender zum wichtigsten Instrument für die Verbreitung von Appellen und kritischen Analysen, verfasst von Intellektuellen wie Mihai Botez, Dorin Tudoran, Doina Cornea, Mircea ­Dinescu, Radu Filipescu u. a.74 Diese Texte wurden mit der Unterstützung westlicher Diplomaten ins Ausland geschafft und dort verbreitet.75 Eine Anzahl dieser Dissidenten trafen sich regelmäßig im Landhaus eines hohen Funktionärs der Ceauşescu-Administration, Gheorghe (Gogu) Rădulescu, der seit der Zwischenkriegszeit in der RKP aktiv, Mitglied des Obersten Präsidiums des Politischen Exekutivkomitees und als stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates der zweite Mann im Staate war.76 Eine im Selbstverlag gedruckte Zeitung „România Liberă“ wurde im Januar 1989 kurz vor ihrer Fertigstellung beschlagnahmt, der verantwortliche Journalist Petre Mihai Băcanu und sechs seiner Kollegen kamen in Haft und wurden erst nach dem Sturz Ceauşescus wieder auf freien Fuß gesetzt.77

Die Minderheiten zwischen nationalistischem Protest und ­Ausreise Im Kontext der internationalen Kritik an den Verstößen gegen die KSZE-Prinzipien in Rumänien spielte die Lage der Minderheiten eine ständig wachsende Rolle. Für die deutsche Minderheit stand die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund. Die Übersiedlung war für eine größere Zahl von Rumänien­ deutschen jedoch erst nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Rumänien am 31. Januar 1967 m ­ öglich.78

73 Vgl. Virgil Tanase, Dossier Paul Goma. L’écrivain face au socialisme du silence, Paris 1977. 74 Zur Bedeutung des Senders für die Revolution des Jahres 1989 vgl. Dragoş Petrescu, Die internationalen Medien und der Zusammenbruch des Kommunismus in Ungarn und Rumänien: Eine vergleichende Analyse. In: Detlev Pollack/Jan Wielgohs (Hg.), Akteure oder Profiteure? Die demokratische Opposition in den ostmitteleuropäischen Regimeumbrüchen 1989, Wiesbaden 2010, S. 151–166. 75 Vgl. Corneanu, Victorie, S. 306–319. 76 Vgl. The New York Times vom 27.12.1989; ausführlich Augustin Buzura, Tentaţia risipirii, Bukarest 2003, S. 37–45. 77 Vgl. http://jurnalul.ro/scinteia/special/arestari-la-romania-libera-318572.html. 78 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Ausreiseanspruch gegen völkerrechtliche Anerkennung – ­Rumänien und die Bundesrepublik Deutschland. In: Othmar Nikola Haberl/Hans Hecker (Hg.), Unfertige Nachbarschaften. Die Staaten Osteuropas und die Bundes­ republik Deutschland, Essen 1989, S. 69–90.

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Nach der Veröffentlichung der KSZE-Schlussakte stiegen die Aussiedlerzahlen rasant an. 1978 traf Bundeskanzler Helmut Schmidt mit Ceauşescu eine Vereinbarung, wonach Rumänien sich verpflichtete, jährlich zwischen 12 000 und 16 000 Personen die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zu gestatten. Im Gegenzug sagte der Bundeskanzler die Zahlung eines Pauschalbetrags pro Aussiedler zu, der bis 1989 ansteigen sollte.79 Die stetig wachsenden Aussiedlerzahlen entfalteten eine fatale Eigendynamik: Die örtlichen Gemeinschaften zerfielen, sinkende Lehrer- und Schülerzahlen an den deutschen Schulen führten zu einem verschlechterten Unterrichts- und Bildungsangebot auch für jene Rumäniendeutsche, die noch nicht zur Ausreise entschlossen waren.80 Zu den Paradoxa der Oppositionsgeschichte in Rumänien gehört die sogenannte Aktionsgruppe Banat, eine Gruppe junger rumäniendeutscher Schriftsteller, die sich mit gewagten Thesen und frechen Texten zu einem Zeitpunkt zu Wort meldeten, als die Phase der kulturpolitischen Liberalisierung bereits offiziell beendet worden war. Hervorgegangen war die Aktionsgruppe 1972 aus dem offiziellen Literaturkreis der Temeswarer Germanistikfakultät. Einige ihrer Gründungsmitglieder – Richard Wagner, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, Johann Lippet, William Totok und Werner Kremm – waren Marxisten und nahmen Ceauşescus Liberalisierungsversprechen der 1960er-Jahre so lange wörtlich, bis die Securitate sie eines Schlechteren belehrte. Zwischen 1971 und 1974, während seiner Zeit als Stellvertretender Kreisparteisekretär in Timiş hielt Ion Iliescu, gerade von Ceauşescu als ZK-Sekretär abgesetzt, seine schützende Hand über die deutschsprachige „Aktionsgruppe Banat“. 1975 wurde die Gruppe als solche, zu der auch Herta Müller gestoßen war, zerschlagen. Aus der ungarischen Minderheit hervorgegangene Intellektuelle meldeten ebenfalls Protest an. Zwischen Dezember 1981 und Januar 1983 erschienen neun Nummern der Samisdat-Zeitschrift „Ellenpontok“ (Kontrapunkte), in deren Beiträgen die Autoren die Lage der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen anprangerten und Forderungen auf Rückgabe Siebenbürgens an Ungarn erhoben. Danach verlagerten diese ungarischen Dissidenten ihr Tätigkeitsfeld nach Ungarn, wo sie offen gegen Ceauşescu und sein Regime agitierten. Am 3. April 1988 wurde in Budapest die România Liberă (Freies Rumänien) von rumänischen Bürgern auf ungarischem Boden gegründet. In Manifesten, die auch von westlichen Rundfunksendern verbreitet wurden, ermutigten ihre Vertreter rumänische Bürger zum Übertritt nach Ungarn, wo sie bleiben bzw. von wo aus sie in den Westen überwechseln und dort bevorzugt Asyl erhalten könnten.81

79 Vgl. Florica Dobre/Florian Banu/Luminiţa Banu/Laura Stancu (Hg.), Acţiunea ‘Recuperarea’. Securitatea şi emigrarea germanilor (1962–1989), Bukarest 2011. 80 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, Die Deutschen in Rumänien. In: Informationen zur politi­ schen Bildung, Heft 267 „Aussiedler“, ebenso https://www.siebenbuerger.de/portal/ land-und-­leute/siebenbuerger-sachsen/; 7.11.2018. 81 Vgl. http://www.freeromaniagroup.com/index.php?id=1&step=1; 7.11.2018.

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Am 27. Juni 1988 protestierten 200 000 Menschen vor der rumänischen Botschaft in Budapest gegen das Ceauşescu-Regime. Die Demonstranten klagten fehlende Minderheitenrechte der in Rumänien lebenden Ungarn ein, zugleich wurden aber auch Forderungen nach Gewährung politischer und kultureller Autonomie für Siebenbürgen laut. Eine Gruppe von im westlichen Exil lebenden Rumänen schloss sich dieser Forderung in der sogenannten Budapester Erklärung an. Angesichts einer – auch vom damaligen ungarischen Außenminister Gyula Horn behaupteten – militärischen, ja sogar nuklearen Bedrohung Ungarns durch Rumänien verlegte Budapest 1989 Truppen von seiner Westgrenze an die Grenze zu Rumänien, wo es im Dezember auch Manöver abhielt. Von den rund 31 000 rumänischen Flüchtlingen, die in der Folge über die grüne Grenze nach Ungarn wechselten, wurden ab Herbst 1989 einige Hundert den rumänischen Behörden übergeben.82

Die rumänische Revolution Bereits zu Andropows Zeiten galt Rumänien einem Bericht des Zentralkomitees der KPdSU zufolge als das schwächste Glied in der Kette der Staaten von RGW und Warschauer Pakt.83 Noch deutlicher wurde diese Einschätzung Rumäniens im März 1989 in einem Papier der sogenannten Bogomolow-Kommission formuliert. Darin hieß es: Der Ausbruch einer sozialen Explosion sei nicht undenkbar. Da sich die Rumänen aber längst vom Sozialismus verabschiedet hätten und sich der lateinischen (westlichen) Welt zugehörig fühlten, könne man, so der Bericht, nicht ausschließen, dass das Land in einem solchen Fall in den Westen abdriften und sogar aus dem Warschauer Pakt austreten könnte. Auch wurde die Befürchtung geäußert, dass sich in Rumänien Vertreter der herrschenden Elite gegen Ceauşescu erheben und das Land in dieselbe – westliche – Richtung führen könnten.84 Für die sowjetische Führung ging es darum zu verhindern, dass das – dazu auch noch schuldenfreie – osteuropäische Land im Falle einer Sozialrevolte oder eines Aufstandes national und westlich gesinnter Gegner Ceauşescus in den Westen abdriftete. Da sich aber innerhalb der herrschenden RKP offensichtlich keine Fraktion von Anhängern der Reformen Gorbatschows konstituiert hatte, die Ceauşescu von der Macht verdrängen und das Land wieder zu einem willfährigen Mitglied von RGW und Warschauer Pakt machen konnte, ermunterte Moskau eine Revolte von systemtreuen und sowjetloyalen Militärs,

82 Vgl. Constantin Corneanu, László Tökés, Ungaria şi Decembrie 1989 (2) (http://romania breakingnews.ro/laszlo-tokes-ungaria-si-decembrie-1989-2/; 7.11.2018). 83 Vgl. Oleg Gordiewsky/Christopher Andrew, KGB. Die Geschichte seiner Auslands­ operationen von Lenin bis Gorbatschow, München 1990, S. 824. 84 Vgl. Dumitru Preda/Mihai Retegan, 1989. Principiul Dominoului. Prăbuşirea regimurilor comuniste europene, Bukarest 2000, S. 18–22.

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Mitgliedern der Geheimdienste und Parteifunktionären gegen das nationalkommunistische Regime Ceauşescus. Von der sich Mitte der 1980er-Jahre anbahnenden Annäherung zwischen Moskau und Washington war Rumänien mehr als die loyalen Verbündeten der Sowjetunion betroffen, entfielen doch damit die politisch-ideologischen Voraussetzungen für die jahrelang von Bukarest betriebene diplomatische Schaukelpolitik. War der rumänischen Außenpolitik bis zur Mitte der 1980er-Jahre noch ein gewisser Störeffekt („nuisance value“) der sowjetischen Konfrontationsstrategie zugeschrieben worden, wurde das Land nach dem Machtantritt Gorbatschows in zunehmendem Maße als Störfaktor des neuen westöstlichen Interessenausgleichs wahrgenommen.85 Aus den dargestellten Gründen verlief der Machtwechsel in Rumänien anders als in den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten (als präventiver legaler Wandel in Polen und Ungarn und als erzwungener Umbruch in der DDR, der Tschechoslowakei und Bulgarien), nicht friedlich, sondern gewaltsam. In Rumänien wurde das Ceauşescu-Regime am 22. Dezember 1989 durch eine gewaltsame Revolution gestürzt. Dort erfolgte ein revolutionärer Staatsstreich, im Zuge dessen der Diktator verhaftet, in einem summarischen Schauprozess abgeurteilt und am 25. Dezember hingerichtet wurde. Dem vorausgegangen war seit dem 16. Dezember 1989 ein Aufstand der Bevölkerung im westrumänischen Temeswar, Bukarest und einigen weiteren Städten, den die Architekten des Staatsstreichs – Ceauşescu-feindliche Eliten aus Partei, Armee und Geheimdiensten – für ihre Zwecke nutzbar gemacht hatten. Die Aufständischen und mit ihnen quasi die gesamte rumänischen Bevölkerung wollten ein Ende des kommunistischen Systems, die Putschisten hingegen lediglich die Abschaffung des reformfeindlichen nationalkommunistischen Ceauşescu-Regimes und die Etablierung eines aufgeklärten, sowjetfreundlichen „Reformmodells“ nach dem Vorbild von Gorbaschows Perestroika. Allein in Rumänien wurde das Staatsoberhaupt eines Warschauer-Pakt-Staates hingerichtet.86 Der schnelle Prozess, der Ceauşescu und seiner Frau Elena durch Vertreter einer weder legalen noch legitimen Machtinstanz gemacht wurde, und ihre standrechtliche Erschießung waren keine „Bestrafung“ für einen „Zuspätgekommenen“ und geschahen auch nicht vorrangig aus Furcht vor Enthüllungen. Durch die Ausschaltung des Oberbefehlshabers über die nationalen Streitkräfte sollte genau jenes Machtvakuum erzeugt werden, das die Putschisten auszufüllen trachteten. Erst nach der Erschießung Ceauşescus konnte sich der Rat der Front der Nationalen Rettung (Frontul Salvării Naţionale) zum alleinigen Inhaber der Macht im Staate mit legislativen und exekutiven Befugnissen einschließlich der Kontrolle über die Streitkräfte erklären. Als Vorsitzender des

85 Vgl. Gabanyi, Rumänien im Zeichen von Perestrojka und Glasnost, S. 746–759. 86 Bekanntlich war es Silviu Brucan, der gemeinsam mit Nicolae Militaru auf die Hinrichtung Ceauşescu drängte, während Ion Iliescu sich für einen korrekten, ergebnisoffenen Pro­ zess ausgesprochen hatte.

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neuen Machtgremiums stellte sich Ion Iliescu vor. Unmittelbar nach der Exekution Ceauşescus wurde Nicolae Militaru zum neuen Verteidigungsminister ernannt. Beide, Militaru und Iliescu, forderten sowjetische Bodentruppen und Spezialkräfte an, um ihre Macht abzusichern. Westliche Staaten, allen voran die USA und Frankreich, unterstützten die geplante „brüderliche“ Hilfsaktion Moskaus ausdrücklich. Es ist nur der kategorischen Ablehnung dieses „Angebots“ durch den noch amtierenden Generalstabschef der rumänischen Streitkräfte, General Stefan Guşa, zu verdanken, dass dieses Szenario nicht Wirklichkeit wurde. Guşa wurde unmittelbar danach abgesetzt.87 Die rumänische Revolution forderte einen hohen Blutzoll. Anstelle der in der Anklageschrift gegen Nicolae Ceauşescu behaupteten 60 000 kamen „nur“ 1166 Menschen (Zivilisten, Wehrpflichtige und Offiziere) ums Leben. Erstaunlich ist dabei die Tatsache, dass vor dem Zeitpunkt der Flucht Ceauşescus am 22. Dezember 1989 landesweit 271 Tote zu beklagen waren, die weitaus größere Zahl von Menschen (895) jedoch erst getötet wurde, nachdem der D ­ iktator ausgeschaltet worden war.88 Die neuen Machthaber stellten 245 Personen, die mit den Verbrechen vor und nach dem Sturz Ceauşescus assoziiert wurden, vor Gericht; 24 hochrangige Vertreter der ehemaligen Nomenklatura sowie 18 ­Generale der Streitkräfte und der Geheimdienste, darunter General Victor Atanasie Stănculescu, wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.89 Aus Sicht der sowjetischen Führung hatte die Revolution ihren Zweck erfüllt. Während die Revolte in Temeswar schon in vollem Gange war, erklärte der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse in einem nach Rumänien ausgestrahlten Interview, die internen Vorgänge in Rumänien hätten das Potenzial, die zwischenstaatlichen Beziehungen sowie „die sozialistischen Ideale“ zu beschädigen.90 Wenige Tage später konnte Schewardnadse anlässlich seines Besuchs in Rumänien verkünden, Rumänien habe sich vom osteuropäischen Reformprozess abgeschottet und zuletzt offen Kritik daran geübt. Nun aber könne die Sowjetunion hoffen, mit dem „Wiederaufbau und der Modernisierung des RGW und des Warschauer Paktes zu beginnen“.91 Abschließend stellt sich die Frage nach der „Bedeutung dissidentischer und oppositioneller Gruppen“ im Hinblick auf den Sturz des Ceauşescu-Regimes im Dezember 1989.92 Aus der vorliegenden Untersuchung lassen sich ­folgende

87 Vgl. Anneli Ute Gabanyi, The Romanian Revolution. In: Wolfgang Mueller/­Michael Gehler/Arnold Suppan (Hg.), The Revolutions of 1989. A Handbook, Wien 2015, S. 199–220. 88 Institutul Revoluţiei Române: 1.166 de persoane au murit în Decembrie 1989 (https:// www.agerpres.ro/social/2014/05/29/institutul-revolutiei-romane-1-166-de-persoane- au-murit-in-decembrie-1989-19-37-53; 7.11.2018). 89 Greii dosarului ‚Revolutiei’, protejaţi de neglijenţa lui Voinea. In: Evenimentul Zilei vom 21.12.2009. 90 Gabanyi, Die unvollendete Revolution, S. 141. 91 Ebd., S. 142. 92 Vgl. Pollack/Wielgohs (Hg.), Akteure oder Profiteure?, S. 7–16.

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Schlüsse ziehen: Der unterschwellige Widerwille der rumänischen Gesamtgesellschaft gegen das ihr aufgezwungene System war während der gesamten ­Periode 1944 bis 1989 ungebrochen, auch wenn Phasen minderer oder größerer Akzeptanz des Regimes einander ablösten. Der bewaffnete Widerstand in den 1940er- und 1950er-Jahren hatte beträchtliche Ausmaße, auch wenn er in der westlichen Wahrnehmung und Fachliteratur lange Zeit vernachlässigt wurde; dasselbe gilt auch für die Auswirkungen des Ungarnaufstandes von 1956 für die rumänische Gesellschaft sowie für die Führung des Landes. In den 1960er- und beginnenden 1970er-Jahren gelang es der nationalkommunistischen Führung, den Wunsch der Bevölkerung nach nationaler Unabhängigkeit von der Sowjetunion für die eigene Legitimierung zu nutzen und das oppositionelle Potenzial der Intellektuellen und Schriftsteller zu kanalisieren. Im Verlauf der 1970er-Jahre nahm das Aufbegehren der Intelligenz, die Arbeiterunruhen und die Ausreisewelle beachtliche Ausmaße an, die sehr wohl dazu beitrugen, den Rückhalt des Ceauşescu-Regimes in der Bevölkerung zu schwächen und seine Herrschaftsmethoden zu diskreditieren.93 Von ausschlaggebender Bedeutung für den Sturz des Regimes war jedoch der jahrelang vorbereitete revolutionäre Staatsstreich von sowjetloyalen Militärs, Parteifunktionären und Geheimdienstmitarbeitern, die sich des angestauten Volkszorns gegen das kommunistische System bedienten, um das herrschende Regime zu stürzen. Selbstverständlich war der Umsturz in Rumänien ebenso wie in den anderen kommunistischen Staaten Ostmitteleuropas nur möglich, weil die Sowjetunion darauf verzichtete, die dortigen Machthaber zu verteidigen (Breschnew-Dok­ trin) und stattdessen darauf hinwirkte, die dort Herrschenden durch neue Eliten zu ersetzen (Gorbatschow-Doktrin), mit denen aus Moskauer Sicht eine Reform und Stärkung seines Hegemonialbereichs möglich sein würde. Das war allerdings nicht das Ende der Geschichte.

93 „From the beginning of the 1970s, there were probably more signs of opposition to the regime in Romania than in any other country of the Warsaw Pact, with the towering exception of Poland.“ So das Urteil von Brown, Eastern Europe, S. 287.

VII. Bulgarien

Organisationsentwicklung, Ideenprozesse und innere Kämpfe in der Bulgarischen Kommunistischen Partei während der 1970er- und 1980er-Jahre Michail Gruev Die Untersuchung des Organisationszustands, der Veränderungen in der ideologischen Sphäre, die im Prozess der Amalgamierung der marxistisch-leninistischen Postulate mit wachsender Dosis an Nationalismus eintraten, sowie die Verfolgung der mit diesen Prozessen verbundenen Rotation an der Spitze der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) stellen eine ehr­geizige Auf­gabe dar, die die Möglichkeiten eines einzelnen Beitrags überschreitet. Deshalb wird sich dieser Beitrag nur auf die späten Jahre des Bestehens des kommunistischen Regimes sowie auf die Abzeichnung einiger grundlegenden, aber spezifischen Merkmale konzentrieren, die Bulgarien von der allgemeinen Entwicklung der übrigen kommunistischen Parteien Osteuropas unterscheidet. Obwohl der Definition nach die Partei während der gesamten Periode mit dem Staat verbunden war, wird sich der Autor vor allem auf die Prozesse im Parteiapparat vertiefen. Ihre Reflexion auf die Gesellschaft soll aber nur so weit behandelt werden, wie sie den weiteren Weg der von oben diktierten Impulse betrifft. Die oberflächlichere Behandlung dieser Prozesse beruht auch auf der Tatsache, dass sie in den letzten Jahren zum Beobachtungsgegenstand der ­Geschichtsschreibung geworden sind, während die Prozesse in den Machtstrukturen der BKP selbst wesentlich schwächer untersucht worden sind. Die Ausnahme von dieser Tendenz stellen einige Untersuchungen von Ljubomir ­Ognyanov,1 Alexander Vezenkov2 und ­Ivajlo Znepolski3 dar, deren Ergebnisse im vorliegenden Beitrag benutzt werden. Zweifellos könnte ein ähnliches Thema nicht ohne die Akzentuierung auf die Person von Todor Schiwkow auskommen, der zum Ende der betrachteten ­Periode der langjährigste und der älteste kommunistische Diktator in Osteuropa war.

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Ljubomir Ognyanov, Polititscheskata sistema v Bulgaria 1944–1949, Sofia 2008. Alexander Vezenkov, Wlastovite strukturi na Bulgarskata komunistitscheska partija 1944–1989, Sofia 2008. Ivajlo Znepolski, Bulgarskijat komunizam. Soziokulturni tscherti I wlastova traektorija, Sofia 2008.

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Todor Schiwkow Der zukünftige Partei- und Staatsführer wurde im Dorf Prawetz, Orchanie Gemeinde (heute Botewgrad), am 7. September 1911 geboren. Nach eigenen Angaben beteiligte er sich seit 1932 an der kommunistischen Bewegung. 1932 wurde Schiwkow sowohl Mitglied der legalen Arbeiterpartei als auch der illegalen BKP.4 Schon im nächsten Jahr wurde er zum Parteiverantwortlichen eines der Sofioter Stadtbezirke erhoben.5 In den Kriegsjahren wurde er einer von den Sekretären des Sofioter Gebietskomitees und zu dessen Bevollmächtigten bei der Partisanenbrigade „Tschav­ dar“ bestimmt. Bereits am 10. September 1944 tauchte sein Name unter den ersten Berufungen des neuen Innenministers Anton Jugow auf. Er bekam den Dienstgrad eines Oberstleutnants und den Posten eines Hauptinspektors in der Direktion „Uniformmiliz“.6 Schiwkow selbst bekundete aber keine Neigung zur Polizeiarbeit und noch im Oktober desselben Jahres kehrte er als Sekretär des Sofioter Bezirkskomitees der Bulgarischen Arbeiterpartei (BAP[k]) zurück. Anfang 1948 wurde Schiwkow erster Sekretär des Sofioter Stadtkomitees der BAP(k), was ihm neue Kontakte und Horizonte eröffnete. Im selben Jahr bekleidete er auch für kurze Zeit das Amt des Bürgermeisters von Sofia. Auf dem 5. Parteitag der BKP im Dezember desselben Jahres wurde er zum gleichberechtigten Mitglied des Zentralkomitees (ZK) gewählt.7 Die unter der Führung der BKP 1949 begonnene Säuberung, dessen Anfang der Fall „Trajtscho Kostow“ machte, gab Schiwkow die Möglichkeit, weiter auf der Karriereleiter aufzusteigen. Er war derjenige, der im Namen der Sofioter Organisation der BKP als Erster die Forderung an das Politbüro zum Ausschluss von Kostow aus der Partei einreichte. Unter seiner Führung wurde der Prozess im Gebäude des Militärklubs im Dezember 1949 abgehalten.8 Im folgenden Jahr wurde er zum Mitgliedskandidat des Politbüros kooptiert und gleichzeitig Sekretär des ZK, dem die in Lande vollzogene Kollektivierung anvertraut war. Auf dem 6. Parteitag der BKP vom 25. Februar bis 3. März 1954, als der Parteiführer Walko Tscherwenkow unter sowjetischem Druck vom Posten des Ersten

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Die BKP entstand 1919 aus dem linken Flügel der Bulgarischen Sozialdemokratischen Partei unter der Führung von Dimityr Blagoew. Sie zählt zu den Begründern der Drit­ ten Internationale. 1924 wurde sie verboten und 1926 neu legalisiert als Bulgarische Arbeiterpartei. Parallel dazu existierte die illegale BKP. Zu dieser Zeit befand sich die inoffizielle Parteiführung in Moskau, wo die Kominternfunktionäre Wassil Kolarow und Georgi Dimitroff die bedeutendste Rolle spielten. Nach dem Staatsputsch 1934 wurden alle Parteien verboten, unter ihnen auch die Bulgarische Arbeiterpartei. So blieb nur die illegale BKP unter der Fernführung von Georgi Dimitroff. Todor Zhivkov, Memoari, Trud i pravo, Sofia 1997. Ljubomir Ognyanov, Durzhavno-polititscheskata sistema na Bulgarija, 1944–1948, Sofia 2006, S. 25. Iskra Baeva, Todor Zhivkov. Biografija, Sofia 2011, S. 16. Vgl. Ognyanov, Polititscheskata sistema, S. 48 f.

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Sekretärs des ZK zurücktreten musste, wurde auf dessen Vorschlag Schiwkow zu seinem Nachfolger erhoben.9 Als nach der Rückkehr aus Belgrad im Juni 1955 Nikita Chruschtschow Sofia besuchte, waren seine Äußerungen ein Zeichen für viele der Schlüsselfiguren der BKP, dass Veränderungen bevorstehen. Einerseits wurde klar, dass der im Kreml geführte Kampf sich zu ihren Gunsten entwickelte und andererseits, dass in dieser Situation das Verbleiben von Tscherwenkow an der Spitze als immer unmöglicher erschien. Wahrscheinlich traf Chruschtschow seine Entscheidung für Schiwkow genau bei diesem Besuch. Der Tausch an der Spitze fand offi­ziell auf dem vom 2. bis 6. April 1956 durchgeführten Aprilplenum des ZK der BKP statt.10 Als Schiwkow sich als Parteiführer 1956 behauptete, erschien seine Position nicht unangefochten. In dieser Etappe sicherte er sich die Unterstützung von zwei weiteren Schlüsselfiguren in der Partei – Anton Jugow und Georgi Tschankow. Allen war aber klar, dass sich der Kampf um das Vertrauen Moskaus fortsetze. Das war der Grund, dass er ein kompliziertes, vielschichtiges Spiel zu der allmählichen Beseitigung seiner wirklichen und potenziellen Prätendenten und der langsamen Besetzung ihrer Posten mit zuverlässigen und ihm persönlich ergebenen Männern zu führen begann. Als Erster wurde 1957 Tschankow und als Letzter 1962 Ministerpräsident Jugow ausgeschaltet. Zu dieser Zeit begann Schiwkow auch die beiden Ämter Ministerpräsident und Parteiführer gleichzeitig zu bekleiden, was den Anfang seiner absoluten Macht darstellte.

„Der zweite Mann“ in der BKP Fortlaufend lancierte Schiwkow in den Jahren nach dem Aprilplenum neue Personen auf verschiedene Parteiebenen, hauptsächlich kommunistische Kader aus der Provinz, die ihren Aufstieg Schiwkow verdankten und ihm deshalb persönlich ergeben waren. Seit 1959, im Zusammenhang mit der neuen administrativ-­ territorialen Teilung des Landes in 28 Bezirke, begann die Formierung von neuen Bezirkskomitees der BKP und den dazugehörigen Büros. Diese Möglichkeit benutzte Schiwkow, um seine Männer als erste Sekretäre an Ort und Stelle durchzusetzen, von denen ein Teil gleichzeitig auch in das ZK aufgenommen wurde. An die Stelle der vom Politbüro 1962 entfernten Personen wurden neue Kandidaten gewählt. Unter ihnen spielten Mitko Grigorow und Stanko Todorow eine bedeutende Rolle. Die alten Parteiveteranen gingen in Rente oder erhielten Sinekuren. Schiwkows langjährige Spitzenposition hatte verschiedene G ­ ründe: Von besonderer Bedeutung war seine Kaderpolitik, die durch eine schnelle Aufstellung und Absetzung der hohen Funktionäre g­ ekennzeichnet war. Dabei   9 Vgl. Ilijana Martscheva, Todor Zhivkov – putjat kum wlastta. Politika I ikonomika v Bulgarija 1953–1964, Sofia 2005, S. 64. 10 Vgl. Ognyanov, Polititscheskata sistema, S. 86–96.

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benutzte er niemals extreme Maßnahmen, sondern garantierte in den meisten Fällen ein gemütliches Ehrenamt für den Abgesetzten und bewahrte die Mehrheit der Privilegien. Im Gegenzug verlangte man, dass sich der Abgesetzte aus zukünftigen Entscheidungen heraushielt. Ein Teil dieser Personen, „die Umerzogenen“, kehrten in der Folge auf einen politischen, auch wenn niedrigeren Posten zurück.11 Eine der wichtigsten Besonderheiten von Schiwkows Regime stellte die häufige Rotation des „zweiten Mannes“ in der Partei dar. Am Ende der 1980er-­ Jahre wurde sie so intensiv, dass es praktisch unmöglich zu sagen war, wer „der Zweite“ sei. Gleich nach der Eliminierung von Jugow bekleidete diese ­Position Mitko Grigorow. Er ging davon aus, dass Leonid Breschnew nach seiner Ernennung zum Generalsekretär auch nach neuen, ihm persönlich ergebenen Personen in Sofia suchen werde. Breschnew hatte aber keinen Grund, an der Loyalität von Schiwkow zum Kreml zu zweifeln, deshalb informierte er ihn über die Sondierungen seines Stellvertreters. Daraufhin wurde Mitko Grigorow 1966 aller von ihm bekleideten Posten enthoben. Der neue Favorit Schiwkows war Stanko Todorow. 1971, als Schiwkow zum Vorsitzenden des neu gegründeten Staatsrates wurde, ernannte er Todorow zum Premierminister.12 Ende der 1970er-Jahre wurde Todorow durch Schiwkows neuen Favoriten ausgetauscht, den viel jüngeren und stürmischen Alexandar Lilow. In diesem Zeitraum stieg auch seine Tochter Ljudmila rasch empor, die seit 1979 Mitglied des Politbüros war. In den Parteireihen und in der Gesellschaft wurden Gerüchte verbreitet, dass Schiwkow sie zu seiner Nachfolgerin aufbaute. Diese Version scheint aber nicht besonders logisch zu sein, da für Schiwkow klar war, dass dies ohne die Unterstützung Moskaus unmöglich wäre, wo es zu diesem Zeitpunkt bereits ein gewisses Misstrauen gegenüber Ljudmilas okkulten Zuneigungen gab. Ihr Tod 1981 beendete vorerst diese Gerüchte.13 Die Rotation an der Spitze hielt indes an. Zwei Jahre später trennte sich Schiwkow auch von Ljudmilas Vertrauten Lilow. In der Folge wurde der Posten zusehends unattraktiver, sodass sich ein „zweiter Mann“ nicht mehr klar ausmachen lässt.

11 Vgl. Vezenkov, Wlastovite strukturi, S. 189–221. 12 Vgl. Michail Gruev, Polititschesko razvitie na Bulgarija prez 50-te – 80-te godini na XX vek – Znepolski, Ivailo (redaktor), Istorija na Narodna republika Bulgarija: Rejimut I obstestvoto, Sofia 2009, S. 148. 13 Vgl. Michail Gruev, Ljudmila Zhivkova – putjat kum „Agni Yoga“ – Prelomni wremena. Jubileen sbornik v tschest na 65-godischninata na prof. L. Ognyanov. Sust. E. Kalinova, M. Gruev, L. Zidarova. Sofia 2006, S. 796–816.

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Ideologische Veränderungen Die BKP blieb innerhalb des Ostblocks eine der konservativsten Parteien, eine Liberalisierung fand kaum statt. Trotzdem begannen noch in den 1960er-Jahren gewisse Veränderungen in ihrem ideologischen Fundament, die sich auf eine ununterbrochene Verstärkung der nationalistischen Rhetorik richteten, obwohl die Anwendung der alten marxistisch-leninistischen Klischees fortdauerte. Eine ähnliche Veränderung trat in den Botschaften der meisten osteuropäischen kommunistischen Parteien und besonders spürbar bei den autokratischen Balkanstaaten ein. Doch im Unterschied zu Albanien, Rumänien und Jugoslawien nahm Bulgarien nicht ein einziges Mal eine antisowjetische Färbung oder auch nur eine etwas abweichende Position in Bezug auf Moskau ein. Ungeachtet dessen waren seit Anfang der 1960er-Jahre eindeutige Kennzeichen einer Rückkehr zum alten, traditionellen Nationalismus zu bemerken, feindlich gestimmt vor allem zu den Nachbarstaaten und ihren „Infiltranten im nationalen Körper“ angesichts der verschiedenen Minderheiten. Zweifellos entpuppten sich am geeignetsten als „ureigener Feind“ vor allem die verschiedenen moslemischen Gemeinschaften, stigmatisiert noch in der Zeit nach der Befreiung Bulgariens. Die grenzenlose Treue der BKP und Schiwkows gegenüber der Sowjet­union wurde mit der erlaubten Teilautonomie des Regimes in Sofia belohnt. Diese Nische erleichterte die Rückkehr einer Reihe von Vorkriegspraktiken und Stereotypen in Bezug auf die Nachbarn und die ethnische Politik. Da in der traditionellen Rhetorik der Kommunistischen Partei der alte Nationalismus ideologisch diskreditiert war, ersetzte man ihn durch den „sozialistischen P ­ atriotismus“. Im Propagandaarsenal der BKP setzte man diesen Begriff mit der obligatorischen Hinzufügung des „proletarischen Internationalismus“ ein. Als die Mobilisierungsmöglichkeiten der alten progressistischen Rhetorik völlig erschöpft und die ideologischen Lücken immer beträchtlicher erschienen, zeigte sich „der sozialistische Patriotismus“ als die geeignete Füllung und gleichzeitig als der neue Klebstoff, um die nationale Homogenisierung und neue Legitimierung der Macht, die nicht nur eine Klassen-, sondern auch eine Nationalanerkennung anstrebte, zu verwirklichen.14 Für das Regime entpuppte sich diese Politik als besonders nützlich, denn die alten Klischees erwiesen sich als leicht erkennbar für den „einfachen“ Menschen, sie ersetzten erfolgreich fehlende Horizonte der kommunistischen Utopie und verliehen dem ideologischen und politischen Imperativen eine nachträgliche Gültigkeit. Dieser Effekt verstärkte sich zusätzlich durch die in den 1980er-Jahren vom Regime unternommene Assimilierungskampagne und dem erzwungenen Namentausch der türkischen Bevölkerung im Lande. Schiwkow benutzte diesen Prozess, um eine Reihe h ­ oher 14 Vgl. Michail Gruev, Ideologitscheskijat zavoj kum nazionalisma i pokitikata na BKP kum mjusjulmanskoto naselenie v stranata v kraja na 50-te i prez 60-te godini na XX vek – Pomazite. Werssii za proizhod i suvremenna identitschnost, Sust. Ewgenija Ivanova, Sofia 2013, S. 149–159.

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k­ ommunistischer Funktionäre zu beseitigen, die gewisse Bedenken in Bezug auf die sich verstärkende Wendung der BKP zu dem traditionellen Balkannationalismus hegten. Damit wäre die Beseitigung des „zweiten Mannes“ Alexandar Lilow 1983 zu erklären.15 So trat das Regime schrittweise in die Spirale des „Wiedergeburtsprozesses“ ein, der endgültig die internationale Rhetorik und Praxis der früheren Jahre ablöste und das Regime auf den ideologischen Rahmen des Nationalkommunismus umstellte.

Die dritte Generation der kommunistischen Elite An dieser Stelle wird auf die Klassifikation des deutschen Soziologen Anton Sterbling zurückgegriffen, der die kommunistischen Eliten in Osteuropa untersuchte. Er teilte sie in drei Generationen auf: Die erste Generation hatte seiner Meinung nach ihren Höhenpunkt in der Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 1950er-Jahre. Die zweite periodisierte er von der zweiten ­Hälfte der 1950er-Jahre bis zum Ende der 1970er-Jahre. Die dritte Generation, so Sterbling, formierte sich am Ende der 1970er-Jahre und ihre fähigsten Vertreter schlossen sich während der Übergangszeit den politischen Eliten der osteuro­ päischen Länder an.16 Die vorgeschlagene Klassifikation ist im hohen Maße auch für den bulgarischen Fall gültig. In der Anfangsphase rekrutierte sich die neue kommunistische Elite aus bestimmten Gruppen marginalisierter Provinzintelligenz, vor allem aber aus halbgebildeten Bauernschichten, die der kommunistischen Bewegung nahestanden und sich nach dem Umsturz 1944 rasch in die Bewegung einfügten. Diese erste Generation reihte sich um Georgi Dimitroff und Walko Tscherwenkow. In der Folge bildete sich aus ihren Reihen die „rote Bourgeoisie“, die aus Familien mit stark verflochtenen Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen bestand und deren Anstrengungen vor allem auf das System und nicht unbedingt auf den Parteiführer persönlich gerichtet waren. Die zweite Genera­tion der kommunistischen Elite könnten wir unter Vorbehalt „Schiwkower Genera­tion“ nennen. Tatsächlich ist die Bezeichnung nicht ganz korrekt, da Schiwkow im Dasein aller drei Generationen der kommunistischen Elite in Bulgarien einen Platz einnahm und wegen seiner langjährigen Machtausübung als deren gemeinsame Emanation aufgefasst wurde. Man muss aber erwähnen, dass der Aufstieg der zweiten Generation eine direkte Folge von Schiwkows Machtergreifung 1956 darstellte. Sie rekrutierte sich aus provinziellen kommunistischen Kadern, die in der Vergangenheit in der Widerstandsbewegung aktiv gewesen waren. Sie verdankten ihre Karriere Schiwkow persönlich, deshalb blieben sie ihm treu und ergeben bis zum Ende. Obwohl die Position des „zwei-

15 Vgl. Vezenkov, Wlastovite strukturi, S. 209. 16 Vgl. Anton Sterbling, Eliten in Südosteuropa. In: APuZ, 10–11 (2003), S. 11–15.

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ten Mannes“ in der BKP ständigen Umbesetzungen unterlag, beobachtete man bei Schiwkow fast keine Zirkulation dieser zweiten Generation. Im Allgemeinen arbeitete er in den höheren Macht­etagen mit einem begrenzten Personenkreis, den er an verschiedenen Positionen umstellte, aber in den Fällen, wo er keine Zweifel an der Loyalität hegte, blieben die Funktionäre in ihrer Stellung. Sie alterten mit ihm und behinderten so die Möglichkeiten für das Heranwachsen neuer Kader. In der Zeit des späten Breschnews, in der Periode der „Sklerose des Kommunismus“, erschien die Gerontokratie in der BKP keineswegs störend und wurde als etwas ganz Normales aufgefasst. Nach Breschnews Tod veränderte sich die Situation aber abrupt. Inzwischen war auch die Zeit der schon genannten dritten Generation der bulgarischen kommunistischen Elite gekommen. Noch während der 1970er-­Jahre, unverkennbar stärker aber am Anfang der 1980er-Jahre, erschienen die ersten „Vorläufer“ der dritten Generation. Ein beträchtlicher Teil ihrer Vertreter ­waren direkte Nachkommen von Funktionären der alten kommunistischen Elite – ­Ljudmila Schiwkowa, Andrej ­ etar Mladenow, der Nachfolger von Lukanow und bis zu gewissem Grade auch P Schiwkow. Es war selbstverständlich, dass sich mit der Zeit junge Kader aus den Unterschichten des Parteiapparats an ­diese neue Generation anschlossen, die ­ oslensky als „Pränomenklatura“ bezeichneder russische Soziologe Michael V te. „Die Erfolgreichen rücken möglichst eng an den Körper heran und halten nach einer Möglichkeit Ausschau, in ihn einzudringen. Das sind die Sekretäre der Parteiorganisationen und die Mitglieder ihrer Büros, die Stellvertreter und engsten Mitarbeiter von Nomenklatura-Funktionären. Alle zusammen stellen sie unter den Parteiangehörigen die oberste Schicht dar, die man als ‚Pränomenklatura‘ bezeichnen könnte.“17 Ein Teil dieses Korps, vom Autor treffend beschrieben, der sich selbst zur sowjetischen Nomenklatura zuordnete, konnte inzwischen seinen Status erhöhen und sich in den Reihen der dritten Generation der kommunistischen Elite einordnen. Unter ihnen reihten sich Wissenschafts-, Kunst- und Sportfunktionäre ein, die eine immer wichtigere Rolle in der Gesellschaft zu spielen begannen. Sie alle waren der Definition nach Mitglieder der BKP und dort, wo auch Nichtparteimitglieder zu finden ­waren, bekleideten sie eher dekorative Funktionen. In dieser Periode konnte man eine Verstärkung des Bestrebens nach Autonomie der „Gildeelite“ und eine erkennbare Differenzierung inmitten der Elite selbst beobachten, ohne aber dass die Grenzen des Typs „ideologisch homogener Elite“ überschritten wurden.18 Ein großer Teil dieser neuen Generation hatte ihre Ausbildung im Westen erhalten und besaß daher ein anderes Werte­system. Ihr Aufstieg ­wurde aber seitens der zweiten Generation blockiert, die an ihrer Machtposition festhielt. Das war

17 Michael Voslensky, Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Wien 1980, S. 204 f. 18 George Lowell Field/John Highley, Eliten und Liberalismus. Ein neues Modell zur geschicht­lichen Entwicklung der Abhängigkeit von Eliten und Nicht-Eliten. Zusammen­ hänge, Möglichkeiten, Verpflichtungen, Opladen 1983, S. 13.

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auch der Grund, dass sich im Verlauf der ­Perestroika am Ende der 1980er-Jahre ein Generationenkonflikt in der Mitte der Oberschicht der BKP selbst zu offenbaren begann. Der bulgarische Forscher Kaloyan Metodiev, der sich mit der sogenannten Alterspolitologie beschäftigte, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von „Nachkommenschaft und Alter in der Politik“. In seiner Analyse hat er das mittlere Alter der politischen Führung (des Polit­büros) der osteuropäischen kommunistischen Parteien am Ende der 1980er-­Jahre berechnet. Dabei stellte sich heraus, dass die bulgarische Führung eine der gerontokratischsten war – mit einem mittleren Alter von 65,5 Jahren im Jahre 1989.19 Sie wurde nach diesem Gradmesser nur seitens des Politbüros der SED übertroffen, dessen mittleres Alter 1989 bei 68 Jahren lag.20 Im ersten Politbüro, als Schiwkow 1954 an die Spitze der Partei kam, betrug das mittlere Alter 49 Jahre.21

Dissidenten und Anhänger der Perestroika In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre bildete sich in Bulgarien ein Kreis von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Intellektuellen, der sich immer mehr von der Kommunistischen Partei und dem Regime abwandte. Der Kern der Proto­ dissidenten bestand vor allem aus Mitgliedern der Kommunistischen Partei oder Menschen, die in der Vergangenheit der Partei nahestanden. Diese Position gab ihnen eine größere schöpferische Selbstständigkeit sowie Sprach- und Handlungsfreiheit. Dem Kern begannen sich allmählich auch jüngere Menschen, Ökologen und Naturschützer anzuschließen, die von Gorbatschows Perestroika beflügelt wurden. Der so gestaltete Kreis war eine bunte Mischung von Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen, öfter aber ohne konkrete Vorstellungen, vereinigt durch die Unzufriedenheit gegenüber dem Status quo und den Wunsch nach Veränderung. Im Unterschied zu Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei besaß die bulgarische Dissidentschaft keine längere Tradition, um sich auf gemeinsame „Gedächtnisorte“ berufen zu können. Sie genoss auch nicht jene Unterstützung der Arbeiter- und Bauernschaft, die ihr Massenhaftigkeit und Rückhalt in der Gesellschaft insgesamt verleihen konnte. Trotzdem gewann sie am Ende des Jahrzehnts an Stärke, was besonders bei der Intelligenz für Aufmerksamkeit sorgte. Dieses Gefühl beschrieb der Philosoph Schelju Schelew in seinem Artikel „Die große Zeit der Intelligenz“. Das Grundpathos des Artikels bestand darin, dass Gorbatschow nur dann erfolgreich sein könne, wenn er sich auf die Intelligenz und ihre kritische Energie stütze. Gleichzeitig erklärte Zhelev, dass ein Bündnis zwischen dem reformerischen Flügel in der Kommunistischen Partei und der authentischen Intelligenz notwendig

19 Kalojan Metodiev, Pokolenie i vuzrast v politikata. Bulgarskijat prehod, Veliko Tarnovo 2012, S. 72. 20 Ebd., S. 77. 21 Ebd., S. 73.

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sei.22 Der Artikel stellte im Wesentlichen einen Aufruf nach Zusammenarbeit zwischen der bulgarischen Intelligenz und den immer noch ziemlich unklaren Kreisen in der Kommunistischen Partei selbst dar. In Teilen der kommunistischen Oberschicht war auch der Wunsch nach Zusammenarbeit mit den sich Ende der 1980er-Jahre entwickelnden informellen Dissidentengesellschaften präsent. Die lose Verbindung zwischen den beiden Gruppen führte ursprünglich der ehemalige „zweite Mann“ Stanko Todorow, der zu dieser Zeit eine Sinekurenstellung als Vorsitzender der Volksversammlung bekleidete. Seine Gattin war eine der engagierten Ökoaktivistinnen und als solche wurde sie von der BKP ausgeschlossen. In der Praxis begann auch die sowjetische Lobby im bulgarischen Politbüro zugunsten einer solchen Kooperation zu arbeiten. Hier handelte es sich um die Menschen, die Schiwkow 1989 tatsächlich von der Macht stürzten. Seit Gründung dieses höchsten Organs der Kommunistischen Partei gab es zwei Lager – das sowjetische und das persönliche Lager des Parteiführers. Die Teilung war selbstverständlich bedingt, soweit der Generalsekretär selbst ein Kandidat Moskaus war. Mit Gorbatschows Aufstieg in den Kreml und im Zuge des sich von dort verstärkten Drucks nach Reformen wechselte ein Teil der Spitzenfunktionäre seine Position. Die in der Vergangenheit konservativsten Vertreter der Oberschicht gingen in das persönliche Lager des Generalsekretärs über und die jungen und stürmischen Funktionäre, wie Mladenow und Lukanow, in das Lager von Gorbatschow. Am 24. Oktober 1989 übergab der Außenminister und Mitglied des Politbüros Petar Mladenow einen „offenen Brief“ an die Führung der BKP, in welchem er Schiwkow für die das Land umfassende Gesamtkrise verantwortlich machte. Zwei Tage später verkündete Mladenow seinen Rücktritt.23 Offen gegen Schiwkow erklärte sich auch „Moskaus Mann“ in der Parteiführung – Andrej Lukanow. Der Ministerpräsident Georgi Atanassow, dem klar war, keine besondere Wahl zu haben, stellte sich im entscheidenden Augenblick auch gegen Schiwkow. Einen starken Einfluss auf die Vorgänge hatte auch der sowjetische Botschafter in Sofia – der KGB-General Viktor Scharapow. Unmittelbar vor dem Sturz von Schiwkow war er praktisch der Vermittler zwischen Schiwkow und den Umstürzlern. Der innenparteiliche Umsturz vom 10. November 1989 stellte das Ende der dreieinhalb Jahrzehnte andauernden Führung von Todor Schiwkow dar. Als ­Mittel zur Erhaltung des Systems geplant, stellten die Organisatoren des Umsturzes ziemlich bald fest, dass die Bedeutung dieses Ereignisses viel größer war. Mit ihm begann der sukzessive Zerfall des totalitären Staates und die Bewahrung des Status quo wurde in jeglicher Form unmöglich.

22 Zheljo Zhelev, Velikoto vreme na inteligentzijata. In: Narodna kultura, Nr. 38 vom 22.7.1988. 23 Vgl. Michail Gruev, Desetonoemvrijskijat prevrat i svaljaneto na Todor Zhivkov ot vlast – Ivajlo Znepolski (Sustavitel), NRB ot natschaloto do kraja, Sofia 2011, S. 438–440.

Sozialpolitik im kommunistischen Bulgarien Alexander Vezenkov* Die Sozialpolitik im kommunistischen Bulgarien wies große Übereinstimmung mit den anderen kommunistischen Ländern auf, nicht nur weil die Rahmenbedingungen in den Staatsökonomien allgemein ähnlich waren, sondern auch weil sich im Bereich der Sozialpolitik – wie in allen anderen Bereichen – die Führung in Sofia eng am sowjetischen Vorbild sowie im Laufe der Zeit am Beispiel der fortgeschritteneren „sozialistischen Bruderländer“ orientierte. Zunächst handelte es sich dabei um eine Frage der ideologischen Orthodoxie eines reichlich dogmatischen Regimes, das sich darum bemühte, der vom Kreml vorgegebenen politischen Linie so genau wie möglich zu folgen. Gleichzeitig hatte die Führung in Sofia ein grundsätzliches Interesse daran, vom Fachwissen der weiterentwickelten kommunistischen Länder zu profitieren, wenn es um Lösungen für diejenigen sozialen Probleme ging, die in Planwirtschaften entstanden. Nicht nur die grundsätzliche Politik war im Prinzip identisch, auch Änderungen dieser Politik erfolgten meist parallel. Nach Stalins Tod hielt sich die Führung in Sofia eng an die neue Politik der Verbesserung der Versorgung mit Gütern sowie der Erhöhungen der Sozialleistungen (bescheiden, wie sie in jener Zeit waren). Die Ausweitung des staatlichen Wohnungsbaus begann in Bulgarien in den späten 1950er-Jahren, nachdem Nikita Chruschtschow eine entsprechende Politik eingeleitet hatte; ähnlich wie in der UdSSR begann in Bulgarien die Einführung der Fünftagewoche im Jahre 1967, um dann in den Folgejahren vollständig umgesetzt zu werden; in den 1970er-Jahren begannen die offiziellen Publikationen die Erhöhung des Lebensstandards deutlich lebendiger zu diskutieren, ganz ähnlich wie in Breschnews UdSSR. Dennoch gab es für das Regime in Sofia eine Reihe spezifischer Probleme, die in erster Linie im niedrigeren Niveau der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes begründet waren. Im Falle Bulgariens engagierten sich die kommunistischen Behörden sehr stark im Wohnungsbau; die Programme für Regionalentwicklung und die Entwicklung des ländlichen Raums waren großzügiger als anderswo; die Politik der Geburtenförderung war sehr ausgeprägt, wenn auch nicht so forciert wie in Ceauşescus Rumänien. Im Folgenden soll untersucht werden, wie mithilfe der Sozialpolitik Antworten auf größere

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Aus dem Englischen übersetzt von Mirko Wittwar.

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­Probleme (tatsächliche oder eingebildete) der bulgarischen Gesellschaft jener Zeit gefunden werden sollten. Die kommunistischen Behörden Bulgariens waren besorgt angesichts einer massiven Landflucht sowie der Integration relativ großer und kompakter Minoritäten, die darüber hinaus ärmer und ungebildeter waren. Dazu kam eine beständig sinkende Geburtenrate und dementsprechend ein Absinken der Bevölkerungszahl sowie selbstverständlich die Sorge vor sozialen Unruhen, welche die Stabilität des Regimes hätten bedrohen können. Bei den wichtigsten Initiativen im Bereich der Sozialpolitik ging es tatsächlich darum, Antworten auf diese Besorgnisse zu finden.

Der Umgang mit der massiven Landflucht Einige der wichtigsten Sozialmaßnahmen im kommunistischen Bulgarien zielten darauf ab, die Probleme zu lösen, die mit der massiven Landflucht zusammenhingen, die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg erheblich zunahm und ihren Höhepunkt in den frühen 1960er-Jahren fand. Zu jener Zeit schritt in Bulgarien die Urbanisierung schneller voran als in den anderen Ländern Osteuropas. Dies findet seine Erklärung in den radikalen wirtschaftlichen Veränderungen: In Bulgarien wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft früher abgeschlossen als anderswo, und zwar bereits im Jahre 1959; die Industrialisierung schritt schneller voran als beispielsweise in Rumänien, was zu einem großen Teil an den engeren Beziehungen Bulgariens zur UdSSR lag. Noch wichtiger: Ein intensives urbanes Wachstum war typisch für weniger entwickelte Länder – nur die größten Städte boten die Vorteile eines urbanen Lebens, und die Einwohner kleinerer Ortschaften taten alles, um dauerhaft in den größeren Städten leben zu können. Eine schlecht entwickelte Transportinfrastruktur stellte ein Hemmnis für Pendler dar und zwang viele Menschen, in die Städte zu ziehen, in denen sie Arbeit gefunden hatten. Die massive Migration in die Städte stellte für die kommunistischen Behörden eine Quelle der Besorgnis dar, und zwar hauptsächlich aus politischen Gründen. Zunächst einmal herrschte Mangel an Wohnraum, doch ganz allgemein war die technische und soziale Infrastruktur der Städte überlastet. Die massive Landflucht wurde als Ursache für Arbeitslosigkeit in den Städten und Arbeitskräftemangel in bestimmten ländlichen Gegenden angesehen, später wurde ebenso die rapide Entvölkerung der ländlichen Gegenden zu einem Problem. Die Behörden reagierten durch administrative Beschränkungen der Ansiedlung in Städten sowie mit einer Reihe wirtschaftlicher und Sozialmaßnahmen. Das erste und akuteste Problem war der Mangel an Wohnraum.

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Wohnungspolitik und Wohnungsbau Die kommunistischen Behörden hatten nicht nur eine Wohnraumkrise in den großen Städten und besonders in der Hauptstadt Sofia übernommen, sondern auch die Gesetzgebung aus der Zeit des Krieges, die darauf abzielte, die Wohnraumkrise zu „,lösen“: Jeder, der über mehr Wohnraum verfügte, als er für seine eigene Familie benötigte (entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen bedeutete dies eine Wohnung pro Familie und ein Zimmer für je zwei Familienmitglieder), musste die jeweilige Wohnung bzw. den Wohnraum an Menschen vermieten, die ihn benötigten.1 Dies wurde von den Behörden kontrolliert und durchgesetzt, und das kommunistische Regime machte von diesen Maßnahmen weit umfangreicher Gebrauch als seine Vorgänger. Darüber hinaus wurden nach der kommunistischen Machtübernahme viele Besitzer, die in Verbindung zum alten Regime gestanden hatten, vollständig ihrer Immobilien enteignet. Dementsprechend betraf der erste größere Eingriff der kommunistischen Behörden die Umverteilung des Besitzes der alten Eliten zugunsten von Menschen, die Wohnraum benötigten. Bei denjenigen, die davon profitierten, handelte es sich im Allgemeinen um Leute mit guten Beziehungen zum neuen Regime, doch stellte dies keine Lösung für den Rest der beständig anwachsenden Bevölkerung der Städte dar. Außerdem hatten angesichts dieser Gesetzgebung auch diejenigen, die wohlhabend genug gewesen wären, keinerlei Motivation, in den Wohnungsbau zu investieren. Ab 1954 gab es für diejenigen, die über ausreichende finanzielle Ressourcen verfügten, eine weitere Möglichkeit, an eine Wohnung zu gelangen, indem sie in den sogenannten kooperativen Wohnungsbau investierten.2 Die künftigen Bewohner mussten den Bau neuer Wohnblöcke teilweise vorfinanzieren, und der Staat garantierte, dass diese neu entstandenen Wohnungen nicht den oben genannten Beschränkungen unterliegen würden. Die Ausweitung des kooperativen Wohnungsbaus stellte eine Möglichkeit dar, die Ersparnisse Einzelner zu mobilisieren, um das Wohnraumproblem wenigstens teilweise in den Griff zu bekommen. Auf lange Sicht weitaus wichtiger war Wohnraum, der sich im Besitz von Betrieben befand oder von diesen erbaut wurde. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten einzelne Firmen billigen Wohnraum bzw. Wohnheime für ihre Arbeiter gebaut, und nach 1941 begannen sowohl der Staat als auch örtliche Behörden, in

1

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Vgl. Naredba za predotvratyavane na zhilishtnata kriza v Sofia. In: Dărzhaven vestnik Nr. 152 vom 14.7.1942; Naredba za vremenno oblekchenie na zhilishtnata kriza i za zapazvane na obshtestvenoto spokoystvie i sigurnost v Sofia. In: ebd. Nr. 282 vom 13.12.1943; Naredba-zakon za urezhdane na zhilishtniya văpros. In: ebd., Nr. 241 vom 1.11.1944; Zakon za naemite. In: ebd., Nr. 77 vom 4.4.1947. Vgl. Ukaz 115 za nasărchavane i podpomagane na kooperativnoto i individualnoto zhilishtno stroitelstvo. In: Izvestiya na Prezidiuma na Narodnoto săbranie, Nr. 28 vom 6.4.1954; Zakon za zhilishtnostroitelnite kooperatzii, in: Dărzhaven vestnik, Nr. 55 vom 14.7.1978.

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Wohnraum für Arbeiter zu investieren.3 Kurz nach der Errichtung des kommunistischen Regimes wurde Wohnungsbau auf Betriebsebene nicht nur weitverbreitet, sondern eine bevorzugte Option für die Eliten (ganz ähnlich dem, was Iván Szelényi für Ungarn schildert).4 Ministerien und andere Institutionen sowie große Industriewerke begannen, in den Bau mehrgeschossiger Wohnblocks für ihre Arbeiter und Angestellten zu investieren.5 Dies stellte eine Möglichkeit dar, die Belegschaften der jeweiligen Institutionen, Betriebe und Fabriken mit Wohnraum zu versorgen, keineswegs aber jeden, der solchen benötigte. Auch Gemeinderäte stellten Wohnraum zur Verfügung. Dabei handelte es sich um bescheidenere Wohnstätten – kleinere, billigere und/oder ältere Wohnungen, die von ihren bisherigen Bewohnern verlassen worden waren, die das Glück gehabt hatten, in größere und bessere Wohnungen ziehen zu können. In manchen Fällen bezogen ärmere Leute solche Wohnungen spontan, doch wurde dies durch offizielle Institutionen geregelt. Die einzige Möglichkeit für Familien mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, eine anständige Wohnung zu erhalten, bestand in Wohnraum auf Betriebsebene. Mit der Industrialisierung des Wohnungsbaus seit den späten 1950er-, frühen 1960er-Jahren nahm der Gesamtumfang staatlich gebauten Wohnraums zu; neue Wohnungen entstanden zunehmend in Plattenbauten, die ganze Wohnviertel umfassten. Die Bauten (besonders jene, die von Ministerien und anderen Institutionen errichtet wurden) konzentrierten sich in der Hauptsache in der Hauptstadt Sofia und in anderen großen Städten.6 Im Durchschnitt verbesserte sich die Wohnraumsituation deutlich, doch in den großen Städten wurde die Maßgabe von einer Wohnung pro Familie nicht erreicht, während gleichzeitig in den Dörfern viele solide gebaute Häuser unbewohnt blieben. Zusätzlich entschieden die kommunistischen Behörden, dass es vorteilhafter sei, Wohnungen an die Familien zu verkaufen, die sie bewohnten, anstatt sie ihnen gegen ein bescheidenes monatliches Entgelt zu vermieten (wobei die Behörden dann ja auch noch für die Instandhaltung aufzukommen hatten). Der Verkauf von Wohnungen in Staatsbesitz wurde als eine Möglichkeit angesehen, an Mittel für die Errichtung neuer Wohnblöcke zu gelangen.7 Dieser Ansatz wurde während der gesamten Zeit des Kommunismus verfolgt, und in Bulgarien wurden die meisten vom Staat gebauten Wohnungen an Familien verkauft. Nach dem Zensus von 1985 bewohnten 82,4 Prozent der bulgarischen Familien Wohnraum, der sich in ihrem Besitz befand (74,1 Prozent in den Städten und 96,7 Prozent in den Dörfern).8 Diese große Mehrheit an Wohnungen in Privat3 4 5 6 7 8

Vgl. Rayko Oshanov, Pravnata zakrila na truda v Bulgaria, Sofia 1943, S. 177–179. Vgl. Iván Szelenyi, Urban Inequalities under State Socialism, New York 1983. Vgl. z. B. Ukaz 463 za săzdavane na zhilishten fond kăm Ministerstvo na narodnata otbrana. In: Dărzhaven vestnik, Nr. 214 vom 11.9.1950. Vgl. Central State Archive (CSA), 136/56/606, Bl. 20. Vgl. Aleksi Gaytandzhiev, Grizhite na partiyata i narodnata vlast za podobryavane zhi­ lishtnite usloviya na trudeshtite se v stolitzata, Sofia 1957, S. 43. Ruzhka Milusheva, Zhilishtni i kulturno-bitovi usloviya na semeystvata v Bulgaria. In: Naselenie, 9 (1991) 3–4, S. 40.

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besitz ähnelte der Situation in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen und unterschied sich von der Lage in der Sowjetunion, Rumänien und der DDR, wo die Mehrheit der Stadtbewohner in Wohnungen lebte, die sich weiterhin in Staatsbesitz befanden.9 Das Ergebnis war, dass der persönliche Wohlstand sowie das Einkommensniveau der bulgarischen Bürger beachtliche Faktoren darstellten, wenn es um die Frage des Wohnraums und indirekt auch um die Lage der Wohnungen ging. Häufig standen sie vor der Entscheidung zwischen einer teureren Wohnung in einer besseren Wohngegend oder einer billigeren in einer bescheideneren Siedlung. Der vergleichsweise teurere „Kooperativwohnungsbau“ führte zur Errichtung neuer Wohnblöcke, die üblicherweise in den besseren Vierteln der Städte lagen. Der Wohnungsbau auf Betriebsebene erwies sich als ein Mechanismus, der sozioprofessionelle Unterschiede in eine räumliche Trennung innerhalb der Städte übersetzte. Dieses Phänomen zeigte sich besonders in der Hauptstadt Sofia. Neue Wohnblöcke für hochrangige Politiker entstanden in der Mitte und dem Süden der Stadt,10 historisch die wohlhabenderen Stadtteile. Im Gegensatz dazu wurden die Wohnblöcke in den nördlichen und westlichen Gebieten Sofias meist von Arbeitern und anderen weniger einflussreicheren Leuten bewohnt. Zum Beispiel entstanden Wohnheime und Wohnungen für die Arbeiter der Metallfabrik von Kremikovtzi (der wichtigste Industriebetrieb der Region um Sofia) außerhalb der Stadt (in den nahe gelegenen Dörfern Botunetz und Kazitchene) sowie im ärmeren Nordgebiet der Stadt (entlang dem Boulevard Botevgradsko Shose, in den Wohngebieten Poduyane, Hadzhi Dimitar und später auch in Suhata reka). Zur selben Zeit wurden Wohnblocks für wenigstens einen Teil der Verwaltungsmitarbeiter der Fabrik im der besser angesehenen Wohngegend von Geo Milov errichtet.11 Tatsächlich trug auch die Stadteinteilung, das heißt die Stadtplanung, soweit sie die Ausweisung spezifischer Zonen für Industrie, Wohngebiete, Erholung usw. betraf, zur sozialen Trennung bei. Das Ziel, die täglichen Wege zu den Arbeitsplätzen zu verkürzen, führte dazu, dass Wohnraum für Arbeiter und Beamte in der Nähe ihrer jeweiligen Fabriken, Institutionen etc. errichtet wurde. Im Ergebnis wurden Häuser für Arbeiter in der Nähe des Industriegebietes errichtet, während Wohnheime und Wohnblocks beispielsweise für Lehrkräfte in der Nähe der Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen lagen.

   9 Vgl. Vladimir Tzonev, „Zhilishtniyat văpros i razhdaemostta u nas“. In: Naselenie, 3 (1985) 4, S. 6 f. 10 Vgl. CSA, 1-b/20/31, Bl. 1; Dărzhaven arhiv – Sofia, 65/1/963/ Bl. 1–4; Georgi Milushev, Po koridorite na vlastta, Sofia 1991, S. 112 f. 11 Vgl. Evtim Tanchev, Kremikovtzi, Sofia 1964, S. 58; Emil Chervenyakov/Yafa Kazan­ dzhieva, Kremikovski metalurgichen kombinat, Sofia 1965, S. 49; CSA, 1-b/35/644, Bl. 2, 12.

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Bis zum Ende des kommunistischen Regimes wurde der staatliche Wohnungsbau zuallererst als ein Mittel zur Lösung der Wohnraumknappheit in den großen Städten gesehen. Zum Beispiel das Regierungsdekret Nr. 65 aus dem Jahre 1986 sah vor, dass mehrgeschossige Wohnblocks nur in großen Städten errichtet werden sollten, während überall sonst kleinere Gebäude und allein stehende Häuser Vorrang haben sollten.12 Insgesamt waren die bulgarischen Behörden hauptsächlich daran interessiert, die Anzahl des verfügbaren Wohnraums in den Städten zu erhöhen, um die Wohnraumknappheit zu überwinden. Sie hatten weitaus geringeres Interesse daran, die ärmsten Gruppen der Bevölkerung mit Wohnraum zu versorgen, und noch geringeres Interesse daran, die soziale Segregation in den Städten zu bekämpfen. Die wachsende Zahl der von Roma bewohnten „Ghettos“ war symptomatisch für die sich vertiefende räumliche Segregation der ärmsten Bevölkerungsschichten während der Zeit des Kommunismus.13 Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel Im kommunistischen Bulgarien waren die Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und das Ziel der Vollbeschäftigung eng verwoben mit dem massenhaften Transfer von Arbeitskräften von der Landwirtschaft zur Industrie sowie zum tertiären Sektor. Die Arbeitslosigkeit in den Städten stellte in den 1940er- und 1950er-Jahren sowie in geringerem Ausmaß in den 1960er-Jahren ein Problem dar, doch das bei Weitem größere Problem war die Überbevölkerung auf dem Land.14 Bis zum Zweiten Weltkrieg waren ca. 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung auf dem Land tätig, doch waren die Einkommen in diesem Bereich deutlich niedriger als bei den Arbeitern in den Städten. Außerdem wuchs die Landbevölkerung bis zum Beginn der 1950er-Jahre beständig an. Die Politik der rapiden Industrialisierung in den 1950er- und 1960er-Jahren wurde nicht nur als ein Mittel zur Modernisierung der Wirtschaft und des Landes angesehen, sondern ebenso als eine Möglichkeit, der Masse der unterbezahlten Bauern zu Arbeit und höheren Einkommen zu verhelfen. Als Lösung auf der Makroebene waren die kommunistischen Behörden begeistert von der schnellen Industrialisierung und der Modernisierung der Landwirtschaft, doch sie waren besorgt angesichts der andauernden massenhaften Migration vom Land in die Städte, welche parallel dazu verlief. Der erste Versuch, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, bestand in Maßnahmen zur Dezentralisierung der Industrie und der Schaffung von Industriearbeitsplätzen in

12 Regierungsdekret Nr. 65 vom 6.6.1986 (CSA, 136/79/58, Bl. 1–3). 13 Vgl. Ilona Tomova, Tziganite v prehodniya period, Sofia 1995; Maya Grekova/Nevena Guermanova/Veronika Dimitrova/David Kuranov/Yana Markova, Romite v Sofia: ot izolatziya kăm integratziya?, Sofia 2008. 14 Vgl. Anastas Totev, Săstoyanieto na zemedelska prenaselenost v Bulgaria, Sofia 1940.

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mittleren und kleinen Städten, später auch in Dörfern. Die Dezentralisierung des sekundären Sektors beruhte nicht nur auf ökonomischen Gründen, sondern war teilweise ideologiegetrieben (die kommunistische Planung zielte auf eine „gleichmäßige Verteilung der Produktivkräfte“), hatte aber hauptsächlich soziale Gründe (die Schaffung besser bezahlter Arbeitsplätze in ländlichen Gebieten sowie die Motivierung der ländlichen Bevölkerung, in ihren Dörfern zu bleiben). Die Dezentralisierung der Industrie erbrachte nur begrenzte Resultate und konnte den Trend zur weiteren Konzentration der Bevölkerung in den Städten nicht umkehren. Parallel dazu versuchten die Behörden, die Einkommen derer, die in der Landwirtschaft tätig waren, zu erhöhen. Bereits in den frühen 1960er-Jahren wurden einige der ärmsten bäuerlichen Kooperativen in staatliche Betriebe umgewandelt, was für die dort Beschäftigten zu garantierten Gehältern und voller sozialer Absicherung führte. Im Verlaufe der 1960er- und frühen 1970er-Jahre stieg das Einkommensniveau in den Dörfern beachtlich an, und man begann damit, Fachkräften in bestimmten Bereichen sowie Beamten Extrazahlungen zu leisten, falls sie in Dörfern arbeiteten. Ab den späten 1960er-Jahren begannen die Behörden eine Politik der „Industrialisierung der Landwirtschaft“, deren ökonomische Ergebnisse man kritisch diskutieren kann, die aber die sozialen Bedingungen der landwirtschaftlich Beschäftigten verbesserte: Mit Beginn der 1970er-Jahre wurden sie neu als „Arbeiter“ anstatt als „Kooperativbauern“ eingestuft. Dies war keine leere Formalität – innerhalb weniger Jahre begannen die Bauern schließlich an sämtlichen sozialen Wohltaten teilzuhaben, die bis dahin auf Arbeiter und Beamte beschränkt gewesen waren.15 Um die Landflucht einzuschränken, versuchten die Behörden auch, die Arbeitskräfte in den Städten in bestmöglicher Weise zu nutzen. Man versuchte, in Bereichen, in denen Körperkraft keine unmittelbare Rolle spielte, so viele Frauen wie möglich einzustellen, um männliche Arbeitskräfte in die Schwerindustrie und die Bauwirtschaft zu lenken.16 Diesen Ansatz verfolgte man auch im Verlaufe der 1970er- und 1980er-Jahre, als der Anteil von Frauen an der Gesamtzahl der Arbeitskräfte weiterhin von 40,0 Prozent im Jahre 1960 auf 43,6 Prozent im Jahre 1970 und 48,5 Prozent im Jahre 1980 stieg, um im Jahre 1989 exakt 50 Prozent zu erreichen. Das Erreichen der Vollbeschäftigung stellte in den 1960er-Jahren noch ein Problem dar, besonders für Frauen sowie in einigen Kleinstädten mir begrenzter industrieller Kapazität.17 Langfristig aber erschien eher das Defizit an Arbeitskräften das akutere Problem zu sein, das ab dem Beginn der 1960er-Jahre

15 Vgl. Iliyana Marcheva, Sotzialisticheskiyat eksperiment v selskoto stopanstvo v Bulgaria (1944–1989). In: Evgeniy Kandilarov (Hg.), Izsledvaniya po istoriya na sotzializma v Bulgaria, Band 2: 1944–1989, Sofia 2010, S. 389–428, hier 406 f., 412. 16 Vgl. Regierungsdekret Nr. 166 vom 14.7.1960; Regierungsdekret Nr. 11 vom 30.1.1962; Beschluss Nr. 5 des Ministerrats vom 8.1.1964 (CSA, 136/38/5). 17 Vgl. Metodi Atanasov, Zaetostta na gradskoto naselenie v Bulgaria, Varna 1968.

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besonders in der Industrie und der Landwirtschaft erkennbar wurde, später auch im Dienstleistungsbereich. Die Politik der Geburtenförderung ab den späten 1960er-Jahren wurde unter anderem mit dem absehbaren Rückgang der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung gerechtfertigt. Zur selben Zeit wurde Rentnern erlaubt, in den Bereichen Produktion und Dienstleistungen zu arbeiten und dabei ihre Renten weiterhin zumindest teilweise zu beziehen. Bereits in den 1980er-Jahren arbeitete eine steigende Zahl von Menschen über dem Rentenalter (60 Jahre bei Männern, 55 Jahre bei Frauen): 198 000 im Jahre 1975 und 346 000 im Jahre 1985 (4,4 Prozent bzw. 7,4 Prozent der arbeitenden Bevölkerung).18 Doch das Renteneintrittsalter wurde erst nach 1989 erhöht. Die soziale Infrastruktur in den wachsenden Städten und die Entvölkerung der ländlichen Gebiete Das rapide Wachstum der Städte stellte auch für die technische und soziale Infra­ struktur eine Herausforderung dar. Das Angebot an Kindergärten und Schulen in den Städten war unzureichend – die Schulen arbeiteten in zwei Schichten, doch bei Kindergärten war dies nicht möglich; Läden, öffentlicher Nahverkehr sowie diverse Sozialeinrichtungen waren sämtlich überfüllt. Diese Probleme wurden durch die Investitionsstrategien des Regimes noch verschlimmert: Die Behörden zogen es vor, zunächst in den Wohnungsbau zu investieren, um die Wohnungskrise zu bewältigen, und das Ergebnis war, dass es den neu gebauten Häusern in unterschiedlichem Ausmaß an sozialer Infrastruktur fehlte. Noch wichtiger war, dass sich die Behörden der Tatsache bewusst waren, dass die soziale Infrastruktur der Dörfer und Kleinstädte eindeutig hinter derjenigen der großen Städte zurücklag; höhere Einkommen reichten nicht aus, um die Bauern dazu zu bewegen, in ihren Dörfern zu bleiben. Soziologische Umfragen unter den neu in die Städte Hinzugezogenen belegen, dass die meisten von ihnen die Lebensbedingungen in den Städten als deutlich besser ansahen als in den Dörfern und Kleinstädten, die sie verlassen hatten.19 Das Dilemma der kommunistischen Behörden bestand also darin, entweder in die soziale Infra­ struktur und die Dienstleistungen in den großen Städten zu investieren, was die sozialen Problem lösen, aber neue Migranten anlocken würde, oder in die sich entvölkernden ländlichen Gebiete, um diese attraktiver zu machen und potenzielle Abwanderer zum Bleiben zu bewegen. Im Verlaufe der 1970er-Jahre begannen die Planungsbehörden über ein effi­ zienteres Dienstleistungsnetzwerk für das gesamte Land nachzudenken. Das

18 Nikolay Botev, Ikonomicheska aktivnost na naselenieto v Bulgaria prez poslednite dve desetiletiya. In: Naselenie, 8 (1990) 2, S. 43. 19 Vgl. Valentina Zlatanova, Sotziologicheski aspekti na migratziyata v Bulgaria, Sofia, 1991, S. 104 f.

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Konzept der „Dienstleistungen“ verstand man in einem breiten Sinn von administrativen und kommerziellen Dienstleistungen bis zu Erziehung und Bildung sowie Gesundheit.20 Diesbezüglich folgten die Planungsbehörden in Sofia dem Beispiel der entwickelteren sozialistischen Länder wie Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und der UdSSR, die bereits seit den 1960er-Jahren über derartige Raumentwicklungsplanungen verfügten (beruhend auf der Theorie des Systems zentraler Orte von Walter Christaller).21 Ein wichtiger Unterschied bestand darin, dass sich die Raumplanung in Bulgarien hauptsächlich darauf konzentrierte, das weitere Wachstum der Städte und die Entvölkerung der ländlichen Gebiete zu stoppen. Weiterhin fanden Investitionen in die soziale Infrastruktur in erster Linie in den größeren administrativen Zentren statt. Eine Politik zur Entwicklung der Kleinindustrie und Dienstleistungen in entvölkerten, gebirgigen und Grenzregionen gab es in allen kommunistischen Ländern, doch die Planungsbehörden in Bulgarien gingen diesbezüglich deutlich weiter: Schließlich profitierten 60 Prozent des Landes in der einen oder anderen Weise von derartigen Programmen.22 Die erfolgreichste Einzelmaßnahme war die Entwicklung der Transportmöglichkeiten. Leichtere und billigere Beförderungsarten (subventioniert für Pendler) erlaubten es einer wachsenden Zahl der ländlichen Bevölkerung, nicht nur in den Städten zu arbeiten, sondern auch vom Zugang zu diversen Dienstleistungen, besser ausgestatteten Geschäften etc., zu profitieren.

Sozialpolitik zur Integration von Minderheiten Ein großes Problem für das kommunistische Regime in Bulgarien stellte die Integration der Minderheiten dar – Türken, Pomaken (bulgarischsprachige Moslems) und Roma. Die Behörden schreckten nicht vor brutalen Maßnahmen und politischen Beschränkungen zurück, während sie gleichzeitig Sozialmaßnahmen zur Förderung von Bildung und Säkularisierung (was untrennbar mit kommunistischer Indoktrination verbunden war), besserer Lebensbedingungen und der Integration von Minderheitengruppen (auch aus Gründen der Sicherheit) einführten. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten wurden geschaffen, um für Minderheiten attraktiv zu werden, die sich in der Vergangenheit als Opfer des „bourgeoisen Chauvinismus“ und der „kapitalistischen Unterdrückung“ gesehen hatten. Anfänglich bestanden die kommunistischen Behörden darauf, dass Minderheiten nicht länger diskriminiert würden und wie die übrige Bevölkerung von

20 Vgl. Marin Devedzhiev, Selishtnite sistemi, Sofia 1978. 21 Vgl. Jiri Musil, Urbanization in Socialist Countries, White Plains 1980. 22 Vgl. Gesho Geshev et al., Vliyanie na migratziyata vărhu formiraneto na regionalnata demografska situatziya. In: Naselenie, 10 (1992) 5, S. 29–39.

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sämtlichen Sozialleistungen profitierten.23 In der Stalin-Ära begann das Regime damit, der türkischen Minderheit sowie anderen Moslems besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da man fürchtete, sie könnten als „fünfte Kolonne“ der benachbarten Türkei agieren. Das erste umfangreichere Programm zur Integration der Roma begann erst später mit dem Regierungsdekret Nr. 258 aus dem Jahre 1958. Es sah Maßnahmen zur Beschulung von Romakindern (und für ihre integrierte Erziehung), zur Schaffung von Arbeitsplätzen sowie zur Verbesserung des Lebensstandards in Wohngegenden der Roma vor. Ausbildung und Beschäftigung Die kommunistischen Behörden hatten zuallererst ein Interesse daran, das massenhafte Analphabetentum unter der türkischen und Romabevölkerung zu überwinden. Die Tatsache, dass die Analphabetenrate dramatisch zurückging, wurde als ein Erfolg des kommunistischen Regimes angesehen. Die Behörden hatten ein ureigenes Interesse daran, die Kinder der Minderheiten in die Schulen aufzunehmen, und zwar zum Zwecke der Integration und Assimilierung. Im Verlaufe der gesamten Ära des Kommunismus bemühte sich der Staat darum, das Netzwerk an Kindergärten, Ganztagsschulen und Internaten für Kinder, deren Muttersprache nicht das Bulgarische war, auszuweiten. Langfristig bestand das Problem darin, dass die Minderheiten bei der höheren Ausbildung eindeutig hinterherhinkten und dass die Mehrzahl der Kinder von Minderheiten die Schule nicht länger als die vorgeschriebenen acht Jahre besuchte. Nach dem Zensus von 1992 verfügten innerhalb der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung 20 Prozent der Bulgaren über eine Universitätsausbildung, aber nur 2 Prozent der Türken, während 54 Prozent der Bulgaren und nur 24,6 Prozent der Türken über eine Sekundarstufenausbildung verfügten; für die Roma lagen die Zahlen noch weitaus niedriger – 0,9 Prozent verfügten über eine Universitätsausbildung und 7,8 Prozent über eine Sekundarstufenausbildung.24 Die Behörden beklagten diese Diskrepanz, doch in der Praxis machten sie sich das niedrige Ausbildungsniveau der Minderheiten zunutze, die nämlich dadurch gezwungen waren, Arbeit in Bereichen mit Arbeitskräftemangel zu suchen. Türken waren massenhaft in der Landwirtschaft (besonders im Tabak­ anbau), in der Bauwirtschaft, der Schwerindustrie etc. tätig. Roma waren als Hilfsarbeiter aller Art, besonders im Reinigungsbereich beschäftigt. Die Kinder von Minderheiten besuchten häufig nur die Berufsschule. Man konzentrierte sich darauf, Beschäftigungsmöglichkeiten für die Minderheiten zu schaffen und ihr Einkommensniveau zu erhöhen. Bereits in den

23 Vgl. Zdravko Mitovski, Sotzialnata politika na Otechestveniya front, Sofia 1948, S. 24–26. 24 Ilona Tomova, Romi. In: Anna Krăsteva (Hg.), Obshtnosti i identichnosti v Bulgaria, Sofia 1998, S. 329–355, hier 347.

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späten 1940er-Jahren gab es bei den Behörden Überlegungen, Investitionen in von Türken bewohnten Regionen und Städten (wie zum Beispiel die Stadt Schumen) mit Vorrang zu behandeln, um sich der politischen Loyalität dieser Bevölkerungsteile zu vergewissern.25 In der Praxis geschah dagegen wenig in den vorrangig von Minderheiten bevölkerten Regionen, und die in diesen Gebieten getätigten Investitionen in den 1940er- und 1950er-Jahren beruhten auf Zufälligkeiten, wie zum Beispiel der Lage von Rohstoffvorkommen (Blei und Zink) im Rhodopen-Gebirge. Die neuen Industriezentren in dieser Region trugen dazu bei, die Einkommen eines Teils der Bevölkerung zu verbessern, ohne ihnen aber die Vorteile eines echten Stadtlebens zu verschaffen. Mit dem Beginn der 1960er-Jahre, besonders aber im Verlauf der 1970erund 1980er-Jahre, wurden die Programme zur Integration der Minderheiten durch Vorhaben zur Entwicklung der von ihnen bewohnten Provinzen ersetzt. Dementsprechend bezogen sich Projekte, welche die Pomaken betrafen, im Allgemeinen auf die Provinz Smolyan (70 Prozent der Bewohner dieser Provinz waren Pomaken).26 Was die türkische Minderheit betraf, stellt das Regierungsdekret vom 1. Juli 1970 über die sozioökonomische und kulturelle Entwicklung der Provinzen Kardzhali, Silistra, Razgrad, Schumen und Targovischte,27 das heißt der Gebiete mit einem beachtlichen Anteil türkischer Bevölkerung, ein typisches Beispiel dar. Das letzte Sonderprogramm für überwiegend von Angehörigen der türkischen Minderheit bewohnte Regionen stammt aus dem Jahre 1985 und bezieht sich auf die Provinz Kardzhali.28 Diese Regionalprogramme waren nicht unbedingt das geeignete Mittel für eine Minderheitenpolitik. Es muss betont werden, dass die jeweiligen Verwaltungseinheiten nicht den Gebieten entsprachen, in denen Minderheiten lebten, ganz im Gegenteil. Auch wenn die für bestimmte Regionen ergriffenen Maßnahmen positive Ergebnisse in Bezug auf Industrialisierung, steigende Einkommen sowie, in geringerem Maße, höherem Lebensstandard erbrachten, waren es keineswegs immer die jeweiligen Minderheiten, die davon profitierten. Ein gutes Beispiel ist die Politik der positiven Diskriminierung bei der Zulassung zu den Universitäten – bis 1964 gab es Quoten für Türken, Pomaken etc.; seitdem gab es Quoten nur für Provinzen mit größeren Anteilen türkischer oder pomakischer Bevölkerung, doch in der Praxis handelte es sich bei denen, die davon profitierten, meist um Bulgaren.29 Was Investitionen innerhalb der Regionen betraf, so ging der größte Teil davon an die jeweiligen Verwaltungszentren, in denen die Mehrheit der Bevölkerung wiederum Bulgaren waren.

25 Beschluss Nr. 18 des Politbüros vom 10.3.1949 (CSA 1-b/6/585, Bl. 2, 22). 26 Vgl. Regierungsdekret Nr. 43 vom 15.11.1969 sowie Protokoll A 500 des Politbüros vom 11.11.1969 (CSA, 1-b/35/976, Bl. 2–12). 27 Regierungsdekret Nr. 13 vom 1.6.1970 (CSA, 136/50/13) 28 Vgl. Regierungsdekret Nr. 20 vom 22.4.1985 (CSA, 136/78/23). 29 Vgl. Pepka Boyadzhieva, Sotzialnoto inzhenerstvo. Politiki za priem văv visshite ushi­lis­ hta prez komunisticheskiya rezhim v Bulgaria, Sofia 2010, S. 177.

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Integration und Lebensbedingungen Die mangelnde Integration der türkischen Minderheit stellte ein großes Pro­blem dar, hauptsächlich aus Gründen der Sicherheit. Die bulgarischen Behörden entwickelten eine geradezu paranoide Furcht vor der Tatsache, dass die Türken weiterhin in geschlossenen Gruppen in ihren angestammten Regionen lebten und dass darüber hinaus der Anteil der türkischen Bevölkerung in vielen ursprünglich gemischten Dörfern anstieg. Tatsächlich wurden Moslems und besonders Türken im Rahmen des Urbanisierungsprozesses schlichtweg marginalisiert: Einige zogen in benachbarte Klein- und Mittelstädte und sehr wenige in die größten urbanen Zentren des Landes. Nach dem Zensus des Jahres 1992 lebten nur 31,6 Prozent der Türken in Städten, verglichen mit 71,6 Prozent der ethnischen Bulgaren. Die mangelnde Urbanisierung der Türken und Moslems im Allgemeinen hatte mit dem geringeren Bildungsniveau dieser Bevölkerungsgruppen zu tun. Sekundarschulen gab es beinahe ausschließlich in den urbanen Zentren, und die Universitäten waren in den großen Städten zu finden, die wichtigsten in der Hauptstadt Sofia. Dementsprechend schränkte das niedrige Bildungsniveau der Minderheiten ihre Möglichkeiten, sich in Städten und besonders in großen Städten anzusiedeln, unmittelbar ein. Die Kehrseite dieses Phänomens war, dass die Prozentzahlen von Türken, die in ländlichen Gegenden lebten, stiegen: Im Jahre 1975 stellten Türken 8,4 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 15,6 Prozent der Landbevölkerung; im Jahre 1992 (trotz der beachtlichen Auswanderung in die Türkei seit 1989) stellten Türken bereits 19,7 Prozent der Landbevölkerung Bulgariens (9,4 Prozent der Gesamtbevölkerung).30 Angesichts seiner Angst vor dem größer werdenden Anteil der Türken und Moslems an der Landbevölkerung revidierte das kommunistische Regime seine Regionalpolitik. Die Behörden gaben ihre Bemühungen zur Entwicklung der von Türken bewohnten Regionen sowie zur Homogenisierung des gesamten Staatsterritoriums nicht vollständig auf, doch nun bestand das hauptsächliche Ziel darin, zu retten, was vom nationalistischen Standpunkt gesehen noch zu retten war. Das wichtigste (und finanziell großzügigste) Regionalprogramm der Spätphase des kommunistischen Regimes Bulgariens war das Regierungsdekret Nr. 22 aus dem Jahre 1982, das sich mit den am schlechtesten entwickelten Regionen des Landes entlang der Grenze zur Türkei befasste.31 Es muss betont werden, dass dieses Gebiet überhaupt nicht überwiegend von Türken besiedelt war, und das Ziel bestand darin, dort Bulgaren anzusiedeln. Es ist symptomatisch, dass das Regierungsdekret Nr. 60 aus dem Jahre 1984 in das Programm für das Gebiet Strandzha-Sakar auch den Bezirk Ivaylograd32 einbezog, der

30 Rezultati ot prebroyavaneto na naselenieto, vol. I. Demografski harakteristiki, Sofia 1994, S. XXV–XXVI. 31 Vgl. Dărzhaven vestnik, Nr. 42 vom 28.5.1982. 32 Vgl. ebd., Nr. 91 vom 16.11.1984.

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mehr als 60 Kilometer von der Region Strandzha entfernt liegt, aber der einzige Bezirk in der Provinz Kardzhali mit überwiegend bulgarischer Bevölkerung ist. In der Spätphase des Kommunismus zogen die Behörden es vor, in „entvölkerte Gebiete“ zu investieren (die üblicherweise von Bulgaren bewohnt waren), im Gegensatz zu unterentwickelten, aber relativ dicht besiedelten Gebieten (die in der Regel von Moslems und Türken bewohnt wurden). Die Integration der Roma war unmittelbarer mit den sozialen Problemen der Städte verbunden. Bezüglich des Baus bzw. der Versorgung mit neuen Wohnungen sah das Dekret aus dem Jahre 1958 vor, dass Roma verstreut in den jeweiligen Siedlungen und Gebieten untergebracht werden sollten, das heißt vermischt mit dem Rest der Bevölkerung. In der Praxis entstanden entsprechend diesem Dekret in etlichen Fällen neue Wohngegenden für Roma in den Randlagen der großen Städte (Filipovtzi bei Sofia, Lozenetz bei Stara Zagora, Kamenar bei Varna).33 Berichte aus den frühen 1970er-Jahren machen deutlich, dass sich die Behörden mehr als zuvor der Tatsache bewusst waren, dass der Erfolg „aller anderen Maßnahmen von der Integration abhängt“.34 Das Ziel bestand darin, Ghettos aufzulösen und die Roma unter Bulgaren in entsprechenden Wohngebieten und Dörfern anzusiedeln, das heißt, einen Teil von ihnen aus den großen Städten auszuweisen und sie in kleineren Städten und Dörfern überall im Land zu verteilen. Insgesamt war auch dieser Plan ein Fehlschlag. Manche Roma profitierten von der Wohnungspolitik des kommunistischen Staates, doch im Gesamtprozess blieben sie unterrepräsentiert. So erhielten beispielsweise zwischen 1975 und 1985 Roma in Sofia ca. 1 500 bis 1 600 Wohnungen vom Staat.35 Im selben Zeitraum stieg aber die Zahl von Wohnungen in Sofia von 257 519 auf 414 018,36 das heißt, die an Roma vergebenen Wohnungen machten nur ca. 1 Prozent aus, während sie schätzungsweise mehr als 3 Prozent der Bevölkerung der Hauptstadt stellten. Dies ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass Sozial­leistungen im kommunistischen Bulgarien keineswegs immer für die ärmsten Schichten der Gesellschaft gedacht waren. Hinzu kam, dass die Roma im Allgemeinen nicht für angesehene und einfluss­reiche Institutionen tätig waren, sodass sie ausreichenden Zugang zu guten, auf Unternehmensbasis erbauten Wohnungen gehabt hätten. Roma erhielten Wohnungen in diversen Wohngegenden in Randlage und mit weniger gutem Ruf, wie zum Beispiel in Druzhba, Obelya, Lyulin, Hadzhi Dimitar, Malashevtzi, Svoboda oder Nadezhda,37 nicht aber in zentralen ­Stadtlagen oder

33 Vgl. Gospodin Kolev, Bălgarskata komunisticheska partiya i tziganite prez perioda 1944–1989 g., Sofia 2010, S. 22 f. 34 Grekova/Guermanova/Dimitrova/Kuranov/Markova, Romite v Sofia, S. 87. 35 Kolev, Bălgarskata komunisticheska partiya i tziganite, S. 30. 36 Atlas Sofia i Sofiyska aglomeratziya, Sofia 1993, S. 63. 37 Vgl. Elena Marushiakova/Vladimir Popov, Tziganite v Bulgaria, Sofia 1993, S. 138; Gre­ kova/Guermanova/Dimitrova/Kuranov/Markova,, Romite v Sofia, S. 107.

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­ litewohngegenden wie Iztok und Lozenetz. Die Mehrheit der Bulgaren hieß die E Integration nicht willkommen, da sie nicht zusammen mit Roma leben wollten. Dies galt allerdings umgekehrt auch für die Roma selbst, welche rassistische Reaktionen seitens mancher Bulgaren fürchteten, sodass viele von ihnen es vorzogen, unter Angehörigen ihrer eigenen Gemeinschaft zu leben, selbst in Fällen, in denen sie eine bessere Unterbringung hätten haben können.38 In Plovdiv gaben die örtlichen Behörden ihre Pläne zur Integration einfach auf, und die Roma wurden getrennt von den Bulgaren in neuen Wohnblöcken untergebracht.39

Der Umgang mit der sinkenden Geburtenrate Der demografische Übergang in Bulgarien ging relativ schnell vor sich: Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erreichte der Zuwachs seinen Höhepunkt, doch tatsächlich begannen zu dieser Zeit die Geburtenraten bereits wieder abzusinken. In der Zwischenkriegszeit beschleunigte sich diese Entwicklung, und bereits in den 1930er-Jahren begannen sich diverse Personen des öffentlichen Lebens in Bulgarien, für geburtenfördernde Maßnahmen auszusprechen. In der Praxis geschah wenig, und das kommunistische Regime übernahm ein Gesetz betreffend „kinderreiche bulgarische Familien“ aus dem Jahre 1943.40 Dieses Gesetz sah zinsgünstige Kredite für frisch verheiratete Paare sowie bescheidene soziale Vergünstigungen für kinderreiche Familien vor. Das neue Regime annullierte lediglich die Einschränkung, dass nur „ein Ehemann und eine Ehefrau, die ethnische Bulgaren sowie bulgarische Staatsbürger sind“ (Art. 2, Abs. b) von diesem Gesetz profitieren konnten.41 Politik zur Geburtenförderung Zu Beginn des Jahres 1948 diskutierte das Politbüro ein Gesetz „zur Ermutigung von Heiraten und Geburten“, doch wurde dies nicht weiter verfolgt,42 und im Juni 1951 erließen die Behörden das Dekret zur Förderung von Geburten und kinderreichen Familien.43 Es sah eine einmalige Zahlung nach der Geburt eines Kindes vor sowie monatliche Zahlungen für jedes Kind bis zum Alter von 14 Jahren. Diese Verordnung wurde als Reaktion auf sinkende Geburtenraten erlassen, die man im Verlaufe des Jahres 1951 festgestellt hatte, besonders im

38 39 40 41 42 43

Vgl. Kolev, Bălgarskata komunisticheska partiya i tziganite, S. 23 f. Vgl. Grekova/Guermanova/Dimitrova/Kuranov/Markova, Romite v Sofia, S. 87 f. Zakon za mnogodetnite bălgarski semeystva, Dărzhaven vestnik, Nr. 71 vom 31.6.1943. Ebd., Nr. 113 vom 18.5.1945. Beschluss Nr. 40 des Politbüros vom 6.2.1948 (CSA, 1-b/6/431, Bl. 2). Ukaz za nasărchenie na razhdaemostta i mnogodetstvoto. In: Izvestiya, Nr. 52 vom 29.6.1951.

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Vergleich zu 1950, als der Babyboom der Nachkriegszeit seinen Höhepunkt erreicht hatte. Das neue Dekret führte auch die sogenannte Junggesellensteuer ein – 5 Prozent des Einkommens für Kinderlose (Frauen zwischen 21 und 45 Jahren und Männer zwischen 21 und 50 Jahren, die keine Kinder hatten, obwohl sie verheiratet waren). In der Folge wurde es verschiedentlich überarbeitet (die wichtigste Änderung datiert aus dem Jahre 1962), und die Zahlungen wurden 1956 sowie 1962 leicht erhöht. Die kommunistischen Behörden waren überzeugt, dass die sozialen Verhältnisse entscheidend waren und erwarteten einen Anstieg der Geburtenrate, wenn sich die Lebensumstände erst einmal gebessert haben würden. Das fortdauernde Absinken der Geburtenraten sollte mit staatlichen Interventionen gestoppt werden. Neue und proaktivere Maßnahmen ab 1968 verbanden Beschränkungen mit substanzielleren Sozialleistungen, die besonders auf (angehende) junge Mütter abzielten. Im Januar 1968 beschränkten die Behörden die Möglichkeiten zur Abtreibung, denen weitere im März 1972 und im April 1973 folgten, doch waren diese sämtlich kurzlebig und wurden bald wieder liberalisiert. Ab 1974 stand die Abtreibung allen Frauen offen, die bereits zwei Kinder hatten, und abgesehen davon handhabten die Gesundheitsbehörden die Abtreibungsbeschränkungen nicht sehr strikt.44 Im Februar 1968 erließen die Behörden ein neues Dekret zur Förderung von Geburten, das über das Ende des Regimes hinaus bis 2002 in Kraft blieb.45 Es sah umfangreichere soziale Anreize vor, während gleichzeitig die Junggesellensteuer auf 10 Prozent für über 30-Jährige erhöht wurde. Darüber hinaus sah ein Programm aus dem Jahre 1973 vor, dass sämtliche Kosten für die Versorgung von Kindern nach und nach vom Staat übernommen werden sollten.46 Dieses Ziel wurde nie erreicht, doch unternahmen die Behörden Schritte, um sicherzustellen, dass das Aufziehen von Kindern für die Eltern billiger wurde, indem das Netzwerk von Kindergärten (stark subventioniert) erweitert und Ganztagsschulen eröffnet wurden etc. Die Ausweitung der Einrichtungen zur Ganztagsversorgung von Kindern war das Ergebnis der Bemühungen, die Arbeitskraft der Frauen für die Wirtschaft auszuschöpfen, während die Erhöhung der Geburtenrate das Hauptziel blieb. Bezahlter Mutterschaftsurlaub vor und nach der Geburt nahm erheblich zu, wie auch die Möglichkeit, unbezahlten Mutterschaftsurlaub zur Versorgung von Kindern zu nehmen. Ab Mitte der 1970er-Jahre beruhte also die Politik zur Geburtenförderung eher auf sozialen Anreizen als auf Beschränkungen der Abtreibung. Insgesamt ging der

44 Vgl. Dimităr Vasilev, Nyakoi izvodi ot 25-godishnoto legalno izvărshvane na izkustveni aborti v evropeyskite sotzialisticheski strani. In: Naselenie, 5 (1987) 2, S. 121, 125. 45 Ukaz za nasărchenie na razhdaemostta, Dărzhaven vestnik, Nr. 15 vom 23.2.1968 (CSA 136/46/11). 46 Vgl. Protokoll Nr. 19 vom 15.5.1973 of the Living Standards Commission (CSA, 136/56/613, Bl. 1–7).

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Rückgang der Geburtenrate weiter, doch zumindest verbesserte der Staat die Bedingungen für die Versorgung von Kindern.47 Die bulgarischen Behörden waren überzeugt, dass der Wohnraummangel in den Städten einer der Hauptgründe für die niedrigen Geburtenraten war und beschloss, junge Paare bei der Wohnraumvergabe zu bevorzugen. Im erweiterten Sinne diente das Ziel „eine Familie – ein Zuhause“, das man aus den 1960er-Jahren übernommen hatte, nicht nur sozialen Zwecken, sondern auch der Erhöhung der Geburtenrate. Dementsprechend mussten nach dem Regierungsdekret Nr. 1 aus dem Jahre 1978 mindestens 10 Prozent der von Gemeinderäten erbauten Wohnungen jung verheirateten Paaren angeboten werden.48 Tatsächlich handelte es sich bei diesen Wohnungen lediglich um Einzimmerappartements (wie in Abs. 2 des Art. 4 des Dekrets ausdrücklich formuliert), und entsprechend dem in den späten 1970er-Jahren üblichen Standard entsprach dies noch nicht einmal den Bedürfnissen einer Familie mit nur einem Kind. In der Praxis mussten junge Paare im Durchschnitt länger als zehn Jahre warten, bis sie eine eigene Wohnung bekamen.49 Die Politik des „dritten Kindes“ Die Politik zur Geburtenförderung war eng verbunden mit den Vorbehalten gegenüber geschlossenen Gruppen von Minderheiten. Um genauer zu sein, die Behörden sahen nicht nur die sinkenden Geburtenraten im Allgemeinen als Problem, sondern ebenso die Tatsache, dass diese unter den Minderheiten höher waren. Die Politik zur Förderung der Geburten zielte nicht nur darauf ab, die Anzahl neugeborener Kinder zu erhöhen, sondern die Zahl der Kinder, deren Eltern ethnische Bulgaren waren. Zu einer wichtigen diesbezüglichen Änderung kam es im Verlaufe der 1960er-Jahre: Anstatt große Familien im Allgemeinen zu unterstützen, konzentrierten die Behörden ihre Bemühungen darauf, die Geburt des jeweils dritten Kindes einer Familie zu fördern. Anfänglich richteten sich monatliche Zahlungen für Kinder in erster Linie an ärmere Familien mit vielen Kindern. Im Jahre 1956 zum Beispiel betrugen diese Zahlungen 12 Leva für ein Kind, 70 Leva für 2 Kinder, 150 Leva für drei Kinder und 100 Leva für jedes weitere Kind (das niedrigste Monatsgehalt zu dieser Zeit betrug 320 Leva, was 32 Leva nach der Währungsreform von 1962 entsprach). Für Familien mit höherem Einkommen waren die Beträge geringer.50 Nach der Neufassung des Dekrets aus dem Jahre 1962 wurden die monatlichen Zahlungen für das zweite, 47 Vgl. Marta Sugareva, Razhdaemostta v Bulgaria – săvremenni tendencii i otzenki. In: Naselenie, 10 (1992) 1, S. 66. 48 Regierungsdekret Nr. 1 vom 27.1.1978 (CSA, 136/66/1); Dărzhaven vestnik, Nr. 24 vom 28.3.1978. 49 Vgl. Iliyana Marcheva, Politikata na stopanska modernizatziya v Bulgaria po vreme na Studenata voyna, Sofia 2016, S. 409. 50 Protokoll Nr. 131 des Politbüros vom 14.6.1956 (CSA, 1-b/6/2884, Bl. 11–13).

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dritte und vierte Kind erhöht, nicht aber für das fünfte, sechste etc. Die Motiva­ tion dahinter war, dass „meist Familien aus Minderheiten (besonders Roma) fünf und mehr Kinder haben“.51 Dieser Ansatz wurde durch das Dekret von 1968 weiterentwickelt, das höhere Zahlungen für das zweite und besonders das dritte Kind vorsah. Für das vierte und alle weiteren Kinder erhielten die Eltern allerdings nur noch einen Minimalbetrag, der dem für das erste Kind entsprach; dasselbe galt für die Einmalzahlung nach der Geburt. Die monatlichen Zahlungen beliefen sich auf 5 Leva für das erste Kind, 15 Leva für das zweite, 35 Leva für das dritte und wiederum 5 Leva für das vierte sowie alle weiteren Kinder. Zum Vergleich: Im Jahre 1968 wurde das Mindesteinkommen auf 60 Leva im Monat erhöht. Tatsächlich fielen die Zahlungen für Familien mit höherem Einkommen niedriger aus, doch das Verhältnis war dasselbe. Die Einmalzahlungen nach der Geburt betrugen jeweils 20, 200 und 500 Leva für das erste, zweite und dritte Kind sowie nur noch 20 Leva für das vierte, fünfte etc. Kind.52 Diese Zahlungen wurden in den Jahren 1979 und 1984 erhöht, blieben aber im Verhältnis zueinander gleich. Sämtliche sozialen Anreize zielten auf Familien mit zwei und drei Kindern, und größere Familien erhielten keine zusätzliche Unterstützung. Dementsprechend hatten auch Familien mit zwei Kindern bessere Chancen, eine Wohnung mit zwei Schlafräumen zu bekommen, während Familien mit nur einem Kind im Allgemeinen nur Anrecht auf eine Wohnung mit einem Schlafraum hatten. Familien mit drei, vier, fünf oder mehr Kindern konnten nicht erwarten, eine Wohnung mit mehr als zwei Schlafräumen zu bekommen. Dieses System des Kindergeldes unterschied sich von anderen osteuropäischen kommunistischen Ländern: Einerseits waren die Beträge in Bulgarien für Familien mit drei Kindern vergleichsweise hoch, andererseits aber wurden diese Zahlungen nirgendwo sonst für die weiteren Kinder großer Familien derart drastisch beschnitten.53 Tatsächlich stellte das System des höheren Kindergeldes für das zweite und besonders das dritte Kind einen Versuch dar, ohne offene Diskriminierung eine höhere Geburtenrate unter ethnischen Bulgaren zu fördern, nicht aber unter den größeren Familien der Minderheiten. Dieses Beispiel zeigt ein weiteres Mal, dass die Existenz großer, geschlossener Minderheitengruppen eine beachtliche Auswirkung auf die Sozialpolitik in Bulgarien hatte. Einige Sozialprogramme wurden eingeführt, um ihre Integration und somit Assimilation zu fördern. Auf lange Sicht war die Tatsache bedeutsamer, dass das Regime zunehmend zurückhaltender agierte, wenn es darum ging, überhaupt irgendwelche Sozialleistungen zu gewähren, von denen in erster Linie die Minderheiten profitierten.

51 Beschlüsse des Ministerrats 355 vom 19.9.1962 (CSA, 136/34/504, Bl. 4). 52 Regierungsdekret 61 vom 28.12.1967 (CSA, 136/44/59, Bl. 3); Dărzhaven vestnik, Nr. 15 vom 23.2.1968. 53 Vgl. Jean-Pierre Bardet/Jacques Dupâquier (Hg.), Histoire des populations en Europe. Band III: Les temps incertaines 1914–1998, Paris 1999, S. 62.

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Die Aufrechterhaltung eines hohen Lebensstandards zur Verhinderung sozialer Unruhen Das kommunistische Regime übernahm ein System der Sozialfürsorge, das am Beispiel der entwickelteren Staaten Europas und besonders am faschistischen Italien orientiert war. Ein Ministerium für Sozialpolitik sowie ein Ministerium für Gesundheit wurden am Tage der kommunistischen Machtübernahme, dem 9. September 1944, neu eingerichtet. Tatsächlich war die Schaffung dieser Ministerien nichts wirklich Neues, und in der Praxis übernahmen sie bereits bestehende administrative Einheiten, die bis dahin im Rahmen anderer Ministerien bestanden hatten. Kurzfristig gab es keine grundsätzliche Änderung der Sozialpolitik. Anfänglich hatte das kommunistische Regime mit den Problemen zu tun, die es aus den früheren Jahren übernommen hatte: Es ging um die Versorgung mit Gütern, die Kontrolle der Gehälter und Preise (nicht nur der Konsumentenpreise, sondern auch der Verkaufspreise für landwirtschaftliche Produkte), der Versorgung einer beachtlichen Zahl an Arbeitslosen sowie um die Wohnungskrise in den Städten. Nachdem sie im Verlaufe einiger Jahre ihre Macht konsolidiert hatte, änderte sich der Ansatz der kommunistischen Führung dramatisch, und man begann, die Sozialpolitik als Kompensation für die Eingriffe des Regimes zu vernachlässigen. Die frühe Phase der Industrialisierung und erzwungenen Kollektivierung wurde durch Einschränkungen des Konsums und sinkende Löhne finanziert. Allerdings wurde dieser Ansatz unmittelbar nach Stalins Tod aufgegeben.54 Von da an blieb das kommunistische Regime in Bulgarien zwar weiterhin an einer staatlich gelenkten Entwicklung orientiert (ähnlich der stalinistischen Periode), doch wurde es eher vorsichtig, wenn es um soziale Forderungen und Erwartungen ging. Die Sozialpolitik nach Ende der 1950er-Jahre wurde zu einem Großteil von dem Ehrgeiz bestimmt, wirtschaftlich zu den entwickelteren kommunistischen Ländern Osteuropas aufzuschließen, und zwar zu den geringstmöglichen sozialen Kosten. Wie bereits erwähnt, sah man die schnelle Industrialisierung als einzige Möglichkeit an, Massenarbeitslosigkeit zu verhindern und die Einkommen der Bevölkerung zu erhöhen. Im Ganzen wurde dies mithilfe direkter Unterstützung der UdSSR erreicht, und das Modell funktionierte von Ende der 1950er- bis Anfang der 1980er-Jahre. Bei zwei Gelegenheiten – im Jahre 1963 und dann wieder im Jahre 1973 – machte der Führer der Kommunistischen Partei Bulgariens, Todor Schiwkow, sogar den Vorschlag, sein Land zur 16. Republik der UdSSR zu machen. Obwohl eine derartige Maßnahme nicht realisierbar war, demonstrierte diese Geste wie auch sein kaum verhülltes Bemühen, wirtschaftlich soweit wie irgend möglich von einer engeren Kooperation mit der Sowjetunion zu profitieren, dennoch Schiwkows unverbrüchliche Loyalität gegenüber Moskau.55 54 Vgl. Marcheva, Politikata na stopanska modernizatziya, S. 97–99. 55 Vgl. Iskra Baeva, „Sblizhenieto“ mezhdu Bulgaria i Săvetskiya săyuz (1963–1973). In: Novo vreme 1 (1993), S. 89–106; Marcheva, Politikata na stopanska modernizatziya, S. 204–216.

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Ab den frühen 1970er-Jahren richtete die kommunistische Führung ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf den Lebensstandard der Bevölkerung. Dies schlug sich in viel publizierten Parteidokumenten und Programmen nieder (in erster Linie das sogenannte Dezemberprogramm 1972), aber auch in einer Erhöhung der Gehälter und Renten, in der oben beschriebenen Sozialpolitik für die Landbevölkerung sowie in der Kinderbetreuungspolitik.56 Ehrgeizigere Sozialprogramme konnten nicht umgesetzt werden, da die Ressourcen zu begrenzt waren. Die Sozialprogramme zur Förderung der Geburtenrate sowie die Programme für die ländlichen Gebiete waren nur gemessen am bulgarischen Standard großzügig. Andererseits war das kommunistische Regime in Bulgarien recht erfolgreich bei der Erreichung grundlegender Resultate im Bereich der Bildung für die breiten Massen, der Vollbeschäftigung, der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern sowie der Bereitstellung der medizinischen Versorgung (besonders bei der Senkung der Kindersterblichkeit und allgemeinen Sterblichkeit). In der Praxis gewann das Problem des Lebensstandards in den 1980er-Jahren unmittelbare politische Bedeutung. Dies lag allerdings nicht an der innenpolitischen Entwicklung: Die Behörden waren schockiert angesichts der „Ereignisse“ in Polen in den Jahren 1980/81. Die Führung in Sofia war ernsthaft besorgt und glaubte, dass der Grund für die Unruhen in Polen die Kürzung von Sozialleistungen sowie ein Mangel an Konsumgütern gewesen sei. Als Ergebnis achtete das Schiwkow-Regime in den 1980er-Jahren sehr darauf, dass wirtschaftliche Maßnahmen nicht mit hohen sozialen Kosten verbunden waren, die etwa zu sozialen Spannungen hätten führen können.57 Ab 1985 wurde dies besonders schwierig, als die Sowjetunion unter Gorbatschow ihre vielfältige direkte und indirekte wirtschaftliche Unterstützung des Landes drastisch beschnitt. Selbst unter diesen Umständen bemühten sich die Behörden, Konsum und Lebensstandard so hoch wie möglich zu halten. Die Behörden versprachen glattweg, den Import von Konsumgütern zu erhöhen.58 Es konnte nicht überraschen, dass Bulgariens Auslandsschulden ab Mitte der 1980er-Jahren massiv anstiegen, was im März 1990 zum Bankrott des Staates führte. Zur selben Zeit, als sich Ceau­ şescu in Rumänien die größte Mühe gab, Rumäniens Auslandsschulden um jeden Preis zurückzuzahlen (was ihm kurz vor seinem Sturz tatsächlich gelang), vertraute das Regime in Sofia auf Auslandsanleihen, um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten und mögliche soziale Unruhen zu vermeiden. Diese Politik verhinderte ein Absinken des Lebensstandards nur kurzfristig, indem es diese Entwicklung auf die Jahre im unmittelbaren Anschluss an den Zusammenbruch des Regimes verschob. 56 Vgl. Iliyana Marcheva, Problemi na modernizatziyata pri sotzializma: industrializatziyata v Bulgaria. In: Izsledvaniya po istoriya na sotzializma v Bulgaria, Band 2, S. 178–224, hier 211 f. 57 Vgl. Martin Ivanov, Reformatorstvo bez reformi. Politicheska ikonomiya na bălgarskiya komunizăm, Sofia 2008, S. 220 ff.; Marcheva, Politikata na stopanska modernizatziya, S. 404. 58 Vgl. Mariya Boycheva, Sotzialna politika i zhizneno ravnishte, Sofia 1987, S. 19.

Widerspruch und Opposition im kommunistischen Bulgarien Dimitrina Petrova* Der vorliegende Beitrag vertritt folgende These: Obwohl die stärkere Legi­ timierung und allgemeine Akzeptanz des bulgarischen Kommunismus im Vergleich zu anderen kommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa eine weniger ausgeprägte Kultur des Widerspruchs erwarten lässt, war der bulgarische Widerstand gegen das kommunistische Regime tatsächlich bedeutend stärker, als man angesichts der spezifischen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in Bulgarien vermuten könnte. Dementsprechend verdienen Widerstand und Widerspruch unter dem Kommunismus in Bulgarien größere Beachtung, als es derzeit der Fall ist. Zudem soll darauf verwiesen werden, dass der Regimewechsel 1989/90 nicht nur von Bestrebungen nach Freiheit und Demokratie getrieben war, sondern auch von einer allgemeinen Verbitterung über das vom Kommunismus nicht eingelöste Versprechen der Gleichheit. Widerspruch und Opposition gab es in verschiedener Weise während der gesamten Zeit des Kommunismus in Bulgarien von 1948 bis 1989. Die beiden Übergangsphasen – die Zeit des Parteienpluralismus vom 9. September 1944 bis 1948 sowie die Zeit zwischen dem 10. November 1989, als Schiwkow gestürzt wurde, und dem 13. Oktober 1991, als die Sozialistische (ehemals Kommunistische) Partei die Wahlen verlor – müssen als die historischen Eckdaten der Ära des Kommunismus in der Geschichte Bulgariens gesehen werden. Die Literatur zu Opposition und Widerspruch in Bulgarien in der Zeit des Kommunismus besteht aus Dokumenten von Regimegegnern sowie von offiziellen staatlichen und Parteiinstitutionen, einschließlich der Staatssicherheit,1 aus Memoiren und Interviews2 sowie aus Analysen.3 Der Machtkampf um das * 1

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Aus dem Englischen übersetzt von Mirko Wittwar. Vgl. u. a. Georgi Markov, Zadochni reportazhi za Bulgaria, Sofia 1990; Georgi Zarkin, Otvud chertata, Sofia 1994; Stefan Doynov (Hg.), Shesto upravlenie sreshtu neformal­ nite organizatsii v Bulgaria 1988–1989 g.: Dokumentalen sbornik s materiali ot arkhivite na MVR i Tsentralniya durzhaven arkhiv, Sofia 1999; Zdravko Dafinov, Pod diktaturata na proletariata 1944–1956: Spomeni, dnevnitsi, pisma, Sofia 1998. Unter den Memoiren kommunistischer Funktionäre finden sich umfangreiche Bücher von ehemaligen Beamten der Staatssicherheit und hochrangigen Angehörigen der No­ menklatura. Vgl. u. a. Boncho Assenov, Ot Shesto za Shesto i sled tova, Sofia 1999; ders., Vazroditelniyat protses i Darzhavna sigurnost, Sofia 1996; Dimitar Ivanov, Politicheskoto protivopostavyane v Bulgaria 1956–1989, Sofia 1994; Angel Solakov,

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Narrativ der Vergangenheit, besonders über die Zeit der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre, wird nach wie vor ausgetragen. Selbst heute noch, beinahe 30 Jahre nach 1989, ist es vielleicht zu früh für einen objektiven, unparteiischen Rückblick.4 Meinem Eindruck nach neigen praktisch sämtliche Analysen dazu, Umfang, Stärke und Bedeutung abweichender Meinungen unter dem Kommunismus in Bulgarien zu unterschätzen. Dieses bisher vorherrschende Urteil mag einen gewissen nationalen Minderwertigkeitskomplex widerspiegeln. Doch weit entfernt davon, schwach (die überwiegende Einschätzung) oder überhaupt nicht existent (die Meinung einer Minderheit, was an Definitionsproblemen liegen kann) gewesen zu sein, stellten abweichende Haltungen unter dem Kommunismus in Bulgarien ein Phänomen von beachtlichem Ausmaß dar, wenn man es im spezifischen Kontext des bulgarischen Kommunismus mit seinen relativ hohen ökonomischen Wachstumsraten, seiner sozialen Mobilität, seiner politischen Legitimierung sowie seiner Effizienz bei der Unterdrückung von Protesten betrachtet.5 Im Bewusstsein der immer noch andauernden Debatte über die Definition bestimmter Begriffe im bulgarischen Kontext6 werden für den vorliegenden Artikel die Begriffe „Opposition“, „Widerstand“, „Widerspruch“ und „Dissidententum“ in einem weiten und austauschbaren Sinn verwendet.

Widerstand und Unterdrückung während der Errichtung der ­kommunistischen Herrschaft (1944–1948) In der unmittelbar auf den 9. September 1944 folgenden Zeit gab es Widerstand gegen den Aufstieg und die Konsolidierung des Kommunismus sowohl innerhalb als auch außerhalb der Vaterländischen Front, einer Linkskoalition, die, als Ergebnis eines Putsches, der von der Sowjetarmee unterstützt wurde,

3

4 5 6

­Predsedatelyat na KDS razkazva …, Sofia 1993; Georgi Sotirov, Turskite teroristi i az, edin ot Shesto, Sofia 1991; Niko Yahiel, Todor Zhivkov i lichnata vlast, Sofia 1997. Zu Erinnerungen ehemaliger Gegner des kommunistischen Regimes auch Stefan Botchev, Belene: Skazanie za kontslagerna Bulgaria, Sofia 1999; Petko Simeonov, Golyamata promyana 1989–1990, Sofia 1996; Schelju Schelew, Vupreki vsichko: Moyata poli­ti­ cheska biografia, Sofia 2005. Vgl. u. a. Natalia Khristova, Spetsifika na bulgarskoto „disidentstvo“, Sofia 2005. Evge­ niya Ivanovas Buch „Bulgarskoto disidentstvo“ ist eine Zwischenform aus Doku­ment, Memoiren und Theorie. Es enthält Interviews mit bulgarischen Dissidenten aus den letzten beiden Jahren der kommunistischen Herrschaft, die gebeten worden waren, sich zu analytischen Fragen zu äußern wie z. B. der Identität, Motivation, dem sozialen Hintergrund, den internen Strukturen usw. der Dissidentenbewegung. Siehe Evgeniya Ivanova, Bulgarskoto disidentstvo 1988–1989, Sofia 1997. Auch kann man die Autorin schwerlich als objektive Historikerin bezeichnen, da sie während des Untergangs des Kommunismus eher Teilnehmerin als Beobachterin war. Diese Sicht der Dinge findet sich bereits in: Dimitrina Petrova, Bulgaria. In: Detlef Pol­ lack/Jan Wielgohs (Hg.), Dissent and Opposition in Communist Eastern Europe: Ori­ gins of Civil Society and Democratic Transition, London 2004, S. 161–184. Vgl. u. a. Ivanova, Bulgarskoto disidentstvo; Khristova, Spetsifika.

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an diesem Tag an die Macht kam. Der Widerstand einer bewaffneten Guerilla gegen die Vaterländische Front begann unmittelbar und stützte sich auf die sogenannten „goryani“ (Waldleute), die bis weit in die 1950er-Jahre aktiv waren.7 Die unmittelbar auf den 9. September 1944 folgenden Monate sahen eine Welle massenhafter Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren. Es ist schwer abzuschätzen, wie hoch die Zahl derjenigen ist, die ohne Prozess und Urteil ermordet wurden; die Zahlen schwanken zwischen 625 und 30 000 Menschen.8 Die Gräuel im Herbst 1944 waren das Ergebnis von Rache für die Verbrechen, die unter dem Pro-Nazi-Regime verübt worden waren, doch bei einigen handelte es sich um rein kriminelle, unpolitische Gewalttaten. Nachdem es das Parlament aufgelöst und sich dessen Rechte angeeignet hatte, richtete das Regime mithilfe eines „Gesetzesdekrets“ vom Dezember 1944 Lager für „politisch gefährliche Personen“ ein.9 Im ersten Jahr der „Volksdemokratie“ wurden dort schätzungsweise 3 300 Personen gefangen gehalten, hauptsächlich diejenigen, die der Säuberung des Staatsapparates zum Opfer gefallen waren. Im Oktober 1944 richtete ein weiteres „Gesetzesdekret“, unter Verletzung der Verfassung von Tarnowo, einen Volksgerichtshof zur Aburteilung von Kriegsverbrechern ein. Dieses Tribunal existierte von Dezember 1944 bis April 1945. Mit 9 155 Verurteilungen nimmt Bulgarien einen der vorderen Plätze unter denjenigen Ländern ein, die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg ähnliche Tribunale einrichteten. Unter den Urteilen fanden sich 2 730 Todesurteile und 1 305 Verurteilungen zu lebenslänglicher Haft. Den Familien der Verurteilten wurden für Jahrzehnte ihre Rechte beschnitten. Der Volksgerichtshof verband die Bestrafung von Unterstützern der Nazis, wie sie von der Anti-Nazi-Koalition gefordert wurde, mit der Eliminierung der stärksten Gegner der aufstrebenden kommunistischen Elite.10 Bis Ende 1945 war die Mitgliedschaft in Parteien, die Gegner der Vaterländischen Front waren, auf schätzungsweise 60 000 Mitglieder geschrumpft, wobei die Bulgarische Bauernunion (die Fraktion Nikola Petkows) die größte Zahl an Mitgliedern hatte (ca. 54 000). Die Oppositionsparteien bestanden auf die Einhaltung der Verfassung von Tarnowo, unterstützten die Demokratie, prangerten die autoritären und diktatorischen Methoden der Kommunisten an und riefen zum aktiven Widerstand auf. Zu Beginn des Jahres 1946 starteten die Kommunisten eine Offensive gegen die politische Opposition: Parteiführer wurden interniert, oppositionelle Zeitungen verboten und eine Propagandakampagne gestartet. Eine Serie von Schauprozessen endete mit der Verurteilung wichtiger Oppositionsführer. Mitgliedern existierender oder eingebildeter      7 Vgl. Daniela Gorcheva, Zabravenata suprotiva, LiterNet 2007 Nr. 5 (http://liternet.bg/ publish19/d_gorcheva/gorianite.htm; 17.10.2018).     8 Evgeniya Kalinova/Iskra Baeva, Bulgarskite prekhodi 1944–1999, Sofia 2000, S. 30.     9 Vgl. Penka Stoyanova/Emil Iliev, Politicheski opasni litsa – vadvoryavaniya, trudova mo­ bilizatsiya, izselvaniya sled 1944 g., Sofia 1991. 10 Polya Meshkova/Dinyu Sharlanov, Bulgarskata gilotina: Taynite mekhanizmi na narod­ niya sud, Sofia 1994; Petar Semerdzhiev, Narodniyat sud v Bulgaria 1944–1945, Sofia 1998.

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­Verschwörungsgruppen wurde der Prozess gemacht, unter ihnen der Bauernführer Georgi Dimitroff (in Abwesenheit, da er aus dem Land geflohen war), der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Krustyu Pastukhov, der Heraus­geber der sozialdemokratischen Zeitung, Tsveti Ivanov, die Führer der Militärorganisation Zar Krum sowie Aktivisten der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation (VMRO). Dennoch, trotz einer Atmosphäre der Gewalt und Einschüchterung, gewann die Opposition am 27. Oktober 1946 bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Sechsten Großen Nationalversammlung 28,35 Prozent der Stimmen. Nach der Anerkennung der kommunistisch geführten Regierung durch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges im Pariser Friedensvertrag vom 10. Februar 1947 war die Vernichtung der politischen Opposition nicht mehr aufzuhalten und wurde mit extremer Brutalität innerhalb eines Jahres zu Ende gebracht. Zu den Unterdrückungsstrategien gehörten weitere inszenierte Prozesse gegen Oppositionsführer. Im April wurden die Zeitungen der Opposition verboten. Der Hauptschlag gegen die Opposition geschah im Juni, als die parlamentarische Immunität Nikola Petkows, des Führers der bedeutendsten Oppositionspartei, aufgehoben und er verhaftet, angeklagt, verurteilt und am 23. September 1947 hingerichtet wurde. Seine Partei wurde im August 1947 für illegal erklärt, und die Vernichtung der verbliebenen Oppositionsparteien folgte bald darauf. Das Land war nun einem stalinistischen Totalitarismus unterworfen.

Die Zeit des Stalinismus (1949–1956) Während der stalinistischen Periode des bulgarischen Kommunismus wurden in Strafanstalten, Gefängnissen und Arbeitslagern die schlimmsten Gräueltaten gegen die Gegner des Regimes verübt.11 Zusammen mit Hunderten anderer wurde Atanas Moskow, einer der Führer der Sozialdemokraten, im Jahre 1951 in dem berüchtigten Straflager Belene interniert und im selben Jahr wegen der Zugehörigkeit zu einer konterrevolutionären Organisation verurteilt, die einen Staatsstreich sowie die Errichtung einer Regierung westlicher Art beabsichtigt hätte. Andere Führer der Sozialdemokraten, die für ähnliche Vergehen verurteilt wurden, waren Kosta Lultschew, Ivan Koprinkov und Petăr Dertliew. Im Jahre 1949 wurden 15 protestantische Pastoren verurteilt. Drei Jahre später wurde die katholische Kirche das nächste Opfer und mehrere Priester wurden wegen Aufruhrs verurteilt.12 Wenn man Opposition gegen das kommunistische 11 Bzgl. der Vielzahl der Berichte über die Lager siehe u. a. Botchev, Belene; Ekaterina Boncheva/Edvin Sugarev/Svilen Patov/Zhan Solomon (Hg.), Bulgarskiyat Gulag: Svid­ teli, Sofia 1991; Boris Khristov, Izpitanieto: Spomeni za protsesa i sudbata na Traycho Kostov i negovata grupa, Sofia 1995; Georgi Vassilev, Ostrov Persin: Pozorut na Bulga­ ria, Sofia 1995. 12 Vgl. Zhoro Tsvetkov, Razpyatieto: Sudebnata razprava s deytsi na katolicheskata tsurkva v Bulgaria prez 1952 g., Sofia 1994.

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Regime in einem weiten Sinne versteht, einschließlich Widerspruchs innerhalb der Kommunistischen Partei, dann muss man noch die Unterdrückung Trajtscho Kostows und seiner Anhänger in den späten 1940er- und 1950er-Jahren13 hinzuzählen. Dies bedeutete die Eliminierung jener kommunistischen Führer, die während des Zweiten Weltkrieges innerhalb Bulgariens gegen das Pro-Nazi-­ Regime gekämpft hatten, durch Funktionäre, die aus dem Exil in der Sowjetunion zurückgekehrt waren, wo sie die Jahre des Krieges verbracht hatten, da­ runter Walko Tscherwenko, Georgi Dimitroffs und Wassil Kolarows Nachfolger und Vorgänger von Todor Schiwkow an der Spitze der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP).

Die Zeit von 1956 bis zu den späten 1980er-Jahren Im Anschluss an den 20. Kongress der KPdSU hielt sich BKP-Führer Todor Schiwkow eng an die Partei- und Staatspolitik Chruschtschows und später Breschnews. Nach Chruschtschows Sturz im Jahre 1964 gab es in diplomatischen Kreisen einige Spekulationen darüber, ob Schiwkow wohl den Führungswechsel in Moskau überleben würde. Schiwkow ging allerdings eine enge Freundschaft mit Breschnew ein und navigierte meisterhaft zwischen dogmatischen Stalinisten und liberalen „Revisionisten“ innerhalb der BKP und entledigte sich eines jeden, der ihm hätte entgegentreten können, indem er ihm Abweichung von der Parteilinie in die eine oder die andere Richtung vorwarf. Die Opposition innerhalb der Kommunistischen Partei im Verlaufe der 1960er- und 1970er-Jahre ist von besonderem historischem Interesse. In den 1960er-Jahren konspirierte eine Gruppe innerhalb der BKP unter Führung der Generäle Ivan Todorov-Gorunya und Tsvyatko Anev zur Vorbereitung eines Staatsstreichs gegen Schiwkow, der aufgrund seiner Versuche, Elemente der Marktwirtschaft einzuführen, für einige Kommunisten inakzeptabel geworden war und als Rechtsabweichler galt. Gorunya kam unter mysteriösen Umständen ums Leben. Nach einer Version beging er Selbstmord, als er verhaftet werden sollte. Neun namentlich bekannte Angehörige der Verschwörung wurden zu Haftstrafen zwischen drei und fünfzehn Jahren verurteilt. Bis Ende der 1960er-Jahre war die Gruppe vollständig zerschlagen.14 Gegenüber Intellektuellen – Schriftstellern, Theaterleitern und Kinodirektoren, Künstlern, Philosophen und Historikern – bestand Schiwkows Strategie aus einer Kombination strikter Unterdrückung einer jeden offenen Opposition

13 Vgl. Khristov, Izpitanieto; vgl. auch die offizielle Abschrift des Verfahrens in: Protsesut sreshtu Traycho Kostov i negovata grupa, Sofia 1949. 14 Vgl. Tsvyatko Anev, Spomeni i razmisli na edin „gorunovets“ 1965, Sofia 1996; Petko Tsonev, Zashto ubikhte legendarniya partizanin Gorunya? Dokumentalen razkaz, Sofia 1993.

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und geschickten Manövrierens, um sie zur Mitarbeit zu gewinnen. Das Ausmaß, in dem verschiedene Intellektuelle die zulässigen ideologischen Grenzen des Parteistaates überschritten und tatsächlich gegen das System gerichtete Perspektiven entwickelten, ist umstritten.15 Ein Beispiel für ein „Nest“ oppositioneller Einstellungen stellt die einzigartige Entwicklung an der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Universität Sofia dar. In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre gab es eine klare Trennung zwischen konservativen Krypto-Stalinisten und reformorientierten Liberalen, beide innerhalb des Rahmens des offiziellen Marxis­mus-Leninismus. In den frühen 1960er-Jahren war die BKP-Organisation an der Fakultät für Philosophie und Geschichte praktisch der Kontrolle durch das Zentralkomitee der KP entglitten. Der Historiker Nikolaj Genčev gab lebhafte, gegen das Regime gerichtete Verlautbarungen von sich, während andere wie der Philosoph Kiril Wassilew, Leiter des überaus wichtigen Lehrstuhls für Dialektischen und Historischen Materialismus, liberal gesonnene Marxisten waren, welche zur Debatte ermunterten. Nach dem Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 waren die ersten Jahre der Breschnew-Ära eine rasante ideologische Restalinisierung Bulgariens. Der Aufstieg Todor Pawlows und anderer dogmatischer marxistischer Ideologen führte zu einer Verstärkung der Kontrolle der Partei über die Universität und das ideologische Establishment. Interne Differenzen und Machtkämpfe spiegeln sich in der an der Universität Sofia verbreiteten Erzählung von der Unterdrückung des Philosophiedoktoranden und zukünftigen Präsidenten Bulgariens, Schelju Schelew.16 Angesichts der liberalen Atmosphäre an der philosophischen Fakultät der Universität Sofia während der gesamten Zeit des Kommunismus ist es keine Überraschung, dass die bulgarische Opposition in den letzten Jahren der kommunistischen Herrschaft eine ungewöhnlich große Zahl an Sozial- und Geisteswissenschaftlern aufwies – eine historische Koinzidenz, die eine Besonderheit Bulgariens darstellt. In den späten 1960er-Jahren begann sich in Bulgarien eine Dissidenten-Subkultur herauszubilden, die Ähnlichkeiten mit dem sowjetischen Dissidententum aufwies, besonders nach 1968. Sie entsprang aus der Opposition gegen Schiwkows autokratisches Regime innerhalb der BKP, der älteren nicht-kommunistischen Opposition der 1940er- und frühen 1950er-Jahre sowie aus dem Einfluss der Dissidenten in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und anderer sozialistischer Länder. Ein alternativer, inoffizieller Bereich öffentlicher Kommunika­ tion, der noch nicht einmal in der Zeit des Stalinismus vollständig ausgeschaltet worden war, gewann in den 1970er- und 1980er-Jahren zunehmend an Stärke. Dadurch entstand ein Kommunikationsraum für einen endlosen Strom an Anek­ doten, in denen man sich über das Regime lustig machte, für geschmuggelte und

15 Vgl. Khristova, Spetsifika – hierbei handelt es sich um eine sehr positive Bewertung des intellektuellen Dissenses innerhalb der Kommunistischen Partei in den 1950er- und 1960er-Jahren. Es wird plausibel dargelegt, dass während dieser Jahrzehnte die Partei­ mitgliedschaft kein relevanter Hinweis auf die politische Haltung war. 16 Vgl. Schelew, Vupreki vsichko, S. 78–154.

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verbotene Bücher, Lieder, Kunstwerke, für Diskussionen in Cafés und Küchen, sowie für eine ganze Reihe informeller Lesegruppen, Salons und Gesellschaften. Im Verlaufe der 1980er-Jahre wurde „Das Seminar“ zu einer etablierten einheimischen Mode.17 In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden einzelne Dissidenten wegen Aufwiegelung oder anderer gegen den Staat gerichteter Vergehen verurteilt, eingesperrt und manchmal auch ermordet. Ein typisches Beispiel für das wenig bekannte Schicksal bulgarischer Dissidenten jener Zeit ist das Leben Georgi Zarkins, eines im Jahre 1940 geborenen Journalisten und Fotografen. Er wurde im Jahre 1977 im Pazardzhik-Gefängnis ermordet, nachdem er zuvor dreimal für politische Straftaten entsprechend Kapitel 1 des Strafgesetzbuchs verurteilt worden war. In den 1960er-Jahren hatte Zarkin in Samokow im südwestlichen Bulgarien Flugblätter hergestellt und verteilt und wurde 1966 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nach der Unterdrückung des Prager Frühlings protestierte er mit einem 28-tägigen Hungerstreik im Stara-Zagora-Gefängnis und sandte einen schriftlichen Protest an die Gefängnisbehörden sowie einen öffentlichen Brief an den Premierminister. Er schrieb: „Hinter der Fassade der Demokratie hat sich in Bulgarien ein diktatorisches Regime etabliert. […] Es gibt mehr Gerichte als Kultureinrichtungen, und mehr Gefängnisse und Straflager als Ferien­ heime und Sanatorien. […] Die Fünfjahrpläne entstehen auf den Knochen der Arbeitervertreter. Bulgarien hat sich in ein Experimentierlabor für Russland verwandelt.“18 Im Jahre 1969, während seines zweiten Prozesses, wurde ihm weder ein Verteidiger zugestanden, noch war ihm Schreibmaterial zur Vorbereitung seiner Verteidigung erlaubt. Er schrieb mit seinem eigenen Blut auf sein Taschentuch: „Gegenwehr! Ich wurde als Mensch geboren. Ich lebe wie ein Tier. Doch wird mich dies nicht daran hindern, als anständiger Mensch zu sterben.“19 Nachdem er im Pazardzhik-Gefängnis schwer zusammengeschlagen worden war, wurde er in seiner Zelle erdrosselt.20 Ein weiteres Beispiel für individuelles Dissidententum ist Dimitar Petkow (geboren 1928), der Mitglied der Jugendsektion der Bauernunion (ZMS) gewesen war und zehn Jahre Haft wegen oppositioneller Aktivitäten verbüßte. Nachdem er im Jahre 1965 freigelassen worden war, lebte er in dem Dorf Arbanassi bei Weliko Tarnowo. In den Jahren 1965/66 verteilte er Flugblätter mit antikommunistischen Botschaften und im Jahre 1968 solche, auf denen stand: „Schande über die Invasoren der Tschechoslowakei!“ sowie „Proletarier vereinigt euch, oder wir werden euch unter unseren Panzern zerquetschen!“ Zwischen 1966 und 1970 verfasste er mindestens 35 unterschiedliche Flugblätter und schrieb

17 Vgl. Miglena Nikolchina, The Seminar: Mode d’emploi. Impure Spaces in the Light of Late Totalitarianism. In: Differences, 13 (2002) 1, S. 96–127. 18 Zit. nach Silviya Borisova, Georgi Zarkin. In: Demokraticheski pregled 35 (Spring 1998), S. 215 f. 19 Ebd. 20 Vgl. Georgi Zarkin, Otvud chertata, Sofia 1994.

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Briefe an offizielle Behörden. Im Jahre 1971 erneut verurteilt, blieb er bis 1974 „unter verschärften Bedingungen“ im Gefängnis, woraufhin er entlassen und in das Dorf Kamen im Distrikt Weliko Tarnowo verbannt wurde. Auch Eduard Genow (geboren 1946) protestierte auf sich allein gestellt gegen die Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei und wurde im Jahre 1969 zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er beteiligte sich an einer Revolte der Gefängnisinsassen, die von Anhängern Nikola Petkows initiiert worden war, wofür er zu weiteren acht Jahren Haft verurteilt wurde, während er noch im Gefängnis saß. Im Jahre 1986 nahm Genow seinen Kampf wieder auf, indem er sich zu den Unterzeichnern eines Appells an das Folgetreffen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Wien gesellte, woraufhin er in das Dorf Michalkovo im Rhodope-­ Gebirge verbannt wurde. Am 16. Januar 1988 gehörte er zu den Gründern der Unabhängigen Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte, zusammen mit Ilija Minew und Blagoy Topuzliev. Unter den Dissidenten der 1960er- und 1970er-Jahre findet sich auch eine geringe Zahl von Personen mit Weiße-Garde-Hintergrund, die in der Folge der Russischen Revolution von 1917 eingewandert waren bzw. deren Nachkommen. Teodosiy Beljakovski (geboren 1898), ein Mitglied der Weißen Garde, wurde im Jahre 1974 (im Alter von 76) für das Lesen und In-Umlauf-Bringen verbotener Literatur zu drei Jahren Haft verurteilt und starb 1975 im Gefängnis. Die ersten Versuche, Organisationen von Dissidenten aufzubauen, wurden in den späten 1960er-Jahren unternommen. Eine Gruppe unter Führung von Alfred Foskolo sowie eine weitere unter Führung von Ljubomir Sobadschijew und Scherminal Tschiwikow brachten Flugblätter gegen das Schiwkow-Regime in Umlauf und protestierten gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Einige bulgarische Dissidenten entschieden sich für die politische ­Emigration (Assen Ignatow, Georgi Markow, Rumiana Uzunova, Stefan Marinow und Scherminal Tschiwikow sowie andere). In den frühen 1970er-Jahren flüchtete der Schriftsteller Georgi Markow, ein Mitglied des inneren Kreises um Schiw­ kow, und ließ sich in London nieder. Seine Aufsätze wurden regelmäßig in den bulgarischen Sendungen der BBC übertragen, ein machtvoller Angriff auf das Schiwkow-Regime von einer liberal-demokratischen Position aus.21 Markow wurde im September 1978 von Agenten der bulgarischen Sicherheitskräfte ermordet, wobei eine Kapsel mit einem schnell wirkenden Gift Verwendung fand, die auf der Londoner Waterloo Bridge von einem Passanten aus der Spitze eines Regenschirmes in sein Bein gestochen wurde. Kurz vor Markows Ermordung war ein weiterer im Exil lebender Dissident und Journalist, Wladimir Kostow, in Paris mit demselben Gift (Rizin) angegriffen worden, wobei dieselbe Regenschirm-Methode angewandt wurde. Doch er überlebte das Attentat.

21 Vgl. auch Georgi Markov, Reportagen aus der Ferne, Klagenfurt 2014.

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Der Physiker Stefan Marinow zahlte für seine abweichende Meinung mit der Zwangseinweisung in mehrere Nervenheilanstalten, nachdem er im Jahre 1966 einen respektlosen Brief an den Innenminister geschickt hatte. Über viele Jahre fuhr er fort, Erklärungen und politische Verlautbarungen in Form von Eingaben zur Ausstellung eines internationalen Passes zu verfassen. Entsprechend wurde er zum Gegenstand polizeilicher Ermittlungen und wurde zwei weitere Male zwangsweise in Nervenheilanstalten eingewiesen. Schließlich ging er im Jahre 1977 nach Brüssel und setzte seine Aktivitäten als Dissident aus dem Ausland fort. Durch ein Dekret aus dem Jahre 1981 wurde ihm die bulgarische Staatsbürgerschaft entzogen. Ein Beispiel für Dissidententum der Generation, die in den 1970er-Jahren erwachsen wurde, ist das Leben Wolodja Nakows, der im Jahre 1953 in Lom geboren wurde. Während er als Touristenführer arbeitete, gab er westlichen Rundfunksendern Interviews. Im Verlauf diverser Verhöre durch den Geheimdienst in Sofia wurde er wiederholt bedroht. Er schrieb Briefe an staatliche Behörden sowie an internationale Einrichtungen, im Allgemeinen über die Botschaften westlicher Staaten. Im Jahre 1981 erschien er mit einer Gruppe von Freunden in der US-Botschaft in Sofia und bat um Asyl. 1983 gelang es Nakow mithilfe ihm wohlgesonnener Diplomaten, dem westdeutschen Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher im Verlaufe eines offiziellen Besuchs persönlich ein Schreiben auszuhändigen. Während eines Treffens mit dem bulgarischen Außenminister Petar Mladenow zeigte Genscher diesem den Brief und warnte ihn, dass eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Stand der Menschenrechte im Land zusammenhinge. Einige Stunden später wurde Nakow verhaftet und zum Zwecke einer zwangsweisen Behandlung in der psychiatrischen Kurilo-Klinik eingesperrt. Da sich die Ärzte – die in etlichen ähnlichen Fällen mit den Behörden bei der Unterdrückung von Dissidenten zusammengearbeitet hatten – diesmal weigerten, eine Geisteskrankheit zu bescheinigen, wurde Nakow wieder freigelassen, allerdings nicht für lange. Im Februar 1984 wurde er zu Verbannung auf dem Lande verurteilt. Da er im August 1984 angeblich gegen eine Verhaftung Widerstand leistete, wurde er wegen Rowdytums angeklagt. Er war nicht nur während des Prozesses abwesend, sondern wurde noch nicht einmal darüber informiert, dass überhaupt ein Prozess stattfand. Am 28. August 1984 wurde er zu vier Jahren Haft verurteilt. Am 25. September 1985 wurde er im Pazardzhik-Gefängnis von einem mehrfachen Straftäter schwer zusammengeschlagen und starb am folgenden Tag, da man ihm jede medizinische Versorgung verweigerte.22 Wie bereits erwähnt, spielten Intellektuelle aus dem Bereich der Philosophie zentrale Rollen in der Dissidentenkultur Bulgariens. Der bekannteste davon ist Schelju Schelew, der im Dezember zum Führer der Oppositionskoalition

22 Vgl. Ivan Spasov, Volodya Nakov. In: Demokraticheski pregled, 36 (Summer 1998), S. 170 f.

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­ nion der Demokratischen Kräfte (SDS) und später, im August 1990, PräsiU dent Bulgariens wurde. Schelju Schelew begann seine Karriere als Dissident in den 1960er-Jahren. Im Jahre 1965 verschickte er seine unterdrückte Dissertationsschrift, in der er Lenins Definition der Materie kritisiert hatte, an 199 der hochrangigsten Angehörigen der Nomenklatura, einschließlich Schiwkow, bevor er sich um eine breite Öffentlichkeit im Westen bemühte. Dies wurde zum Muster für sein Dissidententum in den folgenden Jahren, das auf den Prinzipien der Öffentlichkeit und Legalität beruhte. Im Jahre 1974 brachte Schelew das Manuskript zu seinem Buch über das Wesen des totalen Staates in Umlauf, das er im Jahre 1982 schließlich offiziell unter dem Titel „Faschismus“ veröffentlichen konnte.23 Während er den faschistischen und nationalsozialistischen Totalitarismus beschrieb und analysierte, wies der Text implizit auf Parallelen zur damaligen kommunistischen Gesellschaft hin. Innerhalb von Tagen nach der Veröffentlichung wurde das Buch konfisziert. Wie Assen Ignatow später schrieb, „beschrieb Schelju Schelew eine politische Landschaft, die dem bulgarischen Leser mit einem Mal äußerst bekannt vorkam. Beim Lesen der zitierten Passagen aus dem Völkischen Beobachter hatten die bulgarischen Leser den Eindruck, sie läsen ihre heimische ,Rabotnichesko Delo‘. Die frenetischen Ausbrüche eines Goebbels’ oder Rosenbergs erinnerten Künstler an die wohlbekannten Tiraden Andrej Schdanows und Michail Suslows, Walko Tscherwenkows, Mitko Grigorows, Venelin Kotsevs. Ging es hier um die Hitlerjugend oder um Dimitroffs Organisation der Jungen Pioniere unter dem Namen Septemrviyche?“24 Die Ablehnung Schiwkows und seines Regimes war ein fester Bestandteil des intellektuellen, literarischen und künstlerischen Lebens jener Zeit. Man denke nur an die Arbeit von Dichtern wie Dobri Žotev und dessen Gedicht „Neun gute Ratschläge für Neulinge“ (1965). Die Epigramme und kurzen Gedichte eines Radoj Ralin waren äußerst populär, und Ralin selbst wurde zur Legende. Seine Epigramme konnte die Zensur nicht unterdrücken, da sie leicht zu merken waren und sich rasend schnell weit verbreiteten. Im Winter 1965, bei einer Gedichtlesung in einem der größten Hörsäle der Universität Sofia, lasen Radoj Ralin und einige andere Epigramme und Gedichte, die sich sehr kritisch mit dem Regime auseinandersetzten, womit sie ein Publikum aus mehreren Hundert Studenten elektrisierten. Es muss nicht extra darauf hingewiesen werden, dass die Behörden mit der üblichen Repression reagierten und zu den üblichen Bestrafungen griffen. Im Jahre 1968 veröffentlichte Radoj Ralin seine satirische Textsammlung „Peperoni“, die prompt verboten wurde. Ralin hatte eine Art von ethischem Kodex für sich selbst formuliert: „Verfalle nicht in Selbstkritik, überlasse es denen, dich zu kritisieren. Resigniere nicht, sollen sie dich doch hinauswerfen. Begehe nicht Selbstmord, überlasse es denen, dich zu töten.“25 23 Schelju Schelew, Fashizmut, Sofia 1982. 24 Zit. nach Schelew, Vupreki vsichko, S. 206. 25 Ebd., S. 223. Vgl. auch Biografisches Lexikon. Widerstand und Opposition im Kommu­ nismus 1945–1991 (https://dissidenten.eu/laender/bulgarien/biografien/radoj-­ralin, 12.2.2018).

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Während das Regime zu brutaler Gewalt gegenüber Dissidenten mit geringerem sozialem Status fähig war, verfügte es über eine ausgefeilte Strategie der Tolerierung, Verführung, Manipulation und gezielten Repression, wenn es um prominente Intellektuelle ging, wobei man sich äußerste Mühe gab, keine Märtyrer zu produzieren. Die unwahrscheinliche Karriere Nikolaj Genčevs zeigt diese Seite des Schwikow-Regimes: Obwohl Parteisekretär an der Fakultät für Geschichte der Universität Sofia, war Genčev dennoch ein ausgesprochener und furchtloser Kritiker der Person Schiwkows. In seinen Memoiren erzählt Schelju Schelew eine typische Geschichte: An einem kalten Winterabend des Jahres 1983, nachdem er bei Schelew einige Gläser getrunken hatte, bestieg Genčev die Straßenbahn in der Innenstadt von Sofia, und während er die Anwesenheit mehrerer Polizisten in Uniform ignorierte, rief er zu einem Kollegen, den er am anderen Ende des langen Fahrzeugs gesehen hatte: „Hey, Pavka, wo warst du? Warum hast du mir nicht gesagt, dass Todor Schiwkow gestorben ist, damit wir das zusammen feiern konnten?“26 Wie in solchen Fällen üblich, beeilten sich Genčevs Freunde, ihm zu Hilfe zu kommen, und schoben sein Verhalten darauf, dass er betrunken gewesen sei. Solidarität war üblich unter Dissidenten. Als zum Beispiel Radoj Ralin Ende der 1960er-Jahre seine Stelle verlor, brachten Freunde sowie vollkommen Unbekannte unzählige Pakete mit Lebensmitteln zu seiner Wohnung, einschließlich einiger Orangen, die zu jener Zeit ein Luxusartikel waren, sodass sich seine Kinder später an diese Monate als die üppigste Zeit ihrer Kindheit erinnerten.27

Die Opposition in den späten 1980er-Jahren Zu den wichtigsten Faktoren, welche über Aktionen der Dissidenten in den späten 1980er-Jahren entschieden, gehörte die Perestroika in der Sowjetunion, die anti-türkische Kampagne des Schiwkow-Regimes in den Jahren 1984/85, die Proteste der türkischen Minderheit, die im Mai 1989 ihren Höhepunkt fanden und vom Massenexodus von mehr als 300 000 ethnischen Türken in die Türkei gefolgt wurden, sowie die KSZE-Umweltkonferenz in Sofia im Oktober 1989, die den Dissidenten eine Bühne für massenhaften Protest bot. Diese Entwicklungen führten zu einer Mobilisierungswelle der bulgarischen Opposition. Ermutigt durch Perestroika und Glasnost in der UdSSR, ergaben sich für die Dissidenten in den späten 1980er-Jahren diverse organisatorische Möglichkeiten, ihre Haltung zum Ausdruck zu bringen, einschließlich unabhängiger Vereinigungen, die sich um ihre offizielle Registrierung bemühten oder dies bewusst unterließen, Diskussionsklubs, Gewerkschaften, Komitees, lose Netzwerke und Bewegungen der Zivilgesellschaft. Die Ziele und Strategien der bulgarischen

26 Schelew, Vupreki vsichko, S. 225 f. 27 Khristova, Spetsifika, S. 302 f.

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Dissidenten waren denen in der Sowjetunion und in Ost- und Mitteleuropa ganz ähnlich. Die Respektierung der Menschenrechte sowie die Demokratisierung des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Systems waren gemeinsame Kernanliegen, während die Rückkehr zum Kapitalismus kein deutlich artikuliertes Ziel darstellte. Politische Aktionen beruhten prinzipiell auf Rechtsstaatlichkeit: Man tat, „als ob“ die Gesellschaft auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten beruhe. Gute Rechtskenntnisse mit einem Schwerpunkt auf Strafverfahren wurden als essenziell angesehen. Der Rechtsanwalt Tsvetan Penchev verfasste ein Handbuch für den Bürger, ein wichtiges, im Selbstverlag hergestelltes Buch, das weite Verbreitung fand. Es enthielt Kommentare zur Anwendung von Rechtsnormen, die im Zusammenhang mit Aktionen der Bürger von Relevanz waren, sowie praktische Verhaltenstipps für den Fall von Verhaftung, Gewahrsam, Durchsuchungen und anderer repressiver Maßnahmen, die sowohl hilfreich bei der Wahrung der eigenen Würde als auch für den Selbstschutz waren. Bezüglich der Frage, ob dieser Ansatz konspiratives Verhalten oder Geheimorganisationen ausschloss, stellt Schelew kategorisch fest, dass die Opposition jeder Art von Untergrundtätigkeit ablehnend gegenüberstehe.28 Doch die Dinge liegen komplizierter: Die Dissidenten, einschließlich Schelew selbst, operierten durchaus im Untergrund, zumindest teilweise, indem sie alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um die Vorbereitungen für ihre öffentlichen Aktionen vor den Behörden zu verbergen. Man könnte das Prinzip etwa folgendermaßen formulieren: Sag den Behörden, dass wir nichts zu verbergen haben, und verbirg alles, was verborgen bleiben muss. Sage den Machthabern die Wahrheit, aber sorge dafür, dass die Machthaber dich nicht am Reden hindern können. Die wachsende alternative öffentliche Szene der späten 1970er- und 1980er-Jahre war vollkommen inoffiziell: In Bulgarien gab es nichts, das etwa der katholischen Presse in Polen ähnelte, wo Dissidenten veröffentlichen konnten. Ab 1985 wurde das Verfassen und Verbreiten selbstverlegter Texte zunehmend populär, von Poesie bis zu soziologischer Kritik am System. Daneben tauschte man Bücher aus, die gestohlen oder heimlich fotokopiert und aus den sogenannten Spezialbeständen der Nationalbibliothek herausgeschmuggelt worden waren, wo sich alle Arten von Werken fanden, die als subversiv galten, besonders westliche Veröffentlichungen marxistischer Schriften. Als des Russischen kundiges Lesepublikum hatten die Bulgaren in einem Land, das mit russischsprachiger Literatur gut versorgt war, Zugang zu den zahlreichen sow­ jetischen Zeitschriften der Perestroika-Ära. „Ogonek“, „Moskovski novosti“ und „Novy Mir“ fanden eine breite und ergebene Leserschaft. Man muss auch auf die begrenzte Rolle hinweisen, welche die in bulgarischer Sprache verfasste Literatur für politische Emigranten spielte, die im Westen lebten.29 28 Vgl. Schelew, Vupreki vsichko, S. 216. 29 Für eine umfassende Untersuchung der politischen Emigration aus Bulgarien während des Kommunismus vgl. Boyka Vassileva, Bulgarskata politicheska emigratsiya sled Vto­ rata svetovna voyna, Sofia 1999.

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Ebenfalls typisch für die inoffizielle Szene Bulgariens waren die unzähligen informellen Seminare, die ab Beginn der 1980er-Jahre wie Pilze aus dem Boden schossen. Dort betrieben Intellektuelle mit unterschiedlichstem Hintergrund Dialog und offene Diskussion, wodurch sie den offiziellen Diskurs des Parteistaates herausforderten. Es gab Seminare über Marx, Plato, Husserl, Wittgenstein, Trotzki sowie eine Reihe theoretischer Themen. Eine interessante Art der alternativen Kommunikation stellte der philosophische Salon im Hause des Philosophen Nikolai Wassilew dar, wo bei jedem Treffen ein bestimmter Text besprochen wurde, der im Vorhinein unter den eingeladenen Teilnehmern verteilt worden war. In einer Studie über das Phänomen dieser Seminare stellt Nikolchina die folgenden Merkmale der Kultur dieser Seminare fest: die Verwischung der Grenzen zwischen öffentlich und privat, Karnevals­atmosphäre, berufsbedingte Travestie, ein Spannungsverhältnis zwischen einem rigorosen, elitären akademischen Kern und dem aggressiven Interesse der breiteren Öffentlichkeit.30 Ein typisches Forum, innerhalb dessen eine abweichende Haltung zum Ausdruck gebracht wurde, waren auch bestimmte literarische Veranstaltungen, besonders diejenigen, welche von der Autorengruppe Kreis 39 in Privat­häusern organisiert wurden. Zu dieser Gruppe zählten Rumen Leo­nidov, Vladimir Levchev, Toberty Levy und Edwin Sugarew. Typisch für die späten 1980er-Jahre war auch die steigende Zahl öffentlicher Veranstaltungen, die abweichende Richtungen verfolgten, Interviews mit westlichen Medien, Unterschriftenaktionen und offene Briefe an heimische sowie internationale Stellen. Im Sommer 1986 las der Dichter und Dissident Petar Manolov, ein Mitglied der Unabhängigen Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte, seine explosiven Verse „Die einhundert Flecken“ vor einer großen Zuhörerschaft im Garten des Hauptgebäudes der Universität Sofia. Im Jahre 1987 bewarb sich Manolov um die Lizenz zur Herausgabe eines literarischen Journals, das den Titel „Gerüchte“ tragen sollte. Da sein Antrag ohne offizielle Antwort blieb, entschied er, dass Schweigen Zustimmung bedeute und begann mit der Veröffentlichung. Die erste Auflage umfasste 50 Hefte und zirkulierte unter Freunden.31 Ebenfalls im Jahre 1987 schrieb eine Gruppe acht ehemaliger politischer Häftlinge, darunter Eduard Genow, Grigor Simow, Iliya Minew und Ljubomir Sobadschijew, Briefe an die Wiener KSZE-Konferenz, in denen sie ihre Besorgnis angesichts der systematischen Menschenrechtsverletzungen in Bulgarien zum Ausdruck brachten. Als Gorbatschow in den Jahren 1986/87 die kommunistischen Verbrechen der zurückliegenden Jahrzehnte verurteilte, war Reue keine Option für die bulgarische Parteielite. Anders als in der UdSSR hatte sie ihr schlimmstes Verbrechen nicht in der entfernten Vergangenheit begangen, sondern in den zurückliegenden zwei Jahren – die scheußliche Kampagne zur Zwangsassimilation der türkischen Minderheit im Winter 1984/85. Im Verlaufe dieser ­Kampagne 30 Vgl. Nikolchina, Seminarut. 31 Vgl. Ivanova, Bulgarskoto disidentstvo, S. 44.

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wurden innerhalb nur eines Winters die Namen von mindestens 850 000 ethnischen Türken durch bulgarische Namen ersetzt. Die zu diesem Zweck eingesetzten Mittel waren Knüppel und Panzer, und bis März 1985 war die türkische Minderheit in Bulgarien „verschwunden“. Die Assimilierungskampagne wurde mithilfe einer immer intensiver werdenden nationalistischen Propaganda vorbereitet und durchgeführt. In den davorliegenden Jahren hatte die BKP zu diesem Zweck Parteiforen und Netzwerke, die Geschichtswissenschaft, die Filmindustrie32 sowie die Medien genutzt, um die wissenschaftlich unhaltbare These zu untermauern, dass es sich bei den in Bulgarien lebenden Türken um die Nachkommen bulgarischer Christen handele, die man zum Übertritt zum Islam gezwungen habe. In den Jahren 1984/85 erzählte man der bulgarischen Öffentlichkeit, dass die Türken nun die „Wahrheit“ über ihre Herkunft erkannt hätten und sie daher wieder zu Angehörigen der ethnisch-bulgarischen Gemeinschaft werden wollten, indem sie ihre türkisch-moslemischen Namen durch bulgarische ersetzten. Gleichzeitig wurden unter der Hand Spezialkräfte der Sicherheitsorgane in den türkisch dominierten Distrikten stationiert, woraufhin eine zügige, geheime und äußerst brutale Assimilierungsoffensive gestartet wurde, zunächst in den östlichen Rhodopen, im Distrikt von Kardjali, der Heimat geschlossener türkischer Gemeinden, und dann in Nordost-Bulgarien, der zweiten Hochburg der türkischen Minderheit.33 Zu der angewandten Strategie aus Druck und Zwang gehörte das zeitlich abgestimmte Vorgehen gegen die Führer der Gemeinden, indem man sie zur Zusammenarbeit zwang oder aus ihren Ämtern entfernte, um dann die administrativen Maßnahmen zur Umbenennung der restlichen Bevölkerung umzusetzen. Viele Angehörige der türkischen Minderheit leisteten friedlichen Widerstand, indem sie sich weigerten, ihre Namen zu ändern und öffentlich demonstrierten. Zwischen Dezember 1984 und Januar 1985 wurden im Distrikt Kardjali Dutzende friedlicher Demonstranten getötet oder verletzt. Das Regime unterdrückte diesen Widerstand in Rekordzeit, wobei eine breite Palette von Maßnahmen zur Anwendung kam. Dazu gehörte es, diejenigen männlichen türkischen Reservisten zum Militär einzuziehen, denen man zutraute,

32 Zum Beispiel der Film „Vreme Razdelno“ (Zeit der Trennung), der auf Anton Dont­ schews gleichnamigem Roman beruhte, verbreitete die wirkungsvolle, allerdings histo­ risch unzutreffende Darstellung einer brutalen Islamisierung im Rhodope-Gebirge und schürte Hass gegenüber Türken und der Türkei. 33 Zur zwangsweisen Assimilierung der Türken vgl. u. a. Radoslav Radenkov, The Tur­kish Minority in Bulgaria. In: East European Reporter, Summer 1989, S. 26–28. Diese Ver­ öffentlichung ist ein Auszug aus seiner Studie in Buchlänge über die Assimi­lierungskam­ pagne der Jahre 1984/85, die von der Autorin nach London geschmuggelt und im Som­ mer 1988 der BBC und anderen zur Verfügung gestellt wurde. „Radoslav Radenkov“ ist ein Pseudonym für drei Personen: Dejan Kjuranow, Krassimir Kanew und der Autorin. Vgl. auch Sotirov, Turskite teroristi; Ahmed Dogan, Intervyu s Iliana Benovska, Sofia 1992; Assenov, Vazroditelniyat protses; Aleksey Kalyonski/Mikhail Gruev, Vazroditel­ niyat protses: Myusyulmanskite obshtnosti i komunisticheskiyat rezhim, Sofia 2012.

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sich der Kampagne zu widersetzen, außerdem Lagerhaft ohne Anklage oder Prozess sowie massive Einschüchterung. Viele derer, die sich der Politik der Namensänderung widersetzten, wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, wobei man politische Anklagen vermied und im Allgemeinen auf Vorwürfe des Rowdy­tums und der Störung der öffentlichen Ordnung zurückgriff.34 Im Sommer 1985 gründete Ahmed Dogan (geboren 1954), ein Philosoph, der soeben die Verteidigung seiner Doktorarbeit abgeschlossen hatte, eine Untergrundorganisation, die Türkische Nationale Befreiungsbewegung, die sich anfänglich auf die Gebiete von Ludogorie und die Dobrudscha in Nordost-Bulgarien konzentrierte, wo es geschlossene türkische Gemeinden gab. Diese Bewegung stützte sich auf eine feste konspirative Basis, eine landesweite Struktur sowie ein demokratisches Programm, zu dessen Zielen der Kampf gegen den sogenannten „Wiederbelebungsprozess“ (so lautete die offizielle Bezeichnung der Kampagne zur Zwangsassimilierung) gehörte sowie eine internationale Kampagne zur Offenlegung von Menschenrechtsverletzungen und Protestaktionen. Die Gruppe bestand anfänglich aus ca. 200 Personen. Zu ihren Prinzipien gehörte die Beschränkung auf gewaltlose Aktionen und die Ablehnung jedes Separatismus. Im Jahre 1986 wurde Dogan zu zwölf Jahren verschärfter Haft verurteilt. Doch während seiner Haft regte er weitere Protestaktionen an, hauptsächlich indem er Briefe an nationale und internationale Institutionen schrieb. Im Mai 1989 schrieb er an Schiwkow: „Mörder und Henker, stoppt die Unterdrückung! Ich verurteile das politische Abenteurertum der bulgarischen Regierung. Die Politik des Völkermords und Staatsterrorismus schafft keine fügsamen, verwirrten Schafe, sondern überzeugte und engagierte Streiter für Recht, Freiheit und Gerechtigkeit! In der Hauptsache fordere ich: Eine Generalamnestie für alle Opfer des sogenannten Wiederbelebungsprozesses […] die Einbringung eines Gesetzentwurfs zur freien Verwendung und des freien Unterrichts der Minderheitensprachen in Bulgarien in das Parlament […] Freiheit der Religionsausübung sowie die Möglichkeit der ungehinderten Emigration in die Türkei.“35 In den Medien gab es keine offizielle Berichterstattung über den Umbenennungsprozess und den türkischen Widerstand dagegen. Die meisten Regimegegner in Sofia erkannten erst nach dem Februar 1985, was tatsächlich vor sich ging. Zu dieser Zeit war die Kampagne erfolgreich abgeschlossen. Die

34 Aus diesem Grund war es für die Präsidiale Begnadigungskommission ab 1989, der auch die Autorin angehörte, schwierig zu entscheiden, welche Häftlinge mit türkischem Hintergrund aus politischen Gründen verurteilt worden waren und welche nicht. Die Autorin ist sich allerdings einigermaßen sicher, dass es bis 1993 gelang, beinahe alle politischen Häftlinge des Schiwkow-Regimes zu identifizieren und freizulassen. 35 Ibrahim Tatarlu, Dvizhenieto za prava i svobodi obshtonatsionalna partia, factor za demokratsiata v stranata (http://clubs.dir.bg/showflat.php?Board=maked&Number= 1940576618&page=&view=&sb=&vc=1; 5.10.2018). Dogan wurde am 22.12.1989 am­ nestiert. Er schritt daraufhin unverzüglich zur Gründung der Bewegung für Recht und Freiheit, eine der wichtigsten politischen Parteien in Bulgarien in den folgenden Jahr­ zehnten, welche einen Großteil der türkischen Minderheit repräsentiert.

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bulgarischen Dissidenten, verstreut über die verschiedensten Bereiche der Gesellschaft und zu diesem Zeitpunkt ohne funktionierende Organisationsstrukturen und Netzwerke, waren nicht in der Lage, ihre Solidarität mit den Opfern rechtzeitig und wirksam zum Ausdruck zu bringen. Allerdings sollten die Erfahrung und der Umgang mit diesem massiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der bulgarischen Opposition ab 1985 haben.36 Die letzten beiden Jahre von Schiwkows Herrschaft sahen die Ausweitung der Organisation der Dissidenten, die zu einer Reihe unterschiedlicher Aktivitäten zur Untergrabung des Regimes schritten. Am 16. Januar 1988 gründete in Septemvri im Distrikt Pazardzhik eine Gruppe von Dissidenten unter Führung von Ilija Minew die Unabhängige Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte. Die Tätigkeit der Unabhängigen Gesellschaft wurde regelmäßig und kurzerhand von der Polizei unterbunden, ihre Mitglieder wurden als offene politische Feinde behandelt und diversen Formen der Unterdrückung unterworfen. Dennoch gelang es der Unabhängigen Gesellschaft, eine bemerkenswerte Zahl internationaler Solidaritätsaktionen durchzuführen. Am 8. März 1988 wurde in Sofia das Bürgerkomitee zur Ökologischen Verteidigung der Stadt Ruse gegründet. Angeregt von dem Dokumentationsfilm „Atme!“, der eine Reihe kürzlich stattgefundener Umweltdemonstrationen von Frauen in Ruse zeigte, einer Stadt, die schwer unter der Verschmutzung durch Chlor litt, unterzeichneten etwa 450 Menschen die Gründungscharta des Komitees, trotz Einschüchterung durch die Polizei. Vorsitzender des Exekutivausschusses war der Schriftsteller Georgi Mišev, zu dessen Mitgliedern auch eine Reihe bekannter Personen des öffentlichen Lebens gehörte. Am 3. November 1988 gründeten Intellektuelle aus Sofia den Klub zur Unterstützung von Glasnost und Perestroika. Aufgrund seiner sehr profilierten Mitglieder und der Strategie, als Initiatoren eine Handvoll hochgeschätzter und hochrangiger BKP-Mitglieder anzugeben (während der tatsächliche Initiator Schelju Schelew war),37 reagierten die Behörden vorsichtiger und beschränkten ihre Unterdrückungsmaßnahmen auf Hausdurchsuchungen, kurzzeitige Verhaftungen und diverse Entlassungen. Westliche Radiosendungen in bulgarischer Sprache berichteten häufig über den Klub, besonders im An-

36 Nach Meinung einiger bestand die vielleicht mutigste gemeinsame Aktion der Dissiden­ ten in der Unterzeichnung einer Adresse an das Parlament, die auch an die Medien weitergegeben wurde, im Juni 1989, in welcher nicht nur die zwangsweise Assimilierung der Türken verurteilt, sondern auch eine Reihe unmittelbar umzusetzender politischer Forderungen erhoben wurde. Der Text dieses offenen Briefes sowie die Namen der 121 Unterzeichner findet sich in Ivanova, Bulgarskoto disidentstvo, S. 202–205. 37 In Schelews Worten: „Unter diesen Leuten (denjenigen Mitgliedern des Klubs, bei de­ nen es sich um kommunistische Veteranen handelte) gab es ein erhebliches Potenzial für den Kampf gegen das Schiwkow-Regime, und es wäre sehr unklug gewesen, im Kampf um die Demokratie nicht darauf zurückzugreifen. Man erreicht die Demokratie nicht im Hauruckverfahren, sondern nur langfristig.“ Schelew, Vupreki vsichko, S. 258.

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schluss an ein Treffen mehrerer Mitglieder mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand am 19. Januar 1989 während seines offiziellen Besuches in Sofia. Die Strategie, Veteranen der BKP vorzuschieben, die den Klub vor der Unterdrückung durch die Organe der Staatssicherheit schützten, war erfolgreich. Doch wie auch bei anderen Gruppierungen dieser Zeit handelte es sich bei dem Klub um eine heterogene Formation, zu der sowohl liberal ausgerichtete kommunistische Veteranen als auch überzeugte Nicht-Kommunisten wie Schelew gehörten. Während die vielfältige und vielgestaltige Natur des Klubs zu seiner Widerstandsfähigkeit beitrug, zerbrach er dementsprechend entlang der diversen politischen Richtungen seiner Mitglieder, sobald Schiwkow am 10. November 1989 gestürzt worden war. Der größere Teil, der sich später Klub für die Demokratie nannte, zählte zu den Gründungsmitgliedern der SDS. In der Zwischenzeit entstanden immer mehr Organisationen. Ende Dezember 1988 versammelte zum Beispiel der ehemalige politische Häftling Ljubomir Sobadschijew eine Gruppe von Unterstützern in den Weingärten außerhalb Ruses und gründete die Initiative der Bürger, doch wurden die Teilnehmer nahezu sofort verhaftet. Sobaschijew sowie Sabri Hamdiev verbrachten eine 40-tägige Haft auf dem Polizeipräsidium in Sofia. Am 8. Februar 1989 gründeten Dr. Konstantin Trentschew und andere in Plovdiv die unabhängige Gewerkschaft „Podkrepa“ (Unterstützung). Ebenfalls im Februar 1989 gründeten mehrere Aktivisten unter Führung Petar Slabakows Ecoglasnost, diejenige Umweltorganisation, welche in den kritischen Monaten Oktober und November 1989 die erfolgreichste strategische Offensive gegen das Regime führen sollte. Die Popularität dieser Gruppierung führte ab November zu einem lawinenartigen Anwachsen ihrer Mitgliederzahl, wodurch sie zum wirksamsten Bestandteil der organisierten Opposition des Jahres 1990 wurde. Mithilfe seiner geschickten Informationsarbeit, die sich an ein breites Spektrum von Unterstützern richtete, verfolgte Ecoglasnost eine Reihe unterschiedlicher Ziele, deren Spektrum von reinen Umweltthemen bis zu radikaler Ablehnung des Systems reichte. In der ersten Hälfte des Jahres 1989 wurden die Aktivitäten der Dissidenten durch die Entwicklungen im Zusammenhang mit der Frage der türkischen Minderheit noch beschleunigt. Entsprechend seinen KSZE-Verpflichtungen begann Bulgarien, seine Gesetzgebung zu überarbeiten und die Beschränkungen für Auslandsreisen aufzuheben.38 An diesem Punkt begannen türkische Medien damit, den Eindruck zu erwecken, dass Sofia dies nur mache, um türkische Gegner seiner Assimilierungskampagne loszuwerden, indem man ihnen die Möglichkeit gab, legal in die Türkei überzusiedeln. Jahrzehntelang hatte die Türkei Bulgarien wegen der schlechten Behandlung und Assimilation der türkischen Minderheit kritisiert. Allerdings hatten weder die türkische noch die

38 Hier muss daran erinnert werden, dass Auslandsreisen während der Zeit des Kommu­ nismus nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Behörden möglich waren und man dafür einen Reisepass zusätzlich zum Personalausweis sowie für jede Reise ein Ausreise­ visum benötigte.

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bulgarische Regierung ein echtes Interesse an einer Änderung des Status quo gehabt: Bulgarien konnte sich nicht erlauben, eine Million bulgarischer Türken zu verlieren, und die Türkei konnte es sich nicht leisten, diese aufzunehmen. Doch im April/Mai 1989 sorgten Gerüchte, dass die neue, liberalisierte Passregelung, die am 1. September 1989 in Kraft treten sollte, nur kurze Gültigkeit haben und nur äußerst selektiv gehandhabt werden solle, für Unruhe unter der türkischen Minderheit.39 Untergrundorganisationen der türkischen Minderheit planten sorgfältig organisierte Protestaktionen, die von Dogan und anderen in Haft befindlichen Führern der türkischen Minderheit koordiniert wurden. Angehörige der türkischen Minderheit begannen eine Reihe von Hungerstreiks in Taslakovo im Distrikt Razgrad sowie in Dzhebel im Distrikt Kardjali. Die Demonstranten forderten in der Hauptsache die Wiederherstellung ihrer Namen und die Freiheit, Bulgarien verlassen zu dürfen. Am 20. Mai wurde die erste einer Serie von öffentlichen Demonstrationen der türkischen Bevölkerung in Pristoe im Distrikt Schumen organisiert. Die Welle der Unruhen fand ihren Höhepunkt in der letzten Woche des Mai 1989. Die offiziellen bulgarischen Medien übergingen diese Entwicklungen mit vollkommenem Schweigen, doch westliche Medien berichteten über Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten in etlichen Orten. Am 21. Mai, als Reaktion auf einen angeblichen Versuch der Protestierenden, das Bürgermeisterbüro in Todor Ikonomovo im Distrikt Razgrad zu stürmen, eröffneten Sicherheitskräfte das Feuer, wobei sie drei Menschen töteten und 15 weitere verwundeten. In Kaolinovo im Distrikt Warna wurde ein Protestierender von der Polizei erschossen, etwa 60 wurden verletzt. Es gab Gewaltausbrüche in einer Reihe weiterer Orte in Nordost-Bulgarien sowie in Dzhebel im Süden, die einige Tage andauerten. Spezialeinheiten und Polizei setzten Schusswaffen, Tränengas und Wasserwerfer ein. Viele der Demonstranten wurden auf das Schwerste zusammengeschlagen. Die Regierung gab offiziell die Zahl von sieben toten und 28 schwer verletzten Demonstranten an, doch die tatsächlichen Zahlen sollen höher gewesen sein.40 Am 28. Mai erklärte Schiwkow in einer über Fernsehen und Radio übertragenen Rede, dass die Türken nun Bulgarien verlassen dürften, zeitweise oder auf Dauer, und rief die Türkei auf, ihre Grenzen für alle zu öffnen, die das Land besuchen oder dorthin übersiedeln wollten. In der ersten Junihälfte wurden etwa 10 000 Türken, unter denen sich Führer und Anstifter der Proteste befanden, ausgewiesen oder man händigte ihnen Reisepässe aus und forderte sie auf, das Land zu verlassen. Nur ethnische Türken bekamen Reisepässe beschleunigt ausgestellt, während man den ethnischen Bulgaren mitteilten, dass ihre Anträge noch nicht bearbeitet werden könnten. Zwischen Mai und August 1989 verließen Hunderttausende bulgarische Türken das Land im Verlaufe dessen, was später „der große Exodus“ genannt 39 Vgl. Valery Stoyanov, Turskoto naselenie v Bulgaria mezhdu polyusite na etnicheskata politika, Sofia 1998. 40 Stoyanov, Turskoto naselenie, S. 204.

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werden sollte. Am 21. August schloss die Türkei ihre Grenze zu Bulgarien, nachdem sie bis zu diesem Zeitpunkt etwa 344 000 Personen aufgenommen hatte. Mittlerweile protestierten die bulgarischen Dissidenten offen gegen die Anti-Minderheitenpolitik der Regierung, indem sie Appelle verfassten und westlichen Medien Interviews gaben, wodurch sie in diesen spannungsgeladenen Sommermonaten ein immer größeres Publikum erreichten. Mehrere Dissidenten, darunter Eduard Genow und Petar Manolov von der Unabhängigen Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte, waren bereits früher im Jahr ausgewiesen worden und meldeten sich aus dem Exil, wobei sie sich mit der nun wieder aktiv werdenden älteren Generation politischer Emigranten vernetzten (Petar Semerdzhiev, Tsenko Barev usw.). Während des gesamten Sommers befanden sich sechs der aktivsten Dissidenten außerhalb Sofias, darunter der Führer der Gewerkschaft Podkrepa, Konstantin Trentschew, der Dichter und Journalist Nikolay Kolev-Bosiya sowie der Aktivist Pater Khristofor Sabev, der sich für die Religionsfreiheit einsetzte, in Untersuchungshaft, da sie wegen der Verbreitung staatsfeindlicher Propaganda angeklagt waren. Zu den entschiedensten Reaktionen auf diese Unterdrückungsmaßnahmen gehörten die Erklärungen des Komitee 273, einer Menschenrechtsgruppe, die sich nach dem berüchtigten Artikel 273 des Strafgesetzbuches benannt hatte, der eine weitgehende und gleichzeitig vage Einschränkung der Meinungsfreiheit darstellte. Sofia bereitete sich auf seine Rolle als Gastgeber der hochrangig besetzten KSZE-Umweltkonferenz vor, auch als „das Öko-Forum“ bekannt, die für die Zeit vom 16. Oktober bis 3. November 1989 vorgesehen war. Bereits im März 1989 begann Ecoglasnost mit der Planung seiner Aktionen während dieser prestigeträchtigen internationalen Veranstaltung. Dazu gehörten Straßenkampagnen im Kristallgarten im Zentrum Sofias, um Unterschriften für einen Appell an das Parlament zu sammeln, mit dessen Hilfe man den Stopp eines Dammbauprojektes erreichen wollte, das verheerende Auswirkungen auf die Umwelt in Südwest-Bulgarien und die gesamte Region gehabt hätte. Die Betreiber der Kampagne wurden wiederholt von den städtischen Behörden sowie von Polizisten in Zivil dazu gedrängt – ohne jede rechtliche Grundlage –, ihre Aktion in ein abgelegenes Parkgelände zu verlegen. Doch Drohungen bewirkten nichts; die Aktivisten blieben an ihren Ständen und Plakaten, während immer mehr Menschen den Appell unterschrieben. Daraufhin verloren die Behörden die Nerven, und am 26. Oktober wurden schätzungsweise 20 Aktivisten im Kristallpark sowie in der Umgebung von Einheiten der Staatssicherheit zusammengeschlagen und verhaftet, und dies vor den Augen der Öffentlichkeit, ausländischer Diplomaten und der Medien. Jeden Tag folgten neue Aktionen, einschließlich der ersten informellen Pressekonferenz für die internationalen Medien, eines ersten öffentlichen Treffens informeller Gruppen in einem Kinosaal, den ihnen die Behörden überlassen hatten, sowie täglicher Versammlungen größerer Gruppen im Südpark (jenem abgelegenen Gebiet, das die Behörden für informelle Protestaktionen ausgewiesen hatten). Die Spannungen entluden sich.

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Indem man die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger einforderte, rief Ecoglasnost die Öffentlichkeit zur Teilnahme an einem Marsch auf das Parlament auf, bei dem die von etwa 12 000 Menschen unterzeichnete Petition überreicht werden sollte. Der Aufruf der Gruppe wurde durch Mundpropaganda, Flugblätter und internationale Radiosendungen verbreitet, da die Staatsmedien weiterhin keine Meldungen über die Ereignisse brachten. Am 3. November versetzte Ecoglasnost dem politischen System den entscheidenden Stoß. Nicht weniger als 10 000 Menschen erschienen und marschierten zum Parlament, wobei sie Plakate mitführten und zum ersten Mal den Ruf „Demokratie!“ anstimmten. Dies war die erste Massendemonstration gegen das Regime in Bulgarien – ein revolutionärer Durchbruch, nachdem sich die Ereignisse immer schneller entwickelten, die nun von einer immer größer werdenden Zahl von Aktivisten und immer häufigeren Straßenaktionen bestimmt waren. Bis zum Ende des Jahres engagierten sich die Menschen – nun in Millionenzahl – begeistert in der einen oder anderen Weise im Tagesgeschäft revolutionärer Politik, und die Politik wurde für die kommenden Jahre zur nationalen Hauptbeschäftigung. Nur eine Woche nach dem Marsch von Ecoglasnost zum Parlament wurde Todor Schiwkow durch Reformkräfte innerhalb der BKP von seinen Ämtern entfernt. In Bulgarien begann eine neue Ära.

Von Schiwkows Sturz bis zum Wahlsieg der SDS (November 1989 bis Oktober 1991) In der Zwischenzeit wurden die wichtigsten Oppositionsparteien der vorkommunistischen Zeit von 1944 bis 1947 von Überlebenden und deren Nachkommen wieder aufgebaut. Milan Drenchev gründete die Bulgarische Bauernpartei neu. Atanas Moskow (geboren 1903) und ein jüngerer Mitangeklagter während des Prozesses im Jahre 1951, Dr. Petăr Dertliew (geboren 1916), bauten die Sozialdemokratische Partei Bulgariens wieder auf. Die Mitgliederzahlen dieser Parteien wuchsen schnell. Am 7. Dezember 1989 gründeten diese beiden wiederhergestellten Parteien die Koalition Union der Demokratischen Kräfte (SDS), gemeinsam mit Ecoglasnost, der Föderation der Unabhängigen Studentengesellschaften, der Unabhängigen Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte, der Gewerkschaft Podkrepa, der Gesellschaft zum Schutz der Religiösen Rechte, Gewissensfreiheit und Geistigen Werte, der Union der Opfer der Unterdrückung nach 1945, der Initiative „Bürgerbewegung“ und etlichen weiteren. Die Gründungscharta der SDS formulierte als Ziel die Abschaffung des kommunistischen Systems in Bulgarien. Gegenüber den späteren Versuchen, die Rolle der bulgarischen Opposition in den späten 1980er-Jahren zu schmälern oder herunterzuspielen, muss festgehalten werden, dass die Ereignisse nicht durch innere Machtkämpfe der BKP vorangetrieben wurden, sondern hauptsächlich durch die zunehmend mächtigeren Protestbewegungen und die Veränderungen auf der ­internationalen

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­ bene. Allerdings spielten auch gleichzeitige Entwicklungen innerhalb der BKP E eine wichtige Rolle für die jeweiligen Ergebnisse während der unterschiedlichen Stationen der Revolution. Nur die Aktionen der Opposition sowie die internationalen Entwicklungen waren noch wichtiger. Im Herbst 1989 konspirierten Angehörige der obersten Ränge der Nomenklatura, aufgeschreckt von der durch die Veränderungen in der UdSSR, in Polen, Ungarn und der DDR ausgelösten Verunsicherung, dahingehend, Schiwkow zu opfern und sämtliche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme auf seine diktatorische Führung zu schieben, um dieserart ihr eigenes politisches Überleben zu sichern und schließlich an der Macht zu bleiben. Zum Kern dieser „Reformer“ gehörten Außenminister Petar Mladenow und die Politbüromitglieder Andrej Lukanow, Georgi Atanassow sowie General Dobri Dschurow, die mit Zustimmung, wenn nicht sogar unter Anleitung, der sowjetischen Führung handelten. Am 24. Oktober reichte Mladenow seinen Rücktritt ein und kritisierte in einem Brief an die Führung der BKP Schiwkows Politik und Führungsstil. Im Verlaufe einer Plenumssitzung der Partei am 10. November verkündeten die Reformer Schiwkows „freiwilligen“ Rücktritt von seinen Ämtern und dankten ihm für seine Arbeit.41 In der Zeit nach 1989 verbreiteten die kommunistischen Reformer die Geschichte, dass sie die Hauptarchitekten der Veränderungen gewesen seien und nicht nur den Coup am 10. November initiiert, sondern auch die Opposition selbst ermutigt, unterstützt und gesteuert hätten. Auch die Aktionen der Opposition sollen Teil ihrer Pläne gewesen sein. Dies ist eine Schutzbehauptung und eine vollkommen unbegründete Sicht auf die dynamischen Entwicklungen von 1989.42 Tatsächlich waren die formelle Anerkennung der politischen Opposition im Dezember 1989 sowie die Konzessionen, die ihr im Verlauf der Gespräche am Runden Tisch von Januar bis Mai 1990 gemacht wurden, der Preis, den die regierende Elite zu zahlen hatte, um als Teil der neuen Elite, die sich in den Folgejahren entwickeln sollte, überleben zu können.43 Nach Schiwkows Sturz erhielt die SDS ihren Druck unvermindert aufrecht und erreichte eine Reihe von Zielen. Zu den Höhepunkten der Monate nach Schiwkows Sturz gehörte die Menschenkette um das Parlamentsgebäude am 14. Dezember 1989, initiiert von der Föderation der Unabhängigen Studenten­ gesellschaften, durch welche die Spannungen ihren Höhepunkt erreichten und 41 Für eine politische Analyse dieses Ereignisses vgl. Dimitrina Petrova, Sbogom na nomen­ klaturata? In: Ecoglasnost Newspaper, April 1990. 42 Es ist nicht überraschend, dass diese Sicht der Dinge auch von einigen Mitgliedern der SDS verbreitet wurde, die vor dem November 1989 nicht den Kreisen der Dissidenten angehört hatten, da dies ihrem Kampf um die Macht innerhalb der SDS nutzen konnte. Für sie war es von Vorteil, die Dissidenten der Zeit vor 1989 als nicht unabhängig, untätig oder sogar nicht-existent darzustellen. Vgl. u. a. Metodi Spasov, Suzdavaneto na SDS, Sofia 2001. 43 Vgl. Dimitrina Petrova, Evolyutsiyata na BSP. In: Peak, 2 (1992); dies., The Blue Elite (I). In: The Bulgarian Watcher, 23 (1992); dies., The Blue Elite (II). In: The Bulgarian Watcher, 24 (1992).

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zu Gewalt und Blutvergießen hätten führen können, wenn die Führer der SDS den Sturm auf das Parlament nicht verhindert hätten. In den ersten Monaten des Jahres 1990 führten Gespräche am Runden Tisch zwischen der BKP, die im Februar 1990 ihren Namen in Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) änderte, und der SDS zu einer Serie von Vereinbarungen, einschließlich der Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, um eine neue Verfassung auszuarbeiten und zu verabschieden. Dieser Prozess wurde von zunehmendem Druck durch die Bürger vorangetrieben, wozu auch eindrucksvolle Nachtwachen mit brennenden Kerzen gehörten, welche das Komitee für Religiöse Rechte in der Innenstadt von Sofia organisiert hatte, sowie äußerst sichtbare Straßenproteste der Gewerkschaft Podkrepa. Im Juni führten die ersten freien Wahlen zu einem knappen Sieg der BSP, die 52 Prozent der Sitze erreichte. Ebenfalls im Juni bestätigten Videoexperten die Authentizität einer Aufnahme von Petar Mladenow, nun Präsident der Republik, auf der er während der Proteste am 14. Dezember mit einer Intervention der Armee drohte, wobei er angesichts der singenden Protestierer, die das Parlamentsgebäude belagerten, feststellte: „Wir bringen jetzt besser die Panzer heran.“ Ein landesweiter Streik unter Führung der Studentenunion zwang Mladenow zum Rücktritt, nur wenige Tage vor der Eröffnungssitzung der Großen Nationalversammlung am 10. Juli 1990. Im Dezember wurde die BSP-Regierung gestürzt und eine Interims­regierung übernahm die Geschäfte. Im Juli 1991 verabschiedete die Große Nationalversammlung die neue Verfassung. Im Oktober 1991 gewann die SDS die allgemeinen Wahlen zu einem ordentlichen Parlament, womit die Zeit der kommunistischen Herrschaft ihr Ende fand.

Besondere Merkmale der bulgarischen Opposition Wer waren die Dissidenten? In ihrem 1997 erschienenen Buch über das Dissidententum in Bulgarien unterscheidet Evgenia Ivanova zwei Arten von Dissidenten, und zwar bezüglich ihrer Strategien und tatsächlich auch ihres Auftretens. Auf der einen Seite gehörte der Klub zur Unterstützung von Glasnost und Perestroika, das Ruse-Komitee sowie Ecoglasnost dazu, und zur zweiten gehörten die Unabhängige Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte, Podkrepa, das Komitee für Religiöse Freiheiten sowie die Initiative „Bürgerbewegung“. Aktivisten, die Ivanova für ihr Buch interviewte, brachten diese Unterscheidung in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck: „Elite gegen Plebejer“ (Wolen Siderow), „Sofia gegen die Provinz“ (Stefan Gaytandijev) oder „Intellektuelle gegen Gefangene“ (Ljubomir Sobadschijew). Ivanova greift die beiden führenden Persönlichkeiten der jeweiligen Typen heraus, Schelju Schelew für die erste und Ilija Minew für die zweite, um an ihnen die von ihr festgestellte binäre Natur zu verdeutlichen. Beim Vergleich der Interviews, die beide jeweils westlichen Medien gaben, stellt sie fest, dass

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Schelew sich maßvoll und diplomatisch ausdrückte und sich offensichtlich der Wirkung seiner Worte auf die Zuhörer bewusst war. Minew sprach emotional und aggressiv und war sich offensichtlich nicht bewusst, dass seine Worte potenzielle Unterstützer der von ihm repräsentierten Gruppe abschrecken könnten. Schelew machte Mut, indem er die Unterdrückungsmaßnahmen des Regimes herunterspielte, Minew erweckte Furcht, indem er die Brutalität der Unterdrückung betonte, der seine Gruppe ausgesetzt war. Schelew analysierte, während sich Minew beklagte. Schelew sprach als Politiker, Minew als Opfer. Der erste Typ von Dissidenten definierte sich als apolitische, debattenorientierte Intellektuelle, während sie sich nichtsdestotrotz als Politiker verhielten, während sich der zweite Typ als eine Gruppe beleidigter und zum Opfer gemachter Menschen gerierte, denen Unrecht geschah.44 Allerdings sollte man diese Unterscheidung auch nicht überbewerten. Viele Gruppen, z. B. Ecoglasnost und Komitee 273, umfassten tatsächlich sowohl „Sofia als auch die Provinz“, „Intellektuelle und Gefangene“. In den letzten Monaten des Jahres 1989 wurde dieser Unterschied schnell bedeutungslos, und die verschiedenen Flügel der Opposition vereinten und koordinierten ihre Strategien. Die bulgarischen Dissidenten teilten eine bestimmte politische Kommunikationskultur sowie Erwartungen an das Leben, die nicht mit den offiziellen Karrierewegen in Übereinklang zu bringen waren. Die Legitimationskrise der kommunistischen Gesellschaft führte dazu, dass ein wachsender Teil der potenziellen Elite nicht länger nach Machtpositionen im Rahmen der offiziellen Kultur strebte. Viele Dissidenten waren tatsächliche oder zumindest potenzielle Angehörige der Elite, allerdings erschienen ihnen die Machtrollen innerhalb des Status quo nicht länger attraktiv, und in den 1980er-Jahren wechselten einige, die über Macht und Einfluss innerhalb des „Systems“ verfügten, die Seiten und entschieden sich für Einfluss und Freundschaften innerhalb der alternativen, inoffiziellen Szene. Ihre individuellen Strategien für ihr Leben transzendierten den von der offiziellen Kultur vorgegebenen Maßstab von Erfolg und Misserfolg. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die diese Lebensweise stärkten und begleiteten, waren der Kern, aus dem sich die organisierten Dissi­ dentengruppen entwickelten.45 Während sich die Wege, auf denen die unterschiedlichen Persönlichkeiten zum Dissidententum fanden, sehr voneinander unterschieden, hatte bis Mitte der 1980er-Jahre die inoffizielle öffentliche Sphäre begonnen, das soziale und intellektuelle Leben vieler Menschen zu bestimmen. Für eine zunehmende Zahl von Menschen, die in den 1980er-Jahren volljährig wurden, sind persönliche Leistungen und Anerkennung innerhalb der informellen öffentlichen Sphäre zu einer „beruflichen“ Option geworden, die attraktiver war als eine erfolgreiche offizielle Karriere. 44 Ivanova, Bulgarskoto disidentstvo, S. 7 f. 45 Vgl. Dimitrina Petrova, Te idat bodri partizani na istinskoto SDS: Otvoreno pismo do chlenovete na Ecoglasnost. In: Kultura, 25 (1991), S. 1.

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Die Strategien der Dissidenten Im Ganzen gesehen handelte es sich beim bulgarischen Dissidententum unter dem Kommunismus eher um die gelebte Erfahrung einer moralischen und sozialen Kritik als um ein praktisches Projekt zur Zerstörung des „Systems“. Bis Mitte der 1980er-Jahre brachten die meisten Dissidenten keine Erwartungen bezüglich grundsätzlicher Änderungen des Systems in der vorhersehbaren Zukunft zum Ausdruck. Die vorherrschende Vision war diejenige einer mehr oder weniger allmählichen inneren Liberalisierung des staatssozialistischen Einparteiensystems, das man sich offener und demokratischer vorstellte, aber dennoch sozialistisch. Eine pluralistische Mehrparteiendemokratie in Kombination mit Marktwirtschaft wurde nicht vor der zweiten Hälfte des Jahres 1989 zu einem erklärten Ziel. Die folgenden Ziele und Strategien der Opposition und des Protestes lassen sich definieren: 1. Auswanderung: Auswanderung und ein Leben im Exil war das beabsichtigte oder erzwungene Schicksal einer kleinen Zahl von Regimegegnern. Einzelne Persönlichkeiten mit unterschiedlichem Hintergrund versuchten, das Land zu verlassen, während andere zwangsweise ausgewiesen wurden. Im Jahre 1978 zum Beispiel überschritt Anton Zapryanov (geboren 1958), später ein aktives Mitglied der Gewerkschaft Podkrepa, während seines regulären Militärdienstes die Grenze nach Griechenland, wobei er seine persönliche Waffe mit sich trug. Allerdings wurde er von den griechischen Behörden wieder nach Bulgarien überstellt und verbrachte fünf Jahre Haft wegen „Spionage“. Der Autor Georgi Markow und die Radiojournalistin Rumyana Uzunova (die aufgrund ihrer Tätigkeit für die bulgarische Sektion von Radio Free Europe sehr viel Einfluss hatte) entschieden sich für das Schicksal politischer Emigranten. Eduard Genow und Ekaterina Markova von der Unabhängigen Gesellschaft wurden ausgewiesen. 2. Moralische Verurteilung des Regimes: Dies war der Zweck einer Reihe individueller Handlungen moralischen Protests, für welchen oben stehend einige Beispiele gegeben wurden, einschließlich der Fälle von Leuten wie Wolodja Nakow und Stefan Marinow sowie unzählige Fälle mutiger Protestaktionen in allen Lebensbereichen. 3. Die Erosion der herrschenden Ideologie: Viele Gegner des kommunistischen Regimes, besonders diejenigen, die selbst Mitglieder der BKP waren, wie zum Beispiel Georgi Mišev, der Vorsitzende des Ruse-Komitees, glaubten, dass ein direkter Angriff auf den Polizei- und Parteistaat fehlschlagen müsse, und sprachen sich stattdessen für eine Strategie der allmählichen Unterminierung der herrschenden Ideologie von innen aus.46 Diesbezüglich

46 Vgl. Ivanova, Bulgarskoto disidentstvo, S. 39.

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spielte die Opposition innerhalb der Kommunistischen Partei eine entscheidende Rolle, da sich in den Parteiorganisationen der Gewerkschaften der kreativ Schaffenden, wie zum Beispiel der Gewerkschaft der Filmemacher unter Vorsitz von Ludmil Kirkow, eines Regisseurs, dessen Filme voller explosiver Ideen waren, allmählich, mit Unterbrechungen und neuen Anfängen, einigermaßen freie Debatten über Themen von öffentlichem Interesse entwickelt hatten.47 4. Liberalisierung des Status quo: Während die Ziele der Opposition der Jahre 1944 bis 1948 und dann wieder im Jahre 1989 in der Bewahrung und/ oder Wiederherstellung der Mehrparteiendemokratie bestanden hatten, verfolgten in der Zwischenzeit die wichtigen Dissidenten das Ziel einer Ausweitung dessen, was erlaubt war bzw. erlaubt sein konnte, ein Versuch, größere Freiheit zu erlangen. Wie oben erwähnt, stellte man sich dies im Wesentlichen innerhalb eines sozialistischen Einparteiensystems vor. Ende der 1980er-Jahre verfolgte man das Ziel einer Liberalisierung mithilfe der Strategie, so viele parallele, unabhängige Organisationen der Zivilgesellschaft zu schaffen wie möglich, indem man im Rahmen der sogenannten Juli-Konzeption versuchte, das Bestmögliche aus Schiwkows Rhetorik der „Zivilgesellschaft“ zu machen, eines Reformprogramms, das auf dem Juli-­ Plenum der BKP verabschiedet worden war. 5. Verwirklichung der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten: Dies war die allgemeine Ideologie der Dissidenten in den 1980er-Jahren. Sie umfasste zwei Dimensionen. Einerseits war die Verteidigung der Menschenrechte ein Selbstzweck, den man aufgrund seines intrinsischen Wertes für den Schutz vom Staat unterdrückter Einzelpersonen verfolgte. Andererseits nutzte man dies aber auch als bewusste Strategie zur Untergrabung der Legitimität des Regimes und zur Ausweitung des Erlaubten. Das galt besonders für diejenigen, die rein moralischen Protest mit der Vorstellung eines umfassenderen gesellschaftlichen Wandels verbanden. In den Jahren 1988/89 kamen die Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten in den Programmdokumenten praktisch aller Dissidentenorganisationen besonders zur Sprache, zusammen mit der Freiheit von Wissenschaft und Bildung (Föderation der Unabhängigen Studentengesellschaften), Religionsfreiheit (Gesellschaft zur Verteidigung der Religiösen Rechte, Gewissensfreiheit und Geistigen Werte), dem Organisations- und Streikrecht für Arbeiter (Podkrepa), den Minderheitenrechten (Bewegung für Recht und Freiheit) sowie dem Recht auf Gesundheit, eine gesunde Umwelt und Information (Ecoglasnost).

47 Seit den 1950er-Jahren hatten bulgarische Spielfilme gelegentlich die roten Linien des Erlaubten überschritten, und viele davon waren verboten worden, doch spielten sie eine wichtige Rolle bei der Erodierung der Legitimität des Systems. Für eine genauere Analyse des Kinos, Theaters und der Literatur in Bulgarien vgl. Khristova, Specifika, S. 173–373.

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6. Umweltaktivismus: Dies war eine bewusste Strategie, die von einer kleinen Gruppe von Aktivisten mit einer Umwelt- und politischen Agenda entwickelt wurde. Die meisten von ihnen gehörten auch verschiedenen anderen Dissidentengruppen an. Sie nutzten den Umweltgedanken als ein Mittel zur Verfolgung eines radikalen gesellschaftlichen Wandels in Richtung auf Menschenrechte und Demokratie und vertrauten dabei auf die breite Wirkung von Umweltthemen, um breite Massen anzusprechen. Die programmatischen Ziele und Strategien von Ecoglasnost verdienen besondere Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit einer Analyse des Falles Bulgarien, da diese Organisation – wie man zugeben muss – bezüglich ihrer Wirkung und Folgen die effizienteste war.48 Die Programme dieser Bewegung forderten eine „demokratische öffentliche Kontrolle der Umweltpolitik“ sowie „tiefgreifende Veränderungen im sozialen und Umweltbereich“ und sahen „volle ökologische Glasnost“ als „wichtigste strategische Waffe“. Indem sie ihr politisches Credo als „radikal demokratisch“ definierte, erhob Ecoglasnost eine Reihe konkreter Forderungen zum Umweltschutz sowie die Forderung nach einem Mediengesetz zur „Demokratisierung der Publizistik und um unabhängigen Gruppen und Vereinigungen die Gelegenheit zu verschaffen, ihre eigenen freien Journale und Veröffentlichungen betreiben zu können“.49 Die Verbindung des Umweltgedankens mit demokratischem Wandel wurde folgenderweise zum Ausdruck gebracht: „Doch handelt es sich beim Thema Umwelt nicht um ein isoliertes Thema. Logisch zu Ende gedacht, bedeutet die Forderung nach Wiederherstellung der Umwelt den Ruf nach einem radikalen gesellschaftlichen Wandel. Ausgehend von der Annahme, dass das Recht auf gesundes Leben und Umweltsicherheit ein fundamentales Menschenrecht ist, sehen die Mitglieder ihre Bewegung als Teil einer breiteren Bewegung für Frieden, Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit, die derzeit von unten wächst und in diesem Land in Entstehung begriffen ist.“50 Die Organisation machte sich eine Vielzahl von Strategien zunutze – von der Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen bei konkreten Umweltthemen bis zu sorgfältig geplanten Straßenaktionen, um maximale Wirkung und Öffentlichkeit zu erzielen.

48 Für eine frühe Bewertung vgl. Bernd Baumgartl, Transition and Sustainability: Actors and Interests in Eastern European Environmental Policies, Boston 1997. Vgl. auch eine Artikelsammlung zum 20. Jahrestag der Revolution von 1989: Nezavisimo sdruzhenie Ekoglasnost, Sofia 2009. 49 Politische Stellungnahme der Bewegung Ecoglasnost, Sofia 1989, S. 1 des Original­ma­ nus­­kripts, das sich im Besitz der Autorin befindet, die auch Mitverfasserin dieses Doku­ men­tes ist. 50 Ebd.

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Intellektuelle Einflüsse Die bedeutendsten intellektuellen Einflüsse kamen von außerhalb. Dazu gehörten westliche liberale Politikphilosophien und Vorstellungen der Menschenrechte, besonders solche, die in der Helsinki-Schlussakte von 1975 formuliert waren. Zu den einflussreichen westlichen Vorstellungen zählten diejenigen der Neuen Linken, diverse Strömungen des Neomarxismus, die Frankfurter Schule sowie die Plattformen neuer sozialer Bewegungen einschließlich der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, der Menschenrechtsbewegung und des Feminismus. Auch das marxistische sowie nicht-marxistische sowjetische Dissidententum spielten eine wichtige Rolle. Allerdings muss festgehalten werden, dass in der Seminarkultur der 1980er-Jahren, dieser idiosynkratischsten Form oppositionellen Verhaltens in Bulgarien, die postmoderne Hybridisierung der kulturellen Kommunikation die reinen Doktrinen verdrängt hatte.51 Auch müssen nationale Traditionen und Werte berücksichtigt werden. Typisch für das bulgarische Wertesystem war der beinahe Kultstatus der formellen Bildung während des Kommunismus, eine Haltung, die auf das nationale Wiedererwachen im 19. Jahrhundert zurückging. Unter dem Kommunismus bestand ein festes Muster der Aufwärtsmobilität, basierend auf Bildungsleistungen sowie auf der kommunistischen Ideologie der Gleichheit. Die Zulassung an der gewünschten Universität stellte das vielleicht wichtigste Ereignis für die durchschnittliche bulgarische Familie dar. Dementsprechend verfügte das Land über eine relativ gut ausgebildete und überproportional umfangreiche Intelligenzija, deren Potenziale im Rahmen der offiziellen Möglichkeiten nicht mobilisiert wurden, was dann im alternativen Bereich geschah. Die Kontinuität mit der vorkommunistischen politischen Tradition fand vermutlich ihren deutlichsten Ausdruck in der abweichenden Haltung derer, welche die bäuerlichen, sozialdemokratischen und radikaldemokratischen Parteien wiederaufbauten, die in den 1940er-Jahren aufgelöst worden waren. Die Werte der bulgarischen Opposition wurden von einer Reihe von Autoren und Literaturkritikern unterstützt, zu denen Elka Konstantinova, Michail Nedelčev und Aleksandar Jordanow zählten, die Ende der 1980er-Jahre die Radikal­ demokratische Partei wiederaufbauten. Eine sehr kleine Fraktion der Dissidenten hatte ihre ideologischen Wurzeln in der radikalnationalistischen, NS-orientierten Legionärsbewegung der vorkommunistischen Zeit. Der vielleicht prekärste Fall war Ilija Minew selbst, der äußerst umstrittene und bejahrte Gründer der Unabhängigen Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte. In den Jahren 1941 bis 1944 war er ein Angehöriger der chauvinistischen Legion gewesen, hatte an antijüdischen Pogromen teilgenommen und war im Jahre 1946 für den Versuch, die Legionen wieder zum Leben zu erwecken, zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden.

51 Vgl. Nikolchina, Seminarut, passim.

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Organisation, Netzwerke und Kommunikation Im Jahre 1989 wurde innerhalb der Dissidentengruppen die Frage einer offiziellen rechtlichen Anerkennung diskutiert. Manche, einschließlich des Klubs zur Unterstützung von Glasnost und Perestroika, hatten kein Interesse an einer offiziellen Registrierung, da sie den Status einer Rechtsperson als unerheblich ansahen. Andere, zu denen Ecoglasnost, das Komitee für religiöse Rechte sowie Podkrepa zählten, bemühten sich im Rahmen ihrer Strategie, den Bereich des Erlaubten auszuweiten, um eine Registrierung. Selbstverständlich wurden sie vor dem 10. November, dem Tag von Schiwkows Rücktritt, nicht registriert. Die Dissidentengruppe stellte ein völlig neues Phänomen innerhalb des Gemeinwesens der 1980er-Jahre dar. Üblicherweise kannte sie keine festen konspirativen Grenzen und rekrutierte Leute auf Ad-hoc-Basis für die jeweiligen Aktionen oder Aufgaben. Diese Art von Gruppierung stellte eine Heraus­ forderung sowohl für die Apparatschiks der Partei als auch für die Organe der Staatssicherheit dar. Sie war weitaus schwieriger zu kontrollieren und auszuschalten als eine fest strukturierte Verschwörung, weniger aufgrund des persönlichen Mutes und Engagements der Beteiligten, sondern weil keine Gesetze gebrochen wurden und man die Ausübung bestehender verfassungsmäßiger Rechte als einen Schild verwendete, um die Teilnehmer vor Repressalien zu bewahren oder ihnen zumindest moralisch die Oberhand zu geben. Um derartige Gruppierungen zu unterdrücken, mussten die Behörden Anklagen fabrizieren und selbst das Recht brechen. Sie taten beides, um den hohen Preis, ihre Legitimität noch weiter einzubüßen. Abgesehen von ihrer Legalität waren die Dissidentengruppen häufig auch deshalb so schwierig zu zerschlagen, weil sie spezifische informelle Netzwerke geknüpft hatten, die auf Solidarität, Freundschaft, Entscheidungsfindung im alltäglichen Kollektiv, teilnehmender Demokratie sowie Kooperation beruhten, die aus gemeinsamen Werten resultierten. Im Laufe der Zeit, bereits im Jahre 1989 und danach, veränderten sich die internen Kommunikationsprozesse der Opposition: Konsens, Flexibilität und teilnehmende Demokratie wurden durch robusteres, zentralisiertes Management, formelle Repräsentation und Mehrheitsentscheidungen ersetzt, wobei Ecoglasnost die führende Rolle spielte und den Weg zu einer strukturierten, formellen politischen Opposition ebnete. Ein entscheidender Faktor für die Aktionen der Dissidenten war, dass weite Teile der „sozialistischen Intelligenzija“ über viel Zeit verfügten. Intellektuelle waren typischerweise an Universitäten, Forschungseinrichtungen und ähnlichen Institutionen beschäftigt, doch stand man an diesen Arbeitsplätzen in keinerlei Wettbewerb. Hatte man erst einmal die erste Sprosse der Karriere­ leiter erklommen, waren große Sprünge aufwärts praktisch ausgeschlossen und beruhten nicht auf Leistung oder Talent. Die Karrieren verliefen langsam,

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automatisch und beruhten ausschließlich auf Berufsjahren.52 Die Gehälter waren stabil und vorhersehbar, sie hingen ausschließlich von der Position ab, waren nicht verhandelbar und nicht vertraulich. Ehrgeiz konnte sich daher leicht in die Richtung des jeweils eigenen Netzwerks richten. Logischerweise nutzten Intellektuelle das Geschenk ihrer freien Zeit zum Lesen alternativer Literatur, die nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit stand, zur Kommunikation mit ihren Freunden und dazu, um in den Netzwerken ihrer Gleichgesinnten sowie einer zunehmend dichteren inoffiziellen Sphäre mehr Befriedigung zu finden. Die Stärke des Widerstands in Bulgarien im Vergleich zum Kommunismus Es wurde bereits festgestellt, dass es vor 1989 in Bulgarien keine Volksaufstände gegen das kommunistische Regime gab wie in der DDR 1953, in Ungarn im Jahre 1956 oder die großen Streikwellen in Polen während der 1970er-Jahre. Gründe für das Fehlen massenrevolutionärer Aufstände in Bulgarien sind unter anderem die strikte Repression sowie die physische und moralische Vernichtung der demokratischen Opposition ab September 1944. Dennoch sollte man nicht übersehen, dass im Verlaufe der gesamten Zeit des Kommunismus Opposition und Dissens ausdrücklich existierten. Mehr noch, man muss beides im Licht der größeren Legitimität sehen, welche das kommunistische Regime in Bulgarien verglichen mit anderen Ländern Mittel- und Osteuropas genoss. Wenn wir erst einmal den Kontext verstanden haben, fällt es leichter, die Stärke des Dissidententums in Bulgarien einzuschätzen. Aus geopolitischen, sozioökonomischen und kulturellen Gründen genossen die kommunistischen Institutionen in Bulgarien eine recht hohe Legitimität. Geopolitisch gesehen war der bulgarische Kommunismus einzigartig. Während der Kommunismus in Mitteleuropa als ein Werkzeug der imperialistischen sow­jetischen Außenpolitik fungierte, sah man ihn in Bulgarien als ein Bollwerk gegen Bedrohungen der nationalen Sicherheit. Während sich beispielsweise die polnische Nation im Widerstand gegen die russische Aggression formierte, hatte sich die bulgarische nationale Identität im Verlauf der Jahrhunderte über den Gegensatz zu etlichen benachbarten Völkern entwickelt, zu denen die Türkei, Griechenland und Serbien gehörten, und historisch waren die Bulgaren russlandfreundlich gewesen und sahen im 19. Jahrhundert Russland als

52 An den Universitäten wurde beispielsweise ein „Assistent“ im Allgemeinen drei Jahre nach Beginn seiner Tätigkeit zum „Oberassistenten“ befördert, dann nach drei weite­ ren Jahren zum „Hauptassistenten“. Nach noch einmal drei bis vier Jahren konnten diejenigen, welche die einfachen formalen Kriterien erfüllten, die sich an der Zahl der Veröffentlichungen orientierten, „Dozenten“ werden. Schließlich konnte man sich nach einigen weiteren Jahren im Zusammenhang mit einem hochgradig formalisierten Habi­ litationsverfahren um die Professur bewerben.

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Befreier von der türkischen Herrschaft an. Die kommunistische Allianz mit der UdSSR im Warschauer Pakt empfanden die Bulgaren als Schutz vor der Türkei und Griechenland, die beide zur NATO gehörten, sowie gegen das revisionistische Jugoslawien, das eine eher noch größere Bedrohung der Legitimität des Regimes darstellte. Vor allem aber sah man die Sowjetunion – und damit den Kommunismus – als Garanten gegen die Türkei, Bulgariens „historischen Gegner“ und eine dauerhafte Bedrohung seiner Sicherheit.53 Da sich das kommunistische System und seine Ideologie in Bulgarien auf die Gründungsmythen der bulgarischen Nation beriefen, verfügte der Kommunismus dort über eine stärkere und stabilere Legitimität als andere kommunistische Regime in Europa. Während sich also in Mitteleuropa Dissidententum und Opposition weitgehend auf nationale Identitäten beriefen, war das Dissidententum in Bulgarien antinationalistisch, da die nationale Karte vom Schiwkow-Regime gespielt wurde. Im Unterschied zu anderen Ländern Europas gab es in Bulgarien keine ernsthafte Alternative zum marxistischen Kommunismus. Die Orthodoxe Kirche war relativ schwach, während in den vergangenen beiden Jahrhunderten der Atheismus eher stark entwickelt gewesen war. Dazu muss man noch das vergleichsweise hohe Ausmaß der Kooperation der kulturellen Elite zählen, ein Ergebnis von Schiwkows Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Dessen Fähigkeit der politischen Verführung wurde von seinen Freunden wie Kritikern gleichermaßen anerkannt und geschätzt. Die stärkere Legitimität des bulgarischen Kommunismus bei der Bevölkerung bedeutete natürlich ein größeres Potenzial zur Unterdrückung von Dissens: Gegner des Regimes wurden effektiver zum Schweigen gebracht als in Ländern, in denen das Regime unter der Bevölkerung weniger populär war. Die Unterdrückung von Dissens in Bulgarien war nicht nur sehr effizient, sondern auch recht nuanciert und gezielt, wobei man zu einer breiten Palette von Maßnahmen griff, von brutaler Verfolgung einschließlich Folter bis zu raffinierter Manipulation. Mitglieder der Oppositionsparteien der 1940er-Jahre wurden mit extremer Gewalt bis zur Vernichtung verfolgt. In der poststalinistischen Ära hielt man besonders gravierende Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber weniger namhaften Dissidenten geheim, einschließlich Folter und Misshandlung in Haftanstalten, Gefängnissen und Lagern, besonders im berüchtigten Lager Lovech in den Jahren 1959 bis 1961. Das Schicksal von Dissidenten wie Dimitar Petkow, Georgi Zarkin und Wolodja Nakow sowie vieler anderer Namenloser, die überall im Land wegen ihrer Aktivitäten in Haft genommen wurden, blieb der Öffentlichkeit verborgen. Die Verbindungen zwischen Regimegegnern aus unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft und verschiedenen Regionen blieben bis weit in die späten 1980er-Jahre recht schwach. Dies bot eine günstige Voraussetzung dafür, dass der Mythos von der Allmacht 53 Vgl. Dimitar Stoyanov, Zaplakhata: Velikodurzhavniyat natsionalizam i razuznavaneto na Turtsiya protiv Bulgaria, Sofia 1997.

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der Sicherheitskräfte blühte. Dieser Mythos war bis in die späten 1980er-Jahre weit verbreitet, und seine Dekonstruktion muss als eine wichtige Leistung der Dissidenten angesehen werden. Mitte der 1980er-Jahre begannen einzelne Dissidenten vornehmlich aus Sofia zu spüren, dass sie nicht länger um ihr Leben oder leibliches Wohl fürchten mussten und dass es sich bei dem, was sie verlieren konnten – im Gegensatz zu Menschen mit niedrigerem Status oder den vorhergegangenen Generationen – nur noch um ökonomische und/oder berufliche Privilegien handelte.54 Untersucht man die in den Archiven überlieferten Stellungnahmen und Diskussionen der kommunistischen Spitzennomenklatura in den letzten beiden Jahren des Schiwkow-Regimes, so lässt sich eine weitere Beobachtung machen. Das Regime – im Versuch, sich an veränderte Umstände anzupassen und sein Legitimitätsdefizit zu überwinden –, arbeitete in Richtung auf eine spezifische Politik der Liberalisierung in Form einer Art harmlosen „Bürgerbeteiligung“ im Rahmen des Einparteiensystems.55 Einige Spitzenvertreter der Sicherheitsdienste und der Führung der BKP brachten ihre Besorgnis zum Ausdruck, dass die offene Unterdrückung „paralleler“ Organisationen zunehmend ineffizient zu werden drohte. Es war ihnen in der ersten Hälfte des Jahres 1988 gelungen, die Aktivitäten des Klubs zur ökologischen Verteidigung Ruses zu blockieren, doch während sie versuchten, gegenüber dem Klub zur Unterstützung

54 Hier mag eine persönliche Geschichte den Prozess der Entmystifizierung der Allmacht der Staatssicherheit illustrieren. Am 22.4.1985 bekam ich eine Vorladung zur Staatssicherheitspolizei, wo man mir wegen meiner Verurteilung der Kampagne zur Assi­ mi­lierung der Türken – vor einem großen Publikum von Jurastudenten – mit strafrecht­ licher Verfolgung drohte. Zu dieser Zeit glaubten viele Dissidenten, dass die „Organe“ ebenso mächtig wie nicht zur Verantwortung zu ziehen seien. Ich allerdings vertrat die Minderheitenmeinung, dass weder ihre Macht noch ihre Unangreifbarkeit grenzenlos seien. Angesichts der Ineffizienz der Staatsverwaltung, deren Institutionen zunehmend inkompetenter wurden, konnten die „Sicherheitsorgane“ kaum allzu effizient sein. Staatssicherheit und Polizei, beide ein integraler Teil der Gesellschaft, hatten mit Sicherheit ähnliche Schwächen: das Vortäuschen von Aktivität, schwache Infrastruktur, geringe Verantwortung und alles in allem Unzulänglichkeit. Meine Strategie während der Haft beruhte auf den folgenden Überlegungen: Zunächst verfügten die „Organe“ nicht über ausreichende technologische Möglichkeiten zur Überwachung und Dokumentierung abweichender Verlautbarungen durch Professoren bei Vorlesungen, und die Informanten unter den Studenten lieferten vermutlich mündliche oder schriftliche Berichte, aber keine Bandaufnahmen meiner Aussagen. Zweitens wollte die Staatssicherheit mit allen Mitteln vermeiden, dass bekannt wurde, dass sie Universitätsangehörige drangsalierte. Schließlich waren die „Organe“ zu dieser Zeit – anders als in früheren Jahrzehnten – nicht mehr bereit, Regimegegner zu töten oder zu foltern. Alle diese Annahmen erwiesen sich als zutreffend. Dazu gedrängt, eine Warnung zu unterschreiben, das stattgefundene „Gespräch“ sowie dessen Inhalt niemandem mitzuteilen, da beides als „geheime Infor­ mation“ gelte, verweigerte ich schlichtweg meine Unterschrift. Mehr noch, ich erklärte, dass ich am nächsten Tag während der Fakultätssitzung über mein Verhör berichten werde, und das tat ich auch. Die Lektionen, die sich aus dieser sowie anderen Geschichten lernen ließen, halfen schnell dabei, in unseren Kreisen eine Strategie für den Umgang mit Verhören zu entwickeln. 55 Vgl. Doynov, Shesto upravlenie, S. 93–97.

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von Glasnost und Perestroika das Gleiche zu erreichen, waren sie sich auch des Anwachsens ähnlicher Parallelstrukturen sowie der Aktivitäten der Zivilgesellschaft bewusst. So wurden die Umrisse einer neuen offiziellen Politik entworfen: statt Repression die subtile Kontrolle der Aktivitäten der Zivilgesellschaft durch die Infiltration informeller Gruppen durch Agenten und die sorgfältige Steuerung ihrer Aktionen in Richtung Integration in den offiziellen Bereich. Damit wollte man die Vision eines sozialistischen Einparteienstaates verwirklichen, der sich auf eine loyale Zivilgesellschaft stützte. Das Problem für die Nomenklatura bestand weniger in dem, was die informellen Gruppierungen inhaltlich vertraten, sondern in ihrer Existenz außerhalb des offiziellen Bereichs. „Außerhalb“, so interpretierten sie zutreffenderweise, würde zu „gegen“ werden, daher der aus den Archivmaterialien erkennbare politische Ansatz – die Integration der Dissidentengruppen anstatt ihrer Diskreditierung oder Vernichtung. Diese Strategie wurde diskutiert, aber nie umgesetzt, da den Strategen die Zeit davonlief und sie ab September 1989 die Kontrolle über die Entwicklung verloren. Gleichheit und die Notwendigkeit, das Narrativ von 1989 zu korrigieren In den ersten Jahrzehnten des Kommunismus profitierte die Mehrheit der Bulgaren nicht nur von einem steigenden Lebensstandard, sondern auch in Bezug auf größere sozioökonomische Gleichberechtigung. Ein großer Teil der Agrarbevölkerung, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg überwiegend arm gewesen und dann durch den Krieg weiter verarmt war, profitierte von einer tatsächlichen Aufwärtsmobilität. Die Mehrheit der Bulgaren erlebte die Industrialisierung, Urbanisierung, Bildung für die Massen, die Verfügbarkeit von Wohnraum sowie weitere Elemente eines verspäteten Modernisierungsprojektes einer zuvor armen Agrargesellschaft als positive Errungenschaften des kommunistischen Systems. Das wirtschaftliche Wachstum in diesen Jahrzehnten war real. Ein weiterer Aspekt der sozioökonomischen Robustheit des Systems gründete auf der Tatsache, dass Bulgarien in vielerlei Hinsicht ein bevorzugter Partner der UdSSR war, verglichen mit anderen kommunistischen Ländern. Die Bulgaren profitierten von sowjetischen Wirtschafts- und Handelsbegünstigungen, einschließlich direkter finanzieller Unterstützung, die anderen Osteuropäern nicht gewährt wurden. In den 1950er- und 1960er-Jahren wuchs die wirtschaftliche Abhängigkeit vom finanziellen und technischen Beistand der Sowjetunion beständig. Mitte der 1960er-Jahre betrafen 50 Prozent des Handels die Sowjetunion. Im Verlauf eines Großteils der kommunistischen Ära stieg der bulgarische Lebensstandard für beinahe alle Gruppen der Gesellschaft immer weiter, allerdings um den Preis verringerter Wirtschaftssouveränität. In den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren beispielsweise war der Lebensstandard Bulgariens höher als in der UdSSR, und die Konsumgüter des Landes waren für alle Osteuropäer attraktiv. Die ­bulgarische ­Schwarzmeerküste und

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in gewissem Maß auch die Ferienorte im Gebirge waren zu beliebten Urlaubszielen im „sozialistischen Lager“ geworden. Das Ergebnis war, dass zumindest bis in die frühen 1980er-Jahre das Ausmaß sozioökonomischer Unzufriedenheit gering war. In der Handelspolitik war Bulgarien allerdings nicht nur ein Satellit oder eine sowjetische Kolonie. Das Bild ist weitaus komplexer. Während er den informellen Status als Moskaus bevorzugtem Freund wahrte, begann Schiwkow Mitte der 1960er-Jahre einen Prozess der allmählichen Abkehr vom „sozialistischen Internationalismus“ und entwickelte einen spezifischen nationalen Kommunismus. Während die Ideologie des Internationalismus an der Oberfläche intakt blieb und nicht infrage gestellt wurde, ersetzten neue ideologische Diskurse und Symbole allmählich die Zeichen der internationalen proletarischen Solidarität. Man begann, die bulgarische Nationalgeschichte zu betonen und zu glorifizieren.56 Die Haltung der Partei zu Mazedonien änderte sich dahingehend, dass nun die mazedonische Identität bestritten und jeder Mazedonier als Bulgare vereinnahmt wurde. Die Haltung und Politik gegenüber den Minderheiten im Land (Türken, Roma sowie Mazedonier) änderte sich zugunsten freiwilliger oder erzwungener Assimilation. In Bezug auf die sozioökonomische Entwicklung präsentierte Schiwkow darüber hinaus Bulgarien als Vorreiter bei der Liberalisierung der Wirtschaft, indem er Elemente der Marktwirtschaft einführte und mit weiteren Reformansätzen experimentierte. Bereits in den Jahren 1963/64 war die Wirtschaftspolitik von vorsichtigen Versuchen einer Dezentralisierung bestimmt, und es kam zu einer häretischen Anerkennung des Profits als Stimulanz wirtschaftlicher Aktivität, eine Entwicklung, die in den folgenden Jahrzehnten noch stärker wurde. Bereits 1966 schrieb der britische Botschafter William Harpham über „die merkwürdige Tatsache, dass das politisch rückständige Bulgarien Wirtschaftsreformen durchführt, die in gewisser Weise den Eindruck erwecken, dass sie weitergehender sind als die Reformen anderswo“.57 Während an der Oberfläche die Zugehörigkeit des Landes zur „sozialistischen Staatengemeinschaft“ nie infrage gestellt wurde, vermittelte Schiwkows Propaganda die verschlüsselte Botschaft, dass Bulgarien sozioökonomisch dem restlichen sozialistischen Lager voraus sei, indem es eine Politik vorantrieb, die als eine „Erfolgsmethode“ der „sozialistischen Entwicklung“ anderen Ländern zur Nachahmung empfohlen sei. Die Einführung der starken Betonung eines bulgarischen politischen und Wirtschaftsnationalismus in die kommunistische Ideologie war eine Reaktion der Machtelite auf die ersten ernsthaften Anzeichen eines Legitimitätsverlustes des Kommunismus. Die „Nationalisierung“ des Kommunismus verlängerte die Zeit seiner relativen Legitimität, was nach der Erschöpfung der ­sozioökonomischen

56 Im Jahre 1981 zielten die pathetischen und aufwändigen Feierlichkeiten zum 1300. Ju­ biläum bulgarischer Staatlichkeit darauf ab, den Nationalstolz zu erhöhen. Derartige Feierlichkeiten wären während des Stalinismus nicht denkbar gewesen 57 Zit. nach Dimitar Dimitrov, Suvetska Bulgaria, Book 2, 1964–1966, Sofia 1999, S. 155.

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Legitimierung des Systems besonders wichtig wurde. Vor allem als sich mit der Ankunft Gorbatschows die sowjetische Politik gegenüber Bulgarien abrupt änderte und die Menschen nun Stromabschaltungen und andere Kürzungen erleben mussten, konnte sie in den 1980er-Jahren nicht länger verborgen bleiben. Dies waren die ersten bedeutsamen Anzeichen einer Unzufriedenheit mit den tatsächlichen Ungleichheiten innerhalb des Kommunismus; die vielleicht sogar von ihm erzeugt wurden. Es muss betont werden, dass der Übergang zu einer nationalistischen Legitimierung der Herrschaft ab Mitte der 1960er-Jahre immer noch in dem weiter bestehenden Gleichheitsversprechen des Kommunismus gegründet war, welches man als den grundlegendsten Aspekt der Legitimierung des Regimes ansehen darf. Wie erging es diesem Versprechen unter dem Kommunismus? Einerseits zielte die Sozialpolitik der Staatspartei auf größere Chancengleichheit und führte zu echten Fortschritten in Bezug auf Einkommen, Zugang zu Waren und Dienstleistungen, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen einschließlich Renten sowie – ganz entscheidend – Bildung. Wie bereits erwähnt, legte die bulgarische Kultur großen Wert auf die Verpflichtung der Eltern, ihren Kindern eine möglichst gute Bildung zu ermöglichen. In der allgemeinen Wertehierarchie rangierte die Bildung der eigenen Kinder deutlich vor beruflicher Selbstverwirklichung, Gesundheit, einer guten Heirat oder materiellem Gewinn. Kein Ereignis war für eine Familie bewegender als die Zulassungen zu den Universitäten im Sommer, nachdem sich die Kinder um Studienplätze beworben hatten. Das Regime hatte für ein recht stabiles Muster einer an Leistung orientierten Schulausbildung gesorgt, das auf Examensleistungen beruhte, der Weitergabe ererbter Privilegien entgegenwirkte und einen starken Faktor für eine Aufwärtsmobilität darstellte. Was die Versorgung mit Wohnraum betrifft, so gab es eine nach Quadratmetern bemessene Begrenzung für privaten Wohnraumbesitz: 120 Quadratmeter.58 Die Gehaltsstufen waren relativ flach und ökonomische Anreize am Arbeitsplatz relativ gering, während Sozialleistungen nicht von der Arbeitsleistung abhängig waren. Obwohl der Lebensstandard niedrig war, wenn man ihn mit Westeuropa vergleicht, verspürte doch der gewöhnliche Bürger ein erhebliches Ausmaß an Sicherheit aufgrund der staatlichen Regulierung der Wohnraumversorgung und Renten sowie der Möglichkeit, am Arbeitsplatz ein billiges Mittagessen zu bekommen. Auch arbeiteten in den meisten Familien beide Ehepartner. Der britische Botschafter William Harpham berichtete am 15. September 1964 an das Außenministerium: „Was auch immer die Fehler des Regimes sein mögen (und davon gibt es viele), dem durchschnittlichen Bulgaren, der noch nie besser regiert wurde und kein gutes Leben gewöhnt ist, geht es heute besser als zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit.“59 58 Dies führte zu dem Phänomen vorgetäuschter Scheidungen, da in dieser Weise eine Familie den ihr zur Verfügung stehenden Wohnraum vergrößern konnte. 59 Zit. nach Dimitrov, Suvetska Bulgaria, S. 32.

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Andererseits war die egalitäre Politik in Form einer Doppelhelix eng verbunden mit einem Prozess, der in die genau entgegengesetzte Richtung zielte und in dessen Verlauf der soziale Stoffwechsel neue Ungleichheiten produzierte, die zur Konsolidierung einer herrschenden Klasse führte, die nicht nur über politische Macht verfügte, sondern der es auch im Laufe der Zeit in Bezug auf Einkommen und Lebensstandard zunehmend besser ging. Die von der sozialistischen Entwicklung erzeugten Klassenunterschiede und die Vererbung von Privilegien wurden zunehmend deutlicher erkennbar, und in den 1980er-Jahren gab es stabile sozioökonomische Unterschiede. Diese gleichzeitige der Gleichheit entgegenwirkende Entwicklung in Richtung Unterscheidung neuer Klassen führte im Verlauf der 1980er-Jahre zu einem rapiden Legitimitätsverlust unter der Bevölkerung, besonders nach dem Schock der Wirtschaftskrise 1984/85, die aus dem Wegfall der sowjetischen Subventionen entstand. Im Jahre 1989 hatte das Regime seine sozioökonomische Legitimierung weitgehend verloren, da es nicht genug getan hatte, um den Erwartungen in puncto Gleichheit zu entsprechen. Tatsächlich hatten die Menschen den Eindruck, das Regime habe sein Versprechen auf Gleichheit gebrochen, welches doch nach Meinung der meisten der entscheidende Punkt am Kommunismus war. Die Symbole des Wohlstands und der Privilegien der Nomenklatura wurden ebenso inakzeptabel wie unbestreitbar. Der öffentliche Groll richtete sich besonders auf das patrimoniale Element der Privilegien der Nomenklatura: „Die schicken ihre Kinder nach Cambridge!“, war die lauteste Klage des durchschnittlichen, traditionell egalitären, bildungsbesessenen Bulgaren. Kurz gesagt, einer der Gründe für die Legitimitätskrise in Bulgarien im Jahre 1989 war das nicht erfüllte Versprechen der Gleichheit. Zusätzlich zur sozioökonomischen Gleichheit versprach der Kommunismus die Gleichheit des Status: bezüglich Geschlecht, Ethnizität, Wohnort und Invalidität. Die komplexe Entwicklung der Statusungleichheiten im Verlauf der kommunistischen Ära stellt ein eigenes Thema dar, das hier nicht näher ausgeführt werden kann, doch grob gesagt, folgte die Statusungleichheit einem Muster ähnlich dem der sozioökonomischen Ungleichheit: Auf die politische Mobilisierung zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, der ethnischen Minderheiten mit der Mehrheitsbevölkerung usw. in den ersten Jahrzehnten folgte der allmähliche Aufstieg neuer Arten der Statusungleichheit aufgrund der Veränderung der Geschlechterrollen sowie der ethnisch-nationalen Beziehungen.60 Viele Plattformen von Dissidentenorganisationen gegen Ende der 1980er-­ Jahre enthielten Elemente der Kritik an der wachsenden sozioökonomischen Ungleichheit. Ecoglasnost verkündete in seinem Leitbild, dass diejenigen, die für die Entscheidungsfindung in den Bereichen Wirtschaft und Umwelt

60 Für die Dynamiken der Gleichheit der Geschlechter unter dem Kommunismus in Bulga­ rien siehe Dimitrina Petrova, The Farewell Dance: Women in the Bulgarian Transition. In: Eileen James Yeo (Hg.), Mary Wollstonecraft and 200 Years of Feminism, London 1997, S. 180–192.

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v­ erantwortlich waren, nicht diejenigen seien, die am meisten unter deren Folgen litten, und dass die Teilhabe an der Entscheidungsfindung in einem umgekehrten Verhältnis zu dem Ausmaß stand, in dem jemand von den durch diese Entscheidungen verursachten Schäden betroffen war. Der Klub für Glasnost und Perestroika, die wiederhergestellten Sozialdemokraten sowie die Bauernpartei und noch weitere beklagten zunehmend ein wirtschaftliches Missmanagement, das einherging mit einem System „rechtmäßiger“ Privilegien sowie diverser Formen ungesetzlicher Korruption, was wiederum zur weiteren Bereicherung der Spitzen der Nomenklatura und zu einer weiteren Verarmung großer Teile der Gesellschaft führte. Beginnend mit dem 4. November 1989 (dem Tag der ersten Massendemonstration gegen das Regime) beteiligten sich die Menschen zu Hunderttausenden an der Revolution, aber nicht nur und noch nicht einmal in erster Linie, um ihre bürgerliche Freiheit zu gewinnen, sondern weil sie sich bei dem so entscheidenden Thema der Gleichheit betrogen fühlten. Im Oktober 1989 sprach das explosivste Plakat mit dem am beliebtesten Slogan während der Ecoglasnost-Kampagne im Kristallgarten nicht von bürgerlichen Freiheiten. Stattdessen hieß es: „Jeder bulgarische Millionär – ein Sponsor für Ecoglasnost!“ Bereits die Feststellung, dass es bulgarische Millionäre überhaupt gab, stellte – um das damalige Klischee zu verwenden – die revolutionärste Innovation überhaupt dar. Man könnte sagen, dass die Revolution von 1989 deshalb erfolgreich war, weil die mächtige Welle der Freiheit von einer ebenso mächtigen Unterströmung egalitärer Unzufriedenheit getragen wurde. Es spricht daher viel dafür, die Revolution von 1989 in Bulgarien sowie vielleicht im restlichen Osteuropa mit etwas anderen Augen zu betrachten. Eine Kritik an der Art und Weise, in welcher die bisher gültigen Narrative diese Revolutionen dargestellt haben, nämlich essenziell als den durch eine im wesentlichen freiheitliche Oppositionsbewegung getragenen Übergang von der Tyrannei der Staatsparteien zu Freiheit und Demokratie, ist dabei inbegriffen. Während dieser Aspekt der Geschichte unbestritten bleibt, muss man feststellen, dass ein weiterer, ebenso entscheidender Aspekt übersehen wurde: Die Revolution von 1989 war nämlich ebenso das Ergebnis des nicht eingehaltenen Gleichheitsversprechens des Kommunismus und die Massenmobilisierung gegen die kommunistischen Regime wurde genauso durch die massenhafte Empörung über die Ungleichheiten innerhalb der kommunistischen Gesellschaften ermöglicht wie durch das Streben nach Freiheit, Demokratie und bürgerlichen Freiheiten. Es gibt reichhaltiges Archivmaterial, aus dem die Betonung der Rolle egalitärer Werte während der Revolutionen von 1989 hervorgeht, und es ist lohnenswert, sich damit unter dieser Perspektive zu beschäftigen. Solch eine Analyse wäre von Wichtigkeit, da sie dabei helfen könnte, die Art und Weise zu verstehen, in welcher die sich überlagernde Geschichte der Ungleichheit die postkommunistischen osteuropäischen Gesellschaften in den vergangenen drei Jahrzehnten seit 1989 bestimmt hat.

VIII. Albanien

Das politische System Albaniens 1944–1991 Michael Schmidt-Neke Das kommunistische Albanien wird traditionell als „Sonderfall“, „Socialist Maverick“ und ähnliches charakterisiert. Es hatte nach dem Bruch mit dem Sowjetblock in den frühen 1960er-Jahren das Selbstverständnis, das einzige sozialistische Land in Europa zu sein, während alle anderen die Lehren von Lenin und Stalin verraten hätten. Daher sah die albanische Führung die Systemkrise der Ostblockstaaten offiziell als Beweis für diese Einschätzung, aber nicht als Gefahr für das eigene Modell. Der Systemwechsel kam aber auch in Albanien an, wenngleich mit einer Verzögerung von rund einem Jahr. Damit stellt sich die Frage, was die Alleinstellungsmerkmale Albaniens waren und worin es mit den übrigen kommunistisch regierten Ländern Europas übereinstimmte – über die augenfällige Tatsache des mehrfachen Bündniswechsels von Jugoslawien über den Sowjetblock zu China und schließlich zu einer Phase der Entwicklung, „gestützt auf die eigenen Kräfte“, auch als Isolationismus bezeichnet.

Die Strukturen des Einparteienstaates Die Kommunistische Partei Albaniens (PKSH) wurde erst im November 1941 nach etlichen gescheiterten Anläufen als Fusionsprodukt mehrerer lokaler Gruppen gegründet.1 Sie brauchte nur drei Jahre, um die alleinige Macht im Staat zu erringen. Italien hatte Albanien in den 1930er-Jahren in völlige Abhängigkeit gebracht und im April 1939 besetzt sowie eine als Personalunion getarnte Besatzungsherrschaft errichtet. Zudem wurde Albanien im Oktober 1940 als Aufmarsch­ gebiet gegen Griechenland benutzt. Populär waren auf der anderen Seite Infra­ strukturprogramme, die auch für Albaner Arbeitsplätze schufen, und der Anschluss des größten Teils des heutigen Kosovo an Albanien 1941.2

1 2

Vgl. Kristo Frashëri, Historia e lëvizjes së majtë në Shqipëri dhe e themelimit të PKSH-së 1878–1941, Tirana 2006. Vgl. Bernd Jürgen Fischer, Albania at War 1939–1945, London 1999.

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Das konnte nicht verhindern, dass sich Widerstandsverbände bildeten, von denen die Nationale Befreiungsbewegung, die von der PKSH geführt wurde, die bei Weitem effizienteste war. Albanien wurde im September 1943, nach der Kapitulation Italiens, von Deutschland übernommen, das die staatliche Unabhängigkeit wiederherstellte, alle wesentlichen Entscheidungen aber über seine militärische und zivile Präsenz lenkte. Je klarer sich die deutsche Kriegsniederlage abzeichnete, desto mehr planten alle Akteure in Albanien für den Tag danach; der Krieg gegen die Besatzer mündete in einen Bürgerkrieg der Albaner.3 Im Endeffekt setzten sich die Partisanen durch, deren Führung sich bereits vor Ende der Kampfhandlungen als Regierung und provisorische Volksvertretung konstituiert hatte. Bei Kriegsende stand die Kommunistische Partei (KP) zwar unter massivem politischem Einfluss der KP Jugoslawiens, aber der in den meisten osteuropäischen Ländern entscheidende Faktor der Anwesenheit der Roten Armee fehlte hier.4 Die Phase einer Koexistenz der KP mit nicht kommunistischen Parteien entfiel in Albanien. Das Land hatte – abgesehen von einem instabilen Elitenpluralismus zwischen 1920 und 1924 – praktisch nur Erfahrungen mit autoritären Systemen, in denen sich kein Parteienpluralismus ausbilden konnte. In der Nationalen Befreiungsfront gab es zwar Persönlichkeiten, die keine Kommunisten waren und die sich für eine pluralistische Demokratie aussprachen; einige von ihnen wurden zunächst in Ämter und Mandate eingebunden, aber wenig später ausgeschaltet. Somit gab es auch keine Notwendigkeit für die Bildung von Blockparteien als Überreste eines früheren Pluralismus. Die enge Bindung an Jugoslawien schlug sich in der Verfassung der Volksrepublik Albanien vom 14. März 1946 nieder.5 Sie wurde von einer Verfassungsgebenden Versammlung verabschiedet, die im Dezember mit einer Einheitsliste, aber mit realen Möglichkeiten der Stimmabgabe mit Nein oder Enthaltung gewählt worden war. Vergleicht man dieses Verfassungsdokument mit der jugoslawischen Bundesverfassung von 1946, so kann man nach Abzug der auf Albanien nicht anwendbaren föderalen Bestimmungen die Unterschiede an einer Hand abzählen. Nachdem 1948 der Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform faktisch die Unabhängigkeit Albaniens gerettet hatte und das Land von einem Subsatelliten innerhalb des Sowjetblocks zu einem formal gleichberechtigten Mitglied und Außenposten des östlichen Bündnissystems avanciert war, wurde die Verfassung grundsätzlich überholt, dem osteuropäischen Mainstream angenähert

3 4 5

Vgl. Erwin Lewin, Antifaschistischer Widerstand in Albanien (1942–1943/44). Neue Quellen zu Akteuren und Zielen, Leipzig 2007; Hubert Neuwirth, Widerstand und Kol­ laboration in Albanien 1939–1944, Wiesbaden 2008. Vgl. Peter Danylow, Die außenpolitischen Beziehungen Albaniens zu Jugoslawien und zur UdSSR 1944–1961, München 1982. Zur Verfassungsentwicklung vgl. Michael Schmidt-Neke (Hg.), Die Verfassungen Alba­ niens, Wiesbaden 2009.

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und auch nach dem Ausscheren Albaniens aus diesem Bündnissystem in den 1960er-Jahren nicht mehr angepasst. Die letzte Verfassung von 1976 fiel mit dem allmählichen Zerbrechen der Allianz mit China zusammen und kodifizierte die staatsrechtliche und politische Weiterentwicklung des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems. Die zentrale gesellschaftliche Organisation war – was nicht überraschend ist – die Partei.6 Sie hatte nach ihrem Sieg in Krieg und Bürgerkrieg ein dogmatisches Problem: Welche Rolle konnte eine Partei, die die Diktatur der Arbeiterklasse durchsetzen wollte, in einer vorindustriellen, größtenteils agrarischen Gesellschaft spielen, in der sich eine Arbeiterklasse gerade erst entwickelte? Dieses Problem betraf nicht Albanien allein; das hatte schon für die Oktoberrevolution gegolten, nachdem in keinem der westeuropäischen industrialisierten Länder, die Marx und Engels als Kandidaten für eine Revolution angesehen hatten, eine solche stattgefunden hatte. Die Partei löste diesen theoretischen Widerspruch formal auf ihrem I. Parteitag im November 1948, der im Zeichen des Bruchs mit Jugoslawien stand, indem sie sich in „Partei der Arbeit Albaniens“ (PPSH) umbenannte. Für einige Jahre trat der Anspruch, Partei der albanischen Arbeiterklasse zu sein, hinter dem Selbstverständnis zurück, eine kommunistische Volkspartei der arbeitenden Menschen zu sein. Als die Industrialisierung die eigentliche Basis einer kommunistischen Partei geschaffen hatte, traten 1956 die Arbeiter als primäre, aber nicht einzige Zielgruppe wieder in den Mittelpunkt. Der ideologische Fundus der PPSH speiste sich zum einen natürlich aus den Werken der „Klassiker des Marxismus-Leninismus“, Marx, Engels, Lenin und Stalin. Dabei wurde am Stalinkult bis zum Systemwechsel festgehalten. Stalin war, auch in Denkmälern, allgegenwärtig,7 weil die PPSH seiner Strategie zum Aufbau des Sozialismus folgte. Das bedeutete die Ablehnung einer Arbeitsteilung innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), die Chruschtschow nahegelegt hatte und die Albanien zum Lieferanten von Zitrusfrüchten und zum Touristenparadies degradiert hätte, und stattdessen die Vollverstaatlichung der Wirtschaft und der schnelle Aufbau der Industrie, besonders der Schwerindustrie, auch auf Kosten des Konsumniveaus; das bedeutete das Festhalten am Klassenkampf; das bedeutete die Würdigung Stalins als Sieger des Zweiten Weltkrieges, als dessen Verbündete sich die Partisanen gesehen hatten; das bedeutete den Einsatz der Ressourcen für eine defensive Hochrüstung einschließlich der bis heute landschaftsprägenden Bunker; und das bedeutete die Anerkennung dafür, dass Stalin durch den Ausschluss Jugoslawiens aus dem östlichen ­Bündnissystem de facto Albaniens Unabhängigkeit gerettet hatte. 6

7

Ich stütze mich hier auf meine Darstellung: Politisches System. In: Klaus-Detlev Grot­hu­ sen (Hg.), Südosteuropa-Handbuch, Band VII: Albanien, Göttingen 1993, S. 169–242. Als neuere konzise Gesamtdarstellung ist empfehlenswert Tadeusz Czekalski, The Shin­ ing Beacon of Socialism in Europe. The Albanian State and Society in the Period of Communist Dictatorship, Krakau 2013. Party of Labour of Albania (Hg.), Centenary of the Birth of J. V. Stalin, Tirana 1979; Enver Hoxha, Begegnungen mit Stalin. Erinnerungen, Dortmund 1980.

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Die zweite Quelle der Ideologie waren die Schriften Enver Hodschas, der spätestens seit den 1970er-Jahren als albanischer Klassiker des Marxismus-Leninismus angesehen wurde. Seit 1968 erschien eine Werkausgabe, die 1990 mit Band 71 abgebrochen wurde.8 Dazu kamen Memoiren, Tagebücher, politisch-ideologische Abhandlungen, Briefsammlungen, alles in sehr hohen Auflagen, vieles auch in Fremdsprachen. Wäre die Werkausgabe fertiggestellt worden, hätte sie mit Sicherheit über 100 Bände umfasst; Hodschas Gesamtwerk ist somit das größte veröffentlichte Textkorpus eines albanischen Autors – ­allerdings kann man davon ausgehen, dass das Institut für Marxistisch-Leninistische Studien unter Leitung seiner Frau Nexhmije mehr als nur die formale Redaktion besorgt hat. Auch darf man die Bearbeitung der Texte nicht unterschätzen: In der Werkausgabe wurden die Texte bis 1948 von projugoslawischen Äußerungen fast völlig gesäubert, die prosowjetischen blieben nur erhalten, wenn es um die ­UdSSR Stalins ging oder wenn demonstriert werden sollte, dass es nicht Albanien war, das die Brücken abgebrochen hatte. In den Bänden, die ab 1978 erschienen, strich man die Huldigungen an Mao Tse-tung. Auch Einzelschriften und Reden anderer Parteiführer wurden veröffentlicht; Werkausgaben erhielten nur drei weitere Politiker (Hysni Kapo, Gogo Nushi und Mehmet Shehu); die von Mehmet Shehu kam allerdings nicht über Band 1 hinaus.9 Ab 1985 erschien auch eine Sammlung der Reden des neuen Parteichefs Ramiz Alia. Analog zur „Geschichte der KPdSU (Bolschewiki) – Kurzer Lehrgang“ wurde 1968 die „Geschichte der PPSH“ veröffentlicht, die 1982 nach der Säuberung Shehus zunächst ergänzt, dann neu herausgegeben wurde.10 In der Verfassung von 1946 kam die Partei noch nicht vor, in der Revision von 1950 wurde sie in Artikel 21 über die Organisationen erwähnt, und zwar mit einer Formulierung aus der Stalin-Verfassung über die Partei als Sammelbecken der aktivsten und bewusstesten Bürger aus der Arbeiterklasse und den anderen werktätigen Massen. Ganz anders in der Verfassung von 1976: Jetzt war die Partei das führende Verfassungsorgan mit umfassendem Machtmonopol für alle Bereiche der Gesellschaft. Die Verfassungsbestimmungen und die ausführliche Präambel über die abgeschlossene Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft gehen weit über die osteuropäischen Verfassungen hinaus, finden sich aber ähnlich in der nur zwischen 1975 und 1978 geltenden kulturrevolutionären Verfassung Chinas; zum Führungsanspruch gehörte etwa, dass nicht der Staats- oder Regierungschef Oberkommandierender der Streitkräfte war, sondern der 1. Sekretär des Zentralkomitees – also Hodscha. In ihrer ­Organisation wies die PPSH keine großen Besonderheiten auf. Sie hatte auf ihrem I. Partei­tag

    8 Enver Hoxha, Vepra, 71 Bände, Tirana 1968–1990.     9 Mehmet Shehu, Vepra të zgjedhura, Band 1, Tirana 1981. 10 Institut für Marxistisch-Leninistische Studien beim ZK der PAA (Hg.), Geschichte der Partei der Arbeit Albaniens, 1. Auflage Tirana 1971; 2. Auflage 1982.

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1948 rund 45 000 Mitglieder, davon ein gutes Drittel Kandidaten. Für 1986 wurde als Gesamtzahl 147 000 angegeben. Das sind nicht nur in absoluten Zahlen geringe Werte, sondern auch relativ zur Bevölkerungszahl, maximal 7,5 Prozent der Volljährigen; die PPSH hielt an dem Anspruch fest, Avantgardepartei, nicht Massenpartei zu sein. Der Kandidatenanteil schwankte zwischen 35,8 Prozent und 5,0 Prozent. Andere kommunistische Parteien verzichteten auf die Kandidatenzeit, während die PPSH diese in den späten 1960er-Jahren auf zwei bis drei Jahre ausdehnte, wobei der Kandidat nicht nur Bürgschaften von bewährten Mitgliedern beizubringen hatte, sondern während seiner Kandidatenzeit auch besondere Aufgaben zu übernehmen hatte. Die Einbeziehung der Frauen in den gesellschaftlichen Prozess war angesichts der besonderen Rückständigkeit Albaniens auf diesem Gebiet eine prio­ ritäre Aufgabe. Frauen kämpften in der Partisanenarmee, was bei deren konservativer Konkurrenz Anlass zu Verdächtigungen gab. In der Partei wurden Anfang der 1960er-Jahre rund 10 Prozent weibliche Mitglieder angegeben, bis 1986 stieg der Anteil auf fast ein Drittel. In der sozialen Zusammensetzung wuchs der Arbeiteranteil entsprechend der Industrialisierung schnell. Für 1948 werden unter 10 Prozent angegeben, für 1986 knapp 40 Prozent, also 6 bis 8 Prozent unter dem Anteil der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung; der Anteil der Genossenschaftsbauern pendelte sich bei knapp 30 Prozent ein. Die „Angestellten“ – also Beschäftigte außerhalb der Produktion – machten 1956 noch 45 Prozent, 30 Jahre später nur noch 31 Prozent aus, sie waren somit weit überrepräsentiert. Das formal höchste Organ war der Parteitag, der bis 1956 alle vier, dann alle fünf Jahre (im Rhythmus der Fünfjahrpläne) stattfand. Dabei vertrat ein Delegierter zwischen 50 und 150 Mitglieder und Kandidaten. Der Parteitag wählte das Zentralkomitee (ZK), dem ständig anwachsend 31 bis 131 Mitglieder, davon ein Drittel Kandidaten, angehörten. Der Frauenanteil im ZK blieb hinter dem an den Mitgliedern weit zurück; von 1966 bis 1976 stieg er von 11 Prozent auf 19 Prozent an und ging bis 1986 wieder auf 16 Prozent zurück. Das ZK wählte auf seiner konstituierenden Sitzung das Politbüro und das Sekretariat des Zentralkomitees, darunter den Ersten Sekretär, also Enver Hodscha und ab 1985 Ramiz Alia. Das Sekretariat war ein kleines Gremium mit vier bis sechs Personen, die für die einzelnen Politikfelder zuständig waren und die laufenden Angelegenheiten koordinierten. Doppelmitgliedschaften zwischen Sekretariat und Politbüro waren häufig, aber nicht obligatorisch. Dem Politbüro, das von neun auf 14 Mitglieder plus vier Kandidaten wuchs, kam die eigentliche Führungsaufgabe zu. Es tagte ständig, wohl mindestens einmal wöchentlich, unter der Leitung des Ersten Sekretärs, dem die Mitglieder Bericht erstatteten. Trotz des Kollegialprinzips waren Beschlussfassungen gegen Hodschas Intentionen faktisch ausgeschlossen. In einem patriarchal geprägten Land wie Albanien ist es keine Selbstverständlichkeit, dass mit Liri Belishova in den 1950er-Jahren und Lenka Çuko in den 1980er-Jahren immerhin zwei Frauen den beiden obersten ­Leitungsgremien der

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PPSH angehörten.11 Mehr waren es auch in der KPdSU und in der SED bei weit größeren Gremien nicht. Umbesetzungen, die (von der Zerfallsphase 1990 abgesehen) nur auf Parteitagen vorgenommen wurden, hatten im Wesentlichen zwei Ursachen: Bisherige Mitglieder waren verstorben oder gingen in den Ruhestand, oder es gab mal wieder eine politische Säuberung. Es ist ein Alleinstellungsmerkmal der PPSH in der Zeit nach Stalins Tod, dass die Praxis fortlebte, bisher als leuchtende Vorbilder geltende sowie Vorkämpfer des Sozialismus und enge Waffengefährten Enver Hodschas propagierte Spitzenpolitiker nicht nur ihrer Ämter zu entheben. Die außenpolitischen Kurswechsel gingen immer mit Schlägen gegen Funktionäre einher, die als Einflussträger des bisherigen Partners galten, doch wurden auch andere Anlässe gefunden, um Verantwortliche zu säubern. Üblicherweise beschloss das ZK unter Ausschluss der Öffentlichkeit, den Betreffenden aus dem Politbüro und meist auch aus dem ZK zu entfernen. Wurde gleichzeitig ein Parteiausschluss verhängt, war sicher, dass ein Prozess mit einer Verurteilung zu einer sehr langen Haftstrafe oder zum Tode folgte. Oder die Parteiführung wendete die „Salamitaktik“ an: Der Entmachtete bekam zunächst eine einflusslose Verwaltungsposition, etwa als Leiter eines strategisch nicht wichtigen Unternehmens; nach einiger Zeit folgte dann die Verhaftung und Verurteilung unter der Beschuldigung, er habe seine Fehler nicht eingesehen und die Geduld, die die Partei ihm gegenüber gezeigt habe, missbraucht. Nationale Identität, soziale Homogenität und politische Einheit waren Grundwerte im sozialistischen System Albaniens. Dies war durch die historische Entwicklung, besonders den traumatischen mehrfachen Verlust der spät errungenen Unabhängigkeit, vorgegeben und verstärkte sich nach jedem Bruch mit einem außenpolitischen Partner. Während im Ostblock der „unzerstörbare Bruderbund“ mit der sozialistischen Staatengemeinschaft und besonders mit dem „brüderlichen Sowjetvolk“ propagiert wurde, lebte Albanien nach 1961 und noch mehr nach 1978 in radikaler Abgrenzung, in der Vorstellung von der „Belagerung“ durch die Imperialisten (Westen) und Revisionisten (Jugoslawien und Ostblock). Das Gegengewicht sollte durch die Einheit (unitet) gebildet werden. Die Partei beschwor schon während des Krieges die Einheit der Nation (unitet kombëtar), blieb dabei aber nicht stehen: Sie führte einen doppelten Kampf, einerseits gegen die Besatzer für die Rückgewinnung der Unabhängigkeit, andererseits für eine soziale Revolution (gegen die konkurrierenden Bewegungen) durch das Konzept der Einheit des Volkes (unitet i popullit). „Volk“ (popull) war hierbei keine ethnische, sondern eine soziale Kategorie. Gemeint waren laut Wörterbüchern „die Klassen und Schichten der Gesellschaft, die die Aufgaben

11 Louis Zanga, Highest Political Institutions. In: Grothusen (Hg.), Südosteuropa-Hand­ buch, Band VII, S. 747–762.

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der progressiven, revolutionären Entwicklung eines Landes in einer bestimmten Etappe lösen. Das Volk ist der Schöpfer der Geschichte.“12 Diese Einheit war in den gemeinsamen Interessen der nichtantagonistischen Klassen und Schichten (Arbeiterklasse, Genossenschafts-, zunächst auch Kleinbauern, „Volksintelligenz“) begründet und fand ihren Ausdruck in der Diktatur des Proletariats, der Volksmacht. Da die Partei und der von ihr geführte Staat per definitionem diese Interessen vertraten, lag darin bereits ihre Legitimation; jedes Nachdenken über Alternativen bedeutete Verrat an den Interessen des „popull“, somit musste es illegal und kriminell sein und durfte weder bei Wahlen noch in anderer Form artikuliert werden. Die statische Gesellschaft wurde mit dem Slogan „Stählerne Faust um die Partei“ (grusht çeliku rreth partisë) postuliert. Äußeres Zeichen dieser Einheit waren die im Vergleich zum übrigen Osteuro­ pa grotesken Wahlergebnisse. Nicht nur, dass die Wahlbeteiligung ab 1970 mit 100 Prozent angegeben wurde, auch die Zustimmungsquote lag zwischen 99,99 und 100 Prozent.13 Dieser vollständige Konsens führte sich regelmäßig ad absurdum, wenn kurz nach den Wahlen wieder eine Säuberungswelle lief. Da die PPSH es ablehnte, Massenpartei zu werden, war es für sie umso wichtiger, die Einheit des Volkes durch ein dichtes Netz von gesellschaftlichen Organisationen zu sichern, die als Transmissionsriemen der PPSH zu funktionieren hatten und denen sich der Einzelne nicht entziehen konnte. Das waren die Gewerkschaften, die wie in den anderen kommunistischen Systemen keine Tarifparteien waren, sondern die Arbeitsdisziplin kontrollierten und Freizeitangebote organisierten; der Frauenverband, dessen Spitze immer mit einflussreichen Politikerinnen besetzt war und der die Kampagnen zur Frauenemanzipation vorantrieb; der Jugendverband, der die wichtigste Mitgliederreserve der Partei bildete und die Arbeitskampagnen der Jugendlichen organisierte; der Veteranenverband und die nach dem Wohnortprinzip organisierte Demokratische Front, die die Nationale Befreiungsfront der Kriegsjahre fortsetzte. Es gab sowohl die direkte Mitgliedschaft in der Front als auch die indirekte über die Massenorganisationen. Enver Hodschas war bis zu seinem Tode Vorsitzender und wurde von seiner Witwe beerbt. Formal wurden bei Parlaments- und Kommunalwahlen über Einheitswahlvorschläge der Front abgestimmt, die von der PPSH vorbereitet und genehmigt waren. Auch wenn die PPSH nur langsam und kontrolliert wuchs, gehörte keineswegs die gesamte Parteimitgliedschaft zur „Neuen Klasse“. Die neue Elite war ungewöhnlich schmal; sie musste nach Möglichkeiten suchen, ihre Macht zu stabilisieren. Obwohl sie sich zunächst der Gefahr durchaus bewusst war, die damit verbunden war, fand sie einen Weg, indem sie an die alten Traditionen der Großfamilie anknüpfte. Was in den Anfängen noch selbstverständliche Folge

12 Instituti i Gjuhësisë dhe i Letërsisë (Hg.), Fjalor i gjuhës së sotme shqipe (me rreth 41 000 fjalë), Tirana 1980, S. 1517; Parteischule „V.I. Lenin“ (Hg.), Fjalor i filozofisë, Tirana 1982, S. 352 f. 13 Schmidt-Neke, Politisches System, S. 200.

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ständiger Zusammenarbeit war, entwickelte sich bereits früh zu einem nahezu geschlossenen System von miteinander verbundenen Familien und Clans. Das ging aber nicht so weit wie in Rumänien oder gar im mittlerweile dynastischen Nordkorea: Zu keinem Zeitpunkt wären etwa Hodschas Kinder oder seine Frau für seine Nachfolge in Betracht gekommen. Nexhmije Hodscha war zwar eine Schlüsselfigur des Systems, die aber eher informale Macht akkumulierte; sie gehörte nie der engeren Parteiführung an. Die drei Kinder des Ehepaares arbeiteten als Architekten oder höhere Verwaltungsfunktionäre, spielten aber keine politische Rolle. Mittelfristig differenzierte sich die albanische Gesellschaft in „gute“ und „schlechte“ Familien aus, das heißt in die Sieger und Verlierer des Klassenkampfes. „Gute“ Familien waren die von Parteimitgliedern und Partisanen. An der Spitze standen die der engeren Partei- und Staatsführung. Diese teilten die Machtpositionen unter sich auf und bestimmten, wer für die Elite rekrutiert wurde. Damit war der Zugang zu materiellen Privilegien verbunden. Die bevorzugte Unterbringung mündete schließlich in die Errichtung des sogenannten „Blocks“, eines abgeriegelten Villenviertels im Zentrum Tiranas, in dem 1990, unmittelbar vor seiner Auflösung, 26 Familien lebten. Das, was die Kommunisten ursprünglich vermeiden wollten, die Isolierung von der Bevölkerung und materielle Privilegien, waren auch in Albanien zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Versorgung mit Bedarfsgütern wurde 1956 durch die Schaffung der Empfangsdirektion auf die Spitze getrieben, die ohne Rücksicht auf die Lage der Volkswirtschaft einheimische und westliche Waren beschaffte; ihre rechtlichen Grundlagen waren Beschlüsse des Politbüros, die als Staatsgeheimnisse gehütet wurden und nicht einmal den 646 Angestellten (Stand Mitte 1991) vollständig bekannt waren! Der Führung standen eine Spezialklinik, ein Fuhrpark, unbegrenzte Telefonate mit dem Ausland, importierte Literatur sowie zahlreiches Personal zur Verfügung. Auch die Möglichkeit zu Auslandsreisen einschließlich medizinischer Behandlung im Ausland (bzw. der Einreise ausländischer Spezia­ listen nach Albanien) nahmen überhand. Diese Privilegien wurden nicht nur von den Führungsmitgliedern selbst, sondern auch von ihren Angehörigen ausgenutzt; es war geradezu selbstverständlich, dass die Kinder der engeren Führungsgruppe auf Staatskosten im Ausland studierten. Die Begünstigten zahlten nur kleine Anteile der Kosten. Nach einer Untersuchung der postkommunistischen Regierung wurden 0,2 Prozent des Staatsbudgets für jene 26 herrschenden Familien ausgegeben.14 Das ist keine sehr dramatische Zahl; doch muss der schreiende Widerspruch zwischen dem sehr niedrigen und in den 1980er-Jahren sinkenden Lebensstandard der Bevölkerung und der Versorgung der Spitzenfunktionäre sowie zwischen der Propaganda einer egalitären, privilegienfreien Gesellschaft und der

14 Vgl. Schmidt-Neke, Politisches System, S. 209.

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persönlichen Bereicherung der Führung gesehen werden. Der „Block“ vereinigte nur die Spitze der „guten“ Familien. Je niedriger die Ebene war, desto bescheidener fielen naturgemäß die Privilegien aus. Eine Parteimitgliedschaft, deren Hürden recht hoch waren, bedeutete nicht automatisch materielle Privilegien, doch war sie in der Regel Voraussetzung für solche. Zum Beispiel war die Zuteilung eines privaten Telefonanschlusses ohne Parteibuch kaum zu erhalten. Die PPSH-Mitglieder besetzten in Industrie und Landwirtschaft die Verwaltungspositionen mit Festlöhnen, die, anders als die der in der Produktion Beschäftigten, nicht ertragsabhängig waren. Am unteren Rand der Gesellschaft standen die „schlechten“ Familien, also zunächst die der gestürzten Elite, der Grundbesitzer, Großbürger, höheren Geistlichen, von Kollaborateuren sowie Mitgliedern des Balli Kombëtar oder Legaliteti, der republikanischen und der monarchistischen Miliz während des Krieges, die – teilweise an der Seite der Besatzer – gegen die Partisanen gekämpft hatten. Die Parallele zu den Privilegien war eine extreme Form der Sippenhaft, die über drei Generationen anhalten konnte. Während in vielen Fällen Personen, die sich im Krieg kompromittiert hatten, fliehen konnten, wurde ihre gesamte, im Land verbliebene Verwandtschaft harten Sanktionen ausgesetzt. Im mindesten Fall war eine solche Familie sozial ausgegrenzt, auf Kontakte und Heiratsbeziehungen mit ihresgleichen beschränkt sowie für Leitungspositionen und Parteimitgliedschaft von vornherein disqualifiziert; oft blieben den Kindern solcher Familien auch höhere Bildungschancen verschlossen. Im schlimmeren und häufigeren Fall gerieten diese Familien in die Mühle der Internierungslager und Verbanntendörfer, wo ihnen selbst die elementarste Bildungs- und Gesundheitsversorgung verwehrt wurde. Derartige Praktiken richteten sich nicht nur gegen die Angehörigen von ehemals Prominenten, sondern auch von Unbekannten, die auf der falschen Seite gestanden hatten. Dieses System war durchlässig, aber nur in einer Richtung: Während die Rehabilitation einer „schlechten“ Familie praktisch nicht vorkam, konnten „gute“ Familien von einem Tag auf den anderen abstürzen, wenn eines ihrer Mitglieder einer Säuberungswelle zum Opfer fiel. Je prominenter der Gestürzte war, desto unnachsichtiger fielen die Folgen für seine Angehörigen aus. Im Falle der Familie Mehmet Shehus wurden nicht nur diejenigen Verwandten abgeurteilt, die tatsächlich Träger von Macht waren, wie seine Frau Fiqirete, sondern auch seine Kinder; sein jüngerer Sohn, der Schriftsteller Bashkim, erhielt neun Jahre Haft. Auf den Ehepartner eines Verhafteten oder Internierten wurde regelmäßig der Druck ausgeübt, sich scheiden zu lassen, um die schlimmsten Folgen von sich abzuwenden; Angehörige waren oft gezwungen, jeden Brief- oder Besuchskontakt zu dem Inhaftierten abzubrechen. Dadurch wurde dessen Isolation vollkommen und seine Überlebenschancen gemindert, weil er so keine Chance mehr hatte, zusätzliche Lebensmittel von außen zu erhalten. Die Umsetzung des Konzepts von der Einheit des Volkes mündete in ein weiteres Alleinstellungsmerkmal Albaniens. Der Umgang mit den Religionsgemeinschaften war in den sozialistischen Ländern sehr unterschiedlich,

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aber nur ­Albanien ging so weit, dass es in den späten 1960er-Jahren jede Religions­ausübung verbot, den Besitz der Gemeinschaften beschlagnahmte und ­zweckentfremdete (so weit sie nicht von bedeutendem kulturellem Wert waren, wurden Kirchen und Moscheen in Lagerhäuser, Kulturhäuser o. Ä. umgewandelt) und die Geistlichen in die Produktion oder in die Rente schickte bzw. sie hart verfolgte. Die religiöse Struktur Albaniens ist durch die mehrheitliche Islamisierung für ein europäisches Land sehr untypisch. Bei Kriegsende gliederten sich die damals gerade einmal 1,1 Millionen Einwohner auf 50 Prozent Sunniten, 20 Prozent Aleviten (Sufi-Orden), 20 Prozent Orthodoxe und 10 Prozent Katholiken. (Es hat seither keine belastbaren Erhebungen mehr gegeben. In der kommunistischen Ära wurde die Religionszugehörigkeit natürlich nicht erhoben; bei der letzten Volkszählung von 2011 ergaben sich folgende Zahlen: Sunniten 57 Prozent, Aleviten 2 Prozent, Orthodoxe 7 Prozent, Katholiken 10 Prozent, Atheisten 2 Prozent; allerdings haben 16 Prozent der Befragten gar nicht oder nicht nachvollziehbar geantwortet.) Die Religionszugehörigkeit war für die Entstehung des albanischen Nationalismus unter diesen Umständen kein Faktor der kollektiven Identität, wie etwa die Zugehörigkeit zum Katholizismus für die Polen und Kroa­ ten oder die zur Orthodoxie für Serben, Rumänen oder Griechen. Die Protagonisten der Nationalbewegung, die aus allen Gemeinschaften kamen, konnten die albanische Nation nicht auf eine Religion gründen, sondern mussten die gemeinsame Eigenschaft, Albaner zu sein, anders konstituieren; durch die gemeinsame Sprache, Herkunft, Geschichte und kulturelle Traditionen. Das Regime des muslimischen Königs Zogu wurde von den nordalbanischen Katholiken, besonders vom Klerus, abgelehnt. Viele von ihnen begrüßten die Übernahme des Landes 1939 durch Italien und beteiligten sich an der Kollaborationsverwaltung, so der damals profilierteste Dichter des Landes Gjergj Fishta, ein Franziskaner. Obwohl sich Geistliche aller Konfessionen am Widerstand beteiligten, begann die kommunistische Regierung bald nach ihrem Machtantritt mit Verfolgungsmaßnahmen gegen Kleriker, die der Illoyalität verdächtigt wurden. Auf rechtlicher Ebene schränkte die Regierung den Spielraum der Religionsgemeinschaften immer weiter ein; so wurde den Katholiken 1951 ein Statut aufgenötigt, das sie nicht nur zur politischen Loyalität verpflichtete, sondern ihnen auch jede Beziehung zum Papst verbot, der nur noch formal als Oberhaupt der Weltkirche anerkannt wurde. 1967 war es dann so weit: Nicht ein Dekret von oben, sondern eine angeblich spontane Bewegung der Jugend führte zur Zerschlagung aller religiösen Strukturen. Das Religionsverbot wurde 1976 ausdrücklich in der Verfassung verankert; religiöse Propaganda wurde mit der Verbreitung von Faschismus, Rassenhass und Kriegstreiberei auf eine Stufe gestellt. So weit ging kein anderes kommunistisches System. In Albanien stand nicht primär die Bekämpfung religiöser, mit marxistisch-leninistischen Theorien unvereinbarer Konzepte im Vordergrund. Es war ein Eckpfeiler des Social Engineering zur Herstellung der „unitet“ durch Ausschaltung eines Faktors, der in der Vergangenheit der Einheit

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entgegenstand und zugleich als Vehikel für die Interessen fremder Mächte galt: der Islam als Religion der osmanischen Eroberer, der Katholizismus als die der Österreicher und Italiener, die Orthodoxie als die der verhassten serbischen und griechischen Nachbarn – auch wenn die albanische Orthodoxie bereits vor dem Krieg als autokephale Nationalkirche organisiert war. Die Kampagne gegen die Religionen von 1967 gliedert sich in die sogenannte albanische Kulturrevolution ein, eine ganze Serie von Kampagnen zur „Revolutionierung des gesamten Lebens“ und zum Kampf gegen rückständige Gewohnheiten. Diese Kampagnen gingen stets von der Parteiführung aus und entglitten ihr zu keiner Zeit. Bei aller Koinzidenz mit der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ liegt hier der wesentliche Unterschied zu den Ereignissen in China. Es griffe zu kurz, die relative Langlebigkeit des PPSH-Regimes ausschließlich auf den Unterdrückungsapparat zu reduzieren. Es hatte zunächst ein hohes Maß an Legitimation, weil es aus dem Krieg als Sieger hervorgegangen und nicht – wie die anderen osteuropäischen Volksdemokratien mit Ausnahme Jugoslawiens – von der UdSSR in den Sattel gehoben worden war. Die Kommunisten übernahmen 1944 den mit Abstand rückständigsten Staat Europas, der durch den Krieg erhebliche Verluste an Menschenleben und in der ohnehin schwachen Infrastruktur erlitten hatte. Sie konnten mithilfe ihrer jeweiligen Partner ein schnelles Wirtschaftswachstum erreichen, das sich auf den größten Teil der Menschen unmittelbar positiv auswirkte. Die soziale Mobilität war hoch, die Kinder von analphabetischen Bauern hatten jetzt die Chance auf ein Hochschulstudium. Die Versorgung mit den Grundbedürfnissen und der Zugang zu Bildung und Sozialleistungen wirkten sich positiv auf den Lebensstandard und auf die Lebenserwartung der Bevölkerung aus – mit Konsequenzen für Albaniens, in Europa einmalige demografische Struktur. Sie erreichte jährliche Bevölkerungsraten mit einem Wachstum zwischen 2 und 3 Prozent und einen signifikanten Männerüberschuss an der Gesamtbevölkerung. Die Säuglingssterblichkeit war hoch, sank aber von 11 auf 3 Prozent der Lebendgeburten.15 Albanien hatte die jüngste Bevölkerung Europas, aber keine Strategie dafür, sie nach der Schule mit angemessenen Arbeitsplätzen zu versorgen. Das trug entscheidend dazu bei, dass die Loyalität besonders der jüngeren Albaner dementsprechend brüchig wurde, als das Land in der isolationistischen Phase in eine wirtschaftliche Stagnation und schließlich Rezession geriet und Versorgungsprobleme das tägliche Leben bestimmten und als der relativ freie Zugang zu westlichem Fernsehen den Menschen den Entwicklungsabstand ihres Landes zum Ausland täglich vor Augen führte. Zur Legitimationsbildung gehörte zugleich der Rückgriff auf den albanischen Nationalismus. In Wissenschaft, Pädagogik und Propaganda wurden 3 000 Jahre albanischer Geschichte auf den Nenner gebracht: „Das albanische Volk hat

15 Michael Schmidt-Neke/Örjan Sjöberg, Bevölkerungsstruktur. In: Grothusen (Hg.), Süd­ ost­europa-Handbuch, Band VII, S. 473

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sich seinen Weg durch die Geschichte mit dem Schwert in der Hand gebahnt“, wie ein bei unzähligen Anlässen wiederholtes Diktum Hodschas lautete. Nach Hodscha waren die Albaner trotz ihrer Siedlungskontinuität auf dem Westbalkan immer der Gefahr ausgesetzt, von ihren Feinden ethnisch vernichtet zu werden; sie hätten sich aber als historisch überlegen erwiesen und einen 3 000-jährigen erfolgreichen Überlebenskampf geführt, indem sie trotz regionaler und religiöser Differenzen das Konzept der „Einheit der Nation“ umgesetzt haben. In diesem Kampf gab es vier Höhepunkte: die eigenständige illyrische Kultur, der Kampf Skanderbegs gegen die Türken, die „nationale Wiedergeburt“ des 19. Jahrhunderts und den Partisanenkrieg, der nahtlos in den sozialistischen Aufbau übergegangen sei. Das von der Nationalbewegung entwickelte Geschichtsbild wurde also fortgeschrieben, was bereits König Zogu versucht hatte, und historisch-materialistisch neu gedeutet. Die letzte Konsequenz zog Ramiz Alia in seiner Gedenkrede für Enver Hodscha, als dieser ihn als den „größten Mann, den die albanische Erde bis heute hervorgebracht hat“, bezeichnete – ihn also über den Nationalhelden Skanderbeg stellte. Hodscha führte die PPSH spätestens seit 1943 bis zu seinem Tod 1985 und hatte eine Machtposition innerhalb seines Landes, die nur von wenigen kommunistischen Parteiführern anderswo erreicht wurde. Dabei war seine Stellung nicht immer unangefochten. 1944 bis 1948 deutete alles auf seinen Sturz durch die projugoslawische Fraktion um Koçi Xoxe hin. 1956 hatte der XX. Parteitag der KPdSU auch Auswirkungen in die PPSH hinein; eine Kreisparteikonferenz in Tirana forderte 1956 auch für Albanien Konsequenzen: die Verbreitung der sowjetischen Parteitagsdokumente, die Rehabilitierung der verschiedenen Säuberungsopfer, eine Annäherung an Jugoslawien und ein Ende des Hodscha-Kults. Erst das persönliche Eingreifen Hodschas und die Denunziation der Kritiker als Agenten Jugoslawiens brachte die Konferenz auf die Linie des ZK. Seit Anfang der 1970er-Jahre bis zu seinem Tod wurde seine Position permanent durch seinen schlechten Gesundheitszustand beeinträchtigt. Er litt an Diabetes und einer dadurch hervorgerufenen Herzschwäche, die ihn immer wieder zwang, sich für längere Zeit von den Geschäften zurückzuziehen. Das wurde der Öffentlichkeit jedoch nicht mitgeteilt, obwohl er 1976 nur Anfang und Schluss seines Parteitagsberichtes persönlich verlesen konnte; der größte Teil wurde den Delegierten vom Band vorgespielt. Spätestens seit dem Sommer 1982 war Hodscha offenbar nicht mehr in der Lage, die Geschäfte zu führen. Zu diesem Zeitpunkt war aber die Nachfolgefrage bereits (durch die Beseitigung der Gruppe um Shehu) in seinem Sinne zugunsten Alias geregelt. Hodscha hatte die Richtlinienkompetenz auch für die Geschichtsschreibung: Seit er den mittelalbanischen Bauernaufstand unter Haxhi Qamili von 1914 zur patriotischen und sozialrevolutionären Bewegung erklärt hatte,16 16 Enver Hoxha, Disa pikëpamje mbi Kryengritjen e Fshatarësisë së Shqipërisë së Mes­ me (1914–1915), të udhëhequr nga Haxhi Qamili. In: Vepra, Band 23, Tirana 1977, S. 128–175.

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konnte kein Historiker ihn mehr als proosmanisch-islamische Revolte darstellen, die der ersten Unabhängigkeit einen entscheidenden Schlag versetzt hatte. Es wurde üblich, nahezu jedem wissenschaftlichen Werk ein Hodscha-Zitat als Leitmotiv voranzustellen. Der Hodscha-Kult schlug sich optisch in den allgegenwärtigen Spruchbändern und Plakaten mit Zitaten oder Hochrufen auf ihn nieder, in Parolen, die mit hellen Steinen auf Berghängen meilenweit sichtbar waren (wie der das zentralistische Unitet-Konzept verkörpernde Slogan: Volk – Partei – Enver), in den Feiern und Arbeitsappellen zu seinem Geburtstag, in Bildbänden zu jedem runden Geburtstag, in Pseudofolkloristik, in zahllosen, vielfach prämierten Gemälden und Skulpturen sowie im Vorschul- und Schulunterricht. Dabei wurde anderswo erprobte Propaganda-Optik übernommen: Hodscha ließ sich oft mit einer Schirmmütze, dem Attribut des Proletariers und Lenins, abbilden. In Stalins Tradition hatte er sich mit dem öffentlichen Schwur, an dessen Weg festzuhalten, gestellt – so wie es Stalin nach Lenins Tod getan hatte. Die festen Bestandteile des Stalin-Kults kopierte auch Hodscha: das Bild des einsamen, in später Nacht noch erleuchteten Arbeitszimmers und das Prestige des persönlich allem Kult und allen Privilegien abgeneigten sparsamen Landesvaters. Der Kult um Hodscha verstieg sich allerdings niemals zu den bizarren Ausmaßen der Huldigungen an Mao, Ceauşescu oder Kim Il Sung; sein persönliches Charisma war so hoch, dass die Trauerbekundungen der Bevölkerung bei seiner Beisetzung durchaus echt erschienen. In der seinem Tode folgenden Phase diente er seinen Erben als Legitimationsstifter; bis zum X. Parteitag 1991, über dem noch ein Porträt Hodschas prangte, wurde bei keiner Gelegenheit versäumt, auf ihn Bezug zu nehmen. Die Errichtung von drei überlebensgroßen Statuen in Tirana, Korça und Gjirokastra sowie der Bau des hochmodernen und teuren Enver-Hodscha-Nationalmuseums, der sogenannten Pyramide, dessen geplanter Abriss vor wenigen Jahren heiß debattiert wurde,17 symbolisierten die Kontinuität. Der Denkmalssturz am 20. Februar 1991 wurde folgerichtig Sinnbild des Umbruchs, der mit der Umbestattung Hodschas und anderer Parteiführer vom Heldenfriedhof in Tirana am 2./3. Mai 1992 vorerst endete. Sehr statisch wurde sein Erbe dabei vom „konservativen“ Lager um seine Witwe interpretiert, während der Flügel um Alia im Jahr 1989 zu einer Politik systemimmanenter Reformen überging. Obwohl dabei bis Ende 1990 sämtliche Essentials von Hodschas Politik geopfert worden sind, wurde dies immer noch als Kontinuität zu Hodschas dynamischer Politik interpretiert; in diesem Sinne hatte Alia in seinem 1988 erschienenen Buch „Unser Enver“18 das Bild eines beständig um Verbesserungen und Reformen, um Überzeugung und Ausgleich bemühten Staatsmannes gezeichnet. 17 Vgl. Ardian Klosi/Artan Lame (Hg.), Piramida e Tiranës. E hijshme, e braktisur, e rrezi­ kuar, Tirana 2011. 18 Ramiz Alia, Enveri ynë, Tirana 1988.

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Soziale Dynamik Die Revolution von 1944 hatte erstmals in der albanischen Geschichte einen Wechsel der sozialen Eliten erbracht. Die bisher tonangebenden Klassen und Schichten (besonders die Großgrundbesitzer, die Großhändler, die an der beginnenden Industrialisierung beteiligten Albaner sowie die höheren Beamten und Offiziere) verloren mit der politischen auch die ökonomische Macht. Der Neuaufbau, der sich zwischen 1944 und 1978 maßgeblich auf Transferleistungen der jeweiligen Partner stützte, zielte auf den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, die Entwicklung des Landes von einem fast rein agrarischen zu einem industriellen Land und den Aufbau eines Bildungs- und Gesundheitswesens für die Schichten, die bisher nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang dazu hatten. Zwischen 1945 und 1989 (dem Jahr des letzten Zensus unter dem PPSH-Regime) verdreifachte sich Albaniens Bevölkerung beinahe von 1,1 auf 3,2 Millionen Einwohner; Albanien war vom dünnst zum dichtest besiedelten Staat des Balkans geworden (1945: 39, 1989: 110,7 Einwohner/km2). Dabei spielen Immigration und Emigration keine Rolle, da Auswanderung grundsätzlich verboten war und albanische Flüchtlinge aus Jugoslawien häufig unter Spionageverdacht gerieten und zurückgeschickt wurden. Entscheidend war vielmehr, dass durch die bessere Versorgung und Gesundheitsfürsorge die Säuglings- und Kindersterblichkeit erheblich zurückging und die Menschen älter wurden. Die Lebenserwartung stieg zwischen 1950 und 1989 von 51,6 auf 70,7 Jahre.19 Allerdings war die Säuglingssterblichkeit 1990 mit 28,3 Todesfällen auf 1 000 Lebendgeburten für ein europäisches Land noch immer extrem hoch. Bis in die 1990er-Jahre war Albanien das einzige europäische Land mit einem signifikanten Männerüberschuss (1990: 51,4 Prozent) und zugleich das mit der jüngsten Bevölkerung (1990 stellten die 0- bis14-Jährigen 32,6 Prozent, die 15- bis 59-Jährigen 57,8 Prozent, die ab 60-Jährigen 9,6 Prozent). Infolge der Industrialisierung wuchs der Anteil der städtischen Bevölkerung, trotz einer restriktiven Genehmigungspraxis für Umzüge vom Dorf in die Stadt, von 21,3 Prozent (1945) auf 35,5 Prozent (1989), wobei allerdings auch kleinste Siedlungen mit Industrie- und Dienstleistungseinrichtungen als Städte deklariert werden konnten. 26 der 67 als Städte im Jahr 1989 gezählten Siedlungen hatten weniger als 5 000 Einwohner. Der Staat betrieb eine pronatalistische Politik mit materiellen Anreizen; Abtreibungen waren bei medizinischer Indikation legal, fanden aber regelmäßig illegal statt.20 Frauen wurden in die Erwerbstätigkeit integriert. Allein zwischen 1960 und 1990 stieg ihr Anteil an allen Erwerbstätigen von 35,9 Prozent auf 45,1 Prozent.

19 Arjan Gjonça, Communism, Health and Lifestyle. The Paradox of Mortality Transition in Albania, 1950–1990, London 2001, S. 62. 20 Schmidt-Neke/Sjöberg, Bevölkerungsstruktur, S. 464–490.

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Nicht nur in Frauendomänen wie dem Lehramt (43,4 Prozent), sondern selbst im Ingenieurstudium betrug 1985 der Anteil weiblicher Absolventen 20,8 Prozent.21 Die Kehrseite war, dass die Frauen zusätzlich zu ihrer Berufstätigkeit auch weiterhin den weitaus größten Teil der Haushaltsarbeit und der Kindererziehung zu leisten hatten – trotz aller Propaganda für eine auf Partnerschaft und Gleichberechtigung basierenden Ehe. 1950 kamen nur 1,1 Ärzte auf 10 000 Einwohner, 1990 waren es dagegen 17,1.22 Auch das Gesundheitswesen litt an den Auswirkungen der Isolations­ politik; nötige Medikamente und Technologie konnten nicht eingeführt werden, auch keine Ersatzteile für Geräte aus RGW- oder chinesischer Produktion. Ebenso expandierte das Bildungswesen. Der Analphabetismus, von dem bei Kriegsende 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung betroffen waren, konnte durch ein Kurssystem für Erwachsene zumindest ansatzweise beseitigt werden. 1945 wurden 2 336 Kinder in 33 Kindergärten betreut; 1990/91 waren es 130 000 in 3 926 Kindergärten. In der allgemeinbildenden Achtjahresschule (bis 1960 Siebenjahresschule) lernten 1945 8 259 Kinder in 20 Einrichtungen mit 2 221 Lehrern; 1990 waren es 557 000 Schüler in 1 726 Schulen mit 28 798 Lehrern. An den allgemeinbildenden Mittelschulen, die aus den Gymnasien hervorgegangen waren, gab es 1945 nur 1 152 Schüler in fünf Schulen mit 60 Lehrern; 1990 lernten dort 68 000 Schüler in 47 Schulen mit 2 318 Pädagogen.23 Erst 1957 wurde die Staatsuniversität Tirana gegründet, die bis zum Ende des Kommunismus die einzige Volluniversität blieb; daneben gab es Lehrerbildungseinrichtungen und Fachhochschulen. Die Zahl der Studierenden stieg von 53 (1945, alle im Ausland) auf 27 359 (1990), die der Hochschullehrer von 13 (1950) auf 1 806.24

Opposition In der Gründungsphase des Systems mussten sich die PKSH und die Partisanenbewegung gegen konservative Konkurrenten durchsetzen, die vor einer taktischen Kollaboration mit den deutschen Besatzern nicht zurückschreckten, sich damit aber auch bei den Westalliierten diskreditierten. Es dauerte weit in die 1950er-Jahre hinein, bis der Machtanspruch der Regierung in Tirana auch in den letzten Winkeln des nördlichen Berglandes durchgesetzt war, wo sich der Bruch mit traditionellen, gewohnheitsrechtlich bestimmten Lebensweisen nur gewaltsam durchsetzen ließ.

21 Gjonça, Communism, S. 29 f. 22 Ebd., S. 31. 23 Zuzana Finger, Schulsystem. In: Grothusen (Hg.), Südosteuropa-Handbuch, Band VII, S. 539–545. 24 Hans-Joachim Hoppe, Hochschulen und Wissenschaft. In: Grothusen (Hg.), Südost­ europa-Handbuch, Band VII, S. 559.

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Zahlreiche führende Kollaborateure konnten ins westliche Ausland fliehen, wo sie sich politisch reorganisierten. Diese Organisationen schwächten sich durch Spaltungen und litten an Überalterung. Eine nennenswerte Wirkung im Heimatland konnten sie nicht entfalten. Die USA und Großbritannien versuchten, das kommunistische Regime durch eingeschleuste Emigranten zu destabilisieren; dies endete im Fiasko, weil die albanischen Behörden frühzeitig durch die Doppelagentengruppe um Harold „Kim“ Philby gewarnt wurden.25 Man hatte ein Problem, wenn man der Demokratischen Front nicht beitreten durfte, was für die „Überreste der gestürzten Ausbeuterklassen“ galt; noch in den späten 1950er-Jahren war rund ein Drittel der Erwachsenen von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Der Druck des staatlichen Repressionsapparates verhinderte das Entstehen einer lose organisierten Opposition. Diejenigen, die sich der Logik von der Einheit des Volkes nicht unterwarfen oder die auch nur verdächtigt wurden, sich ihr zu entziehen, wurden Opfer der schwärzesten Seite des PPSH-Systems, des „Klassenkampfes“ (lufta e klasave). In der innerleninistischen Debatte, wie lange der Klassenkampf nach der sozialistischen Revolution noch andauert, bezog Albanien – wie immer – einen extremen Standpunkt: Während die sowjet-leninistische Theorie ihn mit der Errichtung des Sozialismus nach Beendigung einer Übergangsperiode für abgeschlossen hielt, proklamierte Hodscha spätestens nach dem Bruch mit der UdSSR das unvermeidbare Fortdauern des Klassenkampfes im Sozialismus. Er höre erst mit dem Ende aller Klassen und des Staates an sich, also mit dem Übergang zum Kommunismus, auf. Auch wenn die Ausbeuterklassen beseitigt seien, würden die ehemaligen Mitglieder der herrschenden Klassen danach trachten, ihre Macht zurückzugewinnen. Sie führten ihren Kampf in erster Linie mit ideologischen Mitteln; daneben träten „neue bürgerliche, degenerierte revisionistische und parteifeindliche Elemente“26 auf. Gleichfalls müsse der Klassenkampf gegen die ideologische Offensive von außen entwickelt werden, sodass er eine innere und eine äußere Stoßrichtung habe. Somit richtete sich der Klassenkampf gegen den Belagerungsring, den die imperialistischen und revisionistischen Mächte, der äußere Feind, gemeinsam mit dem inneren Feind um das werktätige albanische Volk, das um Unabhängigkeit und Sozialismus kämpfte, gelegt hätten. Die Frontlinie verlaufe dabei aber nicht einfach zwischen dem „popull“ unter Führung seiner Partei und den Volksfeinden außerhalb dieser, sondern der Klassenkampf müsse sich nach dem Vorbild der stalinistischen Säuberungen in der KPdSU innerhalb der Partei selbst entfalten. 25 Vgl. Nicholas Bethell, The Great Betrayal. The untold story of Kim Philby’s biggest coup, London 1984. 26 Vgl. die Definitionen zum Klassenkampf (lufta e klasave) in: Akademia e Shkencave e Shqipërisë (Hg.): Fjalor Enciklopedik Shqiptar, Tirana 1985, S. 636 f.; und Shkolla e Partisë „V. I. Lenin“ (Hg.): Fjalor i filozofisë, Tirana 1982, S. 270 f.

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Daher ist die Geschichte der PPSH bis mindestens 1982 eine Geschichte ständiger Säuberungen innerhalb der Führung, mit Auswirkungen auf den Funktionärskörper und wohl auch auf die Basis, gewesen. Hier spielte ideologischer Dissens nur zum Teil eine Rolle, obwohl immer mit ideologischen Brandmarkungen (Trotzkismus, Nationalismus, Opportunismus, Titoismus, Revisionismus) gearbeitet wurde. In jedem Fall wurden Verschwörungen in direkter Zusammenarbeit mit äußeren Feinden (Emigranten, Westmächte, Jugoslawien, UdSSR) zum Sturz der „Volksmacht“ konstruiert. Die PPSH kultivierte also Praktiken, die alle übrigen osteuropäischen kommunistischen Parteien seit den 1950er-Jahren aufgegeben hatten, bis zur Perfektion. Besonders die Auswirkungen des XX. Parteitags der KPdSU führten zu harten Auseinandersetzungen. Auf einer Bezirksparteikonferenz in Tirana (14. bis 16. April 1956) geriet der zunächst nicht anwesende Hodscha erheblich unter Druck, weil viele Delegierte auch für ihr Land eine Entstalinisierung, eine Rehabilitierung der Säuberungsopfer und eine Normalisierung der Beziehungen zu Jugoslawien forderten. Hodscha hatte sich jedoch der Unterstützung der sowjetischen Führung versichert und konnte seine Position sichern.27 Der Schlusspunkt wurde mit dem (wohl erzwungenen) Selbstmord des seit 1954 amtierenden Ministerpräsidenten Mehmet Shehu im Dezember 1981 gesetzt, der nach einem dürren Nachruf nach fast einjährigem Schweigen von Hodscha als „Polyagent“ der USA, Großbritanniens, Jugoslawiens und der ­UdSSR denunziert wurde.28 Dieses bis heute mysteriöse Ereignis ist am ehesten mit dem Flugzeugabsturz des chinesischen Spitzenpolitikers Lin Biao 1971 nach einem angeblichen Putschversuch zu vergleichen. Der Hintergrund dieser und aller anderen Säuberungen lag jedoch in den Machtstrukturen, in den Kämpfen rivalisierender Fraktionen um Einfluss bzw. um die Option auf Hodschas Nachfolge oder in Hodschas Bemühen, keine von ihm unabhängigen Machtzentren entstehen zu lassen, die für seine eigene Position bedrohlich werden könnten. Die Liquidierung seines letzten einflussreichen Weggefährten aus dem Krieg markierte auch gleichzeitig das eigentliche Ende der Ära Hodscha; als von ihm auserkorener Nachfolger blieb nur noch Ramiz Alia übrig. Zwar besannen sich die PPSH-Theoretiker, in vorderster Linie Hodschas Frau Nexhmije, auf die Unterscheidung zwischen antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen (mit letzteren waren solche innerhalb des „popull“ gemeint), doch – so ihre Argumentation – trügen auch diese die ständige Gefahr in sich, zu antagonistischen Konflikten zu werden. Der Staat, seine Organe und Gesetze wurden in der Verfassung von 1976 als Waffen des Klassenkampfes definiert. Die Situation der Belagerung schloss dabei jeden Gedanken

27 Ana Lalaj, Pranvera e rrejshme e ’56-s. Vështrim studimor për Konferencën e Tiranës dhe dokumente për protagonistët e saj, Tirana 2015. 28 Enver Hoxha, Die Titoisten, Tirana 1983, S. 665–707.

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an ein Nachlassen der Unterdrückungsfunktion des Staates aus. Erst in der Ära Alia wurde den nichtantagonistischen Widersprüchen mehr Aufmerksamkeit gewidmet, die anders als durch bloße Repression zu behandeln waren. Die Repression ging in erster Linie vom Innenministerium aus, das mehrere bewaffnete Organe kontrollierte: die Volkspolizei, die Grenztruppen, die Verfolgungstruppen zur Zerschlagung bewaffneter Einheiten und Spionagegruppen sowie vor allem die Staatssicherheit (Sigurimi i Shtetit), die der stellvertretende Innenminister leitete.29 Sie wurde also nicht, wie z. B. in der DDR, als eigene Behörde parallel zum Innenministerium organisiert. Es ist dabei kein Zufall, dass alle fünf Innenminister der Ära 1946 bis 198230 irgendwann in Säuberungswellen untergegangen sind, die nur der wenige Wochen amtierende Nesti Kerenxhi überlebte. Die Parallele zum Schicksal der Leiter des NKWD zur Zeit Stalins ist offenkundig. Der Sigurimi war aus dem Informationsdienst der Partisanenarmee sowie der Volksverteidigungsdivision (DMP) hervorgegangen, die nach Kriegsende gegen den antikommunistischen bewaffneten Widerstand vorging. Jugoslawische und sowjetische Experten waren am Aufbau und an der Ausbildung maßgeblich beteiligt. Er war an die Parteiführung eng angebunden, aber auch Objekt ständiger Rivalitäten. Einerseits war der ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen zuständig, andererseits hatte Nexhmije Hodscha nach 1970 ihren nachhaltigen Einfluss auf dieses Organ durchgesetzt. Neben bewaffneten Abteilungen einschließlich Anti-Riot-Einheiten hatte der Sigurimi, wie jeder nach innen wirkende Geheimdienst mit Polizeifunktion, ein flächendeckendes Netz hauptamtlicher ziviler Mitarbeiter, die ihrerseits weite Teile der Bevölkerung zu gelegentlichen oder regelmäßigen Informantentätigkeiten anwarben oder erpressten. Bis 1990 hatten die Behörden die Möglichkeit, ohne Gerichtsbeschluss (der keine Garantie für Grundrechtsschutz gewesen wäre) Personen, die „eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung darstellen“ sowie die Angehörigen von Republikflüchtigen innerhalb des Landes, zu verbannen, das heißt, ihnen das Betreten ihres bisherigen Wohnorts zu verbieten oder sie zu internieren, was bedeutete, sie in besonders armselige, in jeder Beziehung unterversorgte Dörfer einzuweisen, die sie nicht mehr verlassen durften und wo selbst Medikamentenzuteilung oder Schulbesuch von der Willkür der örtlichen Beamten abhängig war. Dazu kamen die Arbeitslager (die berüchtigtsten in Spaç und Burrel), in denen die Häftlinge oft unmenschliche Bedingungen erdulden und Schwerst­ arbeit in Bergwerken leisten mussten.

29 Kastriot Dervishi, Sigurimi i Shtetit 1944–1991. Historia e policisë politike të regjimit komunist, Band 1, Tirana 2012; zum Selbstverständnis vgl. Michael Schmidt-Neke, In the People’s Service: Self-image of a communist secret police. In: James Pettifer (Hg.), Alba­ nia and the Balkans. Essays in Honour of Sir Reginald Hibbert, o. O. 2013, S. 119–143. 30 Vgl. Hilë Lushaku, Ministrat e Brendshëm 1912–2007, 2 Bände, Tirana 2009.

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Es gelang dem Sigurimi, die Bevölkerung permanent einzuschüchtern und gleichzeitig den größten Teil der Menschen in sein Netz einzubeziehen. Eine der am häufigsten zu lesenden Parolen rief die Albaner zu „Arbeit, Bereitschaft, Wachsamkeit“ auf; letztere meinte die ständige individuelle und kollektive Abwehrhaltung gegenüber jedem Anzeichen von Dissens. Gleichzeitig wurde ein Kult des Sigurimi getrieben. Hodscha bezeichnete ihn als „scharfe und geliebte Waffe unserer Partei“, und zum 30. Gründungstag wurde eine aufwendige Festschrift,31 später eine ganze Buchreihe über besonders erfolgreiche Helden des Geheimdienstes veröffentlicht. Und auch in Albanien gab es mit Dinamo Tirana einen Fußballclub des Innenministeriums. Nach Shehus Sturz griff Hodscha das Innenministerium und den Sigurimi scharf an, doch beschnitt er den Geheimdienst nicht in seiner Machtfülle. Erst 1989 wurde sein Machtmissbrauch in dem Roman „Die Messer“ (Thikat) von Neshat Tozaj, einem Offizier des Innenministeriums, angeprangert. Die abstoßendste Seite der politischen Verfolgung war, dass sie immer die Angehörigen des Opfers mit betraf. Das ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal Albaniens, aber die Rigorosität der Praxis sucht ihresgleichen. Grund dafür ist, dass die albanische Gesellschaft bis heute sehr viel stärker durch die Strukturen der Familie als durch die des Staates geprägt ist. Besonders im nord­ albanischen Bergland setzten die verschiedenen Regime von den Osmanen bis zu den Besetzungsmächten ihre staatliche Hoheit allenfalls formal durch. Die verschiedenen Varianten eines mündlich tradierten Gewohnheitsrechtes kollidierten mit staatlichem Recht. Im Rahmen dieses Gewohnheitsrechtes galt die Loyalität des Einzelnen in erster Linie seinen Familienangehörigen, wobei unter Familie nicht die Zwei-Generationen-Kernfamilie, sondern die patriarchalisch verfasste Großfamilie und deren, über die väterliche Seite, Verwandte verstanden werden. Eine solche Kollision oder auch nur Koexistenz war für die Kommunisten natürlich nicht akzeptabel. Es hatte nach 1944 (anders als bei der Staatsgründung 1912) erstmals einen Wechsel der sozialen Elite gegeben: Die alten Feudal- und Stammesführersippen und -familien hatten ihre Macht verloren; die neue Elite bestand aus den Führern der Partei und der Partisanenbewegung, in erster Linie Intellektuellen, aber auch Leuten, die aus der Bauernschaft oder der rudimentären Arbeiterklasse stammten. Die Ausschaltung der Religions­ gemeinschaften bedeutete, dass keine geschützten Rückzugsräume jenseits der Familie zur Verfügung standen, in denen sich Dissens hätte sammeln können. Aber auch die Familie war nicht wirklich sicher, da nie auszuschließen war, dass ein Verwandter freiwillige oder unfreiwillige Zuträgerdienste für den Sigurimi leistete.

31 Për popullin, me popullin 1943–1973, Tirana 1973.

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Fazit Im Ergebnis präsentiert sich der albanische Staatssozialismus als charismatische Entwicklungsdiktatur, die sich am stalinistischen Modell orientierte. Sie verband ein alle Lebensbereiche erfassendes Social Engineering mit dem Ziel des Neuen Menschen mit der Übernahme der familiaristischen Strukturen, die die albanische Gesellschaft bis heute bestimmen, und sicherte sich selbst mit einer rücksichtslosen und generationenübergreifenden Unterdrückung gegen jede Form von Dissens ab. Es gelang ihr bis in die 1970er-Jahre, mit einem hohen Maß an sozialer Dynamik Loyalität herzustellen. Sie stand in der Kontinui­ tät des verspäteten albanischen Nationalismus und versuchte ihren politischen Handlungsspielraum durch einen häufigen Wechsel des Partners bis hin zum Isolationismus zu sichern, was zur Stagnation und Rezession der Wirtschaft mit einschneidenden Folgen für den Lebensstandard führte. Ihr ökonomisches Scheitern und der Zusammenbruch der osteuropäischen Staatssozialismen entzogen ihr die Existenzgrundlage.

IX. Jugoslawien

Jugoslawien 1970–1989: „Pfadbesonderheiten“ und allgemeine Krise des Sozialismus Wolfgang Höpken Die zäsursetzenden Ereignisse und konjunkturellen Wellen der Systemgeschichte Jugoslawiens sind andere gewesen als jene der übrigen sozialistischen Staaten. 1948 – das Jahr des Tito-Stalin-Konfliktes – war hier ungleich bedeutsamer als das Jahr 1956 mit seinen blockpolitischen Auswirkungen des 20. Parteitags der KPdSU und des Ungarn-Aufstands. Auch 1968 als Jahr des weit über die Tschechoslowakei hinauswirkenden Prager Frühlings hatte für Jugoslawien ein geringeres Gewicht als das Jahr 1971, als der heute sogenannte Kroatische Frühling das Land ein erstes Mal an den Rand des staatlichen Auseinanderdriftens zu führen schien. Schließlich war in Jugoslawien auch nicht so sehr das Annus mirabilis 1989 ein Schlüsseljahr, welches wie im übrigen Europa eine zeithistorische Epoche beendete, sondern das Annus horribilis 1991, mit dem hier der „Kalte Krieg“ von einem „heißen Krieg“ abgelöst wurde. Auch die im Zentrum dieses Bandes stehenden 1970er-/80er-Jahre fügen sich im jugoslawischen Fall nur sehr bedingt ein in die Chronistik der übrigen osteuropäischen Länder. Jugoslawien teilt mit diesen zwar manche der Krisen und Entwicklungsdilemmata, die der ganze Ostblock in diesen zwei Jahrzehnten durchlebte. Im Ganzen aber folgte die Entwicklungsgeschichte Jugoslawiens anderen Bahnen und sie war auch von sehr eigenen Krisenphänomenen bestimmt. Schon die 1970er-Jahre lassen sich zwar einerseits auch für Jugoslawien als jene „crisis of socialist modernity“ lesen, als welche Calic, Neutatz und Obertreis sie in einem sowjetisch-jugoslawischen Vergleich als gemeinsames Signum der Dekade ausgemacht haben.1 Der nähere Blick aber offenbart auch für diese Zeit eine in vielem eigene Kolorierung der jugoslawischen Entwicklung. War dieses Jahrzehnt im sowjetisch dominierten Osteuropa, mit der Ausnahme Polens, eher eine Dekade der Lethargie, ja der Ereignislosigkeit und des konzeptionsarmen Verwaltens eines an Auszehrung leidenden Systems, so waren die

1

Marie-Janine Calic/Dietmar Neutatz/Julia Obertreis, The Crisis of Socialist Modernity – The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s. Introduction. In: dies. (Hg.), The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s, Göttingen 2011, S. 7–27.

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jugoslawischen 1970er-Jahre von einer ungleich größeren ereignisgeschichtlichen Dynamik geprägt. Es war hier ein Jahrzehnt, das eingerahmt wurde von zwei großen, den Staat bereits damals in seinem Bestand gefährdenden Erschütterungen – jenem bereits genannten „Kroatischen Frühling“ des Jahres 1971, in dem Tito unverhohlen mit dem Einsatz der Armee drohte, sowie jener des Jahres 1981, als die nur ein knappes Jahr nach Titos Tod unter den Albanern des Kosovo ausbrechenden Unruhen diesmal tatsächlich nur durch den Einsatz des Militärs beendet, wenn auch nicht befriedet werden konnten. Die „langen 1970er-Jahre“ produzierten damit zugleich zwei jener nationalitätenpolitischen Konfliktfelder, auf denen sich in den 1990er-Jahren das Schicksal von System und Staat mitentscheiden sollte. Die 1970er-Jahre waren, auch hier wiederum im Gegensatz zu fast allen anderen osteuropäischen Ländern mit ihrer weitgehenden Elitenstabilität, in Jugoslawien zudem eine Zeit tiefgreifender Einschnitte in die Führungsgarnitur von Partei und Staat, ja ihrer geradezu fundamentalen Erneuerung. Es war eine Dekade der „Säuberungen“, wie sie das Land seit dem Bruch mit Stalin nicht mehr erlebt hatte, mit denen eine junge und oftmals eher liberale Parteielite, die seit Mitte der 1960er-Jahre die alte Partisanengeneration abzulösen begonnen hatte, abgesetzt und durch eine neue, häufig konservative Führungsgarnitur abgelöst wurde. Schon die kroatischen Ereignisse leiteten, worauf zurückzukommen sein wird, 1971/72 ein umfassendes personelles Revirement in Staat, Partei und Gesellschaft ein. Ihr folgte nur ein Jahr später eine weniger zahlreiche, strukturell aber ähnlich gravierende Erneuerung der Parteiführungen in Serbien und Slowenien, diesmal unter dem Vorwurf des „Liberalismus“. 1974 sollte sich Ähnliches in der mazedonischen Parteiführung wiederholen, und auch die anderen Republiken und Provinzen blieben von den Ausläufern dieser erzwungenen Rochaden nicht verschont. Auch diese personellen Veränderungen sollten Konsequenzen zeitigen, die bis in die Zeit des System- und Staatszerfalls der 1990er-Jahre nachwirkten, brachten sie doch eine politische Führung an die Macht, der es an Innovationsfähigkeit fehlte, um die sich in den 1980er-Jahren auftürmenden Krisen zu bewältigen. Schließlich, und auch hierin liegt wiederum ein gravierender Unterschied zur Entwicklung der anderen osteuropäischen Länder, waren die 1970er-Jahre in Jugoslawien eine Epoche eines institutionellen Umbruchs von Staat und System, mit dem nicht nur die Beziehungen zwischen Bund und Republiken neu geordnet, sondern auch die politischen Instanzen sowie Wirtschaft und Arbeitswelt tiefgreifend umgestaltet wurden. Waren die 1970er-Jahre im übrigen Osteuropa durchweg Jahre der Ideologiearmut und der institutionellen Einfallslosigkeit, ja der Angst, selbst im Rahmen des Sozialismus nach Neuerungen zu suchen, so war dieses Jahrzehnt in Jugoslawien von einer geradezu überbordenden, freilich nicht unbedingt auch effizienzsteigernden Experimentierwut geprägt. Sie fügt sich ein in eine vier Jahrzehnte währende Geschichte immer wiederkehrender institutioneller Veränderungen, die, wie es der slowenische Historiker Zdenko Čepič rückblickend bilanziert hat, die beinahe ständigen Reformen gleichsam

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zum Signum des jugoslawischen Sozialismus haben werden lassen.2 Die Reform des Föderalismus gestaltete in den 1970er-Jahren die Beziehungen zwischen Bund und Teilrepubliken bis an die Grenze zur konföderalen Ordnung zugunsten der Republiken um. Mit der Neuordnung der gesellschaftlichen und betrieblichen Selbstverwaltung ließ man sich, wie schon 1950 nach dem Bruch mit Stalin, auch 20 Jahre später noch einmal auf das Experiment einer Systeminnovation ein, welche auch unter den Bedingungen monopolistischer Parteiherrschaft den Anspruch auf einen partizipationsintensiven Sozialismus verwirklichen sollte. In Gestalt des ideologischen Konstruktes eines „sozialistischen Selbstverwaltungspluralismus“ schuf sich diese Reform einen theoretischen Überbau, der nicht weniger als eine Modernisierung marxistischer Theoriebildung für sich beanspruchte.3 Anders als in der UdSSR, der DDR oder der ČSSR mit ihrer zum rhetorischen Ritual verknöcherten Ideologie waren diese Jahre in Jugoslawien so zugleich auch eine Zeit exzessiver Re-Ideologisierung. Wie auf dem Felde der Nationalitätenpolitik und der personellen Erneuerungen sollten dabei allerdings auch diese Veränderungen der 1970er-Jahre ganz wesentlich zu jener Systemkrise beitragen, an welcher Staat und Sozialismus an der Wende zu den 1990er-Jahren scheiterten. In den 1980er-Jahren, insbesondere in deren zweiter Hälfte, scheinen sich die Entwicklungslinien beider Regionen, Jugoslawiens wie des übrigen Osteuro­ pa, angenähert zu haben. In beiden Fällen arbeitete die Entwicklung jetzt mit zunehmender Beschleunigung dem Systemzusammenbruch zu. Ökonomische Krisen und der Legitimationsverlust der Kommunistischen Partei ließen in Jugoslawien wie in den anderen sozialistischen Ländern die Grenzen des Systems zunehmend offener zutage treten. Selbst in dieser Phase aber war der Entwicklungspfad Jugoslawiens in mancher Hinsicht ein eigener, sowohl was die zeitliche Dynamik dieser Systemkrise wie auch deren jeweiligen Krisenfelder angeht. Hinsichtlich der zeitlichen Dynamik stand der Kollaps von Staat und System in Jugoslawien am Ende eines spätestens mit dem Tod Titos 1980 einsetzenden, zunächst schleichenden, sich dann aber zunehmend beschleunigenden Desintegrationsprozesses; anders als in Osteuropa, wo – wiederum mit der Ausnahme Polens – die lange Zeit eher latenten Krisenphänomene erst mit den durch Gorbatschow geöffneten Opportunitätschancen einen dann allerdings eruptiven Zusammenbruch des Systems hervorbrachten. Auch die Krisenfelder, die zum Zerfall von Staat und System hinführten, wiesen in Jugoslawien eigene Facetten auf, wenn auch das Ensemble der Krisen in Jugoslawien in vielem jenem im übrigen Osteuropa glich. Die ökonomische Krise etwa teilte Jugoslawien mit allen anderen sozialistischen Staaten, und wie dort war es auch in Jugoslawien das Zusammenspiel systemimmanenter Strukturschwächen mit

2 3

Vgl. Zdenko Čepič, Bilo je nekoč v Jugoslaviji (1945–1991). In: ders. (Red.), Slovenija v Jugoslaviji, Ljubljana 2015, S. 23–55, hier 39. Vgl. die Schrift des damaligen „Chefideologen“ der Partei Edvard Kardelj, Pravci razvoja političkog sistema socijalističkog samoupravljanja, Beograd 1977.

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­konjunkturellen und weltwirtschaftlichen Einflüssen, was diese Krise auslöste. Auch die zunehmende Legitimationsschwäche der Kommunistischen Partei und der schleichende Geltungsverlust der sozialistischen Ideologie passen sich in die gesamt-osteuropäische Entwicklung ein. Jenseits solcher Gemeinsamkeiten aber fallen wiederum Unterschiede ins Auge. Schon die ökonomische Krise hatte in Jugoslawien ihre eigenen Ursachen. War sie in Osteuropa das Ergebnis der Funktionsdilemmata einer Zentralverwaltungswirtschaft, so war sie in Jugo­slawien nicht durch zentralistische Planwirtschaft, sondern im Gegenteil durch eine seit den 1970er-Jahren hochgradig atomisierte, zugleich jedoch bürokratisierte betriebliche Selbstverwaltung befördert worden, welche die ökonomische Effizienz in eklatanter Weise untergrub. Zudem, und auch dies ein Unterschied, sollte die mit den späten 1970er-Jahren einsetzende Wirtschaftskrise in Jugoslawien mit einer Urgewalt ausbrechen, die den jugoslawischen Fall allenfalls mit dem polnischen oder dem rumänischen vergleichbar macht, nicht jedoch mit der DDR, Ungarn, der ČSSR oder Bulgarien. Waren in den zuletzt genannten Ländern die Effizienzgrenzen der wirtschaftlichen Ordnung im Verlauf der 1980er-Jahre zwar ebenfalls zunehmend im Alltag spürbar geworden, ohne dass sie jedoch als Einbruch der gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfahren wurden, so wuchs sich die ökonomische Krise in Jugoslawien mit den frühen 1980er-Jahren zu einer Größenordnung aus, welche die soziale Ordnung erodierte. Hinzu kam im Falle Jugoslawien, und dies ist ein weiteres Krisenfeld, das die anderen sozialistischen Staaten in dieser Form nicht kannten, eine elementare Krise der politischen Institutionen. Auch in den anderen sozialistischen Staaten waren diese längst zum Herrschaftsinstrument der Partei verkommen, in ihren partizipativen Ansprüchen entkernt und vermochten daher kaum mehr Legitimität unter den Beherrschten zu produzieren. In Jugoslawien aber war es darüber hinaus ein eklatanter Mangel an basaler Funktionalität, welcher die politischen Institutionen prägte und lähmte. Vor allem auf der Ebene des Bundesstaates taten sich die politischen Institutionen, seien es jene des Staates oder die der Partei, in den 1980er-Jahren schwer, überhaupt noch effizient, zeitnah und kohärent zu agieren, wurden sie durch die Dynamik des radikalen Föderalismus doch zunehmend in ihrem Handeln paralysiert. Aber auch unterhalb der Bundesebene hatte das in den 1970er-Jahren ausgeweitete Selbstverwaltungssystem eine institutionelle Hypertrophie produziert, welche die funktionale Leistungsfähigkeit vieler politischer und gesellschaftlicher Instanzen im Alltag aushebelte. Schließlich, und dies ist sicherlich die auffälligste Krisenspezifik Jugoslawiens, war es hier, anders als in den übrigen sozialistischen Staaten, vor allem die nationale Frage, die alle anderen Destabilisierungsfaktoren überlagern und verstärken sollte. Auch in anderen sozialistischen Staaten, etwa in der Sowjetunion oder der Tschechoslowakei, spielten nationale Antagonismen eine Rolle im Zuge der Systemtransformation, allerdings führten sie hier – wohl mit Ausnahme der baltischen Republiken – nicht zum Systemende hin, sondern folgte diesem.

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Die Vielzahl an Fragestellungen, die sich hinter dieser hier nur anzudeutenden Verortung der jugoslawischen Entwicklung im Tableau der osteuropäischen Geschehnisse verbergen, ist im Folgenden nicht aufzufächern. Im Einklang mit dem Anliegen dieses Bandes sollen nur drei Aspekte dieser beiden letzten Jahrzehnte von sozialistischem System und jugoslawischem Staat in den Blick genommen werden: Praktiken und Wandel der Parteiherrschaft, die Chancen und Grenzen der Sozialintegration sowie, gleichsam als Vorschau auf die Überwindung des sozialistischen Systems, die Handlungsräume und Handlungsgrenzen der Zivilgesellschaft.

Parteiherrschaft: Vom „Liberalismus“ zum „Neo-Stalinismus“? Der Anspruch der jugoslawischen Kommunisten auf einen anderen und besseren Sozialismus, den man nach dem Bruch mit Stalin 1948 erhoben hatte, erstreckte sich auch auf die Herrschaftsansprüche und die Herrschaftspraktiken der Kommunistischen Partei. Grundsätzlich am monopolistischen Steuerungsund Kontrollanspruch festhaltend, reklamierte der Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) im Unterschied zu den anderen osteuropäischen Parteien auf der theoretischen Ebene gleichwohl einen Verzicht auf eine allumfassende „Durchherrschung“ der Gesellschaft, ja sogar den allmählichen Rückzug von einer operativen Machtausübung. Das auf dem VI. Parteitag des BdKJ 1952, auf dem Höhepunkt der ideologischen Auseinandersetzung mit Stalin, erhobene Postulat, dass mit dem Selbstverwaltungssozialismus langfristig nicht nur der Staat, sondern auch die Partei absterben würde, blieb allerdings unverbindliche Rhetorik. In der Praxis erfüllte sich von diesem Rückzug der Partei aus den Instanzen von Politik und Gesellschaft so gut wie nichts; Jugoslawien war nie auf dem Wege zu einer „parteilosen Demokratie“, wie es die Utopie versprach. Im Gegenteil: Nur zwei Jahre nach der vollmundigen Ankündigung des Parteitags demonstrierte das repressive Vorgehen gegen den vom ideologischen Hardliner zum Kritiker der Parteiherrschaft gewandelten Milovan Đilas die Grenzen der Reformbereitschaft, nachdem dieser dazu aufgerufen hatte, mit dem „Absterben“ der Herrschaftsrolle der Partei auch in der Praxis ernst zu machen.4 Parteiherrschaft war seither, je nach innenpolitischen Konditionen, aber auch in Abhängigkeit von den außenpolitischen Rahmenbedingungen, durch den konjunkturellen Wechsel mal strafferer, mal großzügigerer Alltagspraxis bestimmt. In der Literatur gelten die späten 1960er-Jahre dabei übereinstimmend

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Vgl. als eine erste historiografische Aufarbeitung Kosta Nikolić/Srđan Cvetković, Rađan­ je jeretika. Suđenje Milovanu Djilasu i Vladimiru Dedijeru 1955 god, Beograd 2011; fer­ ner Goran Miloradović, Ljudi na strateškim mestima. Uzroci, posledice i smisao sukoba Josipa Broza Tita i Milovana Đilasa na Trećem (vanrednom) plenumu CK SKJ 1954 godine. In: Institut za noviju istoriju/Arhiv Jugoslavije (Hg.), Tito – viđenja i tumačenja, Beograd 2011, S. 199–231.

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als eine halbe Dekade einer spürbaren Aufweichung der Parteiherrschaft. Die marktwirtschaftlichen Reformen des Jahres 1965 und der Ausbau der Selbstverwaltung, die Ausweitung der Föderalisierung von Staat und Partei sowie das langsame Vordringen einer jüngeren und nicht mit dem leninistisch-stalinistischen Sozialisationserbe der alten Partisanengeneration belasteten Führungsgeneration trugen dazu bei, dass die alltagspraktische Parteiherrschaft in diesen Jahren so „liberal“ wurde wie nie zuvor und wie auch danach nicht mehr. Die Deutsche Botschaft in Belgrad mochte zwar 1969 auch nur einen „im Schneckengang verlaufenen Demokratisierungsprozess“ ausmachen, der aber gleichwohl zeige, wie weit sich die Jugoslawen inzwischen vom sowjetischen Sozialismus entfernt hätten.5 Das Jahr 1971 beendete diese Epoche und läutete auch im Hinblick auf die Rolle der Partei eine Zeitenwende ein. Titos Beendigung des „Kroatischen Frühlings“6 – währenddessen eine Koalition aus Studenten, Intellektuellen, aber auch Angehörigen anderer gesellschaftlicher Schichten mit Teilen der kroatischen Parteiführung für eine substanzielle Erweiterung kroatischer Souveränitätsrechte in Politik und Wirtschaft, aber auch für mehr demokratische Partizipationsrechte der Bevölkerung eingetreten war – justierte auch die Herrschaftskoordinaten der Partei neu. Vor allem kroatische Historiker haben dies dahingehend interpretiert, Tito habe sich damit in seinem letzten Lebensjahrzehnt in die Reihe der anderen in die Jahre gekommenen Parteiführer des Ostblocks, eines Honecker, eines Schiwkow, Husák oder Gierek, eingereiht und Jugoslawien sei zu seinen leninistischen, ja stalinistischen Anfängen zurückgekehrt.7 Es ist dies eine sehr kroatische Perspektive, welche die traumatische Erfahrung des Jahres 1971 widerspiegelt, mit welcher die Parteiherrschaft in den letzten beiden Jahrzehnte des Staates freilich nicht angemessen beschrieben ist. Ungeachtet der unbestritten repressiven Herrschaftspraxis der folgenden Jahre ist das Bild durchaus facettenreicher und, ganz im Sinne der machiavellistischen Herrschaftspraxis Titos, von vielen Ambivalenzen geprägt. Das Jahr 1971/72 leitete zum einen zweifelsohne eine Entliberalisierung des politischen und gesellschaftlichen Alltags und eine erhebliche Steigerung der Repressionsintensität des Systems ein. Vor allem in Kroatien kam es zu Säuberungen, die weniger in ihrer Quantität, wohl aber in ihrer gesellschaftlichen Reichweite dem Prozess der „Normalisierung“ in der ČSSR nach der Beendigung des Prager Frühlings nicht unähnlich zu sein schienen. Die kroa-

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7

Botschaft Belgrad an das AA vom 23.1.1969, Betr.: Ergebnisse der Parteitage der Kom­ munisten in den einzelnen Teilrepubliken (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes – PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 231, Bl. 328 und 341). Zur mittlerweile umfangreichen Literatur zum „Kroatischen Frühling“ und seiner un­ ter­schiedlichen Deutungen vgl. Marko Zubak, The Croatian Spring. Interpreting the Communist Heritage in Post-Communist Croatia. In: East Central Europe, 32 (2005) 1–2, S. 191–225; sowie Tvrtko Jakovina (Hg.,) Hrvatsko proljeće, 40 godina poslije, Zagreb 2012. Vgl. Ivo Goldstein/Slavko Goldstein, Tito, Zagreb 2015, S. 715.

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tische Partei­führung um die Vorsitzende Savka Dabčević-Kučar und den kroatischen Vertreter in der Führung des Bundespartei Mika Tripalo sowie weitere Mitglieder von Regierung und gesellschaftspolitischen Organisationen wurden zum Rücktritt gezwungen. Über die Zahl der im Gefolge der Intervention Titos aus der Partei ausgeschlossenen Funktionsträger und Mitglieder gehen die Zahlen auseinander. Der offiziöse Abschlussbericht der nach 1971 neu ins Amt gebrachten Parteiführung spricht von 741 aus der kroatischen Partei ausgeschlossenen Personen, 131 abgesetzten Funktionsträgern sowie 280 „freiwilligen Rücktritten“ allein zwischen November 1971 und April 1972.8 Andere Quellen gehen von bis zu 20 000 Parteimitgliedern aus, die im Gefolge der Ereignisse aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlichem Wege aus den Mitgliederlisten der Partei gestrichen worden sein sollen.9 Die nachstehende Tabelle 1, die auf den Angaben der Rechenschaftsberichte der Parteitage beruht, zeigt den deutlichen Anstieg der aus der Partei Ausgeschlossenen und aus den „Mitgliederlisten Gestrichenen“ in den Jahren 1972/73, freilich auch die erhebliche Anzahl derjenigen, die in diesen Jahren, aus welchen Gründen auch immer, freiwillig aus der Partei austraten. Tabelle 1: Parteiausschlüsse und Parteiaustritte in Kroatien 1970–1974 Jahr

Mitglieder insgesamt

Eintritte

1970

214 256

5 345

1 557

3 954

5 732

10 500

1971

214 614

12 876

1 128

3 453

6 282

10 800

1972

206 985

7 418

3 140

2 632

6 121

11 700

1973

210 339

11503

1 564

1 387

4 335

7 200

1974

222 563

20000









Ausschlüsse Austritte gestrichen

Austritte insgesamt

Quelle: Zdenko Radelić, Hrvatska u Jugoslaviji 1945–1991. Od zajedništva do izlaska, Zagreb 2006, S. 461. Vor allem gegen die Führer der sogenannten Massenbewegung, Studenten und Kulturschaffende vornehmlich, die durchaus im Einklang mit ihrer Parteiführung den kroatischen Forderungen öffentlich Nachdruck verschafft hatten, wurden Strafverfahren eingeleitet. Allein 1972 stieg die Zahl der ­Gerichtsverfahren wegen politischer Delikte auf über 2 000 an, das fünffache jener Zahl aus dem

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Savez komunista Hrvatske, Centralni komitet: Izvještaj o stanju u Savezu komunista Hrvatske u odnosu na prodor nacionalizma u njegove redove, Zagreb 1972, S. 127 f. Vgl. – allerdings ohne einen exakten Quellenbeleg – die Angaben bei Antun Vujić, Poli­ tičke osnove nekih interpretacija Hrvatskog proljeća. In: Jakovina (Hg.), Hrvatsko prol­ jeće, 40 godina poslije, S. 36.

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gesamten Jahrzehnt davor.10 Die Führer der Studentenbewegung wurden ebenso zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wie die führenden Köpfe der (später aufgelösten) Kulturorganisation „Matica hrvatska“ sowie einzelne Universitätsprofessoren, die sich an der „Massenbewegung“ beteiligt hatten.11 1981 sollte sich, darauf kann hier nicht eingegangen werden, eine noch rigidere Abrechnung mit den Anführern der nationalistischen Unruhen unter den Albanern des Kosovo wiederholen. Es war dies im Übrigen eine Repressionswelle, die in der westlichen Öffentlichkeit, anders als in vergleichbaren Fällen innerhalb des Ostblocks, kaum zu nennenswerten Protesten führte, weder vonseiten westlicher Regierungen noch aus dem Kreise der internationalen intellectual community. Die USA ebenso wie Großbritannien sahen die repressive Beantwortung der kroatischen Ereignisse durch Tito zwar mit einigem Missfallen. Die unübersehbaren Elemente eines ethnozentristischen Nationalismus in Teilen der kroatischen Bewegung wie auch die Sorge, die kroatischen Souveränitätsbestrebungen könnten die staatliche Stabilität Jugoslawiens und damit auch dessen Rolle als weltpolitischer Faktor zwischen den Blöcken gefährden, ließen die Regierungen des Westens allerdings mit einer großzügigen realpolitischen Rücksichtnahme auf die repressive Begleitumstände der Tito’schen Intervention reagieren.12 Das State Department in Washington fühlte sich durch einen auch im Angesicht der kroatischen Entwicklung wenig wahrscheinlichen Kurswechsel Titos in Richtung Moskau beruhigt, maß den innenpolitischen Begleit­erscheinungen der Krise jedoch nur eine nachgeordnete Bedeutung bei. Zwar sei das administrative Eingreifen bedauerlich; letztlich aber sei diese Intervention, so die durchaus verständnisvolle Bewertung der CIA, durch das deutliche Aufleben zentrifugaler Tendenzen und „das zum Teil bewusst provozierende Verhalten der kroatischen Führer“ begünstigt worden.13 Für die CIA sei Tito nicht ohne Grund alarmiert gewesen „by the rising tide of Croatian nationalism, by the inability or unwillingess of the Croatian Communist Party to do anything about it“.14 Auch in Paris warnte man davor, die Krise zu überschätzen. Angesichts der „recht großzügigen Art, in der Menschen, Presse und Funk sich in den vergangenen

10 Vgl. Radelić, Hrvatska u Jugoslaviji, S. 458. 11 Vgl. die Pressedokumentation zu den Verurteilungen in Jovan Kesar/Đuro Bilbija/Ne­ nad Stefanović (Hg.), Geneza Maspoka u Hrvatskoj, Beograd 1990, S. 987–1014. 12 Vgl. zur britischen und amerikanischen Haltung Ante Batović, Titova Jugoslavija i Uje­ dinjeno Kraljevstvo za vrijeme Hrvatskog Proljeća. In: Jakovina (Hg.), Hrvatsko pro­ ljeće, 40 godina poslije, S. 77–92; zur amerikanischen Haltung Rinna Elina Kullaa, US Intelligence Estimates of the „Crisis in Croatia“ and its Relationship to Détente in EastWest-Relations across Europe 1971–1972. In: ebd., S. 93–109. 13 Fernschreiben Nr. 2880 Botschaft Washington an AA vom 28.11.1971 (PAAA; B 42 Zwischenarchiv, Band 298, Bl. 354). 14 CIA, Memorandum: The Crisis in Croatia. Confidential vom 5.1.1972, S. 1 (https:// www.cia.gov/library/readingroom/search/site/yugoslavia?DOC_CIA-RDP79R00967 A00030010-4; 19.11.2017).

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Jahren hätten bewegen können“, so die auch hier relativ nachsichtige Reaktion der französischen Diplomatie, sei es verständlich, dass Tito „die Notwendigkeit zu einer stärker parteigebundenen Ausrichtung empfunden habe“.15 Die deutsche Haltung zeigte demgegenüber eine größere Ambivalenz, wenn auch hier vor allem in der Bonner Zentrale Zurückhaltung vor allzu offener Kritik überwog. Wie in Washington oder Paris meinte man auch in Bonn zu erkennen, dass „die Republikparteien über Gebühr aus dem Ruder gelaufen sind“ und die kroatische Führung trotz der Berechtigung mancher ihrer Forderungen „über die von der Belgrader Zentrale im Interesse der Kohärenz des jugoslawischen Bundesstaates gezogene Toleranzgrenzen“ hinweggegangen sei. Tito, der sich, so die Einschätzung der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes mit einer bemerkenswert nachsichtigen Deutung, in innerjugoslawischen Dingen immer mehr von „einem Diktator zu einem Schiedsrichter“ gewandelt habe, habe mit seinem Eingreifen die Krise angesichts einer „ausufernden natio­nalkroatischen Bewegung […] wenigsten vordergründig gelöst“.16 Vor allem die Berichte aus Belgrad, mehr aber noch jene aus Zagreb schätzten die mittelfristigen innenpolitischen Folgen allerdings als sehr viel gravierender ein. Die Krise sei, so hieß es aus der Deutschen Botschaft, „ein tiefer Einschnitt in die innere Entwicklung Jugoslawiens“, und es bestehe die Gefahr, dass Tito damit „die Grundlagen des Systems“ zerstöre, wenn nicht gar dessen zunehmende West­orientierung rückgängig mache.17 Vor allem das Generalkonsulat in Zagreb, das die unmittelbaren Auswirkungen der repressiven Politik nach der Niederschlagung des „Kroatischen Frühlings“ sehr viel unmittelbarer verfolgen konnte, verwies auf die negativen Folgen, welche Titos Intervention gerade auch für die Loyalität der Bürger zum Staat und für die Legitimität des Systems habe. Trotz der auch hier konstatierten „Woge des nationalen Überschwangs“, ja gewisser „chauvinistischer Tendenzen“ vor allem von studentischer und intellektueller Seite, die „vor keinem Tabu halt (gemacht hätten)“,18 mochte man keine wirklich „gefährlichen Formen“ des kroatischen Nationalismus erkennen. Durch die repressive Intervention aber sei die „echte Chance, diese und ähnliche ­Erscheinungsformen des

15 Fernschreiben aus Paris vom 27.11.1972 (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 298, Bl. 349). 16 Aufzeichnung der Politische Abteilung des Auswärtigen Amtes vom 20.12.1971, Betr.: Innere Entwicklung nach den jüngsten Ereignissen in Kroatien (ebd., Band 232, Bl. 330–335); Sitzung des Auswärtigen Ausschusses vom 2.2.1972 (ebd., Band 298, Bl. 118–122). 17 Fernschreiben Nr. 508 vom 11.11.1972 (ebd., Band 298, Bl. 332 f.); Fernschreiben vom 16.11.1972 (ebd., Bl. 342); Vermerk Betr.; Beurteilung der innenpolitischen Lage in Ju­ go­slawien durch westliche Regierungen Bonn; 1.12.1972 (ebd., Bl. 358–360). 18 Botschaft Belgrad an AA vom 22.11.1971, Betr.: Innenpolitische Lage in Kroatien im Herbst 1971, Bezug: Bericht des Generalkonsulats Zagreb (PAAA, B 42 Zwischen­ar­ chiv, Band 232, Bl. 287–295).

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Nationalismus […] zu kanalisieren“, vertan worden und Titos rigides Vorgehen berge die Gefahr in sich, dass aus dem „Gefühl der nationalen Demütigung“ auf lange Sicht eine „innere Emigration“ großer Teile der kroatischen Bevölkerung werden würde, ja eine „große Verdrossenheit gegenüber dem jugoslawischen Staat“ erwachsen könne.19 Im Ganzen freilich musste Tito trotz seines durchaus rigiden administrativen Eingreifens in Kroatien kaum die Reaktion des Westens fürchten, für den ein blockfreies Jugoslawien unter den Konditionen des Kalten Krieges zu wichtig war, als dass er diesen Status durch eine allzu forsche Kritik an der repressiven Beantwortung der Krise zu gefährden dachte. Nur ein Jahr nach den kroatischen Ereignissen folgten auch in anderen Republiken ähnliche Eingriffe in die Parteiführung. Sie nahmen hier nicht das gleiche Ausmaß an wie in Kroatien, hatten auch keine strafrechtlichen Implikationen, bedeuteten aber auch hier einen fundamentalen Elitenwechsel. In Serbien wurde die dortige Parteiführung unter Latinka Perović und Marko Nikezić unter dem Vorwand des Liberalismus abgesetzt; mehr als 1 300 Funktionsträger verloren auch hier ihre Posten, insgesamt sollen 5 000 bis 12 000 Personen von irgendeiner Form der Säuberung betroffen worden sein.20 In Slowenien, wo die Parteiführung seit Mitte der 1960er-Jahre nicht nur eine spürbare politische und kulturelle Liberalisierung zugelassen, sondern sich selbst in gewichtigen Fragen auch des Öfteren gegen die Politik der Bundesorgane gestellt hatte, musste der Parteichef Stane Kavčič sein Amt räumen und wurde auch hier durch konservative Kräfte ersetzt.21 Insgesamt bedeuteten diese Revirements den Machtgewinn einer Parteielite, die wieder stärker auf das klassische Konzept einer unmittelbareren Parteiherrschaft setzte. Manche haben diese Machtverschiebung gar dahingehend interpretiert, dass Jugoslawien im folgenden Jahrzehnt „zunehmend und teilweise de facto“ von Teilen des Militärestablishments im Verein mit einer sich auf Polizeikontrolle stützenden konservativen Parteielite im Umfeld Titos beherrscht worden sei.22 Die Restitution einer nunmehr auch wieder repressiver agierenden Parteiherrschaft ging in der Tat über diese personellen Interventionen hinaus. Neue Gesetze schufen die rechtliche Voraussetzung für eine juristische Sanktionierung praktisch jeglichen Dissenses, so das 1972 eingeführte Gesetz über die „verbalen Delikte“, das jede Form von Kritik an der politischen Ordnung, an der Person Titos sowie die „Verunglimpfung des Volksbefreiungskrieges“ zum

19 Generalkonsulat Zagreb an AA vom 20.12.1971, Betr.: Innenpolitik Kroatiens, hier: Zagreber Dezember 1972 (ebd. Bl. 321–329); Generalkonsulat Zagreb an AA vom 7.12.1971, Betr.: Innenpolitik Kroatiens, hier: Ankündigung repressiven Kurses gegen intellektuelle Systemkritiker (ebd., Bl. 301–308); Generalkonsulat Zagreb an AA vom 4.4.1972, Betr.: Innenpolitische Lage in Kroatien (ebd., Band 298, Bl. 162–168). 20 Latinka Perović, Srpski liberali 70-tih godina XX. veka. In: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hg.), Dijalog povjesničara-istoričara, Band 8, Zagreb 2004, S. 67. 21 Vgl. Božo Repe, „Liberalizem“ v Sloveniji, Ljubljana 1992, S. 204 ff. 22 Goldstein/Goldstein, Tito, S. 752.

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Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung machen und mit einer ein- bis zehnjährigen Gefängnisstrafen bedrohen konnte.23 Es wirkte vor allem auf kulturellem Gebiet wie ein Damoklesschwert und traf die seit den späten 1960er-Jahren von politischem Druck befreite Kultur in nicht unerheblichem Maße. Theaterstücke und Bücher wurden in einer bis dahin ungewohnten Weise zensuriert, Literaten und Filmschaffende wegen ihrer Arbeit vor Gericht gestellt. Zwar mag die Zahl der in den Jahren 1982 bis1987 verbotenen Publikationen mit 36, davon 16 Bücher und 3 Zeitschriften, insgesamt eher bemessen erscheinen,24 stellt man das hohe Maß an Verunsicherung in Rechnung, welches die Parteiführung in den frühen 1980er-Jahren aufgrund der Unruhen im Kosovo, aber auch angesichts des Todes Titos 1980 erfasst hatte; zugleich aber markierte dies im Vergleich mit den späten 1960er-Jahren einen deutlich regressiveren kulturpolitischen Kurs. In der Praxis führte dies denn auch zu einer staatlichen Repressionsintensität, die sich in einem deutlichen Anstieg der Zahl der wegen solcher Delikte belangten Personen, aber auch in der Rigidität der staatlichen Sanktionen niederschlug.25 Hatte es in den Jahren 1969 bis 1971 1 449 Verstöße wegen „politischer Delikte“ gegeben, von denen nur ein Teil auch gerichtlich verfolgt worden war, so stieg deren Zahl, nicht zuletzt als Reflex auf den „Kroatischen Frühling“, in den ersten sechs Monaten des Jahres 1972 allein auf 2 300 an. In den Jahren 1981 bis 1984 waren es, hier vor allem als Folge der Unruhen im Kosovo 1981, sogar 4 245.26 Internationale Beobachter, beispielsweise von Amnesty International, kritisierten dabei, ähnlich wie für die anderen osteuropäischen Staaten, eine oftmals eklatante Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien im Umgang mit Angeklagten.27 Selbst der im sowjetischen Fall international geächtete ­Missbrauch der Psychiatrie im Umgang mit Dissidenten blieb in Jugoslawien, wie jüngere Analysen andeuten, nicht völlig ohne Nachahmung, machte

23 Eine tabellarische Übersicht über die entsprechenden Rechtsparagrafen findet sich bei Juraj Ramšak, Oporečništvo v samoupravnem socializmu. Vsebina in položaj družbene kritike v Sloveniji, 1972–1980. Univerza na Primorskem, Fakulteta za humanistične štu­ dije Koper: Doktorska disertacija, Koper 2013, Masch. S. 62 f. 24 Die Zahlen nach einem Parteibericht bei Dejan Jović, Jugoslavija – država koja odumrla. Uspon, kriza i pad četvrte Jugoslavije, Beograd 1992, S. 327. 25 Vgl. Srđan Cvetković, „Kradljivci tuđih leđa“. Obračun sa anarholiberalističkim grupama u SFRJ posle 1968. In: Istorija XX. veka, 3 (2011), S. 39–56. 26 Vgl. Katarina Spehnjak/Tihomir Cipek, Disidenti, opozicija i otpor – Hrvatska i Jugo­ slavija 1945–1990. In: Časopis za suvremenu povijest, 39 (2007) 2, S. 255–297, hier 264. Mit graduell abweichenden Zahlen für 1982–1987 Jović, Jugoslavije – zemlja koja je odumrla, S. 327, wonach es in dem genannten Zeitraum 2 443 Anklagen wegen politischer Vergehen, darunter 1 700 wegen „verbaler Delikte“, gegeben habe. Fast die Hälfte davon entfielen auch in diesem Zeitraum auf den Kosovo. 27 Vgl. beispielhaft das Verfahren gegen den serbischen Juristen Đura Đurović, der 1945 ein erstes Mal wegen seiner Zugehörigkeit zu den royalistischen Četnici im Kriege für 17 Jahre in Haft musste und 1974 wegen angeblicher Kontakte zur serbischen Emigration neuerlich zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Zur Analyse des Prozesses vgl. Slobodan G. Marković, Suđenje Đuri Đuroviću 1974. godine i stanje jugoslovenskog pravosuđa sedamdesetih godina 20. veka. In: Istorija XX. veka, 3 (2011), S. 9–40.

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sich diese doch auch hier gelegentlich zum Instrument letztlich politischer Sanktionen.28 Jugoslawien erlebte so im letzten Jahrzehnt der Tito-Ära einen Repressionsschub, der in der Rückschau und auf der Grundlage der mittlerweile vorliegenden quellengestützten Untersuchungen bedrückend erscheinen muss. Er steht nicht nur im Widerspruch zum Image einer relativ liberalen sozia­listischen Wohlstandsgesellschaft, welches das Bild Jugoslawiens im westlichen Ausland in dieser Zeit bestimmte, sondern die Repressionsintensität übertraf zeitweilig auch manche der staatssozialistischen Länder Osteuropas, in denen man, beispielsweise in Ungarn, Bulgarien oder selbst in der DDR, in dieser Zeit eher den Konsens mit der Intelligenzija suchte und das Niveau der repressiven Interventionen eher bemüht war abzuschwächen. Auch mit Blick auf ihre institutionellen Steuerungsressourcen zeigte die Partei in den beiden Jahrzehnten nach 1971 wieder mehr Präsenz. Zum Ende der 1960er-Jahre hin hatte sie die operative Kontrolle über die Besetzung politischer Mandate in Parlamenten und Verwaltungsorganen ein Stück weit abgegeben oder verloren.29 Bei Wahlen konnten vor allem auf der Gemeindeebene, aber in geringerem Maße auch auf der Republik- und Bundesebene, stets mehr Kandidaten aufgestellt werden als Mandate zu vergeben waren und gelegentlich fanden dabei, trotz eines auch in dieser Zeit aufrechterhaltenden Einflusses der Partei auf den Selektionsprozess der Kandidaten, die von der Partei präferierten Bewerber nicht die Approbation der Wähler.30 Selbst auf der obersten Repräsentationsebene gerieten solche Selektionsprozesse gelegentlich „außer Kontrolle“. In Slowenien hatte 1971 die „Aktion der 25“ für Aufsehen erregt, als die Abgeordneten des slowenischen Republikparlaments dem von der Partei vorgeschlagenen Vertreter Sloweniens in den Bundesorganen die Zustimmung verweigert und einen eigenen Kandidaten durchgesetzt hatten.31 Regierungsämter auf Bundesebene konnten nicht mehr wie in früheren Jahren durch den Konsens der Parteiführungen präjudiziert werden, sondern mussten zwischen den Parlamentsabgeordneten der einzelnen Teilrepubliken oftmals in heftig umstrittenen Kontroversen und Abstimmungen ausgehandelt

28 Als erste, noch unsystematische Untersuchung solcher Missbräuche der Psychiatrie, von denen zumindest einzelne deutlich auch politische Hintergründe hatten, vgl. Srđan Cvet­ ković, ‚Ko je ovde lud?‘ Primeri političke (zlo-)upotrebe pshijiatrije u SFRJ. In: Istorija XX. veka, 3 (2011), S. 145–163. 29 Zu den Wahlen vgl. Wolfgang Höpken, Elections in Yugoslavia. In: Robert Furtak (Hg.), Elections in Socialist States, New York 1990, S. 119–142. 30 In der südserbischen Stadt Niš wurde 1971 ein Bauer, der 1947 aus der Kommu­ nistischen Partei ausgeschlossen und zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen politi­scher „Vergehen“ verurteilt worden war, gegen den Willen der Partei und der Massenorga­ nisationen ins Republikparlament gewählt. Vgl. Botschaft Belgrad an AA vom 6.6.1971, Betr: Innenpolitische Entwicklung Jugoslawiens, hier: Wahlen zu den legislativen Kör­ per­schaften (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 231, Bl. 323) 31 Vgl. Repe, „Liberalizem“, S. 208 ff.

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werden.32 Auch hatten, im Unterschied zur praktisch totalen Mobilisierung der Wähler in den anderen sozialistischen Staaten, Wahlabstinenz und die Abgabe von ungültigen Stimmen signifikant zugenommen, sodass 1969 „nur“ mehr noch 88 Prozent der Wähler an den Wahlen teilgenommen und auch gültige Stimmen abgegeben hatten.33 Auch wenn die Wahlen der späten 1960er-Jahre mit denen in westlichen Demokratien nicht zu vergleichen seien und das Machtmonopol der Partei nicht zur Disposition stünde, resümierte denn auch die Deutsche Botschaft in Belgrad, so trennten die Wahlen doch „ein ebenso großer Graben von dem, was in Osteuropa als Wahl bezeichnet wird“.34 Die nach 1971 ins Werk gesetzten institutionellen Reformen des Selbstverwaltungssystems stärkten in letzter Instanz hingegen die Rolle der Partei wieder. Zwar sollten sie ihren Intentionen nach und ganz im Sinne rätedemokratischer Utopien die unmittelbaren Mitwirkungs- und Einflussrechte der Menschen auf alle politischen Organe und Entscheidungen von der Gemeinde bis zum Bund erweitern und schufen hierfür auch eine Vielzahl an institutionellen Partizipationskanälen. In der Praxis vermochte das sogenannte Delegiertensystem den Menschen jedoch kaum ein Mehr an Einflussmöglichkeiten zu bieten. Seine institutionelle und prozedurale Überkomplexität stärkte nicht nur die hierarchischen Machtstrukturen in den gesellschaftlichen Organen zugunsten techno­kratischer und administrativer Eliten,35 sondern schuf auch eine Vielzahl an Nischen, über welche die Partei im Alltag ihre Kontrolle über die gesellschaftlichen Organe zurückgewinnen und ausbauen konnte. Vor allem das nunmehr stark ausdifferenzierte, teilweise indirekte Wahlsystem bedeutete dabei entgegen seinen normativen Ansprüchen in der Praxis eine Beschneidung des Wählereinflusses und machte die Auswahl der Mandatsträger für die Partei wieder deutlich kalkulierbarer. Die durch das indirekte Delegationssystem intendierte permanente Einfluss- und Kontrollkompetenz der Wählerbasis konnte in der Alltagspraxis hingegen kaum wirklich eingelöst werden.36 Die formelle ­Erweiterung institutioneller Partizipationsmöglichkeiten führte

32 Vgl. etwa die zwischen den Republiken Bosnien und Kroatien heftig umstrittene Beset­ zung des Außenhandelsministeriums im Jahre 1969. Hierzu Botschaft Belgrad an AA vom 25.7.1969, Betr.: Personelle Veränderungen in Organen der jugoslawischen Föde­ ration (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 232, Bl. 21 f). 33 Mijat Damjanović, Subjekti izbornog procesa, Beograd 1978, S. 169. 34 Botschaft Belgrad an AA vom 6.6.1971 (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 231, Bl. 325). 35 Empirische Untersuchungen bestätigten zum Ende der 1970er-Jahre hin überein­ stimmend die nur geringen Demokratisierungseffekte, welche das komplizierte Delegier­ ten­system in der Praxis produzierte. Vgl. exemplarisch für Serbien: Delegatski sistem. Funkcionisanje i ostvarivanje. Analiza rezultata istraživanja za SR Srbiju bez pokrajina, Beograd 1979, insbes. S. 88–102, 214–224, 319–331. 36 Vgl. ebenfalls am serbischen Beispiel Mijat Damjanović, Radni ljudi i građani u izbornom procesu. In: Milan Matić, Izborni proces u delegatskom sistemu. Analiza izbora z skupštine društveno-političkih zajednica i samoupravnih interesnih zajednica u SR Srbiji 1978. godine, Beograd 1979, S. 55–90.

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in der Praxis so eher zu einer Entmachtung der Bürger und zur Depolitisierung der Gesellschaft, sichtbar auch an einem in den 1970er-Jahren deutlich abnehmendem Interesse der Bürger an den zur Verfügung gestellten Mitwirkungsinstitutionen.37 Der verschärften Herrschaftspraxis und der faktischen Entkernung der Partizipationschancen der Bürger entsprach schließlich seit 1971/72 auch eine ideologische Re-Dogmatisierung der Partei, die in die rigide Semantik einer revolutionären Klassenkampfrhetorik der späten 1940er-Jahre zurückfiel. Gesellschaftliche Konflikte wie die kroatischen Ereignisse 1971 oder die Studentenunruhen im Kosovo 1981 wurden in einer binären Sprache von „Revolution“ und „Konterrevolution“ semantisiert und eine Politik der „čvrsta ruka“, der „harten Hand“, der „Säuberung“ und der „Einheit“ beschworen.38 In all dem näherte sich Jugoslawien in der Tat den Herrschaftspraktiken der anderen sozialistischen Staaten an, ja fiel teilweise sogar noch hinter diese zurück, waren doch die 1970er-Jahre in manchen der übrigen ­Ostblockstaaten eher Versuche der Deeskalation im Verhältnis von Parteiherrschaft und Gesellschaft gewesen. Aber diese restituierte Parteiherrschaft, und hier folgt die jugoslawische Entwicklung dann doch wieder eigenen Pfaden, war nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war, dass selbst in der Zeit verstärkter Repression nach 1971/72 die Grenzen der Parteiwillkür nicht völlig eingerissen und auch die Rudimente einer „rechtsstaatlichen“ Praxis nicht gänzlich verschüttet wurden. Auch hierin bleibt selbst für diese Zeit ein markanter Unterschied zu den anderen sozialistischen Staaten bestehen. Die Justiz etwa stand zweifelsohne nach Titos Intervention in Kroatien und Serbien unter einem erheblichen politischen Druck, sie fügte sich ihm aber nicht bedingungslos. Berufungsgerichte revidierten gelegentlich Verurteilungen oder Richter weigerten sich, der politischen Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung wegen vermeintlicher politischer Delikte nachzukommen. In der kroa­tischen Stadt Vukovar etwa machte ein Berufungsgericht trotz eines erheblichen politischen Drucks der örtlichen Partei auf die Richter die Entlassung eines Arztes wegen seiner Beteiligung an der kroatischen „Massenbewegung“ rückgängig, da sich keine arbeitsrechtlich relevanten Gründe für eine solche Bestrafung ergeben

37 Hatten 1967 bei Umfragen in Kroatien 47 Prozent ein geringes oder gleichgültiges Inte­ resse gegenüber Wahlen geäußert, so waren es 1982 bereits 79 Prozent. Vgl. Ivan Šiber, Motivacijski aspekti izbora. In: Milan Matić, Skupštinski izbori u Jugoslaviji 1942–1982, Beograd 1983, S. 353. 38 Vgl. exemplarisch für die ideologisierte Semantik den „Brief“ Titos an die Parteimitglie­ der und die Gesellschaft vom September 1972, mit dem er den neuen Kurs zu begrün­den suchte: Pismo Predsednika SKJ i Izvršnog Biroa Presedništva SKJ. Abgedruckt in: Nova inicijativa u SKJ. Dokumenti, Beograd 1975, S. 7–14. Vgl. auch die Erinnerungen der im Zuge der „Säuberungen“ 1972 zum Rücktritt gezwungenen serbischen Parteisekretärin Latinka Perović, Zatvaranje kruga – ishod rascepa 1971–1972, Sarajevo 1991, S. 326.

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hätten.39 Selbst für jene Prozesse, die nach der Beendigung des „Kroatischen Frühlings“ gegen die Führer der Zagreber Studentenbewegung anberaumt wurden und die zweifelsohne den Charakter politischer Prozesse trugen, notierten Beobachter die Wahrung gewisser rechtsstaatlicher Schranken, wie sie vergleichbare Prozesse gegen Dissidenten in anderen sozialistischen Ländern vermissen ließen, so etwa die ungehinderte Zulassung ausländischer Beobachter, das Recht der Angeklagten zur Zeugenbefragung und eine ungehinderte Tätigkeit der Anwälte. Auch nahmen die Richter aufgrund der Beweisaufnahme von zunächst erhobenen Anklagepunkten wie etwa dem des Kontaktes zu antijugoslawischen Emigrantengruppen Abstand. Sogar das (nach rechtsstaatlichen Kriterien immer noch unangemessene) Strafmaß von ein bis vier Jahren für die Verurteilten mutete diplomatischen Beobachtern des Deutschen Generalkonsulats in Zagreb als „unerwartet milde“ an, gemessen am erhobenen Anklagepunkt des „Landesverrats“.40 Ungeachtet der repressiven Interventionsstrategie Titos registrierte das Deutsche Generalkonsulat in Zagreb, das ansonsten durchaus sensibel alle repressiven Auswüchse wahrnahm und deren Gefahr für die Liberalität des jugoslawischen Systems erkannte, denn auch „ein Ringen um eine Art mittleren Kurs“, in dem sich Tito einerseits zu administrativen Maßnahmen gezwungen gesehen hätte, auf der anderen Seite aber auch bemüht sei, „neostalinistische Tendenzen zurückzudrängen“. Weder die kroatischen Ereignisse selbst noch die juristische Verfolgung seiner Akteure könnten daher mit dem „Prager Frühling“ und der dortigen Bewältigungsstrategie der „Normalisierung“ verglichen werden.41 Auch gab man trotz des repressiven „Rollbacks“ das bereits vor der Beendigung des „Kroatischen Frühlings“ begonnene Projekt einer tiefgreifenden institutionellen Reform des politischen Systems nicht auf, mit dem vor allem die Souveränitätsrechte der Republiken gestärkt werden sollten. Dabei mag es angesichts der repressiven Schattenseiten, welche die Intervention Titos produzierte, wohl zu weit gehen, von einem „Goldenen Zeitalter“ zu sprechen, welches Kroatien gerade in den Jahren nach 1971 erlebt habe.42 In der Tat aber wurden viele jener Forderungen, die 1971 von der kroatischen Parteiführung und der „Massenbewegung“ erhoben worden waren, auch nach deren ­Entmachtung mit den

39 Generalkonsulat Zagreb an AA vom 21.7.1972, Betr.: Justiz und Partei in Kroatien (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 298, Bl. 84 f.). 40 Generalkonsulat Zagreb an AA vom 4.12.1972, Betr.: Innere Entwicklung in Kroatien und Slowenien (ebd., Bl. 361–365). 41 Generalkonsulat Zagreb an AA vom 16.2.1972, Betr.: Innenpolitik Kroatien, (ebd., Bl. 128-132); Generalkonsulat Zagreb an AA vom 8.9.1972, Betr.: Verfahren gegen Studentenführer (ebd., Bl. 235–239). 42 Dejan Jović, Reassessing Socialist Yugoslavia 1945–1990. The Case of Croatia. In: ders./ James Ker-Lindsay (Hg.), New Perspectives on Yugoslavia. Key Issues and Controversies, London 2011, S. 117–142, hier 133.

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Verfassungsreformen von 1971 und 1974 umgesetzt.43 Die Republiken rückten in den Rang souveräner Teilstaaten auf und vermochten zu Lasten des Bundes praktisch alle politisch relevanten Kompetenzen auf sich zu vereinen, wohingegen der Bund zum „schwachen Staat“ mutierte. Es war nicht zuletzt diese radikale Föderalisierung, welche selbst unter den Bedingungen einer restriktiveren Parteipolitik die Alltagspraxis und die Alltagserfahrung von Herrschaft auch ein Stück weit einhegte. Herrschaft gestaltete sich fortan selbst unter dem geteilten und überall verbindlichen Primat der Parteikontrolle auf sehr unterschiedliche Weise zwischen den einzelnen Republiken und konnte dabei, wie noch zu illustrieren sein wird, auch sehr unterschiedliche Qualität annehmen. Auch die ähnlich umfassende Erneuerung des Selbstverwaltungssystems wurde ungeachtet der Erschütterungen, welche die kroatische Krise ausgelöst hatte, nach 1971 ins Werk gesetzt. Die komplexe Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Mitwirkungsorgane, die in ihren teils diffusen institutionellen Einzelheiten hier übergangen werden muss, sollte gleichsam im Rückgriff auf die Vision einer rätedemokratischen Selbstverwaltungsgesellschaft eine Antwort bieten auf die eher am Gedanken „bürgergesellschaftlicher Liberalisierung“ orientierten Reformtendenzen, die sich an der Wende zu den 1970er-Jahren hin Bahn gebrochen und die Machtposition der Partei erodiert hatten. Das bereits angesprochene Delegiertensystem sollte dabei politische Entscheidungen von der Gemeinde bis zum Bund an den unmittelbaren Einfluss der Wählerbasis rückbinden. Ein „Gesetz über die vereinigte Arbeit“ aus dem Jahre 1976 atomisierte die Betriebe in kleine Produktionseinheiten, die im Geiste einer Marx’schen „Assoziation freier Produzenten“ den Beschäftigten einen basisnahen und unmittelbaren Einfluss auf die Produktionsbedingungen und die Verteilung der Einkommen ermöglichen sollten. Sogenannte Selbstverwaltungsinteressengemeinschaften sollten auch den Dienstleistungssektor von der Krankenversorgung bis hin zum Schulsystem in einen von „Anbietern“ und „Nutznießern“ solcher Dienstleistungen selbstständig zu gestaltenden Bereich gesellschaftlicher Tätigkeit umwandeln.44 Die eklatanten Dysfunktio­ nalitäten und Effizienzmängel, welche dieses hochkomplexe System in den 1970er-/80er-Jahren in der Praxis produziert hat und welche nicht unerheb-

43 Jović, Jugoslavija – država koja odumrla, S. 166. Strittig ist dabei allerdings, inwieweit Tito selbst diese radikale Föderalisierung wirklich aus Überzeugung mitgetragen hat. Einzelne Historiker vertreten die These, dass er dieser eher skeptisch gegenüberge­ standen und ihr nur auf Anraten des damaligen Parteiideologen Edvard Kardelj zugestimmt habe. Vgl. ebd., S. 147–149; Goldstein/Goldstein, Tito, S. 745 f. Zu den parteipolitischen Diskussionen um die Föderalisierung vgl. zusammenfassend Milivoje Bešlin, Josip Broz Tito i jugoslovenski federalizam (1963–1974). In: Institut za noviju istoriju/Arhiv Jugoslavije (Hg.), Tito, S. 58–85, insbes. 77 ff. 44 Eine enzyklopädische Auffächerung des dadurch geschaffenen politischen Systems mit all seinen normativen und institutionellen Facetten findet sich u. a. in: Najdan Pašić/ Jovan Đorđević/Balša Špadijer (Red.), Društveno politički sistem SFRJ, Beograd 1976.

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lich zur Erosion der wirtschaftlichen Stabilität des Landes beitrugen, haben dazu geführt, dass dieses Experiment in der Literatur heute im besten Falle als machttaktischer „Trick“ der Partei zum Erhalt ihrer Herrschaft abgetan wird, wenn es nicht gleich völlig als Beleg einer von vornherein verfehlten Ordnung und eines verfehlten Staates ironisiert wird. Dabei wird freilich übergangen, dass mit diesem Konzept zumindest auf theoretischer Ebene durchaus noch einmal die Idee eines Rückzugs des Staates wiederbelebt und Elemente einer im eigentlichen Sinne des Wortes „zivilgesellschaftlichen“ Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft erprobt werden sollten. Es folgte – in den Worten des Zagreber Politikwissenschaftlers Dejan Jović – der Idee eines „Anti-Staates“, „der sich nur schwer im herkömmlichen Vokabular aus dem Diskurs um liberale Demokratie und Staatssozialismus beschreiben lässt“45 und der dem Gedanken des „eigenen jugoslawischen Sozialismus“ noch einmal ein einzigartiges Gesicht geben sollte. Gerade hierin hob sich Jugoslawien denn auch selbst in dieser Zeit rigiderer Parteiherrschaft vom einfallslosen Buchhalter-­Sozialismus der übrigen sozialistischen Staaten ab, die längst auf jede wirkliche marxistisch-theoretische Fundierung ihrer Ordnung, allemal auf institutionelle Experimente zur Verwirklichung der Theorie verzichtet hatten. Unbestreitbar aber ist: Der Versuch, die Machterhaltungsinteressen der Partei und die Vision eines Sozialexperiments zu verbinden, der hinter den Reformen der 1970er-Jahre stand, schuf zugleich viele jener Probleme, die das Ende von Staat und System herbeiführen sollten. Der radikale Föderalismus endete in den 1980er-Jahren in einer Selbstblockade, die innerhalb des Staates wie innerhalb der Partei eine schleichende Desintegration begünstigte. Das in seiner institutionellen Komplexität bizarr gewordene System der betrieblichen Selbstverwaltung46 trug nicht nur zur ruinösen ökonomischen Entwicklung des Landes bei,47 sondern konnte auch seine partizipativen Ansprüche nie erfüllen. Wie sich schon bald herausstellen sollte, stärkte das System der „vereinigten Arbeit“ in der Praxis die Macht der technokratischen und bürokratischen Führungseliten innerhalb der Betriebe, ohne den Arbeitern ein Mehr an Einfluss

45 Jović, Jugoslavija – država koja je odumrla, S. 144. 46 Nach Berechnungen des Belgrader Politologen Vladimir Goati bedurfte es zwischen 1976 und 1988 ca. acht Millionen Verordnungen, Gesetze und Gesetzesakte, um dieses atomisierte System der Selbstverwaltung zu regulieren; die Zahl der in der Verwaltung der Betriebe Beschäftigten stieg dementsprechend allein zwischen 1972 und 1978 um 44 Prozent. Vgl. Vladimir Goati, The Disintegration of Yugoslavia: The Role of Political Elites. In: Nationalities Papers, 25 (1997) 3, S. 455–467; Radelić, Hrvatska, S. 479 f. 47 Zu den ökonomischen Folgen einer solchen zunehmend fragmentierten Wirtschaft siehe bereits 1988 die Analyse des kroatischen Ökonomen Marijan Korošić, Jugoslovenska kriza, Zagreb 1988. Selbst das parteioffizielle Krisenprogramm, das 1983 im Ergebnis einer umfangreichen Analyse aufgelegt wurde, kam am Eingeständnis dieser irrationalen Folgen nicht vorbei, ohne freilich das System selbst infrage zu stellen oder wenigstens konsensfähige Vorschläge zu seiner Reform durchsetzen zu können. Vgl. Zaključni dio dugoročnog programa ekonomske stabilizacije, Sarajevo 1983, S. 144 f.

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zu geben.48 Gleichfalls wurde, wie bereits angemerkt, auch die Einführung des „Delegiertensystems“ nicht zum basisdemokratischen Korrektiv der monopolistischen Parteiherrschaft, sondern zur institutionellen Camouflage, hinter der die Partei ihre Kontrollansprüche einlösen konnte. Zwar unterschied sich die jugoslawische Partei damit weiterhin von den übrigen osteuropäischen Parteien darin, dass sie die Herrschaftsimperativa einer Parteidiktatur mit den emanzipatorischen Ansprüchen einer basisdemokratischen Selbstverwaltungsgesellschaft auch in der Praxis zu versöhnen suchte, während die kommunistischen Parteien des Ostblocks einen solchen experimentellen Luxus schon seit Langem aufgegeben hatten. Dem Dilemma, dass beides in einem kaum aufzulösenden strukturellen Spannungsverhältnis stand, konnte auch sie allerdings nicht entgehen. Nicht zuletzt aufgrund ihres begrenzten praktischen „Mehrwerts“ konnten denn auch diese Reformen den Legitimationsverlust, mit dem sich die Partei vor allem im Verlaufe der 1980er-Jahre konfrontiert sah, nicht aufhalten. In dieser Legitimationskrise wiederum fügte sich die jugoslawische Entwicklung ein in den Kanon der übrigen sozialistischen Staaten. Die Partei hatte ihren Herrschaftsanspruch stets auf zwei Säulen der Selbstermächtigung gestützt: zum einen auf die historisch-ideologische Herleitung ihrer Herrschaft aus dem Partisanenkampf im Zweiten Weltkrieg, aber auch aus dem Widerstand gegen Stalin 1948 sowie, zum zweiten, auf den systempolitischen Exzeptionalismus eines eigenen Weges zum Sozialismus. Ersteres wurde im Mythos der Selbstbefreiung des Landes im Weltkriege und im Beharren auf Unabhängigkeit gegen jeden Druck von außen kanonisiert. Letzteres versprach seinen Bürgern – nach außen wie nach innen – „Modernität“, aber auch „Offenheit“. Nach innen hin gründete sich dieses Modernitätsversprechen dabei nicht, wie in den anderen sozialistischen Staaten, auf die bewusste Abgrenzung gegenüber einer westlichen Moderne, sondern auf den Versuch, diese westliche Moderne in die Programmatik einer sozialistischen Gesellschaft zu übersetzen. Hieraus entstand der Anspruch auf eine eigene „sozialistische Moderne“, die auf den ideologischen Primat sozialistischer Werte und Normen nicht verzichtete, jedoch bereit war, die eigene Gesellschaft im Alltag ein Stück weit durch die Zulassung eines westlichen Lebensstils intoxinieren zu lassen. Konsum, Wohlstand, kulturelle Offenheit gegenüber dem Westen waren einige der Elemente dieser „Verwestlichung“ des Sozialismus, welche die Partei zum Zwecke ihrer Legitimationsallokation zuzulassen bereit war. Auf diesen Versuch, Legitimation auf dem Wege der Sozialintegration zu generieren, wird im folgenden Abschnitt zurückzukommen sein. Nach außen wiederum war es nicht nur die blockpolitische Eigenständigkeit des Landes gegenüber dem Westen wie dem Osten, die das Selbstbild eines solchen jugoslawischen Exzeptionalismus legitimatorisch stützte, sondern

48 Vgl. die vielfältigen empirischen Befunde zusammenfassend Neca Jovanov, Dijagnoza samoupravljanja 1974–1981, Zagreb 1982, S. 12–17.

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vor allem die räumliche „Entgrenzung“, welche die jugoslawischen Bürger seit den 1960er-Jahren mit ungehinderter Reise- und selbst Auswanderungsfreiheit genossen und mit der sich ihre Lebensumstände von jener „Diktatur der Grenze“49 in den anderen sozialistischen Ländern grundlegend unterschied. Beide Legitimitätssäulen unterlagen in den 1970er-, mehr aber noch in den 1980er-Jahren allerdings einer zunehmenden Erosion. Der Anspruch auf eine sich dem Westen annähernde wirtschaftliche und lebensweltliche Modernität löste sich, worauf im Zusammenhang mit den sozialen Integrationsressourcen des Systems zurückzukommen sein wird, im dramatischen Niedergang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes zu Beginn der 1980er-Jahre auf. Aber auch die historisch-ideologischen Legitimationsressourcen veralltäglichten sich zunehmend und büßten, allemal in den Jahren der Krise, ihre Bindekraft ein. Die zum stumpfen Mobilisierungsritual degenerierte Erinnerung an den Partisanenkampf und den Widerstand gegen Stalin mochte die Menschen auf einer abstrakten Ebene vielleicht noch an das System binden, sie begann ihre alltagsrelevante Sozialisationswirkung aber in dem Maße einzubüßen, indem sie vom kommunikativen in ein inszeniertes kulturelles Gedächtnis hinüberwuchs.50 In ihrer performativen wie narrativen Repräsentation war diese Erinnerung zudem viel zu hermetisch und zu wenig erfahrungsoffen, als dass sich über sie stabile und „krisenfeste“ gesellschaftliche Identitätseffekte hätten erzielen lassen. Auch wenn die erinnerungskulturelle Repräsentation des Partisanenkrieges sicherlich nicht nur das homogenisierende Produkt eines Top-down-Parteimanagements war, sondern immer auch Elemente des Aushandelns enthielt, die es den Menschen ermöglichten, ihre individuellen Erinnerungen an den Krieg zur Geltung zu bringen,51 gerieten doch alle Differenzierungsversuche, welche die Ambivalenzen der historischen Erfahrung in der Gesellschaft zu thematisieren suchten, etwa im Film oder in der Belletristik, immer wieder in den Geruch des Dissidentischen. Den Charakter einer „geordneten“ und „verordneten“ Erinnerung verlor dieses Bild der Vergangenheit daher nie, und eine zwanglose historische Identität, die der Gesellschaft hätte krisenresistente Bindungen verleihen können, ließ sich darauf nur schwer gründen. Mobilisierungspraktiken wie zum Beispiel die „Jugendarbeitsaktionen“, die Jugoslawien wie auch die anderen sozialistischen Länder (wenn auch in geringerem Maße) als Medium einer systemkonformen Sozialisation der jungen Generation einsetzten, behielten zwar als eine Art jugendlicher „Freizeitgestaltung“ einen gewissen Reiz. Sie wurden von den Jugendlichen wohl auch als eine Art „vorpolitischer“ Gemeinschaftsstiftung

49 Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung. In: ders. (Hg.), Herr­ schaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 13–44. 50 Vgl. zu den Dilemmata des offiziellen Geschichtsnarrativs Tea Sindbæk, Usable History? Representations of Yugoslavia’s Difficult Past from 1945 to 2002, Aarhus 2004. 51 Hierzu mit überzeugenden Belegen Heike Karge, Steinerne Erinnerung – versteinerte Erinnerung? Kriegsgedenken in Jugoslawien (1947–1970), Wiesbaden 2010.

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akzeptiert, waren sie doch eine Gelegenheit, mit Gleichaltrigen aus anderen Regionen zusammenzukommen. Ihre im engeren Sinne politische Sozialisations­ kraft aber büßten sie zunehmend ein.52 Weniger noch ließ sich die Codierung dieses historischen Herrschaftsanspruchs der Partei im Personenkult um Tito dauerhaft geltend machen.53 Nicht nur die rituelle Veralltäglichung dieses Kults unterminierte dessen Sozialisationseffekt. Auch die zunehmend transzendentalen Züge eines nach seinem Tod nur mehr noch inszenierten Charismas vertrugen sich immer weniger mit der säkularen Modernität der jugoslawischen Gesellschaft der 1980er-Jahre. Beides, das historische Legitimationsnarrativ der Partei wie auch die Person Titos, gerieten denn auch bereits im Laufe der 1980er-Jahre unter den Druck einer intellektuellen Öffentlichkeit, deren Dekonstruktionsarbeit die schwindenden Sanktionsressourcen der Partei immer weniger entgegenzusetzen vermochten. „Geschichte“ wurde jetzt zum Medium einer Identitätsbildung jenseits des Sozialismus und zum Ende der 1980er-Jahre hin auch jenseits jugoslawischer staatlicher Gemeinsamkeit, konnte dem erodierenden System und dem ins Taumeln geratenden Staat aber keine Stabilität mehr verleihen. Eine repressiver werdende Herrschaft, das praktische Scheitern einer Revitalisierung der Selbstverwaltungsidee, das Wegbrechen ökonomisch-sozialer Modernitätsversprechen und die gleichzeitige Erosion der historisch-ideologischen Selbstlegitimierung der Parteiherrschaft – dies alles ließ im Laufe der 1980er-Jahre die Bindekräfte ähnlich wie im übrigen Ostblock an ihre Grenzen stoßen. Die Symptome der Entfremdung der Gesellschaft von den Instanzen der politischen Macht wurden denn auch schon seit den späten 1970er-Jahren in der jugoslawischen Bevölkerung unübersehbar. Hatten 1974 nur 9 Prozent der befragten Jugendlichen erklärt, auf keinen Fall der Partei beitreten zu wollen, so waren es nicht einmal zehn Jahre später bereits mehr als 50 Prozent; in Slowenien stieg der Anteil gar auf 88 Prozent, in Kroatien auf 70 Prozent.54 Dennoch hat selbst noch Ende der 1980er-Jahre in Meinungsumfragen, mit Ausnahme der Albaner des Kosovo sowie mit einigem Abstand der Slowenen, eine große Mehrheit der Befragten in allen anderen Republiken, selbst in Kroatien, für einen Erhalt Jugoslawiens plädiert und im Sozialismus die im Grundsatz bessere soziale Ordnung gesehen.55 Ob man dies als Indiz dafür werten kann, dass die Integrationskapazitäten des Staates selbst kurz vor seinem blutigen Zerfall noch

52 Vgl. Reana Senjković, Svaki dan pobjeda. Kultura omladinskih radnih akcija, Zagreb 2016, S. 222–226, 240 ff. 53 Vgl. vor allem Marc Halder, Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien, München 2013. 54 Jović, Jugoslavija – država koja odumrla, S. 323. 55 Duško Sekulić/Garth Massey/Randy Hodson, Who were the Yugoslavs? Failed Sources of Common Identity in the Former Yugoslavia. In: American Sociological Review, 59 (1994) 1, S. 83–97, verweisen auf die trotz der Primärbindung an die eigene Nation auch zum Ende des jugoslawischen Staates noch bestehenden „jugoslawischen” Identi­ fi­kationsressourcen in weiten Teilen der Bevölkerung.

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nicht völlig erschöpft waren, lässt sich angesichts der Selektivität derartiger Daten kaum schlüssig beantworten. Auch diese Zustimmungsraten dürften aber wohl nur das beschreiben, was an anderer Stelle mit dem Begriff der „negativen Loyalität“ umschrieben worden ist56 – ein nur mehr noch residuales Gefühl der Bindung an Staat und System, das sich nicht mehr aus der positiven Bejahung seiner Institutionen und Werte nährte, sondern aus dem Fehlen einer auch am Ende der 1980er-Jahre offenbar noch nicht hinreichend denkbaren Alternative eines anderen Systems und einer anderen post-jugoslawischen Staatlichkeit.

Vom „credit card communism“ zur ökonomischen Dauerkrise: die Grenzen der Sozialintegration Das Bemühen, die Menschen nicht nur auf dem Wege des Zwangs und der „Durchherrschung“, sondern auch mittels sozialer Integrationsinstrumente zur Loyalität oder zumindest zur Akzeptanz der politischen Ordnung zu veranlassen, teilte Jugoslawien mit den anderen sozialistischen Staaten. Dem jugoslawischen Sozialismus standen dabei jedoch andere und wirkungsvollere Mittel zur Verfügung als den ressourcenarmen Mangelwirtschaften des Ostblocks. In Jugoslawien waren es nicht nur die klassischen Instrumente einer sozialistischen „Fürsorgediktatur“ wie weitgehende Arbeitsplatzsicherheit (für jene, die einen Arbeitsplatz hatten, notabene!), kostenlose Gesundheitsversorgung oder materielle und immaterielle Transferleistungen des Staates, auf die man auch hier als Teil eines „sozialistischen Gesellschaftsvertrages“ zurückgriff. Neben staatlicher Wohlfahrt war es vielmehr vor allem eine bemerkenswerte Wohlstandsentwicklung, die man zum Zwecke der Legitimationssicherung einzusetzen vermochte. Jugoslawien schien auf dem Weg zum „credit card communism“, wie die „New York Times“ das Land 1973 betitelte,57 und dieses Epitheton war mehr als eine Allegorie, hatten „American Express“ und „Diners Club“ doch in der Tat zu dieser Zeit begonnen, den jugoslawischen Bürger mit Kreditkarten auszustatten. Hatten 1973 nur etwas mehr als 3 000 Jugoslawen über ein solches Statussymbol einer kapitalistischen Konsumgesellschaft verfügt, so stieg der Anteil der „Diners Club“-Karte bis 1985 auf fast 40 000, der von „American Express“ bis 1988 auf sogar 140 000 an.58 Der rapide Zuwachs

56 Wolfgang Höpken, „Durchherrschte Freiheit“: Wie autoritär (oder liberal) war Titos Ju­ goslawien? In: Hannes Grandits/Holm Sundhaussen (Hg.), Jugoslawien in den 1960er Jahren. Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat?, Wiesbaden 2013, S. 59. 57 Zit. nach Nicole Münnich, Struktureller Mangel und Credit Card Communism. Konsum­ kultur in Jugoslawien in den „langen 1960er Jahren“. In: Grandits/Sundhaussen (Hg.), Jugoslawien in den 1960er Jahren, S. 109–134, hier 115. 58 Igor Duda, Pronađeno blagostanje: Svakodnevni život i potrošačka kultura u Hrvatskoj 1970-ih i 1980-ih, Zagreb 2010, S. 48 f.

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an ­langlebigen Konsumgütern und eine zwischen 1960 und 1980 rasant zunehmende Automobilisierung waren, auch wenn diese immer noch deutlich hinter dem Standard westlicher Gesellschaften zurückblieben und im Lande selbst regional ungleich verteilt waren, der sichtbarste Ausdruck dieser Entwicklung hin zu einer „sozialistischen Konsumgesellschaft“.59 Die zumindest in den größeren Städten stark ansteigende Zahl an Selbstbedienungsläden und der Aufund Ausbau von großen Warenhäusern60 schufen Konsumlandschaften, die das Einkaufen zunehmend auch zu einem haptischen Erlebnis machten. Werbung, die sich seit den 1970er-Jahren von der didaktischen Belehrungsrhetorik sozialistischer Werbung in den anderen sozialistischen Staaten abhob und sich kaum mehr von jener westlich-kapitalistischer Gesellschaften unterschied, kreierte die sinnlich-ästhetische Suggestion einer Konsumgesellschaft, die Jugoslawien auch auf diesem Gebiete symbolisch „verwestlichte“.61 „Lifestyle“-Zeitschriften und der Film popularisierten dieses Bild einer zwar sozialistischen, in ihrem Alltag aber bereits weithin westlichen Gesellschaft.62 Die bereits in den 1960er-Jahren eingeführten und zunehmend genutzten Verbraucherkredite von Banken und Warenhäusern63 machten auch die Anschaffung teurer Konsumgüter angesichts einer stets signifikanten Inflation nicht nur zu einem risikoarmen ökonomischen Geschäft, sondern verliehen dem Konsum so auch die Aura eines jederzeit verfügbaren Alltagshandeln. Die in den 1960er-Jahren noch in einer Grauzone von Semi-Legalität und Schmuggel angesiedelten Shopping-Touren, vornehmlich nach Triest und in die österreichischen Grenzstädte, wurden in den 1970er-Jahren selbst für Bewohner grenzferner Regionen zum regelmäßigen 59 Hatte die Versorgung mit Elektroherden, Kühlschränken und Fernsehern 1968 selbst in relativ entwickelten Republiken wie Kroatien noch bei 39 Prozent bzw. 30 Prozent, bei Waschmaschinen gar nur bei 14 Prozent gelegen, so wurde bis zum Ende der 1970erJahre praktisch eine Vollversorgung erreicht. Die Zahl der angemeldeten Autos stieg im gleichen Zeitraum von 1960 54 000 auf 1970 720 000; die der Einwohner pro Auto sank, beispielsweise in Kroatien, von 192 auf 7. Vgl. die Zahlen langlebiger Konsum­ gü­ter für Jugoslawien und Kroatien ebd., S. 149 f.; Thomas Hyder Patterson, Bought and Sold. Living and Losing the Good Life in Socialist Yugoslavia, Ithaca 2011, S. 40 f.; für Slowenien vergleichbare Zahlen bei Marta Rendla, Življenska raven Slovencev v Drugi Jugoslaviji. In: Zdenko Čepič (Red.), Slovenija v Jugoslaviji, S. 198; zur Automobi­ lisierung auch Duda, Pronađeno blagostanje, S. 205–289; sowie für Belgrad Nicole Mün­nich, Belgrad zwischen sozialistischem Herrschaftsanspruch und gesellschaftlichem Eigensinn. Die jugoslawische Hauptstadt als Entwurf und urbane Erfahrung, Wiesbaden 2013, S. 291 ff. 60 So verdoppelte sich in den 1970er-Jahren die Zahl der Warenhäuser und die Verkaufs­ fläche der Selbstbedienungsläden. Vgl. Igor Duda, Der gefundene Wohlstand. Alltag und Konsumkultur in Kroatien der 1970er und 1980er Jahre. In: Relations, 1–2 (2011), S. 168–183. 61 Duda, Pronađeno blagostanje, S. 105 f.; Patterson, Bought and Sold, S. 95 ff., 113 ff., 139 ff. 62 Vgl. zur Popularisierung der Konsumgesellschaft im Film Miroslava Mališević, Iskušenja socijalističkog raja – refleksije konsumerističkog društva u jugoslovenskom filmu 60-ich godina XX. veka. In: Glasnik Etnografskog Instituta SANU, 57 (2012) 2, S. 107–123. 63 Zur Nutzung solcher Verbraucherkredite siehe die Angaben bei Josip Štahan, Životni standard u Jugoslaviji, Zagreb 1974, S. 84; Münnich, Belgrad, S. 288.

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­ onsumevent. In ihnen verband sich das Erlebnis des Einkaufens im Westen zuK gleich mit dem Gefühl einer auch jederzeit möglichen räumlichen Entgrenzung des eigenen Alltags, die den Menschen in den übrigen sozialistischen Staaten weithin verwehrt wurde.64 Mit der Konvertibilität des jugoslawischen Dinars 1976 schienen Jugoslawiens Konsumenten auch auf diesem Gebiet im Westen angekommen zu sein. Der Tourismus, der sich in den 1970er-/80er-Jahren auch für untere Einkommensgruppen vom staatlich geförderten Gratifikationsurlaub in gewerkschaftseigenen Erholungsheimen zum kommerziell organisierten und individuellen „leisure-­tourism“ wandelte, war ein weiteres Element, welches das Gefühl eines auch im Sozialismus möglichen „guten Lebens“ verstärkte.65 Möglich wurde all dies durch einen sich in den 1970er-Jahren zwischen drei und acht Prozent bewegenden Zuwachs des Bruttosozialeinkommens, dem trotz einer bereits damals beachtlichen Inflation ein ähnlich starker Zuwachs der Reallöhne zur Seite stand. Der persönliche Verbrauch stieg in den 1960er-Jahren um 5,7 Prozent pro Jahr, in den 1970er-Jahren immer noch um 4,9 Prozent.66 Zwar stiegen auch die Lebenshaltungskosten stark an, da sich der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel, aber auch für Mieten am familiären Gesamtbudget aber beständig reduzierte und zeitgleich auch die Preise für Konsumgüter zurückgingen, verblieb zunehmend mehr an monetärer Verfügungsmasse für Konsum. Hatte eine vierköpfige Familie 1964 noch 40 Prozent ihres monatlichen Gesamteinkommens allein für Nahrungsmittel ausgeben müssen, so sank dieser Anteil in den 1970er-Jahren auf unter 30 Prozent.67 Konsum war dabei nicht nur ökonomisches Handeln, sondern wurde mehr und mehr eine diskursiv und symbolisch umrahmte, identitätsprägende kulturelle Praxis. Folgt man Rahel Jaeggis Begrifflichkeit, so wird man davon sprechen können, dass sich in Jugoslawien im Rahmen der sozialistischen Ordnung so etwas wie eine eigene, auf Konsum und Wohlstand basierende „Lebensform“ im Sinne kollektiv geteilter sozialer Praktiken und Orientierungen der Lebensführung herauszubilden begann.68 Mit dieser Lebensführung entfernten sich die Menschen freilich immer mehr auch von den Werten des Sozialismus, waren 64 Vgl. Breda Luthar, Shame, Desire, and Longing for the West. A Case Study of Consump­ tion. In: Breda Luthar/Maruša Pušnik (Hg.), Remembering Utopia. The Culture of Everyday Life in Socialist Yugoslavia, Washington 2010, S. 341–377; Alenka Švab, Consuming Western Image of Well-being. Shopping Tourism in Socialist Slovenia. In: Cultural Studies, 16 (2002)1, S. 63–79. 65 Vgl. Hannes Grandits/Karin Taylor (Hg.), Yugoslavia’s Sunny Side. A History of Tourism in Socialism (1950s–1980s), Budapest 2010; Duda, Pronađeno blagostanje, S. 291–386. Vgl. demgegenüber für den frühen, noch ganz staatlich organisierten und kontrollierten Tourismus Igor Duda/Igor Stanić, Iza vrata na odmarališta. Službeni zapisi o nestašima i gladnima 1947–1950. In: Historijski Zbornik, LXIV (2011) 1, S. 99–119. 66 Jože Prinčič, Pot do slovenske narodnogospodarske suverenosti 1945–1991, Ljubljana 2013, S. 85; leicht abweichende Angaben bei Patterson, Bought and Sold, S. 33, 47. 67 Štahan, Životni standard, S. 135; Radelić, Hrvatska, S. 533; Aleksandar Lorenčič, Kako smo živeli v drugi jugoslaviji. In: Zdenko Čepič (Red.), Slovenija v Jugoslaviji, S. 137 f. 68 Vgl. Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Frankfurt a. M. 2014, zum Unterschied von „Lebensstil“ und „Lebensform“ bes. S. 70–89.

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doch nicht nur die Waren selbst, sondern auch die damit verbundene Waren­ ästhetik und die an die Warenwelt gebundenen sozialen Rollen weithin an westlich-amerikanischen Vorbildern orientiert.69 Mochte der stets eng beschränkte und zudem oftmals diskriminatorisch regulierte Zugang zu westlichen Konsumgütern den Alltag der Menschen in den staatssozialistischen Ländern des Ostblocks ebenfalls ein Stück weit „verwestlichen“, so schuf er in Jugoslawien das Gefühl eines „belonging to the West“. Konsum vermittelte, wie es Thomas Patterson bilanziert hat, „a sense, that they as Yugoslav citizens had become part of the developed world“.70 Konsum war aber nicht nur Quelle von Sozial­ integration und einer „vorpolitischen Unterstützung“71 des Systems, sondern er schien auch die sensible nationalitätenpolitische Balance des multiethnischen Staatsgebildes zu stärken. Wie vielleicht ansonsten nur noch der Sport72 und sicherlich mehr als die parteioffizielle Semantik von „Brüderlichkeit und Einheit“, welche die Sozialisationsliturgie von Staat und Partei bestimmte, trugen Konsum und Wohlstandsentwicklung auch zum Entstehen einer gemeinsamen jugoslawischen Identität bei. Sie vergesellschafteten die ethnischen Gruppen jenseits aller sonstigen Unterschiede im Glanz einer vermeintlich für alle Völker Jugoslawiens erreichbaren westlichen Warenwelt. Die Partei sah sich zwar immer wieder veranlasst, die Imperativa einer „sozia­ listischen Lebensweise“ gegen die sich etablierende Lebensform einer verwestlichten Konsumgesellschaft geltend zu machen. Sie wetterte gegen die Neigung zum „Konsumerismus“ und suchte der westlichen Warenästhetik mit der Forderung nach einer auf Information und rationaler Entscheidung des Konsumenten orientierten „sozialistischen Werbung“ entgegenzutreten.73 Dies alles blieb

69 Vgl. den Hinweis auf die Verknüpfung von „westlichen“ Haushaltsgeräten und dem Rol­ len­bild von Frauen bei Polona Sita, The Right Step towards a Woman’s Satisfaction? Washing Machines as a New Piece of Technology and the Construction of the Role of Women as Housewives in Socialist Slovenia. In: Narodna umjetnost, 52 (2015) 1, S. 143–171; sowie zum Zusammenhang von Konsumgütern und Rollenbildern auch Igor Duda, ‚Tehnika narodu!‘ Trajna dobra, potrošnja i slobodno vrijeme u socijalističkoj Hrvatskoj. In: Časopis za suvremenu povijest, 37 (2005) 2, S. 371–391; Radina Vučetić, Potrošačko društvo po američkom modelu (jedan pogled na jugoslavensku svakodnevicu šezdesetih). In: Časopis za suvremenu povijest, 44 (2012) 2, S. 277–298. 70 Patterson, Bought and Sold, S. 307 f. 71 Martin Sabrow, Sozialismus als Sinnwelt. Diktatorische Herrschaft in kulturhistorischer Perspektive. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, 40/41 (2007), S. 9–23, hier 18. 72 Zur integrativen Rolle des Sports vgl. u. a. Vjekoslav Perica, United they Stood, Divided they Fell. Nationalism and the Yugoslav School of Basketball 1968–2000. In: Nationa­ lities Papers, 29 (2001) 2, S. 267–291; für die freilich in der Zerfallskrise Jugoslawiens sehr schnell auch zum Medium nationalistischer Mobilisierung mutierende Rolle des Sportes siehe Allan Sack/Zeljan Suster, Soccer and Croatian Nationalism. A Prelude to War. In: Journal of Sport and Social Issues, 24 (2000) 3, S. 305–320; Richard Mills, ,It all Ended up in an Unsporting way‘. Serbian Football and the Disintegration of Yugos­ lavia, 1989–2000. In: The International Journal of the History of Sport, 26 (2009) 9, S. 1187–1217. 73 Duda, Der gefundene Wohlstand, S. 179 f.; Patterson, Bought and Sold, S. 148 ff., 197 ff.

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jedoch eine weithin unverbindliche Rhetorik, mit der man dem Geltungsverlust der sozialistischen Wertevorstellungen entgegenzusteuern suchte, ohne ihn allerdings aufhalten zu können. Mehr und mehr erkannte daher auch die Partei den erheblichen Legitimationsgewinn, den sie mit dem Postulat einer eigenen „sozialistischen Konsumkultur“ erzielen konnte, schien diese doch den jugoslawischen Exzeptionalismus als das „westlichste Land des Ostens“ zu bestätigen. Man stellte, wie es Branislav Dimitrijević formuliert hat, den jugoslawischen Bürgern neben dem modernistischen Traum des Kommunismus die Vision des konsumistischen Wohlstands zur Seite.74 Zwar ist von der vergleichenden Konsumgeschichtsforschung zu Recht darauf verwiesen worden, dass sozialistische Konsumkulturen nicht einfach nur als defizitäre Ableger westlicher Vorbilder zu begreifen, sondern in ihrer Eigenlogik ernst zu nehmen sind.75 Gerade die Homologie zu den Symbolen und Ausdrucksformen eines westlichen Lebensstils aber machten Wohlstand und Konsum in Jugoslawien zu einer besonderen Pathosformel einer „sozialistischen Sinnwelt“,76 auf die der jugoslawische Sozialismus, mehr als die übrigen sozialistischen Staaten, seinen Geltungsanspruch gründen konnte. In der alltagspraktischen Erfahrung des Konsumierens unterschied sich die Situation in Jugoslawien auch von jener etwa in der DDR, wo die stets unsichere Versorgungsituation der Etablierung einer eigenen sozia­listischen Konsumkultur trotz mancher Anleihen an moderne Konsumformen Grenzen setzte und wo die erlebte Konsumrealität angesichts der Konfrontation mit dem Schaufenster Bundesrepublik das eigene System zudem eher delegitimierte als stabilisierte.77 Spürbarer noch waren diese Grenzen in anderen sozialistischen Länder wie etwa in der UdSSR, wo das auch hier seit den 1960er-Jahren verfolgte Bemühen um ein konsumgestütztes „gutes Leben“ letztlich ein Privileg weniger blieb,78 oder in Bulgarien, wo Quantität und mehr 74 Branislav Dimitrijević, Sozialistischer Konsumismus, Verwestlichung und kulturelle Re­ produktion. Der ‚postkommunistische‘ Übergang im Jugoslawien Titos. In: Boris Groys/ Anne von der Heiden/Peter Weibel (Hg.), Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 195–277, hier 207. 75 Vgl. Hannes Siegrist, Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa. In: ders./ Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte, Frankfurt a. M. 1997, S. 13–48. 76 Sabrow, Sozialismus als Sinnwelt, S. 18 f. 77 Bilanzierend Ina Merkel, Im Widerspruch zum Ideal: Konsumpolitik in der DDR. In: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Topp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2009, S. 289–304; zu den Anleihen an „moderne“ Konsumformen vgl. Annette Kaminsky, Kaufrausch. Die Geschichte der ost­ deutschen Versandhäuser, Berlin 1998. 78 Vgl. Jukka Gronow, Caviar with Champagne. Common Luxury and the Ideals of Good life in Stalin’s Russia, Oxford 2003; Mervyn Matthews, Privilege in the Soviet Union. A Study of Elite Life-Styles under Communism, London 1978; Stephan Merl, Stadt und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft: Rußland und die ostmitteleuropäischen Länder. In: Siegrist/Kaelble/Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte, S. 205– 241; zum Wandel der Konsumkultur von der spätsozialistischen Sowjetunion zum postsozialistischen Russland Luise Althanns, McLenin. Die Konsumrevolution in Russland, Bielefeld 2009, S. 39 ff.

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noch ­Qualität der Waren eine wirkliche Konsumkultur kaum entstehen ließen.79 Nicht zu reden vom asketischen Mangel-Sozialismus Albaniens oder auch von Rumänien, wo mit der rigiden Austeritätspolitik der späten Ceauşescu-­Ära nicht einmal der paternalistische Versorgungsanspruch des Staates mit Grundnahrungsmitteln sichergestellt werden konnte und wo der Begriff des Konsums jenseits des Erkämpfens (über-)lebensnotwendiger Mittel daher beinahe jegliche Bedeutung verlor.80 Allenfalls in Ungarn scheint sich eine durch die Partei vorangetriebene „sozialistische Konsumkultur“ dem jugoslawischen Beispiel angenähert zu haben, wenn sie auch selbst hier in der Breite und in der Tiefe hinter diesem zurückblieb.81 Eine Diktaturforschung, die sich nicht nur als eine Geschichte des Politischen begreift,82 wird gerade in diesen Formen der Legitimationssicherung die Spezifik erkennen, die das jugoslawische System selbst in den Zeiten repressiverer Parteikontrolle gegenüber den anderen Sozialismen ausmachte. Man mag dies als eine erfolgreiche Korrumpierungsstrategie der herrschenden Partei deuten, mittels derer diese sich Loyalität „erkauft“ und der Bevölkerung die Forderung nach wirklichen politischen Reformen gleichsam „abgekauft“ habe.83 Zugleich aber war es eben gerade dieser relative Wohlstand, nicht so sehr die ideologischen Ansprüche des Selbstverwaltungssozialismus, der in den 1970er-Jahren in der Bevölkerung die Zustimmung zu Land und zu System stärkte.84

79 Vgl. Rossitza Guentcheva, Material Harmony. The Quest for Quality in Socialist Bul­ garia, 1960–1980. In: Paulina Bren/Mary Neuburger (Hg.), Communism Unwrapped. Consumption in Cold War Eastern Europe, Oxford 2012, S. 140–163; Anton Angelov, Konsumativna kultura i stokovi proekcii na zapada v socialističeska Bălgarija. In: Anam­ nesis, VI (2011) 1–2, S. 237–380; Mila Mineva, Razkazi za i obrazi na socialističeskoto potreblenie. In: Sociologičeski problemi, 1–2 (2003), S. 143–165; Ivaylo Ditchev, Die Konsumentenschmiede. Versuch über das kommunistische Begehren. In: Groys/Hei­ den/Weibel (Hg.), Zurück aus der Zukunft, S. 278–339. 80 Zu den Lebens- und Konsumbedingungen dieser Zeit für den ländlichen Raum vgl. Liviu Chelcea, The Culture of Shortage during State-Socialism. Consumption Practices in a Romanian Village in the 1980. In: Cultural Studies, 16 (2002) 1, S. 16–43. 81 Hierzu jetzt die Dissertation von Fruzsina Müller, Jeanssozialismus. Konsum und Mode im staatssozialistischen Ungarn, Göttingen 2017. 82 Vgl. die Überlegungen bei Pavel Kolář, Kommunistische Identitäten im Streit. Politi­sie­ rung und Herrschaftslegitimation in den kommunistischen Parteien in Ostmitteleuro­ pa nach dem Stalinismus. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung, 60 (2011) 2, S. 232–266, hier 236 ff. 83 In diesem Sinne Wendy Bracewell, Adventures in the Market Place. Yugoslav Travel Writing and Tourism in the 1950s–1960s. In: Anne S. Gorsuch/Diane P. Koenker (Hg.), Turizm. The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism, Ithaca 2006, S. 250. 84 Die seit den späten 1960er-Jahren regelmäßig und durchaus mit wachsender Professio­ nalität durchgeführten Meinungsumfragen in Slowenien signalisierten beispielsweise Mitte der 1970er-Jahre eine hohe Affinität zu den Wohlstandsleistungen des Systems, bei einem gleichzeitig relativ starken Desinteresse an den politischen Ansprüchen und Institutionen des Systems. Vgl. Jure Gašparič, Slovensko dojemanje druge Jugoslavije. In: Čepič (Hg.), Slovenija v Jugoslaviji, S. 87–104, hier 95 f.

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Bei allem unbestrittenen legitimatorischen Mehrwert, welchen Wohlstand und Konsum der Partei einspielten, neigt die Literatur freilich gelegentlich dazu, diese Wohlstandsentwicklung zu überschätzen. Die These vom „­socialismo borghese“ oder von der „sozialistischen Mittelstandsgesellschaft“, die sich gelegentlich in der Forschung findet,85 übersieht, dass – sowohl sozial wie regional – nicht unbeträchtliche Segmente der Gesellschaft an dieser Entwicklung kaum partizipierten, und sie unterschätzt zudem die Tendenz zu einer wachsenden sozialen Ungleichheit, welche diese Epoche eben auch prägte. Auch Anfang der 1970er-Jahre, inmitten des jugoslawischen „Wirtschaftswunders“, verdienten nach einem Bericht des jugoslawischen Gewerkschaftsbundes 58 Prozent aller Beschäftigten weniger als das jugoslawische Durchschnittseinkommen86 und waren schon von daher vom „sozialistischen Kaufrausch“ weitgehend ausgeschlossen. Auch der Deutschen Botschaft in Belgrad war diese Diskrepanz aufgefallen. „Während Jugoslawien nach außen das Bild einer florierenden Konsumgesellschaft mit reichem Warenangebot bietet“, so in einem Bericht vom Mai 1971, „liegen die Durchschnittseinkommen gegenwärtig bei 1 500 Dinar (etwa 260 DM). Ein Drittel der Arbeitnehmer verdient sogar weniger als 1 000 Dinar (240 DM) im Monat.“87 Zwar waren, wie in allen sozialistischen Staaten, die nominalen Einkommensunterschiede der im gesellschaftlichen Sektor Beschäftigten eher gering. Eine Vielzahl an sogenannten persönlichen Zahlungen, die gelegentlich weit über zehn Prozent des Nominaleinkommens ausmachen konnten und die sich nicht selten im Grenzbereich illegaler Zuwendungen bewegten, trugen aber vor allem für die besser qualifizierten „white collar worker“ dazu bei, ihr Einkommen aufzubessern, und wurden so zu einem gewichtigen Element sozialer Ungleichheit.88 Konsummöglichkeiten und Wohlstand legitimierten somit nicht nur das System, sondern wuchsen sich aufgrund ihrer ungleichen Verteilung so auch zu einem Element latenter Delegitimierung aus.89 Zudem war die jugoslawische Gesellschaft auch jenseits der monetären Differenzierung

85 Dimitrijević, Sozialistischer Konsumismus, S. 201; Luthar, Shame, Desire, S. 347. 86 Veće Saveza Sindikata Jugoslavije, Socijalne razlike u našem društvu, Beograd 1972, S. 21 f. 87 Botschaft Belgrad an AA vom 21.5.1971, Betr.: 2. Kongress der Selbstverwaltung (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 232, Bl. 67 f.). 88 In 74 Prozent aller Betriebe lag die Spanne zwischen den Einkommen bei 1 zu 4. Vgl. Veće Saveza Sindikata Jugoslavije, Socijalne razlike, S. 22; zu den „Zusatzeinkommen“, ebd., S. 41–43; zu den Tendenzen sozialer Ungleichheitsentwicklung aus zeitgenössischer kritischer Sicht vgl. Boris Vušković, Social Inequality in Yugoslavia. In: New Left Review, 95 (1976) 1, S. 26–44. 89 Nicht zufällig waren gerade die Jahre der Wohlstandsentwicklung daher immer wieder auch begleitet von Kampagnen der Partei gegen ungerechtfertigte Bereicherung, mit de­ nen diese auf eine spürbar zunehmende soziale Unzufriedenheit gerade in Teilen der Ar­ beiterschaft, aber auch kritischer Intellektueller zu reagieren suchte. Vgl. exemplarisch den diesbezüglichen Bericht der Botschaft Belgrad an das AA vom 23.2.1972, Betr.: Innere Entwicklung Jugoslawiens seit der II. Parteikonferenz (PAAA, B 42 Zwischen­ archiv, Band 299, Bl. 378–386).

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durch komplexe soziale Cleavage-Strukturen geprägt, in denen materielle wie immaterielle Faktoren klassenbildend wirkten und eine soziale Schichtung produzierten, welche vom offiziellen Bild einer sozialistischen Sozialstruktur aus Arbeitern, Bauern und Intelligenz kaum angemessen abgebildet wurde. Rory Archer hat beispielsweise auf den Zugang zu Wohnraum als einer wichtigen Variable sozialer Ungleichheitsstrukturen verwiesen, hatten doch 80 Prozent der politischen und technokratischen Eliten Zugang zu staatlichen Wohnungen, hingegen nur 22 Prozent der Arbeiter – eine Alltagserfahrung, die in Zeiten der Krise in den 1980er-Jahren nicht unwesentlich zur Delegitimierung des Systems und seiner Wohlstands- und Gleichheitsansprüche beitrug.90 Andere Faktoren verstärkten diese Ungleichheitsstrukturen: Nicht nur gab es erhebliche soziale Unterschiede zwischen Stadt und Land, ebenso wie auch der Zugang zu Gastarbeitertransferzahlungen sozial segregierend wirkte. Generell war die alltägliche Arbeits- und Lebenswelt, wie Ulrike Schult unlängst an betrieblichen Mikrostudien eines slowenischen und eines serbischen Industriebetriebes herausgearbeitet hat, durch eine Vielzahl an „intersektionellen Differenzierungen“ geprägt, zu denen neben Einkommen und Wohnung ebenso Qualifikation, Geschlecht, Herkunft, aber auch politische Loyalität gehörten.91 Die jugoslawische Gesellschaft war somit alles andere als ein sozialistisches „Mittelstandsparadies“; ihre Wohlstandsangebote waren eine fragile Legitimitätsressource, deren symbolischer Wert für die Absicherung von Herrschaft möglicherweise höher war als ihre tatsächliche soziale Integrationsleistung. Hinzu kommt, dass die jugoslawische Konsumgesellschaft der späten 1960erund 1970er-Jahre nicht durch ökonomische Leistungsfähigkeit selbst erwirtschaftet war. Sie wurde finanziert durch einen aufgrund der politischen Position Jugoslawiens zwischen den Blöcken stets leichten Zugang zu westlichen Krediten, durch die beträchtlichen Transferzahlungen jugoslawischer Gastarbeiter, die in den 1970er-Jahren mit 900 Millionen Dollar sechs bis acht Prozent des ju-

90 Vgl. Rory Archer, Housing, Social Inequalities and Discontent among Working Class Belgraders in late Yugoslav socialism (1974–1991), Diss. phil. Universität Graz 2015, masch., S. 146 ff.; Teilergebnisse der Studie auch unter Rory Archer, „Imaš kuću – vrati stan“. Housing Inequalities, Socialist Morality and Discontent in 1980s Yugoslavia. In: Godišnjak za društvenu istoriju, 3/2013, S. 119–139; sowie ders. ‚Paid for by the Wor­ kers, occupied by the Bureaucrats‘. Housing Inequalities in 1980s Belgrade. In: Rory Archer/Igor Duda/Paul Stubbs (Hg.), Social Inequalities and Discontent in Socialist Yugoslavia, London 2016, S. 58–75; mit ähnlichen Befunden Brigitte Le Normand, The House that Socialism Built. Reform, Consumption and Inequality in Postwar Yugoslavia. In: Bren/Neuburger (Hg.): Communism Unwrapped, S. 351–373; James Simmie, Housing and Inequality under State Socialism: An Analysis of Yugoslavia. In: Housing Studies, 6 (1991) 3, S. 172–181. 91 Vgl. Ulrike Schult, Zwischen Stechuhr und Selbstverwaltung. Eine Mikrogeschichte sozialer Konflikte in der jugoslawischen Fahrzeugindustrie 1965–1985, Münster 2017, bes. S. 252 ff. Vgl. auch Rory Archer/Goran Musić, Approaching the Socialist Factory and its Workforce. Considerations from Fieldwork in (former) Yugoslavia. In: Labor History, 58 (2017) 1, S. 44–66.

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goslawischen Bruttosozialprodukts ausmachten,92 aber auch durch die strukturell im System der Arbeiterselbstverwaltung angelegte Neigung jugoslawischer Betriebe, zu viel in Löhne und zu wenig in Rücklagen und investives Kapital zu verteilen. Es war, wie es Marie-Janine Calic zu Recht nennt, eine „Fassaden-­ Prosperität“,93 die schon Mitte der 1970er-Jahre, früher, als man es wahrhaben wollte,94 zu bröckeln begann und die mit den 1980er-Jahren endgültig von einer Wirtschaftskrise abgelöst wurde, die jener Polens durchaus vergleichbar war. Die Symptome und auch die Ursachen dieses wirtschaftlichen Niedergangs müssen hier undiskutiert bleiben. Die basalen Indikatoren der ökonomischen Entwicklung der späten 1970er- und 1980er-Jahre offenbaren jedoch den dramatischen Rückgang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Tabelle 2: Entwicklung der wichtigsten Wirtschaftsindikatoren Jahr

BSP in Mrd. $

BSP pro Kopf (in $)

Wachstum Auslandsschulden in % in Mrd. $

Inflation in %

1979

68,0

3 070

5,8

3,7

21,4

1981

58,3

2 591

2,2

18,4

39,5

1985

48,6

2 120

1,7

19,6

86,6

1987

53,7

2 300

0,5

21,7

160,3

Quelle: Statistički godišnjak SFRJ, versch. Jahrgänge. Die sozialen Folgen dieser Entwicklung waren ein rapider Rückgang der Reallohnentwicklung und des Lebensstandards, der allein zwischen 1978 und 1984 bei weit über 30 Prozent lag,95 sowie ein Anstieg der Arbeitslosigkeit im selben Zeitraum auf zuletzt fast eine Million registrierte „Arbeitssuchende“, denen der Staat kaum wirksame sozialpolitische Leistungen anbot.96 Von ­Arbeitslosigkeit 92 Ulf Brunnbauer, Labour Emigration from the Yugoslav Area from the late 19th Century until the End of Socialism: Continuities and Changes. In: ders. (Hg.), Transnational So­ cieties, Transnational Politics. Migrations from the (Post-)Yugoslav Region, 19th–21th Century, München 2009, S. 46. 93 Marie-Janine Calic, The Beginning of the End – The 1970s as a Historical Turning Point in Yugoslavia. In: dies./Neutatz/Obertreis (Hg.), The Crisis of Socialist Modernity, S. 66–86, hier 74. 94 Schon im März 1972 sah beispielsweise ein Memorandum der CIA zwar für das laufen­ de Jahr eine generell positive Aussicht der jugoslawischen Wirtschaft, prognostizierte aber kurz- und mittelfristig eine zunehmende Inflation und einen rückläufigen Pro­ duk­tivitätszuwachs. Vgl. CIA Intelligence Memorandum von März 1972, The Yugoslav Eco­nomy: Off the Critical List? (https://www.cia.gov/library/readingroom/search/site/ yugoslavia?CIA-RDP85T00875R001700030026-9; 19.11.2017). 95 Radelić, Hrvatska, S. 493. 96 Zur Problematik der in Jugoslawien verwendeten statistischen Kategorie der „Arbeits­ suchenden“ (nicht der Arbeitslosen) wie auch zu den sozialpolitischen Maßnahmen des Staates vgl. Đorđe Tomić/Stevan Pavleski, Das werktätige Volk ohne Arbeit. Arbeitslosig­ keit und Selbstverwaltung im sozialistischen Jugoslawien als Forschungsgegenstand: Eine

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betroffen waren vor allem Jugendliche, deren Anteil 1965 von 42 Prozent auf ca. 60 Prozent zwei Jahrzehnte später anstieg. Zwar war die Zunahme der Beschäftigten im gesellschaftlichen Sektor aus sozialpolitischen Gründen von der Partei stets relativ hoch gehalten worden und betrug selbst noch zwischen 1976 und 1981, als sich die ersten Anzeichen der wirtschaftlichen Krise verdichteten, zwischen 4,5 und 2,3 Prozent pro Jahr.97 Letztlich aber war es vor allem die Möglichkeit der Gastarbeiterabwanderung gewesen, welche den Druck auf den Arbeitsmarkt gemindert hatte. Der Aufnahmestopp für „Gastarbeiter“ in mehreren westeuropäischen Ländern machte eine solche Entlastung mit dem Ende der 1970er-Jahre nicht mehr möglich und verwandelte Arbeitslosigkeit mehr und mehr zu einem gravierenden sozialpolitischen Problem. Tabelle 3: Arbeitslosigkeit in Jugoslawien 1961 bis 1984 Beschäftigte* absolut** Wachstum der ­Beschäftigtenrate*** „Arbeitssuchende“ ­absolut** In Prozent

1961

1971

1981

1984

3 170

3 944

5 846

6 224

7,96

2,46

3,88

2,48

191,30

291,30

808,60

974,80

2,80

10,82

15,37

16,32

* = im gesellschaftlichen Sektor, ** = in Tausend, *** = in % Quelle: Emil Primorac/Mate Babić, System Changes and Unemployment Growth in Yugoslavia 1964–1984. In: Slavic Review, 48 (1989) 2, S. 195–213. Die Austeritätspolitik, derer sich das faktisch zahlungsunfähige Land ab Mitte der 1980er-Jahre auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu unterwerfen hatte, löste mit strengen Importrestriktionen, Devisenbeschränkungen und Preislockerungen bei gleichzeitigen Lohnbeschränkungen die Insignien der sozialistischen Wohlstandsgesellschaft binnen kürzester Zeit auf. Aus der jugoslawischen Konsumgesellschaft wurde eine Schwarzmarkt- und Tauschgesellschaft. Ohne Zweifel trug dieses abrupte Ende der Wohlstands­ illusion zu jener oben beschriebenen Legitimitätskrise des Systems bei. Das soziale und ökonomische Wohlstands- und Modernitätsversprechen, mit dem die Partei in den 1970er-Jahren hatte punkten können, konnte sie nun nicht mehr geltend machen. „While consumerism“, so hat Thomas Patterson bilanziert, „long served as a stabilizing force in Yugoslav society […] it ultimately played kritische Bestandsaufnahme. In: Südosteuropäische Hefte, 4 (2015) 2, S. 73–90. Als ein­schlägige Studie zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit immer noch Susan Woodward, Socialist Unemployment. The Political Economy of Yugoslavia 1945–1990, Princeton 1995. 97 Polazne osnove dugoročnog programa ekonomske stabilizacije. Dokumenti I–VII, Sara­ jevo 1983, S. 124.

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a significant role in causing the collapse of the system.“98 Letztere Vermutung bedarf freilich der Relativierung. Auffällig angesichts der Dramatik der Krise ist nämlich, wie wenig es letztendlich doch die wirtschaftlichen und sozialen Krisenfolgen waren, die den Staat in Gefahr brachten.99 Zwar nahm die Zahl der Streiks im Laufe der 1980er-Jahre deutlich zu. Streiks aber waren seit den 1960er-Jahren ohnehin längst zu einem zwar nicht legalisierten, wohl aber tolerierten Mittel der Konfliktaustragung geworden.100 Auch wenn die Ausstände in den 1980er-Jahren länger wurden, größere Betriebe mit zum Teil mehreren Tausend Beschäftigten erfassten und gelegentlich mit Demonstrationen verbunden waren,101 selbst die ca. 200 000 Streikenden, die im Laufe des Jahres 1987 auf dem Höhepunkt der Streikwelle im ganzen Land im Ausstand waren, sind in Breite und vor allem in Radikalität nicht zu vergleichen gewesen mit den Arbeiterrevolten der 1970er-Jahre in Danzig. Auch in der Krise bot das System dem Einzelnen offenbar noch eine Vielzahl an formellen und informellen Instrumenten, um mit den schlimmsten Folgen des wirtschaftlichen Einbruchs fertigzuwerden, von privaten Nebentätigkeiten über illegale Geschäfte, den Rückgriff auf private Devisenreserven oder Gastarbeitertransferzahlungen bis hin zur schlichten Verweigerung von Zahlungen für kommunale Dienstleistungen wie Mieten oder Strom. So gravierend der wirtschaftliche Niedergang auch war, das System und damit auch der Staat zerbrachen nicht, zumindest nicht vorrangig, an ihrer ökonomischen Performanzschwäche. Zu einem politisch destabilisierenden Faktor wurden Streiks denn auch erst, als sie insbesondere in Serbien durch Slobodan Milošević bewusst politisiert und zum Instrument seiner Machtpolitik gemacht wurden. Sozialer Protest und nationalistische Mobilisierung flossen dabei in­einander und erst darin trugen sie zur Erosion auch der staatlichen Stabilität bei.

„Bleierne Zeit“ oder die Inkubation der Zivilgesellschaft? Wir sind damit beim letzten der diesem Beitrag aufgegebenen Punkte angekommen, der Frage nach den Handlungsspielräumen zivilgesellschaftlich-­dissidenter oder gar oppositioneller Strömungen. Auch hier weist die jugoslawische Entwicklung manche Gemeinsamkeiten mit anderen sozialistischen Staaten, mehr aber noch Pfadbesonderheiten auf. Begriffe wie Opposition, Dissidenz und

   98 Patterson, Bought and Sold, S. 318.    99 Siehe in diesem Sinne auch die Diskussion des ökonomischen Erklärungsmoments bei Jović, Jugoslavija – država koja odumrla, S. 33–36. 100 Zu den Streiks bis zum Ende der 1960er-Jahre vgl. Neca Jovanov, Radnički štrajkovi u SFRJ, Beograd 1979. 101 Vgl. Predrag J. Marković, Radnički štrajkovi u socijalističkom i tranzicionom društvu Jugoslavije i Srbije. In: Tokovi istorije, 1 (2014), S. 53–74; Nebojša Vladisavljević, The Breakdown of Yugoslavia. The Role of Popular Politics. In: Jokić/Ker-Lindsay (Hg.), New Perspectives on Yugoslavia, S. 143–160, hier 149–151.

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­ issens nämlich haben in Jugoslawien ihren eigenen Klang.102 Dabei ist der MyD thos von einem weithin „dissidenzfreien“ Jugoslawien, der den Blick von außen lange Zeit begleitete, mittlerweile erschüttert, und jüngere Arbeiten haben auf die vielfältigen Erscheinungen abweichenden politischen Verhaltens auch unter den Bedingungen eines liberaleren eigenen jugoslawischen Weges verwiesen. Auch war Repression wie in allen anderen sozialistischen Systemen zu jeder Zeit ein Signum der Herrschaft, zum Teil sogar mit einer beträchtlichen Intensität. Schon die Etablierungsphase der neuen sozialistischen Ordnung war von einem Furor repressiver Gewalt begleitet, der sich nicht nur gegen die militärischen Gegner der Partisanen Titos, gegen Kriegsverbrecher und Kollaborateure mit den Besatzungsmächten richtete, sondern der bis weit ins liberal-konservative Lager hineinreichte und der darauf abzielte, jeglichen politischen Handlungsspielraum konkurrierender Eliten und alle ordnungspolitische Alternativen zu unterbinden.103 Repression gegen die Kirche, vornehmlich, wenn auch nicht nur gegen den katholischen Klerus, sollte nach der Ausschaltung der Rudimente nicht-kommunistischer Parteien die einzig verbliebene Instanz jenseits des kommunistischen Machtapparates treffen.104 Ähnlich wie im sowjetischen Stalinismus machte die „revolutionäre Gewalt“ aber selbst vor den eigenen Leuten

102 Vgl. hierzu auch die Begriffsdiskussion bei Spehnjak/Cipek, Disidenti, S. 255–297; sowie Katarina Spehnjak, Disidentstvo kao istraživačka tema. Pojam i pristupi. In: Nada Kisić-Kolanović/Zdenko Radelić/Katarina Spehnjak (Hg.), Disidentstvo u suvremenoj povijesti, Zagreb 2010, S. 11–21; Srđan Cvetković, (Ne-)Tolerisani disidenti. Specifič­ nost jugoslovenskog socijalizma. In: ebd., S. 105–127; und Aleš Gabrič, Disidenti v Sloveniji v primerjavi z vzhodnoevropskimi komunističnimi deržavi. In: Prispevki za novejšo zgodovino, LI (2011) 1, S. 297–312. 103 Vgl. als regionale Fallstudie Michael Portmann, Die kommunistische Revolution in der Vojvodina 1944–1952. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Wien 2008; für Slowe­ nien: Jera Vodušek Starič, Kako su komunisti osvojili vlast. 1944–1946, Zagreb 2006; für Serbien: Srđan Cvetković, Između Srpa i Ćekića. Represije u Srbiji 1944–1953, Beograd 2006; Nataša Miličević, Jugoslovenska vlast i srpsko građanstvo, Beograd 2009; Momčilo Pavlović, Zatiranje političkog pluralizma u Srbiji 1945–1948. In: Istorija XX. veka, 3 (2011), S. 9–24; für Kroatien Nada Kisić-Kolanović, Vrijeme političke represije: veliki sudski procesi u Hrvatskoj 1945–1948. In: Časopis za suvremenu povijest, 25 (1993) 1, S. 1–23; Zdenko Radelić, Opposition in Croatia 1945–1950. In: Review of Croatian History, 1 (2005) 1, S. 227–251. 104 Vgl. Katrin Boeckh, Zur Religionsverfolgung in Jugoslawien 1944–1953: Stalinistische Anleihen unter Tito. In: Konrad Clewing/Oliver Jens Schmitt (Hg.), Südosteuropa. Von vormoderner Vielfalt und nationalstaatlicher Vereinigung. Festschrift für Edgar Hoesch, München 2005, S. 431–446; für Serbien: Radmila Radić, Država i verske zajednice 1945–1970. Prvi deo 1945–1953, Beograd 2002; für Slowenien: France Martin Doli­ nar, Duhovniki v primežu revolucije. In: Janvit Golob/Peter Vodopivec/Janko Prunk/ Tine Hribar/Milena Basta Trtnik (Hg.), Žrtve vojne in revolucije. Zbornik, Ljubljana 2005, S. 61–91; Tamara Griesser-Pečar, Procesi proti duhovnikom in redovništvu po maju 1945. In: Drago Jančar (Hg.), Temna stran meseca. Kratka zgodovina totalitariz­ ma v Sloveniji 1945–1990, Ljubljana 1998, S. 113–125; für Bosnien: Denis Bećirović, Komunistička vlast i Srpska Pravoslavna Crkva u Bosni i Hercegovini 1945–1953. In: Tokovi istorije, 3 (2010), S. 74–88.

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nicht halt. In den sogenannten Dachauer Prozessen wurden 1946 jugoslawische Kommunisten, die den Krieg in deutschen Konzentrationslagern verbracht hatten, nach ihrer Befreiung unter dem Verdacht der Kollaboration in Jugoslawien erneut vor Gericht gezerrt, zu langjähriger Lagerhaft oder auch zum Tode verurteilt.105 Selbst der Bruch mit Stalin 1948/49 verlängerte die Welle der Repression zunächst nur und bedeutete nicht deren Ende. Die Abkehr vom Stalinismus vollzog sich vielmehr im Modus stalinistischer Repressionspraktiken, in deren Gefolge allein ca. 15 300 Personen zu Lagerhaft, vornehmlich auf der Gefängnisinsel Goli Otok, verurteilt wurden, von denen vermutlich zwischen 400 und 700 während der Haft starben.106 Soziale Konflikte, vor allem mit der Bauernschaft im Zuge des kurzzeitigen Kollektivierungsexperiments 1949/50, gingen ebenfalls mit massiver staatlicher Repressionsgewalt einher.107 Erst in den 1950er-Jahren, nachdem Jugoslawien die Folgen des Bruchs mit Stalin überwunden und sich der neue „Selbstverwaltungssozialismus“ etabliert hatte, ging die Repressionsintensität des Systems zurück. Hatte es 1947 noch über 10 000 Verfahren wegen „feindlicher Propaganda“ gegeben, so sank diese Zahl 1952 auf 2 338 und 1 961 auf 320.108 Auch in den folgenden Jahrzehnten blieben allerdings auf politischer wie auch auf kultureller Ebene Konflikte, die Staat und Partei immer wieder mit dem Mittel der administrativen Intervention oder der Repression beantwortete. Von einer Opposition im Sinne einer auf einen Systemwandel hinwirkenden, organisierten Gruppe von Akteuren, wird man dabei seit dem Ende der nicht-kommunistischen Parteien und Gruppierungen in den späten 1940er-Jahren in den folgenden vier Jahrzehnten allerdings kaum sprechen können, zumindest nicht innerhalb Jugoslawiens. Derartige oppositionelle Gruppierungen fanden sich eher im Ausland – sei es in Gestalt von Emigranten aus dem Umfeld und in der Tradition der im Zweiten Weltkrieg emigrierten monarchischjugo­slawischen Exilregierung, sei es als versprengter Zirkel emigrierter stalinistischer Gegner Titos, die nach dem Bruch Jugoslawiens mit der Sowjetunion zeitweilig ins osteuropäische Exil gegangen waren.109 Beide blieben jedoch ohne 105 Vgl. Martin Ivanič (Hg.), Dachauski procesi. Raziskovalno poročilo z dokumenti, Ljubl­ jana 1990; Boro Krivokapić, Dahauski procesi, Beograd 1996. 106 Die Zahlen der Inhaftierten schwanken in der älteren, nicht auf systematischer Archiv­ recherche gründenden Literatur zwischen 16 000 bis 60 000, die der Toten werden mit bis zu mehr als 5 000 beziffert; neuere, archivgestützte Zahlen liegen allerdings deutlich niedriger. Zum Forschungsstand vgl. Martin Previšić, Broj kažnjenika na Golom otoku i drugim logorima za ibeovce u vrijeme sukoba sa SSSR-om (1948.–1956.). In: Historijski Zbornik, LXVI (2013) 1, S. 173–193; Momčilo Mitrović, Logoraši umrli na Golom otoku u periodu 1948–1958 godine. In: Tokovi istorije, 3 (2013), S. 289–330. 107 Vgl. Vera Kržišnik-Bukić, Cazinska buna 1950, Sarajevo 1991. 108 Spehnjak/Cipek, Disidenti, S. 264. Zu dem ähnlich deutlichen Rückgang in Slowenien vgl. Žiga Koncilija, Politično sodstvo. Sodni procesi na Slovenskem v dveh Jugoslavijah, Ljubljana 2015, S. 317 ff. 109 Als eine erste quellenmäßig fundierte Analyse der „stalinistischen“ Emigration jetzt Martin Previšić, Informbiroovska emigracija. In: Historijski Zbornik, LXV (2012) 1, S. 171–186.

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einen signifikanten Einfluss auf die Geschehnisse im Lande. Von ungleich größerer politischer Wirkungsmacht war demgegenüber die ebenfalls vom Ausland her wirkende radikal-nationalistische, gelegentlich auch terroristisch agierende kroatische Emigration, deren Aktivitäten Anfang der 1970er-Jahre vereinzelt auch auf jugoslawisches Territorium ausgriffen,110 die sich aber vor allem im westlichen Ausland zeitweilig einen regelrechten Krieg mit dem jugoslawischen Geheimdienst lieferte.111 Im Lande selbst hingegen blieben bis zur Zerfallskrise des Staates organisierte systemtranszendierende Bestrebungen weitestgehend aus. Was es an „Opposition“ im Sinne des Strebens nach einer strukturellen Veränderung herrschender Verhältnisse in der Zeit des Sozialismus gab, war zudem vornehmlich nationaler oder auch nationalistischer Couleur. Oftmals richtete sich diese „Opposition“ dabei freilich gar nicht gegen die Partei schlechthin, sondern gegen die Bundespartei, wohingegen sie in der Partei der eigenen Republik gelegentlich Unterstützung für ihre Ziele suchte und auch fand. Sowohl die sogenannte kroatische „Massenbewegung“ des Jahres 1970/71 als auch die nationalistische Bewegung unter den Albanern des Kosovo nach 1981 standen nicht in einem oppositionellen Gegensatz zu den kommunistischen Parteiführungen ihrer Republik bzw. Provinz, sondern sie genossen zumindest deren Duldung. Auch ein Dissidententum im Sinne eines aus prinzipieller Gegnerschaft zu den herrschenden Verhältnissen heraus gelebten Widerstands einzelner Intellektueller findet man in Jugoslawien eher selten. Zwar gibt, worauf der slowenische Historiker Aleš Gabrič verwiesen hat, die in der Literatur lange Zeit vorherrschende Wahrnehmung eines fehlenden Dissidententums in Jugoslawien die Verhältnisse nicht angemessen wieder und ist eher Ausdruck einer im Westen immer auch geschönten Perspektive auf den „andersartigen jugoslawi110 Vgl. etwa den dilettantischen „Aufstandsversuch“ einer kleinen Gruppe von bewaff­ neten Kräfte in Westbosnien im Juli 1972, der von der jugoslawischen Armee schnell zerschlagen und deren überlebende Akteure zum Tode verurteilt wurden. Hierzu Fern­ schreiben Nr. 270 vom 5.7.1972 (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 299, Bl. 2 f.). Bot­ schaft Belgrad an AA. 111 Vgl. als erste wissenschaftliche Annäherung an das Thema von Seiten der serbischen Historiografie Srđan Cvetković, Terorizam i jugoslovenska politička emigracija. In: Istorija XX. veka, 2/2014, S. 171–197. Auf breiterer, auch westliche Archive einbeziehender Quellenlage zur kroatischen Emigration vgl. Nikola Mate Tokić‚ The End of „HistoricalIdeological Bedazzlement“: Cold War Politics and Émigré Croatian Separatist Violence, 1950–1980. In: Social Science History, 36 (2012) 3, S. 421–445; Bernd Robionek, Croatian Political Refugees and the Western Allies. A Documented History, 2. Auflage Berlin 2010. Die Tätigkeit kroatischer Emigranten, aber auch die zum Teil gewaltsamen Gegenreaktionen des jugoslawischen Geheimdienst auf deutschem Boden bildeten in den 1970er-Jahren auch einen zentralen Streitpunkt in den Beziehungen der Bundes­ republik mit Jugoslawien. Vgl. exemplarisch Bundesamt für Verfassungsschutz an Bundesminister des Innern vom 20.1.1972, Betr.: Antijugoslawische Tätigkeit kroa­ tischer Emigrantenorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 299, Bl. 75–79); AVLR Dr. Pohris 2749, Antijugoslawische Tätig­ keit v. Emigrantenorganisationen in der BRD, Belgrad, o. D. V 3-87.00/1-1037 II/71 VS-Vertraulich (PAAA, B 130, Band 8944).

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schen Sozialismus“.112 Gleichwohl waren es, gerade auch im Vergleich mit den anderen osteuropäischen Ländern, im Ganzen nur wenige, welche die Rolle eines Dissidenten übernahmen, und sie erlangten im In- wie im Ausland auch keine den anderen osteuropäischen Dissidenten vergleichbare Aufmerksamkeit. Milovan Đilas, der sich in den 1950er-Jahren vom Stalinisten zum Kritiker des jugoslawischen Sozialismus gewandelt hatte und der über fast vier Jahrzehnte wegen seiner publizistischen Aktivitäten mehrfach verhaftet und verurteilt wurde, steht hier weitgehend allein, zumindest was seine internationale Resonanz angeht. Dem Typus des sowjetischen Dissidenten vergleichbar war zudem noch der Literaturwissenschaftler und Slavist Mihajlo Mihajlov, der 1965 in einer Phase entspannter jugoslawisch-sowjetischer Beziehungen und wohl auch auf Druck der UdSSR wegen eines kritischen Reiseberichtes über die UdSSR ein erstes Mal zu Gefängnis verurteilt wurde113 und der nach einer zweiten Gefängnisstrafe in den Jahren 1975 bis 1978 wegen kritischer Äußerungen an den autoritären Verhältnissen Jugoslawiens schließlich das Land verließ.114 Vom Habitus und dem Selbstverständnis als intellektuell wirkender Gegner des Systems kam er dem Muster des sowjetischen literarischen Dissidenten, wie er in den 1970er-Jahren etwa in der Person Andrej Sinjawskis personifiziert war, noch am ehesten nahe, sodass die Belgrader Zeitschrift „Vreme“ ihn aus Anlass seines Todes 2010 als „den einzigen wahren jugoslawischen Dissidenten“ bezeichnete.115 Schon im Falle des slowenischen Schriftstellers Edvard Kocbek, aus einer linkskatholischen Tradition kommend und seit Kriegsende immer wieder ein wortreicher Kritiker autoritärer Strukturen des Systems, wechselten sich hingegen Phasen der staatlichen Kontrolle, Überwachung und Sanktionierung mit Zeiten relativ ungestörter, auch öffentlich wahrnehmbarer Artikulationsmöglichkeiten ab.116 Fanden Đilas und – bereits mit deutlichen Abstrichen Mihaj­ lov oder Kocbek – in der westlichen Öffentlichkeit eine gewisse Resonanz und Unterstützung, so blieben andere im Westen weithin unbekannt,117 so etwa der

112 Gabrič, Disidenti v Sloveniji, S. 298 ff. 113 So die Vermutung eines CIA-Berichtes: Special Report, Yugoslav Intellectuals Challen­ ge the Regime, S. 3 (https://www.cia.gov/library/readingroom/search/site/yugoslavia? DOC_0000720787; 19.11.2017). 114 Vgl. Katarina Spehnjak, Slučaj Mihajlova u izvještajima diplomatskih predstavnika Ve­ like Britanije. In: Kisić-Kolanović/Radelić/Spehnjak (Hg.), Disidentstvo, S. 361–371. Ebenfalls das Land verlassen hatte der slowenische Sozialwissenschaftler Jože Pučnik, nachdem ihm nach Gefängnisstrafen wegen kritischer Artikel jede Berufsperspektive seit den späten 1950er-Jahren genommen worden war; erst 1989 kehrte er aus der E ­ migration in Deutschland zurück und wurde zu einem der Aktivisten des bürgerlichen Par­teienbündnisses DEMOS. Vgl. Gabrič, Disidenti v Sloveniji, S. 301 ff. 115 Vreme vom 7.3.2010. 116 Zu Kocbek vgl. Igor Omerza, Edvard Kocbek: osebni dosje št. 584, Ljubljana 2008; so­ wie Andrej Inkret, Primer Kocbek. In: Jančar (Hg.), Tamna strana meseca, S. 281–306. 117 Vgl. mit entsprechender Kritik Mihajlovs Aufruf zur internationalen Solidarität mit den jugoslawischen Dissidenten: The Yugoslav Dissidents. In: New York Times vom 19.7.1979.

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Kosovo-Albaner Adem Demaçi, der wegen seines kontinuierlichen Einsatzes für eine Vereinigung des Kosovo mit Albanien fast drei Jahrzehnte im Gefängnis verbrachte. Von anderen unterschied ihn freilich auch, dass sein Dissidententum nicht so sehr vom Streben nach liberalen Freiheitsrechten motiviert war, sondern von großalbanischen Visionen, die sich auch nicht vom stalinistischen Herrschaftssystem Albaniens irritieren ließen. Fehlte es somit auch in Jugoslawien nicht an der Figur des Dissidenten, so verdichteten sich diese isolierten Fälle doch zumindest bis in die 1980er-Jahre hinein nicht zu einer den Bedingungen in der UdSSR oder gar Polens vergleichbaren intellektueller Protestbewegung. Dies mag daran gelegen haben, dass das System stets Spielräume eines Dissenses ließ, der, durchaus nicht ohne die Gefahr von Sanktionen, außerhalb wie selbst innerhalb der Partei gleichwohl artikulierbar blieb, ohne dabei in den Status eines stigmatisierten oder gar verfolgten Dissidenten abgedrängt zu werden. Ein wichtiges Feld eines solchen über weite Strecken geduldeten Dissenses waren beispielsweise literarische und sozialwissenschaftliche Periodika. Da es in Jugoslawien, anders als in den übrigen sozialistischen Staaten, keine institutionalisierte Vorabzensur gab, sondern der staatliche Kontrollanspruch über das Wort sich auf dem Wege eines intransparenten und subtilen Systems von Selbstkontrolle und Selbstzensur, indirekter Behinderungen und Sank­tionen, aber auch gelegentlich direkter Interventionen materialisierte, blieben die Artikulationsfreiräume auch für kritische Positionen diffuser, dadurch aber auch dehnbarer.118 Schon seit den 1950er-Jahren entstand mit diesen Periodika ein Kommunikationsraum der Kritik, der sich selbst nach Verboten oder Sanktionen immer wieder erneuerte. In Serbien mussten Anfang der 1950er-Jahre die Jugendzeitschrift „Mladost“ sowie die Literaturzeitschriften „Svedočanstvo“ und „Književne novine“, die sich zu parteiunabhängigen kritischen Organen entwickelt hatten, ihr Erscheinen einstellen; die gesellschaftstheo­retische Zeitschrift „Nova Misao“, die zunächst als Gegengewicht gegen die inkriminierten Zeitschriften entstanden war, sich aber selbst schon bald zu einem offenen Diskussionsforum entwickelt hatte, erlag demselben Schicksal im Zuge der „Đilas-Affäre“. Zum Teil getragen von denselben Akteuren, konnten einige der inkriminierten Zeitschriften aber nur wenig später wiedererscheinen oder wurden durch andere Zeitschriften („Delo“, „Savremenik“) ersetzt.119 Auch in Slowenien folgte auf die erste kritische philosophische Zeitschrift „Beseda“, die zwischen 1951 und 1957 erschien und dann aufgelöst wurde, die von mehr oder weniger denselben Redakteuren gegründete „Revija ’57“. Aufgrund ihrer theoretischen und kritischen Beiträge zu aktuellen politischen Fragen geriet auch sie

118 Hierzu jetzt Radina Vučetić, Monopol na istinu. Partija, kultura i cenzura u Srbiji šez­ desetih i sedamdesetih godina XX.veka, Beograd 2016. 119 Vgl. Miomir Gatalović, Darovana sloboda. Partija i kultura u Srbiji 1952–1958, Beograd 2010, S. 91–93, 126 ff.; Dušan Bošković, Intelektualci i vlasti. Društveni obrasci u for­ mativnim godinama druge Jugoslavije. In: Filozfija i društvo, 3 (2011), S. 121 ff.

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schon bald in einen Konflikt mit der Partei, der an der Jahreswende 1958/59 mit der Einstellung des Organs, im Falle seiner Redakteure auch mit Parteiausschlüssen und vereinzelten Gefängnisstrafen endete.120 Bereits 1960 entstand, wiederum zum Teil getragen von denselben Akteuren, mit der Zeitschrift „Perspektivi“ freilich ein Nachfolgeorgan. Es entwickelte sich ebenfalls schnell zu einem links-kritischen Medium, das mit Themen wie der Pluralität sozialer Interessen auch in der sozialistischen Gesellschaft und kritischen Debatten über die Realität des jugoslawischen Sozialismus von der Parteiführung schon bald als Kern einer „inneren Opposition“ in Kultur und Wissenschaft ausgemacht wurde. Auch diese Zeitschrift wurde daher 1964 – auch hier nach langen Konflikten mit der Redaktion – eingestellt;121 ihr folgte allerdings, beinahe umgehend, nicht nur die ähnlich gelagerte Zeitschrift „Pro­blemi“, sondern auch die auf Initiative der Partei neu gegründete und als stärker parteigebundenes Organ gedachte Zeitschrift „Teorija in praksa“. Auch letztere arbeitete sich allerdings schon bald aus der ihr zugedachten Funktion eines parteinahen Theorie­organs heraus und wurde zu einem zwar systemloyalen, jedoch kritischen Publikationsforum, das mit fundierten empirischen Analysen die Realität der Machtverhältnisse in der Selbstverwaltung in den Blick nahm, sich aber auch mit theoretischen Fragen von Demokratie und Pluralismus unter sozialistischen Bedingungen auseinandersetzte. Reibungen zwischen Partei und Redakteuren begleitete daher auch dieses Organ immer wieder. Mitte der 1970er-Jahre, nach dem erzwungenen Rücktritt des als liberalistisch diskreditierten slowenischen Parteichefs Stane Kavčič, kam es auch zu administrativen Maßnahmen gegen mehrere der mit der Zeitschrift verbundenen Professoren der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Ljubljana,122 ohne damit allerdings den um die Zeitschrift herum geführten kritischen Diskurs beenden zu können. Ungeachtet wiederkehrender Sanktionen etablierte sich auf diese Weise vor allem in Slowenien, aber auch anderswo auf der Ebene gesellschaftskritischer und gesellschaftstheoretischer Diskurse das, was der Historiker Božo Repe einen „stillen Pluralismus“ genannt hat123 – die Möglichkeit zu einer öffentlichen Kritik, die systemloyal war, jedoch immer wieder auch im Dissens zur konkreten Praxis stand. Anders als zeitgleich in Polen oder der ČSSR, wo die Dissidenten in den 1970er-Jahren

120 Vgl. Aleš Gabrič, Socialistična kulturna revolucija. Slovenska kulturna politika 1953– 1962, Ljubljana 1995, S. 268–280. 121 Zur Auseinandersetzung um die Zeitschrift „Perspektivi“ vgl. Božo Repe, Obračun s perspektivami, Ljubljana 1990, insb. S. 60 ff. 122 Aus der Perspektive eines der wichtigsten Aktivisten gleich mehrerer dieser kritischen Publikationsorgane siehe Veljko Rus, Revija Perspektive in Teorija in praksa. In: Teorija in praksa, 41 (2004) 1–2, S. 132–151; sowie Božo Repe, Teorija in praksa in njeni pisci v času partijskega „liberalizma“. In: ebd., S. 114–131; Igor Lukšič, Teorija in praksa. Pre­ sek ob štiridesetletnici. In: ebd., S. 68–83, der in seiner Analyse der Zeitschrift ebenso betont, dass eine dichotome Bewertung zwischen den Kategorien „Opposition versus Macht“ dem Stellenwert der Zeitschrift nicht gerecht würde (S. 83). 123 Repe, „Teorija in praksa“, S. 121.

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die Hoffnung auf einen reformierbaren Sozialismus aufgaben, blieb ein großer Teil der jugoslawischen Intelligenz bei aller Kritik an der Praxis dabei bis weit in die 1980er-Jahre hinein prinzipiell auf dem Boden des jugoslawischen Sozialismus; auch ihre Kritik war damit eher Dissens als Dissidenz, ein Widerstand, der sich gegen die herrschenden Eliten richtete, nicht gegen System und Staat. Das markanteste Beispiel für diesen „stillen Pluralismus“, aber auch für dessen Grenzen, war sicherlich die auch über Jugoslawien hinaus bekannte „Praxis-­ Gruppe“, die, ungeachtet gelegentlicher staatlicher Interventionen, zwischen 1964 und 1975 zu einem international einflussreichen Ort marxistisch-theoretischer Innovation und Kritik avancierte. Zunächst vor allem ein Ort theoretischer und philosophischer Debatten wurde die „Praxis“ in den 1970er-Jahren mehr und mehr auch zu einem Forum der Kritik des „realen Sozialismus“ in Jugoslawien, in dem man ebenso wenig die Ansätze einer Überwindung von Entfremdung der Produzenten zu entdecken vermochte wie im Sozialismus sow­jetischen Typs.124 Nachdem die Zeitschrift und die mit ihr verbundene Philo­ sophenschule nicht zuletzt aufgrund ihres internationalen Renommees lange Zeit unbehelligt geblieben waren,125 begann nach den Studentenunruhen von 1968, als deren geistige Brandstifter die Partei die Philosophen und Soziologen der „Praxis“ ausmachte, der Versuch, ihre Aktivitäten einzuschränken. Ideologische Kampagnen, der Entzug finanzieller Mittel, auch administrative und gerichtliche Maßnahmen gegen Professoren der Philosophischen Fakultät der Belgrader Universität waren Teil einer Repressionswelle. Sie brach sich freilich immer wieder auch am Widerstand der universitären Gremien und es dauerte – obwohl von Tito selbst immer wieder ultimativ eingefordert126 – sieben Jahre, bevor es der Partei Mitte der 1970er-Jahre gelang, das Erscheinen der Zeitschrift einzustellen und deren zentrale Akteure aus der Universität zu entfernen.127 Auch in ähnlichen Fällen bedurfte es eines erheblichen Aufwands, um missliebige Publikationsorgane zur Strecke zu bringen. Die Absetzung der Redaktion der kritischen Studentenzeitung „Student“, die Anfang der 1970er-Jahre eine Auflage von 35 000 Exemplaren hatte, benötigte vier Anläufe, da die

124 Vgl. Nenad Stefanov, Praxis. Ideen, Debatten, Handlungsformen kritischer Intellektu­ eller im sozialistischen Jugoslawien. In: Đorđe Tomić/Roland Zschächner/Mara Puška­ rević/Allegra Schneider (Hg.), Mythos Partisan. (Dis-)Kontinuitäten der jugoslawischen Linken: Geschichte, Erinnerung und Perspektiven, Hamburg 2013, S. 287–301. 125 Einzelne Nummern der Zeitschrift, die zunächst verboten worden waren, wurden an­ schließend durch die Gerichte dennoch zur Veröffentlichung freigegeben. So etwa die Nummer 3–4 (1971), die sich kritisch mit der Realität des Selbstverwaltungssozialismus auseinandergesetzt hatte: Generalkonsulat Zagreb an AA vom 18.10.1971, Betr.: Innen­ politische Lage in Kroatien, hier: Intellektuelle Kritik am politischen System (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 232, Bl. 284). 126 Perović, Zatvaranje kruga, S. 439. 127 Vgl. als Rückblick betroffener Akteure Nebojša Popov, Praksis i Antipraksis. Prilog ispitivanju jednog jugoslovenskog paradoksa. In: Dragomir Olujić Oluja/Krunoslav Stojaković (Hg.), Praxis. Društvena kritika i humanistički socijalizam, Beograd 2012, S. 90–109.

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Relegierung der Redakteure immer wieder an den Gegenstimmen der Studentenvertreter gescheitert war.128 Die Maßnahmen gegen die „Praxis“ und andere kritische Publikationsorgane, ebenso wie der hier nicht zu vertiefende Umgang mit dem nonkonformistischen Film und Theater,129 zeigen somit beides – die auch in Jugoslawien insbesondere in den 1970er-Jahren immer wieder mobilisierten Repressionsressourcen der Partei gegenüber intellektuellen Abweichungen, zugleich aber, und hier unterschied sich das Land eben doch von den anderen staatssozialistischen Ländern, deren größere Handlungsräume und den ungleich größeren Aufwand, den die Partei in der Auseinandersetzung mit ihr unliebsamen Tendenzen betreiben musste, um diese unter Kontrolle zu bringen. Selbst in den frühen 1970er-Jahren, so hat es die Belgrader Historikerin Dubravka Stojanović denn auch am Beispiel der Geschichte einer Buchreihe rekonstruiert, in der seit 1971 gesellschaftskritische und theoretisch innovative Abhandlungen aus dem In- und Ausland publiziert wurden, blieben intellek­ tuelle Freiräume, die auch ohne Selbstgefährdung von den Akteuren verteidigt werden konnten. Sich gegen den Druck des Staates zu widersetzen, so die Autorin, „kostete“ auch in dieser Zeit nicht viel und „das Regime hatte [auch zu dieser Zeit] keine volle Kontrolle“ über das bestehende Netz an formellen und informellen Widerstandsressourcen, zu denen gelegentlich sogar die staatlichen Gerichte gehören konnten.130 Auch auf anderen Feldern, die hier nur angedeutet werden können, konnten sich autonome Diskurse etablieren und behaupten. Feministische Debatten und Diskursgemeinschaften beispielsweise blieben zwar auch in Jugoslawien ein Randphänomen, fanden jedoch Artikulationsräume, um jenseits und auch gegen den parteioffiziellen Frauendiskurs geschlechtertheoretische und geschlechterpolitische Themen zu debattieren.131 Zumindest für jenes Segment der urbanen und zumeist akademisch-künstlerisch aktiven

128 Botschaft Belgrad an AA vom 19.2.1970, Betr.: Auseinandersetzung des Bundes der Kommunisten mit der oppositionellen „Neuen Linken“ Jugoslawiens (PAAA, B 42 Zwi­ schenarchiv, Band 232, Bl. 138–144). 129 Zu ähnlich gelagerten Konflikten mit dem Kino der sog. „Schwarzen Welle“ vgl. Vučetić, Monopol na istinu, S. 266 ff; Daniel J. Goulding, Liberated Cinema. The Yugoslav Experience 1945–2001, 2. überarb. und erw. Auflage, Bloomington 2002, bes. S. 122 ff. 130 Dubravka Stojanović, Noga u vratima. Prilozi za političku biografiju Biblioteke XX.veka, Beograd 2011, S. 42 f. Vgl. als ein Beispiel für eine solche Autonomie der Gerichte das Revisionsurteil, mit dem ein Belgrader Gericht 1970 die Verurteilung des Chef­re­ dakteurs der Literaturzeitschrift „Kniževne novine“ zu sechs Monaten Gefängnis wegen eines kritischen Artikels über die UdSSR, den dieser kurz vor dem Besuch des dama­ ligen sowjetischen Außenministers Gromyko in Belgrad veröffentlicht hatte, auf eine Bewährungsstrafe reduzierte. Hierzu Botschaft Belgrad an AA vom 12.2.1970, Betr.: Revision des Urteils gegen ehemaligen Chefredakteur von Knizevne novine Zoran Glu­ scevic (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 233, Bl. 74–76). 131 Vgl. Zsófia Lóránd, „Learning a Feminist Language“. The Intellectual History of Femi­ nism in Yugoslavia in the 1970s and 1980s, Ph. D. Central European University, Budapest 2014; Marijana Stojčić, Proleteri svih zemalja – ko vam pere čarape? Feministički pokret u Jugoslaviji 1978–1989. In: Đorđe Tomić/Petar Atanacković (Hg.), Društvo u pokretu. Novi društveni pokreti u Jugoslaviji od 1968. do danas, Novi Sad 2009, S. 108–121.

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Frauen gewannen diese Debatten den Charakter eines Kommunikationsraums, der sich selbst in den Jahren einer rigideren Parteikontrolle von staatlichen und ideologischen Reglementierungen weithin freihalten konnte. Die relative Toleranz gegenüber derartigen intellektuellen Diskursen und kritischen Diskussionen, die selbst nach 1971/72 nicht völlig verschwand, erklärt sich sicherlich auch aus dem Umstand, dass es sich bei diesen weithin um „Armchair-Debatten“ handelte. Politisch wirkmächtig im Sinne einer tatsächlichen Herausforderung der Herrschaftspraxis wurden derartige Debatten nur selten, am ehesten wohl noch im Rahmen der Belgrader Studentenbewegung, die 1968/69 die Parteiführung kurzfristig in Aufregung versetzte mit ihrem linken Radikalismus. Auch sie strebte allerdings nicht die Änderung der bestehenden sozialistischen Ordnung an, sondern sie verstand sich als „affirmativ, kritische“ Bewegung, die im Grundsatz pro-jugoslawisch war und die für das bestehende Modell eines Selbstverwaltungssozialismus eintrat. Schon bevor der studentische Protest im Juni 1968 zur gewaltsamen Konfrontation zwischen Staat und Universitätsangehörigen eskalierte, waren Studenten und Jugendliche des Öfteren als Protestakteure in Aktion getreten. Bereits Anfang der 1960er-Jahre hatten die sozialen Studienbedingungen vereinzelt zu offenen Konflikten mit dem Staat geführt. Mitte der 1960er-Jahre waren Demonstrationen gegen die amerikanische Kriegsführung in Vietnam aus dem Ruder gelaufen, als die jugendlichen Demonstranten den parteioffiziellen Antiamerikanismus ernst nahmen und den von der Partei zunächst gebilligten Protest zu gewaltsamen Aktionen gegen amerikanische Einrichtungen, aber auch zur Kritik an der Außenpolitik der eigenen jugoslawischen Regierung nutzten.132 Im Frühjahr 1968 gewannen diese Proteste jedoch einen sehr viel grundsätzlicheren Charakter. Entzündet eher durch den banalen Anlass von Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und der Polizei am Rande einer Musikveranstaltung, weitete sich der studentische Protest zu einer massiven Konfrontation mit dem Staat aus, die ihren Höhepunkt in der Besetzung der Belgrader Universität und deren Belagerung durch die Polizei fand.133 Ganz im Stile der globalen 1968er-Bewegung wurde der studentische Protest, der auch innerhalb des akademischen und künstleri132 Vgl. Radina Vučetić, Yugoslavia, Vietnam War and Antiwar Activism. In: Tokovi istorije, 3 (2013), S. 165–180. Als Wortführer der Blockfreien Bewegung hatte der Vietnam­ krieg auf jugoslawischer Seite zu einer deutlichen Eintrübung der Beziehungen zu den USA geführt; gleichwohl suchte die jugoslawische Regierung aufgrund der für das Land nach wie vor wichtigen politischen und wirtschaftlichen Westbindungen das jugosla­ wisch-amerikanische Verhältnis nicht durch die Gegnerschaft im Vietnamkrieg völlig zu gefährden. Zum Hintergrund der jugoslawisch-amerikanischen Beziehungen vgl. Dra­ gan Bogetić, Početak Vietnamskog rata i jugoslovensko-američki odnosi. In: Istorija XX. veka, 1 (2007), S. 91–116. 133 Luzide aufgearbeitet sind die Belgrader Studentenunruhen bei Boris Kanzleiter, Die „Rote Universität“. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964–1975, Hamburg 2011; zusammenfassend auch ders., Proteste zwischen Ost und West. Die Neue Linke und 1968 in Jugoslawien. In: Peter Birke/Bernd Hüttner/Gottfried Oy (Hg.), Alte Linke – neue Linke? Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskus­ sion, Berlin 2009, S. 39–48; ferner Hrvoje Klasić, Jugoslavija i svijet 1968, Zagreb 2012.

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schen Establishments Unterstützung fand und auf andere Universitätszentren des Landes wie Zagreb, Ljubljana und Sarajevo ausstrahlte, begleitet von einer intensiven theoretischen Debatte, deren Kritik sich vor allem gegen die Nichteinlösung der sozialen Gleichheitsversprechungen des Systems, gegen die Bürokratisierung und das Entstehen einer „roten Bourgeoisie“ richtete. Das Einklagen politischer Freiheitsrechte verband die jugoslawische Studentenbewegung dabei mit den zeitgleichen Reformforderungen in anderen osteuropäischen Ländern wie Polen oder der ČSSR, ihr dezidiert radikal-sozialistisches Programm wiederum machte sie zum Teil der linken Studentenbewegungen des Westens.134 Partei und Staat setzten in ihrer Reaktion auf die Proteste auf eine Doppelstrategie von Akzeptanz der Kritik der Studenten und Reformversprechen auf der einen und einer rigiden Repression gegen die Wortführer des Protestes auf der anderen Seite. Mehrere der studentischen Anführer wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt; Unterstützer der Studenten innerhalb des Lehrkörpers wurden mit Entfernung aus dem Lehrbetrieb bedroht. Auch wenn sich die in den 1960er-Jahren beträchtlichen Handlungsspielräume für dissidentisches und zivilgesellschaftliches Denken und Handeln mit dem Kurswechsel hin zu einer rigideren Parteiherrschaft nach 1971/72 verengten, ist die gelegentlich gewählte Etikettierung der 1970er- und 1980er-Jahre als Epoche einer „bleiernen“ Zeit, einer „eingefrorenen Gesellschaft“ oder gar einer „Restalinisierung“ auch aus der Perspektive des Umgangs mit dissidentischen Bestrebungen verkürzt.135 Sie reflektiert vor allem die Verhältnisse in Kroatien (und im Kosovo), für die dies im Gefolge des Jahres 1971 bzw. 1981

Stellenwert und Charakter der Studentenbewegung werden in der Literatur allerdings unterschiedlich bewertet. Deutlich zurückhaltender in der Bedeutungszuschreibung der Ereignisse für die jugoslawische Geschichte der 1960er-/70er-Jahre als Kanzleiter hingegen Milivoje Bešlin, Uticaj „Juna 68“ na političku situaciju u Jugoslaviji. In: Tomić/ Atanacković (Hg.), Društvo u pokretu, S. 49–65; weniger die ideologische Programmatik als den Charakter der studentischen Bewegung als eines gegen die etablierte Generation der politischen und gesellschaftlichen Elite gerichteten „Jugendprotestes“ betont dem­ gegenüber jüngst Madigan Fichter, Student Rebellion in Belgrade, Zagreb and Ljubljana in 1968. In: Slavic Review, 75 (2016) 1, S. 99–121. 134 Einen fundamentalen Unterschied im Vergleich mit der deutschen studentischen Lin­ ken konstatierte, trotz gewisser äußerer Ähnlichkeiten, auch die Deutsche Botschaft, da die jugoslawischen Studenten doch „keinesfalls gegen die Verfassung“ kämpften. Aller­ dings seien sie auch keine Vorkämpfer einer parlamentarischen Demokratie westlicher Prä­gung, sondern „befinde[n] sich in Übereinstimmung mit der geltenden Theorie der hie­sigen Gesellschaftsordnung“. So Botschaft Belgrad an AA vom 16.6.1969, Betr.: Ju­ goslawische innenpolitische Entwicklung, hier: Opposition der Studenten (PAAA, B 42 Zwischenarchiv, Band 232, Bl. 100–107). 135 Viktor Blažič, Svinčena leta. In: Jančar (Hg.), Tamna strana meseca, S. 168–187; Gold­ stein/Goldstein, Tito, S. 712; als „düstere Jahre“ bezeichnet bei Peter Štih/Vasko Si­ moniti/Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz 2008, S. 436 (in der slowenischen Ausgabe allerdings nicht als „düstere“, sondern als „graue Jahre“: Peter Štih/Vasko Simoniti/Peter Vodopivec (Hg.), Slovenska zgodovina, Ljubljana 2008, S. 466); als „apathische“ Zeit bei Ivo Goldstein, Hrvatska 1918–2008, Zagreb 2008, S. 567; den Begriff der „Restalinisierung“ bei Popov, Praksis, S. 101.

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mit einiger Berechtigung zutreffen mag. Im Ganzen aber ist das Bild differenzierter, und dies aus zwei Gründen: Zum einen erweist sich auch mit Blick auf den zivilgesellschaftlichen Dissens der Föderalismus als das eigentlich pluralisierende Element der spätjugoslawischen Entwicklung. Gerade im Hinblick auf die Spielräume abweichenden politischen Verhaltens entwickelten sich die einzelnen jugo­slawischen Republiken seit den späten 1970er-Jahren stark auseinander. Was in Zagreb verboten war, das konnte in Belgrad oder Ljubljana geduldet werden, seltener umgekehrt, aber gelegentlich passierte auch das.136 Bisweilen nutzten auch, worauf Dejan Jović verwiesen hat, die jeweiligen regionalen Parteieliten die Stimmen der Dissidenz in der eigenen Republik als eine Art Versuchsballon, um in den Auseinandersetzungen mit anderen Republiken Positionsvorteile zu erringen.137 Umgekehrt konnte freilich auch eine verschärfte Gangart gegen kritische Intellektuelle in der eigenen Republik eine solche Funktion erfüllen. Die massiven Repressionen, mit denen die serbische Partei Anfang der 1980er-Jahre gegen kritische Intellektuelle vorging, galten, so mutmaßte beispielsweise ein CIA-Bericht aus dem Jahre 1984 nicht zu Unrecht, wohl weniger deren tatsächlichen Aktivitäten, sondern sollten vielmehr die anderen Republiken auf den von Serbien präferierten Kurs einer Politik der „harten Hand“ und der Festigung des unter Druck geratenen sozialistischen Systems einschwören.138 Die Fragmentierung der staatlichen Ordnung, die mit der radikalen Föderalisierung des Jahres 1974 einherging, löste die monopolistische Herrschaft der Partei nicht auf, kreierte aber sehr unterschiedliche Bedingungen für den Toleranzrahmen von Dissens. Zum zweiten begann sich zumindest in einigen Republiken schon zum Ende der 1970er-Jahre hin, allemal aber nach Titos Tod 1980, die kritische Gesellschaft wieder aus der politischen Umklammerung, in die sie der Kurswechsel nach 1971/72 gezwungen hatte, zu lösen. Während sich in Kroatien zivilgesellschaftliche Ansätze, die sich unter nationalem, gelegentlich auch unter nationalistischem Vorzeichen im Zuge des „Kroatischen Frühlings“ herausgebildet hatten, von der repressiven Intervention Titos nur sehr zögerlich zu erholen

136 Der 1981 in Belgrad wegen vermeintlicher kritischer Anspielungen auf Tito verbote­ ne Gedichtband des Literaten Gojko Ðogo „Vunena vremena“, dessen Autor zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden war, wurde beispielsweise in der slowenischen Zeitschrift „Nova Revija“ abgedruckt. Vgl. Aleš Gabrič, Cultural Activities as Political Action. In: Leopoldina Prut-Pregelj (Hg.), The Repluralization of Slovenia in the 1980s: New Revelations from the Archival Records (= The Donald W. Treadgold Papers No. 24 [2000]), S. 26. 137 Jović, Jugoslavija – zemlja koja je odumrla, S. 328. 138 „The specific purpose of the crackdown“, so der Bericht, „in our view, is less to sup­ press dissidents than to warn regional politicians and central committee members to stop blocking proposed measures that would give slightly greater political and economic power to Belgrade.“ So Directorate of Intelligence vom 11.6.1984, Yugoslavia: The Hardline Response (https://www.cia.gov/library/readingroom/search/site/yugoslavia? CIA-RDP85T00287R001100240001-5; 19.11.2017).

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vermochten, waren in Slowenien und in Serbien selbst die 1970er- und frühen 1980er-Jahre nicht mehr nur eine „Eiszeit“, sondern zugleich auch die Inkubationszeit neuer Ansätze von Zivilgesellschaft. Sie blieben auch hier nicht ohne Widerstand der Partei, vermochten sich aber mehr und mehr gegen deren schwindende Sanktionsmacht in der Gesellschaft Geltung zu verschaffen. In Slowenien verzeichnete das Zentralkomitee der Partei bereits im ­Januar 1979 wieder ein breites Spektrum dissidenter Strömungen. Man verortete sie in „klerikalen“ Kreisen; die damalige Überwachungssemantik identifizierte diese daneben vor allem aber als „techno-liberale“, „anarcho-liberale“ und „ultralinke“ Kräfte. Insbesondere den „anarcho-liberalen“ Kräften, die man vor allem unter Sozialwissenschaftlern der Universität und in den Redaktionen ihrer Zeitschriften ausmachte, schrieb man dabei einen beträchtlichen intellektuellen Einfluss und eine große öffentliche Präsenz zu. Daneben zeigten sich die Herrschaftswächter der Partei vor allem aber beunruhigt über eine an Einfluss gewinnende jugendliche Subkultur.139 Jugendliche Subkultur war schon seit den frühen Jahren des jugoslawischen Sozialismus immer wieder ein Feld gewesen, auf dem sich der Nonkonformitätsanspruch einer jugendlichen Generation gegen das Menschen-Management der Partei zu behaupten suchte. Schon in der stalinistischen Phase des jugoslawischen Sozialismus in den späten 1940er-Jahren klagten interne Parteianalysen immer wieder über ein deviantes und „dekadentes Verhalten“ vieler Jugendlicher, die sich der stalinistischen Mobilisierungskultur entzogen.140 In den 1950er-Jahren, als der politische Konformitätsdruck mit dem Übergang zur Selbstverwaltung nachgelassen hatte, wandte sich die Jugend, nunmehr ohne allzu großer Gefahr der Sanktio­nierung, mehr und mehr einer weithin amerikanisierten Jugend- und Musikkultur zu. Partei und Staat suchten, ähnlich wie in den anderen sozialistischen Ländern, dem zunächst mit ideologischen Kampagnen entgegenzutreten.141 Zunehmend erkannte man in dieser Jugendkultur aber auch ein Medium der eigenen Legitimationssicherung, gerade unter der mit sozialistischer Semantik nur schwer zu gewinnenden Jugend. So, wie man den zunächst als „imperialistisches Kulturprodukt“ abgelehnten Jazz seit den 1950er-Jahren zunehmend akzeptierte,142 gab die Partei in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahren auch ihren Widerstand gegen die von „westlicher“ Rockmusik geprägte Jugendkultur auf und verzichtete auf

139 Abgedruckt in: Božo Repe (Hg.), Viri o demokratizaciji in osamosvojitvi Slovenije (I. del: Opozicija in oblast), Ljubljana 2002, S. 11–18 (für 1979) sowie S. 23–29 (für 1980). 140 Vgl. Ivana Dobrivojević, Između ideologije i pop-kulture. Život omladine u FNRJ 1944– 1955. In: Istorija XX. veka, 1 (2010), S. 119–132. 141 Vgl. Reana Senjković, Izgubljeno u prijenosu: pop iskustvo soc kulture, Zagreb 2008, S. 53 ff. 142 Vgl. Radina Vučetić, Džez je sloboda: džez kao američko propagandno oružje u Jugo­ slaviji. In: Godišnjak za društvenu istoriju, 3 (2009), S. 81–100. Generell zur „Ameri­ kanisierung“ der Musikkultur in den 1950er-Jahren Dejan Vuletić, Generation Number One: Politics and Popular Music in Yugoslavia in the 1950s. In: Nationalities Papers, 36 (2008) 5, S. 861–879.

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die langwierigen und letztlich die eigene Legitimität abnutzenden Abwehr- und Stigmatisierungskämpfe der kommunistischen Parteien anderer sozialistischer Länder.143 Zwar sah auch die jugoslawische Partei den in den 1970er-Jahren stetig wachsenden Einfluss der Rockmusik auf die Jugend mit einiger Skepsis.144 Zugleich aber erkannte sie das integrative Potenzial, das von Rockmusik und jugendlicher Subkultur vor allem in nationalitätenpolitischer Hinsicht ausging, konnten diese doch zur Stärkung eines jugoslawischen Gemeinschaftsgefühls über alle ethnischen Grenzen hinweg beitragen.145 Mehr als das parteioffizielle Ideologem von einem auf „Brüderlichkeit und Einheit“ basierenden Jugoslawismus schuf die Rockkultur unter der jugendlichen Generation ein Gefühl von „Yugoslavness“.146 Nach der Beendigung der kroatischen „Massenbewegung“ 1971/72, die gerade auch unter der Jugend zu deutlichen Legitimationseinbußen der Partei geführt hatte, war die in ihrer politischen Aussage durchweg projugoslawische Rockmusik denn auch gezielt genutzt worden, um die Jugend wieder stärker an die offizielle Politik heranzuführen.147 Wie über den Konsum ließ sich über die weithin geduldete Rockmusik zudem der Anspruch eines jugoslawischen Exzeptionalismus untermauern, unterschied man sich doch gerade darin ein weiteres Mal von den übrigen sozialistischen Staaten und demonstrierte seine „Westlichkeit“.

143 Vgl. zur Entwicklung der jugoslawischen Rockkultur vor allem Dalibor Mišina, Shake, Rattle and Roll: Yugoslav Rock Music and the Poetics of Social Critique, Farnham 2013; Aleksandar Raković, Rokenrol u Jugoslaviji 1956–1968. Izazov socijalističkom društvu, Beograd 2012; ders., Bit moda, rokenrol i generacijski sukob u Jugoslaviji 1965–1967. In: Etnoantropološki problemi, 6 (2011) 3, S. 745–762. 144 Vgl. derartige parteioffizielle Befürchtungen am Beispiel eines der größten Massen­ konzerte der jugoslawischen Band „Bjelo Dugme“ 1977: Aleksandar Raković, Bijelo Dugme Concert at Hajdučka česma in Belgrade (1977): Social Event of the Utmost Importance and Recognition of a Unique Phenomenon. In: Tokovi istorije, 3 (2015), S. 107–133. 145 Vgl. Martin Pogačar, YU-Rock in the 1980’s: Between the Urban and the Rural. In: Nationalities Papers, 36 (2008) 5, S. 815–832; Peter Stankovič, Appropriating ‚Balkan‘: Rock and Nationalism in Slovenia. In: Critical Sociology, 27 (2001) 3, S. 98–115. 146 Aus dieser Perspektive vor allem Zlatko Jovanovic, „All Yugoslavia is Dancing Rock and Roll“. Yugoslavness and the Sense of Community in the 1980s Yu-Rock, Ph. D. University of Copenhagen 2013, masch., S. 161 ff.; Eric Gordy, The Culture of Power in Serbia. Nationalism and the Destruction of Alternatives, University Park 1999, S. 103 ff. Diese Perspektive übersieht allerdings, dass die Rockmusik auch in dieser Zeit zugleich zum Medium partikular-nationaler Identitäten werden konnte. So ist für die albanische Rockszene des Kosovo, die vergleichsweise spät entstand und in ihrer Entfaltung durch die dramatische Entwicklung der Provinz nach 1980 getroffen wurde, herausgearbeitet worden, dass den Ansätzen einer transethnischen Musikkultur hier immer auch eine zwischen Albanern und Serben ethnisch segregierte Musikszene gegenüberstand und die albanischen Rockmusiker eher an der Popularisierung albanisch-nationaler denn jugoslawischer Identifikationsmarker interessiert waren. Vgl. Gëzim Krasniqi, Socia­ lism, National Utopia, and Rock Music: Inside the Albanian Rock Scene of Yugoslavia, 1970–1989. In: East Central Europe, 38 (2011), S. 336–354. 147 Vgl. Aleksandar Raković, Savez socijalističke omladine Jugoslavije i muzička omladina Jugoslavije u sporu oko rokenrola (1971–1981). In: Tokovi istorije, 3 (2012), S. 159–188.

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Die Rockkultur der 1960er-/70er-Jahre war dabei sicherlich keine „Opposi­ tions­kultur“ und mit der Duldung durch das System verlor sie auch zunehmend ihre anfänglich subversiven Züge. Sie trivialisierte sich oder wurde gar, wie einzelne Autoren kritisch anmerken, „unter den Mantel der herrschenden Ideologie gesteckt“.148 Dennoch blieb sie gleichwohl immer auch ein Feld, auf dem sich die Jugend vom offiziellen Rollenbild einer „sozialistischen Jugend“ entfernen konnte und trug so zivilgesellschaftliche Momente. Jugendzeitschriften etwa griffen jugendpolitische Themen auf, die vom offiziösen Jugenddiskurs übergangen oder gar tabuisiert wurden und gerieten darüber auch immer wieder in Konflikt mit der Partei.149 Gelegentlich, wie im Kontext der Studentenunruhen, konnte die Rockmusik auch zum kulturellen Signum von Protestbewegungen werden.150 Sie war somit systemkonform und systemkritisch zugleich, richtete sich zwar nicht gegen das System und schon gar nicht gegen die Idee eines gemeinsamen jugoslawischen Staates, trug aber zugleich immer auch zu einer „de-mystifying reality“ bei.151 Anders als auf anderen kulturellen Feldern wie der Belletristik oder dem Film vermochte sich die Jugendkultur dabei auch über die Entliberalisierung nach 1971/72 weithin unbeanstandet hinweg zu erhalten; sie bot so auch in dieser Zeit einen Raum, in dem sich die Jugend dem politischen Zugriff der Partei auf die Kultur entziehen konnte. Der sogenannte „YU-Rock“ entsprang freilich eher dem Klima des „Wohlstandssozialismus“ der 1970er-Jahre. Er stellte sich zwar neben die offizielle Jugendkultur, forderte diese aber nicht als zivilgesellschaftliche Gegenbewegung heraus. Dies begann sich in den 1980er-Jahren zu ändern. Jugendkultur wurde jetzt mehr und mehr eine Kultur der Desillusionierung, die auf das Ende des „credit card communism“, aber auch auf dessen konsumorientiertes Wesen mit dem Mittel der Musik und eines eigenen Lebensstils reagierte.152 Sie begann sich nicht nur gegen die nicht mehr einzulösenden Wohlstandsansprüche des Systems zu wenden, sondern auch gegen die Vordergründigkeit und „Langeweile“ eines „Konsumsozialismus“. Jugendkultur wurde zum Ausdruck einer

148 Oskar Mulej, „We are Drowning the Red Beet, Patching Up the Holes in the Iron Cur­ tain“: The Punk Subculture in Ljubljana in the Late 1970s and Early 1980s. In: East Central Europe, 38 (2011), S. 373–389, hier 378. 149 So z. B. die kroatische Jugendzeitschrift „Pop-Ekspres“ der 1960er-Jahre, die, ohne je­ mals offiziell verboten zu werden, aufgrund ihrer zunehmend autonomen Redaktions­ politik nach finanziellen und Verkaufsbehinderungen letztlich ihr Erscheinen einstellen musste. Vgl. Marko Zubak, Pop-Expres (1969–1970.): rock-kultura u političkom omla­ dinskom tisku. In: Časopis za suvremenu povijest, 1 (2012), S. 23–35. 150 Vgl. in diesem Sinne auf die Vernetzungen von Rockszene und studentischen Protesten 1968 verweisend Maja Vasiljević, Popularna muzika kao anticipacija ‚uokviravanje‘ i konstrukcija generacijskog sećanja na studentski bunt 1968. godine u Jugoslaviji. In: Muzikologija, 14 (2013), S. 117–134. 151 Mišina, „Shake, Rattle and Roll“, S. 181, 192, 199. 152 Zur Musik- und Jugendkultur der 1980er-Jahre vgl. Ljubica Spasovska, Stairway to Hell: The Yugoslav Rock Scene and Youth during the Crisis Decade of 1981–1991. In: East Central Europe, 38 (2011), S. 1–22.

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Entfremdung von einem System, das aus der Sicht der Jugend nicht mehr nur seine ­sozialen Versprechen, sondern vor allem seine sozialen Utopien aufgegeben hatte. Damit begann sie sich zugleich zunehmend auch über die Ränder des Systems hinaus zu bewegen. Am radikalsten geschah dies zweifelsohne in dem, was in einer unscharfen Bezeichnung damals als „Punkbewegung“ bezeichnet worden ist – ein Konglomerat sehr unterschiedlicher Ausdrucksformen von Jugendkultur, die vor allem in Slowenien seit den späten 1970er-Jahren eine erhebliche Öffentlichkeitsresonanz erreichte, mit geringerer Wirkmächtigkeit aber auch in anderen jugoslawischen Teilrepubliken spürbar wurde.153 Die unter dieser Bezeichnung zusammengefasste Jugendkultur hat mittlerweile, insbesondere für den markanten Fall Sloweniens, kulturwissenschaftliche wie auch politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Die Bewertung ihrer Bedeutung für die spätsozialistische Entwicklung Sloweniens und Jugoslawiens fällt dabei allerdings unterschiedlich aus. Der mittlerweile zum international renommierten Kulturphilosophen aufgestiegene Slavoj Žižek, damals selbst Aktivist der Jugendbewegung, hat in der slowenischen „Punkkultur“ die „wirkungsvollste Form der Kritik in einem für die politische Entwicklung Sloweniens bedeutsamen Zeitpunkt“ gesehen.154 Für andere war der Punk gar „the first manifestation of civil society“ und eine Bewegung, welche die Entwicklung hin zu einer demokratischen Zivilgesellschaft vorbereitet, eingeleitet und vorangetrieben habe.155 Der Musikethnologe Alexei Monroe hat im slowenischen Punk gar die „most high profile and socially influential youth subculture“ in Europa ausgemacht.156 Darin mag eine Neigung zur Über- und, im Falle slowenischer Autoren, gelegentlich auch zur Selbststilisierung zum Ausdruck kommen. Gregor Tomc, der als Mitbegründer der ersten slowenischen Punkband „Pankrti“ („Die Bastarde“) und als späterer kulturwissenschaftlicher Analytiker einen emischen wie etischen Blick auf das Phänomen hat, verwies demgegenüber darauf, dass das Feld der Politik den Punks im Grunde genommen fremd 153 Vgl. im Überblick Friederike Herbst, Rechnet mit uns! Punk und Neue Welle im sozia­ listischen Jugoslawien. In: Südostforschungen, 68 (2009), S. 418–438. Zur mittlerweile vielfach aufgearbeiteten slowenischen Punkszene siehe u. a. Oskar Mulej, A Place Called Johnny Rotten Square: The Ljubljana Punk Scene and the Subversion of Socialist Yugos­lavia. In: Knud Andresen/Bart van der Steen (Hg.), A European Youth Revolt: European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, London 2016, S. 189–202; zu den anderen Republiken vgl. Mišina, „Shake, Rattle and Roll“, S. 140–151, 191–225. 154 Zit. nach Rajko Muršič, Punk Anthropology: from a Study of a Local Slovene Alternative Rock Scene towards Partisan Scholarship. In: László Kürti/Peter Skalník (Hg.), Post­so­ cialist Europe. Anthropological Perspectives from Home, New York 2009, S. 188–205, hier 195. 155 Jozef Figa, Socializing the State: Civil Society and Democratization from Below in Slovenia. In: Melissa K. Bokovoy/Jill A. Irvine/Carol S. Lilly (Hg.), State-Society Rela­ ions in Yugoslavia 1945–1992, New York 1997, S. 164; Alenka Barber-Kersovan, Vom ‚Punk-Frühling‘ zum ‚Slowenischen Frühling‘. Der Beitrag des slowenischen Punk zur Demontage des sozialistischen Wertesystems, Hamburg 2005. 156 Alexei Monroe, Interrogation Machine. Laibach and the NSK-State, MIT 2005, S. 203, 207.

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war. „Punk“, so Tomc, sei eine Lebensweise gewesen, eine Frage von „image, lifestyle, language“, jedoch kein politisches Programm oder gar eine politische Bewegung.157 Dies steht freilich der These nicht entgegen, dass von der um den Punk herum gruppierten jugendlichen Subkultur gleichwohl Impulse für das Entstehen und die zunehmende Versäulung von Zivilgesellschaft ausgegangen sind. Und dies in doppelter Hinsicht: Selbst dort, wo sich die Akteure dieser Subkultur selbst als unpolitisch verstanden, artikulierten sie zum einen das in den 1980er-Jahren im Zeichen der Krise gerade in der Jugend verbreitete Gefühl einer Entfremdung von der Realität des Sozialismus. Sie waren darin nicht antisozialistisch und schon gar nicht anti-jugoslawisch, repräsentierten in ihren Texten und mehr noch in ihrem Habitus aber ihren Widerstand gegen einen als trist empfundenen sozialistischen Alltag.158 Manche der Punkgruppen, allen voran die schon bald auch zu internationalem Ruhm aufsteigende Gruppe „Laibach“ und das mit ihr verbundene Künstlerkollektiv der „Neuen Slowenischen Kunst“ (NSK), waren darüber hinaus in ihrem ganzen Wirken aber auch unmittelbar auf die Dekons­truktion eines auch in der jugoslawischen Variante als totalitär empfundenen Sozialismus ausgerichtet. Schon der deutsche Name der Gruppe, der Assoziatio­nen an die Besatzung der slowenischen Hauptstadt Ljubljana durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg weckte, ihr martialisches Auftreten, ihre eklektizistische Kompilation totalitärer Symbolik und Textfragmenten von „rechts“ und „links“ waren ein „kalkulierter Tabubruch“, der mit dem Mittel der „Überidentifika­tion“ (Žižek) die scheinbare Affirmation als subversive Strategie einsetzte,159 um darin die „versteckte Unterseite“ des Systems sichtbar werden zu lassen.160 Geradezu programmatisch umgesetzt wurde diese Strategie der Ambivalenzerzeugung durch Überidentifikation 1987, als das Künstlerkollektiv der NSK ein nur leicht abgewandeltes Bild des NS-Künstlers Richard Klein als Entwurf für das Plakat der alljährlich aus Anlass von Titos Geburtstag ­veranstalteten ­„Stafette der Jugend“ eingereicht hatte 157 Gregor Tomc, The Politics of Punk. In: Jill Benderley/Evan Kraft (Hg.), Independent Slovenia. Origins, Movements, Prospects, London 1994, S. 132; Pogačar, YU-Rock, S. 823. 158 Mišina, „Shake, Rattle and Roll“, S. 189; Jovanovic, „All Yugoslavia is Dancing Rock and Roll“, S. 61 ff. 159 Zum ästhetischen Konzept der „Überidentifikation“ bei „Laibach“ vgl. u. a. Stevphen Shukaitis, Fascists as Much as Painters: Imagination, Overidentification, and Strategies of Intervention. In: The Sociological Review, 59 (2011) 3, S. 597–615. 160 Aus der Vielzahl an kunsttheoretischen Auseinandersetzungen mit „Laibach“ und der NSK sei hier vor allem verwiesen auf die Analyse von Barber-Kersovan, Vom ‚Punk-Früh­ ling‘ zum ‚Slowenischen Frühling‘, pass.; ferner die Arbeiten von Monroe, Interrogation Machine, pass.; Marcus Stiglegger, Laibach – Sieg unter der Sonne. Eine Rockumentary als politisches Manifest? In: Carsten Heinze/Laura Niebling (Hg.), Populäre Musik­kul­ turen im Film. Inter- und transdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2016, S. 191–212; Marina Gržinić, Linking Theory, Politics and Art. In: Third Text, 21 (2007) 2, S. 199– 206, bes. 200; zu den Einflüssen der russischen Avantgarde auf Laibach und die NSK auch Eva-Maria Hanser, „How the East sees the East“. Russia in the Context of Neue Slowenische Kunst (NSK). In: East Central Europe, 43 (2016), S. 278–297.

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und dafür prämiert worden war. Auch andere Aktivitäten, wie das 1982 nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen von der Universitätsorganisation des Jugendverbandes organisierte Solidaritätskonzert mehrerer slowenischer Rockund Punkgruppen, für das „Laibach“ ein Lied auf den Verantwortlichen des militärischen Ausnahmezustands, General Jaruzelski, beisteuerte,161 waren ein klares politisches Statement, das sich zudem auch als Kritik an den zu dieser Zeit unternommenen Versuchen einer repressiven Eindämmung der Jugendkultur im eigenen Lande lesen ließ. Auch wenn sich die Aktivisten dieser Szene selbst nicht als politisch begriffen, so waren die Folgen ihres kulturellen Engagements es somit gleichwohl. Was, wie es der Kulturwissenschaftler Oskar Mulej bilanziert hat, als Rebellion gegen die Langeweile begann, „had an irreversible impact on the society“.162 „Without offering any alternative programme, except rejecting state power and human rights“,163 trug diese Subkultur zu einem Aufbrechen der kulturellen und politischen Erstarrung der frühen 1970er-Jahre und damit zu einer Pluralisierung der slowenischen Gesellschaft, lange vor dem Ende des Sozialismus, bei. Ihre politische Bedeutung gewann diese Subkultur, zweitens, aber vor allem darin, dass sie in ihrem autonomen Gestus mit der Zeit zunehmend auf andere, gerade auch auf die etablierten und semioffiziellen kulturellen Institutionen ausstrahlte und sich so um die alternative Musikkulturszene herum ein Netz zivilgesellschaftlich und autonom agierender Institutionen und Akteure entfaltete. Die Partei hatte zunächst versucht, die „Punkbewegung“, die sie ab Ende der 1970er-Jahre in den Kreis „oppositioneller Strömungen“ einordnete, mit den herkömmlichen Mitteln ideologischer Stigmatisierung, indirekter Behinderung oder auch direkter Repression zu bekämpfen. Die Punks wurden als „­Neonazis“ denunziert, Auftrittsmöglichkeiten wurden beschränkt, eine „Schund-Steuer“ sollte die Gruppen finanziell treffen, gelegentlich intervenierte die Polizei bei Konzerten, vereinzelt wurden Punks verhaftet. Derartige Instrumente erwiesen sich freilich zunehmend als stumpf. Gruppen wie ­„Pankrti“ oder „Laibach“, deren Auftritte man zunächst in Slowenien hatte verbieten wollen, traten in anderen jugoslawischen Republiken auf; der Föderalismus erwies sich auch hier mithin als pluralisierendes Element. Schon ab den frühen 1980er-Jahren waren ihre Auftritte selbst im slowenischen Staatsfernsehen nicht mehr zu verhindern.164 „Pankrti“, die Ende der 1970er-Jahre mit Auftrittsverboten belegt und vom Geheimdienst beobachtet worden waren, erhielten Anfang der 1980er-Jahre sogar einen Orden des Jugendverbandes. Als Desaster für die Kriminalisierungsstrategie des Staates erwies sich 1981 die „Nazi-Punk-­

161 Vgl. Jovanovic, „All Yugoslavia is Dancing Rock and Roll“, S. 68 f. 162 Mulej, „We are Drowning the Red Beet“, S. 387. 163 Muršič, Punk-Anthropology, S. 196. 164 Vgl. Marija Ristivojević, Rokenrol kao lokalni muzički fenomen. In: Etnoantropolški problem, 7 (2012) 1, S. 213–233, hier 222 f.; Jovanović, „All Yugoslavia is Dancing Rock and Roll“, S. 133 f.

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Affäre“, als man Mitglieder einer völlig unbekannten Punkgruppe wegen angeblicher Verbreitung nationalsozialistischer Insignien vor Gericht zerrte, dort aber letztlich mit einer Anklage scheiterte.165 Nach den Repressionsversuchen der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre musste der Staat der Jugendkultur so zunehmend autonome Räume überlassen – ein Symptom dafür, dass seine eigenen Kontrollressourcen über die Gesellschaft zunehmend erodierten.166 Im Umfeld dieser Auseinandersetzung zwischen Staat und jugendlicher Subkultur emanzipierten sich so zunehmend auch die etablierten und eher staats- und parteinahe Institutionen und Akteure. Von der kritischen Intelligenz lange Zeit mit einiger Distanz betrachtet, erkannten auch deren Organe zunehmend deren Bedeutung für eine zivilgesellschaftliche Dynamisierung der slowenischen Gesellschaft.167 Nachdem die jugendliche Subkultur zunächst im einflussreichen Studentenradio sowie im studentischen Jugendklub Unterstützung gefunden hatte, rang sich ab Mitte der 1980er-Jahre auch der offizielle kommunistische Jugendverband dazu durch, die sich um den Punk herum bildende Jugendkultur als Ausdruck einer wachsenden Distanzierung der Jugend vom System zu deuten, der man dadurch zu begegnen versuchte, dass man ihr innerhalb des Jugendverbandes Repräsentations- und Artikulationschancen eröffnete. Nicht zuletzt an der Frage zur Haltung zur Jugendkultur löste sich der Jugendverband auf diesem Wege zunehmend aus seiner parteikonformen Sozialisations- und Disziplinierungsfunktion und wurde seit Mitte der 1980er-Jahre mehr und mehr zu einem autonomen Dach, unter dem sich zivilgesellschaftliche Organisationen und Bestrebungen sammeln konnten.168 Die slowenische Jugendsubkultur war aber nur ein Nukleus und ein Katalysator dieser sich mit den frühen 1980er-Jahren zunehmend verdichtenden zivilgesellschaftlichen Strukturen. Friedensinitiativen, ökologische Gruppen, Homosexuellen-Vereinigungen und andere bildeten bereits in den 1980er-Jahren ein Netz an zivilgesellschaftlichen Organisationen,169 auf das Staat und Partei kaum

165 Vgl. Ali H. Žerdin, Kratki kurz zgodovine panka. In: Peter Lovšin/Peter Mlakar/Igor Vid­ mar (Hg.), Punk je bil prej! 25 let Punka pod Slovenci, Ljubljana 2002, S. 17 ff., 33, 44. 166 Vgl. Gregor Tomc, A Tale of Two Subcultures: A Comparative Analysis of Hippie and Punk Subcultures in Slovenia. In: Luthar/Pušnik (Hg.), Remembering Utopia, S. 165– 197, hier 192. 167 Vgl. etwa die Haltung der soziologisch-philosophischen Zeitschrift „Problemi“, die sich im Gefolge der „Nazi-Punk-Affäre“ an die Seite der jugendlichen Subkultur als eines Ausdrucks der Krise des Sozialismus stellte. Vgl. hierzu Helena Motoh, „Punk is a Symp­­ tom“. Intersections of Philosophy and Alternative Culture in the 80’s, Slovenia. In: Syn­ thesis Philosophica, 54 (2012) 2, S. 285–296, hier 291 f. 168 Vgl. Spasovska, Stairway to Hell, S. 7 ff. Zur schrittweisen Autonomisierung des Jugend­ verbands Tjaša Turnšek, Kulturna politika v času socializma: odnos Zveze socialistične mladine Slovenije do punk gibanja v sedemdesetih in osemdesetih leta prejšnjega stolet­ ja, Univerza v Ljubljani. Fakulteta za društvene vede: Diplomsko delo, Ljubljana 2015. 169 Vgl. Tomaž Mastnak, From Social Movements to National Sovereignity. In: Benderley/ Kraft (Hg.), Independent Slovenija, S. 93–111, hier 95 ff.

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mehr ihren Kontrollanspruch auszudehnen vermochten. Zeitschriften wurden zu Publikationsforen eines öffentlichen zivilgesellschaftlichen Diskurses, der sich im Laufe der 1980er-Jahren von allen parteipolitischen Reglementierungen löste. Vor allem in Gestalt der Zeitschrift „Nova Revija“, die kritische Intellektuelle bereits 1982 der Parteiführung abgetrotzt hatten, gewann dieser zivilgesellschaftliche Diskurs ein Organ, das mit seiner national-liberalen Ausrichtung nicht nur den Rahmen des Sozialismus hinter sich ließ, sondern in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre auch zunehmend die Logik jugoslawischer Staatlichkeit infrage stellte.170 Am Ordnungsrahmen des Sozialismus festhaltend, jedoch in radikaler Kritik zur Praxis des bestehenden Herrschaftssystems, wurde daneben die Zeitschrift des Jugendverbandes „Mladina“ zu einem einflussreichen Organ der Zivilgesellschaft, das mit einer Auflage von zeitweilig 80 000 Exemplaren weit über den Status einer Jugendzeitschrift hinausreichte. Jugendverband und Zeitschrift wurden auch zum Vorreiter konkreter zivilgesellschaftlicher Initiativen wie etwa der Forderung nach Einführung eines Zivildienstes oder nach Abschaffung der längst anachronistisch gewordenen sozialistischen Mobilisierungsrituale der Partei wie dem „Tag der Jugend“ an Titos Geburtstag. Mit dieser Rolle des Jugendverbandes und seiner Zeitschrift übernahm Slowenien innerhalb Jugoslawiens zweifelsohne eine Vorreiterrolle. Ähnliche Versuche einer Autonomisierung der Jugendorganisation gelangen anderswo nicht. In Kroa­tien etwa hatte das Jugendorgan „Polet“ in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre ebenfalls versucht, sich weniger an den Sozialisationszielen der Partei denn an den Interessen der Jugendlichen zu orientieren, konnte sich jedoch aus der Umklammerung der Partei im restriktiven Klima der Zeit nach 1971 kaum lösen.171 Die sich so seit den späten 1970er-Jahren in Slowenien verstetigenden zivil­ gesellschaftlichen Strukturen nahmen dabei nicht, wie etwa im Polen der 1980er-Jahre, den Charakter einer organisierten „Opposition“ an und sie kamen auch, worauf slowenische Autoren verwiesen haben, ohne die Leitfigur des „Dissidenten“ aus. In mancher Hinsicht trugen sie – ebenfalls im Unterschied zu anderen osteuropäischen Staaten wie Polen oder der ČSSR, wo die Konfrontation mit dem Staat sehr viel mehr von der Auseinandersetzung zweier Ideologien, einer westlich-liberalen und einer sozialistischen, geprägt war – sogar eher postideologische Züge, da sie weniger an konkreten politischen Programmen denn an dem Ziel individueller Selbstverwirklichung und Autonomisierung interessiert waren.172 Gegenüber diesen sich verdichtenden zivilgesellschaftlichen

170 Vgl. Marko Zajc, Slovenski intelektualci in jugoslovanstvo v osemdesetih letih: hodišča in teze. In: Čepič (Hg.), Slovenija v Jugoslaviji, S. 241–255. 171 Vgl. Željko Krušelj, Mehanizmi političke kontrole nad omladinskom tisku u socijalistič­ koj Hrvatskoj na primjeru Polet (1976–1990). In: Historijski Zbornik, LXVIII (2015) 2, S. 323–349. 172 Vgl. Mastnak, From Social Movements, S. 95; Žiga Vodovnik, Demokratizacija in nova družbena gibanja. In: Teorija in praksa, 51 (2014) 2–3, S. 415–433, hier 419 f.

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Enklaven vermochte auch die Partei ihren anfänglichen Konfrontationskurs spätestens seit Mitte der 1980er-Jahre nicht mehr durchzuhalten. Sie musste ihnen zunehmend öffentliche Räume überlassen, suchte aber auch den Dialog, um ihre eigene angegriffene Legitimität zu stützen und um sich in der Gesellschaft für die sich in dieser Zeit zuspitzenden Auseinandersetzungen auf Bundesebene mit der Politik eines Slobodan Milošević um die zukünftige Gestaltung Jugoslawiens Rückhalt zu holen. Neben Slowenien war es vor allem Serbien, wo sich seit Mitte der 1970er-Jahre und dann vor allem nach dem Tode Titos 1980, wenn auch unter anderen politischen Rahmenbedingungen und letztlich auch mit einer anders gelagerten politischen Profilierung, eine Szene des Dissenses und der Dissidenz entfaltete. Wer im Wissen um die nationalistischen Verwerfungen der Milošević-Ära auf die Geschichte der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre blickt, der übersieht leicht, dass Belgrad in dieser Zeit neben Slowenien ein weiteres Zentrum r­ egime- und systemkritischer Diskurse und Aktivitäten war. Anders als in Slowenien war es hier nicht eine jugendliche Subkultur, von der derartige zivilgesellschaftliche Akzente ausgingen, sondern eine kritische Intelligenz, gruppiert vor allem um Wissenschaftler und Schriftsteller.173 Ihre Aktivitäten wurden zunächst provoziert durch die sich gerade in Serbien zum Anfang der 1980er-Jahre verdichtenden Attacken der Partei auf die Kulturschaffenden, die zum Verbot von Büchern, Filmen und Theaterstücken, aber auch zu strafrechtlichen Anschlägen auf Schriftsteller und Künstler geführt hatten. Mit Petitionen für eine Amnestie politisch Verurteilter und gegen die staatlichen Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit, mit der Gründung von Vereinigungen zum Schutze der künstlerischen Freiheit und der Wahrung der Menschenrechte suchten sie dem Angriff der Partei auf die Kultur entgegenzutreten. In Gestalt einer dem polnischen Vorbild folgenden „fliegenden Universität“ etablierte sich aus dem Kreise der von der Universität relegierten kritischen Intellektuellen über Jahre hinweg eine akademische Gegenöffentlichkeit, bevor sie 1984 vom Staat unterbunden wurde.174 Auf diese Weise entstand in den 1980er-Jahren eine tief in die akademische und künstlerische Intelligenz hineinreichende dissidentische Szene. Von ihr gingen nicht nur Protestaktionen gegen die autoritären Exzesse der Parteipolitik aus, sondern auch wichtige Impulse zu einer generellen Kritik des sozialistischen Systems und der herrschenden Verhältnisse. Vor allem war es die Reevaluierung des offiziösen Geschichtsbildes, mit der die serbischen Intellektuellen das ideologische Legitimationsgerüst der Partei infrage stellten. Im Aufgreifen von über Jahrzehnte hinweg tabuisierten Themen wie der Partisanengewalt im

173 Vgl. umfassend Jasna Dragović Soso, ‚Saviours of the Nation: Serbia’s Intellectual Oppo­ sition and the Revival of Nationalism, London 2002. 174 Vgl. Nick Miller, The Nonconformists. Culture, Politics and Nationalism in a Serbian Intellectual Circle, 1944–1991, Budapest 2007, S. 252 ff.; Nebojša Popov, Beogradski jun 1968 godine. In: Fondacija „Heinrich Böll“ (Hg.), Povratak u šezdeset osmu. 40 godina od protesta, Beograd o. J. [2008], S. 83–94, hier 92 f.

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Zweiten Weltkrieg, dem jugoslawischen Stalinismus der frühen Nachkriegsjahre, aber auch der Rolle und der Person Titos begannen sie schon unmittelbar nach dem Ableben der sakrosankten Führerfigur 1980 mit der Dekonstruktion zentraler ideologischer Säulen der von ihm geschaffenen und hinterlassenen Herrschaftsordnung. Anders als in Slowenien, wo die zivilgesellschaftliche Szene sich zunehmend eine eigene, auch innerhalb des Systems letztlich geduldete und institutionell versäulte Öffentlichkeit eroberte, entsprach die serbische Szene in ihrem Wirken und auch in ihrer Zusammensetzung in vielem sehr viel mehr dem Typus der osteuropäischen Dissidentenbewegung. Die Petitionsaktivitäten etwa folgten dem Rollenvorbild der tschechischen „Charta 77“, die „fliegende Universität“ dem polnischen Beispiel, im damals namhaftesten serbischen Schriftsteller Dobrica Ćosić fand sie auch eine personalisierte Symbolfigur. Im Unterschied zu anderen osteuropäischen Dissidentenszenen etwa in der ČSSR oder der UdSSR, die weithin von den bestehenden akademischen und publizistischen Institutionen ausgeschlossen blieben und in einer Art Untergrund und des Samisdat agieren mussten, konnten die meisten der serbischen Akteure allerdings selbst in der Position des Dissidenten noch aus den etablierten Institutionen heraus agieren. Wenngleich manche von ihnen, wie etwa die relegierten „Praxis-Professoren“ auch berufliche Degradierungen hatten hinnehmen müssen, so boten vor allem die Serbische Akademie der Wissenschaften und der Schriftstellerverband vielen der intellektuellen Kritiker einen institutionellen Ort, von wo aus sie ihre Kritik am System und seiner Herrschaftspraxis artikulieren und popularisieren konnten.175 Wie in Slowenien glaubte auch in Serbien die Partei zunächst noch mit dem Mittel des Strafrechts gegen solche Bestrebungen vorgehen zu können, musste jedoch auch hier – nicht zuletzt aufgrund der Mobilisierung der nationalen und der internationalen Öffentlichkeit – zunehmend zurückweichen. Der letzte politische Prozess in Serbien (sieht man einmal vom Sonderfall der um diese Zeit weiter eskalierenden Repression im Kosovo ab) fand 1984 statt, als Mitglieder der „fliegenden Universität“ strafrechtlich belangt wurden. Die Tatsache, dass von den zunächst 28 Verhafteten nur sechs angeklagt, von diesen letztlich nur zwei verurteilt wurden und nur einer seine Strafe auch antreten musste,176 macht aber bereits deutlich, wie sehr die Sanktionsmacht der Partei zu dieser Zeit bereits im Schwinden war. Was die beiden Zentren dissidentischer Strömungen in Slowenien und in Serbien einte war zweierlei: Zum einen wurde in beiden Republiken das zivil­ gesellschaftliche Anliegen von Anfang an stark durch die sich in dieser Zeit zuspitzende nationale Frage herausgefordert, überwölbt und teilweise auch kontaminiert. In Serbien war dies sicherlich stärker der Fall als in Slowenien.

175 Zur Rolle des Schriftstellerverbandes vgl. Jasna Dragović-Soso, Intellectuals and the Col­ lapse of Yugoslavia: The End of the Yugoslav Writer’s Union. In: Dejan Jokić (Hg.), Yugo­ slavism. Histories of a Failed Idea 1918–1992, London 2003, S. 268–285, hier 275. 176 Vgl. Srđan Cvetković, „Proces šestorici.“ Početak kraja ideološkog progona u socijalistič­ koj Srbiji. In: Tokovi istorije, 3 (2012), S. 242–256.

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Schon die frühen dissidentischen Aktivitäten Anfang der 1970er-Jahre nahmen hier ihren Ausgangspunkt weniger von der Frage menschen- und freiheitsrechtlicher Defizite des Systems, wenngleich auch diese thematisiert wurden, sondern sie richteten sich vor allem gegen die seit 1971 eingeleitete radikale Föderalisierung des Landes, die in intellektuellen Kreisen Serbiens als Benachteiligung der eigenen Republik gewertet wurde.177 Gegen die Verfassungsänderungen von 1971 gewandt, kritisierten Akademiker wie der Jurist Mihajlo Đurić öffentlich die Neuordnung der Föderation als Umwandlung Jugoslawiens in „eine Reihe selbstständiger, unabhängiger, ja gegensätzlicher nationaler Staaten“, mit der vor allem „das serbische Volk in eine nicht gleichberechtigte Lage gegenüber den anderen Völkern in Jugoslawien“ gebracht werde178 – eine Kritik, für die der Verfasser in einem rechtsstaatlich mehr als fragwürdigen Verfahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.179 Auch in den Folgejahren war ein Gutteil des intellektuellen Dissenses von eben jener „serbischen nationalen Frage“ motiviert. Vor allem in der Serbischen Akademie der Wissenschaften und im Schriftstellerverband konzentrierte sich diese national-serbische Opposition, und beide Institutionen begannen, sich im Verlauf der 1980er-Jahre zu einem „parallelen Machtzentrum“180 neben der Partei zu entwickeln, welches den öffentlichen Diskurs mehr und mehr okkupierte und damit auch die politischen Instanzen unter Druck setzte. Insbesondere die Kosovo-Frage, hinter der sich die als serbischer Souveränitätsverlust empfundene Autonomie der dortigen Provinz und die vermeintliche Gefährdung der dortigen Serben verbargen, wurde zum Schlüsselthema der national-serbischen Dissidenten. Damit gerieten freilich auch deren allgemeine menschenrechtliche Positionen mehr und mehr in den Hintergrund. Hatten die frühen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der serbischen Intellektuellen, etwa gegen den Strafgerichtsparagrafen 133 und für die Solidarisierung mit politischen Gefangenen, immer auch die Betroffenen in anderen Republiken mit einbezogen, so verhielten sich die serbischen Dissidenten im weiteren Verlauf der 1980er-Jahre, etwa gegenüber der Repression gegen die Albaner im Kosovo, auffallend zurückhaltend, ja stellten sich bisweilen gar an die Seite der repressiven Politik der serbischen Regierung. Auch die vor allem von Schriftstellern in den frühen 1980er-Jahren vorangetriebene Enttabuisierung historischer Fragen wurde mehr und mehr zu einem serbisch-­nationalistischen 177 Vor allem die Tatsache, dass sich allein Serbien innerhalb der Grenzen seiner Republik mit zwei Provinzen konfrontiert sah, der Vojvodina und dem mehrheitlich albanisch besiedelten Kosovo, denen mit den Verfassungsänderungen von 1971 und 1974 fast der gleiche Status zugebilligt worden war wie den Republiken, wurde in Serbien als Be­ schneidung der eigenen Souveränität gedeutet. 178 So Đurićs Auslassungen in einer Debatte der Juristischen Fakultät vom März 1971, de­ ren Veröffentlichung zunächst in der Zeitschrift „Student“ und in der Fachzeitschrift der Juristischen Fakultät zum Verbot der beiden Publikationen führte, hier nach dem Abdruck in Mihajlo Đurić, Iskustvo razlike. Suočavanja s vremenom, Beograd 1994, hier S. 13, 15. 179 Vgl. Đurićs Verteidigungsrede vor Gericht. In: ebd., S. 22–31. 180 Stojanović, Noga u vratima, S. 27.

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­ eschichtsrevisionismus, der damit seine kritisch-reflexiven Potenziale einzubüG ßen begann. Seinen gleichsam programmatischen Ausdruck fand diese Renatio­ nalisierung dissidentischer Kritik in dem auch internationale Aufmerksamkeit e­rregenden „Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften“ aus dem Jahre 1986, das auf namhafte Vertreter dieser national-serbischen Intellektuellenszene zurückging. Das Memorandum ist in der späteren Literatur immer wieder missdeutet worden. Es war sicherlich nicht das großserbische „Kriegsprogramm“, als welches es aus dem Wissen um die militärischen Konflikte der 1990er-Jahre heraus gelegentlich gelesen worden ist. Wohl aber schuf es ein Gegennarrativ gegen die bis dahin gültige Selbstbeschreibung jugoslawischer Staatlichkeit und serbischer Geschichte, das mit seiner Behauptung eines ewig benachteiligten Serbiens eine Programmatik lieferte, auf welche sich ein Slobodan Milošević in seiner Politik nationaler Mobilisierung berufen konnte.181 Nachdem mit der Übernahme der Führung in Partei und Republik durch Milošević 1986 dieser Nationalismus zur offiziösen Politik wurde, verlor die national-serbische Intelligenz denn auch einen Gutteil ihres „dissidentischen“ Charakters. Zwar blieb ihre kritische Distanz zu den auch unter Milošević aufrecht erhaltenen autoritären Systemstrukturen gewahrt; die Schnittmengen in der nationalen Frage aber ließen viele der einstigen Dissidenten jetzt wieder näher an die Macht heranrücken oder machten sie gar, wie im Falle des ehemaligen „Praxis-Philosophen“ Mihailo Marković, zu deren offenen Koalitionären. Hatte sich die serbische Dissidenz somit zunächst noch um ein „merging of two strands of oppostion“,182 dem zivilgesellschaftlichen und dem serbisch-nationalen, bemüht, so verschob sich das Pendel in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zunehmend zugunsten einer nunmehr ganz dominant nationalistischen Kritik. Auch in Slowenien war das Aufleben zivilgesellschaftlicher Bestrebungen von nationalen Untertönen nicht frei; das Bild war hier allerdings facettenreicher. Im Kreise der sich seit 1982 um die Zeitschrift „Nova Revija“ herum gruppierenden Intellektuellen etwa orientierte man sich an einer „peculiar form of liberal nationalism“,183 in welcher die Frage der slowenischen Souveränität als vermeintliche Vorbedingung jeglicher Demokratisierung zunehmend in den Vordergrund rückte, ohne dabei allerdings die zivilgesellschaftliche Komponente des Denkens und Handelns zu verschütten. Die Perspektive eines jugoslawischen Staatsverbandes verlor dabei freilich gegenüber der Option slowenischer Eigenstaatlichkeit im Laufe der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre immer weiter an Bedeutung und war zuletzt allenfalls noch im Sinne eines lockeren jugoslawischen Staatenbundes denkbar, sodass auch auf dieser Seite die nationale Frage

181 Vgl. die ausgewogene Inhaltsanalyse bei Olivera Milosavljević, Zloupotreba autoriteta nauke. In: Nebojša Popov (Hg.), Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pamćenju, Beograd 1996, S. 305–338. 182 Miller, The Nonconformists, S. 267. 183 Marko Zajc, Slovenian Intellectuals and Yugoslavism in the 1980s. Propositions, Theses, Questions. In: Südosteuropäische Hefte, 4 (2015) 1, S. 46–65, hier 55.

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einen Primat gewann. Bei anderen, eher linken Teilen der Zivilgesellschaft, wie vor allem aufseiten der sich völlig aus der Parteikontrolle lösenden Zeitschrift des Jugendverbandes „Mladina“ spielte die nationale Frage hingegen bis in die späten 1980er-Jahre hinein nur eine nachgeordnete Rolle. Der Priorität kam hier, so der damalige „Mladina“-Autor Slavoj Žižek, der Forderung nach Demokratie zu, nicht der nach staatlicher Souveränität.184 Erst die Zuspitzung der slowenisch-serbischen Konfrontation in den letzten zwei Jahren vor dem gewaltsamen Staatszerfall 1991 ließ auch auf dieser Seite die Frage von nationaler Souveränität und Demokratisierung näher aneinanderrücken. Es waren denn auch vornehmlich die Divergenzen in der nationalen Frage, nicht die Forderung nach einer pluralistisch-freiheitsrechtlichen Auffrischung des jugoslawischen Sozialismus, an welcher alle Bemühungen um eine gesamtjugoslawische zivilgesellschaftliche Bewegung letztlich scheiterten. Über die Grenzen der Republiken hinwegreichende Protestaktionen blieben eine Ausnahme. Das von den serbischen Dissidenten um Dobrica Ćosić ausgehende Bemühen um die Gründung einer gesamtjugoslawischen kritischen Zeitschrift 1980/81 scheiterte zwar letztlich am staatlichen Verbot, hatte aber, von einzelnen Mitstreitern aus dem Kreise der ehemaligen „Praxis-Intellektuellen“ in anderen Republiken abgesehen, auch davon unabhängig keine breite gesamtjugoslawische Unterstützung finden können. Symbolischer Ausdruck dieses Scheiterns transethnischer zivilgesellschaftlicher Solidarität war ein Treffen serbischer und slowenischer Intellektueller 1985 in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, das aufgrund der letztlich inkompatiblen Positionen in der nationalen Frage zu keiner gemeinsamen Sprache und schon gar nicht zu gemeinsamem Handeln fand.185 Allemal chancenlos blieben die Versuche einer gesamtjugoslawischen parteipolitischen Formierung der kritischen Intelligenz, die in den letzten Jahren vor dem kriegerischen Zerfall des Staates ein demokratisch-pluralistisches, aber eben auch jugoslawisches Gegengewicht gegen die zunehmende ethnozentristische Mobilisierung in den einzelnen Republiken zu setzen versuchte. Der von serbischen Intellektuellen aus dem Umkreis der ehemaligen „Praxis-Gruppe“ ausgehende Versuch zur Bildung einer „Vereinigung für eine demokratische jugoslawische Initiative“ scheiterte nicht nur an den Steinen, die ihm von staatlicher Seite in den Weg gelegt wurden, sondern mehr noch daran, dass eine solche gesamtjugo­slawische Partei selbst unter den zivilgesellschaftlich ausgerichteten Akteuren anderer Republiken nicht mehr konsensfähig war. Was beide Zentren zivilgesellschaftlicher Strömungen, die slowenischen wie die serbischen, zum zweiten einte, war aber nicht nur die starke In­to­xi­ka­ti­on

184 Vgl. die Inhaltsanalyse der Zeitschrift bei Patrick Hyder Patterson, The East is Red: the End of Communism, Slovenian Exceptionalism, and Independent Journal Mladina. In: East European Politics and Societies, 14 (2000) 2, S. 411–459. 185 Vgl. zu diesem Treffen aus serbischer Perspektive Dobrica Ćosić, Srpsko pitanje – demokratsko pitanje, Beograd 1992, S. 69–75, sowie seine späteren Briefe an drei der slowenischen Mitwirkenden: ebd., S. 76–110.

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Wolfgang Höpken

zivilgesellschaftlichen Denkens mit der nationalen Frage, sondern auch die Tatsache, dass die kommunistischen Parteien in beiden Republiken ihren zunächst repressiven Kurs zunehmend in Richtung auf eine Duldung oder gar auf eine Allianz mit den Kritikern ihrer Macht änderten. Die Frage eines Systemwandels, weg vom Einparteiensystem und hin zu postsozialistischen pluralistischen Strukturen, blieb dabei zwar noch bis zur Wende des Jahres 1990 eine Bruchzone im Verhältnis zwischen kommunistischer Partei und Zivilgesellschaft. Auch hier zeigte sich die slowenische Partei allerdings flexibler. Wenngleich auch sie bis zum Jahr 1990 am Prinzip einer monopolistischen Parteiherrschaft festzuhalten hoffte, so ging sie sehr viel früher und entschiedener auf die politischen Transformationserwartungen der Zivilgesellschaft ein, als dies in Serbien der Fall war, wo „Transformation“ in der Perspektive der Partei vor allem als eine Rezentralisierung Jugoslawiens und als Festhalten am Sozialismus verstanden wurde. Für beide, die slowenische wie die serbische Partei, bildete die Zivilgesellschaft in nationaler Hinsicht aber zugleich einen Partner, um dessen Unterstützung man sich in der sich verschärfenden Konfrontation zwischen Belgrad und Ljubljana um die Frage der staatlichen Zukunft Jugoslawiens bemühte.

Fazit Von einem Gesamtbild einer „bleiernen Zeit“ wird man somit für die 1970er-, schon gar nicht für die 1980er-Jahre sprechen können, allemal nicht von einem „Neostalinismus“, in den Jugoslawien in diesen beiden letzten zwei Dekaden seiner Existenz als sozialistischer Staat zurückgefallen sei. Ungeachtet der gerade in diesen beiden Jahrzehnten zunehmenden Kontroll- und Repressionsintensität durch die Partei, waren diese Jahre zugleich eben auch einer wiederauflebenden und zunehmenden Dynamisierung unterschiedlichster zivilgesellschaftlicher Gegenströmungen, die der Pluralisierung und letztlich der Erosion der sozialistischen Ordnung zuarbeiteten. Dass diese Erosion dabei nicht in einer friedlichen Transformation endete, sondern in einem kriegerischen Desaster, das auch viele der zivilgesellschaftlichen Impulse dieser Epoche zunichtemachte, markiert wiederum eine (tragische) Pfadbesonderheit der jugoslawischen Entwicklung. Mit Blick auf alle drei hier zu verhandelnden Felder, der Parteiherrschaft, den Kapazitäten sozialer Integration wie auch den Handlungsräumen von Zivilgesellschaft, hieße es freilich, die letzte Etappe der Geschichte des jugoslawischen Sozialismus und des jugoslawischen Staates allzu sehr von ihrem Scheitern her zu lesen, wenn man die 1970er-Jahre ausschließlich als „den Anfang vom Ende“ beschreibt.186 Mit Dejan Jović wäre demgegenüber darauf zu verweisen, dass „Jugoslawiens Ende viele Anfänge“ gehabt hat,187 und auch und gerade die 1970er- und 1980er-Jahre waren in dieser Hinsicht Jahrzehnte der Ambivalenz und nicht nur das Präludium eines zwangsläufigen Endes. 186 So der Titel bei Calic, The Beginning of the End, passim. 187 Jović, Reassessing Socialist Yugoslavia, S. 135.

X. Anhang

Abkürzungsverzeichnis

527

Abkürzungsverzeichnis ÁBTL ADIRI AfNS AK ÁVH BAP(k) BdKJ BEK BKP BMAS BSP CDU CIA CNSAS Comecon ČSDS ČSL ČSNS ČSR ČSS ČSSR DA DDR Dj DMP DS DSU EKD FDGB FDP FIDESZ FKGP GRU

Állambiztonsági Szolgálatok Történelmi Levéltára (Historisches Archiv der Ungarischen Staatssicherheit) Asociaţia de Drept Internaţional şi Relaţii Internaţionale (Gesellschaft für Völkerrecht und Internationale Beziehungen) Amt für Nationale Sicherheit Armia Krajowa (Heimatarmee) Államvédelmi Hatóság [ungarischen Staatsschutzbehörde] Bulgarische Arbeiterpartei Bund der Kommunisten Jugoslawiens Bund der Evangelische Kirchen in der DDR Balgarska Komunisticeska Partija (Bulgarische Kommunistische Partei) Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bălgarska Socialističeska Partija (Bulgarische Sozialistische Partei) Christlich Demokratische Union Central Intelligence Agency Consiliul Naţional pentru Studierea Arhivelor Securităţii (Nationalrat für die Erforschung der Archive der Geheimpolizei) Council for Mutual Economic Assistance (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) Česká sociálně demokratická strana (Tschechische Sozialdemokratische Partei) Československá strana lidová (Tschechoslowakische Volkspartei) Česká strana národně sociální (Tschechische Volkssozialistische Partei) Česká socialistická republika (Tschechische Sozialistische Republik) Československé strany socialistické (Tschechoslowakische Sozialistische Partei) Československá socialistická republika (Tschechoslowakische Sozialistische Republik) Demokratischer Aufbruch Deutsche Demokratische Republik Demokratie jetzt Volksverteidigungsdivision Demokratická strana (Demokratische Partei) Deutsche Soziale Union Evangelische Kirche in Deutschland Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Demokratische Partei Fiatal Demokraták Szövetsége (Bund Junger Demokraten) Független Kisgazda-, Földmunkás- és Polgári Párt (Unabhängige Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums) Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (Hauptverwaltung für Aufklärung)

528 GUS GYED GYES HOS IFM IAPPA ILO IM IPN IWF KFHW KGB KgU KKP Komintern KOR KP KPD KPdSU KPI KPN KPP KPSS KSČ KSP KSS KSZE LDP(D) MDF MDP MfS MKP MSZMP MSW MSZDP MSZP

Anhang Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Gyermekgondozási Díj (Zuwendung zur Kinderpflege) Gyermekgondozási Segély (Beihilfe zur Kinderpflege) Hnutí za občanskou svobodu (Bewegung für bürgerliche Freiheiten) Initiative Frieden und Menschenrechte Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung International Labour Organization (Internationale Arbeits­ organisation) Inoffizieller Mitarbeiter Instytut Pamięci Narodowej (Institut des Nationalen Gedenkens) Internationaler Währungsfonds Kirchliches Forschungsheim Wittenberg Komitet gossudarstwennoi besopasnosti pri Sowjete Ministrow SSSR (Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR) Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Krajowa Komisja Porozumiewawcza (Landeskoordinierungsausschuss) Kommunistische Internationale Komitet Obrony Robotników (Komitees zur Verteidigung der Arbeiter) Kommunistische Partei Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kommunistische Partei Italiens Konfederacja Polski Niepodległej (Konföderation Unabhängiges Polen) Komunistyczna Partia Polski (Kommunistische Partei Polens) Kommunističeskaja partja Sovetskogo Sojuza (siehe KPdSU) Komunistická strana Československa (Kommunistische Partei der Tschechoslowakei) Kluby samodejatel’noj pesni (Bewegung der Liedermacherklubs) Komitet Samoobrony Społecznej (Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung), Komunistická strana Slovenska (Kommunistische Partei der Slowakei) Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Liberaldemokratische Partei (Deutschlands) Magyar Demokrata Fórum (Ungarisches Demokratisches Forum) Magyar Dolgozók Pártja (Partei der Ungarischen Werktätigen) Ministerium für Staatssicherheit Magyar Kommunista Párt (Ungarischen Kommunistischen Partei) Magyar Szocialista Munkáspárt (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) Ministerstwo Spraw Wewnętrznych (Ministerium für innere Sicherheit) Magyarországi Szociáldemokrata Párt (Ungarische Sozialdemokratische Partei) Magyar Szocialista Párt (siehe USAP)

Abkürzungsverzeichnis NF NGO NKWD NOIJ NS NSK NSWP NSZZ NZS OA OBOP OECD OPZZ OTT PDS PiS PKSH PNL PNT PPR PPSH PSL PPS PVAP PZPR RAP RKP RKP/b ROPCiO RSDRP(/b) RSFSR SAPMO SBZ SD SDP

529

Nationale Front, Neues Forum Nongovernmental Organisation Volkskommissariat des Inneren der UdSSR Napi Operatív Információs Jelentés (System der täglichen operativen Meldungen) Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Neue Slowenische Kunst Nationalsozialer Wirtschaftsplan Niezależny Samorządny Związek Zawodowy (Sich Selbst Verwaltende Gewerkschaft) Niezależne Zrzeszenie Studentów (Unabhängiger Studentenverband) Offene Jugendarbeit Ośrodek Badania Opinii Publicznej [ein Meinungsforschungs­ institut in Polen] Organisation for Economic Co-operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych (Gesamtpolnische Verständigung der Gewerkschaften) Országos Társadalombiztosítási Tanács (Landesrat der Sozialversicherung) Partei des Demokratischen Sozialismus Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) Partia Komuniste e Shqipërisë (Kommunistische Partei Albaniens) Partidul Naţional Liberal (Nationalliberale Partei) Partidul Naţional Ţărănesc (Nationale Bauernpartei) Polska Partia Robotnicza (Polnische Arbeiterpartei) Partia e Punës e Shqipërisë (Partei der Arbeit Albaniens) Polskie Stronnictwo Ludowe (Polnische Bauernpartei) Polska Partia Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei) Polnische Vereinigte Arbeiterpartei Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (siehe PVAP) Rumänische Arbeiterpartei Rumänische Kommunistische Partei Russische Kommunistische Partei/Bolschewiki Ruch Obrony Praw Człowieka i Obywatela (Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte) Rossijskaja sozijal-demokratitscheskaja rabotschaja partija (/bolschewikow) Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (/Bolschewiki) Rossijskaja sowetskaja federatiwnaja sozialistitscheskaja respub­ lika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Sowjetische Besatzungszone Stronnictwo Demokratyczne (Demokratisches Bündnis) Sozialdemokratische Partei

530 SDS SED SFRJ SIE SLOMR SPD SRI SSl SSO SSR SZDSZ SZETA TKK TKN UdSSR UFJ UNA-UNSO UNO UPA USA USAP VEB VfZ VKP/b VL VMRO VONS VRP WiN WRON ZK ZMS ZSL

Anhang Sajus na Demokratitschnite Sili (Union der Demokratischen Kräfte) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien Serviciul de Informaţii Externe (Externer Nachrichtendienst) Sindicatul Liber al Oamenilor Muncii din România (Freie Gewerkschaft der Arbeitnehmer Rumäniens) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Serviciul român de informaţii (Rumänischer Informationsdienst = Inlandsgeheimdienst) Strana slobody (Slowakische Freiheitspartei) Strana slovenskej obrody (Partei der Slowakischen Erneuerung) Slovenská socialistická republika (Slowakische Sozialistische Republik) Szabad Demokraták Szövetsége (Bund Freier Demokraten) Szegényeket Támogató Alap (Fonds zur Unterstützung Armer) Tymczasowa Komisja Koordynacyjna (Provisorische Koordina­ tionskommission) Towarzystwo Kursów Naukowych (Gesellschaft für wissenschaft­ liche Kurse) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen Ukrainische Nationalversammlung – Ukrainische Nationale Selbstverteidigung United Nations Organization (Organisation der Vereinten Nationen) Ukrajinska Powstanska Armija (Ukrainische Aufständische ­Armee) United States of America Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei Volkseigener Betrieb Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Allunionistische Kommunistische Partei/Bolschewiki Vereinte Linke Vnatrešna Makedonska Revolucionerna Organizacija (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) Výbor na obranu nespravedlivě stíhaných (Komitee zur Verteidigung von zu Unrecht Verfolgten) Volksrepublik Polen Wolność i Niezawisłość (Freiheit und Unabhängigkeit) Wojskowa Rada Ocalenia Narodowego (Militärrat der nationalen Wiedergeburt) Zentralkomitee Zemedelski mladezhki s˘ uyuz (Jugendsektion der Bauernunion) Zjednoczone Stronnictwo Ludowe (Vereinigte Bauernpartei)

Personenverzeichnis

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Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten. Aczél, György 200 Adamus, Vladimír 157 Albrecht, Wladimir 76 Aldea, Aurel 351 Aichelburg, Wolf von 355 Aleksejewa, Ljudmila 67, 70, 76, 79, 82 Alia, Ramiz 450 f., 458 f., 463 f. Amalrik, Andrej 61, 66, 73, 78 Andricu, Mihail 355 Andrieş, Alexandru 330 Andropow, Juri Wladimirowitsch 54 f., 58, 325, 373 Anev, Tsvyatko 413 Antall, József junior 22, 234 f. Antall, József senior 22, 234 Antonescu, Ion 310 f., 349 Apostol, Gheorghe 316*, 366 Apró, Antal 197 Arato, Andrew 130 Archer, Rory 496 Arndt, Agnes 119 Arsenescu, Gheorghe 350 Asbel, Mark 81 Atanassow, Georgi 387, 429 Awerinzew, Sergej 82 Awruzki, Juri 80 Babiuch, Edward 123 Băcanu, Petre Mihai 371 Bahro, Rudolf 295 Balcerowicz, Leszek 98 Balotă, Nicolae 355 Barev, Tsenko 427 Bârlădeanu, Alexandru 316*, 366 Battěk, Rudolf 185 Belishova, Liri 451 Beljakovski, Teodosiy 416 Benda, Václav 182 Benesch, Eduard 175 Berg, Hermann von (Alias) 295 Bergel, Hans 355 Berija, Lawrenti 288

Berlinguer, Enrico 121* Bibó, István 239 Biermann, Wolfgang 292–294, 297 Bierut, Bolesław 117, 210 Biľak, Vasiľ 144 f. Birkner, Andreas 355 Blagoew, Dimityr 380* Boček, Bohumil 146 Bogoras, Larisa 62 f., 66, 70 Bohley, Bärbel 302 Bokstejn, Ilja 71 Boobbyer, Philip 62 Bór-Komorowski, Tadeusz 115 Botez, Mihai 371 Böttger, Martin 302 Brailowski, Wiktor 81 Breschnew, Leonid 54, 68, 77, 83, 319–321, 362, 382, 385, 389, 413 Breslauer, George 18, 48 f. Brodsky, Joseph 78 Brucan, Silviu 326, 366, 374* Brüsewitz, Oskar 295, 297 Brzeziński, Zbigniew 87 Bukowski, Wladimir 61, 66, 76 Calic, Marie-Janine 469, 497 Casaroli, Agostino Kardinal 235 Ceauşescu, Elena 317*, 338, 344, 370, 374 Ceauşescu, Nicolae 13, 24, 219, 240, 309, 312 f., 315–326, 345, 347*, 348 f., 356–375, 389, 407, 459 Ceauşescu, Nicu 370 Čepič, Zdenko 470 Čermák, Vladimír 187 Chişinevschi, Iosif 352, 355, 365 Chodorowitsch, Sergej 82 Chodorowitsch, Tatjana 82 Christaller, Walter 397 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 71, 78, 117, 290, 292, 314, 318 f., 321, 324, 352, 381, 389, 413 f., 449

532 Churchill, Winston 311, 350* Constantinescu, Miron 352, 354 f., 365 Cornea, Doina 371 Ćosić, Dobrica 520, 523 Çuko, Lenka 451 Cywiński, Bogdan 120 Czuma, Andrzej 119, 121 Dabčević-Kučar, Savka 475 Dabija, Nicolae 350 Dalos, György 236 Daniel, Alexander 62, 66, 77 Daniel, Juli 63, 73* Demaçi, Adem 504 Dertliew, Petăr 412, 428 Dibelius, Otto 289 Dietz, Hella 130 Ðilas, Milovan 68 Dimitrijević, Branislav 493 Dimitroff, Georgi 380*, 384, 412 f., 418 Dinescu, Mircea 371 Dobi, István 233 Dobre, Constantin 358 Dogan, Ahmed 423, 426 Ðogo, Gojko 510* Doicaru, Nicolae 368 Doinaş, Ştefan Augustin 355 Dontschew, Anton 422* Drăghici, Alexandru 360 Drees, Erika 302 Drenchev, Milan 428 Dschurow, Dobri 429 Dubček, Alexander 144, 151, 179, 320 Đurić, Mihajlo 521 Đurović, Đura 479* Dvořáková, Vladimíra 169 Dymschitz, Mark 72 Eichenwald, Juri 69 Engelhardt, Wladimir 67 Engels, Friedrich 449 Eppelmann, Rainer 296, 298, 302, 305 Erdély, Miklós 238 Erdélyi, József 227

Anhang Falcke, Heino 295 Farkas, Mihály 192 Filipescu, Radu 356, 371 Fishta, Gjergj 456 Fock, Jenő 200 Foris, Stefan 310, 314 Foskolo, Alfred 416 Fränkel, Joachim 296 Friszke, Andrzej 93 Fuchs, Jürgen 295 Gabrič, Aleš 502 Gajauskas, Balys 66 Galántai, György 238 Gamsachurdia, Swiad 65 Gaulle, Charles de 320 Gaytandijev, Stefan 430 Genčev, Nikolaj 414, 419 Genow, Eduard 416, 421, 427, 432 Genscher, Hans-Dietrich 417 Georgescu, Teohari 352 Georgescu, Vlad 371 Geremek, Bronisław 123 Gerő, Ernő 192 Gheorghe, Ion 362 Gheorghiu-Dej, Gheorghe 309, 311, 313–315, 318–320, 322–324, 347*, 349, 352, 355, 360 Gierek, Edward 93, 96, 102, 104, 106, 111, 120, 123, 126, 474 Ginsburg, Alexander 73, 77, 81 f. Ginsburg, Jewgenia 78 Goati, Vladimir 485* Goebbels, Joseph 418 Goma, Paul 353, 354*, 370 f. Gomułka, Władysław 102, 117 f., 120, 352 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 9, 19, 25, 30 f., 38, 40, 43, 56, 127, 171, 258, 301, 321, 364–366, 373 f., 376, 386 f., 407, 421, 442, 471 Gottwald, Klement 138, 170, 210 Grigorenko, Pjotr 72 Grigorow, Mitko 381 f., 418 Gromyko, Andrej 507* Grósz, Károly 203–206 Groza, Petru 311–314, 349

Personenverzeichnis Guberman, Garik 81 Guşa, Stefan 375 Gyarmati, György 212* Habermas, Jürgen 262* Hahn, Hans Henning 114 Hájek, Jirí 181 Hamdiev, Sabri 425 Hamusics, János 228 Harich, Wolfgang 290 Harpham, William 441 f. Havel, Václav 20, 181, 183 f., 186, 188, 301 Havemann, Katja 302 Havemann, Robert 292–294, 298, 301 Heitlinger, Alena 155 Hejdánka, Ladislav 182 Heller, Agnes 237 Henrich, Rolf 302 Hertwig, Manfred 290 Heym, Stephan 292, 294 Hiršl, Miroslav 163 Hitler, Adolf 68, 114, 310, 314 Hodscha, Enver 450–454, 458 f., 462–465 Hodscha, Nexhmije 450, 454, 463 f. Honecker, Erich 19, 124, 247, 251–257, 259 f., 265, 272 f., 275 f., 278, 281, 293 f., 296, 301–303, 362, 474 Honecker, Margot 296 Horn, Gyula 373 Horváth, István 243 Horváth, József 243* Huntington, Samuel P. 262 Husák, Gustáv 143, 145, 151, 474 Ignatow, Assen 416, 418 Iliescu, Ion 24, 326, 362 f., 365–367, 370, 372, 374*, 375 Illia, Mihály 240 Illyés, Gyula 237 f. Inglot, Tomasz 222 Ionel, Vasile 347*, 362 Ionescu, Ghiţă 352 Ionete, Constantin 328 Ioniţă, Ion 362

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Ivanov, Tsveti 412 Ivanova, Evgenia 410*, 424*, 430 Ivasiuc, Alexandru 353, 354* Iwanow, Anatoli 71 Iwanow, Boris 78 Jaeggi, Rahel 491 Jakeš, Miloš 147*, 152 Jakir, Piotr 62, 71 Jakunin, Gleb 82 Jakobson, Anatoli 62, 71 Janka, Walter 290 Jaruzelski, Wojciech 12, 88, 93, 96–98, 104, 126–128, 130 f., 516 Jefremow, Boris 69 Jelzin, Boris Nikolajewitsch 58 Jessenin-Wolpin, Alexander 69, 74, 76 Jinga, Luciana 344 f. Johannes Paul II. (siehe Karol Kardinal Wojtyła) 122, 185 Johnson, Lyndon B. 361 Jordanow, Aleksandar 435 Jović, Dejan 485, 510, 524 Jugow, Anton 380–382 Just, Gustav 290 Kaczyński, Jarosław 131 Kaczyński, Lech 131 f. Kádár, János 12, 192, 195–207, 212, 214, 228, 234, 236, 240 f., 354* Kallistratowa, Sofia 76 Kaminskaja, Dina 76 Kanew, Krassimir 422* Kania, Józef 123 Kapo, Hysni 450 Kaufmann, Franz Xaver 51 Kavčič, Stane 478, 505 Keldysch, Mstislaw 67 Kenney, Padraic 88 Kerenxhi, Nesti 464 Kideckel, David A. 328, 340 Kim Il Sung 325, 459 Kim, Juli Č. 70 Király, Károly 365 Kirkow, Ludmil 433 Kiszczak, Czesław 88, 95 f., 98, 129, 130*

534 Kjuranow, Dejan 422* Klein, Richard 515 Klein, Thomas 302 Kleine, Alfred 258 Kocbek, Edvard 503 Kohl, Helmut 305 Kohout, Pavel 370 Kolarow, Wassil 380*, 413 Kolev-Bosiya, Nikolay 427 Konrád, György 238 Konstantinova, Elka 435 Kopelew, Lew 81 Koprinkov, Ivan 412 Kornai, János 211, 220, 271 Koscharowski, Juli 81 Kostow, Trajtscho 380, 413 Kostow, Wladimir 416 Kostyal, Stefan 362 Kotsev, Venelin 418 Kowaljow, Sergej 62, 66, 74, 82 Krasin, Wiktor 61 f., 71 Kremm, Werner 372 Krenz, Egon 303 f. Krolikowski, Werner 255–257, 260 Kun, Béla 192 Kunc, Jiří 169 Kunze, Reiner 295 Kuroń, Jacek 118, 121, 125 Kusnezow, Eduard 71 f. Landa, Malwa 75, 82 Lawut, Alexander 75 Lékai, László Kardinal 235 Lenin, Wladimir Iljitsch 11, 31 f., 36 f., 267, 364, 418, 447, 449, 459 Leonidov, Rumen 421 Lér, Leopold 154 Lerner, Alexander 81 Levchev, Vladimir 421 Levy, Toberty 421 Lilow, Alexandar 382, 384 Lin Biao 463 Linz, Juan J. 169, 188* Lippet, Johann 372 Litwinow, Pawel 61, 70, 76 Ljubarski, Kronid 82 Luca, Vasile 349, 352 Lukács, György 200, 237

Anhang Lukanow, Andrej 385, 387, 429 Lukjanenko, Lewko 65 Lultschew, Kosta 412 Lupinys, Anatoli 65 Macierewicz, Antoni 121, 131 Măgureanu, Virgil 326, 362, 366 f., 370 Maizière, Lothar de 305 Malgot, István 238 Mănescu, Corneliu 366 Maniu, Iuliu 314 Manolov, Petar 421, 427 Mao Tse-tung 192, 450 Marinow, Stefan 416 f., 432 Markova, Ekaterina 432 Marković, Mihailo 522 Markow, Georgi 416, 432 Marosán, György 197 Marx, Karl 421, 449 Mašín, Ctirad 176 Mašín, Josef jun. 176 Maurer, Ion Gheorghe 315, 316* Mayer, Françoise 152 Mazowiecki, Tadeusz 98, 123, 129 –131, 301 Meckel, Markus 302, 305 Medwedew, Roj 67 Medwedew, Schores 67 Mehlhorn, Ludwig 301 Metodiev, Kaloyan 386 Michnik, Adam 119–121, 125 Mickiewicz, Adam 119 Mielke, Erich 97, 258 Mihai I. (Michael I.) 310–313, 349 f. Mihajlov, Mihajlo 503 Mikołajczyk, Stanisław 115 Militaru, Nicolae 362, 368, 374*, 375 Miloševic, Slobodan 499, 519, 522 Mindszenty, József Kardinal 195, 235 Minew, Ilija 416, 421, 424, 430 f., 435 Mišev, Georgi 424, 432 Mißlitz, Herbert 302 Mittag, Günter 251, 255–257 Mitterrand, François 425 Mladenow, Petar 385, 387, 417, 429 f. Mlynárik, Ján 182 Möckel, Konrad 355

Personenverzeichnis Moczulski, Leszek 121* Modrow, Hans 304 Modzelewski, Karol 118 Monroe, Alexei 514 Moskow, Atanas 412, 428 Mücke, Lukas 45, 50 Mulej, Oskar 516 Müller, Herta 372 Münnich, Ferenc 197 Murgescu, Bogdan 327 f. Nagy, Imre 192 f., 196–198, 239, 243* Nakow, Wolodja 417, 432, 438 Navrátil, Augustin 185 Nedelčev, Michail 435 Nedrobowa, Marina 78 Negoiţescu, Ion 355, 371 Németh, László 237 f. Németh, Miklós 203, 205 f. Nesmejanow, Alexander 67 Netschajew, Wadim 78 Neubert, Ehrhart 302 Neutatz, Dietmar 469 Nicolae, Radu 362 Niethammer, Lutz 274 Nikezić, Marko 478 Nixon, Richard 320 Noica, Constantin 355 Novotný, Antonín 144, 179 Nushi, Gogo 450 Nyers, Rezső 200, 205–207 Obertreis, Julia 469 Ognyanov, Ljubomir 379 Okudschawa, Bulat 81 Okulicki, Leopold 115 Olszowski, Jan 131 Orlow, Juri 66, 68, 75, 81 Ortinau, Gerhard 372 Osipow, Wladimir 71 Otáhal, Milan 153, 182* Pacepa, Ion Mihai 325, 361, 368 Pahnke, Rudi 302 Palach, Jan 180, 241 Paraschiv, Vasile 359 Pastukhov, Krustyu 412

535

Patterson, Thomas 492, 498 Patočka, Jiri 181 Pătrăşcanu, Lucreţiu 311, 313, 352, 360 Pauker, Ana 311, 313 f., 349, 352 Pawlow, Todor 414 Penchev, Tsvetan 420 Perović, Latinka 478 Petkow, Dimitar 415, 438 Petkow, Nikola 411 f., 416 Petőfi, Sándor 240 Petraşcu, Miliţa 355 Petrova, Dimitrina 410*, 422*, 423*, 434* Petschek, Julius 138 Philby, Harold „Kim“ 462 Pichler, Tibor 202 Píka, Heliodor 146 Pîrvulescu, Constantin 365 f. Pithart, Petr 182, 184* Pius XI. 178 Platonow, Andrej 80 Poglajen-Kolakovič, Tomislav 176 Pokivailova, Tatiana A. 309* Pomeranz, Grigori 80 Pór, György 236 f. Pozsgay, Imre 205 f. Preiss, Jaroslav 138 Příhoda, Petr 182* Pučnik, Jože 503* Putin, Wladimir 9 Qamili, Haxhi 458 Răceanu, Grigore 366 Răceanu, Mircea 368 Radenkov, Radoslav (Pseudonym) 422* Radescu, Nicolae 312 Rădulescu, Gheorghe (Gogu) 371 Rajk, László 192, 195 Rákosi, Mátyás 192, 195–198, 210, 217, 227, 236, 242* Ralin, Radoj 418 f. Reich, Jens 302 Repe, Božo 505 Révai, József 192 Richter, Edelbert 302

536 Ritter, Gerhard A. 277 Rokossowski, Konstantin 117 Roman, Valter 354* Rosenberg, Alfred 418

Sabev, Khristofor 427

Sacharow, Andrej 42, 61, 67, 70, 72, 81 f. Sanatescu, Constantin 311 f. Sartori, Giovanni 180 Schabowski, Günter 303 Schapiro, Leonard 20, 187 Scharapow, Viktor 387 Schatunowski, Ilja 69 Schdanow, Andrej Alexandrowitsch 418 Schelew, Schelju 386, 414, 417–420, 424 f., 430 f. Scherg, Georg 355 Schewardnadse, Eduard 375 Schichanowitsch, Juri 69 Schiwkow, Todor 21, 362, 379–387, 406 f., 409, 413 f., 416, 418 f., 423–426, 428 f., 433, 436, 438, 441, 474, 476 f. Schiwkowa, Ljudmila 385 Schmidt, Helmut 372 Schorlemmer, Friedrich 302 Schragin, Boris 68 Schult, Reinhard 302 Schult, Ulrike 496 Schürer, Gerhard 255 f., 260, 276, 279* Schwitters, Kurt 238 Semerdzhiev, Petar 427 Şerb, Ion 361 Shafir, Michael 327, 345 Shehu, Bashkim 455 Shehu, Fiqirete 455 Shehu, Mehmet 450, 455, 458, 463, 465 Siderow, Wolen 430 Siegmond, Harald 355 Šik, Ota 164 Siman, Lew 77 Šimečka, Milan 182 Simow, Grigor 421

Anhang Sinjawski, Andrej (siehe Abram Terz) 73, 77 Skanderbeg (Georg Kastriota) 458 Slabakow, Petar 425 Slánský, Rudolf 143, 175 Šling, Otto 143 Soare, Florin 344 Sobadschijew, Ljubomir 416, 421, 425, 430 Sokolová, Vera 155 Soldatow, Sergej 71 Solschenizyn, Alexander 22, 62, 67, 72, 78, 82, 370 Sosnowski, Stanisław 111 Stalin, Josef Wissarionowitsch 11, 19, 30, 36, 47, 54, 57, 113–115, 117, 140, 192, 195 f., 227, 287, 290, 309–314, 318, 323 f., 349, 350*, 352, 389, 398, 406, 447, 449 f., 452, 459, 464, 470 f., 473, 486 f., 501 Stănculescu, Victor Atanasie 363, 375 Steinberger, Bernhard 290 Stepan, Alfred 169 Sterbling, Anton 372, 384 Stoica, Chivu 315 Stojanović, Dubravka 507 Stoph, Willi 251, 255, 260 Štrougals, Lubomír 144 Sugarew, Edwin 421 Suslow, Michail 418 Svoboda, Ludvík 146 Swerdlow, Jakow 32 Szabó, Dezső 237 Szász, Zoltán 207 Szelényi, Iván 238, 392 Szentjóbi, Tamás 238 Szydlak, Jan 123 Tarkowska, Elżbieta 110 Terz, Abram (Pseudonym von Andrej Sinjawski) 73, 77 Tito, Josip Broz 470 f., 474–480, 482–484, 488, 500 f., 506, 510, 515, 518–520 Titulescu, Nicolae 347*

Personenverzeichnis Todorov-Gorunya, Ivan 413 Todorow, Stanko 381 f., 387 Tomc, Gregor 514 f. Tomeš, Igor 167 Tomka, Béla 99*, 103*, 219 f. Topolánek, Mirek 176* Topuzliev, Blagoy 416 Totok, William 372 Tozaj, Neshat 465 Trentschew, Konstantin 425, 427 Tripalo, Mika 475 Trofin, Virgil 359 Tschalidse, Waleri 73 f. Tschankow, Georgi 381 Tscherwenkow, Walko 380 f., 384, 418 Tschiche, Hans Jochen 302 Tschiwikow, Schermina 416 Tschornowil, Wjatscheslaw 65 Tudoran, Dorin 371 Turtschin, Walentin 67, 74 Twerdochlebow, Andrej 66, 74 Uhl, Petr 180* Ulanowskaja, Maja 71 Ulbricht, Walter 14, 247, 250–252, 265, 272 f., 289–293 Ursu, Gheorghe 356 Uspenski, Igor 81 Uspenski, Inna 81 Uţă, Ion 350 Uzunova, Rumiana 416, 432 Václavík, Milán 146 Vaculík, Ludvík 182 Vajda, Mihály 236 Vaněk, Miroslav 152 Venclova, Tomas 64 Verdeţ, Ilie 358 Vezenkov, Alexander 379 Voiculescu, Vasile 355 Voslensky, Michael 385

537

Wassilew, Kiril 414 Wassilew, Nikolai 421 Wagner, Richard 372 Wałęsa, Lech 125, 127, 129–132 Wappler, Erich 255 Weber, Max 261, 262*, 264 Weimann, E. 138 Welikanowa, Tatjana 75, 83 Wigdorowa, Frida 78 Wojtyła, Karol Kardinal (siehe ­Johannes Paul II.) 122, 185 Wolf, Richard 290 Woronel, Alexander 81 Wyschinski, Andrej 312 Wyssozki, Wladimir 77 Wyszyński, Stefan Kardinal 23, 116, 117* Xoxe, Koçi 458 Zajíc, Jan 180 Zapryanov, Anton 432 Zarkin, Georgi 415, 438 Zeman, Zbyněk 169 Žižek, Slavoj 514 f., 523 Znepolski, Ivajlo 379 Zöger, Heinz 290 Zogu I. (Zogu, Ahmet) 456, 458 Žotev, Dobri 418 Zukerman, Boris 74 Žuvintas, A. (Pseudonym) 64

Autorenverzeichnis

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Autorenverzeichnis Helmut Altrichter, geb. 1945 in Alt-Moletein (Mähren); Studium der Geschichte, Germanistik, Politikwissenschaft und Russisch an den Universitäten in Erlangen und Wien. Nach dem 1. Staatsexamen erfolgte 1974 die Promotion („Konstitutionalismus und Imperialismus. Der Reichstag und die deutsch-russischen Beziehungen 1890–1914“). Acht Jahre später habilitierte er sich mit der Arbeit „Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung“. Von 1990 bis 2012 war er Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die verfassungsgeschichtlichen, sozialen und außenpolitischen Entwicklungen Russlands seit dem 18. Jahrhundert, insbesondere die Entwicklung von Partei und Staat in der Sowjetunion. Stanislav Balík, geb. 1978 in Bludov (Tschechische Republik); Professor und Leiter des Fachbereichs Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Masaryk-Universität in Brno. Nach dem Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Kunst- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Masaryk University promovierte er 2004 ebendort im Fach Politikwissenschaft. Seine Forschungsthemen umfassen die moderne tschechische Politik, Kommunalpolitik und Theorien nichtdemokratischer Regime. Anneli Ute Gabanyi, geb. 1942 in Bukarest (Rumänien), lebt seit 2001 in Berlin; Studium der Anglistik und Romanistik, der Vergleichenden Literaturwissenschaft und der internationalen Beziehungen. Promotion an der Universität der Bundeswehr in Hamburg über „Systemwechsel in Rumänien. Von der Revolution zur Transformation“. Sie war als wissenschaftliche Referentin für Rumänien und die Republik Moldau am Forschungsinstitut von Radio Free Europe in München tätig, außerdem am Südost-Institut in München und bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Rumänien zur Zeit des Kommunismus, die Revolution von 1989 und die politische und wirtschaftliche Transformation danach; die Republik Moldau im Zeichen des Transnistrienkonflikts. Mihail Gruev, geb. 1971 in Sofia (Bulgarien). Er lehrt an der Universität Sofia und leitet die Staatsagentur „Archive“. Seine Forschungen konzentrieren sich auf den Transitionen in Osteuropa und behandeln insbesondere sozia­listische Lebensweise und Ideologie sowie Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien, vorrangig im Zeitraum zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Fall des „Eisernen Vorhangs“. Jan Holzer, geb. 1969 in Vyškov (Tschechische Republik), ist Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Masaryk Universität in Brno und an der Fakultät für Politikwissenschaft der Marie-Curie-Sklodowska-Universität in Lublin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem das politische System Russlands, die vergleichende Transitionsforschung, die Herausbildung politischer Regime der osteuropäischen Länder und der ehemaligen Sowjetstaaten. Darüber hinaus befasst er sich mit nichtdemokratischen Staaten und Hybridregimen.

540

Anhang

Wolfgang Höpken, geb. 1952 in Oldenburg, studierte Geschichte, Slavistik, Politikwissenschaft und Pädagogik an der Universität Hamburg. Von 1994 bis zu seiner Emeritierung im Oktober 2018 war er Professor für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig, zwischen 2000 und 2006 zugleich Direktor des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Südosteuropas, vor allem deren Sozial- und Kulturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Erinnerungskulturen in Südosteuropa und der Kriegs- und Gewaltgeschichte. Gegenwärtig ist er Research Fellow in der Kolleg-Forschergruppe der DFG „Multiple Secularities“ an der Universität Leipzig und bearbeitet dort ein Projekt zu „Säkularitätsdiskursen unter den bosnischen Muslimen von 1878 bis zur Gegenwart“. Tytus Jaskułowski, geb. 1976 in Danzig (Polen), studierte Politikwissenschaft und Wirtschaft an der Universität in Danzig, der TU Danzig und der FU Berlin. 2002/03 war er u. a. Projektleiter im Osteuropa-Zentrum Berlin, von 2006 bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Zurzeit arbeitet er als Referent in der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam und habilitiert gleichzeitig an der TU Chemnitz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Zeitgeschichte der DDR und die deutsch-polnischen Beziehungen. Aktuell befasst er sich mit der Zusammenarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und dem polnischen Geheimdienstin den 1970er- und 1980er-Jahren. Thomas Kunze, geb. 1963 in Leipzig, studierte Geschichte, Germanistik und Pä­ dagogik in Jena und Leipzig und promovierte zum Dr. phil. Von 1995 bis 2001 arbeitete er als Gastdozent in Constanta (Rumänien). Seit 2002 ist er für die Konrad-­Adenauer-Stiftung als Osteuropa-, Russland- und Zentralasienexperte tätig. 2011 wurde ihm die Sächsische Verfassungsmedaille verliehen. Thomas Kunze ist Autor zahlreicher Bücher, darunter Biografien über Nicolae Ceauçescu und Erich Honecker sowie über die Staaten der früheren Sowjetunion. Alexej Makarov, geb. 1985 in Moskau (Sowjetunion), ist Mitglied des Rates des geschichtswissenschaftlichen Aufklärungszentrums „Memorial“. Zu den Forschungsschwerpunkten des Zentrums gehören unter anderem die Geschichte des Gulag und der Repressionsorgane, das Schicksal politischer Gefangener sowie die Verfolgung von Menschen wegen ihrer abweichenden weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen. Andreas Malycha, geb. 1956 in Berlin, studierte von 1978 bis 1983 Geschichte an der Universität Leipzig. Sechs Jahre später erfolgte die Promotion mit der Arbeit: „Die SPD in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands im Jahre 1945“. Seit 2010 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte des politischen Systems der DDR, vor allem die Geschichte der SED sowie die Wissenschaftsgeschichte der DDR, insbesondere der Medizin nach 1945. Zurzeit befasst er sich mit der Geschichte der Treuhandanstalt in den Jahren 1990 bis 1994.

Autorenverzeichnis

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Alexandru-Murad Mironov, geb. 1976 in Oujda (Marokko), studierte Geschichte und Philologie an der Universität Bukarest. 2010 erfolgte die Promotion in Geschichte. Seit 1999 ist er am nationalen Institut zur Erforschung des Totalitarismus an der Rumänischen Akademie tätig. Zudem lehrt er seit 2000 Weltgeschichte im XX. Jahrhundert an der Universität Bukarest. Er ist Herausgeber der Zeitschrift „Totalitarianism Archives“ und des Jahrbuchs Geschichte der Universität Bukarest sowie Gründungsmitglied der Rumänischen Vereinigung für Sozialgeschichte. Ehrhart Neubert, geb. 1940 in Herschdorf; Studium der Theologie in Jena; ab 1964 Vikar und Pfarrer in Niedersynderstedt bei Weimar, ab 1973 auch Studentenpfarrer in Weimar. Von 1984 bis 1996 Referent für Religionssoziologie in der Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in Berlin. 1997 bis 2005 Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Seit 1973 Mitarbeit in verschiedenen Oppositionsgruppen. 1989 Mitglied des Initiativkreises zur Gründung des Demokratischen Aufbruch. Seit 1990 an zahlreichen Aufarbeitungsinitiativen beteiligt. 1996 Mitbegründer des Bürgerbüro e. V. Verein zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, im selben Jahr Promotion an der FU Berlin mit einer Arbeit zur Geschichte der DDR-Opposition. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozialstruktur und zu religionssoziologischen sowie sozialethischen Fragen, auch im Samisdat. Nach 1989 Schriften zur Oppositionsgeschichte, u. a.: Geschichte der Opposition in der DDR 1949 bis 1989, Berlin 1997 (3. Auflage 2001). Mitherausgeber des „Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung“. Dimitrina Petrova, geb. 1957 in Burgas (Bulgarien), ist Fellow am Human Rights Centre der Universität in Essex. Sie lehrte 1982 bis 1994 Philosophie und Rechtsphilosophie an der Kliment Okhridiski Universität in Sofia. Von 1990 bis 1991 war sie Mitglied des bulgarischen Parlaments. Die Menschenrechtsaktivistin widmete sich als Geschäftsführerin des European Roma Rights Centre in Budapest und des Equal Rights Trust in London der Verteidigung gegen Diskriminierung. Sie lehrte am College of Europe in Warschau und an der Central European University in Buda­ pest. Zugleich wirkte sie als Beraterin in Menschenrechtsfragen für die Weltbank, Human Rights Watch und des Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen. Stefan Plaggenborg, geb. 1956 in Löningen, studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Freiburg i. Brsg. 1986 promovierte er mit einer Studie über „Staatsfinanzen und Industrialisierung in Russland 1881–1903. Die Bilanz der Steuerpolitik für Fiskus, Bevölkerung und Wirtschaft“. Sieben Jahre später erfolgte die Habilitation mit der Arbeit „Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus“. Nach Lehrstühlen in Jena und Marburg hat Stefan Plaggenborg seit 2007 den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität in Bochum inne. Er war Fellow am Freiburger Institute for Advanced Studies und am Historischen Kolleg in München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die frühneuzeitliche Herrschaft in Russland, die Geschichte der Sowjetunion und vergleichende Geschichte autokratischer Regimes im 20. Jahrhundert.

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Anhang

Jakub Rákosník, geb. 1977 in Prag (Tschechische Republik), ist Dozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag. Seine Forschungen kreisen um Themen der modernen Sozialgeschichte, der Geschichte des Sozialstaates, der Arbeiterbewegung und der Sozialtheorie. Manfred G. Schmidt, geb. 1948 in Donauwörth, legte 1974 das Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Politikwissenschaft und Anglistik an der Universität Heidelberg ab und wurde 1975 im Fach Politikwissenschaft an der Universität Tübingen bei Prof. Dr. Gerhard Lehmbruch promoviert. Sechs Jahre später erfolgte die Habilitation an der Universität Konstanz ebenfalls bei Prof. Lehmbruch. Schmidt wirkte von 1984 bis 1987 als Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, anschließend von 1987 bis 1997 an der Universität Heidelberg, von 1997 bis 2001 an der Universität Bremen und seit 2001 wieder an der Universität Heidelberg. Prof. Dr. Schmidt erhielt den Leibniz-Preis der DFG von 1995 für seine Studien zur Vergleichenden Staatstätigkeitsforschung. Seine Einführungswerke zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland, zur Sozialpolitik in Deutschland im historischen und internationalen Vergleich und zu den Demokratietheorien haben sich als politikwissenschaftliche Standardwerke etabliert. Michael Schmidt-Neke, geb. 1956 in Baden-Baden, studierte Geschichte und Alte Sprachen an der Universität Freiburg i. Brsg. Er promovierte 1986 bei Gottfried Schramm mit der Arbeit „Entstehung und Ausbau der Königsdiktatur in Albanien (1912–1939)“. Von 1990 bis 1993 war er Vorsitzender, von 1999 bis 2017 stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Albanischen Freundschaftsgesellschaft (DAFG) sowie Redaktionsmitglied der von der DAFG herausgegebenen Zeitschrift „Albanische Hefte“. Seit 1995 arbeitet er als Referent für Bildung, Wissenschaft und Kultur bei der Landtagsfraktion der SPD in Kiel. Andreas Schmidt-Schweizer, geb. 1964 in München, studierte Neuere und Neueste Geschichte und Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und im Anschluss daran Osteuropäischen Geschichte und Wirtschaftspolitik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Brsg. 2000 erfolgte dort die Promotion am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte. Seit 2005 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter (Senior Research Fellow) am Institut für Geschichtswissenschaft des Zentrums für Humanwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest. Krisztián Ungváry, geb. 1969 in Budapest (Ungarn), studierte Geschichtswissenschaft und verbrachte im Jahr 1993 mithilfe eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) ein Semester in Freiburg i. Brsg. Im Zentrum seiner Forschungen stehen die Politik- und Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein 1998 erschienenes Werk „Die Schlacht um Budapest“ wurde in Ungarn ein Bestseller und erschien in englischer und deutscher Sprache.

Autorenverzeichnis

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Tibor Valuch, geb. 1963 in Tata (Ungarn), studierte Geschichte und Geografie in Debrecen (Ungarn). 1995 promovierte er; neun Jahre später erfolgte die Habilitation. Er ist wissenschaftlichen Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und seit 2015 Professor für Geschichte an der Eszterházy Károly Universität in Eger. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Sozial- und Kulturgeschichte Ungarns nach dem Zweiten Weltkrieg. Alexander Vezenkov ist Zeithistoriker und Experte für die Zeit der kommunistischen Parteidiktatur Bulgariens. Er war Fellow am Centre for Advanced Study Sofia und ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Institute for Studies of the Recent Past (Sofia). Neben der institutionellen Geschichte kommunistischer Regime umfassen seine Forschungsinteressen u. a. die Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie verschiedene Aspekte der Tanzimatzeit im Osmanischen Reich. Patryk Wasiak, geb. 1978 in Belzyce (Polen), forscht am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er hat Soziologie und Kunstgeschichte an der Universität Warschau studiert und in Kulturwissenschaften an der School of Social Sciences and Humanities (Warschau) promoviert. Er war Stipendiat der Volkswagen-Stiftung, des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, des niederländischen Institute of Advanced Study und der Andrew W. Mellon Foundation. Seine Forschungsinteressen umfassen die Kulturgeschichte des Kalten Krieges und die Geschichte der Haustechnik. Derzeit arbeitet er als Forschungsstipendiat des Nationalen Wissenschaftszentrums Polen an der Geschichte des Industriedesigns und der kommunistischen Ideologie im staatssozialistischen Polen. Klaus Ziemer, geb. 1946 in Heidelberg, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Latein an den Universitäten Heidelberg und München. 1977 erfolgte die Promotion mit der Dissertation „Politische Parteien im frankophonen Afrika“. Acht später erfolgte die Habilitation im Fach Politikwissenschaft. Von 1991 bis 2011 war Klaus Ziemer Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Zudem ist er seit 1998 Professor für Politikwissenschaft an der Kardinal-Stefan-­ Wyszyński-Universität in Warschau. Von 1998 bis 2008 leitete er das Deutsche Historische Institut Warschau. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die polnische Zeitgeschichte, die deutsch-polnischen Beziehungen ab 1945 und der politische Systemwandel in Osteuropa.